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German Pages 203 [209] Year 2008
Manfred Walther/Norbert Brieskorn/ Kay Waechter (Hg.) Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne?
Manfred Walther/Norbert Brieskorn/ Kay Waechter (Hg.) Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne?
(vakat)
Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez
Herausgegeben von Manfred Walther, Norbert Brieskorn und Kay Waechter
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09157-2
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Vorwort Den größten Dank für geduldige und mühevolle, aber trotz mancher Sonderwünsche stets gleichbleibend freundliche Manuskriptbetreuung schulde ich Frau Diplomjuristin Charlotte Sander. Für die Herausgeber Kay Waechter
INHALT Einleitung ................................................................................................................ 9
I. THOMAS VON AQUIN (1225 – 1274) ................................................................... 15 Wilhelm Metz Lex und Ius bei Thomas von Aquin ...................................................................... 17
Franz Reimer Lex und ihre Äquivalente im Gesetzestraktat der Summa Theologica Thomas von Aquins............................................................................................... 37
Michael Städtler Handlungstheorie und Zurechnung bei Thomas von Aquin ................................. 51
Michael Städtler Widerstandsrecht bei Thomas von Aquin ............................................................. 61
Carlo Regazzoni Die menschliche Selbstverwirklichung im Spannungsfeld von Gesetz und Freiheit............................................................................................................ 71
II. MARSILIUS VON PADUA (1225 – 1274) ............................................................. 91 Kay Waechter Der Gesetzesbegriff bei Marsilius von Padua: Positivismus mit naturgarantierter Rückversicherung ...................................................................... 93
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Inhalt
III. FRANCISCO SUÁREZ (1548 – 1617)................................................................ 103 Norbert Brieskorn Francisco Suárez und sein Gesetzesbegriff im Kontext ...................................... 105
Tilmann Altwicker Gesetz und Verpflichtung in Suárez’ De Legibus............................................... 125
Manfred Walther Facultas Moralis – Die Destruktion der Leges Hierarchie und die Ausarbeitung des Begriffs des subjektiven Rechts durch Suárez – Ein Versuch ...................................................................................................... 135
Manfred Walther Begründung und Beschränkung des Widerstandsrechts nach Suárez ................. 161
IV. AUSBLICK ...................................................................................................... 177 Robert Schnepf Natürliches Gesetz, Naturgesetz und Zweiweltentheorie von der Spätscholastik bis Kant – Eine Problemskizze.................................................... 179
Die Autoren und Herausgeber ............................................................................. 203
EINLEITUNG Im hier vorgelegten Band werden die Ergebnisse der zweiten Tagung des Arbeitskreises „Ideengeschichte des Rechts“ der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie präsentiert,1 die mit der sog. Spanischen Spätscholastik wiederum einer jedenfalls im deutschsprachigen Bereich wenig beachteten Strömung gewidmet sind. Zwischen der Hochscholastik, repräsentiert durch Thomas von Aquin, die seit der Neuscholastik des 19. Jahrhunderts wieder stärker beachtet wurde und wird, und dem als zukunftsträchtiger Neuansatz geltenden Vernunftrecht mit Grotius als Gründungsfigur scheint für zukunftsweisende Konzeptionen, zumal im katholischen Raum, sich in Bezug auf Modernisierung und Säkularisierung nichts Bemerkenswertes getan zu haben. Daraus ergab sich die Themenstellung: Auf dem Hintergrund einer konzisen Darstellung der Rechtslehre des Thomas von Aquin, mit einem bedeutsamen Zwischenschritt bei Marsilius von Padua, die Rechtslehre des Francisco Suárez, des führenden Vertreters der Spanischen Spätscholastik, daraufhin näher zu untersuchen, ob und ggf. in welchem Sinne sich bei ihm Ansätze zu einer neuen, säkularen Gestalt von Rechstheorie/-philosohie/-theologie erkennen lassen. I. Der Lehre über Gesetz und Recht bei Thomas von Aquins sind fünf Beiträge gewidmet: 1. Wilhelm Metz hebt in seiner Darstellung der thomasischen Lehre vom Gesetz, das allgemein durch seinen Ort in der Vernunft, seine Ausrichtung auf das Gemeinwohl, die Zuständigkeit zur Gesetzgebung und die Promulgation an seine Adressaten definiert ist, die doppelte Analogie (zum Plan einerseits eines artifex, andererseits eines Ordnungsstiftes) hervor, in der Gott als Schöpfer und als Gesetzgeber Autor der lex aeterna ist. Durch die nicht nur passive (wie bei den übrigen Geschöpfen), sondern kraft seiner anima intellectiva aktive Teilhabe an der lex aeterna hat der Mensch in der lex naturalis ein unmittelbares praktisches Wissen von deren oberstem Prinzip des Guten, das sich gemäß der dreifachen Stufung menschlichen Seins in Gesetze der Selbsterhaltung, der Zeugung und Aufzucht das Nachwuchses und des friedlichen Lebens in der Gemeinschaft ausfaltet. Sache der menschlichen ratio ist es, aus diesen allgemeinen praktischen Prinzipien Folgerungen für die verschiedenen Gestalten des menschlichen Zusammenlebens zu ziehen, von denen die erste Gruppe (conclusiones) rein syllogistisch verfährt und daher dieselbe Gewissheit wie die Prinzipien bei sich führt, während die zweite (determinationes) Raum für Dezision lässt. Recht (ius) ist nach Thomas dasjenige, was ein Mensch, indem er die Gerechtigkeit (iustitia) als höchste moralische Tu1
Zuvor erschienen: Die Sophistik. Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht, S. Kirste; K. Waechter; M. Walther (Hg.), Stuttgart 2002.
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gend praktiziert, also als ein gerecht (iustus) Handelnder in der sozialen Interaktion (sich und) anderen zuteil werden lässt. 2. Franz Reimer wendet sich nach einer kurzen Skizze der Bedeutungen von lex bei den antiken Autoren (vor allem der Stoa und den Kirchenvätern), die Thomas verarbeitet, dem Gehalt des Terminus und dem Aufschluss zu, der sich aus den von Thomas verwendeten Äquivalenten über dessen Gesetzesbegriff gewinnen lässt. Der Definition von lex als ordinatio, also als Hinordnung, entnimmt er, dass Zwangsgewalt für Thomas nicht wesentliches, sondern nur „konsekutives Element des Gesetzes“ ist, der ratio als Subjekt der Hinordnung, dass es auch unvernünftige Gesetze geben kann, sofern Zuständigkeit besteht. Die Gleichsetzung von lex mit regula et mensura weist darauf hin, das sowohl die zukunftsgerichtete, steuernde (handlungsleitende) als auch die rückwärts gerichtete, als Maßstab des Urteils dienende (erkenntnisleitende) Dimension im Blick ist; der Vergleich des Gesetzes mit einem Entwurf (ars) oder Muster (exemplar) zeigt an, dass die lex als Hinordnung auch im Sinne einer Vorlage für die Gestaltung verstanden ist. Die Aufnahme der paulinischen Tradition (das „Gesetz in den Gliedern“) schließlich geht in Richtung einer (Natur-) Gesetzmäßigkeit des Verhaltens/Agierens. 3. Carlo Regazzoni gibt, auf der Grundlage der Lehren des Aquinaten, aber auch unter Rekurs auf z. T. durch die Neuscholastik angeregte Philosophen und Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, eine systematische Skizze der Selbstverwirklichung des Menschen in der Orientierung am Guten. Dabei stehen Stufen und Gestalten praktischer Vernunfttätigkeit und spezifische Probleme der Gewinnung von Handlungsorientierung, aber auch die Spielräume für Entscheidungen im Zentrum, und es wird deutlich, dass auch das irrende Gewissen geschützt ist. 4. In seinem ersten Beitrag zeigt Michael Städtler auf, dass es Thomas bei seiner Handlungslehre darum zu tun ist, das willentliche Moment als rechtlichen Zurechnungsgrund für Handlungen genau zu bestimmen, dabei aber nicht mit der göttlichen Vorherbestimmung allen Geschehens in Konflikt zu geraten. Mit der Unterscheidung zwischen dem begreifenden Wollen eines Zieles/Zwecks und der Verfügungsgewalt über die Realisierungsbedingungen wird die Differenz zwischen schuldhaftem Unterlassen und Unmöglichkeit der Ausführung ebenso fassbar wie mit der Unterscheidung von schuldhaftem und unverschuldetem Nichtwissen die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze gesichert wird. Der Beitrag arbeitet jeweils die Ansatzpunkte für einen die teleologische Einbindung der Willenstheorie sprengenden Begriff der Handlungsfreiheit als Autonome sowie für einen dem entsprechenden Person-Begriff heraus. 5. In seinem Beitrag zum Recht auf Widerstand, verstanden als Gewaltanwendung gegen Herrschaft, arbeitet Städtler zwei unterschiedliche Grundfiguren der Argumentation heraus: Die erste ist vollständig an der Konzeption einer Hierarchie von Ordnungen der Schöpfung orientiert: Herrschaft ist immer auf die Erhaltung dieser vorgegeben Ordnung verpflichtet, so dass ein Widerstandsrecht nur in Ausübung einer Gehorsamspflicht gegen die höhere Ordnung gedacht werden kann. Aus dem prinzipiellen Abstand zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung und der damit gegebenen Fehlbarkeit menschlicher Gesetzgebung ergibt
Einleitung
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sich eine Abstufung angemessener Reaktionen der Bürger auf ungerechte Gesetze oder Herrschaftsausübung, von der Erlaubnis zur Gehorsamverweigerung über die Pflicht dazu bis zum Recht auf Widerstand, dann nämlich, wenn die Herrschaft auf Zerstörung der Ordnung des Gemeinwesens ausgeht, weil dann der Herrscher der Aufrührer sei. In der späteren Abhandlung über die Fürstenherrschaft bildet der Zweck aller Herrschaft die Argumentationsgrundlage. Machtmissbrauch, festgestellt durch die einsetzende Instanz, das Volk, berechtigt dieses zum Widerstand, sofern nicht pragmatische Gründe (Folgen für die Ordnung) entgegenstehen. Hier ist der Maßstab für gerechtfertigten Widerstand ganz aus der menschlichen Ordnung genommen, so dass Thomas, auf dem Hintergrund der Entstehung des Stadtstaates und der sich entfaltenden Wirtschaft, einen bedeutenden Betrag zu einer säkularen Politikwissenschaft leistet. II. Bei dem zeitlich zwischen Thomas und Suárez angesiedelten Marsilius von Padua findet sich, wie Kay Waechter in seinem Beitrag ausführt, die folgenschwere Unterscheidung von vier verschiedenen Begriffen von ‚Gesetz’. Nur der dritte (göttliches Gesetz) und der vierte (menschliches Gesetz) sind Gesetze im Sinne von mit Geltungsanspruch, weil mit Sanktionsmacht versehenen autoritativen Willensakten – wobei jedoch die Sanktion des göttlichen Gesetzes erst im jenseitigen Leben statthat. Das menschliche Gesetz wird begrifflich zweifach differenziert: zum nach der Gerechtigkeit und Nützlichkeit seines Inhaltes (wahre Erkenntnis moralisch richtiger Regeln, kognitiver Aspekt) und nach der kompetenten Setzung (durch das Volk oder ggf. dessen valentior pars) mit Santionsbewehrung (Geltungsaspekt) – wobei im Konfliktfalle das unwahre Gesetz in Geltung bleibt -; zum anderen nach dem Grade der Universalität des Inhaltes zwischen bei allen Menschen und Völkern gleichem, also menschlichem Naturrecht (ius gentium), das quasi von selbst wirksam ist, und staatlichem Gesetz. Für den Bürger ist Gesetz im engsten und striktesten Sinne nur das vom legitimen menschlichen Gesetzgeber (dem Volk) gesatzte, mit innerweltlichen Sanktionen bewehrte Gesetz – womit Marsilius dem später sog. Gesetzespositivismus zuarbeitet. III. Die vier folgenden Beiträge sind der Rechtslehre Francisco Suárez’ gewidmet: 1. Norbert Brieskorn skizziert in seinem Beitrag zunächst verschiedene Dimensionen des zeitgeschichtlichen Kontextes, in dem Suárez dachte: die Expansion Spaniens zum Weltreich, die Religionsspaltung, die Anfänge der Zentralisierung der Herrschaft auch im Territorialstaat Spanien, die künstlerische und wissenschaftliche Entwicklung dort sowie, ausführlicher, die philosophischen Hauptströmungen des Nominalismus, der Ansätze zu einem funktionalistisch angelegten Systemdenken sowie des Rückgriffs auf das Werk von Thomas in Auseinandersetzung mit averroistischen, neuplatonischen und neuaristotelischen sowie skotistischen Strömungen, wie er für die Spätscholastik insgesamt charakteristisch ist. Nach einer knappen Skizze zu Leben und Werk des Suárez und seiner Methode in De legibus steht der Gesetzesbegriff generell, vor aller Differenzierung, im Mit-
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Manfred Walther
telpunkt. Im Anschluss an eine knappe Rekapitulation verschiedener Traditionen des Gesetzesdenkens von Platon bis zu Marsilius liegt der Akzent zunächst auf der Präzisierung des Begriffs des Gesetzes als an einen um die Verpflichtung wissenden und zu ihrer Übernahme fähigen Adressaten gerichtet, gefolgt von einer detaillierten Angabe der einzelnen Schritte gesetzgebenden Handelns unter dem leitenden Gesichtspunkt von Rolle und Gewicht von Vernunft und Wille und der damit gegebenen Betonung der Bedeutung, welche der Zuständigkeit für die Gesetzgebung im Blick auf die Verpflichtungskraft zukommt. Wie Suárez trotz der Abhebung der lex naturalis von der lex aeterna und der lex dei positiva dennoch die Leges-Hierarchie bewahrt, wird ebenso angegeben wie die neue Bedeutung des Begriffs des ius gentium in seiner Beziehung sowohl zur lex naturalis als auch zum ius civile. 2. Tilmann Altwicker arbeitet an Suárez’ Bestimmung des Verpflichtungsgrundes des Gesetzes zunächst die doppelte Frontstellung gegenüber einer intellektualistischen Begründung (die Einsicht in die Ordnungsleistung des Gesetzes für das bonum commune impliziert die Verpflichtung; im Ansatz bei Thomas von Aquin, in aller Schärfe bei Gabriel Vasquez) und einer rein voluntaristischen Begründung (der Wille des kompetenten Gesetzgebers reicht aus; im Nominalismus) heraus: Zur Erkenntnis der Richtigkeit/Wahrheit des Gesetzesinhaltes muss der Verpflichtungswille des Gesetzgebers als das bewegende, handlungsauslösende Moment hinzutreten. Diese an der menschlichen (positiven) Gesetzgebung entwickelte Doppeldefinition führt jedoch bezüglich der lex naturalis zu Begründungsproblemen, insofern dieses nämlich die von ihm erfassten Handlungen als intrinsisch notwendig bzw. unmöglich auszeichnet. Suárez’ Argumente dafür, dass auch in diesem Falle der göttliche Verpflichtungswille hinzu treten müsse, sind wenig überzeugend. Die Eigenständigkeit der Verpflichtungsdimension, dass die Verpflichtung auch unabhängig von der Zustimmung oder Einsicht des Adressaten besteht, wie Suárez sie in seiner Obligationenlehre herausstellt, sieht Altwicker als einen in die Moderne weisenden rechtsphilosophischen Beitrag des Suárez an. 3. Manfred Walther geht in seinem ersten Beitrag zunächst der Frage nach, ob und inwiefern sich bei Suárez Brüche in der formell beibehaltenen Hierarchie von Gesetzen, vom ewigen über das natürliche bis zum positiven (hier nur behandelt: menschlichen) Gesetz ankündigen, bei denen säkulare Konzeptionen ansetzen können. Indem Suárez das Gesetz als eine an vernünftige und mit Wahlfreiheit ausgestattete Wesen adressierte Anordnung durch einen Übergeordneten definiert, kann er die lex aeterna nur in metaphorischem Sinne noch ‚Gesetz’ nennen. Der inhaltlich in der Natur des Menschen gründenden lex naturalis, die auch jedermann kraft seiner Vernunft erkennen kann, kommt eine moralische Notwendigkeit zu, so dass die menschlichen Handlungen selbst bereits unter dieser Verpflichtung stehen – auch wenn letzter, aber nicht für alle Menschen erkennbarer Verpflichtungsgrund der gebietende oder verbietende Wille Gottes ist. Die Unterscheidung zwischen einem ge- bzw. verbietenden und einem lediglich erlaubenden Naturgesetz eröffnet einen Spielraum für die lex humana, etwa in der Gestaltung der Rechts der Güternutzung, die daher allein kraft menschlich-kompetenter Setzung
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Verpflichtungen auferlegt. In der Neudeutung der Lehre des Thomas vom ius, das er als Verfügungsrecht oder Anspruch auf etwas, also im Sinne des später sog. subjektiven Rechts versteht, entwickelt Suarez die Lehre von den natürlichen Rechten aller Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie Freiheit der Verfügung über sich – welche Knechtschaft daher nicht ausschließt - aller Menschen, die durch das natürliche Gesetz geschützt sind. 4. Die Lehre von den natürlichen, durch das natürliche Gesetz geschützten subjektiven Rechten aller Menschen gibt, wie Walther in seinem zweiten Beitrag ausführt, den Rechtstitel für den gewaltsamen Widerstand gegen jeden Angriff auf das Gemeinwesen. Denn jedes Gemeinwesen, zu dem sich eine Menge mit natürlicher Freiheit ausgestatteter Menschen freiwillig, wenn auch durch ihre Natur bestimmt, zu einer Einheit zusammenschließt, regiert sich (zunächst) selbst, so dass die einzige natürliche Form des Gemeinwesens die Demokratie ist. Die Übertragung der Staatsgewalt an mehrere oder einen kann zwar nicht nur unter der Bedingung reziproker Rechte und Pflichten, sondern auch absolut, wiewohl immer in Bindung auch der Inhaber an die Gesetze, erfolgen. Aber da das Gemeinwesen sein Recht auf Selbsterhaltung niemals vollständig abtritt, kann es gegen den Despoten Widerstand leisten, wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen, und zwar in einem regelhaften Verfahren. Der Usurpator übt immer Gewalt gegen das Gemeinwesen aus, so dass jeder Privatmann, aber auch jeder Fremde es durch Gegengewalt schützen darf. Nicht nur ein Verteidigungs-, sondern ein Strafrecht gegen den/die Inhaber der Staatsgewalt hat dagegen nur ein Höhergestellter, in christlichen Reichen also nur der Papst. IV. Im Schlussbeitrag geht Robert Schnepf der Frage nach, ob die ‚Übertragung’ des ursprünglich im Recht lokalisierten Gesetzesbegriffes auf Naturabläufe nicht vielleicht in einer den beiden anscheinend so gegensätzlichen Gesetzesbegriffen ein gemeinsamer begrifflicher Kern zugrunde liegt. Moralisch guten Handlungen kommt nach Suárez eine (praktische) Notwendigkeit zu, für deren Zuschreibung zwar die rein physikalisch detaillierte Handlungsbeschreibung hinreichende Bedingung ist, die aber zu dieser Beschreibung hinzu tritt, also gewissermaßen in einer gegenüber der in diesem Sinne natürlichen anderen, eben moralischen Welt (Zwei-Welten-Theorie) zu lokalisieren, ein ens morale ist, dessen Kriterium die Übereinstimmung der Handlung mit der lex naturalis ist. Der Grund der moralischen Notwendigkeit dieses Wenn-dannZusammenhanges ist letztlich, dass Gott sich mit der Schaffung des Menschen mit einer bestimmten Natur selbst festgelegt hat. Nach Suàrez verdankt aber sich auch die Regularität von Naturabläufen nicht einer immanenten Beschaffenheit der Naturding (allein), sondern Gottes concursus. Ohne einen solchen von Gott gegebenen Zuschuss, den er kraft seiner Güte und Verlässlichkeit normalerweise immer leistet, wäre diese Regularität nicht erklärbar. Es ist diese Gemeinsamkeit, dass zwischen dem vorhergehenden Ereignis und der eintretenden Folge der Notwendigkeitszusammenhang von Gott gestiftet ist, was, so Schnepfs These, die Übertragung der Rechtsbegriffes des Gesetzes auf die Natur im engeren Sinne
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Manfred Walther
ermöglicht. Der Verpflichtungscharakter des Rechtsgesetzes ist dabei noch gar nicht im Spiel. Auch bei Kant identifiziert Schnepf einen gemeinsamen Begriffskern von theoretischem = Naturgesetz und moralischem = praktischem Gesetz, nämlich die Spontaneität des vernünftigen Subjekts, welche den Notwendigkeitszusammenhang stiftet, einmal kraft der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien), das andere Mal kraft der Freiheit (Kausalität aus Freiheit). Pflicht- oder Sollenscharakter nimmt das Freiheitsgesetz erst dadurch an, dass das Vernunftwesen Mensch in seinem Handeln nicht nur durch Vernunft (als Wesen in der intelligiblen Welt), sondern auch durch sinnliche Antriebe etc. bestimmbar ist. Manfred Walther
I. THOMAS VON AQUIN (1225 – 1274)
Wilhelm Metz, Freiburg i.Br.
LEX UND IUS BEI THOMAS VON AQUIN ABSTRACT: The fundamentally practical aspect of the Secunda Pars of the Summa Theologiae induces Thomas, srating from Human Law, to work out a general definition of the lex, which is also valid for the lex aeterna. The latter is conceived as the metaphysical principle of all types of Law, and is revealed to Mankind through the lex naturalis. Human Law is born from Natural Law out of scientific deductions or artistical forms. The lex humana is bound to the lex aterna through the middle term of the lex naturalis and is subordinates to it’s normative claim. Thomas defines the act of satisfying this claim as Justice, that is that Moral Virtue, which explains the connection to the Law treatise of the ST. Thomas conceives of the relation between ius positivum and ius naturale as analogical to the footing of the lex humana in the lex naturalis. The concept of ius is differentiated according to the field of it’s application, just as the lex naturalis receives inner clearness of contents, when it is related to the natura hominis. Within the ST the treatises concerning lex and ius clarify each other reciprocally and reveal themselves as correlated elements of the one general composition of knowledge.
Über Gesetz und Recht handelt Thomas an mehreren Stellen seines umfangreichen Œuvre. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf sein Hauptwerk, die Summa Theologiae, die die Idee einer Gesamtkomposition des Wissens vollständig ausführt. Wenn bei Thomas die Theologie als die Erste unter allen Wissenschaften auftritt, die aufgrund ihres Primats zugleich die umfassende Wissenschaft ist, so wird der Intelligibilitätsanspruch einer philosophischen Einzelwissenschaft, wie z.B. Anthropologie, Ethik oder Rechtslehre, für die Theologie nicht unter-, sondern überboten. Denn eine summistische Gesamtdarstellung des Wissens hat die Aufgabe, das Wissen jeder in ihr ausgeführten Einzeldisziplin gerade in seinem Verhältnis zum Gesamtwissen bzw. seine Stellung innerhalb desselben mit zu bedenken. Wir verstehen etwas besser, wenn wir es nicht isoliert, sondern im Zusammenhang erblicken; wir verstehen etwas in der höchstmöglichen Form, wenn wir es in den Gesamtzusammenhang des Wissens intelligibel einordnen können. Eine theologische Summe im Hochmittelalter, besonders die Summa Theologiae (ST) des Thomas von Aquin, stellt ein Analogon zu dem dar, was in der klassischen Neuzeit ein philosophisches System gewesen ist. Die Theologie nimmt denjenigen architektonischen Primat unter den Wissenschaften – und zwar begründeter- und berechtigterweise – ein, den in der klassischen Neuzeit
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Wilhelm Metz
die Philosophie innehat.1 Über lex und ius handelt Thomas im zweiten Teil seiner Summe, den er als die moralis scientia bezeichnet und unter das oberste Leitmotiv der „Bewegung des vernünftigen Geschöpfs zu Gott“ stellt.2 Die beiden Traktate über lex und ius liegen in der Komposition des zweiten Teils der ST weit auseinander. Thomas gliedert bekanntlich die Secunda Pars seiner ST in eine moralis scientia in communi (Prima Secundae) und eine moralis scientia in speciali (Secunda Secundae). Die Traktate der Prima Secundae untersuchen die beatitudo als das letzte Ziel des menschlichen Lebens, sodann das Wesen der menschlichen Handlungen (actiones) und Leidenschaften (passiones), um im Anschluss daran die Prinzipien des Handelns in den Blick zu nehmen, die der Aquinate in innere und äußere einteilt. Zu den inneren Prinzipien werden die potentiae und habitus gerechnet, welche letzteren entweder virtutes oder vitia et peccata sind. Als äußere Handlungsprinzipien schließlich erörtert Thomas lex und gratia. Der oberste Aspekt also, unter dem das Gesetz in der ST thematisiert wird, ist sein Charakter, ein äußeres Prinzip menschlichen Handelns zu sein. Die Secunda Secundae bietet, darauf aufbauend, die konkrete Ethik und Moraltheologie3 des Thomas, deren Traktate am Leitfaden der drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe sowie der vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhaltung angeordnet werden. Im Beschluss der Secunda Secundae werden die menschlichen Lebensformen und –stände bedacht.4 Die Tugend der Gerechtigkeit (iustitia) wird, wie es das lateinische Wort nahe legt, ausgehend vom Begriff des Rechts (ius) in den Blick genommen; die thomasischen Darlegungen zum ius befinden sich daher im Beginn des Traktates über die iustitia. Wird diese Stoffeinteilung äußerlich betrachtet, so konkretisiert die Secunda Secundae hauptsächlich nur den Tugend-Traktat der Prima Secundae, in dem bereits die drei theologischen und die vier Kardinaltugenden zu einer ersten Bestimmtheit gebracht werden. Die Traktate über lex und ius wären demnach nicht nur weit voneinander entfernt, sondern würden sich der Sache nach gar nicht berühren, da der lex-Traktat in der Prima Secundae von der Tugendlehre unterschieden ist, während die Lehre vom ius in der Secunda Secundae gerade die Erörterung der Tugend „Gerechtigkeit“ eröffnet. Es ist jedoch eine Eigentümlichkeit der thomasischen Summe, die Thematik eines bestimmten Traktates so abzuhandeln, dass diese zunächst in den allgemeinsten und größtmögli1
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Vgl. zu dieser Thematik das Buch des VERF., Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtsicht des thomasischen Gedankens, Hamburg 1998. Die berühmte Gesamteinteilung der STh findet sich im Vorwort der 2. Quaestio der Prima Pars: “Primo tractabimus de Deo; secundo, de motu rationalis creaturae in Deum; tertio, de Christo, qui, secundum quod homo, via est nobis tendendi in Deum”. Dass die Secunda Pars der ST keine “Moraltheologie” im modernen Sinne ist, wird von Pesch in seinem Kommentar im 13. Band der deutsch-lateinischen Thomas-Ausgabe hervorgehoben (S. 532 f.). Denn auch die Abhandlungen der Secunda Pars sind ein integrativer Teil der einen Gesamtdarstellung des Wissens der ST. Zur moralis scientia des Thomas im Ganzen siehe Wolfgang KLUXEN, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 1980 und Eberhard SCHOCKENHOFF, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987.
Lex und Ius bei Thomas von Aquin
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chen Zusammenhang gestellt wird, in den auch andere Traktate gedanklich hinein ragen. Die Traktate der Summe können, im Bilde gesprochen, mit Kreisen verglichen werden, die je eigene Zentren besitzen, sich aber in ihren Flächen auf vielfache Weise überschneiden, sodass dieselbe Lehre u.U. mehrmals, in jeweils gewandeltem Kontext, zur Behandlung ansteht. Die Ausführungen des lex-Traktates beziehen sich auf die Gedankengänge anderer Traktate der ST in reichhaltiger Form. So werden die Lehren von der Vernunft und vom Gewissen in den Darlegungen zum natürlichen Gesetz wieder aufgenommen und unter dem neuen Aspekt des Gesetzes weiter geführt.5 Die Erörterungen zur lex aeterna stehen in gedanklicher Nähe zur Lehre von der göttlichen gubernatio universalis et specialis, die im Beschluss der Prima Pars der ST niedergelegt ist. Wie insbesondere die Lehren über lex und ius miteinander verbunden sind und sich wechselseitig erhellen, soll im folgenden untersucht werden. Dem Aufbau der thomasischen Summe entsprechend soll zuerst auf den lex-Traktat eingegangen werden. In einem zweiten Teil wird die thomasische Lehre von ius und iustitia im Blick stehen, wobei die inhaltlichen Bezüge zum Gesetzes-Traktat herauszustellen sind.
1. DIE THOMASISCHE LEHRE VOM GESETZ Thomas unterscheidet in seinem Gesetzes-Traktat verschiedene Arten von Gesetz, welche Unterscheidung für die Makrostruktur des Traktates bestimmend ist. Die oberste Einteilung ist die zwischen dem sogenannten ewigen Gesetz, der lex aeterna, und den übrigen Gesetzesarten, die als eine Teilhabe (participatio) an der lex aeterna begriffen werden (vgl. I-II,92,2,c und I-II,93,3,c). Die lex aeterna bildet die metaphysische Klammer, die alle Gesetzesarten umfasst. Diejenigen Gesetze, die in je verschiedener Weise an der lex aeterna partizipieren, sind die lex naturalis, die lex humana und die lex divina, die wiederum in das Alte und das Neue Gesetz eingeteilt wird. Während Thomas in der ausführlichen Behandlung aller Gesetzesarten bei der lex aeterna beginnt, um, der Seinsordnung entsprechend, vom an sich Ersten Gesetz zu den übrigen Gesetzesarten herabzusteigen, geht er in seinen allgemeinen Betrachtungen vor der ausführlichen Darstellung aller Gesetzesarten den umgekehrten Weg. In der 90. quaestio der Prima Secundae, die den ganzen Traktat eröffnet, soll das Wesen des Gesetzes überhaupt angegeben, der Begriff „Gesetz“ definiert werden. In dieser quaestio orientiert sich Thomas am menschlichen Gesetz; er geht hier von derjenigen Gesetzesart aus, die nicht an sich bzw. metaphysisch, wohl aber für uns das erste
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Den Zusammenhang der Gesetzeslehre mit der Lehre von der praktischen Vernunft bei Thomas wird umfassend von Martin RHONHEIMER herausgearbeitet in seinen beiden Büchern Natur als Grundlage der Moral. Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik, Innsbruck 1987, und Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994, bes. S. 530 f.
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Gesetz ist und welches ein konsequenter Rechtspositivismus alleine als „Gesetz“ gelten lässt.6 Beachtlich ist, wie der Grundaspekt der moralis scientia, der in der ST, aber noch nicht in der Summa contra Gentiles (ScG) zur Geltung kommt, es Thomas überhaupt erst ermöglicht, innerhalb einer selbständig entworfenen Gesamtkomposition des Wissens die Gesetzes-Thematik angemessen zu entfalten.7 Dieser Zusammenhang zwischen der Komposition der ST und dem lex-Traktat gilt es in einem ersten Teilkapitel in bezug auf die thomasische Definition des Gesetzes und seine Lehre vom ewigen Gesetz zu klären. In einem zweiten Schritt soll das von Thomas gedachte natürliche Gesetz in seinem Verhältnis sowohl zum ewigen wie zum menschlichen Gesetz charakterisiert werden.
1.1. GRUNDASPEKT DER MORALIS SCIENTIA – DEFINITION DES GESETZES – LEHRE VOM EWIGEN GESETZ Ein kurzer Vergleich der jeweiligen Anlage der beiden Summen des Thomas vermag die für die ST eigentümliche Herangehensweise an die GesetzesThematik zu beleuchten. Den ersten drei Büchern der ScG liegt eine gleichsam kreisförmig strukturierte Gedankenentwicklung zugrunde. Das erste Buch handelt von Gott, das zweite Buch von dem Hervorgang der Geschöpfe aus Gott, die in ihren Wesensbestimmungen und Vollzügen dargestellt werden, wobei die anima intellectiva des Menschen im Zentrum steht. Das dritte Buch der ScG erörtert das letzte Ziel der Geschöpfe, das Gott selbst ist. In diesem Buch wird Gottes allgemeine und besondere Weltregierung, durch die die Geschöpfe auf ihr Ziel hin gelenkt werden, umfassend expliziert. Die besondere Leitung der vernunftbegabten Wesen wird von Thomas so gedacht, dass die Geistwesen unbeschadet ihres liberum arbitrium von Gott zu ihrem Endziele geführt werden. Die Gesamtanlage der ersten drei Bücher der SCG könnte durch die Trias Deus – exitus – reditus umschrieben werden, d.i. die Lehre erstens von Gott, zweitens vom Ausgang der Geschöpfe aus Gott als ihrem ersten Prinzip sowie drittens ihrer Rückkehr zu Gott als ihrem letzten Ziele. Innerhalb der Abhandlung von dem göttlichen regimen speciale über die freien Geistwesen, die die Kapitel 111 bis 163 des dritten Buchs der SCG umfasst, begegnet uns die Lehre von der lex divina (III, 111-146). In der ScG findet sich 6
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Eine vergleichbare Doppelung in der Lehrordnung finden wir in der spekulativen Gottes- und Schöpfungslehre des Thomas. In beiden Summen geht Thomas von Gott als dem an sich Ersten zur Schöpfung über. Diese Verfahrensart wird ausdrücklich als die spezifisch theologische Vorgehensweise charakterisiert (ScG II,4 (S. 876) und Prologus (3. Abschnitt) des thomasischen Kommentars Expositio super librum Boethii de Trinitate). Innerhalb der Gotteslehre wird dann aber von den Geschöpfen als dem für uns zuerst Erkennbaren ausgegangen, um von ihnen aus, wie z.B. in den fünf Wegen, auf den Schöpfer zurückzuschließen. Zur Entstehung der Gesetzeslehre innerhalb des thomasischen Œuvre siehe Giuseppe ABBÀ, Lex et virtus. Studi sull’ evoluzione della dottrina morale di san Tommaso d’Aquino, Rom 1983.
Lex und Ius bei Thomas von Aquin
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weder eine Differenzierung zwischen dem ewigen und dem geoffenbarten göttlichen Gesetze noch werden das natürliche und das menschliche Gesetz thematisiert. Dem zuvor wird die Thematik der lex divina lediglich als ein Teilthema des spezifischen ‚Regiments’ Gottes über die vernunftbegabten Geschöpfe angesehen, dessen Besonderheit darin besteht, die Geistwesen um ihrer selbst willen zu ihrem Ziele zu führen (III, 111); gilt doch die göttliche Vorsorge für die vernunftbegabten Wesen nicht nur der Art, sondern auch dem Individuum (III, 113), weshalb der Mensch durch ein Gesetz geleitet werden muss, das dem einzelnen Menschen kund gemacht und von ihm verstanden werden muss (III, 114). Allein das vernünftige Geschöpf ist nach der Lehre der SCG empfänglich für ein Gesetz, weil es bei ihm die Entscheidungsfreiheit gibt, in einer bestimmten Weise tätig zu sein oder nicht (ebd.). Das dem Menschen gegebene göttliche Gesetz ordnet ihn auf sein letztes Ziel hin (ebd.), welches Gott selbst ist (III, 115). Diese Hinordnung auf Gott schließt jedoch den Bezug zum Nächsten mit ein (III, 117f.). Thomas erörtert sodann die verschiedenen Vorschriften der lex divina, z.B. diejenigen bezüglich des rechten Glaubens (III, 118), des Gottesdienstes (III,. 120) oder der Ehe (III, 122f.). Die ST dagegen bietet die Lehre vom Gesetz in einer verwandelten Gesamtdarstellung der Ersten Wissenschaft. Während die Prima Pars der ST als der theoretische Teil der Summe charakterisiert werden kann, in dem auf die Lehre von Gott die Betrachtung des geschaffenen Seienden in seiner Ganzheit folgt, bildet die umfangreiche Secunda Pars den praktischen Teil der Summe. Die spekulative Prima Pars handelt von den Geschöpfen sub ratione Dei, d.h. unter dem Gesichtspunkt, dass sie von Gott als ihrem Ersten Prinzip hervorgehen (creatio), von Gott in ihrem Sosein und ihrer Ordnung gegründet (distinctio) und auf ihr letztes Ziel, das Gott selbst ist, hingeführt werden (gubernatio universalis et specialis). Während die Gesetzes-Thematik in der SCG unter dem Aspekt der göttlichen Weltregierung erblickt wird, wird die Lehre vom Gesetz in der ST von dem entsprechenden Lehrstück ihrer Prima Pars abgetrennt. Denn die ST erörtert das Gesetz erst in ihrer Secunda Pars, die gegenüber der SCG, aber auch gegenüber der Prima Pars der ST, einen durchaus neuen Grundaspekt, eben denjenigen einer moralis scientia geltend macht. In dieser steht nicht mehr Gott und seine Schöpfung im Zentrum, sondern das freie und verantwortliche Handeln des Menschen. Die Einordnung des Gesetzes-Traktats in den praktischen Teil der Summe hat zur Folge, dass Thomas, ausgehend vom menschlichen Gesetz, das in der SCG noch gar nicht vorkommt, seine Definition des Gesetzes erarbeiten kann. Diese allgemeine Definition muss, obgleich in einem bloß analogen Sinne, auch für das ewige Gesetz als die metaphysische Klammer des Gesetzes-Traktates zutreffen. Anders gesagt, die lex aeterna muss in der ST von der allgemeinen und besonderen göttlichen Weltregierung, der gubernatio universalis et specialis – trotz der Nähe und Teilidentität beider Lehrstücke – doch unterscheidbar sein und dem praktischen Grundaspekt der Secunda Pars entsprechen. Die Definition des Gesetzes, die Thomas in den vier Artikeln der 90. quaestio der Prima Secundae der ST erarbeitet und im 4. Artikel präsentiert, lautet: „Das Gesetz ist nichts anderes als eine Anordnung der Vernunft im Hinblick auf das
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Gemeingut, erlassen und öffentlich bekanntgegeben von dem, der die Sorge für die Gemeinschaft innehat“.8 Die Tradition, aus der Thomas seine Definition gewinnt, ist zum einen das römische Recht, wie es dem Mittelalter durch Isidor von Sevilla und Gratian vermittelt wird, zum anderen die Nikomachische Ethik des Aristoteles, insbesondere das Buch über die Gerechtigkeit. Auf die von Thomas eingearbeitete Tradition soll im folgenden nicht das Augenmerk gerichtet werden,9 sondern darauf, wie die Definition entwickelt wird und im thomasischen Gesetzes-Traktat zur Anwendung kommt. In der genannten Definition sind vier Einzelbestimmungen enthalten, die in den 4 Artikeln der 90. quaestio Schritt für Schritt begründet werden und kurz genannt seien. Die erste und grundlegende Bestimmung lautet, dass das Gesetz eine Sache der Vernunft ist. Denn die Vernunft (ratio) ist Regel und Richtmaß (regula et mensura) der menschlichen Tätigkeiten. Das Gesetz, welches eine Art Regel und Richtmaß der Tätigkeiten ist, dem zufolge einer zum Handeln angeleitet oder von bestimmten Handlungen abgehalten wird, ist somit eine Angelegenheit der Vernunft. Die grundsätzliche Ausrichtung des Willens auf das Ziel der Glückseligkeit fällt selber nicht unter das Gesetz, weil sie der Sphäre dessen, was der Regelung des Gesetzes untersteht, sachlich voraus liegt.10 Zweitens gibt die Definition als den Zielpunkt des Gesetzes das Gemeinwohl an (bonum commune). Dieser Bestimmung liegt die aristotelische Sicht der politischen Gemeinschaft zu Grunde. Der Mensch, als zoon politicon, ist Teil eines Ganzen, wobei das Gut des Teiles auf das Gut des Ganzen hingeordnet ist. Daraus kann gefolgert werden, dass ein Gebot, welches eine besondere Handlung befiehlt, nur aufgrund seiner Hinordnung zum bonum commune einen Gesetzescharakter haben kann. Das Gesetz ist demnach, seiner Aufgabe und Bestimmung nach, letztlich immer auf das bonum commune ausgerichtet. Die dritte Einzelbestimmung betrifft die Befugnis zum Gesetzgeben und ergibt sich unmittelbar aus der zweiten. Nicht jeder kann ein Gesetz erlassen, sondern nur derjenige, dem die Sorge für die Gemeinschaft aller obliegt. Das sind, wie Thomas näher darlegt, entweder alle zusammen oder jemand, der die Stelle von allen vertritt und die Gemeinschaft rechtmäßig repräsentiert. Schließlich ist eine vierte Einzelbestimmung in die Definition mit aufgenommen, nämlich die öffentliche Bekanntmachung, die promulgatio der lex. Das Gesetz richtet sich an Alle, es bindet Alle, die ihm unterstehen. Es muss also bekannt 8
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« [...] lex [...] est [...] quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata ». Zur Tradition, auf die sich Thomas bezieht, siehe das immer noch lesenswerte Buch von Michael WITTMANN, Die Ethik des hl. Thomas von Aquin in ihrem systematischen Aufbau dargestellt und in ihren geschichtlichen, besonders in den antiken Quellen erforscht, Freiburg 1933, bes. S. 319 f. So erkennt Thomas der Vernunft zu, Handlungen auf ein (schon bestehendes) Ziel hinzuordnen (I-II,90,1,c.); und im „ad 3“ dieses Artikels werden Wille und Vernunft einander folgendermaßen zugeordnet: „Kraft dessen, dass einer das Ziel will, gebietet die Vernunft hinsichtlich dessen, was zum Ziel hinführt“ („[...] ex hoc enim quod aliquis vult finem, ratio imperat de his quae sunt ad finem“). Vgl. zum Verhältnis von Wille und Vernunft den Kommentar von PESCH ( Fn. 3), S. 544 f., und RHONHEIMER 1994 (Fn. 5), S. 533 f.
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sein, um seine verpflichtende Kraft entfalten zu können. Mehr noch: Der Verpflichtungscharakter des Gesetzes ist ohne die promulgatio nicht zu denken. Während sich Thomas bei der Erarbeitung der allgemeinen Definition von „Gesetz“ am menschlich-positiven Gesetz orientiert, geht er bei der Erörterung der verschiedenen Arten des Gesetzes, wie bereits angedeutet, von dem an sich Ersten Gesetz, der lex aeterna, aus. Das menschliche und das ewige Gesetz dürfen dabei jedoch nicht, so sehr sie voneinander abstehen, schlechthin auseinanderfallen. Der eine Begriff des Gesetzes muss sich vielmehr in allen Gesetzesarten wiederfinden. Thomas’ Erörterung der lex aeterna in der 93. quaestio der Prima Secundae der ST zeigt erstens, dass der Gesetzesbegriff bei Thomas analog verwendet wird und dass nur dadurch die verschiedenen Arten des Gesetzes unter einem Begriff zusammengehalten werden können. Zweitens gilt auch von der Darstellung der ST, dass die beiden Lehrstücke „ewiges Gesetz“ und „göttliche Weltregierung“ partiell miteinander identisch sind. Indem die lex aeterna jedoch als Prinzip aller übrigen Gesetzesarten gedacht wird, erweist sie sich dadurch der neuen praktischen Thematik der Secunda Pars zugehörig. Die allgemeine Begründung dafür, dass eine lex aeterna angenommen werden muss, bedient sich einer doppelten Analogie. In einem ersten Schritt wird der Plan eines Künstlers, der seinem Schaffen zugrunde liegt, mit dem Plan (ratio) verglichen, den ein Regent „für die Ordnung dessen haben [muss], was den seiner Regierung Unterstellten zu tun obliegt“.11 Wie der erstere Plan Kunst (ars) genannt wird, so der letztere Gesetz (lex). Im zweiten Analogie-Schritt werden beide Begriffe auf Gott angewendet, der als Schöpfer mit einem Künstler und als Weltregent mit einem Gesetzgeber verglichen wird. Die lex aeterna wird dementsprechend von Thomas definiert als der „Plan der göttlichen Weisheit, insofern sie alle Handlungen und Bewegungen lenkt“.12 Die so gedachte lex aeterna entspricht sachlich der göttlichen gubernatio der Dinge, die sich ebenfalls auf die ganze Schöpfung erstreckt; aber diese Weltregierung wird jetzt unter dem Aspekt einer ewigen Gesetzgebung bzw. als eine solche gedacht. Damit geht einher, dass die Welt unter dem Aspekt einer vollkommenen Gemeinschaft in den Blick kommt, analog zu einem politischen Gemeinwesen, dem ein rechtmäßiger König sein Gesetz gegeben hat. Schwieriger scheint in bezug auf die lex aeterna die promulgatio, das Moment der öffentlichen Bekanntheit, gedacht werden zu können. Thomas löst diese Schwierigkeit, indem er den vernunftbegabten Wesen eine naturhafte Erkenntnis der allgemeinen Prinzipien des natürlichen Gesetzes zuspricht, welche Erkenntnis als Einstrahlung (irradiatio) des ewigen Gesetzes und als Teilhabe (participatio) an ihm bestimmt wird. An diesem Punkt geht beachtlicherweise die Erörterung der lex aeterna unmittelbar zu den anderen Gesetzesarten, insbesondere zur lex 11
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„[...] sicut in quolibet artifice praeexistit ratio eorum quae constituuntur per artem, ita etiam in quolibet gubernante oportet quod praeexistat ratio ordinis eorum quae agenda sunt per eos qui gubernationi subduntur“. „[...] lex aeterna nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae, secundum quod est directiva omnium actuum et motionum“ (I-II,93,1,c.).
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naturalis, über, deren Partizipationsverhältnis zur lex aeterna ebenso als dessen eigene promulgatio charakterisiert werden kann.13 Wenn Thomas im dritten Artikel dieser 93. quaestio dann alle Gesetzesarten vom ewigen Gesetz herleitet – das er mit einem ersten Beweger, der untergeordnete Beweger bewegt, oder einem obersten König, vom dem sich die Herrschaftsbefugnis niederer Regenten ableitet, vergleicht –, so ist daran zu erinnern, dass Thomas das ewige Gesetz nicht aus dem Willen oder der Macht Gottes begründet, sondern als seinen weisheitlichen Plan, als die ratio seiner sapientia bestimmt. Dem gemäß werden die menschlichen Gesetze auch nur vom ewigen Gesetz abgeleitet, „insofern sie an der rechtgeleiteten Vernunft teilhaben“.14 Die Fundierung aller Gesetze in der lex aeterna stellt daher bei Thomas einen normativen Vernunftmaßstab dar, dem jedes menschliche Gesetz genügen muss, wenn es den Begriff des Gesetzes im Vollsinn erfüllen soll. Die Erfüllung dieses Maßstabes wird bereits hier als die Gerechtigkeit des Gesetzes charakterisiert.15 1.2. LEX NATURALIS UND LEX HUMANA Das erste Gesetz, das unter dem Aspekt einer participatio an der lex aeterna in den Blick kommt, ist die lex naturalis, welches natürliche Gesetz von Thomas sogleich auf das vernunftbegabte Geschöpf bezogen wird.16 Zwar partizipieren alle Geschöpfe in bestimmter Weise an dem ewigen Gesetz, insofern sie „aus seiner Einprägung die Neigung zu den ihnen eigenen Handlungen und Zielen besitzen“.17 Jedoch ist „das vernunftbegabte Geschöpf in einer ausgezeichneteren Weise der göttlichen Vorsehung unterstellt, insofern es auch selber an der Vorsehung 13
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Im „ad 2“ von I-II,91,1 wird die promulgatio der lex aeterna mit dem göttlichen „Wort“ und dem „Buch des Lebens“ identifiziert, weshalb die promulgatio zumindest von seiten Gottes als eine „ewige“ gedacht werden kann. Wenn jedoch danach gefragt wird, wie uns die lex aeterna bekannt ist, so wird diese Frage mit der lex naturalis und ihrer Partizipation an der lex aeterna beantwortet. „Unde omnes leges, inquantum participant de ratione recta, intantum derivantur a lege aeterna“ (I-II,93,3,c.). So hebt Thomas im „ad 2“ des Artikels hervor: „Inquantum vero [lex humana] a ratione recedit, sic dicitur lex iniqua: et sic non habeat rationem legis, sed magis violentia cuiusdam“ („Insofern es [das menschliche Gesetz] jedoch von der Vernunft abweicht, heißt es ungerechtes Gesetz; und so hat es nicht die Bewandtnis eines Gesetzes, sondern vielmehr einer Gewalt-anwendung“). Anthony J. LISSKA, Aquinas’s Theory of Natural Law. An Analytic Reconstruction, Oxford 1996, behandelt eigens “The relation between Eternal Law and Natural Law” (S. 126 f.), wobei zu Recht unterstrichen wird, dass das natürliche Gesetz zwar seinsmäßig im Ewigen Gesetz fundiert ist, dass aber seine Erkenntnis von derjenigen des Ewigen Gesetzes unabhängig ist. „One need not know the eternal law prior to gaining knowledge of the natural law, because one need not know that God exists prior to acquiring knowledge of an essence or naturale kind. If this were not the case, then in principle an atheist or an agnostic could not acquire knowledge of an essence. Aquinas would find this claim incomprehensible” (ebd.). « [...] omnia participant aliqualiter legem aeternam, inquantum scilicet ex impressione eius habent inclinationes in proprios actus et fines » (I-II,91,2,c.).
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teilnimmt, da es für sich und andere ‚vorsehen’ kann“.18 Während die übrigen Geschöpfe nur durch das ewige Gesetz geleitet werden, vermag das vernunftbegabte Geschöpf, dem die freie Entscheidung zu eigen ist, auch selber zu leiten und vorzusehen. Beim Menschen findet sich daher eine vorzüglichere Teilhabe an der lex aeterna, die als das „Licht unserer natürlichen Vernunft“ bezeichnet wird, „durch das wir unterscheiden, was gut und was böse ist. Und diese Unterscheidung ist Sache des natürlichen Gesetzes“.19 In größter sachlicher Nähe zur Charakterisierung der lex naturalis als eines Lichtes der natürlichen Vernunft, durch das wir unterscheiden, was gut und was böse ist, steht die thomasische Lehre von der synderesis. Diese bestimmt er im 12. Artikel der 79. quaestio der Prima Pars der ST als einen besonderen praktischen habitus der menschlichen Seele, kraft dessen uns die Prinzipien dessen, was wir zu tun und zu lassen haben, natürlicherweise eingegeben sind und damit bekannt sind. Weil die synderesis, anders als die praktische Vernunft, nicht schließend zu den konkreten Handlungsanweisungen übergeht, sondern die praktischen Prinzipien selbst erkennt, setzt Thomas sie mit der ‚Einsicht der Prinzipien’ im spekulativen Gebrauch der Vernunft in Analogie. Bereits in der Prima Pars der ST hatte Thomas im Anschluss an die göttliche Weltregierung auch die Teilhabe der Geschöpfe an derselben erörtert, vor allem in Ansehung der (Schutz-)Engel (I,106-114), der Himmelskörper (I,115-116) und der Menschen (I,117-119). Als eine besondere Form dieser participatio wird dort z.B. die Lehrtätigkeit hervorgehoben, durch die ein Lehrer seinen Schüler zur Erkenntnis der Wahrheit, allerdings nicht ohne die geistige Selbsttätigkeit des letzteren, hin leitet. Im lex-Traktat der Prima Secundae wird jedoch die Teilhabe an Gottes ewiger Gesetzgebung praktisch bestimmt, weil als die menschliche Gesetzgebung, die sich auf Handlungen bezieht, charakterisiert.20 Die Grundlage dafür, dass der Mensch überhaupt (gerechte) Gesetze erlassen kann, ist seine natürliche Kenntnis dessen, was gut und böse ist. Grundlage für die lex humana ist daher bei Thomas die lex naturalis. 18
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« Inter cetera autem rationalis creatura excellentiori quodam modo divinae providentiae subiacet, inquantum et ipsa fit providentiae particeps, sibi ipsi et aliis providens » (ebd.). « [...] quasi lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum, quod pertinet ad naturalem legem » (ebd.). RHONHEIMER 1994 (Fn. 5) weist sehr treffend auf die eigentümliche promulgatio der lex naturalis hin: „Bei der Promulgation der ‚lex naturalis’ [...] tut [Gott] dem Menschen nicht die Gebote des Gesetzes kund; sondern er lässt ihn an seiner eigenen ‚ratio aeterna’ teilhaben, damit er diese Gebote auf natürliche und zugleich praktische Weise selbst erkenne. Somit ist die ‚lex naturalis’ im Menschen eine ‚ordinatio’ seiner eigenen ‚ratio’. Der Mensch nimmt also – auf der Ebene der ‚causa secunda’ – an der gesetzgebenden Funktion Gottes teil, und damit auch an seiner ‚providentia’“ (555 f.). – An dieser Stelle lässt sich sehr präzise der prinzipielle Unterschied zwischen Thomas und Kant darlegen. Die natürlich-menschliche Gesetzgebung wird wie die „freie Entscheidung“ des Menschen bei Thomas als eine Zweitursache gedacht; als die prima causa erscheint dagegen die lex aeterna bzw. die göttliche providentia. Die von Kant gedachte praktische Selbstgesetzgebung der Vernunft tritt dagegen schlechthin als Erstprinzip auf; ihr korrespondiert daher notwendig allein die Freiheit in absoluter Bedeutung.
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Eine zentrale Frage des thomasischen Gesetzes-Traktates ist die nach dem Verhältnis des natürlichen Gesetzes, das man später „Naturrecht“ nennen wird, zum menschlich-positiven Gesetze. Thomas hebt im dritten Artikel der 91. quaestio der Prima Secundae das diskursive, schließende Vorgehen der Vernunft hervor, die sowohl als spekulative wie auch als praktische von unbeweisbaren Prinzipien ausgeht, die ihr naturhaft eingesenkt sind, um von diesen allgemeinen Obersätzen zu Folgesätzen voranzuschreiten. Dieses Modell des Syllogismus dient dem Aquinaten dazu, den Unterschied zwischen dem natürlichen und dem menschlich-positiven Gesetz zu erläutern. Naturhaft eingesenkt – und zwar jedem Menschen, weil mit seiner Geistseele, der anima intellectiva, untrennbar verbunden – sind für Thomas nur die allgemeinen Grundsätze des Guten und Bösen, die keine für uns unmittelbar erkennbare Auskunft über die konkreten Fragen abgeben, die durch die positiven Gesetze zu regeln sind. Die „menschliche Vernunft muss [daher] von den Geboten des natürlichen Gesetzes wie von allgemeinen und unbeweisbaren Grundsätzen aus übergehen zur Weisung hinsichtlich des Einzelnen. Und diese aufs Einzelne zielenden Weisungen, die die menschliche Vernunft findet, heißen menschliche Gesetze“.21 Hierin macht sich der Grundcharakter der thomasisch gedachten ratio überhaupt geltend, die sowohl in ihrem spekulativen als auch praktischen Gebrauch durch ihr schließendes Vorgehen charakterisiert wird. Anders als der theoretische und praktische Intellekt, dem die Erkenntnis der spekulativen und praktischen Prinzipien obliegt, ist es Aufgabe der ratio, aus diesen Prinzipien die Folgesätze zu erschließen. Hinsichtlich der praktischen ratio bedeutet dies die Anwendung der praktischen Prinzipien auf das Handeln, das sich als solches niemals im allgemeinen, sondern immer nur in concreto vollzieht.22 Diese Charakterisierung des menschlichen Gesetzes ist normativ und faktisch zugleich. Menschliche Gesetze sollen nichts anderes als Konkretisierungen und Anwendungen des natürlichen Gesetzes sein. Menschliche Gesetze treten auch tatsächlich, zumindest in der Regel, mit diesem Anspruch auf. Wo sie faktisch gänzlich ihrer Bestimmung entgegengesetzt sind – wie z.B. in einer Tyrannis –, kann von „Gesetz“ im vollen Sinne auch nicht mehr gesprochen werden.23 Hier gilt es jedoch erstens näher zu fragen, was genau das natürliche Gesetz gebietet bzw. verbietet. Welche inhaltliche Bestimmung gibt Thomas der lex na-
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« [...] ita etiam ex praeceptis legis naturalis, quasi ex quibusdam principiis communibus et indemonstrabilibus, necesse est quod ratio humana procedat ad aliqua magis particulariter disponenda. Et istae particulares dispositiones adinventae secundum rationem humanam, dicuntur leges humanae […] » (I-II,91,3,c.). Siehe die Artikel 8 und 11 der 79. quaestio der Prima Pars der ST. Sogar für die Gesamtarchitektonik der moralis scientia ist diese Unterscheidung orientierend, da die Prima Secundae den Stoff der Moralwissenschaft ‚im allgemeinen’ betrachtet, während die Secunda Secundae dieselbe Thematik ‚im besonderen’ untersucht. So bezeichnet Thomas die lex tyrannica, die nicht der Vernunft entspricht, auch nicht als Gesetz, sondern als eine „perversitas legis“ (I-II,92,1,ad 4). Vgl. den Beitrag Städtlers zum Widersandsrecht in diesem and.
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turalis? Zweitens soll nachgezeichnet werden, auf welche Weise sich das menschliche Gesetz aus dem natürlichen Gesetz bei Thomas herleitet. Für die erste Frage ist der zweite Artikel der 94. quaestio besonders ergiebig, der die Frage erörtert, ob die lex naturalis mehrere Gebote oder nur ein einziges umfasst. Thomas geht in seiner Antwort von dem Begriff der principia per se nota, der durch sich selbst einleuchtenden Grundsätze, aus. Da gibt es einen obersten theoretischen Grundsatz „Man kann etwas nicht zugleich bejahen und verneinen“ und einen obersten Grundsatz der praktischen Vernunft „Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Schlechte [aber] ist zu meiden“. Das erste wird als ein primum principium, das zweite als ein primum praeceptum bezeichnet. So gesehen gibt es nur einen obersten praktischen, der menschlichen Vernunft naturhaft eingesenkten Grundsatz, ein einziges natürliches Gesetz. Aber dieses eine Gesetz entfaltet sich immanent in viele bestimmte Gesetze, und zwar gemäß dem Wesensaufbau der natura hominis. Das natürliche Gesetz gebietet nämlich dem Menschen, das Gute zu tun und zu erstreben, das für ihn als Menschen gut ist. Sofern der Mensch ein selbständiges Seiendes, eine substantia, ist, gibt es eine naturhafte Neigung in ihm, sein Leben zu erhalten und die Gefahren für es abzuwehren. Dieses „Gut“ zu erstreben und das Gegenteil zu meiden, ist dem Menschen von Natur aus geboten. Der Mensch aber ist nicht nur ein Seiendes, sondern auch ein Sinnenwesen wie das Tier. Das naturhaft Gute des Sinnenwesens besteht nach Thomas z.B. in der Vereinigung von Mann und Frau sowie in der Aufzucht der Kinder. Das ist das bonum für den Menschen als sinnenhaft lebendiges Wesen. Schließlich aber ist der Mensch nicht nur seiend und lebend, sondern auch erkennend gemäß der Geistseele, die seine Wesensform ist. Im Menschen gibt es daher auch eine Neigung zu demjenigen Guten, das ihm gemäß der Natur der Vernunft entspricht. Wie Aristoteles im Beginn seiner Metaphysik hervorhebt „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“24 und in seiner Politik den Menschen als zoon politikon charakterisiert25, d.h. als ein Wesen, dem es nicht äußerlich, zufällig oder nur aufgrund einer Not zukommt, in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben, sondern dem es aufgrund seines Wesens eigentümlich ist, dass er nur in der politischen Gemeinschaft der Polis sein menschliches Gut ganz realisieren kann, – ebenso lehrt Thomas ein Gut, das dem Menschen gemäß seiner Vernunft zuzuerkennen ist. Der Mensch hat, so Thomas, die natürliche Neigung, die „Wahrheit über Gott zu erkennen und in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben“. Dem gemäß umgreift das natürliche Gesetz alles, was auf diese natürliche Hinneigung Bezug hat, z.B. „dass der Mensch die Unwissenheit überwinde, dass er Andere, mit denen er zusammenleben muss, nicht verletze, und was sonst noch damit zusammenhängt“.26 24 25 26
ARISTOTELES, Metaphysik, 980 a 21. ARISTOTELES, Politik, 1253 a 1f. „Tertio modo inest homini inclinatio ad bonum secundum naturam rationis, quae est sibi propria: sicut homo habet naturalem inclinationem ad hoc quod veritatem cognoscat de Deo, et ad hoc quod in societate vivat. Et secundum hoc, ad legem naturalem pertinent ea quae ad huiusmodi inclinationem spectant: utpote quod homo ignorantiam vitet, quod alios non offendat cum quibus debet conversari, et cetera huiusmodi quae ad hoc spectant” (I-II,94,2,c.).
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Das natürliche Gesetz ist in der Sicht des Thomas ein einziges „Tue und strebe nach dem Guten und meide das Schlechte“; zugleich aber ist es als dieses ebenso vielheitlich, weil sich dasjenige, was gut für den Menschen ist, aus der Fülle seiner in sich gestuften (dreifachen) Wesensnatur ergibt.27 Wie sich das Licht, um ein Bild zu gebrauchen, im Prisma in die Farbigkeit auseinanderlegt, so fließen aus dem einen obersten praktischen Gebot bzw. natürlichen Gesetz, insofern es auf die natura hominis bezogen wird, viele und bestimmte Gebote immanent her. Was nun das Verhältnis des menschlich-positiven Gesetzes zum natürlichen Gesetz anlangt,28 so enthält der zweite Artikel der 95. quaestio eine wichtige Präzisierung gegenüber dem bislang Ausgeführten. In der 91. quaestio wurde das Verhältnis der lex humana zur lex naturalis gemäß der syllogistischen Struktur „Grundsätze – Folgesätze“ erklärt. Dieses Verhältnis wird jetzt im zweiten Artikel der 95. quaestio genauer bestimmt. Im ersten Teil dieses Artikels wird unterstrichen, dass das menschliche Gesetz seiner Bestimmung und Aufgabe nach nichts weiter sein soll als die Weiterbestimmung des natürlichen Gesetzes, und dass es gar kein Gesetz im eigentlichen Sinne ist, wo es dieser Bestimmung gänzlich widerspricht. „Man muss aber wissen“, so fährt Thomas präzisierend fort, „dass etwas in doppelter Weise sich vom natürlichen Gesetz herleiten kann: einmal wie die Folgesätze aus den Grundsätzen; ein anderes Mal wie nähere Bestimmungen allgemeiner Sätze“.29 Diese Unterscheidung wird von Thomas folgendermaßen näher erklärt : „Die erste Art gleicht jener, in der bei den Wissenschaften die streng erwiesenen Folgesätze aus den Grundsätzen gezogen werden; die zweite Art gleicht jener, in der bei den Künsten die allgemeinen Vorformen auf etwas Besonderes hin ausgearbeitet werden; so muss der Künstler die allgemeine Vorform ‚Haus’ zu dieser oder jener Form des Hauses ausarbeiten“ (ebd.).30 Diese Unterscheidung wird von Thomas auf die Gesetze angewandt: „Mithin werden gewisse Anweisungen nach Art von Folgesätzen aus den allgemeinen Grundsätzen des Naturgesetzes abgeleitet; so kann z.B. das Verbot ‚Du sollst nicht töten’ als Folgesatz hergeleitet werden aus dem Grundsatz ‚Du darfst niemandem ein Leid antun’. Gewisse Verfügungen werden dagegen abgeleitet nach Art näherer Bestimmungen; so verlangt das Naturgesetz, dass der Schuldige be27 28
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Es ist die Trias „Sein – Leben – Erkennen“. Zu dieser Thematik siehe KLUXE, 1980 (Fn. 4), der in Bezug auf das positive Gesetz von einem „Erscheinen der Geschichtlichkeit menschlichen Daseins unter praktischem Gesichtspunkt“ (237) spricht; auf diese Geschichtlichkeit bezieht KLUXEN dann auch die von Thomas erörterte lex divina (239 f.). „Sed sciendum est quod a lege naturali dupliciter potest aliquid derivari: uno modo, sicut conclusiones ex principiis; alio modo, sicut determinationes quaedam aliquorum communium“ (I-II,95,2,c.). “Primus quidem modus est similis ei quo in scientiis ex principiis conclusiones demonstrativae producuntur. Secundo vero modo simile est quod in artibus formae communes determinantur ad aliquid speciale: sicut artifex formam communem domus necesse est quod determinat ad hanc vel illam domus figuram”.
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straft wird; aber dass ihm diese oder jene Strafe zuerkannt wird, das ist nähere Bestimmung zum Naturgesetz“ (ebd.).31 Die Anweisungen der letzteren Art haben, wie Thomas im Beschluss dieses corpus articuli hervorhebt, einen anderen Verpflichtungsgrund als die Anweisungen der ersteren Art. Während diese ihre verpflichtende Kraft ganz aus dem natürlichen Gesetz herleiten, haben jene, nämlich die Bescheide der zweiten Art, geltende Kraft bloß aus dem menschlichen Gesetz (ex sola lege humana vigorem habent). Mit der skizzierten Unterscheidung hat Thomas einen Spielraum für die Geltungskraft eines bloß positiven menschlichen Gesetzes erarbeitet, nach Analogie der Künste. Jedoch bezieht sich dieses rein positive Moment, wie genau beachtet werden muss, nur auf dasjenige an einem konkreten Gesetz, was aus dem natürlichen Gesetze unableitbar ist. Ein einfaches Beispiel, das unserer eigenen geschichtlichen Welt entnommen ist, kann den hier behandelten Sachverhalt präzise beleuchten. Denken wir an die Anordnung, die auf dem europäischen Kontinent, nicht aber auf den britischen Inseln Geltung hat, nämlich dass Autos auf der rechten Seite der Straße fahren müssen (bei hoher Sanktionsdrohung für die Nichteinhaltung dieser Regel). Diese Verordnung ist unmöglich aus dem natürlichen Gesetze herleitbar. Die Kontinentaleuropäer fahren ebenso wenig naturgesetzentsprechend wie die Briten naturgesetzwidrig fahren. Es scheint sich also um eine bloß willkürliche Anordnung zu handeln, die auf keine Weise aus der lex naturalis hervorgegangen ist. Doch dieser Schein trügt. Die besagte Verordnung ist nur auf eine eigentümliche Weise aus der lex naturae hervorgegangen, die sich nicht durch die Formel „conclusiones ex principiis“ angemessen charakterisieren lässt. Im natürlichen Gesetz liegt nämlich die Forderung an den Gesetzgeber, der dem bonum commune verpflichtet ist, für das Wohlergehen der Bürger zu sorgen. Aus der lex naturae folgt nun zwar nicht, auf welcher Straßenseite die Autos zu fahren haben, wohl aber, dass alle auf derselben Seite fahren. Nicht was hier festgesetzt wird, wohl aber, dass dies festgesetzt und die Festsetzung allen bekannt zu machen ist, fordert das „natürliche Gesetz“. Kurz: Die lex naturae gebietet das bonum commune, zu dem die allgemeine (menschenmögliche) Sicherheit der Bürger gehört. Der lex humana ist hier ein Spielraum gegeben, wie, d.i. durch welche Festlegung in concreto, es diese Forderung erfüllt – vergleichbar dem Künstler, der verschiedene Formen von Häusern entwerfen kann, die aus dem allgemeinen Begriff „Haus“ unableitbar sind. Denn die besonderen Häuser sind eine freie, eben künstlerische Ausgestaltung der allgemeinen Form „Haus“. In der Lehre des Thomas wird somit die lex humana über die Mitte der lex naturalis mit der lex aeterna als ihrem letzten Grunde zusammengeschlossen. Darin liegt erstens, dass auch die von Thomas behandelte lex divina (des Alten 31
“Derivantur ergo quaedam a principiis communibus legis naturae per modum conclusionum; sicut hoc quod est ‘non esse occidendum’, ut conclusio quaedam derivari potest ab eo quod est ‘nulli esse malum faciendum’. Quaedam vero per modum determinationis: sicut lex naturae habet quod ille qui peccat, puniatur; sed quod tali poena puniatur, hoc est quaedam determinatio legis naturae”.
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und des Neuen Testamentes) nicht der lex naturalis und der aus ihr hervorgegangenen lex humana widersprechen kann, da ja alle Gesetze in ein und derselben lex aeterna ihr erstes Prinzip haben. Das Verhältnis der lex divina zur lex naturalis et humana kann also nur entsprechend dem berühmten Grundsatz des Thomas gedacht werden, dass die ‚Gnade die Natur nicht aufhebt, sondern vollendet’.32 Zweitens stellt das von Thomas gedachte Fundierungsverhältnis an das menschliche Gesetz einen normativen Anspruch, der in der Secunda Secundae der ST als die Gerechtigkeit weiter bestimmt wird.
2. DIE LEHRE VON IUS UND IUSTITIA BEI THOMAS Von der sogenannten Kardinaltugend der Gerechtigkeit, die in einem umfangreichen Traktat der Secunda Secundae erörtert wird, ergeben sich eine Fülle von Bezügen zum lex-Traktat der Prima Secundae. Wenn anhand der 58. quaestio der Secunda Secundae betrachtet wird, wie Thomas die Gerechtigkeit charakterisiert und definiert, so wird sogleich klar, warum der Gerechtigkeitstraktat nicht nur zur Moral im engeren Sinne, sondern ebenso sehr zur Rechts- und Staatslehre gehört und wie er mit dem lex-Traktat sachlich verbunden ist. Im folgenden sei zuerst auf die thomasische Wesensbestimmung der Gerechtigkeit eingegangen, um die Sonderstellung der Gerechtigkeit innerhalb der Tugendethik des Thomas zum Vorschein zu bringen. In einem zweiten Schritt soll auf die Lehre vom ius im engeren Sinn zurückgeblickt werden.
2.1. DIE THOMASISCHE WESENSBESTIMMUNG DER GERECHTIGKEIT In der 58. quaestio der Secunda Secundae der ST bestimmt Thomas das Wesen der Gerechtigkeit am Leitfaden verschiedener Aspekte, die von den einzelnen Artikeln dieser quaestio behandelt werden.33 Die iustitia wird von Thomas als die erste und vorzüglichste virtus moralis beurteilt (wobei er in diesem Zusammenhang nicht von der prudentia handelt, die unter den vier Kardinaltugenden die erstrangige ist).34 Die iustitia hat vor der fortitudo und der temperantia aus einem doppelten Grunde den Primat inne. Erstens gilt von der Gerechtigkeit, dass sie den Willen des Menschen vervollkommnet und somit an seinem geistigen Strebevermögen ihr subiectum, ihren ,Träger’ hat. Anders als Bonaventura, der sämtliche Tugenden des Menschen im Willen ansiedelt,35 ordnet Thomas die Tugend der Tapferkeit dem Überwindungsvermögen (potentia irascibilis) und die Tugend 32 33
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Vgl. I,1,8, ad 2 und I,2,2, ad 1. Zur thomasischen Lehre von der Gerechtigkeit siehe den gründlichen Kommentar von Arthur Fridolin UTZ in THOMAS VON AQUIN, ST, Bd. 18 1953. Thomas’ Lehre von der Klugheit ist eindringlich dargestellt von RHONHEIMER 1994 (Fn. 5), S. 319 f. und bes. 558 f. BONAVENTURA, Commentaria in quatuor libros sententiarum III, Distinctio 33, 3. quaestio, Conclusio (S. 716 f.).
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der Maßhaltung dem Begehrungsvermögen (potentia concupiscibilis) als ihren ‚Trägern’ zu. Während die prudentia eine Vervollkommnung des praktischen Intellekts ist, wird die iustitia dem geistigen Strebevermögen namens Wille zugeordnet, welche Zuordnung den Vorrang der iustitia vor fortitudo und temperantia begründet. Der Primat der Gerechtigkeit vor Tapferkeit und Maßhaltung leitet sich zweitens aus ihrem besonderen Gegenstandsbereich, ihrer propria materia, her. Während Tapferkeit und Maßhaltung den Menschen in Ansehung seiner passiones, nämlich der Affekte des Überwindungs- und Begehrungsvermögens, ordnen, hat es die Gerechtigkeit mit den actiones, den Handlungen des Menschen zu tun. Diese Handlungen – und das ist für Thomas der entscheidende Punkt – haben einen Bezug zum anderen Menschen. Durch die Gerechtigkeit wird das Verhältnis zwischen handelnden Personen in eine Ordnung gebracht. Sofern das Verhältnis zwischen einzelnen Personen im Blick steht, wird die entsprechende Gerechtigkeit als iustitia particularis, als Einzelgerechtigkeit, bezeichnet. Wo es um das bonum commune eines Gemeinwesens geht, spricht Thomas von einer iustitia generalis, die er auch als Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) charakterisiert, sofern das Gesetz seiner Bestimmung nach das bonum commune zu seinem eigentlichen Gegenstand hat; auf dieses bonum commune ist jedes Gut der Einzelnen hinzuordnen. Bei der Erörterung der Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Formen hebt Thomas nicht so sehr den Rechtszustand als vielmehr, dem Grundaspekt einer Tugendethik entsprechend, die Gesinnung der Handelnden hervor, deren Handlungsweise einen gefestigten Willen erkennen lassen soll, jedem sein ihm zustehendes Recht zuzuteilen. Die thomasische Definition der Gerechtigkeit besagt dementsprechend, dass die iustitia ein habitus, d.i. eine feste Handlungsdisposition ist, kraft derer der Mensch mit stetem und (gleichsam) ewigem Willen einem jeden sein Recht zuteilt (II-II,58,1,c.). Thomas sieht diese Definition, die er aus der römischmittelalterlichen Tradition aufnimmt, in Harmonie mit der Definition des Aristoteles aus dem fünften Buch der Nikomachischen Ethik, die in der Thomas vorliegenden lateinischen Version lautet: „iustitia est habitus secundum quem aliquis dicitur operativus secundum electionem iusti“ – „Gerechtigkeit ist eine feste Handlungsdisposition, auf Grund derer einer tätig heißt gemäß der Wahl dessen, was gerecht ist“ (ebd.). Wenn Thomas mit Aristoteles von der Einzelgerechtigkeit, d.i. der Gerechtigkeit, die einem Einzelnen gegenüber verwirklicht wird, eine allgemeine Gerechtigkeit unterscheidet, die den Bezug auf das bonum commune eines Gemeinwesens einschließt, so liegt doch allen Formen der Gerechtigkeit, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden sollen, eine gemeinsame Bestimmung zum Grunde. Die Gerechtigkeit ordnet diejenigen Handlungen des Menschen, in denen er sich auf einen Anderen, d.i. einen anderen Menschen, eine Gruppe von Menschen oder ein ganzes Gemeinwesen bezieht. Die iustitia stellt somit nicht sosehr, wie z.B. die temperantia, eine Vervollkommnung des Menschen in sich selbst dar, sondern sie ‚transzendiert’ diese Selbstbezüglichkeit und stiftet, obgleich sie primär eine innere Gesinnung und Handlungsdisposition des einzelnen Menschen ist, einen
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Ausgleich und einen Rechtszustand zwischen den Menschen. Die Frucht der Gerechtigkeit ist die Friedensordnung unter den Menschen. Wird auf den thomasischen Tugendkosmos als ganzen geschaut, so begegnet uns eine mit der iustitia analoge ,Überschreitung’ der Selbstbezüglichkeit erst wieder an seinem höchsten Punkt. Thomas begründet die Vorrangstellung der caritas vor fides und spes genau damit, dass sich fides und spes zwar auf Gott beziehen, aber gleichsam noch in einer selbstbezüglichen Wendung, während sich allein die caritas auf Gott bezieht propter ipsum, um seiner selbst willen. „Glaube und Hoffnung erreichen Gott zwar, sofern uns von Ihm die Erkenntnis des Wahren bzw. die Erlangung des Guten kommt; die Liebe aber erreicht Gott, um bei Ihm selbst zu bleiben, und nicht weil uns von Ihm etwas kommt“.36 Weil die Gerechtigkeit als einzige unter den virtutes morales den Bezug auf den Anderen impliziert, der im Falle der vom Fürsten zu fordernden Gerechtigkeit das ganze ihm unterstellte Gemeinwesen ist, lässt sich auch anhand der Gerechtigkeit die Brücke von der Tugend- zur Gesetzesthematik der ST schlagen.37 Mittels der Definition der Gerechtigkeit lässt sich der normative Anspruch, der an die lex humana zu stellen ist, noch einmal genau bestimmen. Die menschlichen Gesetze müssen, um gerechte Gesetze zu sein – d.h. solche, die in Wahrheit aus der lex naturalis entweder nach Art wissenschaftlicher Schlussfolgerungen oder künstlerischer Ausgestaltungen hervorgegangen sind –, erstens die Ausrichtung auf das bonum commune erkennen lassen und zweitens jedem Einzelnen, dem sie eine Verpflichtung auferlegen, sein Recht zukommen lassen. Worin dieses jeweilige Recht besteht und was es für den Gesetzgeber besagt, muss allerdings mit Hilfe der Klugheit in concreto ermittelt werden.
2.2. DIE LEHRE VOM IUS IN DER ST Die bereits zum Vorschein gekommene Wesenseigentümlichkeit der Gerechtigkeit, „dass sie den Menschen in den Dingen ordnet, die den anderen angehen“, liegt der Lehrentscheidung des ersten Artikels der 57. quaestio “De iure“ zugrunde. Thomas beantwortet hier die Frage, ob das Recht (ius) der Gegenstand der Gerechtigkeit sei.
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„Fides autem et spes attingunt quidem Deum secundum quod ex ipso provenit nobis vel cognitio veri vel adeptio boni: sed caritas attingit ipsum Deum ut in ipso sistat, non ut ex eo aliquid nobis proveniat“ (II-II,23,6,c.). Wie sich umgekehrt auch von der thomasischen Gesetzeslehre die Brücke zu seiner Tugendlehre schlagen lässt, hat KLUXEN 1980 (Fn. 49) im Blick auf das sogenannte Neue Gesetz sehr treffend herausgestellt: „Hier wäre darauf hinzuweisen, daß das Gesetz Christi das ‚Gesetz der Freiheit’ ist und in sich selbst wiederum der Bestimmung durch menschliches Folgern offen steht: seine Setzung ist nur hinsichtlich des absolut Heilsnotwendigen positiv gebietend; zudem wirkt es durch die innere Gnade derart, daß auch dieses Heilsnotwendige auf Grund inneren Antriebs, durch eingegossene Verfassungen gewirkt wird: der Stil der Tugendethik wird so vom göttlichen Gesetz selbst der Theologie nahegelegt“ (S. 238).
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Im entsprechenden corpus articuli geht Thomas von einer Eigentümlichkeit der lateinischen Sprache aus, die im Deutschen gut nachgebildet werden kann. Die iustitia bedeutet einen gewissen Ausgleich, wie der Name selbst anzeigt. „Im Volksmund nämlich heißt es von den Dingen, die einander angeglichen werden, dass sie gerecht gemacht werden (iustari)“.38 Wir kennen im Deutschen die Wendung „eine Waage iustieren“. Während die anderen sittlichen Tugenden darin terminieren, dass sie denjenigen vervollkommnen, der diese Tugenden besitzt und ausübt, so vollendet sich die Tugend der Gerechtigkeit in einem äußeren Ziel, nämlich dem geschuldeten Ausgleich zwischen den Menschen, der im ganzen als Rechts- bzw. Friedensordnung charakterisiert werden kann. „So wird also ’recht’ (iustum) genannt, was die Rechtheit der Gerechtigkeit hat, gerade das also, worin die Tätigkeit der Gerechtigkeit ihren Abschluss findet, auch abgesehen davon, wie sie vom Tätigen gesetzt wird. Bei den anderen Tugenden aber bestimmt sich das ‚Rechte’ nur, sofern es irgendwie vom Tätigen gesetzt wird. Und darum wird der Gerechtigkeit vor allen anderen Tugenden als ihr besonderer und eigentlicher Gegenstand das zugewiesen, was wir das ‚Rechte’ nennen (iustum). Das ist das Recht (ius). Es ist also klar, dass das Recht der Gegenstand der Gerechtigkeit ist“.39 Der besondere Aspekt, unter dem hier das Recht (ius) in den Blick kommt, ist seine untrennbare Verbindung mit der Tugend der Gerechtigkeit, die – wenn auf die späteren quaestiones dieses Traktats vorgeblickt wird – sowohl für den Richter als auch für den fürstlichen Repräsentanten eines Gemeinwesens in besonderer Weise gefordert ist.40 Im 2. Artikel der 57. quaestio, die den Titel trägt, ob das Recht angemessen in ein ius naturale und ein ius positivum eingeteilt wird, begegnet uns eine Unterscheidung, die dem Gedankengang des lex-Traktats analog ist und die jetzt unter einem gewandeltem Aspekt vorgenommen wird. Thomas geht von der Bestimmung aus, dass das ‚Rechte’ einen Ausgleich bzw. eine gewisse Angleichung zwischen zwei Personen darstellt. Die Art dieser Angleichung wird aber in sich unterschieden. Sie kann sich nämlich einmal „aus der Natur der Sache selbst ergeben; zum Beispiel, wenn einer so viel gibt, um genau so viel zurückzuerhalten. Und das wird Naturrecht genannt.“41 Eine andere Art der Angleichung kann sich 38 39
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„[...] dicuntur enim vulgariter ea quae adaequantur ‚iustari’“. „Sic igitur iustum dicitur aliquid, quasi habens rectitudinem iustitiae, ad quod terminatur actio iustitiae, etiam non consideratio qualiter ab agente fiat. Sed in aliis virtutibus non determinatur aliquid rectum nisi secundum quod aliqualiter fit ab agente. Et propter hoc specialiter iustitiae prae aliis virtutibus determinatur secundum se obiectum quod vocatur iustum. Et hoc quidem est ius. Unde manifestum est quod ius est obiectum iustitiae” (II-II,57,1,c.). So wird z.B. im 4. Artikel der 63. quaestio der Secunda Secundae dem Richter eine „falsche Rücksicht auf Personen“ (personarum acceptio) untersagt. Und die 67. quaestio handelt als ganze von der Ungerechtigkeit des Richters in der Rechtsprechung (iniustitia iudicis in iudicando). „[...] sicut dictum est ius, sive iustum, est aliquod opus adaequatum alteri secundum aliquem aequalitatis modum. Dupliciter autem potest alicui homini aliquid esse adaequatum. Uno quidem modo, ex ipsa natura rei: puta cum aliquis tantum dat ut tantumdem recipiat. Et hoc vocatur ius naturale. «
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jedoch auf menschliche Vereinbarung gründen. Hier kann es sein, dass sich jemand mit etwas begnügt, das nicht seiner eigenen Leistung im strengen Sinne gleich ist. „Und das kann wieder doppelt geschehen. Einmal auf persönliche Vereinbarung hin, wie das, was durch einen Vertrag unter Einzelpersonen festgelegt wird. In anderer Weise auf öffentliche Vereinbarung hin; wenn zum Beispiel das ganze Volk zustimmt, dass etwas als einem anderen angeglichen oder angemessen gelten soll; oder wenn der Fürst, der die Sorge für das Volk hat und seine Stelle vertritt, dies so anordnet. Und dies wird das positive Recht genannt“.42 Obgleich Thomas hier einen Spielraum für ein rein positives Recht einräumt, z.B. in Gestalt eines ‚ungleichen’ Privatvertrages zwischen zwei Personen, so bildet doch die Grundbestimmung, dass das Recht überhaupt der Gegenstand der Gerechtigkeit ist, die einschränkende Bedingung der hier gedachten ‚Positivität’. Ein Privatvertrag, in dem ungleiche Werte gegeneinander getauscht werden, muss dennoch angemessen sein, und zwar entweder den Personen, die einen solchen Kontrakt zu beiderseitigem Nutzen abschließen, oder den besonderen Umständen, die möglicherweise zu einem solchen Vertrage geführt haben. Würde eine solche Angemessenheit nicht vorliegen, wie z.B. im Falle einer bloßen Übervorteilung oder des Wuchers, so hätten wir es mit einer Gestalt der Ungerechtigkeit zu tun, die kein Recht begründen kann.43 Wie jede lex humana, um den Namen des „Gesetzes“ zu verdienen, auf bestimmte Weise in der lex naturae verwurzelt sein muss, so kann auch von einem ius positivum nicht im eigentlichen Sinne gesprochen werden, wenn es der Gerechtigkeit direkt zuwider ist. Die thomasischen Lehren des lex- und des iusTraktates stimmen daher in ihrer Grundaussage vollkommen miteinander überein.44 Eine weitere Analogie zwischen dem lex- und dem ius-Traktat kann in folgendem gesehen werden. Die lex naturalis bestimmt Thomas, wie dargelegt, als ein einziges praktisches Gebot, das sich jedoch, insofern es auf die natura hominis bezogen wird, in eine Vielheit von Geboten immanent entfaltet. Einen vergleichbaren Gedanken finden wir in der quaestio „De iure“. Das ius bedeutet einen Ausgleich, das ‚Rechte’ zwischen verschiedenen Menschen. Doch dieser Begriff des ius wird an ihm selbst diversifiziert, nämlich in Ansehung der jeweiligen Gemeinschaftsform, auf die er angewendet wird. Er setzt nämlich zwei Bestimmun42
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„ Alio modo aliquid est adaequatum vel commensuratum alteri ex condicto, sive ex communi placito: quando scilicet aliquis reputat se contentum si tantum accipiat. Quod quidem potest fieri dupliciter. Uno modo, per aliquod privatum condictum : sicut quod firmatur aliquo pacto inter privatas personas. Alio modo, ex condicto publico: puta cum totus populus consentit quod aliquid habeatur quasi adaequatum et commensuratum alteri; vel cum hoc ordinat princeps, qui curam populi habet et eius personam gerit. Et hoc dicitur ius positivum” (IIII,57,2,c.). Vgl. zur Thematik des Wuchers die quaestio II-II,78, wo es um die „Sünde des Zinsnehmens“ (das peccatum usurae) geht, insbesondere den 3. Artikel. Eine explizite Behandlung des Zusammenhangs der thomasischen Lehren über lex und ius findet sich in dem Buch von Harry V. JAFFA, Thomism and Aristotelianism. A Study of the Commentary by Thomas Aquinas on the Nicomachean Ethics, Chicago 1952. Siehe besonders das Kapitel “Natural Right and Natural Law” (S. 167 f.).
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gen voraus, um im Vollsinn angewandt werden zu können. Erstens müssen die Menschen, die in einem ‚Rechts’-Verhältnis stehen, bürgerliche Selbstständigkeit gegeneinander besitzen. Und sie müssen zweitens in einer vollkommenen, d.i. politischen Gemeinschaft miteinander vereinigt sein. Wird die Form der Gemeinschaft über die politische Gemeinschaft hinaus erweitert, wie im Falle des Verhältnisses von Menschen verschiedener Völker zueinander, so spricht Thomas von einem ius gentium (II-II,57,3), dem ein eigener Status neben dem ius naturale, auf das es allerdings zurück bezogen werden muss, und dem ius positivum, zu dem es erhoben werden kann, eingeräumt wird. Das umgekehrte Verhältnis stellt die Hausgemeinschaft dar, in der Menschen miteinander vereinigt sind, die keine bürgerliche Selbstständigkeit und wechselseitige Gleichheit besitzen. Das ‚Haus’ stellt daher eine Sphäre eigenen Rechtes dar; und dieses Recht charakterisiert Thomas in Übereinstimmung mit Aristoteles und dem römischen Recht als ius paternum und als ius dominativum. Der eine Begriff des ius wird somit in sich vervielfacht, insofern er nämlich auf Gemeinschaften bezogen wird, die sich von der politischen Gemeinschaft nach Art des Hauses oder der Gemeinschaft der Völker unterscheiden. Was wir bei Thomas, im Unterschied zu Suárez, noch nicht finden, ist die uns heute ganz geläufige Unterscheidung zwischen Recht und Gesetz derart, dass dieses eine Verpflichtung, jenes hingegen einen Anspruch zum Ausdruck bringt, der später auch als ‚subjektives Recht’ bestimmt wurde. Der thomasische Begriff des ius ist ausschließlich von seinem Ziel her gedacht, nämlich dem zu errichtenden Ausgleich und der Friedensordnung zwischen den Menschen. Dem gemäß enthält das von Thomas gedachte ius ungeschieden in sich die rechtliche Verpflichtung sowie den Rechtsanspruch. Zwischen ius und lex bzw. zwischen ‚subjektivem’ und ‚objektivem’ Recht kann daher bei Thomas keine strenge Trennlinie gezogen werden; vielmehr sind diese beiden Aspekte bei Thomas noch in dem einen Be– griff des ius untrennbar vereinigt. Die summistische Darstellungsart des Thomas, die jedem Hauptbegriff der theologia, hier ihrer moralis scientia, einen eigenen Traktat widmet, verhindert es zwar, dass die Lehren über lex und ius in einen einzigen Traktat systematisch integriert und zusammengeführt werden. Nichtsdestotrotz aber hat sich gezeigt, wie diese beiden in der ST weit auseinanderliegenden Abhandlungen sachlich zueinander gehören und sich wechselseitig ergänzen.
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BIBLIOGRAPHIE Quellen: Thomas von Aquin, Summa contra gentiles libri quattuor / Summe gegen die Heiden. 4 Bde in 5 Tln. Darmstadt 1974-1996. Zit: ScG Buch (I, II etc.), Kapitel (1, 2 etc.). Thomas von Aquin, Summa theologica, lateinisch deutsch. Heidelberg e. a. 1977 / 1953: 13. Bd.: Das Gesetz, kommentiert von Otto Hermann Pesch; 18. Band: Recht und Gerechtigkeit, kommentiert von Arthur Fridolin Utz. Zit. ST, nach Teilen (I, I-II, II-II, III, Suppl.), Frage/quaestio (1, 2 etc.), Artikel/articulum (1, 2 etc.), und innerhalb eines Artikels nach Einwand/objectio (obj. 1 etc.), Gegeneinwand/sed contra (s.c.), Antwort/corpus (c.) und Erwiderungen/ad (ad 1 etc.) Literatur: Abbà, Giuseppe, Lex et virtus. Studi sull’ evoluzione della dottrina morale di san Tommaso d’Aquino, Rom 1983. Bonaventura, Commentaria in quatuor libros sententiarum magistri Petri Lombardi; 3. In tertium librum sententiarum, 1887. Jaffa, Harry V., Thomism and Aristotelianism. A Study of the Commentary by Thomas Aquinas on the Nicomachean Ethics, Chicago 1952. Kluxen, Wolfgang, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 1980. Lisska, Anthony J., Aquinas’s Theory of Natural Law. An Analytic Reconstruction, Oxford 1996. Metz, Wilhelm, Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtsicht des thomasischen Gedankens, Hamburg 1998. Rhonheimer, Martin, Natur als Grundlage der Moral. Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik, Innsbruck 1987. Rhonheimer, Martin, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994. Schockenhoff, Eberhard, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987. Wittmann, Michael, Die Ethik des hl. Thomas von Aquin in ihrem systematischen Aufbau dargestellt und in ihren geschichtlichen, besonders in den antiken Quellen erforscht, Freiburg 1933.
Franz Reimer, Freiburg i. Br.
LEX UND IHRE ÄQUIVALENTE IM GESETZESTRAKTAT DER SUMMA THEOLOGICA THOMAS VON AQUINS ABSTRACT: Using lex as a basic component of his system, Aquinas opts for a highly abstract definition. It integrates the emphatic, Stoic sense of lex as „structure of creation“ as well as the modern use of the term leges (statutes). By defining lex without intellectualistic bias as quaedam rationis ordinatio ad bonum commune Aquinas is able to capture both Old and New Covenant (even St. Paul’s „law in the members of my body“), natural law as well as positive law, including a „complete theory of legal positivism“ (Sten Gagnér). In addition to the explicit definition, Aquinas uses the notion of lex aeterna as ars vel exemplar, thereby showing the wide margin of appreciation human legislators enjoy. The omnipresent, though scarcely analysed concept of regula et mensura – derived from Aristotle – ingeniously highlights the double function of law as guideline and measure.
1. DIE LEHRE VON DER LEX ALS INTEGRATIONSPROGRAMM Thomas von Aquin, der eine Fülle heterogener philosophischer, theologischer und juridischer Gesetzesbegriffe vorfindet, unternimmt es, sie im Gesetzestraktat der Prima Secundae1 zu einem (und in das eigene) System zu integrieren, ohne die Einheit des lex-Begriffs aufzugeben. Dazu bildet er einen hochabstrakten – freilich keineswegs intellektualistischen – Begriff der lex. Die notwendigen Differenzierungen nimmt Thomas durch Numerus und Spezifikationen vor. Die folgenden Ausführungen wollen dies in sechs Schritten nachvollziehen: Sie skizzieren exemplarisch drei ältere, von Thomas aufgenommene Gesetzesbegriffe (2.), die Differenzierung von lex und leges (3.) und die berühmte Definition des Gesetzes als rationis ordinatio (4.). Was die lex ist, bringen schließlich, fast deutlicher als die explizit gegebene Begriffsbestimmung, die von Thomas benutzten Äquivalente regula et mensura (5.) sowie ars vel exemplar (6.) zum Ausdruck.
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Für wertvolle Hinweise danke ich Herrn Prof. Dr. Wilhelm Metz und Herrn Dr. Adrian Walker. ST I-II, 90 ff.; außer Betracht bleiben also der Gerechtigkeitstraktat (II-II, 57 ff.; zum Verhältnis der beiden Stellen zueinander bspw. Stefan LIPPERT, Recht und Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin. Eine rationale Rekonstruktion im Kontext der Summa Theologiae, Marburg 2000, S. 104 m.w.N.) sowie die Gesetzestraktate aus Summa Contra Gentiles (III, 111 ff.) und Sentenzenkommentar (III, 37 ff.).
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2. SPOLIEN a) Zu den Spolien, die Thomas aufgreift, zählt der Gesetzesbegriff Ciceros. Er umfaßt leges im technisch-instrumentellen Sinne,2 vor allem aber den emphatischen lex-Begriff der Stoa. Chrysipp hatte unter Rückgriff auf Pindar paradigmatisch formuliert: „Das Gesetz ist König über alles, über göttliche und menschliche Dinge. Es muß die Autorität sein, die bestimmt, was sittlich schön und was häßlich ist, muß Herr sein und Führer für die von Natur zur staatlichen Gemeinschaft veranlagten Wesen, und demzufolge die Richtschnur [țĮȞȩȞĮ] geben für das, was gerecht und ungerecht ist, indem es befiehlt, was getan werden soll, und verbietet, was nicht getan werden darf.“3
Dieses (stets im Singular stehende) stoische Gesetz ist „nichts anderes als die göttliche Vernunft selbst, die der Natur innewohnt, durch alle Vernunftwesen hindurchgeht und ihr Tun und Lassen regelt.“4 Wie Chrysipp nutzt Cicero zur Bestimmung des Gesetzes das Bild der Richtschnur: Die lex dient als „iuris atque iniuriae regula“.5 Inhaltlich definiert er sie durch die ratio: Das Gesetz ist „recta ratio in iubendo et vetando“6 (eine Definition, der Augustinus später die voluntas anfügen wird)7 bzw. „ratio summa“.8 Insofern ist sie keine bloß äußerliche – geschriebene – Norm.9 Gelegentlich legt Cicero die theologische Basis dieser ratio offen: Die lex ist von den Göttern ins Weltganze, ins Weltgeheimnis verwoben.10 2
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„Populariter“ gesprochen sei lex „quae scripta sancit quod vult aut iubendo aut vetando, ut vulgus appellat.“ (De Legibus I 6, 19). CHRYSIPP, in: Johannes von Arnim (Hrsg.), Stoicorum Veterum Fragmenta, Bd. 3, B. G. Teubner, Leipzig 1903, S. 77, Nr. 314; Übersetzung: POHLENZ, Max, Die Stoa, Geschichte einer geistigen Bewegung [Band 1], Vadenhoeck & Ruprecht, 3.Aufl., Göttingen 1964, S. 132. POHLENZ 31964 (Fn. 3), S. 133. De Legibus I, 6, 19 (in: CICERO, Staatstheoretische Schriften, lat. und dt. von Konrat Ziegler, Akademie-Verlag, Berlin [Ost] 1974, S. 222). Hierzu als Übersetzung von Chrysipp (s.o.): STEIN, Peter, Regulae iuris. From Juristic Rules to Legal Maxims, Edinburgh, Edinburgh University Press 1966, S. 52. De Legibus I 12, 33. Contra faustum XXII 27 (in: Jacques Paul Migne [Hrsg.], Patrologia Latina, Bd. 42, Paris 1841, Sp. 207 [418]): „Lex vero aeterna est ratio divina vel voluntas Dei, ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans.“ De Legibus I 6, 18: „ratio summa insita in natura, quae iubet ea quae facienda sunt, prohibetque contraria. Eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est“; in der Positionierung der lex („insita in natura“) vereinigt Cicero in gewisser Weise Nomos und Physis: Rolf GRAWERT, ‚Gesetz’, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, Stuttgart 1975, S. 863-922 (865). Pro Milone 4, 10 (in: CICERO: Orationes, Bd. 2, Oxford University Press, Oxford 1976, S. 4 f.): „non scripta, sed nata lex, quam non didicimus, accepimus, legimus, verum ex natura ipsa adripuimus, hausimus, expressimus, ad quam non docti sed facti, non instituti sed imbuti sumus.“ Philippica XI 12, 28 (in CICERO [Fn. 9], S. 266): „nihil aliud nisi recta et a numine deorum tracta ratio imperans honesta, prohibens contraria.“ – Dabei ist das „imperare“ und „prohibe-
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Monotheistisch gewendet: „Das wahre Gesetz, das als oberstes zu befehlen und zu verbieten vermag, ist die rechte Vernunft des höchsten Jupiter.“11 b) In deutlichem Kontrast dazu steht der paulinische Gesetzesbegriff, der „Thomas im Verlauf des Traktates noch oft Probleme aufgeben“ wird.12 Bei Paulus kann ȞȩμȠȢ/lex innerhalb desselben Satzes verschiedenste Bedeutungen annehmen: Dekalog, Pentateuch, Altes Testament ingesamt, Regel. Das Gesetz ist heilig und hilfreich;13 so tun die Heiden, die kein Gesetz haben, ijȪıİȚ/naturaliter, was des Gesetzes ist; sie sind sich selbst Gesetz.14 Der neutrale Gesetzesbegriff, der – von Thomas in der Prima Secundae explizit aufgegriffen – der lex membrorum zugrundeliegt,15 wird in der Gegenüberstellung von spiritus und lex16 pejorativ. So steht „Gesetz“ schließlich auch für Schädliches, ja für Fluch.17 Dieses „Gefängnis des Gesetzes“18 kennzeichnet das Stadium des Menschen vor dem Glauben; mit dem Kommen Christi hat es sich geöffnet.19 So sagt Paulus, er sei durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, um Gott zu leben:20 Das Gesetz, zunächst durchaus ʌĮȚįĮȖȦȖȩȢ/paedagogus, ist nicht nur kein Mittel mehr auf dem Weg zu Gott, sondern geradezu Hindernis. c) Schließlich ist an die juridischen Gesetzesbegriffe zu erinnern.21 Schon bei Isidor von Sevilla, an den sich Gratian anlehnen wird, kann lex, terminologisch gebraucht, eine bestimmte Rechtsquelle bezeichnen.22 Diese Begriffshülle steht bereit, als um 1200, in der Kirche beginnend, ein Prozess der allgemeinen Ratio-
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re“ ist nicht so zu verstehen, als würde die lex lediglich äußerlich-juridisch wirken; jedenfalls schreibt Cicero dem Gesetz auch eine ethische Bedeutung zu: „vitiorum emendatricem legem esse oportet commendatricemque virtutum“ (De Legibus I 22, 58, in: CICERO [Fn. 5], S. 246). „lex vera atque princeps, apta ad iubendum et ad vetandum, ratio est recta summi Iovis“: De legibus (II, 4,10); Übersetzung PESCH, Otto Hermann, Das Gesetz. Deutsche Thomasausgabe, Bd. 13, F. H. Kehrle, Heidelberg/Verlag Styria, Graz/Wien/Köln 1977, S. 561, mit Hinweis auf 93, 1, c.: „lex aeterna nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae“. PESCH, in: Thomas von Aquin 1977 (Fn. 11), S. 546 f. Röm. 7, 12. Röm. 2, 14 f.; hierzu I, 21, 1 ad 2: „Deus autem sibi ipsi est lex.“ Röm 7, 23; vgl. hierzu 90, 1. Gal. 5, 18; hierzu 93, 6 obj. 1. Gal. 3, 10. Gal. 3, 23. Gal. 3, 19 ff. Gal. 2, 19a. Zur Vieldeutigkeit der lex im Mittelalter vgl. etwa Sten GAGNÉR, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960, S. 56 f. m.w.N. Etym. II, 85 c. X (in: Jacques Paul Migne [Hrsg.], Patrologie Latina, Bd. 82, Paris 1850, Sp. 73 [130 f.]): „1. Lex est constitutio populi, quam majores natu cum plebibus sanxerunt. Nam quod rex aut imperator edicit, constitutio vel edictum vocatur. Institutio aequitatis duplex est, nunc in legibus, nunc in moribus. Inter legem autem et mores hoc interest, quod lex scripta est; mos vero est vetustate probata consuetudo, sive, lex non scripta; nam lex a legendo vocata, quia scripta est. 2. [...]. 3. Porro si ratione lex constat, lex erit omne iam quod ratione constiterit, duntaxat quod religioni congruat, quod disciplinae conveniat, quod saluti proficiat. [...].“ – Ähnlich Etym. V, 195 c. X (in: Migne, a.a.O., Sp. 73 [200]). Hierzu bspw. LOTTIN, Oden, Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe siècles, tome II: Problèmes de morale, Abbaye du Mont César, Louvain/J. Duculot, Gembloux, 1948, S. 12 ff.
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nalisierung aufbricht, der zu einer zuvor unbekannten „Juristifizierung“23 führt.24 Friedrich II. beansprucht ab 1220 unter Rückgriff auf die Formel pro temporis necessitate novas leges condere25 vermehrt die Befugnis zur einseitig-hoheitlichen Gesetzgebung.26 Es kommt zu einer Wiederentdeckung der Gesetzgebung.27 „Theoretisch durchformt wird die neue Gesetzgebung von Thomas von Aquin“28 – anhand des Begriffs lex.
3. LEX UND LEGES Weil das Seiende für Thomas von Aquin nicht disparat, sondern Schöpfung, d.h. in seinen Teilen gleichursprünglich und von daher dem Verständnis zugänglich ist, lassen sich durchgängige Strukturen erschließen und benennen. Dazu nutzt Thomas die lex. Sie verbindet – zunächst begrifflich – das ewige Gesetz (lex aeterna), das natürliche Gesetz (lex naturalis), das menschliche Gesetz (lex humana) und das göttliche Gesetz (lex divina). Freilich muß Thomas auch das paulinische Gesetz der Sünde (lex peccati) integrieren. Es versteht sich, daß ein umfassender Gesetzesbegriff hochabstrakt gerät.29 Er muß einheitsstiftend, aber doch differenzierungsfähig sein. Für eine erste Unterscheidung nutzt Thomas den Numerus. Lex steht im Gesetzestraktat ganz überwiegend im Singular. Von leges spricht er entweder zur Kennzeichnung der verschiedenen Gesetzestypen30 oder aber bestimmter Korruptionszustände im Zusammenhang mit dem menschlichen Gesetz;31 selten ist der Plural neutral verwendet.32 Thomas verwendet also einen emphatischen, summa23
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Peter RASSOW, Peter, Honor Imperii, München 1961, S. 91 f.; hier zit. n. GRAWERT 1975 (Fn. 8), S. 863 (870). GRAWERT 1975, S. 870. Dictatus Papae Gregors VII (1080). GRAWER, 1975 (Fn. 8), S. 87. BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, S. 234: „(Neu-)Entdeckung“. GRAWERT 1975 (Fn. 8), S. 872. Nach PESCH, in: Thomas von Aquin 1977 (Fn. 11), S. 543, 550, fungiert lex hier nicht als univoker Gattungsbegriff, sondern wird eher als Analogon in seine Analogate entfaltet; so auch METZ, Wilhelm, Lex und ius bei Thomas von Aquin, in diesem Band, S. 17. Andererseits erscheint die thomasische lex-Definition betont abstrakt (quaedam … ordinatio); unbeschadet der Tatsache, daß die Begriffsmerkmale (z.B. Promulgation) im einzelnen unterschiedliche Ausprägungen finden, hält Thomas im Grundsatz an ihnen und damit an der lexDefinition für alle Gesetzestypen fest (in diese Richtung wohl auch Arthur F. UTZ, in: Thomas von Aquin 1996, S. 175 f.). Eine Ausnahme ist die lex fomitis (91, 6) welche Thomas die willkommene Gelegenheit zum Hinweis auf das Gesetz im passiven bzw. partizipativen (und damit nicht normativen, sondern deskriptiven) Sinne gibt. 93 vor 1; 93, 3c („Unde omnes leges, inquantum participant de ratione recta…“); ferner 91: de legum diversitate. Z.B. 91, 3 ad 3; 91, 4c („diversae et contrariae leges“); 92, 1, 4; 93, 3, 2. Vgl. auch die „diversitas legis positivae apud diversos [populos]“, 95, 3 ad 3. So offenbar 91, 3 ad 1 a.E.; 93, 3 s.c. (im Anschluß an ein Pluralzitat aus Spr. 8, 15); 95, 1.
Lex und ihre Äquivalente im Gesetzestraktat
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tiven lex-Begriff mit Anklängen an die Stoa. Dies kommt prägnant zum Ausdruck in seiner Prämisse: „In einem Reich eines Königs gibt es nur ein Gesetz“ (91, 5, 1).33 Lex ist damit (in aller Regel) der Inbegriff der einzelnen Normen innerhalb eines Regelungsbereichs, „Recht“.34 Mit der steten Verwendung des Singulars drückt Thomas die Widerspruchsfreiheit und Konsistenz der Einzelnormen aus, ihre Zusammengehörigkeit, ihren Charakter als Teile eines Regelungskomplexes. Das Wegfallen der leges in der Bedeutung von Einzelnormen kompensiert Thomas durch die häufig gebrauchten Begriffe praecepta und mandata. Das Gesetz wird so zum Oberbegriff über die einzelnen praecepta35 und mandata36. Umgekehrt ist praeceptum die Anwendung der lex (z.B. 90, 2 ad 1).
4. DIE LEX ALS RATIONIS ORDINATIO In der berühmten Gesetzesdefinition37 ist ordinatio der Zentralbegriff: die Herstellung eines ordo (abgeschwächt durch das vorgestellte quaedam). Der im klassischen Latein vor allem in Architektur und Grammatik gebrauchte Begriff der ordinatio sagt nichts über das Medium der Ordnungsstiftung; insofern führt die Übersetzung mit „Anordnung“ – einem Wort, das nicht nur das Ergebnis eines Ordnungsprozesses, sondern auch ein Mittel zu seiner Herstellung (den Befehl) meinen kann – in die Irre. Daß Thomas die Festlegung auf ein solches imperatives Mittel nicht intendiert, zeigt die Charakteristik des Gesetzes als einer Weisung: Gott unterweist durch das Gesetz (instruit: 90 vor 1). Darin liegt zwar, da das Gesetz Verpflichtungskraft, virtutem obligandi (90, 4, c.), hat,38 mehr als bloßes Anraten (vgl. 92, 2 ad 2), aber nicht stets Befehl oder Zwang: Wo Thomas vom gebietenden Charakter des Gesetzes spricht (92, 2, c.), relativiert er den Begriff des „Gebots“ sogleich (vgl. 92, 2 ad 1); und vor allem kann das Gesetz nicht nur Gebot i.e.S. und Verbot beinhalten, sondern auch Erlaubnis (92, 2, c.). Die Zwangsgewalt (vis coactiva) erwähnt Thomas nur beiläufig (90, 3 ad 2); sie dürfte daher
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Eine Aussage, die in der Erwiderung – freilich unter Rückgriff auf das Wort mandata – bereits eine erste Modifikation erfährt. Anders zur Unterscheidung von ius und lex: LIPPERT 2000 (Fn. 1), S. 102 f.: lex alleinstehend als „Regel, Norm, Vorschrift“ zu verstehen. Vgl. etwa 91, 3, c.; 91, 5 ad 3; 92, 2, c.; 94, 1, c.; 94, 2, c.; 94, 2 ad 1, ad 2; 94, 5, c. – Im Singular dient praeceptum offenbar auch als Oberbegriff über alle Arten von Handlungsaufforderungen, vgl. 90, 2, c.: „cum lex maxime dicatur secundum ordinem ad bonum commune, quodcumque aliud praeceptum de particulari opere non habeat rationem legis nisi secundum ordinem ad bonum comune“; ferner 90, 3 ad 3; 92, 2 ad 1. Z.B. 91, 5c: „ad legem pertinet inducere homines ad observantias mandatorum”; 91, 5 ad 1. 90, 4, c.: „definitio legis […] nihil est aliud quam quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata“. Insofern unterscheidet Thomas nicht zwischen einer lex imperativa und einer lex indicativa wie Gregor von Rimini (In 2 Sent., d. 34, q. 1, a. 2); hierzu Rainer SPECHT, Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 86-113 (100 f.).
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nicht wesentliches,39 sondern nur konsekutives Element des Gesetzes sein.40 Daher ist die ordinatio ad bonum communem nicht „Anordnung“, sondern Hinordnung, Ausrichtung.41 Gegenstand der ordinatio sind die actus.42 Diesen Begriff faßt Thomas allerdings weit; im Falle des göttlichen Gesetzes schließt er die inneren Handlungen des Menschen (interiores actus), ja sogar die Regungen ein (interioribus motibus, 91, 4c). Die actus der Menschen wiederum sind auf die Tugend (92, 1 ad 1), also auf das Glück bezogen. Subjekt der Hinordnung der Handlungen ist die ratio.43 Daß sie sich hier44 mit „Vernunft“ übersetzen läßt, macht den thomasischen Gesetzesbegriff allerdings nicht zu einem intellektualistischen.45 Denn erstens definiert Thomas die lex nicht als „ordinatio secundum rationem“ (arg. 91, 6, c.); er kennt durchaus vernunftarme, wenn nicht vernunftlose Gesetze.46 Auch das irrige, „unvernünftige“ Gesetz bleibt Gesetz;47 es kann durchaus eine lex ohne (inhaltliche) Vernunft geben, so39
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So Ulrich KÜHN, Via Caritatis. Die Theologie des Gesetzes bei Thomas von Aquin, Göttingen 1965, S. 137: Der Zwangscharakter sei implizit im Tatbestandsmerkmal „ab eo qui curam communitatis habet“ enthalten. Otto SCHILLING, Die Staats- und Soziallehre des hl. Thomas von Aquin, Paderborn 1923, S. 150. Zum zugrundeliegenden Verb ordinare vgl. 90, 1, c., ad 2; 92, 1, c.; sowie zu den Facetten von ordinatio Ludwig SCHÜTZ, Thomas-Lexikon (1895), Ndr. Stuttgart 1958, S. 552 f. – Auch sonst taucht immer wieder das direktive Element der lex auf: „lex ad hoc datur ut dirigat actus humanos“ (92, 1 ad 1); „lex importat rationem quandam directivam actuum ad finem“ (93, 3); „lex est directiva actuum qui conveniunt subjectis gubernationi alicuius“ (93, 5); „lex dicitur directiva actuum in ordine ad bonum commune“ (93, 1 ad 1); ferner 91, 5 ad 3; zum Moment der Steuerung vgl. die Definition der lex als „quoddam dictamen practicae rationis in principe qui gubernat aliquam communitatem perfectam“ (91, 1, c.); ähnlich 92, 1, c.: „lex nihil aliud est quam dictamen rationis in praesidente, quo subditi gubernantur“. Vgl. z.B. 90, 1, c.; 91, 4, c.; 92, 1 ad 1, 2, c.; 93, 3, c. Die Lesart der Wendung rationis ordinatio als genetivus subiectivus hat zwei Vorzüge: Sie kann die lex membrorum besser erklären; und sie fügt sich besser in die Frage ein, „utrum ratio cujuslibet sit factiva legis“ (90, 3). So soll ratio in jenem späteren Passus, der die lex aeterna definiert („lex aeterna nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae“; 93, 1) nicht „Vernunft“ bedeuten – Gott komme intellectus zu, aber keine ratio im Sinne schrittweisen, diskursiven Erkennens –, sondern „Wesensgrund, Sinngrund, Sinnstruktur“: KÜHN, 1965 (Fn. 39), S. 141 ff.; ihm folgend PESCH, in: Thomas 1953 (Fn. 11), S. 547. Sonst steht ratio auch für „Bewandtnis“ (91, 6) oder „Plan“ (93, 3). So aber die allgemeine Meinung, vgl. z.B. Arthur KAUFMANN, Rechtsbegriff und Rechtsdenken, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 21-99 (29); LIPPERT 2000 (Fn. 1), S. 108; ferner BÖCKENFÖRDE, 2002 (Fn. 27), S. 225. Versteht man ratio (mit ihnen) als Vernünftigkeit, so könnte Thomas sie in seiner Definition als Mahnung für die reger werdenden Gesetzgeber betont haben. Von der Neigung zur Sinnlichkeit („Zunder“) sagt er, beinahe in einem Wortspiel: „In hominibus autem secundum hoc non habet rationem legis, sed magis est deviatio a lege rationis“ (91, 6, c.). Daß ein Gesetz von der Vernunft im positiven Sinne (recta ratio, 93, 3 ad 2) abweichen kann, ohne jedenfalls zur Gänze die Gesetzesqualität zu verlieren, sagt Thomas selbst (93, 3 ad 2): „Inquantum vero a ratione recedit, sic dicitur lex iniqua: et sic non habet rationem legis, sed
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fern die Zuständigkeitsordnung gewahrt ist.48 Ratio ist demnach als media vox zu verstehen, lediglich eine Instanz im Normgeber. Zweitens schließt die ratio (in diesem Sinne als Instanz, nicht als inhaltliche Qualifizierung des Gesetzes verstanden) die Mitwirkung des Willens nicht aus. Er wird als selbstverständlich zugrundegelegt.49 So setzt ja auch das Befehlen, obwohl Handlung der Vernunft, den Willen voraus.50 Daß die lex keineswegs intellektualistisch aufzufassen ist, bestätigen die anderen Beschreibungen des Gesetzes, insbesondere51 als regula et mensura sowie als ars vel exemplar (zu diesen Begriffspaaren sogleich). Weiteres Merkmal der lex ist die Hinordnung auf das bonum commune.52 In ihr liegt eine bemerkenswerte „Veränderung gegenüber der traditionellen LegesLehre: Nicht mehr die Ableitung oder Konkretisierung aus der lex naturalis steht an erster Stelle, sondern die Ausrichtung auf einen eigenen Zielbegriff.“53 Dieses Ziel ist einerseits nicht aus dem System herausgebrochen: Wenn felicitas vel beatitudo eigentlicher Fluchtpunkt des Gesetzes (90, 2, c.) und damit „integrierender Bestandteil des Gesetzesbegriffes“ ist,54 so muß das Gemeinwohl bei Thomas in Beziehung zu ihnen stehen. Dies führt andererseits aber „nicht zu einer theologischen Okkupierung des Gemeinwohlbegriffs, sondern durchaus zur Freisetzung in die irdisch-natürliche Aufgabe.“55 Das Gemeinwohl ist dabei nicht die Resultante innerhalb eines Kräfteparallelogramms der Gesellschaft, sondern das gemeinsame
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magis violentiae cuiusdam“; auch der Nachsatz betont den zweischneidigen Charakter der lex iniqua (s. folgende Fn.); vgl. ferner 92, 1, c. zur lex des eigensüchtigen Gesetzgebers. „Et tamen in ipsa lege iniqua inquantum servatur aliquid de similitudine legis propter ordinem potestatis ejus qui legem fert, secundum hoc etiam derivatur a lege aeterna; ‚omnis’ enim ‚potestas a Domine Deo est’, ut dicitur Rom. 13.“ (93, 3 ad 2). – Dies ist einer der Grundsteine der „vollständigen Ideologie des Gesetzespositivismus“ bei Thomas; zu ihr GAGNÉR, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Fn. 21), S. 279; vgl. ferner Fn. 55. Daraus ergibt sich natürlich kein Freibrief für den Gesetzgeber; zu den Vorgaben den Beitrag von METZ in diesem Band, S. 17. Deutlich z.B. 97, 3, c. – Nach a.A. ist das „Willensmoment bei der Gesetzgebung gerade in der Übergabe der sittlichen Vernunfterkenntnis nach außen“, also in der Promulgation, zu sehen: KÜHN, 1965 (Fn. 39), S. 138 f. I-II, 17,1, c.: „imperare est actus rationis, praesupposito tamen actu voluntatis“; näher 90, 1 ad 3. Der Begriff dictamen rationis ist ähnlich uneindeutig wie ordinatio, vgl. 91, 1, c.: „dictamen practicae rationis in principe qui gubernat aliquam communitatem perfectam“; 91, 3, c.: „dictamen practicae rationis“; 92, 1, c.: „dictamen rationis in praesidente, quo subditi gubernantur“. Zu ihr bspw. GAGNÉR 1960 (Fn. 21), S. 270 ff. BÖCKENFÖRDE 2002 (Fn. 27), S. 235. KÜHN 1965 (Fn. 39), S. 134. BÖCKENFÖRDE, 2002 (Fn. 27), S. 236; anders wohl KÜHN 1965 (Fn. 39), S. 135: bonum commune „in seiner Spitze ein religiöser Begriff“. Für das menschliche Gesetz stellt Thomas indes, durchaus neuzeitlich, auf die äußere Ruhe und den Frieden des Gemeinwesens ab: „Legis enim humanae finis est temporalis transquillitas civitatis, ad quem finem pervenit lex cohibendo exteriores actus, quantum ad illa mala quae possunt perturbare pacificum statum civitatis“ (98, 1, c.; vgl. auch 95, 1, c.; hierzu mit der These einer Theorie des Gesetzespositivismus GAGNÉR 1960 (Fn. 21), S. 194 ff., 279).
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Glück, felicitas communis (90, 2, c.). Insofern macht der Bezug auf das Gemeinwohl56 bereits klar, daß sich das Gesetz stets auf eine communitas bezieht. Das Merkmal ab eo qui curam communitatis habet greift die Bindung an die communitas nochmals auf und fügt die Wahrung der inneren Zuständigkeitsordnung hinzu. Und schließlich gehört die Publizität kraft Verkündung zur thomasischen lex-Definition.57 Die Leistungsfähigkeit dieser abstrakten Begriffsbestimmung für die von Thomas verfolgten Zwecke ist offenbar. Denn lex vermag nun alle Phänomene zu erfassen, die Thomas integrieren will, insbesondere die Gebote des Alten Testaments und des Evangeliums, aber auch die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos und selbst das paulinische Gesetz der Sünde. Denn die lex in membris (lex fomitis)58 ist kraft Teilhabe Gesetz (participative dicitur lex, 91, 6, c.); sie ist Gesetzmäßigkeit, Regelunterworfenheit, Gesetz im deskriptiven Sinne. Als solches ist sie Kehrseite eines Gesetzes im eigentlichen, im normativen Sinne.
5. DIE LEX ALS REGULA ET MENSURA Thomas’ Grundannahmen zum Gesetzesbegriff kommen in den beiläufigen Bestimmungen und Gleichsetzungen mindestens ebenso deutlich zum Ausdruck wie in der (skizzierten) Definition. Immer wieder greift Thomas zur Beschreibung der lex auf das Begriffspaar regula et mensura,59 Richtschnur und Maß, zurück. Ursprünglich bedeutete regula, Übersetzung des griechischen țĮȞȫȞ, etwas Gerades, insbesondere aus Holz, sodann den damit benutzten Maßstab,60 das Lineal.61 Cicero verwendet den Begriff, wie gezeigt, in Anlehnung an Chrysipp ethischjuridisch.62 Im Römischen Recht wächst den regulae iuris (vgl. bspw. D. 50.17) eine – im einzelnen kontrovers beurteilte – erhebliche Bedeutung zu, die später ins kanonische Recht ausstrahlt. Mensura begegnet dagegen auch im Corpus iuris ganz überwiegend im gegenständlichen Sinne, etwa als mensura agri; sehr selten
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Der nach LIPPERT (1965 (Fn. 1), S. 108 zu 90, 2) ein graduelles Moment in die Gesetzesdefinition einfließen läßt: „Ein Gesetz ist umso mehr Gesetz, je mehr es am Gemeingut ausgerichtet ist.“ Das Tatbestandsmerkmal ist promulgata; zur Nichtselbstverständlichkeit dieses Elements PESCH, in: Thomas von Aquin 1977 (Fn. 11), S. 549 f. Vgl. oben bei Fn. 15. Z.B. 90, 1, c.; 90, 1 ad 1; 90, 2, c.; 90, 4c; 91, 2, c.; 91, 4 ad 2; 95, 3c; 96, 2, c.; abgeschwächt 91, 6 ad 2 („est lex quasi regula et mensura“); vgl. ferner 91, 6c („lex essentialiter invenitur in regulante et mensurante”). STEIN, Regulae Iuris (Fn. 5), S. 51. Zum Kanon („Rohr“) vgl. WACKE, Andreas, Das Rechtswort. Kanon., in: JURA 31 (1991), S. 165-166. Vgl. Georges Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Band II, 11. Auflage, Basel 1962, s.v. regula. De Legibus I, 6, 19: lex „iuris atque iniuriae regula“; hierzu STEIN, Regulae Iuris (Fn. 5), S. 52. Gegen eine direkte Rezeption von De Legibus durch Thomas: LOTTIN, Psychologie (Fn. 22), S. 16 f.
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wird es im übertragenen Sinne gebraucht.63 Das Wort – mit „Standard“ übersetzbar64 – scheint seine quantifizierende Funktion nie abgelegt zu haben. Die eingängige Kombination von regula und mensura stammt offenbar von Aristoteles, der sie in der Nikomachischen Ethik en passant verwendet.65 Thomas nutzt die Komplementarität der Begriffe. Denn das Wortpaar erfaßt die prospektive, steuernde, ausrichtende66 wie die retrospektive, maßstäbliche, urteilende Dimension von Normen. Ist die regula handlungsleitend, so die mensura erkenntnisleitend.67 Damit hat die lex (modern gesprochen) den Doppelcharakter von Handlungs- und Kontrollnorm.
6. DIE LEX ALS ARS VEL EXEMPLAR Schließlich wählt Thomas den Vergleich der lex mit einem Kunstgegenstand oder Muster. Anlaß ist die – wohl von Cicero68 und Augustinus69 inspirierte – Frage, ob die lex aeterna als summa ratio bezeichnet werden könne. Thomas bejaht sie und verweist zur Begründung auf den artifex, der wie ein Regent zunächst einen Plan, eine Ordnungsvorstellung haben muß: „Den Plan dessen, was durch die Kunst gestaltet wird, nennt man künstlerischen Entwurf [ars] oder Muster [exemplar] der Kunsterzeugnisse. Entsprechend hat der Beschluß [ratio] dessen, der die Tätigkeit seiner Untergebenen regiert, die Bewandtnis des Gesetzes, unter Wahrung dessen, was wir oben zum Wesen des Gesetzes gesagt haben. Gott aber ist kraft seiner Weisheit der Urheber aller Dinge insgesamt. Er steht diesen gegenüber wie der Künstler seinen Werken. […] Wie deshalb der Plan der göttlichen Weisheit, sofern durch sie alles erschaffen ist, die Bewandtnis des künstlerischen Entwurfs oder des Musters oder des Urbildes [idea] hat, so besitzt der Plan der göttlichen Weisheit, die alles auf das gebührende Ziel hinbewegt, die Bewandtnis des Gesetzes.“70
Pauline Westerman hat dies zum Ausgangspunkt weitreichender Überlegungen gemacht.71 Ausgehend von den Begriffen ars vel exemplar interpretiert sie die 63
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LUCAN, Bellum civile, I, 175 f. (in: DERS., Bellum civile, übers. Und hrsg. V. Wilhelm Ehlers, Heimeran Verlag, 2. Aufl., München 1978, S. 18): „mensuraque iuris vis erat“ (über den Bürgerkrieg). Vgl. Oxford Latin Dictionary, Oxford 1968, S. 1100: „standard“. NE 1113a 33: țĮȞȫȞ țĮȓ μȑIJȡȠȞ (über den tugendhaften Menschen/ıʌȠȣįĮȚѺȠȢ). Das direktive Moment schwingt in regula bereits etymologisch mit; zur Herkunft von regere STEIN 1966 (Fn. 5), S. 51. Zum Steuerungsmoment oben FN 41. In Nuancen anders Pauline WESTERMAN, The Disintegration of Natural Law Theory, Leiden e. a. 1998, S. 29: Lex „is a rule, since it directs the elements to their appropriate ends, a measure, in so far as it makes sure that the elements stand to one another in due proportion.“ Vgl. oben bei Fn. 6 ff. De libero arbitrio I, VI (in: Corpus Christianorum, series Latina, Bd. XXIX, Brepols, Turnhout 1970, S. 220, auch in: Jacques Paul Migne [Hrsg.], Patrologia Latina, Bd. 32, Paris 1845, Sp. 1222 [1229]), zit. in 93, 1 s.c. 93, 1 c.; Übersetzung: PESCH, in: Thomas von Aquin 1977 (Fn. 11). WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 26 ff.
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lex aeterna als „divine style“.72 Die Schöpfung sei ein „artistic product“, daher seien die Geschöpfe „expressions of the divine style, in just the same way as we might say that Monet’s waterlilies are an expression of ‘impressionism’.“73 Sofern Vernunftwesen, könnten sie diesen Stil auch bewußt annehmen. Dementsprechend lasse sich „’natural law’ as the adoption of the divine style“ verstehen.74 Westerman erklärt mit dieser Neuübersetzung, - daß Gott dem Gesetz nicht selbst unterworfen ist,75 - daß die lex eine deskriptive wie eine normative Dimension hat,76 - daß ihr nicht nur ein negativ-prohibitiver, sondern auch ein positiver (adhortativer) Gehalt zukommt,77 - und schließlich die Annahme, daß sich Thomas nicht dem (aporetischen) Problem der Bindung an die lex naturalis zuwende.78 Die Neudeutung der lex aeterna als ars besticht in verschiedener Hinsicht:79 Erstens bewahrt sie vor dem Mißverständnis, die lex bei Thomas sei intellektualistisch aufzufassen. Zweitens macht sie deutlich, daß das Maß der lex aeterna am Sein Gottes abgelesen wird: Die lex ist Angleichung an Gottes Sein; Thomas hat also keinen moralistischen Gesetzesbegriff.80 Drittens läßt das Bild des „Stils“ den breiten Umsetzungs- und damit Freiheitsraum für die Adressaten der lex naturalis plastisch werden: Die Vorgaben der lex aeterna sind in der Tat kein „set of coercive precepts“81, kein „recipe“82. Freilich bleiben Zweifel an der Konzeption der lex aeterna als „Stil“ (ein Begriff, der präzise bestimmt werden müßte, wenn er den differenzierten Einsatz von lex bei Thomas soll interpretieren können). Erstens fragt sich, ob Westerman das –doch eher kursorische – ars-Bild nicht überbewertet. Thomas greift mit ihm Vorstellungen von der ars divina83 und vom Deus artifex84 auf, denen er jedoch 72 73 74 75 76 77 78
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WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 29 ff. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 31. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 32. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 29 f. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 31 f. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 32 f. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 33; diese These erscheint freilich zweifelhaft, vgl. sogleich im Text. Und zwar unabhängig von der Frage, ob sich die vier Punkte wirklich (und nur) durch ein Verständnis der lex aeterna als “Stil Gottes” erklären lassen. Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Dr. Adrian WALKER. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 29. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 32. Zur Zieldivergenz zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz vgl. 98, 1, c. Vgl. z.B. AUGUSTINUS, De trinitate VI, 10 (in: Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. L, Brepols, Turnhout 1968, S. 241 f.). Vgl. etwa BASILIUS VON CAESAREA, Homilia in Hexaemeron III, 32 f. (in: Jacques Paul Migne [Hrsg.], Patrologia Graeca, Bd. 29, Paris 1857, Sp. 51 [75 ff.]): artifex – effector – opifex/ȑȞIJİȤȞȠȢ – șĮȣμĮIJȠʌȠȚȩȢ – IJİȤȞȓIJȘȢ. Der Begriff artifex ist dann bei AUGUSTINUS omnipräsent, vgl. z.B. Enarrationes in Psalmos 41, 7 (in: Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. XXXVIII, Brepols, Turnhout 1956, S. 464 = Jacques Paul Migne [Hrsg.], Patrologia Latina, Bd. 36, Paris 1845, Sp. 464 [468]. Dazu die (mir nicht zugängliche ungedruckte) Diss.
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sehr viel weniger Raum gibt als etwa Augustinus. Er gebraucht das Bild ausdrücklich als Vergleich, und zwar mit deutlicher Distanzierung.85 Durch Anfügung eines zweiten und dritten Gliedes – exemplar vel idea – will Thomas offenbar das als vage empfundene Wort präzisieren.86 Die Begriffe ars vel exemplar treten ferner in seinen Erörterungen deutlich hinter den anderen Bestimmungen der lex zurück.87 Zweitens knüpft Westerman an den Begriff der ars unzeitgemäße Assoziationen. Die Vorstellung von Kreativität, die sie evoziert,88 mag auf den neuzeitlichen Künstler passen, nicht unbedingt auch auf den (namenlosen) mittelalterlichen Künstler.89 Unterstellt wird dabei, daß ars hier überhaupt „Kunst“ meint und nicht vielmehr „Handwerk“,90 wofür andere Stellen in der Summa sprechen.91 Als artifex ist der Mensch dann weniger Künstler als vielmehr Baumeister; er arbeitet allgemeine Formen auf den Einzelfall hin aus (95, 2, c.). Fraglich erscheint schließlich drittens, ob Westerman nicht doch die Normativität des Gesetzes unterschätzt. Sie will die lex naturalis nicht als Gesetz verstehen, „as ’law’ in the ordinary contemporary sense of the word, but as an epistemological gateway, by means of which rational beings have access to the eternal law“.92 Das erfaßt zutreffend eine Seite des thomasischen Naturrechts, vernachlässigt aber eine aus ihr folgende andere: die präskriptive, oder besser: direktive Imp-
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MÜLLER, A.F., Ars divina. Eine Interpretation der Artifex-Deus-Lehre des heiligen Augustinus, München 1955. „Deus autem per suam sapientiam conditor est universarum rerum, ad quas comparatur sicut artifex ad artificiata“ (93, 1, c. – meine Hervorhebung). „rationem habet artis vel exemplaris vel ideae“: 93, 1, c. Insofern mag es bezeichnend sein, dass WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 26, in ihrem englischen Zitat aus 93, 1 (irrtümlich?) ratio mit „exemplar“ wiedergibt. – Kritik an Westermans „strinkingly selective readings of the texts at issue“ bei Mark C. MURPHY [Rezension Eestermann 1998], in: Ethics 109 (1999), S. 709-710. „Style can be a source of creativity, in the same way that law can be a source of actions, associations and arrangements which would have been impossible without law“: WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 32; ferner die oben (bei Fn. 73) angeführte illustrative Erwähnung von Monets Seerosen. Zum Kunstbegriff Kurt FLASCH, Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittel alterliche Philosophie der Kunst, in: ders. (Hrsg.), Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus. Festgabe für Johannes Hirschberger, Frankfurt am Main 1965, S. 265-306. S. 265 (297 ff., 304 ff.): „Das Kunstwerk entspringt dem menschlichen Geist, entspricht aber auch der Welt und ihrem Grund“ (S. 299); das spezifisch Mittelalterliche liege in der „Vereinigung von Spontaneität und Rezeptivität“ (S. 306). Vgl. auch das artifex-Bild in I, 21, 2, c. Vgl. den weiten ars-Begriff in I-II 57, 3, c.: „ars est recta ratio factibilium“; vertiefend PESCH, in: Thomas von Aquin 1977 (Fn. 11), S. 484 f. mit Hinweis auf Pharmazie, Medizin, Schiffsbau, Schiffslenkung, Soldatenhandwerk, Schreinerei als artes; weiterhin auf die artes liberales als das „unmittelbar anwendbare Wissen“. Z.B. I, 21, 2, c.; 95, 2, c. – Gesamtüberblick über die Bedeutungen von ars bei SCHÜTZ, Thomas-Lexikon (Fn. 41), S. 65-68. WESTERMAN 1998 (Fn. 67), S. 26; zur hier vertretenen Ansicht eines univoken Gebrauchs der lex oben Fn. 29.
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likation der lex naturalis.93 Auch der zur Präzisierung angefügte Begriff exemplar – Urschrift, Original94 – hat eher den Charakter einer Vorgabe als den einer Inspirationsquelle.
7. ZUSAMMENFASSUNG: VIELHEIT DER LEGES, EINHEIT DER LEX Im Gesetzestraktat der Prima Secundae integriert Thomas mit der Klammer eines hochabstrakten Gesetzesbegriffes die verschiedenen vorfindlichen Gesetzesbegriffe – von der stoischen lex (als ratio summa) bis zu den zeitgenössischen leges der wiedererwachenden politischen Gesetzgebung. Dafür benutzt Thomas einen von der Stoa übernommenen emphatischen Gesetzesbegriff (lex als „Schöpfungsstruktur“). Einzelnormen innerhalb dieser lex heißen in der Regel praecepta und mandata, seltener leges. Die lex selbst definiert Thomas als quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, d.h. als von der ratio gesteuerte Hinordnung der inneren oder äußeren actus auf das Gemeinwohl. Mit dieser – keinesweges intellektualistischen – Bestimmung kann Thomas das Gesetz des Alten wie des Neuen Bundes, das Naturrecht wie das gesatzte Recht erfassen und problemlos eine Theorie der (positiven) Gesetzgebung anschließen.95 Die paulinische Wendung vom „Gesetz in den Gliedern“ läßt sich ebenfalls als lex, nämlich als ein Gesetz kraft Teilhabe, d.h. als eine Gesetzmäßigkeit erfassen. Neben dieser schrittweise entfalteten expliziten Definition verwendet Thomas plastische Kurzformeln zur Beschreibung einzelner Aspekte der lex wie das Bild der ars vel exemplar, das den Freiheitsraum der Gesetzgeber bei der Umsetzung deutlich werden läßt,96 und – stets wiederkehrend – eine herausragende Wendung, die Thomas bei Aristoteles vorfindet und in Anlehnung an Chrysipp ausfüllt: das Gesetz als regula et mensura, als Richtschnur und Kontrollmaßstab.
BIBLIOGRAPHIE Quellen: Augustinus, Contra Faustum, XXII 27, in: Jaques Paul Migne (Hrsg.), Patrologia Latina, Bd. 42, Paris 1841, Sp. 207 (418). Augustinus, De libero arbitrio, I, IV, in: Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. XXIX, Brepols, Turnhout 1970, S. 220, auch in: Jacques Paul Migne (Hrsg.), Patrologia Latina, Bd. 32, Paris 1845, Sp. 1222 (1229).
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Vgl. statt aller 91, 3 c.: „praecepta legis naturalis”; 91, 2 ad 2: „oportet quod prima directio actuum nostrorum ad finem, fiat per legem naturalem.“ HEUMANN, Hermann Gottlieb; SECKEL, Emil, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 10. Auflage, Graz 1958 (unveränd. Ndr. der 9. Auflage 1907), S. 187. WESTERMANS alternative Deutung des Wortes exemplar folgt ihrem ars-Verständnis (1998, Fn. 67, S. 26 ff.), dem die skizzierten Bedenken begegnen. Vgl. Fn. 48, 55. Zu dessen Grenzen METZ, in diesem Band, S. 17.
Lex und ihre Äquivalente im Gesetzestraktat
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Michael Städtler, Hannover
HANDLUNGSTHEORIE UND ZURECHNUNG BEI THOMAS VON AQUIN KOMMENTAR ZU ST I-II, 6 UND 7 Meinem Lehrer Günther Mensching als Dank zum 65. Geburtstag
ABSTRACT: In Aquinas the theory of action is based on the problem of responsibility in a legal context. The principal difficulty is the constellation of free will and ordo naturae. Commenting on the questions 6 and 7 of ST I-II, where voluntariness and the circumstances of actions are analyzed, this paper tries to understand Aquinas’ notion of action as the problem of combining teleological metaphysics with a politically and economically changing world, which finally forces philosophy to leave the ancient way.
Geht man vom Freiheitsbegriff im Sinne der moralischen Selbstbestimmung der Menschen, der Bestimmung des Willens aus reiner praktischer Vernunft, aus, wird deutlich, dass das voluntarium bei Thomas eher aus dem rechtlichen Problem der Zurechenbarkeit motiviert ist. Schon Aristoteles fragte nach Handlungsfähigkeit besonders als Deliktsfähigkeit, um Bedingungen politischer Stabilität zu ermitteln.1 Für Thomas gilt die Welt zwar noch als teleologisch verfaßt und geordnet, aber die Teleologie ist spezifiziert durch die Prozessualität des christlichen exitus-reditus-Gedankens, nach dem die Welt als Schöpfung gemäß der den späteren Totalitätsbegriff präformierenden ewigen göttlichen Weltvorstellung in der Vorsehung aus Gott so hervorgeht, dass der Verlauf ihres Daseins als geschaffener der Rückgang in ihren Grund ist.2 Den verschiedenen Seienden kommen dabei hinsichtlich ihrer Gottähnlichkeit verschiedene Vollkommenheitsgrade dieser reditio zu. Die Menschen als imagines dei sive trinitatis sollen nun mit der visio dei beatificans, der beseligenden Schau Gottes von Angesicht, ihrer Substanz als Intellekts- und Willenswesen gemäß den höchsten Grad erreichen. Neu gegenüber der antiken Teleologie ist hier das subjektive Moment im ordo naturae, soweit dieser Begriff der Totalität im 1
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Vgl. STÄDTLER, Michael, Die Freiheit der Reflexion: Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles, Berlin, 2003, S. 239 ff. Zu diesem Zusammenhang vgl. FETZ, Reto Luzius, Ontologie der Innerlichkeit. Reditio completa und processio interior bei Thomas von Aquin, Fribourg 1975.
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Michael Städtler
Bewußtsein Gottes ist. Dieses subjektive Moment vermag seiner rationalen Konstruktion zufolge aber zunächst nicht auf die Menschen überzugehen, da diese als Geschöpfe zugleich ihrer Substanz und ihrem Dasein nach Objekte der ihnen heterogenen Ordnung bleiben.3 Die Fortschritte in der Entdeckung und Entwicklung des Freiheitsbegriffs im Mittelalter werden überwiegend im Medium der Theologie, besonders der Trinitätsspekulation, Christologie, Schöpfungs- und Vorsehungslehre, erzielt. Hiernach muss den Menschen Freiheit vor allem deshalb zukommen, weil Gott, als dem Inbegriff der Freiheit und des Guten, die Fehler im Weltlauf nicht zugerechnet werden können, da sonst das vollkommen Gute aus Freiheit Ursache eines Übels wäre. Daher muss ein anderes zurechnungsfähiges Subjekt gedacht werden können. Die Konflikte, in die solche Freiheitstheorie mit der Teleologie gerät, konzentrieren sie auf die Frage, wie innerhalb der Ordnung der Vorsehung der Welt als ganzer von Anbeginn bis zum Untergang sowie der Anordnung aller ihrer Elemente in Raum und Zeit freiwillige Akte möglich seien. Das begünstigt die Restriktion auf Zurechnung als Minimalvoraussetzung einer rechtlichen Ordnung des status viatoris, an der trotz aller philosophischtheologischen Aporien politisch festzuhalten ist. In der letzten Phase des Mittelalters, von Thomas bis zum entwickelten Nominalismus, entsteht daraus ein hochelaborierter Begriff eines nicht mehr nur deliktsfähigen, sondern vor allem – aufgrund der ökonomisch-sozialen Veränderungen4 – auch geschäftsfähigen Subjekts, das einzeln und doch allen anderen gleich ist. Dafür steht der bei Thomas schon teils säkularisierte Begriff der Person, der als Vermittlung von 3
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Das Problem der Koinzidenz von Autonomie und Heteronomie in der ‚geschaffenen Freiheit‘ entwickelt METZ, Wilhelm in: „Freiheit“ bei Thomas von Aquin?, in: Antike Weisheit und Moderne Vernunft, REGENBOGEN, Armin (Hg.), Osnabrück 1996, S. 267-275. „Unser immer schon Geleitet-„sein“ zum Ziel der beatitudo ist der menschlichen Willensfreiheit nicht entgegengesetzt, sondern entspricht ihrer innersten Wesenskonstitution und „wirkt“ auf ihre ‚perfekte‘ Vollendung hin.“ (S. 271). Die den Widerspruch von Autonomie und Heteronomie zum Momentverhältnis ausgleichende Seite der Identität in der Differenz sieht Metz darin, „dass gerade der absolute Unterschied Gottes von allem Geschaffenen eingesehen werden muss. [...] Dass Gott den Seinsakt des Seienden vielmehr in jedem Augenblick so wirkt, dass dieser Seinsakt zugleich gänzlich vom Geschöpf selber „ausgeübt“ wird, ist nur dank der absoluten Erhabenheit Gottes über das Geschaffene denkbar [...]“ (S. 268). Diese gewissermaßen axiomatische Fassung eines Widerspruchs ist allerdings weniger eine positive Auflösung als der spekulative Ausdruck des Problems: Wären Menschen ganz frei, wäre die geschlossene rationale Stringenz der Vorsehung aufgehoben; wären sie von Gott gelenkt, könnten die Fehler in der Welt nicht ihnen, sondern müßten Gott zugerechnet werden, der mithin Böses schüfe. Auch so wäre die Stringenz der Vorsehung aufgehoben. Thomas postuliert daher die bedingte Freiheit als Bedingung der Möglichkeit, die gegebene Welt mitsamt den Subjekten geschaffener Vernunft als göttliche Ordnung zu denken. An der Notwendigkeit, dies zu denken, hängt auch die Gültigkeit jenes Postulats. Die Verlagerung des Primats in Gott von der Vernunft zum Willen wird von der Aporetik bedingter Freiheit geradezu provoziert. Sie wird ihrerseits Bedingung der Möglichkeit, Menschen als Subjekte zu denken, und führt konsequent zum rigorosen Freiheitsbegriff der klassischen Philosophie, dessen Aporien wieder andere Postulate hervorbrachten. Hier ist die zunehmende Organisation der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion über Verträge aufgrund des Übergangs von Subsistenz- zu Marktwirtschaft von hervorragender Bedeutung.
Handlungstheorie und Zurechnung bei Thomas von Aquin
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Relationalität und Selbständigkeit in der Trinitätsspekulation entwickelt worden war. Vor diesem Hintergrund fragt Thomas in der Handlungstheorie zunächst nach den Handlungen, die zur Erlangung des Heils notwendig sind. Die Erlösungslehre selbst führt nun auf das willenstheoretische Problem, dass, im Gegensatz zur Formulierung dieser Lehre in zeitabhängiger Sprache, Gott, begrifflich konsequent gedacht, niemanden erlösen kann, da er nicht in der Zeit handelt und daher alle Menschen im Buch des Lebens (ST 1,24), das für die Vorsehung der menschlichen Angelegenheiten, vor allem hinsichtlich des ewigen Lebens, steht, schon von Ewigkeit entweder der Erlösung oder der Verdammnis zugeordnet sind. Dies läßt sich nur erfüllen, wenn die Handlungen der Menschen zuverlässig der Vorsehung gemäß erfolgen, d.h. das menschliche Wollen muss auf Gott als Garanten der Erfüllung der Vorsehung zurückführbar sein.5 Den Menschen erscheint ihr Handeln als freiwillig, weil sie in der Zeit keinen Einblick in die Vorsehung haben. Der Thomasische Begriff der Freiwilligkeit ist systematisch inkonsistent, weil er, aus theologischen Gründen, Autonomie und Heteronomie in sich verbinden muss. Als Begriff der Zurechnung aber ist er pragmatisch erforderlich. So bedeutet voluntarium zunächst als Äußerung der voluntas ein ‚Willentliches‘. Ob die voluntas frei ist, also ihrem späteren, entfalteten Begriff gemäß, muss gefragt werden. Unter den geschilderten Voraussetzungen ist anzunehmen, dass Thomas vor allem nach einem ontologisch in den Menschen verankerten Zurechnungsgrund gemäß einer causa sucht. Thomas nennt es ‚Prinzip der Handlung im Handelnden‘. Die Rückführung der Handlungsfolgen über die Handlung auf eine Handlungsursache wäre so analog naturkausalen Prozessen zu denken. Der Unterschied menschlicher Handlungen zu solchen Naturprozessen wird dabei weniger von einer Vorstellung von Freiheit bestimmt als dadurch, dass es sich bei diesen um regelmäßige Erscheinungen handelt und bei jenen um einzelne. Nach Thomas sind willentliche, instinktive und auch mechanische Bewegungen darin gleich, dass sie Bewegung überhaupt sind, zu der immer eine Neigung (inclinatio) im Bewegten liegt vgl. ST I-II, 6, 1). Der Unterschied des voluntarium zum mechanischen Objekt bestehe nun darin, dass auch die Zielrichtung der Bewegung innerlich verursacht ist: Es muss ein Bewusstsein vom Ziel vorhanden sein. Da aber alle Bewegungsziele, auch die mechanischen, im Bewußtsein Gottes koinzidieren, fällt eine genaue Differenzierung so schwer, dass Thomas sein einziges Argument sechsmal nahezu invariant wiederholt, ohne es weiter auszuführen. Die Konsequenz ist, dass auch Tiere willentlich handeln (vgl. ST I-II, 6, 2), weil der Begriff ‚Zielkenntnis‘ graduierbar ist. Die begriffliche Kenntnis des Ziels, die es ermöglicht, zweckrational auf die Mittel zu reflektieren, gilt als oberste Form von Zielkenntnis; sie kommt vernünftigen Naturen zu und begründet vollkommenes voluntarium. Die instinktive Zielkenntnis von Tieren ist 5
Vgl. THOMAS VON AQUIN, „Quaestio Disputata de Malo VI“, in: Thomas von Aquin. Die menschliche Willensfreiheit, SIEWERTH, Gustav (Hg.), Düsseldorf 1954.
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grundsätzlich auch Zielkenntnis und bewirkt daher auch ein voluntarium, wenngleich unvollkommen (imperfectam). Der Unterschied ist kein prinzipieller, sondern ein gradueller, denn insofern die Kenntnis und nicht deren selbstbewußte Verwendung zur autonomen Handlungsbestimmung das Kriterium ist, sind beide Formen des voluntarium nicht heterogen. Thomas bestimmt nun das voluntarium negativ durch Untersuchung der Unterlassung und des involuntarium, in dessen Kontext auch die Umstände (vgl. ST I-II, 7) gehören: Das voluntarium wird durch den Ausschluß möglicher Unschuldsgründe bestimmt. Im Rahmen der Teleologie gerät die Unterlassung (vgl. ST I-II, 6, 3) in den Blick, weil das richtige Handeln auf sein natürliches Ziel geordnet ist oder analog zu natürlichen Ordnungen interpretiert wird. Das falsche erscheint als Negation der Ordnung, als nicht dem geschuldeten Ziel gemäßes Handeln. Unter dieser Voraussetzung kann einem Menschen Nichthandeln dann schuldhaft zugerechnet werden, wenn er befähigt und beauftragt war zu handeln. Die willentliche Unterlassung ist ein voluntarium ohne jeden äußeren Akt, aber mit einem inneren, nämlich dem Wollen, das Geschuldete nicht zu tun. Allerdings sei auch das reine Nicht-Wollen, das als Abwesenheit eines entsprechenden Bewußtseinsaktes gedacht wird und in dem daher Zielkenntnis nicht anzunehmen ist, ein voluntarium. Die Zurechenbarkeit des Unterlassens trotz Nichtwissens mag auf die Begründbarkeit der Mission zielen, ist aber auch in übergeordneter Hinsicht als Denkfigur maßgeblich für die Theorie von Naturrechten, deren Geltung wohl darauf gegründet ist, dass sie als vernünftige an sich bekannt sind, die aber gerade nicht von der je auch akzidentell aktualisierten Bekanntheit der Rechte abhängen soll.6 Thomas unterscheidet im Willensakt (vgl. ST I-II, 6,4) das eigentliche, innere, Wollen von der tatsächlichen äußeren Ausführung; beides wird als Willensakt bezeichnet: das erste, insofern es im Willen ist, das zweite, insofern es vom Willen ausgeht. Die Ausführung des Gewollten kann durch Gewalt verhindert werden, das Wollen selbst nicht. Darin kündigt sich die Unterscheidung des empirischen vom intelligiblen Subjekt an, wenngleich noch ohne die Bestimmung der Autonomie des intelligiblen Subjekts. Bei Thomas bleibt die Begründung formell: Was den Gesetzen des Innerlichen folgt, folgt nicht den Gesetzen des Äußerlichen, wird aber doch wieder analog der Naturkausalität dargestellt. Diese Bestimmung beinhaltet in der Differenz von Vorsatz und Ausführung die Bedingung der Möglichkeit entlastender Tatumstände ebenso wie die der Rechtsfolgenlosigkeit von Erzwungenem: Beides ist nur denkbar, wenn der 6
Die lex naturalis ist nach Thomas mittels Einstrahlung (impressio divini luminis) allen bekannt (vgl. ST I-II, 91, 2). So ist partielle Unwissenheit bezüglich der lex naturalis nur durch eine graduell schwächere Einstrahlung erklärbar, die auf Gott zurückgeht (vgl. ST I-II, 93, 2). Trotzdem soll die lex naturalis universell gelten. Auch aus diesem Grunde wird ihr Inhalt bei Thomas weitgehend auf die natürliche Ordnung der Welt reduziert. Die eigentlichen Freiheitsgesetze sind, wenngleich natürlich und damit schließlich göttlich legitimiert, lex humana, deren Unkenntnis als eigene Versäumnis zuzurechnen ist (vgl. ST III, 6, 8).
Handlungstheorie und Zurechnung bei Thomas von Aquin
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Vorsatz und die erfolgende Tat zusammenfallen können, aber nicht müssen. Für die äußerliche Handlung, die in der Ausführung äußerlich behindert wird, folgt daraus, dass sie als involuntarium zu bezeichnen ist. Der Zwang ist dann die Ursache dafür, dass das selbst unberührte innere Willensprinzip äußerlich nicht zum Tragen kommt vgl. ST I-II, 6, 5). Die Bestimmung des voluntarium als Abwesenheit von körperlichem Zwang führt auf Probleme bei Handlungen mit Schadensfolge, die zur Gefahrenverhütung (vgl. ST I-II, 6,6), aber ohne körperlichen Zwang geschehen. Entgegen metaphysischem Sprachgebrauch wird z.B. das Überbordwerfen von Wertsachen in Seenot als Handlung simpliciter, weil in actu, bezeichnet. So sei es willentlich, weil nicht physisch erzwungen, sondern innerem Antrieb gemäß. Secundum considerationem aber sei es nicht willentlich, weil ohne Not kein Mensch solches täte. Also sind solche Schäden nicht zuzurechnen, weil die Zurechnung nur durch nachträgliche Würdigung des Falles erfolgen könnte und nach dieser die Handlung nicht willentlich ist. Das Einzelne gilt hier als simpliciter, das allgemein Gedachte als secundum quod. Hierin wirkt einerseits noch die Vorstellung der objektiven Substantialität von Handlungen, andererseits kündigt sich im praktischen Vorrang des secundum considerationem bereits der Wandel zum subjektiven Handlungsbegriff an. Aber der Wille gilt noch als Handlungsauslöser, der selbst durch allerlei andere Vermögen gespeist wird. So seien Begierdehandlungen nicht aus Begierde bestimmt, sondern aus dem Willen, der seinerseits durch die Begierde bestimmt sei (vgl. ST I-II, 6, 7). Dass der Wille sich zu etwas entschließt, was er nicht wollen kann, gilt nicht als Unfreiheit, sondern als willentlich falscher Akt. Rechtlich gesehen wären sonst niedere Beweggründe Entlastungsmerkmale. Andererseits entfällt damit auch das Tatbestandsmerkmal ‚Affekt‘, weil hier nur die kausale Zuordnung des Handlungserfolges zur Aktivität des Handlungssubjekts entscheidet, ohne die Art der Aktivität einzubeziehen; mit diesem Handlungsbegriff kann auch die Frage nach möglichen Einschränkungen der Schuldfähigkeit noch nicht gestellt werden. Eine weitere Schwierigkeit bei der Bestimmung der Schuldfähigkeit stellt die Unwissenheit dar. In Artikel 1 war der Mangel an Zielkenntnis ein Grund für die Unfreiwilligkeit der Handlung und schränkte damit deren Zurechenbarkeit zum Handelnden ein beziehungsweise hob sie auf. Andererseits musste Thomas in Artikel 3 darauf hinweisen, dass nicht alle aus Unwissenheit geschehene Handlungen gleichermaßen schuldfrei seien, weil sonst naturrechtliche Verbote oder Gebote und mit ihnen das Wort Gottes nicht strikt gälten. Wie auch der Gebrauch der Wendung secundum considerationem in Artikel 7 zeigte, ist die Frage nach dem Bewußtsein, das zwar noch nicht als die Handlung begründendes, aber doch schon als sie begleitendes gedacht wird, für den Übergang zum modernen Handlungsbegriff maßgeblich. Thomas differenziert daher genau im Begriff der Unwissenheit (vgl. ST I-II, 6, 8)7 und gelangt so negativ zu Bestimmungen eines solchen Bewußtseins als conditiones sine quibus non. 7
Für die im folgenden numeriert wiedergegebene Ordnung der Unwissenheit seien hier einige Beispiele in Anlehnung an Thomas angeführt: 1) Jemand vermeint auf der Jagd, einen Hirsch
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Michael Städtler
Thomas unterscheidet also in (1) begleitende Unwissenheit, die auf den Handlungserfolg deshalb keinen Einfluß hat, weil die Handlung auch mit dem entsprechenden Wissen geschehen wäre, (2) nachfolgende Unwissenheit, die den Handlungserfolg bestimmt, weil die Handlung mit Wissen nicht geschehen wäre, und die selbst ein Willentliches ist; dies entweder (a) planvoll oder (b) durch Versäumnis, und wenn durch Versäumnis, entweder (D) durch Ablenkung während der Handlung oder (E) als vorheriges Versäumnis, sich geschuldetes Wissen anzueignen. In allen diesen Hinsichten ist die Unwissenheit nicht Ursache für ein involuntarium. Einzig die (3) vorgängige Unwissenheit, die den Handlungserfolg bestimmt, aber nicht absichtlich oder durch Unterlassen herbeigeführt ist und kein geschuldetes Wissen betrifft, begründet ein involuntarium. Indem Thomas bestimmt, dass die Unkenntnis wirklich ursächlich für die Handlung sein muss und dass die Unkenntnis nicht selbst ein Verschulden nach bestimmten Regeln voraussetzt, will er die objektive Gültigkeit von Gesetzen in die subjektive Handlungsbestimmung integrieren. Was er damit aber zugleich aufruft, ist die Forderung nach dem objektiven Urteilsvermögen eines zum Richter berufenen Subjektes, ohne das Vorsätzlichkeit und Ursächlichkeit der Unwissenheit nicht feststellbar sind. Der Bereich metaphysisch abgesicherten Naturrechts ist hier verlassen, weil für die Feststellung singulärer Abweichungen von der Natur keine positiven allgemeinen Regeln gegeben werden können. Die Notwendigkeit einer im Subjekt verankerten allgemeinen Moralbegründung erhebt sich aus der via antiqua als Desiderat an die via moderna und ihre Erben. Unterscheidet man an der Handlung grob die Seite des Inneren, ihrer Bestimmung im Bewußtsein, von der des Äußeren, ihrer Realisierung in der Welt, so ergibt sich analog zur Unwissenheit, die negativ das Kernproblem des Inneren vorstellte, für das Äußere der Handlung folgende Schwierigkeit: Wie weit sind Handlungen durch die äußeren Umstände, unter denen sie geschehen, bestimmt und wie weit entlasten diese Umstände den Handelnden von der Zurechnung? Schon die umständliche und brüchige Einleitung zum metaphorischen Sprachgebrauch bei der Bestimmung der circumstantiae (vgl. ST I-II, 7, 1) macht deutlich, dass Handlungstheorie für Thomas keineswegs ein sicheres Gebiet ist: Was um einen Körper herumstehe (circumstare), sei außerhalb seiner, berühre ihn aber. Demgemäß seien Bedingungen, die nicht zur Substanz der Handlung gehören, aber doch auf sie bezogen seien, ‚Umstände‘. Den Substanzbegriff, von dem in dem physikalischen Beispiel nicht die Rede war, wendet Thomas nun auf zu töten, tötet dabei aber unwissentlich einen Menschen, der ihm unbemerkt in die Schußlinie gerät. Nun handelt sich dabei um einen Feind, den er ohnehin töten wollte. 2) a) Jemand vermeidet absichtlich die Kenntnis von Verboten, um ohne schlechtes Gewissen sündigen zu können. 2) b) D) Jemand kennt zwar die für seine Handlung anzuwendenden Regeln, bedenkt sie aber bei der Handlung nicht, weil er aufgeregt oder sittlich verdorben ist. 2) b) E) Jemand war verpflichtet, sich die Kenntnis von Regeln anzueignen, hat dies aber versäumt. Dies dürfte dem in StGB § 17 formulierten Verbotsirrtum am nächsten kommen. 3) Jemand tötet bei der Jagd, in der Überzeugung, einen Hirsch zu töten, versehentlich einen ganz unbeteiligten Menschen, der ihm trotz aller beobachteten Sorgfalt in die Schußlinie gerät.
Handlungstheorie und Zurechnung bei Thomas von Aquin
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dieses zurück: Was nicht zur Substanz gehöre, aber doch auf die Sache bezogen sei, sei Akzidenz. Und das soll nun wieder umgekehrt auch für die Handlungsumstände gelten. Diese Konstruktion verschleiert, dass im Ausgangsmodell dasjenige, was lokal eine Sache umgibt, gar kein Akzidenz ihrer ist. Akzidenz der Sache kann höchstens ihre Relation auf das sie Umgebende sein. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass Handlungen in der lateinischen Terminologie actus heißen, womit im Bereich der Metaphysik der Substanzen die Modalität des Daseins, der Wirklichkeit bezeichnet wird. Die Relationalität und die Prozessualität von Handlungen sind in diesem Ausdruck und wohl auch in ihrem Thomasischen Begriff nicht adäquat erfaßt. Als actus gelten die Handlungen vielmehr als substantielle Realität, als Ausdruck einer kausal ins Dasein gebrachten potentia, als Realisierung einer im Willen gebildeten Möglichkeit. Nun gelten Möglichkeit und Wirklichkeit schon seit Aristoteles als inhaltlich identisch, nur modal unterschieden: Die nächste Materie, dieser Stein etwa, ist die Statue, nur eben in Möglichkeit, und die Formung durch den Künstler ist die Aktualisierung dieser Potenz, also eigentlich ein bloßer Modalitätenwechsel.8 Diese inhaltliche Identität ist beim metaphysischen Handlungsbegriff die Grundlage der Zurechenbarkeit: Die Handlung liegt in anderem Modus schon im Willen vor. Die Zurechnung gelingt, analog der Bestimmung handwerklicher Tätigkeit, ganz mechanisch, die Umstände sind dagegen akzidentell. Bei Aristoteles werden die Umstände im Zusammenhang der Unwissenheit abgehandelt und sind so grundlegend für die Zurechnungslehre. Thomas bezieht sich darauf, referiert die Ordnung der Umstände aber zunächst nach Cicero: Wer, was, wo, womit, warum, wie, wann (vgl. ST I-II,.7, 3). Bei Aristoteles komme nun noch das ‚in Bezug worauf‘ hinzu. Das ergibt aber nur deshalb acht Bestimmungen, weil Thomas verschweigt, dass weder ‚wann‘ noch ‚wo‘ bei Aristoteles stehen. Die raumzeitliche Einzelnheit der Handlung ist für Aristoteles so gewiß, dass er sie nicht unter die Handlungsumstände faßt, die Handlung ist als Handlung schon immer durch die πΑ ΓϩΖ (die [Bestimmungen], innerhalb derer [etwas geschieht]) und zwar im Sinne von Ύ΅ΕϱΖ, dem für ein Geschehnis, ursprünglich schicksalhaft, später teleologisch, angemessenen Augenblick9 bestimmt; hinzu kommt das ΔΉΕϠ Ψ, dasjenige, in Bezug worauf gehandelt wird.10 Gerade diese konsequente Singularität der Handlungen bestimmte bei Aristoteles den Bruch zwischen theoretischer Philosophie, die allgemeines allgemein behandelt, und praktischer, die aufgrund ihrer partikularen Gegenstände keine Urteile von wissenschaftlicher Allgemeinheit formulieren kann.11 8
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So hatte Aristoteles das Problem lösen wollen, dass in einer aus Form und Materie zusammengesetzten ersten Substanz aus zweien eines wird: In Wahrheit sei es nur eines, dessen Modalität sich ändere (vgl. ARISTOTELES, Metaphysik, SEIDL, Horst (Hg.), Hamburg, 1991, Zweiter Halbband, 1045b. Vgl. KERKHOFF, M.; AMELUNG, E., ‚Kairos’, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, RITTER, Joachim; GRÜNDER, Karlfried (Hgg.), Basel 1976, Bd. 4, Sp. 667-669. Vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, FLASHAR, Hellmuth (Hg.), Berlin 1983, 1111a. Vgl. Aristoteles (Fn. 10), 1094b.
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Thomas nun leitet die Umstände mittels der Kriterien ‚Handlung‘ ‚Wirkung‘ und ‚Ursachen‘ logisch ab, wobei er das ‚Was‘ der Wirkung zuordnet, nicht der Formursache, die übrigens gar nicht vorkommt, obwohl in Artikel 4 von einer Substanz der Handlung die Rede ist. Als Formursache müßte diese nämlich analog der vorgestellten Form im Handwerksprozeß, der seit Aristoteles als Modell in der Ursachenlehre dient, auf den Willen des Handelnden zurückgeführt werden. Das ‚Was‘ ist aber der Sache nach eine allgemeine Bestimmung. Der Wille, als substanzgebendes Vermögen, wäre danach analog dem Intellekt, als substanzerfassendem Vermögen, erstens einer formal-allgemeinen Bestimmung fähig, die zweitens aus eigenem Vermögen des Willens Geltung erhielte, also autonom wäre und daher in Konflikt mit der Heilsordnung geriete. Der Wille bleibt bei Thomas deshalb das Vermögen, Einzelnes einzeln, je nach Umständen, zu veranlassen. Die Willenstätigkeit ist innerlich, steht aber im Gesamtzusammenhang des ordo naturae. Das ‚Weswegen‘ ist daher der wichtigste Umstand; nicht der Wille, sondern das teleologisch vorbestimmte Ziel ist hier Prinzip der Handlung. Der zweitwichtigste Umstand ist das ‚Was‘, das aber nicht als Substanz der Handlung gilt, sondern bloß als direkt auf diese Substanz bezogen, deren eigener Gehalt dann allerdings auf die Form reiner Substantialität der Äußerung vernunftbegabter Wesen begrenzt bleibt. Alle anderen Umstände werden nach ihrer Relation auf diese beiden gewertet. Fielen Ziel und Inhalt im Willen selbst zusammen, wäre die Willensbestimmung autonom gegen die Teleologie. Nun werden die in quibus ([Bestimmungen,] innerhalb derer [gehandelt wird]), nach denen gefragt worden war, in der Antwort kommentarlos durch das quid ersetzt. Im 1. Einwand heißt es dazu, es scheine nicht, dass die in quibus vorrangig seien, da sie sich auf Ort und Zeit, die äußerlichsten Umstände, bezögen. Aristoteles hatte sechs Bestimmungen der Handlungssituation und des Handlungsinhalts (πΑ ΓϩΖ Ύ΅Ϡ ΔΉΕϠ Ψ ψ ΔΕκΛΖ [πΗΘϠΑ])12, genannt, um in ihrer Kenntnis und Unkenntnis Kriterien für die Abhängigkeit der Handlung vom Handelnden, mithin für Zurechnung zu finden. Bestimmen nun die Umstände das Ziel und mit ihm die Zurechenbarkeit der Handlung, so gäbe eine Rangfolge der Umstände ein Kriterium dafür ab, dass die Handlungen, die in Unkenntnis der wichtigsten Umstände erfolgen, am wenigsten vom Handelnden abhingen. Als Wichtigste unter den πΑ ΓϩΖ nennt Aristoteles nun die πΑ ΓϩΖ Ύ΅Ϡ ΓЈ ρΑΉΎ΅ ψ ΔΕκΛΖ, also die Bestimmungen, ‚innerhalb derer‘ und ‚weswegen‘ eine Handlung geschieht, weil das Ziel die Handlung definiert und die kairotische Bestimmtheit das Ziel. Erst wenn auf dieser Grundlage die Handlung als freiwillig beurteilt wird, stellt sich die Frage nach dem ΔΉΕϠ Ψ, z.B. danach, wer der Geschädigte ist. Diese kosmologisch-äußerliche Abhängigkeit und auch Vereinzelung des Handelns bei Aristoteles paßt so wenig zur planvollen Ordnung der Welt in exitus und reditus wie zur ökonomischen Form menschlicher Kollektive im 13. Jahrhundert: Wenn Handlungen nicht mehr naturgemäß (z.B. unter der Hausgewalt), sondern in den sich entwickelten Städten und 12
Vgl. ARISTOTELES (Fn.1), 1111a.
Handlungstheorie und Zurechnung bei Thomas von Aquin
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Territorialstaaten zunehmend äußerlich koordiniert werden müssen, sind allgemeine Bestimmungen, Gesetze, nötig, die ihrerseits einen Handlungsbegriff voraussetzen, nach dem Handlungen unter diese Gesetze subsumierbar sind. Im ad primum heißt es daher, dass der Philosoph unter den in quibus nicht Ort und Zeit verstehe, sondern die Bestimmungen, die der Handlung selbst anhängen. Thomas drückt es radikal aus: Die πΑ ΓϩΖ (in quibus) meinten tatsächlich das quid. Indem Thomas den Aristotelischen Gedanken, nach dem der Ύ΅ΕϱΖ die πΑ ΓϩΖ und diese das Ziel, dies wiederum die Handlung bestimmte, darauf verkürzt, dass in quibus schlicht quid heiße und die Substanz der Handlung bestimme, überführt er die Partikularität der Handlungen bei Aristoteles in formale Substantialität. Damit bleibt er wohl der Handlungsmetaphysik verhaftet, legt aber zugleich den Grund für eine formal allgemeine Beurteilung des Handelns nach Gesetzen, deren positiv-moralische Variante zu Kant führt und deren negativformelle sich rechtlich als Sortierung nach Tatbeständen, politisch als Meinungspluralismus und philosophisch, im Positivismus, als Vorrang der Syntax vor der Semantik durchgesetzt hat. Die gleiche Dialektik, die aus der objektiven Substanz der Handlung selbst auf die in den Subjekten begründete moralische Allgemeinheit verweist, wirkt auch in den naturkausalen Modellen des Thomas von Aquin: Wenn einem Stein gegen seine substantielle Natur Gewalt angetan werden kann (vgl. ST I-II, 6, 4), wird ihm zwar ein substantielles Prinzip zugesprochen; indem dies aber verletzbar ist, ist es, und mit ihm der ordo naturae, nicht unantastbar. Dass zweckmäßige Eingriffe in die Natur deren Substantialität nicht unberührt lassen, ist Grundlage der Einsicht, dass Naturerkenntnis partikulare Naturzusammenhänge isoliert und präpariert. Der Gedanke der objektiven Natursubstantialität als eines geschuldeten natürlichen Zustandes eines Objekts führt mit innerer Konsequenz auf das subjektive Moment des modernen Naturgesetzes, das Resultat der Arbeit menschlicher Subjekte ist, wenngleich es notwendig allgemein gilt und auf ein fundamentum in re verwiesen bleibt. Damit treibt Metaphysik aus sich selbst einen Gesetzesbegriff als Vermittlung von objektiver Voraussetzung und subjektiver Setzung hervor, der für die Neuzeit auch rechtlich maßgebend geworden ist: Die universelle Geltung von Gesetzen ist nicht mehr transzendent abgesichert. Auch der Geltungsanspruch vernünftig begründeter Gesetze ruht nicht mehr einfach auf der Natur der Menschen, sondern die dieser Natur angemessene Ordnung der menschlichen Lebensverhältnisse, auch der rechtlichen, wird zur Aufgabe der praktischen Vernunft der moralischen Subjekte: Im Resultat der wissenschaftlichen Entfaltung der menschlichen Vernunft sind Objektivität und Subjektivität wechselseitig vermittelt. Praktisch ist diese Subjektivität aber nur als vernünftig gebildete in die Objektivität zurück zu entlassen, indem die menschlichen Subjekte die Bedingungen ihres Handelns menschenwürdig einrichten.
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BIBLIOGRAPHIE Quellen: Thomas von Aquin, Summa theologica, lateinisch deutsch, Graz e. a. 1933ff.. Thomas von Aquin, „Quastio Disputata de Malo VI“, in: Thomas von Aquin. Die menschliche Willensfreiheit, Siewerth, Gustav (Hrsg.), Düsseldorf 1954. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Flashar, Hellmuth (Hrsg.), Berlin 1983. Aristoteles, Metaphysik, Seidl, Horst (Hrsg.), Hamburg 1991. Literatur: Fetz, Reto Luzius, Ontologie der Innerlichkeit. Reditio completa und processio interior bei Thomas von Aquin, Fribourg 1975. Kerkhoff, M.; Amelung, E., ‚Kairos’, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hrsg.), Bd. 4, Basel 1976: Sp. 667-669. Metz, Wilhelm, „Freiheit“ bei Thomas von Aquin, in: Antike Weisheit und Moderne Vernunft, Regenbogen, Armin (Hrsg.), Osnabrück 1996, S. 267-275. Städtler, Michael, Die Freiheit der Reflexion: Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles, Berlin 2003.
Michael Städtler, Hannover
WIDERSTANDSRECHT BEI THOMAS VON AQUIN ANMERKUNGEN ZUR DIFFERENZ VON DE REGIMINE PRINCIPUM I, 6 UND SENTENZENKOMMENTAR II, 44, 2, 2
ABSTRACT: Analyzing the problem of tyranny, Aquinas gives two different answers to the question of a right to resist. According to the first there is no such right against the abuse of power but only against a usurper. In the latter case everyone may resist. According to the second there is a right to resist against the abuse of power, but only if based on the collective will. To explain this difference as the development of a new concept of politics, the problems of obedience to law, of seditio and just war have to be looked at under the leading concept of ordo naturae.
Widerstand meint das gewaltsame Auftreten der Beherrschten gegen die Herrschaft. Dies kann sich im Extrem gegen die Person, schließlich das Leben eines Herrschers selbst richten, in jedem Fall aber richtet es sich gegen das durch die Herrschaft eingesetzte Recht. Die Legitimation von Widerstand beansprucht daher ein Recht, das über jenes Recht, dem zu widerstehen sei, erhaben ist. Dieser Grundgedanke findet sich bei Thomas von Aquin in der Bindung aller menschlichen Gesetze an die lex aeterna, aus der sie mittels der lex naturalis ihre Legitimation beziehen (vgl. ST I-II, 90-95):1 Das heißt, Gesetze müssen in einer übergeordneten Hinsicht gesetzmäßig sein, indem sie dem ordo naturae, der Anordnung der Schöpfung nach der Vorsehung, die wesentlicher Inhalt der lex aeterna ist, gemäß sind; solche Gesetze sind gerecht. Das ist gegeben, wenn erstens der Gesetzgeber innerhalb seiner Kompetenz handelt, wenn zweitens das Gesetz auf das Gemeinwohl hingeordnet ist, denn dieses ist der Zweck des Gemeinwesens, das selbst der Zweck der Gesetze ist, und wenn drittens das Gesetz für alle, ihrer sozialen Funktion entsprechend, gleich gilt (vgl. ST I-II, 96, 4).2 Das allen Aspekten immanente Kriterium ist die Einfügung des Gesetzes in die hierarchische und teleologische Weltordnung. Nur so ist es für das Gewissen verbindlich, das zunächst Gott und dessen Ordnung verpflichtet ist. Aufgrund dieser Verknüpfung menschlicher und göttlicher Ordnungskriterien kann ein Gesetz auf zweierlei Weise ungerecht sein: 1 2
Vgl. auch im vorliegenden Band den Beitrag von Wilhelm METZ. Hier gilt noch das Aristotelische Prinzip der proportionalen Gleichheit. Vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, FLASHAR, Hellmuth (Hg.), Berlin, 1983, 1131b ff.
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Erstens kann es gegen die menschliche Ordnung verstoßen, indem der Gesetzgeber seine Kompetenz überschreitet oder indem er dem Volk Lasten auferlegt, die nicht dem Gemeinwohl, sondern etwa seinem eigenen Wohl geschuldet sind, oder indem er schließlich die Lasten ungerecht im Volk verteilt. So ein Gesetz ist nach Thomas Gewalt, nämlich ein äußerlicher Eingriff in die vernünftige Ordnung, und seinem Sinn nach gar kein Gesetz. Weil das Gewissen aber Gott und der Ordnung verpflichtet ist, können solche Gesetze grundsätzlich das Gewissen nicht verpflichten. Sollte durch die Nichtbefolgung des Gesetzes aber selbst „grobe Unordnung“ folgen, „muß der Mensch auch auf sein Recht [d.h., auf das Recht des Widerstandes; M.St.] verzichten“ (ST I-II, 96, 4 c): Wenn die (göttliche) Ordnung, die der Legitimationsgrund des Widerstandes gegen ein ungerechtes Gesetz ist, durch diesen Widerstand selbst stärker durcheinandergebracht wird als durch die Befolgung des Gesetzes, kann Widerstand nicht erlaubt sein, obwohl das Gesetz, indem es eben kein wahres Gesetz ist, dem Gesetzesbegriff und damit mittelbar auch der lex aeterna widerstreite. Der scheinbare inhaltliche Pragmatismus dieser Argumentation wurzelt aber in dem formalen Grund, daß alle Herrschaft, auch solche, die der Ordnung widerstreitet, als Herrschaftsverhältnis ein Abbild des Verhältnisses Gottes zur Welt und als falsche Ordnung immerhin doch Ordnung ist und als solche Autorität hat.3 Zweitens kann ein ungerechtes Gesetz direkt gegen die göttliche Ordnung gerichtet sein, indem es etwa zum Verstoß gegen Gebote oder andere aus der Schrift abgeleitete Verpflichtungen auffordert. So ein Gesetz ist unbedingt zu brechen, denn es weicht nicht bloß in einem bestimmten Maße von der Ordnung ab, sondern tritt in direkten Widerspruch zu Gott. Weil der Schaden, der durch Befolgung des Gesetzes einträte, absolut wäre (Abwendung von Gott), kann er nicht gegen den, der durch die Nichtbefolgung eintritt, abgewogen werden, so groß dieser auch sein mag. Die Analogie zur göttlichen Herrschaftsordnung, mittels der selbst falsche Ordnungen eine gewisse Legitimation erhalten, versagt als Legitimationsgrund, sobald das vermeintliche Abbild sich gegen sein Urbild umkehrt (vgl. ST I-II, 96, 5 ad 2). Schließlich wird die Fehlbarkeit menschlicher Gesetze in Bezug auf ihren Zweck, das bonum commune, noch dadurch begründet, daß der menschliche Gesetzgeber im Unterschied zu Gott nicht in einer visio alle möglichen Anwendungsfälle eines Gesetzes überschauen kann und daher nur den am häufigsten zu erwartenden Typ von Fällen im Gesetz zum Ausdruck bringen kann; im Gegensatz zur göttlichen lex aeterna, die universell, d.h. ausnahmslos gilt, ist die Geltung der menschlichen Gesetze nicht universell, sondern besteht in der praktischen Subsumtion von Einzelfällen, die mehr oder weniger gelingen kann (vgl. ST I-II, 96, 6). Es kann daher Fälle geben, in denen auch die Befolgung eines gerechten Gesetzes seinem Ziel, dem bonum commune, widerstreitet. In 3
Vgl. Röm 13,1. In ST I-II, 96, 5 führt Thomas das Prinzip der Ordnungshierarchie allgemein aus: Jede Anordnung einer höheren Instanz entbindet von Anordnungen niederer Instanzen. Die Spannung, die damit in hierarchische Ordnungen gelangt, gibt Thomas unkommentiert wieder, z.B. im ad 2.
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solchen Fällen darf das Gesetz gebrochen werden, aber, soweit dies irgend möglich ist, nur mit Zustimmung des Gesetzgebers. Nach Thomas sei dadurch aber nicht die Gültigkeit des Gesetzes als Gesetzes in Frage gestellt, sondern nur seine Anwendung in einem Fall (vgl. ST I-II, 96, 6 ad 1).4 Die Ausnahme gilt nicht als Aufweichung des Gesetzes, obwohl Thomas mit der lex aeterna bereits einen Vernunftbegriff des Gesetzes hat. Thomas will empirisch den Mangel überbrücken, daß die menschliche Anordnung der göttlichen systematisch inadäquat sei. Obwohl es ihm hier bloß darum geht zu begründen, daß die Befolgung gerechter Gesetze Ausnahmen verstattet, wirkt sich das Argument auch auf die grundsätzliche Ebene der Gesetzgebung aus: Wenn nämlich die Differenz der menschlichen von der göttlichen Ordnung prinzipieller Natur und notwendig ist, dann ist der Erlaß eines gerechten Gesetzes durch Menschen nur als Zufall denkbar, denn ein mittels geschaffener Vernunft begründete Allgemeinheit schließt Thomas, für das Handeln zumindest, aus. So bleibt nicht nur jede Gesetzgebung mangelhaft, sondern auch jeder Widerstand problematisch: Denn auch seine Legitimation ist die Anmessung der menschlichen Verhältnisse an die göttliche Ordnung in einem menschlichen Bewußtsein, das eines adäquaten Begriffs göttlicher Gesetzmäßigkeit gar nicht fähig ist. Wenn es unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt oder gar geboten ist, ungerechte, gegen die göttliche Ordnung gerichtete, Gesetze nicht zu befolgen, bedeutet das die Erlaubnis, den Anordnungen der Herrschaft zu widerstehen. Der Widerstand aber gegen die Herrschaft selbst, ein Aufruhr (seditio) (vgl. ST II-II, 42, 2),5 ist mit weiteren Schwierigkeiten belastet, denn Aufruhr ist als Gegensatz zur Einheit und Eintracht der Menschen im Willen der christlichen Liebe entgegengesetzt und daher Sünde. Nun ist Zwietracht aber erlaubt, wenn sie gegenüber einem Willen auftritt, der selbst im Irrtum oder gar gegen gegen Gott gerichtet ist (ST II-II, 37, 1 ad 2 und 38, 1). Ebenso gilt ein Krieg als gerecht, wenn er zur Verfolgung von Unrecht stattfindet und wenn die Kriegführenden nicht aus der Absicht, dem Feind zu schaden, also etwa rachsüchtig, zu Werke gehen (ST II-II, 40, 1). Dem analog wäre ein Aufruhr, der sich gegen die Herrschaft eines im Widerstreit zur göttlichen Ordnung stehenden Herrschers richtete, zu legitimieren. Der gerechte Krieg hat aber noch eine dritte Bedingung: „die Vollmacht des Fürsten, auf dessen Befehl hin der Krieg zu führen ist. Denn es ist nicht Sache der Privatperson, einen Krieg zu veranlassen; weil sie ihr Recht vor dem Gericht des Vorgesetzten verfechten kann. Ebenfalls weil es nicht Sache der Privatperson ist, die Menge zusammenzurufen, wie das im Krieg notwendig ist.“ (vgl. ST II-II, 40, 1 c). Aufruhr (ST II-II, 42, 1) unterscheidet sich nun vom Krieg erstens dadurch, daß sich innerhalb eines Gemeinwesens Parteien bekämpfen, deren mindestens eine zwangsläufig durch Privatpersonen versammelt ist; die Bedingung der Vollmacht ist daher hier gegenstandslos, 4
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Das Beispiel des Thomas lautet so: In einer belagerten Stadt sollen die Tore geschlossen bleiben. Nähert sich nun ein Rettung bringender Bürger von außen, wäre es gegen die Anordnung geboten, die Tore zu öffnen, um ihn einzulassen. Aufruhr entspricht hier ungefähr noch der aristotelischen ΗΘΣΗΖ.
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insofern sie unerfüllbar ist. Die zweite Besonderheit ist, daß schon die Vorbereitung von Aufruhr Sünde ist. Während ein Kollektiv zum Krieg stets gerüstet sein sollte, um sich und damit das bonum commune zu erhalten, ist eine innere Zusammenrottung dem Gemeinwohl schädlich, richtet sich gegen eine dem ordo gemäß eingesetzte Rechtsordnung und damit indirekt gegen die göttliche Ordnung selbst; daher ist sie Todsünde. Analog zum gerechten Krieg gilt hier die Involvierung in den Aufruhr als Verteidiger der Ordnung selbst nicht als aufrührerisch. Thomas weist eigens darauf hin, daß die Verurteilung allen Aufruhrs, aller Störung der Einheit und Ordnung in der Gemeinschaft als Todsünde auch den Widerstand gegen ungerechte Herrschaft einschlösse (vgl. II-II, 42, 2 obj. 3). Die Antwort erscheint revolutionär schlicht: Tyrannische Behandlung des Volkes sei eigentlich selbst Aufruhr, weil Tyrannei nicht dem ordo gemäß sei: Sie widerspreche dem bonum commune und einer ihm adäquaten Rechtsgemeinschaft (vgl. ST II-II, 42, 2 ad 3). Damit wird dem Tyrannen die Legitimation seiner Herrschaft bestritten und die Bedingung des gerechten Krieges, daß er vom Herrscher zu veranlassen sei, wird in diesem Fall auch gegenstandslos, insofern eine Zuwiderhandlung unmöglich ist, da es keinen wahren Herrscher gibt. Weil Widerstand daher kein Aufruhr ist, gilt unvermindert, daß jeder Aufruhr Todsünde ist. Darin liegt ebenso schlicht, daß Widerstand gegen Herrschaft immer illegitim ist, denn der Tyrann gilt als Aufrührer gegen die hierarchische Ordnung und seine Beseitigung dient der Restitution der Herrschaft, die diese Ordnung verbürgt. Aus dieser Spannung zwischen der formalen Legitimation aller Herrschaft aus dem ordo naturae und der praktischen Möglichkeit des Widerspruchs empirischer Herrschaft zum ordo ergibt sich der Grundwiderspruch in der Gehorsamspflicht, die sowohl gegenüber der göttlichen Weltordnung als auch gegenüber deren Abbildern, den menschlichen Ordnungen, unbeschränkt gelten soll. Ein Widerstandsrecht ist bei Thomas nur als eine Gehorsamspflicht höherer Ordnung vorstellbar. Da die niedere Ordnung, die menschliche Herrschaft, ihrem göttlichen Vorbild ja nie ganz entspricht, ist genauer zuzusehen, wo der Punkt liegt, an dem beide Gehorsamspflichten nicht mehr deckungsgleich sind. Jede Gehorsamspflicht beruht auf der göttlichen „Einsetzung der Obrigkeit“.6 Daraus folgt für Thomas aber nur die Pflicht zum Gehorsam gegen solche Herrschaft, die von Gott eingesetzt ist. Herrschaft kann nun in unterschiedlicher Weise nicht von Gott eingesetzt sein, woraus unterschiedliche Regeln für das Verhalten ihr gegenüber folgen. Herrschaft kann (1)7 mißbraucht werden, so daß sie zwar gemäß der göttlichen Ordnung eingesetzt ist, aber ihre Auswirkungen dieser Ordnung nicht gemäß sind. Dabei kann es sich (a) um Kompetenzüberschreitungen handeln, etwa um eine dem Herrscher nicht zustehende Steuerauflage. Hier folgt die Erlaubnis, die Forderung zu verweigern, weil sie als Abweichung vom ordo (hier der hierarchischen Ordnung der 6
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THOMAS VON AQUIN, Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, in: Opera Omnia, Stuttgart/Bad-Cannstadt 1980, Bd. 1, Buch II, ds. 44, 2, 2. Vgl. Röm 13. Die Reihenfolge meiner Darstellung, hier wie auch bei ‚De regimine principum‘, weicht unter dem Aspekt des Widerstandsrechtes von der Reihenfolge bei Thomas selbst ab.
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Kompetenzen) nicht der göttlichen Legitimation folgt, es besteht aber keine Ungehorsamspflicht, weil die Befolgung der Anordnung nicht selbst Sünde wäre. Außerdem kann der Herrscher (b) etwas fordern, was dem Zweck der Herrschaft, der Förderung des Gemeinwohls (auch die Tugend, die ebenfalls Zweck der Herrschaft ist, dient dem bonum commune), widerspricht. Hier besteht die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung, weil die Befolgung der Anordnung selbst Sünde wäre. Hinsichtlich (2) der Erwerbung der Herrschaft selbst ist die Herrschaft dann nicht von Gott, wenn (a) eine ungeeignete (indignus) Person in diese Funktion gelangt und die Herrschaft durch ihre Disfunktionalität dem ordo inadäquat ist. In diesem Fall muß aber dennoch Gehorsam geübt werden, weil die wenngleich sachlich mangelhafte Herrschaft ihrer Form und dem Einsetzungsmodus nach doch dem ordo gemäß ist und dadurch Gehorsam gebietet. Die Anmessung an den ordo wird aber in ganz grundsätzlicher Weise beschädigt, wenn der Herrscher (b) auf gewaltsame Weise an die Herrschaft gelangt, und zwar entweder durch Usurpation oder durch Simonie. In beiden Fällen gelangt jemand an die Herrschaft, der ohne Eingriff in den ‚vorgesehenen‘ Ablauf nicht an die Herrschaft gelangt wäre. Damit wird er nicht gemäß dem ordo in die Herrschaft eingesetzt, sondern er setzt sich selbst ein. Dadurch verkehrt er aber die Hierarchie, die Ordnung der Macht steigt nicht von oben herab, sondern von unten herauf. Ein solcher Herrscher wendet sich direkt gegen die göttliche Ordnung. Selbst dieser Schaden vermag aber geheilt zu werden, indem der so an die Macht Gelangte im Nachhinein durch eine höhere Machtinstanz oder durch das Volk selbst approbiert wird. Darin ist der Gedanke kollektiver Herrschaftseinsetzung, wenn auch als nachträgliche, im Hintergrund der Thomasischen Argumentation bereits vorhanden. Geschieht das aber nicht, ist die Herrschaft keine Herrschaft, weil sie ihrem göttlichen Vorbild nicht gemäß ist und aus dem Hierarchiesystem herausfällt. Deshalb darf jeder einen solchen Herrscher stürzen, der es vermag.8 Die Beschränkung mittels der Erfolgsaussicht dient dabei als Sicherungsinstrument, damit nicht aus gescheitertem Widerstand eine noch schlimmere Unterdrückung folge. Die Möglichkeit und die Legitimation von Herrschaft beruhen also grundsätzlich auf der Anordnung von Vernunft und Wille der Menschen gemäß der lex aeterna im ordo naturae. Diese Ausrichtung des Willens auf Gott als letztes Ziel, das Streben nach dem Guten, ist transzendentalientheoretisch9 an die Existenz der Menschen geknüpft, denn jedes Seiende ist ein Ding, ein Eines, ein Etwas, ein Gutes und ein Wahres; diese Bestimmungen sind nicht identisch, aber austauschbar, weil sie Hinsichten desselben bezeichnen und eben alle für jedes Seiende gelten.10 Die Menschen, weil sie naturgemäß das Sein anstreben, streben damit ineins nach Gutem und Wahrem. Indem mit dem Guten nun zugleich das 8
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Vgl. THOMAS VON AQUIN Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, II, ds. 44, 2, 2: „et ideo cum facultas adest, potest aliquis tamen dominium repellere“. Hierzu vgl. MENSCHING, Günther, Thomas von Aquin, Frankfurt am Main e. a. 1995, S. 149f. Vgl. THOMAS VON AQUIN, Von der Wahrheit. De veritate. Quaestio 1, ZIMMERMANN, Albert (Hg.), Hamburg 1986 sowie ST I, 1, 1 obj. 2; 6, 3 obj. 1; 48, 2, obj. 2.
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Wahre erstrebt wird, ist das formale Prinzip allen Strebens die Widerspruchsfreiheit. Deshalb ist auch die gesetzmäßige Ordnung der menschlichen Willkür bei Thomas als Unterordnung aller Gesetze unter die lex aeterna mittels ‚rechtgeleiteter Vernunft‘(ST I-II, 93, 3), also nach dem Maßstab der Widerspruchsfreiheit, gedacht. Damit ist die Ordnung des menschlichen Lebens zwar als naturhafte und formelle Anordnung und herrschaftliche Unterordnung der Menschen gedacht, aber dieser Ordnung ist zugleich das Prinzip des Widerstandes immanent; denn konsequent kann kein Mensch sich einer Herrschaft unterwerfen, die dem Anspruch formeller Widerspruchsfreiheit, mithin dem Prinzip der Rationalität nicht genügt. Zwar ergaben sich aus der Unfähigkeit eines Herrschers oder aus der Anordnung ungerechter Gesetze auch Gegensätze zum ordo, aber die Herrschaft als solche geriet nicht in strikten Widerspruch zu ihm. Deshalb folgt aus dem Mißbrauch der Macht hier nicht das Recht, den Tyrannen zu beseitigen, denn er ist zwar ein sündiger Herrscher, aber ein Herrscher.11 Es folgt aber, wie beim ungerechten Gesetz, durchaus die Pflicht zum Ungehordam, auch wenn er das Leben kostet, weil ein höheres Gut als das Leben, das Seelenheil, bedroht ist. Im Zusammenhang der Untersuchung der Fürstenherrschaft12 beurteilt Thomas den Machtmißbrauch anders. Hier steht die Möglichkeit der Usurpation gar nicht zur Debatte, es handelt sich allein um den Mißbrauch rechtmäßig erworbener Herrschaft. Schon der formalen Beurteilung der Herrschaft nach ihrer Angemessenheit an die göttliche Ordnung folgte mit dem Ziel dieser Ordnung ein Zweck mit: Herrschaft ist ein Mittel zur Ausrichtung des Willens der Menschen auf das bonum commune und damit auf die Glückseligkeit; in dieser Ausrichtung besteht gerade die Anmessung an den ordo. Das Moment des Zwecks gerät nunmehr verstärkt in den Blick der Widerstandslegitimation: „Denn wenn es erstens zum Rechte eines Volkes gehört, sich selbst einen König zu bestimmen, so kann mit vollem Rechte der eingesetzte König von ebendemselben Volke von seinem Platze entfernt oder seine Macht eingeschränkt werden, wenn er die königliche Gewalt in tyrannischer Weise mißbraucht. [...] Denn er hat selbst das Schicksal, daß ihm der Vertrag von seinen Untertanen nicht gehalten wird, dadurch verdient, daß er bei der Regierung des Volks nicht die Treue hielt, wie es die Pflicht eines Königs verlangt.“13 Herrschaft erscheint hier zuvörderst als durch Vertrag mit dem Gemeinwesen auf die Beförderung des bonum commune hingeordnete Instanz. Aufgrund des unitas-Gedankens, der prinzipiell der Vorstellung von göttlicher Weltregierung folgt, gilt Thomas die Monarchie als beste Regierungsform.14 Allerdings sieht er als Gefahr der konzentrierten Macht, daß sie zum Privatnutzen und zum 11
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Seine Legitimation ist göttlich, durch ihn wirkt die göttliche Herrschaftsordnung. Dem entspricht, daß auch ein sündiger Priester die Schlüsselgewalt der Kirche unvermindert ausübt, z.B. alle Sakramente spenden darf, weil er nur als Werkzeug göttlicher Wirkungen dient. Vgl. ST Suppl., 19, 5. Vgl. THOMAS VON AQUIN, Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 1994, I, 6. THOMAS VON AQUIN 1994 (Fn. 12), I, 6. Vgl. THOMAS VON AQUIN 1994 (Fn. 12), I, 2.
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allgemeinen Schaden eingesetzt werden könne. Obwohl üblicherweise Beherrschte sich ihre Herrscher nicht aussuchen, muß Thomas hier Form und Inhalt von Herrschaft aus dem gemeinsamen Interesse menschlicher Kollektive, ihre Entstehung aus gemeinsamer Anstrengung konstruieren, denn der Gedanke, daß Herrschaft durch Gewalt ist, widerspricht der Schrift. Der umgekehrte Gedanke, daß Herrschaft immer und nur durch Gott ist, läßt sich mit den der Tradierung von Herrschaft immanenten Machtkämpfen nicht vereinbaren. Daher ist Herrschaft als Institution göttlichen Ursprungs, empirisch aber Menschenwerk. Gerechte Herrschaft ist dann zufällig in der Person des weisen Fürsten zu denken, prinzipiell aber nur als gemeinsam legitimierte. Da niemand das eigene Übel wollen kann, ist die durch den gemeinschaftlichen Willen eingesetzte Herrschaft auf das bonum commune verpflichtet. Thomas gibt sich hier keinerlei Mühe, das Argument noch systematisch in die ordo-Lehre einzuordnen. Herrschaft ist eine Veranstaltung innerhalb eine menschlichen Gemeinwesens und wird nach dessen Maßstäben, etwa nach Vertragsregeln, beurteilt. Thomas umgeht damit auch das beim Gesetzesungehorsam entstandene Problem, daß der direkte Vergleich menschlicher und göttlicher Ordnung für ein menschliches Bewußtsein aus eigenen Kräften, ohne zusätzliche Gnade, nicht möglich ist und daher als Kriterium des Widerstandsrechts problematisch bleibt. Hier ist der Maßstab für den Widerstand aus der menschlichen Ordnung selbst genommen: Es ist nicht der am ordo naturae orientierte formale Herrschaftsbegriff, sondern der Begriff der zweckbestimmten Form der in Frage stehenden Herrschaft selbst. Thomas leistet hier einen wichtigen Beitrag zur Entstehung eines modernen säkularisierten Politikbegriffs. Ein wichtiges Motiv hierfür ist sicher der zweckbestimmte Politikbegriff, den Thomas neu rezipiert;15 aber im Unterschied zu Aristoteles beginnt hier eine aus grundsätzlich neuen ökonomisch-politischen Verhältnissen motivierte Ablösung des Politikbegriffs aus metaphysisch-teleologischen Zusammenhängen hin zu bewußter Zwecksetzung. Thomas ist damit der politischen Realität seiner Zeit, dem Aufblühen der Städte und Märkte, der zunehmenden Fundierung des gesellschaftlichen Lebens auf Arbeitsteilung und Vertragsverhältnisse, deutlich näher als ein Jahrzehnt zuvor im Sentenzenkommentar, der als theologisches Lehrbuch vor allem der traditionellen theologischen Grundsatzargumentation verpflichtet blieb. Zwar ist auch im Traktat über die Fürstenherrschaft das Recht zum Widerstand vielfach eingeschränkt und hier kommen auch die Bedenken aus der ordo-Lehre zum Tragen, aber nicht als systematische Einwände, wie noch im Sentenzenkommentar. Vielmehr werden diese Bedenken erwähnt im Kontext von allerlei anderen, auch rein pragmatischen, Erwägungen: Ist etwa mit menschlichen Mitteln, wie z.B. der Appellation an eine höhere Machtinstanz, gegen einen Tyrannen nichts auszurichten, müssen die Unterdrückten die Ungerechtigkeit der Tyrannei grundsätzlich ertragen und sich an Gott wenden, der das Gemüt des Tyrannen ändern oder ihn hinwegraffen soll. Dies aber wird Gott nur tun, wenn 15
Vgl ARISTOTELES (Fn. 2), 1094a.
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das Volk nicht sündigt, denn Tyrannei sei vor allem Strafe Gottes. Außerdem sollte die Tyrannnei deshalb so lange wie möglich ertragen werden, weil der Widerstand Gefahren berge, z.B. könne der Tyrann gereizt werden oder der Aufstand führe zu Spaltungen des Volkes und zu neuer, erfahrungsgemäß noch schlimmerer Tyrannei, zumal weil schlechte Menschen eher zum Widerstand neigten als gute. Deshalb liege in einem Widerstandsrecht auch die Gefahr des Aufruhrs gegen einen guten Herrscher. Alle diese Bedenken schließen aber das Recht auf Widerstand nicht aus, im Gegenteil, es gilt schon bei Machtmißbrauch. Die Bedenken resultieren vielmehr in einer einzigen systematischen Einschränkung des Widerstandsrechtes, nämlich in der Bedingung, daß nicht etwa jeder Beliebige, der es vermag, den Herrscher beseitigen darf, sondern daß dies nur durch einen „allgemeinen Beschluß“ geschehen kann. Was scheinbar auch hier bloß ein noch erweitertes Instrument der Absicherung gegen den Mißbrauch und die Gefahren möglichen Scheiterns des Widerstandsrechtes darstellt, gehört ebenso in die Entwicklung der Verselbständigung der Politik gegen den metaphysisch-transzendenten ordo: Da das bonum commune der Zweck der Herrschaft und seine Beschädigung der Legitimationsgrund des Widerstandes ist, kann auch nur die communitas darüber befinden. Unter diesem Aspekt entspricht der Erweiterung des Widerstandsrechtes auf den gemeinschädlichen Machtmißbrauch seine Beschränkung durch die Erfordernis eines allgemeinen Beschlusses; es sind nicht einfach gegenläufige Bestimmungen. In demselben Sinn geht der gesamten Diskussion des Widerstandsrechtes bereits eine ganz erhebliche Einschränkung der Herrschergewalt voraus: Es muß eine geeignete Person ausgewählt werden und vor allem muß eine Verfassung erlassen werden, die durch weitgehende Beschränkung der Machtbefugnisse Willkürübergriffe möglichst ausschließt. Diese Beschränkungen, die dem Gebot folgen, Machtmißbrauch zu verhindern, sind ebenso Indikatoren eines verwandelten Herrschaftsbegriffes: Die Organisation des Lebens menschlicher Gemeinwesen, bislang Bestandteil des ordo naturae, beginnt eine selbständige und damit vorrangige Bedeutung zu erhalten. Das Widerspruchsargument, nach dem einer Herrschaft, die ihrer vernünftigen Bestimmung nicht genügt, nicht zu folgen sei, gilt aber auch hier unvermindert: Herrschaft, die mehr oder anderes ist als die vernunftgeleitete Organisation des bonum commune im Auftrag des Gemeinwesens, ist ungerecht; ihr darf man widerstehen. Das heißt aber umgekehrt auch, daß Herrschaft, der man nicht zu widerstehen brauchte, nach dem Begriff eines hierarchischen Verhältnisses keine wäre, weil ihre Anordnungen zu befolgen nicht erst durch Gehorsam, sondern schon durch allgemein gültige und allen mögliche Einsicht geboten wäre.
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BIBLIOGRAPHIE Quellen: Thomas von Aquin, Summa theologica, lateinisch deutsch, Graz, Wien, Köln 1933. Ders., Kommentar zu den Sentenzen des Pestrus Lombardus, in: Opera Omnia, Stuttgart, BadCannstadt 1980. Ders., Von der Wahrheit. De veriate, Zimmermann, Albert (Hrsg.), Hamburg 1986. Ders., Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 1994. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Flashar, Hellmuth (Hrsg.), Berlin 1983. Literatur: Mensching, Günther, Thomas von Aquin, Frankfurt am Main, New York 1995.
Carlo Regazzoni, Terwil
DIE MENSCHLICHE SELBSTVERWIRKLICHUNG IM SPANNUNGSFELD VON GESETZ UND FREIHEIT EINE HERMENEUTIK MENSCHLICHEN HANDELNS
ABSTRACT: In relation to the concept of law Th. Aquinas holds a position of ontological realism. Important for him is the adequance of means and ends. The individual has to adapt to and to maintain the ideas of society. This society is that of the Middle Ages and not one which is to construct following an ideal. Law is the rule which secures the order of society. But as a theologian Aquinas knows, that in history nothing is stable forever.
1. EINLEITUNG: ZUM THEMA UNSERER UNTERSUCHUNG 1.1 DAS GESETZ UND SEINE ONTOLOGISCHE BEDEUTUNG Das Thema unserer Tagung möchte ich das Thema Praktische Vernunft: Synderesis, Conscientia, Prudentia, Wille und Verstand in der Gesetzgebung behandeln, und zwar der Frage nachgehen, welche Rolle die genannten Faktoren im Prozess menschlicher Selbstverwirklichung übernehmen. Das Thema ruft in unserem Bewusstsein die Frage hervor, ob wir damit nicht ein hölzernes Eisen anfassen, denn die praktische Vernunft in ihren verschiedenen Erscheinungsformen ist ein Organ des subjektiven Vollzuges und steht für Beliebigkeit. Die Gesetzgebung dagegen weist auf eine zwingende Notwendigkeit hin, die jede Form von Beliebigkeit ausschließt.1 Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst den ontologischen Hintergrund eines jeden Gesetzes aufzuzeigen. Man kann im Gesetz eine der Notwendigkeit unterworfene Beziehung erkennen. In einem rechtwinkligen Dreieck ist die Länge zweier Seiten stets für die Länge der Dritten Seite ausschlaggebend. Wo also eine Notwendigkeit vorliegt, ist das Ergebnis die unumgängliche Folge gegebener Voraussetzungen. Mit anderen Worten: Wo Voraussetzungen geschaffen werden, sind die daraus entspringenden Folgen bereits vorweggenommen. Die vorweggenommene Folge ist ebenfalls im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen in Form eines Erfordernisses gegenwärtig. Ihm hat eine davon betroffene Person insofern zu genügen, als im Falle einer Unterlassung Nachteile für 1
Wegen diesen Eigenschaften war sie für Cicero göttlichen Ursprungs: „legem neque hominum ingeniis excogitatam, nec scitum aliquod esse populorum, sed aeternum quidam, quod universum mundum regeret imperandi prohibendique sapientia“ (CICERO, De Legibus II/8).
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sie entstehen können. Auf diesen Zusammenhang verweist Thomas von Aquin2 mit seiner Feststellung, dass Dinge von geringerem Wert für den Menschen lebensnotwendig seien, jedoch sich deren Gebrauch nach Vorgaben richten müsse, ansonsten Schaden für ihn entstehen würde. Für Franz Suarez ist jedes Gesetz entweder geschaffen oder setzt Geschaffenes, für das es gestiftet wurde, voraus.3 Damit hebt er hervor, dass das Gesetz kein Selbstzweck ist, sondern eine Funktion innerhalb der menschlichen Gemeinschaft zu erfüllen hat. Diese Funktion lässt sich insofern mit Hilfe des Umkehrschlusses begründen, als dort, wo Gesetze fehlen, die menschliche Gemeinschaft sich der Gefahr aussetzt, in Chaos und Anarchie zu entgleiten. Diese kurze Umschreibung verdeutlicht uns, dass die Aufgabe der Gesetze darin besteht, den Menschen vor sich selber zu schützen. Diese Schutzbedürftigkeit des Menschen vor sich selber ist die unmittelbare Folge seiner gespaltenen Existenz. Einerseits besitzt er in seiner Vernunft ein Organ, das ihm gestattet, sich an Vorgaben zu orientieren und auf diese Weise sein Leben planend zu gestalten. Diesem Vermögen wirken andere in ihm angelegte Kräfte entgegen, für welche alles Vorgegebene eine Fessel ist, die es von sich zu weisen gilt.4 Sie werden Triebe genannt. Da Triebe ebenso eine Gegebenheit menschlichen Daseins sind wie das Vermögen zu planen, lassen sie sich niemals vollständig außer Kraft setzen, sondern lediglich bändigen, das heißt, es muss ihnen innerhalb einer menschlichen Existenz ein Spielraum eingeräumt werden, in dessen Innerem sie sich entfalten können. Nur auf diese Weise lässt sich im Menschen ein Gleichgewicht zwischen seinem planenden Vermögen und seinen Trieben herstellen. Somit fällt dem Gesetz neben der eindämmenden auch eine ordnende Funktion zu. Gesetzmäßig verhält sich eine Person so lange, wie sie das Gleichgewicht zwischen den planenden und den triebhaften Kräften in sich aufrecht zu halten vermag. Deswegen darf der Mensch die Grenzen des ihm eingeräumten Spielraumes nicht überschreiten. Dieses Verbot nennt die Rechtswissenschaft das Übermaßverbot, und Suarez hat es damit begründet, dass es im Bereiche des sittlichen Selbstvollzuges weder die Herrschaft des Überflusses geben noch das Notwendige fehlen dürfe.5 Das Gesetz macht es dem Menschen möglich, sich als individuelle Person zu verwirklichen, ohne dass Dritte deswegen Nachteile in Kauf nehmen müssen. Die Notwendigkeit, auf Dritte Rücksicht nehmen zu müssen, ist eine Folge der Angewiesenheit des Menschen auf die ihn umgebende Mitwelt. Ohne sie, meint Tho-
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„Homo naturaliter hoc habet, quod utatur rebus inferioribus ad suae vitae necessitatem. Est autem aliqua mensura determinata secundum quam usus praedictarum humanae vitae est conveniens, quae quidem mensura si praetermittatur, fit homini nocivum“ (SCG III, 129: S. 3014). „Lex autem omnis vel est aliquid creatum vel certe supponit aliquam creatum propter quam feratur“ (Suarez DLb 1.3.2). „Impeditur etiam ex passionibus partis sensitivae“ (ibd. SCG III/CXLVII, S. 3207). „Quia in his rebus ad institutionem morum pertinentibus, nec aliquid superfluum admittendum est neque id quod necessarium est deesse potest“ (DLb, 1.3/1).
Die menschliche Selbstverwirklichung im Spannungsfeld von Gesetz und Freiheit
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mas von Aquin, wäre er sein eigener König.6 Die Angewiesenheit mache ihn jedoch hilfebedürftig.7 Aus diesem Hinweis lässt sich das Gesetz bestimmen als die Vorgabe, dank welcher die im Menschen vorhandenen existentiellen Lücken geschlossen werden können.
1.2. DAS GESETZ ALS HERRSCHAFTSMITTEL DER PRAKTISCHEN VERNUNFT Für Thomas von Aquin hat das Gesetz keineswegs ursprünglichen Charakter, sondern ist das Mittel, womit die der Urgründe des Handelns kundige Vernunft ihre Herrschaft über die ihr wertmässig untergeordneten Triebe ausübt.8 Man kann es auch als die von der Vernunft an den Menschen erlassene Anweisung bezeichnen, das zu tun, was seine Selbstverwirklichung fördert. Auf diese Weise wird das Gesetz für den Menschen zu Regel und Massstab seines Handelns. Als solches kann es ihn dazu auffordern oder davon abhalten.9 Dank dem Gesetz ist der Mensch in der Lage, sich in seinem Bewusstsein die in ihm angelegte Wesensbestimmung wahrheitsgetreu zu vergegenwärtigen10 und in der Folge sich zu entscheiden, ob er die dazu erforderlichen Handlungen vollbringen oder unterlassen will.11 Mit anderen Worten: Weil die Verwirklichung seiner Daseinsbestimmung für ihn kein Zwang ist, benötigt er das Gesetz. Dank ihm wird er dazu angehalten werden, ein den natürlichen Erfordernissen seines Daseins angemessenes Leben zu führen.12 Nicht unerwähnt bleiben darf jedoch, dass aus der Sicht des heutigen Rechts sein Verständnis von Recht und Gesetz13 als unvollständig zu betrachten ist, weil es deren zwingenden Charakter nicht hervorhebt. Dementsprechend werden die daraus entspringenden Forderungen aus heutiger Sicht nicht mehr sein als Naturalobligatione 14 bzw. unvollständige Forderungen.15 6
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„et si quidem homini conveniret singulariter vivere, sicut multis animalium, nullo alio dirigente indigeret ad finem, sed ipse sibi unusquisque esset rex sub Deo summo rege“ (DRP I.1, S. 741). „Homo autem institutus est nullo horum sibi a natura praeparato“ (ibd.). „Unusquisque legislator ad suum finem principaliter per leges homines dirigere intendit: sicut dux excercitus ad victoriam et rector civitatis ad pacem“ (SCG III/CXV: 2883). „Lex quaedam regula est et mensura actuum, secundum quam inducitur alqiquis ad agendo, vel ab agendo retrahitur“ (ST I-II.96.1.c). „Cum lex nihil aliud sit quam quaedam ratio et regula operandi, illis solum convenit dari legem qui sui operis rationem cognoscunt“ (SCG III/CXIV: 2878). „illis danda est lex in quibus est agere et non agere“ (ibd.). „Ergo non solum est capax legis, qua dirigatur ad bonum et arceatur a malo, sed etiam aliqua talis lex est illi simpliciter necessaria, ut convenienter suae naturae vivere possit“ (ibd.). „Prudentia consistit circa particularia operabilia. In quibus cum sint quasi infinitae diversitates, non possunt ab uno homine sufficienter omnia considerari, nec per modicum tempus, sed per temporis diuturnitatem. Unde in his quae ad prudentiam pertinent maxime indiget homo ab alio erudiri: et praecipue ex senibus, qui sanum intellectum adepti sunt circa fines operabilium“ (ST II-II.49.49). Der in modernen Rechtsordnungen praktisch bedeutsamste Fall, in dem die traditionelle Jurisprudenz eine sanktionslose Norm annimmt, ist der Fall der Naturalobligation. Diese wird
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So lange die Vernunft beim Gegenstand an sich verweilt, wird der theoretische Bereich nicht überschritten. Will sie hingegen ihre Herrschaft ausüben und auf menschliches Verhalten einwirken, so muss sie ihren Wirkungsbereich erweitern.16 Sie wird auf diese Weise zur praktischen Vernunft und damit auch zu einem der konkreten Wirklichkeit zugewandten Organ.17 Als praktische Vernunft erblickt sie in der Wirklichkeit den möglichen Träger transzendenter Bestimmungen. Ein Beispiel dafür ist der Künstler, welcher in der Materie einen Träger erblickt, an welchem durch sein Wirken die Schönheit erscheinen kann. Aber auch das Verhalten kann als der Träger des Sittengesetzes erkannt werden. Thomas beschreibt uns so den genannten Vorgang. Dank seiner auf die Wahrnehmung des Guten hingeordneten Vernunft vermag der Mensch von verschiedenen Ranghöhen aus die wahrgenommenen Gegenstände zu bewerten.18 Dieser Unterschied wird damit begründet, dass es unter den Dingen, welche im Horizont der Vernunft erscheinen, solche gibt, die unveränderlich und notwendig sind und sich von den zeitlich bedingten Dingen abheben.19 Dies trifft für das Grundgesetz des Handelns zu, welches lautet: Das Gute ist zu tun und das Böse zu meiden.20 Dieser Grundsatz kann in verschiedenen Seinsweisen in der praktischen Vernunft gegenwärtig sein: entweder als Selbstverständlichkeit oder als der Maßstab der veränderlichen und zu gestaltenden Dinge.21 Trifft Letzteres zu, so tritt sie jeder Herausforderung von außen als gesetzgebende Vernunft entgegen. Die Vernünftigkeit menschlichen Handelns tritt an drei verschiedenen, aber ineinander greifenden Ebenen in Erscheinung. Diese drei Ebenen sind Momente menschlicher Selbstverwirklichung, welche sich in der Zeit vollzieht und zugleich ein Prozess der Konkretisierung ist. Dieser Prozess beginnt auf der Ebene der ursprünglichen Grundsätze, und führt über jene der Handlungsvorgaben schließlich zu jener der konkreten Entscheidungen. Die ihnen zugeordneten Befähigungen sind das Urgewissen (synderesis), das sittliche Bewußtsein und die im klugen
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als eine Leistungspflicht charakterisiert, deren Erfüllung nicht durch Klage geltend gemacht werden kann und deren nicht Erfüllung nicht die Bedingung einer Zivilexekution ist. KELSEN, Rechtslehre, 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. 1960, ND Wien 2000, S. 53. Vgl. MEDICUS: Schuldrecht I. Allgemeiner Teil, München 122000, § 3, II/24ff. „et prima consideratio non exit limites speculativae rationis; secunda autem ad genus practicae rationis pertinet; unde patet quod ratio superior partim est speculativa partim est practica“ (ibd.). „sed quia ita est in ordine rerum quod superius est directivum inferioris et causa, inde est quod per aeterna in his quae temporalia sunt diriguntur“ (ibd.). „quia vero tota ratio potentiarum ex obiectis sumitur, quorum speciebus informantur, inde est quod oportet in ratione quemdam gradum secundum ordinem eorum quibus intendit“(2 S.24.2.2). „in rebus autem quas ratio considerat, talis invenitur distinctio et ordo, ut quaedam aeterna et necessaria, a temporalibus discreta, eis proponatur“ (ibd.). „Hoc est primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequiendum, et malum est vitandum“ (ibd.). „ratio aeternis dupliciter inhaerere potest: vel considerando ipsa in se, vel considerando ipsa secundum quod sunt regula temporalium per nos disponendorum et agendorum“ (ibd.).
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Handeln Gestalt annehmende Urteilskraft. Dank der Letzteren wird das Handeln in jeder Entscheidungssituation auf das vorgegebene Ziel hin orientiert.22
2. DIE SELBSTVERWIRKLICHUNG ALS PROZESS IM SPANNUNGSFELD VON REZEPTION UND KONKRETISIERUNG Im Verlaufe seiner Selbstverwirklichung verlässt die praktische Vernunft eines Menschen allmählich den Bereich der Gewissheiten um sich in jenen der Wahrscheinlichkeiten zu begeben. Je mehr sie sich der konkreten Wirklichkeit nähert, umso mehr ist sie Kräften ausgesetzt, die es zu bändigen gilt. Dabei gilt es die Verletzung einmal als verbindlich anerkannter sittlicher Inhalte zu vermeiden, ohne in die Gefangenschaft selbiger zu geraten. Dazu verfügt jeder Mensch über zwei Befähigungen, wovon die eine sich durch ursprüngliches Wirken, die andere hingegen durch Treffsicherheit auszeichnet. Sie heißen Urgewissen und Klugheit.
2.1. DAS URGEWISSEN Es liegt bei Thomas ein zweifacher ethischer Ansatz vor. Einerseits haben wir die aristotelische Auffassung vom guten Leben mit ihrer Typologie menschlichen Verhaltens und den ihr zugeordneten Regeln. Andererseits findet bei ihm unter dem Einfluß des Stoizismus und der christlichen Lehre eine Verinnerlichung des menschlichen Handelns statt. Lobenswert ist für ihn eine Handlung dann, wenn sie die Rechtschaffenheit der inneren Gesinnung widerspiegelt.23 Dementsprechend ist er bemüht, im Gewissen das Spiegelbild menschlicher Innerlichkeit zu erkennen und, sofern es menschliches Handeln zu begründen vermag, ihm eine ontologische Grundlage zu geben. Bei der ontologischen Begründung geht er von einer bildlichen Darstellung der verschiedenen Rangordnungen der Dinge aus. Jede einzelne Rangordnung steht mit der ihrer über- oder untergeordneten Ordnung in Berührung.24 Auf diese Weise nehmen die der unteren Rangordnung angehörenden Dinge an der ihr übergeordneten Ordnung teil. Die reinen Geister, welche sich an der oberen Spitze der Rangordnung befinden, verfügen über die Fähigkeit, die Wahrheit unmittelbar
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Zum Aufbau der sittlichen Handlung in einer konkreten Entscheidungssituation aus thomistischer Sicht, vgl. PIEPER, Die Wirklichkeit und das Gute, München 1956, S. 115. „Et ideo exteriori conversatio habet rationem honesti secundum quod est demonstrativa interioris rectitudinis“ (ST II-II.145.1.3). „naturae enim ordinatae ad invicem sic se habent sicut corpora contiguata, quorum inferius in sui supremo tangit superius in sui infimo; unde et inferior natura attingit in sui supremo ad aliquid quod est proprium superioris naturae, imperfecte illud participans“ (QDV 16.1.c).
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und ohne den Umweg über den Diskurs zu erfassen.25 Etwas von dieser Fähigkeit besitzt auch die menschliche Natur, indem sie auf Grund einer ihr innewohnenden ursprünglichen Veranlagung die theoretischen und praktischen Grundsätze des Denkens und Handelns sowie Verstöße dagegen unmittelbar und ohne den Umweg über den Diskurs zu erfassen vermag.26 Diese Veranlagung nennt Thomas das Urgewissen. Der Inhalt des Urgewissens ist rein abstrakt. Demzufolge fällt ihm nicht die Aufgabe zu, das menschliche Bewusstsein hinsichtlich dessen, was als sittlich gut zu gelten hat, zu unterweisen. Dagegen wird es den Menschen in jeder Situation, wo Sittlichkeit und Neigung miteinander in Konflikt geraten, dazu ermahnen, seine Neigungen beiseite zu lassen und sich an seinen Grundsätzen zu orientieren und ihnen treu zu bleiben. Zusammenfassend: Weil die Forderung, an Orientierungen festzuhalten, im menschlichen Dasein verankert ist, besitzt es ein sittliches Gepräge.
2.2 DIE SUBJEKTIVE EIGENSTÄNDIGKEIT UND IHRE ERSCHEINUNGSFORMEN Das Urgewissen besitzt deswegen ein höheres Ausmaß an Gewissheit als das sittliche Bewusstsein, weil es für den Fall, dass seine Anordnungen nicht befolgt würden, unanfechtbare Sanktionen anzuwenden in der Lage ist. Eine davon ist das schlechte Gewissen, welches die angeklagte Person auffordert, sich entweder für ihre Unterlassungen zu rechtfertigen oder den Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit in Kauf zu nehmen. Daran ist erkennbar, dass dem Ur-Gewissen die Aufgabe zufällt, dem Menschen ins Bewusstsein zu rufen, dass er vor sich selber als eigenständiges Subjekt zu bestehen hat. Dazu muss er vor sich selber glaubwürdig sein, und dabei erlässt sein Ur-Gewissen an ihn folgende Forderungen: a. einmal abgegebene Versprechen einzuhalten, b. stets so handeln, dass zu jeder Zeit dafür Rechenschaft abgelegt werden kann.
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„Naturalis enim modus cognoscendi et proprius naturae angelicae est, ut veritatem cognoscat sine inquisitione et discursu; humanae vero proprium est ut ad veritatem cognoscendam perveniat inquirendo, et ab uno in alio discurrendo“ (ibd.). „Unde et in natura humana, inquantum attingit angelicam, oportet esse cognitionem veritatis, sine inquisitione et in speculativis et in praticis; et hanc quidem cognitionem oportet esse principium totius cognitionis sequentis, sive speculativae sive practicae, cum principia oporteat esse stabiliora et certiora. Unde et hanc cognitionem oportet homini naturaliter inesse, cum hoc quidem cognoscat quasi quoddam seminarium totius cognitionis sequentis; sicut et in omnibus naturis sequentium operationum et effectum quaedam naturalia semina praeexistunt. Oportet etiam hanc cognitionem habitualem esse, ut in promptu existat ea uti cum fuerit necesse“ (ibd.).
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2.2.1.
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Versprechen müssen eingehalten werden
Ein Versprechen ist die unwiderrufliche Willenserklärung, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne eine bestimmte Leistung zu Gunsten einer Drittperson zu vollbringen.27 Dementsprechend wird die Nichteinhaltung dieses Versprechens als Wortbruch und somit als sittlich verwerflich bewertet. Thomas argumentiert aus einem theologischen Hintergrund. Das Versprechen ist ein Bestandteil des Gelübdes und somit einer gegenüber Gott eingegangenen Verpflichtung.28 Wer es einhält, bezeugt damit Gott seine Treue.29 Hingegen ist es Sache des Anstandes gegenüber Menschen abgegebene Versprechen einzuhalten.30 Zwischen dem Versprechen und dem privatrechtlichen Vertragsabschluss liegt insofern eine gewisse Analogie vor, als aus beiden Schuldverhältnisse hervorgehen. Besonders deutlich tritt dies im Eheversprechen zutage. Wer ein Eheversprechen abgibt, tut es im Bewusstsein, damit ein dauerndes Schuldverhältnis einzugehen. Damit greift er in Rechtsgüter ein – in die Freiheit einer anderen Person nämlich –, die auf Grund der Vertragsverhandlungen seiner Einwirkung ausgesetzt sind.31 Er tut es, indem er das Vertrauen der anderen Person in Anspruch nimmt.32 Dies gilt nicht nur für die Beziehung zu Dritten, sondern auch für jene zu sich selber, denn wer sich etwas vornimmt, geht gewissermaßen mit sich selber eine Vereinbarung ein. Ist er unfähig, sich an sein Vorhaben zu halten, so greift er damit sein eigenes Selbstvertrauen an. Die Einhaltung von Versprechen ist für das menschliche Zusammenleben deswegen unentbehrlich, weil Letztere auf Treu und Glauben beruhen, ohne die eine zwischenmenschliche Kommunikation nicht möglich ist. Damit schützt das Urgewissen Treu und Glauben als einen Wert, welcher für die kommunikativen Beziehungen unter den Menschen maßgebend ist. Wer deshalb ein Versprechen abgibt, nimmt das Vertrauen anderer Menschen in Anspruch.
2.2.2.
Das zu schützende Vertrauen
Das Vertrauen ist keineswegs eine Grundgegebenheit menschlichen Daseins, sondern ist eng verbunden mit der Komplexität der Welt, in die jede einzelne Person gestellt ist. Die moderne Soziologie führt die Komplexität auf ein unausgeglichenes Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Umwelt zurück, womit der gesamte, der menschlichen Erlebnisfähigkeit zugeordnete Bereich von Möglich27 28 29 30
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32
„Ita promittendo ordinat qui ipse pro alio facere debeat“ (ST II-II.88.1.c). „Votum est promissio Deo facta“ (ibd. 2.c). „Ad fidelitatem hominis pertinet id quod promisit“ (ibd. 3.c). „Dicendum quod secundum honestatem ex qualibet promissione homo homini obligatur“ (ibd.). CANARIS, Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkungen für Dritte“ bei nichtigen Verträgen, JZ Nr. 15/15 (1965), S. 475. Durch das Schuldverhältnis ist unter den Parteien eine Sonderbeziehung geschaffen worden, die von unserm Recht als gegenseitiges Vertrauensverhältnis angesehen wird. STOLL, Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung, AcP 16 (136), Heft 3, S. 288.
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keiten vermeint wird. In ihn hineingestellt, hat der Mensch als Person eine Auswahl unter den ihm aus der Welt entgegentretenden Möglichkeiten zu treffen. Wer Vertrauen schenkt, leistet insofern eine Vorwegnahme, als er annimmt, dass bei der Person, mit welcher er ein Rechtsverhältnis einzugehen bereit ist, jene Eigenschaften, die Vertrauen begründen - Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit nämlich - auch tatsächlich vorhanden sind. Da er die Gewissheit, dass man ihn nicht täuschen wird, nicht besitzt, lässt er sich mit seiner Entscheidung33 auf ein Wagnis ein. Zusammenfassend: Das Urgewissen ist kein Organ irrtumsfreier Daseinsbewältigung, sondern ein Vertrauen zu sich selber und zur Mitwelt stiftendes Organ. Der Behauptung von Niklas Luhmann,34 dass „es der Grundrechtsdogmatik bisher nicht gelungen“ sei, „die Besonderheit des Grundrechts der Gewissensfreiheit überzeugend herauszuarbeiten, seinen Tatbestand zu fixieren, seine Funktion verständlich zu machen“, lässt sich entgegenhalten, dass der Mensch dank seinem Gewissen als verantwortungsfähiges Subjekt im sittlichen und rechtlichen Sinne in der Welt Bestand hat, was ausgeschlossen wäre, wenn sein Gewissen äußeren Nötigungen unterworfen wäre. Das Bindeglied zwischen dem Versprechen und dem Streben nach Glaubwürdigkeit heißt Verantwortung
2.2.3.
Die Verantwortung
Als Verantwortung ist die Bereitschaft zu bezeichnen, sich die Folgen des eigenen Tun oder Unterlassens zurechnen zu lassen. Sie setzt die Verfügungsmacht voraus, eine Handlung zu vollbringen oder zu unterlassen. Allein eine solche Person kann für ihre Handlungen gelobt oder getadelt werden. Das Gewissen tut es, indem es dem Menschen in Erinnerung ruft, welche Folgen sein Tun oder Unterlassen haben wird. Erst die Befähigung, solches wahrzunehmen, macht den Menschen zum verantwortlichen Subjekt. Mit der Frage menschlicher Verantwortlichkeit setzt sich Thomas in seiner Abhandlung über die Aporetik des irrenden Gewissens auseinander. Sein Ansatz lautet: Nur freiwillligen Handlungen kann ein Verdienst angerechnet werden,35 wobei Freiwilligkeit für ihn Abwesenheit von Zwang bedeutet.36 Daraus folgert er, dass die einer innerer Notwendigkeit37 gehorchende Person keinen Tadel, sondern Nachsicht verdient.38 Seinen Standpunkt begründet Thomas mit dem Hin33 34 35
36
37 38
HARTMANN, Ethik, 4. unveränd. Aufl., Berlin 1962, S. 469 ff. LUHMANN, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, AöR 90 (1965), S. 257 ff. „Omnis autem actus humanus habet rationem peccati vel meriti inquantum est voluntarium“ (Quodl.3.12.2). „cum illud quod fit ex violentia, sit extra naturam (quia violentum est cuius principium principium est extra, nihil conferente vim passo; naturale autem est, cuius principium est intra)“ (P V/X, 740). „necessitas recte dicitur, quod est inculpabilis et irreprehensibilis“ (Met. V/VI, 831). „necessitas magis meretur veniam quam increpationem“ (ibd.).
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weis, dass eine solche Person deswegen nicht einzusehen vermag, dass sie für ihr Tun Rechenschaft abzulegen hat,39 weil es die Möglichkeit, sich auch anders zu verhalten, für sie nicht gibt. Nur wem diese Möglichkeit bewusst ist, weiß, dass er Rechenschaft über sein Tun oder Unterlassen abzulegen hat. Ohne dieses Bewusstsein sind verantwortliches Handeln und folglich auch Schuld ausgeschlossen. Das Urgewissen verständigt den Menschen darüber, wie er sich zu verhalten hat. Zu seiner Selbstverwirklichung reicht es jedoch nicht aus, denn er muss darüber hinaus noch wissen, woran er sich zu halten hat. Dies vermitteln ihm die sein sittliches Bewusstsein prägenden Werte.
2.3. DAS SITTLICHE BEWUSSTSEIN 2.3.1.
Der kulturelle Hintergrund
Die kulturgeschichtliche Abhängigkeit des Menschen als vernünftiger Einzelperson lässt sich damit erklären, dass er hinsichtlich des zum Leben Notwendigen nur über eine allgemeine Kenntnis verfügt und ohne die Mithilfe Dritter nicht in der Lage ist, die Kenntnis sämtlicher zur Daseinsbewältigung erforderlichen Mittel zu erwerben.40 Daraus folgt für ihn, dass die Kenntnis des zum Leben Notwendigen ihm vermittelt wird. Die Fähigkeit zu sprechen spielt dabei deswegen eine massgebende Rolle, weil durch die Sprache Wissen vermittelt wird.41 Der Mensch ist keineswegs ein für sich allein lebendes, sondern ein in die Welt gestelltes Subjekt. Diese Welt ist der Gesamtbereich der ihm vertrauten Gegenstände und wird auch als die Kultur bezeichnet. Nicolai Hartmann42 definiert sie als “das Geistesleben in seiner Ganzheit, wie es geschichtlich in einer jeweilig bestehenden, durch Zeitgenossenschaft und Lebensgemeinschaft verbundenen Menschengruppe sich herausbildet, entwickelt, zur Höhe gelangt und niedergeht“. Die Kultur prägt insofern die Identität eines Menschen, als sie ihm Verhaltensvorgaben vermittelt, durch deren Annahme er sich von einem Teil seiner Mitwelt abgrenzen kann. An ihnen hat er sich dann zu orientieren. Sie heissen Sitten und Gebräuche und verdanken ihre Verbindlichkeit dem Umstand, dass sie 39
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„Quia non inculpamur nisi de his quae voluntarie facimus, de quibus etiam rationabiliter increpamur. Necessitas autem violentiae est contraria voluntati et excogiationi, ut dictum est; et ideo rationabilius dicitur, quod violentia non sunt culpabilia“ (ibd.). „Homo autem horum, sunt vitae necessaria, naturalem cognitionem habet solum in communi, quasi eo per rationem valente ex universalibus principiis ad cognitionem singulorum, quae necessariae sunt humanae vitae, pervenire. Non est autem possibile quod unus homo ad omnia huiusmodi per suam rationem pertingat. Est igitur necessarium homini quod in moltitudine vivat, ut unus ab alio adiuvetur et diversi diversis inveniendis per rationem occupentur“ (DRP I/1,742). „Est proprium homini locutione uti, per quam unus homo homo aliis suum conceptum totaliter potest exprimere“ (ibd. 743). HARTMANN, Das Problem des geistigen Seins, Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 3. unveränd. Aufl., Berlin 2005, S. 205.
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ständig gepflegt wurden.43 Sie sind in einem gewissen Sinne das Ergebnis der Verinnerlichung einer Kultur im menschlichen Bewusstsein. Langfristig können sie sich deswegen in Gesetze umwandeln, weil wiederholtes Tun auf höchst wirksame Art und Weise zu der Annahme führen kann, eine innere Willensbewegung oder ein durch die Vernunft entworfener Plan stehe dahinter.44 Sie können nach heutigem Verständnis von Recht nicht als zwingend angesehen werden, und dementsprechend können im Falle, dass sie nicht befolgt würden, keine öffentlichen Sanktionen gegen jene Personen verhängt werden, die sich ihnen nicht unterwerfen wollen. Weil sie keine Selbstverständlichkeit besitzen, müssen sie als das Ergebnis eines Stiftungsaktes historischer Persönlichkeiten angesehen werden. Treffend umschreibt Max Schelers45 die Sitten und Gebräuche mit dem Hinweis: „Handlungs- und Ausdrucksformen, deren Geltung und Übung allein in der (echten) Tradition wurzeln, zu deren Natur es gehört, dass erst eine Abweichung von ihr einen Akt des Wollens voraussetzt. Sitten und Bräuche können selbst noch sittlich gut und böse sein und führen in ihrem Ursprung fast stets auf sittlich unmittelbar relevante Akte und Handlungen zurück.“
Der Zusammenhang zwischen einer Kultur und den ihr entspringenden Sitten und Gebräuchen ist nicht mehr formal-logisch, sondern axiologisch oder sachorientiert. Gefordert wird eine Folgerichtigkeit des Wertens. Sie besteht in der Erkenntnis, welche Bedeutung die jeweilige Situation für die Erfüllung einer wertmäßigen Vorgabe besitzt. Um eine Kultur am Leben zu halten, müssen die Sitten, in denen sie sich niedergeschlagen hat, gepflegt werden. Solche Sitten werden als „geeignet“ bezeichnet. Der axiologisch-teleologische Zusammenhang spielt in der Rechtslehre eine Rolle und Canaris46 bezeichnet ihn als ein „Erlebnis einer besonderen Evidenz der Folgerichtigkeit juristisch-axiologischen oder teleologischen Denkens rationaler Art“. Diese Evidenz ist für ihn47 „die Bedingung der Möglichkeit juristischen Denkens überhaupt und insbesondere die Voraussetzung einer rational geleiteten und rational überprüfbaren Erfüllung des Gerechtigkeitsgebotes“. Der axiologische Zusammenhang leitet sich im Verständnis Canaris’ aus den in der Sache verankerten Geltungsansprüchen ab. Dieser Sachverhalt wird uns an einem von Aristoteles entlehnten Beispiel verdeutlicht. Bei der Verteilung von Flöten, wird uns gesagt, sei derjenige zu bevorzugen, der besser darauf spielen könne, nicht aber derjenige, der der Vornehmste von Geburt oder der Schönste 43 44
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„Sed moralis virtus fit ex more, idest ex consuetudine“ (Eth. L II, l 1). „Unde etiam per actus, maxime multiplicatos, qui consuetudinem efficiunt, mutari potest lex, et exponi, et etiam aliquid causari quod legis virtutem obtineat: inquantum scilicet per exteriores actus multiplicatos interior voluntatis motus, et rationis conceptus, efficacissime declaratur; cum enim aliquid multoties fit, videtur ex deliberato rationis iudicio provenire“ (ST. III.97.3). SCHELER, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 5. durchges. Aufl. m. e. Anh. v. Maria Scheler, Bern e. a. 1966, S. 305. CANARIS, Systemdenken und Systembegriff in der Jursiprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. überarb. Aufl., Berlin 1983, S. 45. ebd.
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sei, da diese letzteren Eigenschaften zur Tätigkeit des Flötenspiels nichts beitrügen.48 Der Gedankengang ist so zu verstehen: Das Flötenspiel ist eine Möglichkeit sich musisch zu betätigen. Zur Aktualisierung dieser Möglichkeit werden Menschen benötigt, die des Flötenspiels kundig sind. Weil sie eine solche Fähigkeit besitzen, können sie den Anspruch erheben, eine Flöte zugeteilt zu bekommen. Eine axiologische Folgerichtigkeit zeichnet sich durch sachgerechtes Verhalten aus. Es liegt dann vor, wenn dem in der Sache gründenden Geltungsanspruch in der jeweiligen Situation entsprochen wird. Aus dieser Einsicht leitet sich die Forderung ab, jedem das Seine zuzuerkennen. Wer dieser Forderung Folge leistet, handelt gerecht.49 Man kann die Forderung nach einer sachgemäßen Verteilung der Güter insofern eine Generalklausel nennen, als sie darauf hinweist, welche Maßnahme sich zur Konkretisierung des Gerechtigkeitsgebotes am besten eignet. Zwischen dem sittlichen Bewusstsein und den Generalklauseln im Recht lässt sich insofern eine gewisse Analogie feststellen, als es in beiden Fällen um die Konkretisierung einer Norm geht. Während es bei den Generalklauseln um die Konkretisierung des Gerechtigkeitsgebotes geht, will das sittliche Bewusstsein darauf hinweisen, wie welche Art von Handeln sich zur Konkretisierung der Forderung das Gute zu tun am besten eignet.
2.3.2.
Die sittliche Gesinnung
Sie wird dadurch erworben, dass aus wiederholtem Tun eine Gewohnheit entsteht.50 Die hinsichtlich des Gewohnheitsrechtes gemachte Feststellung von Larenz/Canaris,51 dass dieses Recht stets Ausdruck einer ihn begleitenden Rechtsüberzeugung sei, gilt in analoger Weise auch für die sittliche Gesinnung. Sie wird stets von der Überzeugung begleitet, dass die Handlungen, die sie vorschreibt, auf an sich richtigen Grundsätzen beruhen. Sie wird sich dabei auf frühere Verhaltensweisen in ähnlichen Situationen berufen und mit Unterstützung des UrGewissen Forderungen erlassen, ohne sich um deren Güte oder Schlechtigkeit zu kümmern.52 Für das Urgewissen spielt es nämlich keine Rolle, ob die von ihm geforderte Handlung tatsächlich oder nur vermeintlich gut ist. Weitaus wichtiger für es ist der Vertrauensschutz. Auf diese Weise kann es auch geschehen, dass es an sich schlechte Handlungen vorschreibt, ohne dass ihm hierfür die Verantwortung zu48
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52
CANARIS, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, München 1997, S. 19. „Est autem iustitia circa ea quae ad alterum sunt sicut circa propriam materiam“ (ST IIII.58.1). „Sed moralis virtus fit ex more, idest ex consuetudine“ (ETH L II, l 1). LARENZ/CANARIS, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. neu bearb. Aufl., München 1995, S. 177. „Potest dici, quod tota vis conscientiae examinantis vel consiliantis ex consilio synderesis pendet, sicut tota veritas rationis speculativae pendet ex principiis primis. Et ideo conscientiam syderesim nominat“ (QDV 17.2.c).
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geschrieben werden könnte.53 Seine Sache ist es nämlich nicht festzustellen, ob bei Abgabe der Willenserklärung etwa irrtümliche Wahrnehmungen eines Sachverhaltes vorlagen oder Grundsätze schlecht angewendet wurden.54 Ausschlaggebend für sie ist lediglich, dass sie vom Willen für gut erklärt wurden und in der Folge zum Inhalt eines Versprechens wurden.55 Sein und Schein werden hier nicht mehr auseinander gehalten. Obgleich Urgewissen und Sitte die beiden das sittliche Bewusstsein eines Menschen konstituierenden Faktoren sind, besteht zwischen ihnen deswegen keine Deckungsgleichheit, weil die Sitte keine ursprüngliche Selbstverständlichkeit besitzt, sondern aus einer geschichtlichen Entscheidung hervorgegangen ist.
2.4. DIE ENTSCHEIDUNG 2.4.1.
Das Zusammenspiel von Notwendigkeit und Freiheit
Entscheidungen erfolgen nicht im abstrakten Raum, sondern sie bilden den Abschluss eines Handlungsablaufes den man den Entscheidungsprozess nennt. In ihm greifen Notwendigkeit und Freiheit insofern ineinander als die Notwendigkeit sich zu entscheiden, eine Folge des natürlichen Verlangens ist, sich selber zu verwirklichen.56 Dagegen lässt die Art und Weise sich zu verwirklichen nicht aus irgendwelchen wesensmäßigen Vorgaben begründen. In diesem Sinne erklärt Thomas, wegen seiner vorgegebenen Hinordnung sei der Wille genötigt, Entscheidungen zu treffen, ohne sich auf irgendwelche Vorgaben berufen zu können.57 Wegen des Mangels an Vorgaben sind Entscheidungen stets ein Schritt ins Ungewisse. Die Notwendigkeit, einen Schritt ins Ungewisse zu vollziehen wird darauf zurückgeführt, dass im Unterschied zum Tier im Menschen Mittel und Zweck auseinander liegen. Es können deshalb bei ihm verschiedene Mittel im Hinblick auf ein- und dasselbe Ziel eingesetzt werden,58 wobei das Vorhandensein mehrerer Möglichkeiten zur Folge hat, dass er sich in dreifacher Hinsicht zu entscheiden ha, nämlich ob er sich einen Gegenstand aneignen oder nicht aneignen, 53
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„conscientia non dicitur scientia simpliciter, sed secundum quid, scilicet secundum aestimationem illius cuius est conscientia: dicitur enim conscientia, secundum quod aliquis sibi conscius est, quamvis autem scientia semper sit verorum, non tamen quidquid aliquis aestimat se scire, verum est: et ita non oportet quod semper sit conscientia vera“. „conscientia nihil aliud est quam applicatione scientiae ad aliquem specialem actum. In qua quidem applicatione contingit esse errorem dupliciter: uno modo, quia id quod applicatur, in se errorem habet; ex eo quod non bene applicatur“ (QDV 17.2). „Obiectum autem voluntatis secundum propriam rationem est bonum apprehensum. Et ideo actus humanus iudicatur virtuosus vel vitiosus secundum bonum apprehensum, in quod per se voluntas fertur,et non secundum materialem obiectum actus“ (QDL.3.12.2.ad 2). „Alia vero est necessitas conditionata scilicet ex finis suppositione; sicut imponitur alicui necessitas ut si non fecerit hoc, non consequatur praemium“ (QDV 17.3). „ideo oportet quod id ad quod voluntas est determinata, sit principium appetendi ea ad quae non est determinata“ (ibd. 22.6). „respectu obiecti est indeterminata voluntas quantum ad ea quae sunt ad finem, non quantum ad finem ultimum“ (ibd.).
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eine Handlung ausführen oder nicht ausführen oder bestimmte Mittel zur Verfolgung eines Zwecks einsetzen will oder nicht.59 Hinsichtlich der Mittel hat der Wille die Wahl zwischen der Wahrheit und dem Schein.60 Als Schein lassen sich wahrgenommene Eigenschaften bezeichnen, welche infolge eines fehlerhaften Urteils für etwas gehalten werden, was sie nicht sind61. Eine Form von Identifikation von Sein und Schein liegt vor, wenn ein lobenswerter Ansatz für die vollendete Tugend gehalten wird62. Diese Verwechslung hat zur Folge, daß die von dieser Identifikation betroffene Person das echte Ziel aus den Augen verliert. Weil die Entscheidung für die Konkretisierung maßgebend ist, besitzt letztere wegen des ihr zu Grunde liegenden Widerspruches auch eine dramatische Komponente.
2.4.2.
Die Konkretisierung in ihrer Dramatik
Die soeben erwähnte Dramatik ist sowohl in philosophischer als auch in rechtlicher Hinsicht angehbar. Je nachdem, ob man mehr seine philosophischen oder rechtlichen Aspekte im Auge hat, wird man ihn als tragischen oder als Wertungskonflikt bezeichnen. Für Max Scheler63 ist alles Tragische und mithin auch alles Dramatische als dessen Voraussetzung in der Sphäre von Werten und Wertverhältnissen angesiedelt. Damit das Tragische an ihnen erscheint, dürfen die handelnden Personen als dessen Träger keineswegs in sich ruhen, sondern müssen sich bewegen und in irgendeiner Weise aufeinander wirken.64 Ebenso gehört dazu die Zeit, in der etwas geschieht und entsteht, in der etwas verloren geht und vernichtet wird.65 Scheler66 nennt dieses Merkmal die Richtung auf Vernichtung eines positiven Wertes einer bestimmten Ranghöhe. Auf besonders eindrucksvolle Weise verdeutlicht uns die Bürgschaft diesen Wertungskonflikt. Jede Bürgschaft setzt die Übernahme einer Forderung voraus, die es durch Drittpersonen sicherzustellen gilt. Solcher Sicherstellungen bedarf es dort, wo die Einlösung einer Forderung durch den Gläubiger nicht gewährleistet 59
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„Invenitur autem indeterminatio voluntatis respectu trium: scilicet respectu obiecti, respectu actus, et respectu ordinis ad finem“ (ibd.). „indeterminatio voluntatis est respectu ordinis ad finem, in quantum voluntas potest appetere id quod secundum veritatem in finem debitum ordinatur, vel secundum apparentiam tantum“ (ibd.). „et ideo quando in aliqua re apparent sensibiles qualitates demonstrantes naturam quae eis non subest, dicitur res illa esse falsa“ (ibd. 1.10). „Naturalis inclinatio ad bonum virtutis, est quaedam inchoatio virtutis: non autem est virtus perfecta. Huiusmodi enim inclinatio, quanto est fortior, tanto potest esse periculosior, nisi recta ratio adiungatur, per quam fiat recta electio eorum, quae conveniunt ad debitum finem. S.Thomae Aquinatis“ (ST I-II.58.4.ad 4). SCHELER, Zum Phänomen des Tragischen, in: Ders.,Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, 4. durchges. Aufl., hrsg. v. Maria Scheler, Bern 1955, S. 153 ff. ebd. S. 154. ebd. ebd.
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ist, was eine Störung der Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung zur Folge haben könnte67. Um sie zu vermeiden, hat der Bürge das Versprechen abzugeben, im Falle der Nichteinlösung einer Forderung seitens des Schuldners, die Verminderung seines Vermögens in Kauf zu nehmen. In einem solchen Falle beinhaltet menschliches Handeln deswegen ein dramatisches Moment, weil dem Verlangen nach Entfaltung Forderungen entspringen können, welche die Fähigkeit einer Person übersteigen und dementsprechend ihre Sittlichkeit gefährden können. Um dieser Gefahr vorzubeugen, müssen durch kluges Abwägen die eingesetzten Mittel stets auf ihre Zwecktauglichkeit geprüft werden.68 Vorbeugen heißt in diesem Falle, dass von jeder endgültigen Bindung an zeitlich bedingte Güter abzusehen ist, ohne deswegen die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen. Solche Vorgaben sind für jede menschliche Situation, die eine Entscheidung erfordert, maßgebend. 2.5. DIE URTEILSKRAFT 2.5.1.
Die Überwindung der Beliebigkeit durch Weitsicht
Man kann den vorhergehenden Aussagen entnehmen, dass Entscheidungen keineswegs eine Sache der Beliebigkeit sein dürfen, sondern innerhalb eines nicht zu überschreitenden Rahmens zu erfolgen haben. Werden die Grenzen eingehalten, wird daraus ein Handeln entspringen, welches als verhältnismäßig zu bezeichnen ist. Bei deren Überschreitung wird hingegen das Handeln übermäßig genannt. Das Übermaß ist ein Tatbestand, welcher sowohl sittliche als auch rechtliche Bewandtnis besitzt. Im sittlichen Bereich ist es deswegen ein Merkmal eines bösartigen Willens, weil Mittel eingesetzt werden, die in keinem Verhältnis zum Können der handelnden Person stehen. So wird beim Hochmut wider besseres Wissen ein Ziel erstrebt, das die Fähigkeit der strebenden Person übersteigt. Hingegen wird beim Streben nach eitlem Ruhm ein Ausmaß an Anerkennung gesucht, das in keinem Verhältnis zum eigenen Verdienst steht. Im Neid schließlich sieht sich der Neider in einem mehr als erträglichen Ausmaß durch die Vortrefflichkeit eines anderen Menschen herausgefordert.69 Demnach spielt die Erreichbarkeit eines Zieles für die Forderung nach Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit eine erhebliche Rolle.
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CANARIS, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. überarb. Aufl., Berlin 1983, S. 113. „Cognoscere autem futura ex praesentibus vel praeteritis, quod pertinet ad prudentiam, proprie rationis est: quia hoc per quandam collationem agitur“ (ST II-II.47.1.c). Mehr dazu in: Thomas von Aquin: QDM 8-10.
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Die herkömmliche Rechtslehre versteht unter Verhältnismäßigkeit, dass die eingesetzten Mittel gegenüber dem angestrebten Zweck abzuwägen sind.70 Sie gründet in der Überzeugung, dass es zwar gilt, das angestrebte Ziel zu erreichen, dabei jedoch gewisse Bestimmungen nicht verletzt werden dürfen. Dieses Verbot gilt es beispielsweise bei der Abwägung von Grundrechten gegen Akte von Subjekten des Privatrechts zu beachten.71 Auf einer solchen Erfordernis gründet das Verbot der Übervorteilung im Privatrecht. Erforderlichkeit bedeutet hingegen, dass unter mehreren möglichen Instrumenten nur dasjenige mit geringsteinschneidenden Folgen72 zulässig ist. Dazu bemerkt Peter Lerche,73 es werde auch hier ein Maßstab gefordert, an dem abgelesen werden kann, welches Mittel mehr und welches weniger eingreift und welche Sphäre und wessen Sphäre für die Frage des Einschneidens maßgeblich ist. Aus der Forderung nach Einklang von Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit lässt sich herauslesen, dass das Streben nach Selbstverwirklichung auch eine soziale Dimension besitzt. Eine Entscheidung, die beiden Erfordernissen Rechnung trägt, wird eine kluge Entscheidung genannt. Sie ist eine angemessene Antwort auf eine Herausforderung. Dazu bemerkt Hans Georg Gadamer:74 „Wenn das Gute für den Menschen jeweils in der Konkretion der praktischen Situation be gegnet, in der er sich befindet, so muss das sittliche Wissen eben dies leisten, der konkreten Situation gleichsam anzusehen, was sie von ihm verlangt, oder anders ausgedrückt, der Han delnde muss die konkrete Situation im Lichte dessen sehen, was von ihm allgemein verlangt wird.“
Dem durch eine Situation zum Handeln herausgeforderten Menschen steht das sittliche Bewusstsein nicht als Richter, sondern als dessen Berater zur Seite. Dank ihm soll er sich in jener Situation vergegenwärtigen, welche Mittel für die eigene Selbstverwirklichung erheblich sind. Der Tatbestand, dem die Klugheit zugeordnet ist, sind die möglichen Folgen einer zu vollbringenden Handlung.75 Diese Zuordnung wird damit begründet, dass Vergangenes und Gegenwärtiges nicht mehr ungeschehen gemacht werden können, während die handelnde Person darüber verfügen kann, ob eine noch nicht vollbrachte Handlung geschehen soll oder nicht.76 Gegenüber dieser vorweggenommen Zukunft übt die Klugheit sowohl eine beratende als auch eine anweisende Funktion aus. Es wird darüber beraten, ob eine Handlung im gegenwärtigen 70
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Vgl. LERCHE, Übermaß und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, 2. um e. neue Einl. d. Autors erw. Aufl., ND d. Ausg. 1961, Keip 1999, S. 19. Vgl. CANARIS, Verstöße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit und im Schadenersatzrecht. JZ (42) 21 (1987), S. 993 ff. ebd. ebd. GADAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. durch e. Nachtr. erw. Aufl., Tübingen 1965, S. 296. „unde consequens quod contigentia futura, secundum quod sunt per hominem in finem humanae vitae ordinabilia, pertineant ad prudentiam“ (ST II-II.49.7). „sed de his est consilium quaecumque fiant per nos, idest in quibus oportet nos praedeterminari qualiter fiant, quia non sunt in se certa et determinata“ (ETH L III, l VII. 467).
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Zeitpunkt vollbracht werden soll oder nicht77. Eine Rolle spielen bei dieser Beratung die verfügbaren Mittel, denn sie haben das Streben entsprechend zu beeinflussen.78 Beide Faktoren bringen allerdings die zum Ziele führende Handlung erst dann zustande, wenn sowohl erkannt wird, welche Mittel dazu erforderlich sind, als auch wie sie eingesetzt werden müssen.79 Dabei geht das Bewusstsein so vor. Es sucht zunächst nach Mitteln, die es für geeignet hält, um sie in der Folge hinsichtlich ihrer Zwecktauglichkeit zu bewerten. An diese Bewertung wird die Anweisung geknüpft, ob die gefundenen Mittel eingesetzt werden dürfen oder nicht.80
2.5.2.
Die Klugheit als Ergebnis eines Lernprozesses
Die Klugheit ist dem Menschen nicht von Natur aus angeboren, sondern sie ist das Ergebnis eines aus dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren bewerkstelligten Lernprozesses. Somit bewegt sich das Bewusstsein nicht mehr auf der Ebene der Anfangsgründe des Handelns, sondern befasst sich mit deren konkreten Anwendung, wo stets die jeweiligen Umstände zu berücksichtigen sind. Zwar ist das Streben nach Daseinsentfaltung als das Grundgesetz des Handelns in der Forderung nach klugem Handeln insofern gegenwärtig, als es deren Bewegungsgrund bildet, dessen Verwirklichung die kluge Handlung zu gewährleisten hat.81 Das Verhältnis von konkretem Handeln und den Umständen, unter denen es erfolgt, kann als kategorial bezeichnet werden. Die Umstände sind die Bedingungen, unter denen gehandelt werden muss.82 Obgleich die Handlung mit ihnen nicht zusammenfällt, ist sie ihnen ausgesetz.t.83 Dieser Tatsache trägt Thomas dadurch Rechnung, dass er sich stets bemüht, das für jede Situation Bestmögliche zu ermitteln. Mit anderen Worten: Es geht ihm um das in der jeweiligen Situation Erreichbare. In der Ermittlung des Erreichbaren räumt Thomas der Erfahrung einen breiten Platz ein. Auf diese Weise bleibt sie nicht mehr auf die Wahrnehmung des Vorhandenen beschränkt, sondern wird in entscheidendem Masse dadurch erweitert, 77
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„prudens considerat ea quae sunt procul inquantum ordinantur ad adiuvandum vel impediendum ea quae sunt praesentialiter agenda.“ (ST II-II.47.1 ad 2). „Eorum quae sunt ad finem est consilium in ratione et electio in appetitu.“ (ibd.). „Nullus autem potest convenienter aliquid alteri applicare nisi utrumque cognoscat, scilicet et id quod applicandum est et id cui applicandum est“ (ibd. 3.c). „prudentia est recta ratio agibilium. Unde oportet quod ille sit praecipuus actus prudentiae qui est praecipuus actus rationis agibilium.Cuius quidam sunt tres actus. Quorum primum est consiliari: quod pertinet ad quarere, ut supra habitum est. Secundus actus est iudicare de inventis: et hic consistit speculativa ratio. Sed practica ratio quae ordinatur ad opus, procedit ulterius, et est tertius actus eius praecipere“ (ibd. 8.c). „Quod finis, etsi sit postremus in executione, est tamen primus in intentione agentis“ (ST III.1.ad 1). „quod circumstantiae nihil aliud sunt, quam quadam singualres conditiones humani actus“ (ETH L.III, 1, 415). „et ideo quaecumque conditiones sunt extra substantiam actus, et tamen attingunt aliquo modo actum humanum, circumstantiae dicuntur“ (ST I-II. 7.c).
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dass bestimmte, auf die sinnliche Welt bezogenen Kunstfertigkeiten wie die Fähigkeiten, sich zu erinnern, die Lage richtig einzuschätzen sowie die Folgen des eigenen Handelns zu bedenken, in den ethischen Diskurs mithineinbezogen werden. Dank ihnen kann der jeweilige Augenblick sowohl in Richtung Vergangenheit als auch in Richtung Zukunft horizontal überschritten werden. Auf diese Weise wird dem Menschen die Fähigkeit vermittelt, gegenüber jeder Situation, in die er geraten könnte, Distanz zu gewinnen und so das Wesentliche im Auge zu behalten. Thomas prüft in der Folge die genannten Fähigkeiten im Einzelnen mit dem Ziel, ihre Beteiligung an einer richtigen Entscheidung zu verdeutlichen. Als erstes befasst er sich mit dem Gedächtnis. Da die Klugheit Handlungen, die geschehen können, zugeordnet ist, lässt sie sich nicht aus Vorgaben begründen, sondern muss sich nach Ereignissen richten, welche mit einer gewissen Häufigkeit aufzutreten pflegen.84 Da sie sinnlich wahrgenommen werden, heißt ihre Wahrnehmung experimentell.85 Um solche Ereignisse festhalten zu können, um sie sich im richtigen Augenblick zu vergegenwärtigen, wird ein Organ benötigt, welches Gedächtnis genannt wird.86 Neben dem Gedächtnis bedarf es zu einer klugen Handlung der Fähigkeit, die Gegenwart an Hand festgehaltener Erfahrungen richtig einzuschätzen.87 Diese Fähigkeit heißt die Urteilskraft. Die Funktion der Klugheit ist keineswegs damit erschöpft, dass das Vergangene richtig bewertet und daraus die notwendigen Lehren gezogen werden. Letztere müssen auch so angeordnet werden, dass dadurch die Erreichung einer in der Zukunft gelegenen Vorgabe möglich wird.88 Weil der einzelne Mensch nicht aus eigener Kraft die Einsicht in sämtliche für ihn wichtigen Lebenssituationen zu gewinnen vermag, bedarf er dazu der Belehrung durch Dritte. Dazu hat er sich als bereitwillig zu erweisen.89 Diese Empfänglichkeit nennt 84
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„Prudentia est circa contingentia operabilia, sicut dictum est. In his autem non potest homo dirigi per ea quae sunt simpliciter et ex necessitate vera, sed ex his quae in pluribus accidunt“ (ibd. II-II.49.1). „Et quia omnis cognitio nostra ortum habet a sensu, et multoties sentire aliquid facit experimentum, ideo consequens est quod intellectualis virtus indigeat experimento longi temporis“ (ETH L.II,1 247). „Experimentum autem ex pluris memoriis;......Unde consequens est quod ad prudentiam requiritur memoriam habere“ (ibd.). „Et quia singularia proprie cognoscuntur per sensum, oportet quod homo horum singularium, quae dicimus esse principia et extrema, habeat sensum non solum exteriorem sed etiam interiorem, cuius supra dixit esse prudentiam, scilicet vim cogitativam sive aestimativam, quae dicitur ratio particularis“ (ETH L.VI, IX 1249). „etiam illae sunt sicut partes integrales: requiruntur enim ad prudentiam secundum quod de futuris conjectat ex parte praeteritorum et praesentium ex quibus procedit. Oportet enim prudentem viam accomodatam ad finem intentum invenire“ (III S.33.3.1b). „Prudentia consistit circa particularia operabilia. In quibus cum sint quasi infinitae diversitates, non possunt ab uno homine sufficienter omnia considerari, nec per modicum tempus, sed per temporis diuturnitatem. Unde in his quae ad prudentiam pertinent maxime indiget homo ab alio erudiri: et praecipue ex senibus, qui sanum intellectum adepti sunt circa fines operabilium“ (ST II-II.49.3).
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Thomas die Lernbereitschaft.90 Sodann hat jeder einzelne Mensch das Erlernte bei sich selber mit der notwendigen Sorgfalt anzuwenden.91 Die Klugheit bedient sich der erwähnten Kunstfertigkeiten nicht allein zur Wahrnehmung von Sachlagen, sondern ebenfalls zur Bildung eines angemessenen Urteils. Die entsprechenden Fertigkeiten sind die Bereitschaft sich gut beraten zu lassen,92 der gesunde Menschenverstand93 sowie die Bereitschaft einzusehen, dass die Sachlage ein Handeln aus Billigkeit erfordert.94 Die Billigkeit spielt im Recht insofern eine Rolle, als sie dem Rechtsanwender ein bestimmtes Ausmaß an Selbstständigkeit einräumt.95 Zusammenfassend: Hinsichtlich der Rezeption des Gesetzes vertritt Thomas eine Haltung, die als ontologischer Realismus zu bezeichnen ist. Was für ihn zählt, ist die Angemessenheit des angestrebten Zieles mit den dem Menschen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Um den Bereich des Angemessenen nicht zu überschreiten, hat sich die einzelne Person die Wertvorstellungen der Gesellschaft anzueignen und sich um deren Erhaltung zu bemühen. Die Gesellschaft selbst ist für ihn die mittelalterliche Standesordnung und nicht eine nach einem Idealbild zu schaffende Gemeinschaft. Demnach sieht er im Recht die zur Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung erforderliche Regel. Gleichzeitig ist ihm als Theologen bewusst, dass es Endgültiges im Horizont der geschichtlichen Wirklichkeit niemals geben wird.
BIBLIOGRAPHIE Quellen: Thomas von Aquins Werke werden, mit Ausnahme des Sentenzenkommentars, nach der bei Marietti in Turin erschienenen Ausgabe benützt. Sie werden, ohne Verfasserangabe, in den Fußnoten mit den folgenden, dem Index Thomisticus dieser Ausgabe enthaltenen Siglen zitier – mit Ausnahme der Summa Theologiae und der Summa contra Gentlies, für welche die auch sonst in diesem Band angewendete Zitierweise maßgebend ist. Im einzelnen (in alphabetischer Ordnung der Siglen): DRP = De Regimine Principum ad Regem Cypri, ex: Opuscula Philosophica, Cura et Studio P.Fr. Raymundi M. Spiazzi O.P..Romae 1954.
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„Hoc autem pertinet ad docilitatem, ut aliquis sit bene disciplinae susceptivus“ (ibd.). „Sicut autem docilitas ad hoc pertinet ut homo bene se habeat in acquirendo rectam opinionem ab alio; ita solertia ad hoc pertient ut homo bene se habeat in acquirendo rectam existimationem per seipsum“ (ibd. 49.4). „Unde manifestum est quod talis rectitudo consilii est eubulia, per quam aliquis adipiscitur bonum finem“ (ETH L VI, VIII. 1229). „illi enim dicuntur sensati, qui possunt bene iudicare de agendis“ (ibd. IX. 1239). „illa virtus quae vocatur gnome, secundum quam aliquos dicimus eugnomonas, id est bene sententiantes, et habere gnomen, idest attingere ad rectam sententiam, nihil est aliud quam rectum iudicium eius, quod est obiectum epichiae“ (ibd. 1243). Vgl. ENGISCH: Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. hrsg. und bearb. v. Thomas Würtenberger u. Dirk Otto, Stuttgart e. a. 1997, S. 136 ff.
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ETH = In decem libros Ethicorum Aristotelis ad Nicomachum Expositio, Editio Tertia, Cura et Studio P .Fr. Raymundi Spiazzi, Editio IX revisa, Romae 1964. (Zit. nach Liber, Lectio und Abschnitt.) MET= In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis Expositio, Editio iam a M.R. Cathala O.P. exarata retractatur cura et studio P.Fr. Raymundi M. Spiazzi O.P., Romae 1950. (Zit. wie ETH.) P = In octo libros Physicorum Aristotelis Expositio, Cura et studio P.M.Maggiòlo O.P.,Romae 1954.) QD = Quaestiones Quodlibetales, Cura et Studio P.Fr. Raymundi Spiazzi, Editio IX, Romae 1956. QDM= De Malo, ex: Quaestiones disputatae, Volumen II, Cura et Studio RR. PP. P. Bazzi; P. M. Pession, Editio VIII revisa, Romae 1949. QDV= Quaestiones Disputatae: Volumen I: De Veritate, Cura et Studio P.Fr. Raymundi Spiazzi, Editio IX revisa, Romae 1953. S = In Quattuor Libros Sententiarum, textus ex ed. Prima Americana t. VI, VII-1 et VII-2, New York 1948 (reimpressio editionis Parmensis t. VI, 1856 et t. VII 1858). (Zit. nach Unterscheidung (distinctio), Frage (quaestio), Artikel (articulus) und Einwand (contra).) SCG = Liber de Veritate Catholicae Fidei contra errores Infidelium seu SUMMA CONTRA GENTILES. Textus Leoninus diligenter recognitus, Cura et studio fr. Ceslai Pera O.P. Roma 1961. (Zit: ScG Buch (I, II etc.), Kapitel (1, 2 etc.).) ST = SUMMA THEOLOGIAE,: Cura et Studio Sac. Petri Caramello, cum textu ex recensione Leo-nina, Romae 1952.(Zit. nach nach Teilen (I, I-II, II-II, III, Suppl.), Frage/quaestio (1, 2 etc.), Artikel/articulum (1, 2 etc.), und innerhalb eines Artikels nach Einwand/objectio (obj. 1 etc.), Gegeneinwand/sed contra (s.c.), Antwort/corpus (c.) und Erwiderungen/ad (ad 1 etc.).) Cicero, Marcus Tullius. De legibus. Suárez, Francsco: Tractatus de legibus et Deo legislatore (Liber I-IV). Edicion critica bilingüe [lat.-span.], Madrid 1971-1978. (Zit.DLb, nach Liber (1,2 etc.), caput (1.2 etc.), Artikel (1,2 etc.). Literatur: Canaris, Claus-Wilhelm, Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkungen für Dritte“ bei nichtigen Verträgen. Zugleich ein Beitrag zur Vereinheitlichung der Regeln über die Schutzpflichtverletzungen, Juristen Zeitung 15, 15 (1965), S. 475-482. Canaris, Claus-Wilhelm, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, München 1997. Canaris, Claus-Wilhelm, Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter lege, 2. Aufl., München 1982. Canaris, Claus-Wilhelm, Grundrechte und Privatrecht, Archiv für civilistische Praxis 184 (1984), S. 201-246. Canaris, Claus-Wilhelm, Systemdenken und Systembegriff in der Jursiprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privat rechts, 2., überarb. Aufl., Berlin 1983. Canaris, Claus-Wilhelm, Verstöße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit und im Schadenersatzrecht, Juristische Zeitschrift 42, 21 (1987), S. 9931004. Engisch, Karl, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. hrsg. u. bearb. v. Thomas Würtenberger u. Dirk Otto, Stuttgart e. a. 1997. Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. durch e. Nachtr. erw., Tübingen 1965. Hartmann, Nicolai, Ethik, 4. unveränd. Aufl., Berlin 1962. Hartmann, Nicolai, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissensschaften, 3. unveränd. Aufl., Berlin 1962. Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. 1960, ND, Wien 2000.
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Kramer, Ernst A., Juristische Methodenlehre, Bern e. a. 1998. Larenz, Karl; Canaris, Claus-Wilhelm, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. neu bearb. Aufl. München 1995. Larenz, Karl, Sittlichkeit und Recht. Untersuchungen zur Geschichte des Deutschen Rechtsdenken und zur Sittenlehre, in: Reich und Recht in der Deutschen Philosophie, hrsg. v. Karl Larenz, Erster Band, Stuttgart e. a. 1943, S. 173-416. Lerche, Peter, Übermaß und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, 2. um e. neue Einl. des Autors erw. Aufl, ND d. Ausg. 1961, Keip 1999. Luhmann, Niklas, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, Archiv des öffentlichen Rechts 90 (1965), S. 257-286. Medicus, Dieter, Schuldrecht I. Allgemeiner Teil, München 122000. Messner, Johannes, Das Naturrecht. Handbuch d. Gesellschaftsethik, Staatsethik u. Wirtschafts ethik, Innsbruck e. a. 1950. Pieper, Joseph, Die Wirklichkeit und das Gute, München 1956. Scheler, Max, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 5. durchges. Aufl. m. e. Anh. v. Maria Scheler, Bern e. a.1966. Scheler, Max, Zum Phänomen des Tragischen, in: Ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, 4. durchges. Aufl., hrsg. v. Maria Scheler, Bern 1955, S. 149-169. Stoll, Heinrich, Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung, Archiv für civilistische Praxis 16, 3 (136), S. 257-320.
II. MARSILIUS VON PADUA (1225 – 1274)
Kay Waechter, Hannover
DER GESETZESBEGRIFF BEI MARSILIUS VON PADUA: POSITIVISMUS MIT NATURGARANTIERTER RÜCKVERSICHERUNG ABSTRACT: For Marsilius law depends on coercion. As force in this world is a requirement for law, divine law does not participate in the character of law, which is decisive for him. Marsilius is not very clear about how important truth and decision are for a rule to be a law, and what are the implications of a law, that is not true. Marsilius is part of a tradition according to which law must be right; but at the same time he is already preparing the coming positivism of law.
1. ABSCHEIDUNG DER MORAL UND RELIGION VON DER RECHTS- ALS ZWANGSORDNUNG Marsilius schreibt in der politischen Situation der Rivalität zwischen Kaiser und Papst. Er lebt in italienischen Städten, in denen die lokale Demokratie an Stadttyrannen allmählich verloren geht; er denkt in Frankreich als aufkommendem Territorialstaat mit einem Monarchen, der an Demokratie nicht denkt; er agiert für einen Wahlkaiser, der in Anspruch nimmt, Gesetze für zeitbedingte Zwecke erlassen und ändern zu dürfen.1 Er propagiert eine Beschränkung der Kirche auf den religiösen Bereich; innerkirchlich stellt er sich auf die Seite der Franziskaner, die im Armutsstreit gegen den Papst unterlegen sind. Mit seinem Ordensoberen (Michael von Cesena) und einem der geistigen Repräsentanten dieses Ordnens, Ockham, weiß er sich gemeinsam im Exil. Das Staatsverständnis von Marsilius ist äußerlich traditionell aristotelisch, sein
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Rolf GRAWERT, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesbegriffes, in: Studien zum Beginn der modernen Welt, hrsg. v. R. KOSELLECK, Stuttgart 1977, S. 218 (219). Weitere Literatur zu Marsilius: Julio A. CASTELLO-DUBRA, Finalismo y formalismo en el concepto marsiliano de ley, in: Patristica et Medievalia 1997, 18, S. 81 ff; Pedro Roche Arnas, La ley en el Defensor Minor de Marsilio de Padua, in: Revista Espanola de Filosofia Medieval, Número 2 (1995), S. 91-100; Roberto Lambertini, Ockham and Marsilius on a eccleological fallacy, in: Franciscan Studies, Heft 46 (1986), S. 301-315; LÖFFELBERGER, Michael, Marsilius von Padua. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im «Defensor pacis» Berlin 1992; Jeannine QUILLET, J. La philosphie politique de Marsile de Padoue, Paris 1970; MATTHIAS RUNGE, Marsilius von Padua. Politik und Tugend im politischen Denken des ausgehenden Hochmittelalters, Diss. Univ. Hannover 1996.
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Kay Waechter
Untersuchungsmethode scholastisch, indem der Staat z. B. in Kategorien von causa finalis und efficiens analysiert wird,2 seine Tendenz positivistisch. Eine Regel kann Satzung oder Gewohnheitsregel sein (DF I 10 § 2).3 Sie existiert in allen vollkommenen (d. h. autarken) Gemeinschaften, was offensichtlich ist und sich zusätzlich aus einem Induktionsschluss von bestehenden Gemeinschaften her ergibt. Der Gesetzesbegriff hat vier Bedeutungsrichtungen (DF I 10 § 3): 1. Das Gesetz als sinnliche Neigung (Trieb); dieses Verständnis hat Ähnlichkeiten mit dem Naturgesetz. 2. Das Gesetz als Maßtyp einer herstellbaren Sache. Hier wird entweder das Gesetz im Sinne von „lege artis“ als Kunstfertigkeitsregel angesprochen; oder es handelt sich um die Idee einer herstellbaren Sache, die als Maß jeder Herstellung dient. Marsilius setzt nicht selten die normativen Wissenschaften in antiker Tradition mit technischen Disziplinen gleich. Er kann also nach wie vor Analogien etwa zu Handwerken oder zur Medizin bilden. Ethik wird als techné verstanden. Das Verhältnis der Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Nutzen“ wird nicht klargestellt. Beide Termini tauchen häufig gemeinsam auf (insbesondere als Zweck der Gesetze), werden aber nicht ausdrücklich in Bezug zueinander gesetzt. Während die Nützlichkeit auf einen utilitaristischen Standpunkt wie etwa in der Sophistik deutet, weist Gerechtigkeit auf deontologisches Denken hin. 3. Religiöses (göttliches) Gesetz mit Sanktion im jenseitigen Leben, das Marsilius schon anfangs als bloße „Ermahnung“ bezeichnet (z. B. die zehn Gebote). Dabei werden ausdrücklich alle Religionen - auch die nicht-christlichen - gleichgestellt. Marsilius deutet dabei auch an, dass religiöse Gesetze nützliche Zwecke verfolgten, aber zwecks Gehorsamserzielung eine mythische Einkleidung hätten (Instrumentalisierung der Religion). 4. Die letzte Bedeutung bezieht den Gesetzesbegriff nur auf das staatliche Leben und innerhalb dessen auf die Fragen von Gerechtigkeit und Nützlichkeit. Innerhalb dieses engen Gesetzesbegriffes wird noch einmal geschieden zwischen dem kognitiven Erkennen des Gesetzes und der Geltungsanordnung (DF I 10 § 4). 4a) Wissen der Regeln der Gerechtigkeit und Nützlichkeit (moralische und nützliche soziale Regeln; Rechtslehre); 4b) Regeln der Gerechtigkeit und Nützlichkeit mit Geltungsanspruch und säkularer Sanktion (normative Regeln). Solche Regeln sind daran erkennbar, dass es weitere Regeln gibt, die die Beachtung der Sachregel durch Sanktion oder Anreiz4 zu Lebzeiten sichern (erzwingen). Dem setzt Marsilius es gleich, wenn eine Gesetzesvorschrift so formuliert ist, als ob sie erzwingbar sei. Diese Erweiterung bezieht sich wohl auf die Beschreibung der Technik der Normierung 2
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Insofern in Anspruch genommen wird, ein Phänomen aus causa efficiens, causa finalis und causa formalis vollständig erklären zu können: so schon Boethius. Zur Rechtsphilosophie des Marsilius GGeorges DE LAGARDE, La naissance de l´esprit laique au déclin du moyen age, Bd. III: Le defensor pacis, 1970, S. 155 ff. Der Anreizgedanke dürfte durch die Parallelität zum göttlichen Gesetz veranlasst sein. An sich würde ein Anreiz auch nicht im strengen Sinne zwingen. Aber wenn das jenseitige Glück auf dem Spiel steht, mag das anders sein.
Der Gesetzesbegriff bei Marsilius von Padua
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bei Marsilius; er unterscheidet nämlich Ge- und Verbote, die erzwingbar sind, von Erlaubnissen. Diese sind nicht sanktioniert, weil das fragliche Verhalten freigestellt ist. Dennoch sieht Marsilius die Notwendigkeit, Erlaubnisregelungen als Recht zu fassen. Sachlich erfasst die Sphäre der Erlaubnisse das, was seit der französischen Revolution als Freiheitsausübung aufgefasst wird. Deswegen kann eine Generalerlaubnis formuliert werden, nach der alles als erlaubt gilt, was nicht spezieller geregelt ist. Marsilius versteht solches Handeln nach eigenem Ermessen nicht als autonome Freiheit, sondern als vom Staat gewährte Erlaubnis. Alle gesetzlichen Regeln im Staat werden durch menschliche Autorität aufgestellt (DF I 10 § 6). Diese Begriffsdifferenzierungen bieten nicht nur das beabsichtigte Bild begrifflicher Genauigkeit und schaffen Angriffspotenziale gegen die papistische Theorie, sie spiegeln auch die Auflösung der Harmonie von Willen und Erkenntnis im marsilianischen Gesetzesbegriff wider. In Folge dieser Auflösung gibt es im positiven Recht falsche (unvollkommene) Gesetze. Das ist der Fall, wenn Geltung angeordnet wird für Inhalte, die keine wahre (im Sinne von Moralität und Nützlichkeit) soziale Regel (4a) darstellen. Als Beispiel dafür verweist Marsilius darauf, dass in manchen Gesellschaften ein Sühnegeld für Mord für ausreichend gehalten werde, statt den Täter einer öffentlicher Strafe zuzuführen (DF I 10 § 5). Solche falschen Gesetze haben Gesetzescharakter und lösen die Befolgungspflicht aus, wenn sie nur die richtige causa efficiens (d. h. den richtigen Gesetzgeber) haben;5 zwischen einer bloß äußerlichen Geltung und einer auch moralischen Verbindlichkeit wird nicht geschieden.6 Sie entbehren lediglich der Eigenschaft als vollkommene Gesetze. Diese, nicht mit Rechtsfolgen verknüpfte Eigenschaft setzt voraus, dass moralisch und kognitiv richtige Anordnungen in Geltung gesetzt werden. Das volitive Element der Geltungsanordnung ist also das entscheidende Kriterium für den Rechtscharakter. Nur die Vollkommenheit des Rechts hängt von wahren Einsichten (kognitives Element) in die Gerechtigkeit und Nützlichkeit ab. Ohne wahre Einsicht kann kein vollkommenes Gesetz vorliegen.7 Der Vollkommenheitsbegriff scheint im Sinne des vollkommenen, d. h. autarken Staates benutzt zu werden. Auf das Gesetz übertragen bedeutet das, dass das Gesetz als Substanz aufgefasst wird. Vollkommen ist es dann, wenn es unbedingt ist. Solche Unbedingtheit gewinnt es aber nur, wenn es zeitlos und d. h. nicht auf zeitbedingte Zwecke bezogen ist. In diesem Sinne ist das Privatrecht sehr viel stärker vollkommenes Gesetz als das Recht, das den Staat betrifft: Denn dies ist durch zeitbedingte Zwecke gesteuert (proportionale Gerechtigkeit).8 Umgekehrt
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Ein Gesetz, das nicht vom Volk stammt, ist nicht beachtlich:DF II 25 § 7. Wie bei Thomas v. Aquin, ST I-II,96,4. Die moralische Frage ist bei Marsilius ganz dem Bereich des göttlichen Rechts zugewiesen. Defensor Pacis I 10 § 5. Alan GEWIRTH, Marsilius of Padua. The defensor of peace, 1956, S. 134. Es bestätigt sich hier, dass Marsilius´ Gesetzesbegriff den wachsenden Verwaltungsbedürfnissen entgegenkommt.
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ist ohne den Akt der Geltungsanordnung die reine Einsicht in eine richtige Regel kein Gesetz. Auch hinsichtlich der Begriffe „Richter“ und „Urteil“ wird von Marsilius eine Ambivalenz im Begriffsverständnis festgestellt. Einerseits können die Begriffe kognitiv gemeint sein. Dann ist Urteil „Erkenntnis“ und Richter ist jeder Fachmann in seinem Gebiet für die dort fälligen Beurteilungen. Marsilius meint jedoch mit den Begriffen im Zusammenhang mit dem Staatsleben jeweils nicht nur das kognitive Element, sondern wesentlich auch das normative: Der Richter kennzeichnet sich durch Vollstreckungsmacht, das Urteil durch Vollstreckbarkeit (DF II 2 § 8). Auch das Gesetz hat eine causa finalis.9 Diese liegt darin, Gerechtigkeit und Gemeinwohl zu erreichen. Als Nebenzwecke ergeben sich Sicherheit für den Herrscher und Dauerhaftigkeit seiner Regierung (DF I 11 § 1). Das wäre nun der Punkt, an dem es weitergehen müsste, wenn die Vernunftgemäßheit des Gesetzes behandelt werden sollte. Aber Marsilius führt den Gedanken nicht fort und geht statt dessen darauf ein, wer das Gesetz erlassen soll. Wenn man die causa finalis mit der Vollkommenheit des Gesetzes (als Ideal eines zu erreichenden Gesetzes) gleichsetzt, dann wird schon daraus deutlich, dass diese für die Frage der Geltung keine Rolle spielt; denn Vollkommenheit war für Beachtlichkeit unerheblich. Es wird so aus dem Begriff des falschen, aber verbindlichen Gesetzes deutlich, dass im Konfliktfall bei Marsilius die causa finalis (richtiges Gesetz) hinter der causa efficiens (zwingendes vom Volk erlassenes Gesetz) zurücksteht.10 Das Gemeinwohlziel kann verfehlt werden; wenn das Gesetz nur vom Volk erlassen ist und durchgesetzt oder befolgt wird, dann ist es gleichwohl Gesetz. Darin ist deutlich eine Abwendung des Marsilius auch von Aristoteles erkennbar. Marsilius ersetzt den materiellen Richtigkeitsmaßstab des Rechts in Gestalt höherrangiger Regeln durch eine prozedurale Richtigkeitsvermutung.11 Was sind nun die Konsequenzen dieses Gesetzesbegriffes für den Rechtsbegriff? Das Gesamtkorpus des Rechts12 besteht für Marsilius aus menschlichem und göttlichem „Gesetz“ (DF II 12 § 3). Weicht das göttliche vom menschlichen Gesetz ab, dann soll das göttliche vorrangig sein (DF II 12 § 9). Was dieser Vorrang bedeutet, ergibt sich allerdings erst bei Kenntnis der genauen Art des Gesetzescharakters des göttlichen Rechts. Ein Auseinanderfallen von göttlichem und menschlichem Gesetz führt jedenfalls nach Marsilius nicht zur Nichtigkeit des menschlichen Gesetzes (DF II 10 § 7; II 12 § 9). Hier gibt es allerdings einige unklare Formulierungen (vgl. etwa in DF II 9 § 9). Dasjenige Recht, das bei Marsilius die prominenteste und positiv besetzte Hauptrolle spielt, ist das vom Volk als Gesetzgeber „willkürlich“ gesatzte und durchgesetzte bzw. beachtete positive Gesetz. Es zeichnet sich durch die 9 10 11
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Die Berechtigung dieser Kategorie im Hinblick auf den Gesetzesbegriff wird nicht diskutiert. GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 162. Vgl. GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 144. Zu dieser Tendenz zur verfarhensrechtlichen Sicherung (Weistumsfindung durch „consensus meliorum et maiorum terrae“) auch GRAWERT 1977 (Fn. 1), S. 218 (222). Zum subjektiven Recht DF II 12 § 10.
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Merkmale aus, die für den engen Gesetzesbegriff genannt worden sind, also vor allem durch Erzwingbarkeit. Neben diesem menschlichen positiven Recht gibt es menschliches Naturrecht, das bei allen Menschen und Völkern gleich ist,13 wiewohl es auch gesatzt ist (ius gentium; z. B. neminem laedere, Notwehr, Unterhaltspflicht der Eltern) (DF II 12 § 7).14 Marsilius vergleicht mit Aristoteles dieses Recht mit dem absichtslosen Walten der Naturkräfte; insofern könne man von Naturrecht sprechen. Er lässt aber weg, dass sein Vorbild gesagt hatte, dass dieses Recht unabhängig von der Zustimmung der Menschen gälte.15 Die Satzungsbehauptung ist also das Neue bei Marsilius. Nur mit ihr verbunden unterfällt dieses Recht dem engen Gesetzesbegriff. Fehlt die Satzung, dann kann dieses Völker-Naturrecht zwar richtige Regeln bezeichnen, hat aber in dem betreffenden Staat keine Geltung. Damit geht der Vergleich dieses Rechtskreises mit Naturphänomenen in die Irre; denn diese sind gerade von Satzung unabhängig. Vielleicht geht Marsilius davon aus, dass die Vorschriften dieser Art ausnahmslos in jedem Staat gesatzt sind, so dass sich die Natur auf dem Umweg über die Satzung verwirklicht; dann wäre ein Widerspruch zu vermeiden. Daneben könne man ein Recht erkennen, das sich aus Schlüssen der Vernunft ergebe. Teilweise werde dieses Vernunftnaturrecht dem göttlichen Recht unterstellt (DF II 12 § 8). Hier gehen die meisten Interpreten16 davon aus, dass auch Marsilius eine solche Zuweisung vornehme. Diese habe den Sinn, das Vernunftnaturrecht nicht Gesetzescharakter im engen Sinne gewinnen zu lassen, weil es als göttliches Recht nicht irdisch sanktioniert wird. Marsilius führt an, dass die Inhalte von Vernunftnaturrecht und göttlichem Recht nicht auseinanderfallen können. Offenbar sind Vernunft und göttliche Ordnung auch bei Marsilius noch konsonant. Eine solche Konsonanz würde - Gesetzesgeltung unterstellt - tatsächlich die Gefahr in sich tragen, dass das religiöse Gesetz das staatliche außer Kraft setzen kann. Deswegen ist es folgerichtig, wenn Marsilius dem Vernunftnaturrecht den Gesetzescharakter im engen Sinne bestreitet. Die andere Lösung läge in der Aufgabe der Einheit von göttlicher und philosophischer Wahrheit; wozu eine solche These führt, war im Fakultätenstreit demonstriert worden. Marsilius sagt, beim Vernunftnaturrecht liege im Vergleich zum VölkerNaturrecht ein anderer Naturbegriff vor, der nicht wie beim ius gentium auf Konsens (gegen Aristoteles!) beruhe, sondern auf dem Gedanken der recta ratio. Vorschriften, die sich in den heiligen Schriften des Christentums (nur NT, aus dem AT nicht einmal die zehn Gebote)17 finden, sind teils lediglich religiöse Regeln im Sinne des 3. Gesetzesbegriffes, sie können auch echte Gesetze im 13
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GEWIRTH 1956 (FN. 7), S 148 f beschreibt hier die Differenz zu Aristoteles dadurch, dass die Stoa die Vernunft universalisiert hatte, so dass das Naturrecht zum ius gentium werden kann. GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 149. Die Formulierung über die Gesatztheit ist bei Marsilius unklar. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b. Vgl. z. B. Frederic A. COPLESTON: A History of Philosophy, hrsg. v. den FATHERS S. J. DES HEYTHROP COLLEGE, 1972, Bd. III, S. 175; GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 135. GEWIRTH 1956 (FN.7), S. 153.
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Sinne des engen Gesetzesbegriffes (4b) sein DF I 10 § 7, Hinweis auf II 8-9). Das göttliche Gesetz enthält u. a. wie das menschliche Gesetz Anweisungen, die auch im irdischen Leben von Bedeutung und zu beachten sind. Diese Regeln betreffen nicht nur die Sündhaftigkeit in Gedanken (forum internum), sondern auch das Handeln und zwar auch in Bezug auf dritte Personen (DF II 8 §§ 3-5). Wer gegen menschliches Recht verstößt, verstößt dabei fast immer auch gegen göttliches Recht (aber nicht vice versa) (DF II 9 §§ 11). Das menschliche Recht ist also großenteils nur eine Teilmenge des göttlichen Rechts. Das göttliche Gesetz beruht ausschließlich auf dem Willen Gottes, nicht auf einer ewigen Vernunft.18 In Bezug auf das irdische Leben ist das göttliche Gesetz mehr Lehre (doctrina) als Gesetz; in Bezug auf das jenseitige Leben ist das religiöse Gesetz echtes Gesetz mit Sanktionsbewehrung (DF II 9 § 3). Wenn das göttliche Gesetz Vorrang vor dem irdischen hat, stellt sich natürlich die Frage, warum dieser Vorrang nicht auch politisch zur Wirkung kommt. Das liegt innerhalb des Gesetzesbegriffes von Marsilius an den Besonderheiten der Sanktionierung des göttlichen Rechts. Christus ist der einzige Richter in Bezug auf die göttlichen Gesetze (DF II 9 § 1). Die Priester sind nur Lehrer des göttlichen Gesetzes (der doctrina), nicht Richter i. e. S. Sie dürfen nicht zu regelkonformem Handeln nötigen, weil unfreiwilliges Handeln für die religiöse Bestrafung beim jüngsten Gericht ohne Belang ist. Daher wäre eine solche Nötigung sinnlos DF II 9 § 2).19 Die Bibel kenne im NT anders als im AT denn auch keine detaillierten materiellen und Verfahrensvorschriften o. ä. über Priester als Richter (DF II 9 § 9). Solche sind aber für menschliche Handlungen aufgrund der Schwäche des Gerechtigkeitsgefühles notwendig DF II 9 § 12). Sanktionen wegen Zuwiderhandlungen gegen die göttlichen Gesetze werden nicht zu Lebzeiten der Menschen auf der Erde vollstreckt, weil jeder die Möglichkeit haben soll, bis zu seinem Tod zu bereuen und sich noch Verdienste zu erwerben,20 und weil eben erzwungene Rechtschaffenheit für die moralische Beurteilung des irdischen Lebenswandels irrelevant ist. Marsilius sieht also die religiöse Sanktionierung ausschließlich moralisch. Deswegen kommt es nicht auf die äußeren Handlungen an, sondern in erster Linie auf die freie moralische Gesinnung. Es hat für die Kirche im Hinblick auf ihren religiösen Zweck keinen Nutzen, das Denken und Handeln auf der Erde durch Zwangsmittel zu beeinflussen. Die Tendenz, die Bereiche des Handelns im Staat einerseits und der Moral andererseits zu trennen, ist bei Marsilius unübersehbar.21 Es geht aber wohl zu weit, ihn als Vorläufer Macciavellis zu sehen.22 In gewisser Weise ist er sogar 18
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GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 153. Angesichts dessen, dass Marsilius Identität zwischen Vernunftrecht und göttlichem Recht annimmt, eine verkürzte Darstellung GEWIRTHS. Bei GEWIRTH 1956 (Fn. 7): Moralitätsargument (S. 155 f). Bei GEWIRTH 1956 (Fn. 7): Gnadenargument (S. 157 f). So auch COPLESTON 1972 (Fn. 16), S. 175. Die Entkoppelung der Sphären von Moral und Politik (wenn man dies bei Machiavel so sieht) könnte eine gewisse Entsprechung im Averroismus von Marsilius haben, insofern bei diesem Vernunft und Glaube weitgehend entkoppelt werden (vgl. COPLESTON (Fn. 16), S.
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dessen Antipode: Während Macciavelli die Machterhaltung des Fürsten durch beliebige Mittel zu gewährleisten sucht, setzt Marsilius für den gleichen Zweck fast ganz auf das Mittel von Konsens und Zustimmung. Der Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz liegt also nicht in der Erzwingbarkeit der Gesetzesbeachtung überhaupt, sondern in den genauen Umständen dieser Erzwingbarkeit. Marsilius leitet aus der Jenseitigkeit der Urteile des jüngsten Gerichts ab, dass dem betroffenen Gesetz irdisch keine erzwingbare Geltung zukomme. Marsilius geht nicht den Weg, das göttliche Gesetz für das irdische Leben als inhaltlich irrelevant zu erklären. Dieser Weg scheint verschlossen, weil auch das göttliche Gesetz Nicht-Schädigungspflichten enthält. Um die Differenz der Gesetzesarten allein über das Argument der verschiedenen Sanktionierung zu verdeutlichen, müsste man begründen können, warum der zeitliche Aufschub der Sanktionierung eine qualitative Änderung bewirkt. Diese Begründung soll bei Marsilius wohl darin liegen, dass die religiöse Gemeinschaft einer anderen Kategorie angehört als die weltliche.23 Daher ist eine Sanktionierung in Bezug auf das jenseitige Leben der für das zeitliche nicht gleichzuachten. Die bei Marsilius etwas unklare Zuordnung mancher Arten des Rechts zu Gesetzesbegriffen wird deutlicher, wenn man darauf achtet, dass es eine Parallelität von Gesetzesbegriffen und Rechtskreisen gibt. Das positive weltliche Recht entspricht dem engen Gesetzesbegriff (4b). Das Völkernaturrecht, das gleichsam „absichtslos“ wirkt, passt zu dem naturgesetzlichen Gesetzesbegriff (1); es setzt sich von selbst durch und findet sich daher überall. Das Vernunftnaturrecht ist erkennbar als gerechte, richtige soziale Regel ohne weltliche Geltung (4a). Das göttliche Recht entspricht dem religiösen Gesetzesbegriff (3). Außerhalb der Parallelität scheint die Kunstregel zu liegen. Ihre genaue Zuordnung hängt vom Verständnis dieses Gesetzesbegriffes ab. In der neueren rezipierenden Literatur ist die Äußerung Marsilius´ über den Vorrang des göttlichen Rechts teils nicht ernst genommen worden,24 teils wird sein Positivismus heruntergespielt. Vermittelnde Positionen gestehen Widersprüche zu und sehen ihn als Autor einer Übergangszeit.25 Aus diesen wenigen Hinweisen ergibt sich eine Ordnung von göttlichem Gesetz und Vernunftnaturrecht einerseits, denen beiden die irdische Erzwingungsinstanz fehlt. Auf der anderen Seite stehen das gemeinsame Recht
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179). Marsilius ist nicht mehr so moralgebunden wie Th. v. Aquin, hat aber die politischen Mittel noch nicht so gegen Moral isoliert wie Macchiavel (so GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 35). Eine solche kategoriale Trennung hätte wohl keine Stütze in der augustineischen ZweiWelten-Lehre. Das ergibt sich geschichtlich aus der Rezeption, die bei ihren Vorwürfen gegen Marsilius von dem Vorrang des positiven Rechts des Staates ausging. Neuerdings etwa COPLESTON 1972 (Fn. 16), S. 295: Die Vorrangthese sei eine konventionelle Behauptung, deren Inhalt darauf hinaus laufe, dass man ggf. für seine moralische Privatüberzeugung staatliche Sanktionen in Kauf nehmen müsse. So COPLESTON 1972 (Fn. 16) und Georges de LAGARDE, La naissance de l’esprit laique au déclin du moyen age, III: Le defensor pacis, Paris 1970.
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der Menschen und das positive Recht, die beide gesatzt sind und deren Beachtung gesichert ist. Eine klare Ausarbeitung eines Stufenbaues wie bei Thomas v. Aquin fehlt, weil es keinen Stufenbau in diesem Sinne gibt. Weder existiert ein Vorrang zwischen mehreren Gesetzesarten, die gleichermaßen in aktueller Geltung stehen, noch gibt es ein Deduktionsverhältnis zwischen den Arten des Rechts. Die Sphären des göttlichen und des menschlichen Rechts werden mithin entkoppelt.26 Alle Gesetze enthalten Verhaltensge- und Verbote mit Sanktionsdrohungen sowie eine Generalerlaubnis, Nicht-Sanktioniertes tun zu dürfen. Diese bei Aquin noch auf das Gute, das Böse und das moralisch Neutrale bezogenen Unterscheidungen werden bei Marsilius zu bloßer Rechtstechnik,27 da das Moralische im menschlichen Gesetz keine ausschlaggebende Rolle mehr spielt.
2. DIE VOLKSMEHRHEIT ALS UNFEHLBARER GESETZGEBER Wenn das Gesetz überwiegend nicht mehr gefunden, sondern gemacht wird, ist um so wichtiger, wer dies tun darf. Um es kurz zu halten: Marsilius kommt zu der Auffassung, primärer Gesetzgeber sei das Volk, weil es die besten Gesetze mache: Das Eigeninteresse des Volkes falle mit dem Gemeinwohl zusammen, niemand wolle sich selbst schädigen, das Gesetz beruhe auf der breitestmöglichen Wissensbasis28. Die in der Volksgesetzgebung überstimmte Minderheit spielt bei Marsilius ausdrücklich keine Rolle. Ihr gegenüber wird Gerechtigkeit nicht prozedural gesichert; gleichwohl kann ihr kein Unrecht geschehen. Dies wäre nur der Fall, wenn die Mehrheit irren könnte und in Vollzug dieses Irrtums beispielsweise die Minderheit oder die nicht mit abstimmenden Bevölkerungsteile vernichtet. Das kann nicht geschehen, weil nach Marsilius die Mehrheit nicht irren kann. Würde man unterstellen, dass die Mehrheit irren kann, so hätte die Natur einen Fehler gemacht, was nicht sein könne.29 Denn seiner biologischen Natur nach ist der Durchschnittsmensch auf Staatenbildung hin angelegt; er kann also gar nicht anders als den guten Gesetzen seine Stimme geben. Eine mehrheitliche Korruption ist für Marsilius nicht vorstellbar, weil sie den Naturgesetzen zuwider läuft30. Ungenauigkeit der Formulierung führt dazu, dass nicht klar wird, ob Marsilius hier mit der causa finalis arbeitet oder mit dem Trieb als causa efficiens. Wäre das letzte der Fall, so wäre zu klären, ob es tatsächlich einen auf Staatenbildung gerichteten Trieb gibt. Da das ersichtlich nicht der Fall ist, kann es sich wohl nur um ein triebgestütztes Motiv handeln; dann aber fehlt es an der notwendigen Determiniertheit. Außerdem wäre darzutun, aus welchem Grunde Langfristinteressen sich gegenüber Kurzfristinteressen durchsetzen können. 26 27 28 29 30
Vgl. GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 133, 151. GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 135/6. GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 144. Für eine Stadtrepublik ist das kein außergewöhnlicher Ansatz. Zu diesem Argument GEWIRTH 1956 (Fn. 7), S. 209 ff. Insofern geht Marsilius einen deutlich anderen Weg als später Rousseau.
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Schließlich ist, wenn hier ein biologischer Trieb gemeint ist, unklar, warum Marsilius die Befugnis zur Entscheidung auf die valentior pars als Mehrheit beschränkt: Gegenüber Deformationen der Natur kommt es nicht auf Status an, sondern schlicht auf Zahl. Die rein quantitative Mehrheit würde also ausreichen. Marsilius anerkennt also entgegen seinen expliziten Behauptungen implizit doch ein materielles Naturrecht, das den Menschen von der Natur bzw. Gott eingeschrieben ist (ens et bonum konvergieren, insoweit also eine klassisch mittelalterliche Position; wie das zur der Möglichkeit „falscher Gesetze“ steht, ist nicht dargetan). Allerdings gilt das nur für die (jeweilige) Mehrheit der Menschen und für Frauen gilt es offenbar gar nich.t31 Der Bruch in der Theorie ist an dieser Stelle offensichtlich. An dem für die moderne Theorie entscheidenden Prüfstein des Minderheitenschutzes sucht Marsilius eine Lösung durch Rückgriff auf von ihm sonst abgelehnte Positionen. (Die traditionelle christliche Sperre im Sinne des Minderheitenschutzes war die Abhängigkeit des positiven Rechts vom Naturrecht, das bei Konflikt vorging; diese Sicherung hatte Marsilius aber zerstört. Immerhin macht sich das Grundgesetz der BRD in Art. 79 III der gleichen Inkonsequenz schuldig).
3. FAZIT Marsilius vertritt oberflächlich betrachtet eine teleologische Position. Er erklärt scholastisch aus den vier causae. Wo causa finalis und causa efficiens in Konflikt geraten, siegt die causa efficiens und das heißt in moderner Terminologie: die genetische Methode. Marsilius ist im Defensor pacis mehr ein politischer und juristischer Schriftsteller als ein Philosoph. Diese Wertung rechtfertigt sich z. B. daraus, dass die Auseinandersetzung mit älteren Positionen, etwa betreffend die Zusammenhänge von Recht einerseits, Handlungs- und Erkenntnistheorie andererseits, der Komplexität dieser Positionen nicht entspricht. Marsilius’ Äußerungen zeichnen sich durch eine - besonders gegenüber Th. v. Aquin - ungewöhnlich starke Betonung des Zwangsmomentes von Recht aus. Die Aufwertung des Zwangsmomentes erlaubt es ihm, die Ordnungen von weltlichem und göttlichen Recht zu trennen, das göttliche Recht dem Jenseits zuzuweisen und die Kirche auf „Lehre“ zu beschränken. Die bei Marsilius verbleibenden Unklarheiten in Bezug auf die Anteile an volitiven und kognitiven Elementen im Gesetzesbegriff beruhen begrifflich auf dem - trotz aller Präzisierungen - unklaren Gebrauch der Begriffe von Gesetz und Urteil. Sie liegen vor allem darin, dass nicht klar gesagt wird, was bezüglich dieser jeweils „Vollkommenheit“ bedeutet, welche Notwendigkeit ggf. eine solche Vollkommenheit erfordert und welche Folgen ein Fehlen der Vollkommenheit haben soll.
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Diese scheinen insoweit nicht Teil der Natur zu sein, als ihnen weder die Zweckursache des Staates eingeschrieben ist noch sie ein Beurteilungswissen haben (das nicht von Ausbildung abhängt).
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Sachlich sind die Unklarheiten darin begründet, dass Marsilius sich verständlicherweise nicht zu einer vollständigen Verabschiedung von der Forderung nach inhaltlicher Richtigkeit der Gesetze verstehen kann. Er sieht anscheinend, dass er sonst in einem willkürlichen Positivismus endet, der ebensowenig friedensförderlich ist wie naturrechtlich begründete Rangbehauptungen zwischen Kaiser und Papst. Implizit setzt Marsilius allerdings voraus, was er ausdrücklich ablehnt: Die Begrenzung der Positivität wird primär prozedural (über Bestimmung und Qualitäten des Gesetzgebers) angelegt; innerhalb der Prozedur erfolgt dann ein Rückgriff auf die Einheit von Natur und Vernunft, die die Richtigkeit der Mehrheitsmeinung garantieren muss. Materielle Richtigkeitsmaßstäbe treten bei Marsilius daher teilweise zugunsten einer Richtigkeitsvermutung aufgrund Verfahrens zurück. Die Verabschiedung materieller Richtigkeitsmaßstäbe geht aber weniger weit als etwa später bei Hobbes. Der Verzicht auf gegenüber dem positiven Gesetz höherrangige Rechtskreise führt zu einer im Vergleich etwa zu Thomas starken Abwertung von Naturrecht und göttlichem Recht.
BIBLIOGRAPHIE Quellen: Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens – Defensor Pacis, 2 Bände, lateinisch-deutsch. Auf Grund der Übers. v. Walter KUNZMANN bearb. u. eingel. v. Horst KUSCH, Leipziger Übersetungen und Abhandlungen zum Mittelalter, Reihe A, Berlin 1958 (Zit.: DF, nach Teil [I, II], Kapitel [1, 2, etc.] und §). Literatur: Arnas, Pedro Roche, La ley en el Defensor Minor de Marsilio de Padua, in: Revista Espanola de Filosofia Mediaval, Número 2 (1995), S. 91-100. Castello-Dubra, Julio A., Finalismo y formalismo en el concepto marsiliano de ley, in: Patristica et Mediaevalia, Heft 18 (1997), S. 81-96. Copleston, Frederick, A History of Philosophy, Band III, hrsg. von den Fathers S.J. des Heythrop College, Westminster Maryland 1972. Gewirth, Alan, Marsilius of Padua, The defensor of peace, New York 1956. Grawert, Rolf, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesbegriffes, in: Studien zum Beginn der modernen Welt, hrsg. v. R. Koselleck, Stuttgart 1977, S. 218-240. Lagarde, Georges de, La naissance de l’esprit laique au déclin du moyen age, Bd. III: Le defensor pacis, Louvain 1970. Lambertini, Roberto, Ockham ans Marsilius on a ecclesiological fallacy, in: Franciscan Studies, Heft 46 (1986), S. 301-315. Löffelberger, Michael, Marsilius von Padua. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im „Defensor pacis“, Berlin 1992. Runge, Matthias, Marsilius von Padua. Politik und Tugend im politischen Denken des ausgehenden Mittelalters, Diss. Univ. Hannover 1996. Quillet, Jeannine, La philosophie politique de Marsile de Padoue, Paris 1970.
III. FRANCISCO SUAREZ (1548 – 1617)
Norbert Brieskorn, München
FRANCISCO SUÁREZ UND SEIN GESETZESBEGRIFF IM KONTEXT ABSTRACT: Suarez supposes the existence of laws, to which human legislation has to obey and which can be recognized by mankind. Because these laws do not depend on force, coercion is not a part of the term of law in Suarez’ theory. Law is a just, stable and promulgated rule in respect to a human communitiy. The natural law is different from this law, because natural law does not bind human freedom, but exists in natural necessity. The law of nature is not divine law, because it can be known by reason and not only by revelation. Suarez gives a detailed concept of how human legislation works.
1. SPANIEN IM 16. JAHRHUNDERT 1.1. GEOPOLITIK UND WIRTSCHAFT Mit der Eroberung von Byzanz 1453 trat die fast völlige Schließung des östlichen Mittelmeerraumes und die Verlagerung des wirtschaftlich-politischen Schwergewichts nach West- und Südwesteuropa ein. Portugal sah seine Chance und betrieb energisch an den Küsten Afrikas entlang die Erkundung des Seewegs nach Indien. Ab 1492 entdeckte dank spanischen Wagemuts Europa die Regionen Amerikas. Durch die Verlagerung des Handels verloren Venedig, Genua und Lübeck an Gewicht und mussten Cadiz, Sevilla, Lissabon und Rotterdam den Vorrang abtreten. Diese Faktoren werteten enorm die beiden Randstaaten Europas, Portugal wie Spanien, auf und ließen beide reich und mächtig werden. Spanien stieg zur militärisch und politischen ersten Macht Europas im 16. Jahrhundert empor und hielt diese Stellung bis ins beginnende 17. Jahrhundert. Spanien war auch der Sieg von Lepanto am 7. Oktober 1571 zu verdanken, ab welchem die osmanische Militärmacht auf den östlichen Mittelmeerraum beschränkt blieb. Spanien setzte sich aus unterschiedlichen Rechtsbereichen zusammen, so waren in Kastilien und Aragón die Rechte und Pflichten des Königs verschieden geregelt. Die von Spanien beherrschte Neue Welt gehörte zu Kastilien und nicht zu den anderen Teilen; wohingegen Sardinien, Sizilien und das Königreich Neapel Aragón unterstanden. Zu diesem Spanischen Weltreich waren noch zu rechnen: Mailand, Teile des ehemaligen Burgund, vor allem die Freigrafschaft (“Franche Comté”) und die Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert. Nach dem Aussterben des portugiesischen Herrscherhauses 1580 fiel zudem Portugal an Spanien. Beide Länder waren in Personalunion vereinigt. Es sollte 1649 werden, bis Portugal sei-
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ne Unabhängigkeit auch formell wieder erlangte. Zwanzigmal größer als das Gebiet des untergegangenen Römerreiches,1 war ein Reich, von dem Philipp II. mit noch viel mehr Recht als Karl V. von seinem Reiche sagen konte, dass in ihm die Sonne nie untergehe. Europa verdichtete sich zur Marktgesellschaft mit frühkapitalistischen Zügen, unter führender Rolle des Staates. Monopole der Kaufleute wechselten nicht selten in Staates Hand über. Die Städte wuchsen. Müheloser ließ sich an das antike Polisdenken anknüpfen.
1.2. RELIGIÖSE SPALTUNGEN Die in der Römisch-Katholischen Kirche aufgeschobene und wenn überhaupt, dann halbherzig unternommene Reformation provozierte geradezu die Reformationen Luthers und Calvins. Bislang gemeinsame ideelle Grundlagen zerbrachen und Gesellschaften, Regionen und Staaten gerieten in die Gefahr, sich zu spalten. Uneins im Religiösen, bedurfte das Gemeinschaftsleben neuer Grundlagen und doch wollten die Zentralisierung und die damit einhergehende Rationalisierung von Herrschaft meist nicht auf die religiöse Einheit des Staatswesens verzichten. Es entstanden die konfessionell geprägten Staaten, was die Gegensätze zwischen ihnen vertiefte, aber auch neue Bündnisse möglich machte. Bestimmte religiöse Lehren - Schöpfung, Erbsünde, Rechtfertigung und Gnade, Auserwählung etc. - zeigten sich als politisch verwertbar und trugen zur Spaltung bei. Das Tridentinische Konzil (1545 - 1563) und neu gegründete religiöse Gemeinschaften, Oratorien-Bewegung, Ursulinen, Theatiner, Kapuziner, Paulaner und Jesuiten, gerieten unvermeidlich immer auch ins politische Kräftespiel und hatten sich dort zu behaupten. Die königliche Politik Spaniens suchte sich von den häretischen Strömungen abzuschotten, zugleich aber auch Grundlagen für ein gebildetes Christentum zu schaffen. Sie ließ Zensur und Inquisition arbeiten, gründete Universitäten und förderte die alten und neuen Orden. Mit dem Sturz 1497 und der Verbrennung Girolama Savonarolas OP in Florenz 1498 sowie der blutigen Niederwerfung der Wiedertäufer in Münster in Westfalen im Jahre 1535 scheiterten Versuche, einen Gottesstaat mit Glaubensterror in Europa zu errichten. Danach blieben apokalyptisch-kommunistische Bestrebungen und erst recht Staatsgründungen chancenlos. Das Genf Calvins wie das Spanien Philipps II. hatten für die Staatsführung immer eine Reihe von Kontrollen und Gewaltbeschränkungen vorgesehen. Auch waren dort die Eigentumsrechte garantiert.
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Carl J. BURCKHARDT, Richelieu, Bd. 1. Aufstieg zur Macht, München 1961, S. 7.
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1.3. DER SICH VERSTÄRKENDE SCHUB ZUR ZENTRALISIERUNG Die seit Kaiser Friedrich II. in Sizilien († 1250), im 14. und 15. Jahrhundert in den oberitalienischen und dann auch in den flämischen Städten vorexerzierte Verbindung von straff organisiertem Stadtstaat, bezahlter Beamtenschaft und regelmäßig zufließendem Geld griffen die Flächenstaaten ab dem 15. Jh. auf. Die Staatswerdung Kastiliens unter Isabella und Ferdinand - ab 1474 etwa verlangte die Eroberung des Restes des muselmanischen Reiches von Granada, welche 1492 geschah. Die politische Vereinheitlichung bedingte die religiöse Vereinheitlichung, und so vertrieb die Krone unverzüglich 1492 vom spanischen Boden sowohl die Muslime wie auch die Juden, welche nicht konversionswillig waren. 1609 wies die Krone noch einmal weit über 50.000 Morisken aus und nahm noch einmal bewusst die Verarmung des Landes um der inneren Einheit willens in Kauf. Den Ausbau des Zentralstaats setzte König Philipp II. (1556 - 1598) fort. Der Auf- und Ausbau der Souveränität nach Innen drückte sich im Bauplan des Escorial aus, er geriet zum Ausdruck der WillensKRAFT und des EINEN Willens. Die Ungleichheit aller Untertanen gegenüber dem Herrscher führte zur klaren Sprachregelung. Dem meist “princeps” genannten Herrscher standen die “subditi” gegenüber, so in der Sprache des Suárez. Von “cives” ist seltenst die Rede. Dass unter mehreren Aspekten die Monarchie zu bevorzugen sei, daran bestand schon seit Thomas kein Zweifel. Die spanische Scholastik hatte eine staatliche Zentralgewalt, das Entstehen einer bezahlten Beamtenschaft, meist als “Räte” bezeichnet, und eine funktionierende, straffe Gerichtshierarchie vor Augen.
1.4. KÜNSTLERISCHE UND WISSENSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG IN SPANIEN El Greco (1541 - 1613), Miguel de Cervantes (1547 - 1616), zeitgleich mit William Shakespeare übrigens, Felix Lope da Vega (1562 - 1635), Diego Velázquez (1599 - 1660) und Pedro Calderón de la Barca (1600 - 1681) sind von der Seite der Künstler, Francisco de Vitoria OP (1492 - 1546), Domingo de Soto OP (1497- 1560), Luis de Molina SJ (1536 - 1600) und Francisco Suárez SJ (1548 1617) von Seiten der Wissenschaftler zu nennen. Es orientierte sich Frankreich vielfach bis ins 17. Jh. am spanischen Vorbild.2 Unter den europäischen Diskursen seien jener über den Umgang mit den Hexen und jener andere erwähnt, welcher Probleme betraf, die mit dem Betreten Amerikas entstanden waren: Waren dessen Ureinwohner Rechtsträger? Kamen ihnen Rechte zu, die allen Menschen zu gewährleisten sind? Welches sind die Rechte der “Entdecker”? Durfte man die auf der Iberischen Halbinsel ererbten und erstrittenen Strukturen schlicht auf die Neue Welt übertragen oder galt es, neue Prinzipien und neues Recht zu erfinden? Unsicherheit auch in bezug auf die 2
Jean-Frédéric SCHAUB, La France Espagnole. Les racines historiques de l’absolutisme français, Paris 2003.
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Missionierung: Steht der Freiheit, den Glauben anzunehmen, die Pflicht gegenüber, aus Aberglaube, Kannibalismus und Unterentwicklung, unter Umständen auch mit Gewalt, herauszuführen?
2. DER ALLGEMEINE PHILOSOPHISCHE KONTEXT 2.1. EINE BEOBACHTUNG ZU STATIK UND DYNAMIK Joachim Fleckenstein fragt, ob es in der Spätantike Ansätze gab, welche die Statik des antiken Denkens hätten überwinden können. “Die Spekulationen Augustinus’ über die Weltschöpfung Gottes mit und nicht in der Zeit und die Hinwendung des Cusaners [...] über die Scholastik zur Patristik zurück, sind bemerkenswerte Indizien.” Was er als Frage stellt, wird Fleckenstein zur Gewissheit: Die dynamischen Tendenzen der Patristik wurden von der Scholastik des Mittelalters abgedrängt. Erst nach ihrem Zusammenbruch wagten sie sich wieder an die Oberfläche und kamen nicht nur in den abstrakten Höhen der cusanischen Philosophie, sondern auch in den Bewegungserlebnissen der Reformatoren und Gegenreformatoren zum Durchbruch. “Das Zeitalter der Entdeckungen und der neuen politischen Ordnung hatte die traditionellen Begriffe des Denkens wieder in Fluss gebracht, wenn nicht überhaupt zerstört.”3
2.2. DREI STRÖMUNGEN Drei Strömungen beherrschten, wenn auch unterschiedlich stark zu verschiedenen Zeiten, das philosophische Feld: Der Nominalismus, eine Freiheits- und Systemtheorie, und die naturrechtliche Scholastik.
2.2.1. Der Nominalismus Der Nominalismus, nicht nur, aber der Kürze halber hier mit dem Namen Wilhelm von Ockham (um 1285 - 1349) verbunden, lenkte den Blick auf das Konkrete, das Einzelne und auf das mit den Sinnen Erfaßbare. Dem Allgemeinen, dem Wesen und der tragenden Substanz sprach er die Realgeltung ab. Statt wirklicher Allgemeinbegriffe, wie “der Mensch”, gab es demnach nur den Versuch, mehrere einzelne Dinge unter einem allgemeinen Wort (“nomen”) zusammenzufassen, dessen Bedeutung die sinnliche Vorstellung lieferte. Solche Worte beruhten auf Verabredung. Der Nominalismus stärkte damit das Denken, sittliche Normen, Recht und Gesetze auf Konventionen zurückzuführen. Er trennte auch scharf zwischen dem Wissen, welches mit den Sinnen und dem Verstand begründbar 3
Joachim O. FLECKENSTEIN, Scholastik - Barock - Exakte Wissenschaften, Einsiedeln 1949, S. 23 f.
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war, und den Glaubenswahrheiten, denen eine solche Absicherung versagt blieb. Erst als der Nominalismus die Gespensterwelt der ‘formae substantiales’ zum Verschwinden gebracht hatte, war gleichsam mit Gewalt die Bahn für das funktionelle Denken freigemacht. - “Allerdings drohte nach dem Sieg des Nominalismus ständig die Gefahr, dass die Naturmystik der Renaissance oder der materialistische Atomismus des Frühbarock das begriffliche Denken zersetzte.” 4 Der Nominalismus, den man in der extremen Form seines empiristischen, antimetaphysischen und skeptischen Ansatzes nicht mehr als christliche Philosophie bezeichnen konnte, verlor am Ende des 15. Jh. an Stärke. Hinzu kam ein Dekret des französischen Königs Louis XI. von 1474, welches den Nominalismus von der Universität von Paris verbannte und verbot, dass die Lehren des Wilhelm von Ockham, des Johann von Mirecourt, des Gregor von Rimini u.a. unterrichtet würden; er empfahl hingegen, die Lehren des Thomas, des Aegidius von Rom, des Alexander von Hales, des Skotus und des Bonaventura dem Unterricht zu Grunde zu legen.5 Doch gestattete das Parlament von Paris bereits 1481 wieder, den Nominalismus in aller Bandbreite zu lehren. Suárez bezog sich in De legibus ohne Scheu auf zahlreiche der genannten Autoren, auch auf Ockham.
2.2.2. Freiheit, Vernunft, System Eine zweite Strömung prägte diese Epoche, wobei sich, dies füge ich gleich ein, auch im Nominalismus wie in der Spätscholastik Kennzeichen dieser Richtung ausfindig machen lassen. Sie ist aus dem Freiheitsdenken des Spätmittelalters gewonnen worden. Die Vernunft begriff sich in einem ersten Schritt als Freiheit, erfuhr sich bis ins Extrem der Bindungslosigkeit und unterwarf sich in einem dritten Schritt gleichsam einem von ihr sich selbst gegebenen Gesetz. So unterstellten sich die Philosophie und die neuen Wissenschaften den methodischen Forderungen des mos geometricus.6 Fleckenstein spricht vom “universalen Begriffnetz” und vom “horizontal gewobenen Begriffsnetz”7 als Auffangnetz und Halt. Von hierher ergab sich die Forderung, beispielsweise das Gesetz und das Widerstandsrecht gegen das Gesetz, beide, als Elemente einer Rechtsordnung und innerhalb eines Systems der gebotenen, verbotenen und erlaubten Handlungen zu verstehen. Beide, das Gesetz wie der Widerstand gegen es, waren von ihrer Einpassbarkeit in das Gesamt der Elemente des Rechtssystems her zu bestimmen. Dieses “Systemdenken” beurteilte also die Wirklichkeit eines jeden einzelnen Elementes, in unserem Beispiel Rechtsfiguren, unter dem Gesichtspunkt der Verträglichkeit, Stimmigkeit und Kohärenz mit sämtlichen anderen Elementen. Dem 4 5
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FLECKENSTEIN 1949 (Fn. 3), S. 33f. Carlo GIACON, La seconda scolastica, Bd. 1. I grandi commentatori di San Tommaso, Milano 1944, S. 22. Hermann KRINGS, Woher kommt die Moderne? Zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Frei heitsidee bei Wilhelm von Ockham, in: Wilhelm von Ockham. Das Risiko modern zu denken, hrsg. von Otl Aicher, Gabriele Greindl, Wilhelm Vossenkuhl, München 1986, S. 18-25 (23B). FLECKENSTEIN 1949 (Fn. 3), S. 44 - 57 (III) (49f.).
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Nominalismus war dieses Denken nicht fremd! Er diskutierte Gottes zweierlei Macht, die potestas ordinata und die potestas absoluta. Ersterer, als “Macht unter Gesetzen” gedacht, hatte sich Gott frei unterstellt; die potestas absoluta Gottes galt hingegen als seine buchstäblich von allen Bindungen losgelöste und befreite Macht. Und doch! Mit dieser Macht durfte Gott alles tun, außer gegen das Nichtwiderspruchsprinzip verstoßen! Neben das Substanzdenken trat in dieser Denkrichtung das funktionelle Denken. Der Begriff der Kausalität veränderte sich und drückte Verhältnisse von Funktionen aus.8 Der Übergang vom substantiellen Denken zum kausalen, oder anders ausgesagt: vom prädikativen zum funktionellen Denken, vollzog sich nach einem langen Entwicklungsprozess im Restaurationszeitalter des Barock [...].9 Das Relationendenken erhielt damit den Primat vor dem Substanzdenken. Statt eines außersystemischen Punktes, von dem her sich Wahrheit und Gutheit des Systems bewerten ließen, gab es nur noch den Gesichtspunkt immanenter “Andockbarkeit”.10 Ein anderes Beispiel, nun von Seiten der Spätscholastik! Suárez lag viel an dem Gedanken, dass der Mensch in seiner Freiheit sich der Gnade Gottes entziehen, den Glauben ablehnen und den Eintritt in Institutionen wie die Ehe und den religiösen Orden verweigern kann. Dass der Mensch aber dann, “wenn er sich zum Mitspielen entschlossen hat, die Rolle, die er im großen Welttheater zu spielen hat, nicht mehr wählen (kann), so dass dann einerseits jede Rolle mit maximaler Hingabe zu spielen, andererseits ihr gegenüber aber auch völlige Indifferenz zu wahren ist, damit das Gesamtschauspiel ‘ad maiorem Dei gloriam’ vonstatten gehe”.11 Suárez wies des öfteren auf diese Figur hin: frei im Eintritt, unfrei durch eigenen Willen nach dem Eintritt und durch den Eintritt. Die Ehefrau war durch ihren freien Akt an die Institution gebunden und ihren Gesetzen unterworfen (DLD 1.14.13, S. 278f. u. a.).
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FLECKENSTEIN 1949 (Fn. 3), S. 28: “Das Denkmittel der Substantialität umfasst im Grunde nur eine einzige logische Beziehung: einem Subjekte kommen Prädikate als nähere Bestimmungen zu, wie es ja schon die einfache Logik der Umgangssprache ausdrückt. So entspricht dem Denkmittel der Substantialität die prädikative Logik. Die Wirklichkeit wird mittelst einer Satzaussage gebildet: mit dem Subjekt als Abbild der Substanz und mit dem Prädikat als Abbild der ihr zukommenden Eigenschaften. Demnach versucht der scholastische Naturphilosoph mit einem Zusammensetzspiel von Eigenschaften die Naturphänomene zu erklären. Die Naturwissenschaft der aristotelischen Scholastik kann aber damit nur eine bloß klassifikatorisch-deskriptive bleiben.” FLECKENSTEIN 1949 (Fn. 3), S. 30-32. KRINGS 1986 (Fn. 6), S. 24f., der auf Kant und die Forderung der Verallgemeinerbarkeit, auf Hegels geordnete Selbstdarstellung in Geschichte und ihren Einordnungs- oder Ausgliederungszwang und Gadamers “Methode” verweist, welche auch zuordnete und aussonderte. FLECKENSTEIN 1949 (Fn. 3), S. 26.
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2.2.3. Barockscholastik Sie bildete sich unter Rückgriff auf Thomas von Aquin heraus, trug auch den Namen Spanische Scholastik oder Spätscholastik. In allen drei Begriffen sind jeweils verschiedene Akzente gesetzt. Mit “Barock” betonte man den neuen Realismus und die Wende zum Diesseits mit seiner relativen Autonomie; durch “Spanisch” hob man den Quellort dieser Scholastik hervor, und durch den Zusatz “Spät” maß man unsere Strömung an der Hochscholastik. Als Vorläufer sind zu nennen: Antoninus von Florenz und Girolamo Savonarola sowie nach der “Wiederentdeckung” des Werkes von Thomas von Aquin in Köln und in Paris Petrus Crockaert,12 außer den unter 1.4 bereits Genannten noch Dominico Bañez, Bartolomaeus de Medina, Robert Bellarmin, Francisco Toledo, Juan de Mariana, Leonardus Lessius, Gabriel Vazquez und Gregor de Valencia. Die in den spätscholastischen Schriften geführten Auseinandersetzungen beziehen sich auf sämtliche der Auseinandersetzung werten philosophischen Richtungen des Hoch- und Spätmittelalters: den Lateinischen Averroismus, den Neuplatonismus, den Neuaristotelismus, den Skotismus und den Nominalismus,13 um nur die wichtigsten zu nennen. Der Averroismus hatte, um zu begründen, wie das vernünftige Gespräch unter Menschen möglich sei, erklärt, es gebe eine und nur eine Vernunft, welche im einzelnen Menschen denke. Damit aber wurden die individuelle Einzelseele und die individuelle Auferstehung des Individuums geleugnet. Der Averroismus dachte auch den Menschen abhängig von den Sternen und schmälerte damit seine Fähigkeit, für sich und vor anderen verantwortlich zu sein. Am Neuplatonismus, auf den sich ebenso wie auf das aristotelische Denken das Naturrechtsdenken der Spätscholastik stützte, war kritisch zu prüfen, ob die jeweilige Spielart ein nicht mehr Denkbares, nämlich Gott, zuließ, und ob sie in das zum System neigende Denken das einmalig historische Ereignis einließ. Der Skotismus als augustinische Auslegung des Aristotelismus hat auf die Frage, wie das unverwechselbar Einzelne zu denken sei, geantwortet, dass die Allgemeinnatur mit der Individualform unabtrennbar zu einem bestimmten Individuum verbunden ist. Zwischen Allgemein- und Individualnatur gab es für den Skotismus nur einen formalen und keinen materialen Unterschied. Problematisch war am Skotismus, dass ihm der Seinsbegriff als univok galt, er die Einheit des Individuums für stärker als die der Art, der Menschengattung, ansah und dass das Wissen dem Glauben, der Verstand dem Wollen nachgeordnet wurde. Die Naturrechtler oder auch Neuaristoteliker folgten einem gemäßigten kritischen Realismus in der Erkenntnislehre und setzten sich damit ab vom übersteigerten Realismus des Skotismus und dem Nominalismus des Ockhamismus.14 Unter Realismus ist dabei zu verstehen, dass wirkliches Seiendes, der Mensch, 12
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GIACON 1944 (Fn. 5), S. 25; Ulrich HORST, in: Francisco de Vitoria, Vorlesungen I, hrsg. von Ulrich HORST, Heinz-Gerhard JUSTENHOVEN, Joachim STÜBEN, Stuttgart 1995, S. 22f.. GIACON 1944 (Fn. 5), S. 13. GIACON, La Seconda Scolastica, Bd. 2. Precedenze Teoretiche ai Problemi Etico-Giuridici. Toledo, Pereira, Fonseca, Molina, Suarez, Milano 1946, S. 17.
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unabhängig von unserem Bewusstsein an sich existiert und dass das Ziel unseres Erkennens diesem Seienden gegenüber ist, sich ihm anzugleichen und es zu erfassen, wie es an sich ist. Dieses Ziel galt, wenigstens in bestimmten Grenzen, als erreichbar. Die Frage beschäftigte, wie denn der Weg von der sinnlichen Wahrnehmung eines immer individuellen Gegenstandes hin zur Wesenserkenntnis vor sich geht. Muss nicht das, was man “ein-sieht”, in der Materie verankert oder vorhanden sein? So dass diese Art der Vorgehensweise nicht auf eingeborene Ideen - wäre es so, läge ein Wiedererkennen in allem Erkennen vor - oder auf eine Illumination, die von außen den Menschen erreicht, zurückgreifen muss. Die Spätscholastik bekante sich zum Menschen, der sein Erkennen selbst macht und aus eigener Kraft zur Wesenserkenntnis vordringt. Es gab unter den Spätscholastikern solche, welche vorzugsweise von “Oben” nach “Unten”, und solche, welche von “Unten” nach “oben” dachten, jene, die beim Allgemeinen, und jene, die beim Einzelnen ansetzten. Offen und behutsam ging allemal diese Philosophie vor. Sie bediente sich des Subjekt-PrädikatDenkens, welches einer Philosophie der Substantialität entsprach, differenzierte es aber soweit, “dass es direkt an die Begriffsbildungen der Pariser Nominalisten Schule anknüpfen konnte, ohne dabei je sich ganz vom Realismus lösen zu müssen”15. Gerade die jesuitische Schule blieb der aristotelischen Philosophie, besonders ihrer Ontologie, treu; die Frage ist, ob und inwieweit man sich innerhalb dieses Rahmens dem funktionellen Denken öffnete.
3. FRANCISCO SUÁREZ UND SEIN PHILOSOPHISCHER ANSATZ16 3.1. LEBEN UND WERKE Am 5. Januar 1548 in Granada in eine alte, um Staat und Kirche hochverdiente adlige Familie hineingeboren, begann Francisco im Herbst 1561 mit einem Jura-Studium in Salamanca und trat im Juni 1564 in den Jesuitenorden, die Societas Jesu, ein. Deren Ausbildungsordnung war inhaltlich im 14. Kapitel des 4. Teils der Satzungen, der “constitutiones”, geregelt. Thomas von Aquins Denken und das des Aristoteles galten als verbindlich. Gelehrt wurde ein “Tomismo moderato”,17 was der Societas Jesu prompt die Angriffe von seiten der beiden Dominikaner, Melchior Cano und Dominico Soto, eintrug. Jedoch fand der Nominalismus keine Heimat im Orden, ebensowenig wie der radikale Skotismus, mit - beispielsweise - seiner Position in der Frage der Realgeltung der Allgemeinbegriffe. Doch folgte die Jesuitenausbildung bei grundsätzlicher Freiheit innerhalb der skizzierten Grenzziehung einer Reihe skotistischer Positionen: In der Frage der 15 16 17
FLECKENSTEIN 1949 (Fn. 3), S. 33f. GIACON 1946 (Fn. 14), S. 169 - 321. GIACON 1946 (Fn. 14), S. 27.
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Erkenntnis des Einzelnen und Konkreten, der Abstraktionskraft und -leistung, des intellectus agens und der species intelligibiles, der Theorie von Akt und Potenz, von Wesen und Existenz. Daher “Tomismo moderato”! Die Kirche verpflichtete schon damals nicht auf einen strengen, rigiden Thomismus, sondern ließ Freiheit in der Auslegung des thomanischen Werkes.18 Suárez arbeitete mit großem Erfolg an verschiedenen Hochschulen als Professor. Während seiner Zeit in Salamanca veröffentlichte er 1594 die Disputationes metaphysicae und in Coimbra 1612 das uns hier interessierende Werk Tractatus de legibus ac de Deo legislatore, eine Gesetzeslehre in zehn Büchern. 1613 verfasste er die Defensio fidei catholicae adversus anglicanae sectae errores für die Gewissensfreiheit und gegen den Gehorsamseid, den der englische König den Untertanen auferlegen wollte. Suárez starb am 25. September 1617 in Coimbra. Das in Paris 1621 aus dem Nachlass publizierte Opus de triplici virtute theologica erörtert im Traktat De caritate das Kriegsrecht.
3.2. VORGEHENSWEISE IN “DE LEGIBUS” Zu seiner Vorgehensweise ist zu sagen, dass Suárez jeweils am Anfang seiner Erörterung gegnerische Positionen eingehend darstellte und die Versöhnung der Standpunkte anstrebte. Diese Vorgehensweise trug Suárez verschiedene Vorwürfe ein, z. B. den des Eklektizismus und den der relativierenden Verteidigung.19 Wollte man seine Denkrichtung charakterisieren, so ist zu sagen: Suárez wertete das Konkrete und das Wesentliche auf. Er gehe, so Bernhard Jansen SJ, dem ich hier folge, darauf aus, “cogliere la realtà nel suo aspetto concreto ed esistenziale”. Jansen hebt hervor, wie behutsam Suárez mit der Tradition umging und zugleich seine Zeit von innen her begriff, indem er den Willen zur Selbständigkeit, zur Persönlichkeit, zur Lebensnähe, zum Einzelnen, zum Wirklichen und zur gesetzmäßig geformten Naturbeherrschung ernst nahm.20
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GIACON 1946 (Fn. 14), S. 28. So etwa bei Léon MAHIEU, François Suarez. Sa philosophie et ses rapports qu’elle a avec sa théologie, Paris 1921. JANSEN, Die Wesensart der Metaphysik des Suarez, in: Scholastik XV (1940), S. 161 - 185 (164); GIACON diskutiert im folgenden bestimmte Interpretationen der “disputationes” durch Jansen (Giacon 1946 (Fn. 14), S. 184 - 189; 193 und 197) und gelangt zu dem Schluss, dass Jansen Suárez für einen Nominalisten und Empiristen halte (193). Ich weise nur auf die Seiten hin, auf welchen GIACON im selben Band (1946) weitere Positionen des Suárez diskutiert: S. 197 (zum Seienden), 281 und 283 (zum Individuationsprinzip), 285 (gegen die averroistische These von der Allseele und fü die substantiale Einzelseele), 296 (seine Kritik an den Gottesbeweisen des Thomas) und 310 und 316 (Suárez entwickelt den Gottesbeweis aus der Begrenztheit).
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4. DAS GESETZESDENKEN DES FRANCISO SUÁREZ21 4.1. KURZER GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK ZUM VERGLEICH Suárez übernahm nicht Platons Rede von den Nomoi agraphoi; sie sind “das die gesamte Staatsverfassung Zusammenhaltende”, sind “wie uralte Satzungen, welche richtig festgestellt und zur Gewohnheit geworden, die später niedergeschriebenen [Gesetze] mit aller Sicherheit umhüllen und ihnen Halt verleihen” (Nomoi, VII. 4., 788 a - c). Die Unterscheidung zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Gesetz spielt im Werk des Suárez keine Rolle. Wohl hob er die Rolle des Gewohnheitsrechts hervor. Außerdem geht es allen Gesetzen, einschließlich des ius gentium, um die Tugend der Menschen. Sie stärkt den Gesetzesgehorsam. Cicero verwendete in seinen Werken De legibus (I. 42f. und II. 8) sowie De republica (III,22 [33]) lex zur Bezeichnung des Naturgesetzes. Er charakterisiert es folgendermaßen: Es verfehlt nie die recta ratio, stimmt immer mit der Natur überein, ist immer allen bekannt und beständig. Die lex humana hingegen, so Cicero durch Umkehrschluss, kann die recta ratio verfehlen, in Missverhältnis zur Natur stehen und von nur niedrigem Bekanntheitsgrad sein. Sie unterliegt der Abänderung, dem Vergessen und der Abschaffung. Suárez schöpfte aus Ciceros Schriften. Der Begriff Lex und die Verwendung von Leges waren im römischen Rechtsbereich geläufig, vom Zwölf-Tafel-Gesetz bis zu den Leges, welche Senat und Volksversammlung anfertigten. In der Kaiserzeit nannte man das Kaisergesetz als besonderes herausragendes Gesetz constitutio. Diesen Gebrauch gab das Corpus Iuris Justiniani an das Abendland weiter. Wer sich für berechtigt fühlte, constitutiones zu erlassen, beanspruchte einen hohen, ja kaiserähnlichen Rang. Wer nun auf das kanonische Recht blickt, auf den Liber Extra von 1234, das erste päpstliche Gesetzbuch, wird dort vergeblich einen Titel “De legibus” suchen, wohl aber einen Titel “De constitutionibus” antreffen.22 Eine Aufwertung erfuhr “lex” noch dadurch im Titel des Werkes des Suárez, dass er “ac Deo legislatore” dazusetzte. Gott gibt Gesetze, nicht Konstitutionen. Die lex im paulinischen Verständnis arbeitete Suárez in Vorwort zum 10. Buch von De legibus heraus.23 Thomas von Aquins Gesetzesverständnis ist in die Formel gefasst: Ordinatio rationis ad bonum commune, promulgata ab eo, qui curam rei publicae habet (ST 21
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Ich werte GIACON, La seconda scolastica, 3. Bd.. I Problemi Giuridic-Politici. Suarez, Bellarmino, Mariana, Milano 1950 aus. Doch greife ich in diesem Kapitel auch auf andere Quellen zurück. HATTENHAUER ³1999, Rdnrn. 969 - 973, S. 321, geht nicht genau auf diesen Punkt ein. Er spricht davon, dass die Kirche von den königlichen Gesetzen als Konstitutionen sprach und dass die Kirche für sich das Wort “canon” verwendete, wenn sie von ihren Gesetzen sprach. Dass die Kirche, der Papst, selbst das Anfertigen von Konstitutionen für sich beanspruchte, sprach Hattenhauer nicht an. DL Prooemium Libri Decimi (Suárez 1856, vol. VI, S. 549 ab.).
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I - II, 90, 4c). “Ratio” ist hier genitivus subjectivus, sie ist von Gott geordnet und ordnet. Dies deckt sich mit der Position des Suárez. Nur räumte er den bewirkenden vor den erkennenden Faktoren den Vorrang ein, wie sich aus DL 1.4; 1.5 und 1.12 ergibt. Marsilius von Padua trat in seiner Schrift Defensor Pacis, “Verteidiger des Friedens”, von 1324 mit dem Gesetz gegen die Privilegien und den Dualismus von Klerikern und Laien an. Weniger der Durchsetzbarkeit von Ordnung, sondern der Gleichsetzung und Gleichbehandlung galt die Gestaltung der Gesellschaft durch den weltlichen Gesetzgeber. In § 6 des 10 Kapitels des 1. Teils (DF I 10 § 6) des Defensor Pacis lenkte Marsilius den Blick auf den menschlichen Gesetzgeber und die civitas. Von lex aeterna, lex naturalis und lex divina ist nur zur Abgrenzung die Rede (DF I 10 und II 9). Das menschliche Gesetz verfolgt einen Zweck und steht in Funktion von...! Es geht ihm um Gleichheit, welche den Frieden sichern wird.24 Dass auch die lex humana die Menschen gut machen solle, entfällt. Mit Aristoteles hielt Marsilius das “Gesetz” der menschlichen Willkür und Launenhaftigkeit entgegen: das Gesetz verbürge Unparteilichkeit sowie Leidenschaftslosigkeit und dämme menschliche Einflussnahme und Interessenpolitik zurück (DF I 11 § 2). Suárez griff diesen aristotelischen Gedanken vom Gesetz als “Vernunft ohne Leidenschaft” (Politik III.16, 1287 a), vermittelt durch Thomas (ST II-II, 47,8, ad 2), in DL 1.4.6 auf, ohne allerdings den aristotelischen Satz zu zitieren oder überhaupt ausführlicher bei dem Gedankengang des Aristoteles zu verweilen (DLd, S. 85f.), wie Marsilius es in I 11 § 1f. des Defensor Pacis tat. Fas ist in DL 1.2.11 besprochen, ihm gilt nur historisches Interesse. Juan Mariana fragte 1599 allerdings im 6. Kapitel des 1. Buches von De rege et regis institutione, “an tyrannum opprimere fas sit”. Suárez staffelt “lex” oder “ius” nicht mehr nach heilig oder profan. Gott ist in allen Dingen zu finden. In DL 1.2.4 bedeutet “ius” “das, was gerecht und billig ist”, und im engeren Sinn (DL 1.2.5) ”eine bestimmte sittliche Fähigkeit” [facultas moralis], über Eigentum oder eine geschuldete Sache zu verfügen”. “Ius” bezeichnet auch den rechtlichen erzwingbaren Anspruch (DL 1.2.5). “ius” wird synonym mit “necessitas”. Wer im Gesetz den Zwangscharakter betont, wird ohne Schwierigkeit auch die “lex” als “ius” bezeichnen können (DL 1.2.6).
4.2. ZUM BEGRIFF DER “LEX” SELBST BEI SUÁREZ 4.2.1 Begriffliche Bestimmung Suárez geht von der Existenz von “Gesetzen” aus, welche aller menschlichen Gesetzgebung als Normen vor- und übergeordnet sind. Um diese Gesetze kann der Mensch wissen, an sie ist er gebunden. Er wird damit in der Definition von “lex” alles herauslassen müssen, was zwar die lex humana kennzeichnet, jedoch kein Merkmal der lex aeterna oder der lex naturalis ist, z. B. Verfahren oder deutlichere Ausführungen zum Zwang. Damit erlegt die Rücksichtnahme auf beide 24
Vgl. den Beitrag Waechters in diesem Band.
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letztgenannten Gesetzestypen von vornherein eine Grenze auf, und so lautet die Definition des Gesetzes: praeceptum commune, iustum, stabile, sufficienter promulgatum. Das Gesetz ist also die eine Gemeinschaft betreffende Anordnung, die gerecht, verlässlich, beständig und auch in genügender Weise verkündet worden ist, so Suárez in DL 1.12.5 DLd, S. 255). Etwas verkürzt heißt es im Vorwort zum 10. Buch von “De legibus”: Das Gesetz ist ein praeceptum commune, obligationem inducens.
4.2.2. Präzisierungen des Begriffs Gegenüber dem römischrechtlichen Lex-Begriff des Justinianischen Gesetzeswerks und der Fassung von Lex des Thomas von Aquin grenzte Suárez den Gesetzesbegriff mehrfach ein. So entstammt die Lex einer sittlichen Handlung und adressiert sich nur an sittlich handelnde Wesen; womit naturwissenschaftliche Gesetze, triebgesteuerte Handlungen, aber auch Klugheitsimperative und technische Regeln als Gegenstand der Abhandlung entfallen (DL 1.3.5f.). Wenn Thomas den Gesetzesbegriff auch für nichtmenschliche Lebewesen angewendet wissen wollte und damit Regelungen, etwa im Triebhaushalt der Tiere, für Gesetze hielt, betonte er stärker die Einheit der Schöpfung. Hingegen schränkte Suárez energisch, vom ersten Titel an, die Lex auf jene Wesen als Adressaten ein, welche um die Verpflichtung wissen und sie bewusst zu übernehmen vermögen. Auch hier beherrscht die Verpflichtung und nicht der Befehl den Vordergrund!25 Die Verpflichtungen der Lex aeterna und der Lex naturalis bestehen von Ewigkeit her, weil Gottes Wille ewig ist, und werden nicht nachträglich einem Inhalt hinzugefügt. Jede Lex humana zehrt von dieser immer schon ausgesprochenen Verpflichtung und aktualisiert sie. Insofern das ewige Gesetz das Paradigma für jedes von Menschen zu setzende Gesetz ist,26 muss nun Suárez auch den Begriff der Lex aeterna neu lesen, wenn er seinem eingeschränkten Gesetzesbegriff treu bleiben will. Und er tut es, wenn auch etwas versteckt. Die Lex aeterna wird für ihn nur insoweit Lex sein können, als sie das freie Vernunftwesen verpflichtet (DL 2.2.13;2I.3.8 –DLb S. 370, 381). Suárez engte auch die Lex auf Handlungen ein, zu welchen die Adressaten verpflichtet sind, womit der Rat und die Bitte aus dem Lex-Begriff herausfallen (DL I.1.1, und 7; I. 8. Ende; I.12.4 – DLb S. 26, 33, 379, 254f.). Eingrenzung erfolgt auch dadurch, dass die Lex keiner Annahme durch die Adressaten zu ihrer Gültigkeit bedarf, womit sie sich scharf vom Vertrag abgrenzt (DL I.4.5 – DLb S. 84f.).
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Vgl. den Beitrag ALTWICKERs in diesem Band. Simone GOYARD-FABRE: ‘Loi’, in: Dictionnaire de Philosophie Politique, hrsg. von Philippe Raynaud und Stéphane Rials, Paris 1996, S. 355 – 360 (357a).
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4.3. DIE ABFOLGE VON HANDLUNGEN ZUR KONSTITUIERUNG DER GESETZGEBUNG27 Bei Thomas findet sich folgende Abfolge (ST I, 83, 3; I-II, 9,3 und 4; 12, 1; 13, 1 - 6; 16, 1 - 4; 17, 3 ad 1): der 1. Willensakt will das Ziel; im 2. Akt richtet sich die Intentio auf die Mittel zum Zweck; der 3. Akt als der Wahlakt (electio) gliedert sich: Der Verstand fällt ein Werturteil über die Mittel und gibt sodann einen Rat, welchem Mittel der Vorzug gebührt; im 4. Akt wählt der Wille aus, entscheidet und bejaht die electio; der 5. Akt als der “Gebrauchsakt” ist der Wille, den betreffenden Gegenstand seinem wirklichen Sein nach innezuhaben. In ST I-II, 17,3 ad 1 benennt Thomas die Schritte in der Reihenfolge: consilium, electio, imperium, usus. Suárez untersucht in DL I.4 die einzelnen Handlungsschritte, welche zu dem Gesetz führen.28 Innentätigkeit (Nr. 3 - 9): 1. Wille richtet sich in reiner Absicht auf das Gemeinwohl aus (Nr. 6); 2. Verstand prüft, ob ein Gesetz nötig ist, und wenn ja, welcher Art (Nr. 6); 3. Verstand arbeitet an der konkreten Gestalt des Gesetzes (Nr. 6); 4. Willen stattet das Gesetz mit Verpflichtungskraft aus (Nr. 7 - 8 - 9); Außentätigkeit (ab Nr. 10): 5. Verstand stellt dem Willen den Gegenstand vor (Nr. 11); 6. Wille mobilisiert das Vermögen zum Handeln (und nicht der Verstand) (Nr.11); Der Wille als potestas exequens bewirkt, was er will: die Ausführung des bereits (Nr. 4) verpflichtenden Gesetzes (Nr. 12); 7. Verstand und Wille teilen das Gesetz, den Willensentschluss, mit und setzen es in ein erkennbares Zeichen um (Nr. 13 - 14); 8. Verstand supervisiert die Gesetzesanwendung (Nr. 14). Welches Vermögen, voluntas oder ratio, liefert also dem Gesetz die ausschlaggebende Kraft? - Für Suárez der Wille! Das Gesetz tritt als Akt des gerechten und richtigen Wollens nach außen. Zentral ist der in unserer Aufzählung vierte Schritt (DL 1.4.7 - 9). Es ist ein über Wertberücksichtigungen, Abwägungen und Auswahl zustandegekommener und an der ratio ausgerichteter Wille. Dass Suárez den Akzent auf “Akt des Willens” legt, wohingegen Thomas von der “ordinatio legis” spricht und den Akzent auf der “ratio” anbringt, lässt sich also schwer bestreiten, gerade wenn man DL I.4; I.5 und I.12 heranzieht. Die Frage, welche Giacon zu Recht stellt, ist aber, ob es sich um einen wesentlichen Unterschied handelt.29 Man kann den Unterschied z. B. nur darin sehen, dass Thomas sämtliche Akte des Gesetzgebers als maßgeblich von der ratio bestimmt sieht (DL I.12.3), während Suárez beide, Willen und Verstand, deutlicher trennt und dem Willen die dynamisierende Funktion beimisst, dem Gesetzestext überhaupt erst die verpflichtende Kraft zu verleihen, so dass sich überhaupt erst dann sagen lässt, 27 28 29
Vgl. den ersten Beitrag STÄDTLERs in diesem Band. Siehe Kommentar zu DL I. 4 in DLd 2002, 779 - 681. GIACON 1950 (Fn. 21), S. 119.
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im Gesetzgeber sei ein Gesetz entstanden, ein Akt, der die Adressaten verpflichten wird. Auch ist es bei Suárez die potestas exequens, welche sich selbständig der Ausführung des Gesetzes annimmt; der Verstand tritt erst hinzu, wenn es um die Bekanntgabe des Inhalts geht. Es nimmt aber, so meine Sicht, der Wille eine solche bevorzugte Stellung ein, weil für Suárez der obligatio eine neue stärkere Rolle im sozialen Kosmos zukommt. Thomas sah noch eine Gemeinsamkeit aller Menschen gegeben, weil und indem sie alle die eine ratio haben. Suárez betont nachdrücklicher als Thomas, dass es notwendig sei, an latent vorhandene Verpflichtungen (naturrechtlicher Art) und an die Möglichkeiten, verpflichtet zu werden (durch die lex humana), anzuknüpfen. Der Mensch ist ein verpflichtungsfähiges und -bedürftiges Wesen, worin er sich vom Tier unterscheidet. Ideengeschichtlich lässt sich diese Akzentverschiebung vom Verstand auf die Verpflichtung so auslegen, dass im 16. Jahrhundert Zweifel aufstiegen, inwieweit die ratio für Ordnung zu sorgen vermag, und dass Bindungen, Verbindungen und Gemeinsamkeiten zumindest im Vorletzten erst gewollt und hergestellt werden müssen. Dieser Willen macht die lex humana aus, seine maßgebliche Rolle wurde dann aber auch in der lex naturalis “entdeckt”. Eine Folge ist auch die klare Abgrenzung des Gesetzes vom Rat, der Wissen vermittelt, jedoch unverbindlich ist. Der Gesetzesbegriff schuf dem Rat Raum (DL 1.12.4).
4.4. INHALT UND VERPFLICHTUNG 4.4.1. Inhalt Das oberste Prinzip lautet “Tue das Gute, meide das Böse!”, die ihm nachgeordneten, wenngleich immer noch oberen Prinzipien geben kund: “Töte nicht!” und “Stiehl nicht!”. Das menschliche Gesetz kann dem Prinzip im menschlichen Gesetz als “Mord wird mit lebenslang bestraft” Ausdruck verschaffen; es kann aber auch aus dem Diebstahlsverbot und dem Schutz des Eigentums sowie dem Anspruch auf Rechtssicherheit und der Tauschgerechtigkeit ein Ersitzungsrecht aufgebaut werden (DL II.15 und 16). Drittens aber kann die Not der Stunde ein Gesetz erfordern, welches weder aus der lex naturalis schlussfolgert noch sie genauer bestimmt, sie aber gleichwohl als verpflichtenden Rahmen gesetzgeberischer Freiheit beachten muss.
4.4.2. Die Obligatio Die in DL I.12 gegebene Definition praeceptum commune, iustum, stabile, sufficienter promulgatum beinhaltet im Begriff praeceptum als wesentliche Wirkung die Verpflichtung, so zeigt sich in DL 1. 14 (DLb S. 269). Den vollen Inhalt der Gesetzesdefinition legte Suárez also erst in den folgenden Titeln offen. Nicht
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genug, dass Thomas’ Definition lex est quaedam rationis ordinatio ad bonum commune ab eo qui curam communitatis habet, promulgata (ST I-II, 90, 4) den Rang der ratio betont, Thomas nannte noch das “imperare” “quidem essentialiter actus rationis” (ST I-II, 17, 1c). Das “imperare” geriet hingegen bei Suárez zu einer Unterform des “obligare” und ist unter “praeceptum” verborgen. Das Gesetz (DL 1.14.4) “ist nämlich eine Anordnung, die dem wirkkräftigen Verpflichtungswillen dessen entstammt, der die politische Macht ausübt”; und wenn von “imperare” in DL 1.15 die Rede ist, heißt es unter Nr. 3: “Was immer [...] das Gesetz bewirkt, tut es doch offensichtlich mit Hilfe der Verpflichtung [...]. In diesem Sinn kann man jene Wirkung angemessen nennen. Sie ist jedoch nicht die einzige, weil das Gesetz mittels der Verpflichtung auch andere Wirkungen hervorbringt” DLb S. 282). In DL 10 liest man: “Das eigentliche Wesen des Gesetzes besteht darin, dass es eine an eine Gemeinschaft gerichtete Anordnung ist, ein Befehl im eigentlichen Sinn, der eine Verpflichtung einführt und mit sich führt” (DL 10.2.1).30 Jede Verpflichtung lastet schwer. So fragt der Verpflichtete mit Recht, wer ihn überhaupt verpflichten dürfe. Es ist insofern nicht erstaunlich, dass Suárez wiederholt betont, dass nur der Zuständige Verpflichtungen aktualisieren oder auferlegen dürfe (DL I.8.3 und 8; I.9.13. u.a.). Man könnte ja sagen: die Verpflichtung besteht, da ist es dann doch egal, wer sie auferlegt und in welcher Form er es tut. Suárez ist keineswegs dieser Ansicht; auch eine inhaltlich noch so berechtigte Anordnung muss und darf nur vom Zuständigen ergehen. Natürlich stärkt eine solche Sicht wieder die in den Blick kommende Sonderrolle Gottes. Er ist immer und überall zuständig. Wie ein Schutzschild wirkt aber diese Position, indem sie zur Anfrage an jeden Anordnenden berechtigt, ob er innerhalb seiner Zuständigkeiten den Rechtsakt erlassen habe. Es ist von eminenter Bedeutung, dass sich der jeweilige Gestalter der sozialen Ordnung an seine Aufgabe hält und nicht andere Aufgaben für sich beschlagnahmt oder über sein ihm zugewiesenes Territorium hinaus Gesetze erlassen will. Zu erinnern ist an den Platonischen Gerechtigkeitsbegriff: “Tue das Deine und mische dich nicht in Vielerlei ein!” (Politeia, IV. 10., 433 a f.). 4.5. DIE LEGESHIERARCHIE31 Das ewige Gesetz, die Lex aeterna, ist laut dem Vorwort zu DL. II. legum omnium fons et origo. Sie ist echtes Gesetz: praeceptum commune, obligationem inducens, das Naturgesetz hat an ihm teil, die leges humanae sollen an ihm teilhaben. Das Naturgesetz, die Lex naturalis, existiert, spricht in den Gewissen und richtet sich an sie, ist mit ihnen aber nicht schlechthin gleichzusetzen. Suárez lehnt es ab, die lex naturalis auch lex divina zu nennen. Natürlich geht auch sie 30
31
“Nam quia ratio legis in hoc consistit quod sit praeceptum commune, ac proprium imperium obligationem inducens” (Suárez 1956, vol. VI, S. 550 a). Vgl. auch den ersten Beitrag WALTHERs in diesem Band.
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auf Gott den Schöpfer und auf den Gesetzgeber zurück; und doch ist es die Natur, die Vernunft heißt dies, welche über den Inhalt des Naturgesetzes aufklärt und welche verpflichtet.32 Zur Auseinandersetzung mit Gabriel Vásquez33 ist zu bemerken: Gabriel Vásquez behauptete, dass die verpflichtende Kraft des Naturgesetzes von der menschlichen vernünftigen Natur herkomme, wobei er nicht ratio naturalis, sondern natura rationalis sagt. Insoweit diese Natur der Notwendigkeit der Nichtwidersprüchlichkeit entspreche, sei sie Fundament, Wesen und sittliche Richtigkeit moralischen Handelns. Sie, die Natur, verlange danach, Gott als ihren Schöpfer anzubeten, die Religion sei eine Tugend und müsse daher geliebt werden. Diebstahl sei die Gegenhandlung zu dem, was die Natur will, sei übersteigertes Leben und ein letztlich dem Menschen schädliches Habenwollen. Suárez nahm zur Position des Vásquez Stellung: Die Natur selbst ist kein Gesetzgeber, sie verpflichtet nicht, sie kann nur sagen: Wenn . . dann. Sie zeigt an und liefert Anlässe, welche auf die Norm aufmerksam machen. Die Not eines Volkes ist jedoch nicht Grund oder Quell der Norm, sondern Auslöser für Solidarität. Diese Pflicht ergibt sich aus einer Norm, letztlich aus dem “Tue das Gute, meide das Böse!”. Im sehr genau zu lesenden und mit Vazquez’ Position abzugleichenden Text sagt Suárez: “(Es) übt Gott eine vollkommene Vorsehung über die Menschen aus. Deshalb steht es ihm als oberstem Lenker der Natur zu, das Schlechte zu verbieten und das Gute vorzuschreiben. Auch wenn die natürliche Vernunft anzeigt, was gut oder schlecht für die vernünftige Natur ist, so schreibt doch Gott - als Urheber und Lenker ebendieser Natur - vor, zu tun oder zu meiden, was die Vernunft zu tun oder zu meiden gebietet” (DL 2. 6. 8).34 Böckenförde kommt zu dem Schluss, dass wer die lex naturalis im Sinn des Suárez befrage, sich an der objektivvorgegebenen Wesensnatur orientiere und nicht von der lex naturalis an die lex aeterna weiterverwiesen werde. Die lex naturalis partizipiere an der lex aeterna nicht aktiv, sondern passiv, so unter Verweis auf DL 2.5.9.35 An dieser Stelle sagt Suárez: Wir müssen zweierlei unterscheiden, wenn wir von der vernünftigen Natur sprechen: “einmal die Natur selbst, insoweit sie die Grundlage der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der menschlichen Handlungen mit sich selbst ist; zum anderen eine gewisse jener Natur innewohnende Kraft, um zwischen Handlungen zu unterscheiden, ob sie mit jener Natur übereinstimmen oder nicht. Diese Kraft nennen wir die natürliche Vernunft [ratio naturalis]. Im ersten Fall spricht man von der Natur als der Grundlage der natürlichen Sittlichkeit, im zweiten Fall aber vom Naturgesetz [lex naturalis] 32
33 34
35
HATTENHAUER ³1999 (Fn. 23), spricht in Rdnrn. 933 -935 vom “ius divinum” und begreift unter ihm das “ius divinum positivum” wie auch das “ius naturale” (S. 308f.). Suárez muss eine solche Benennung völlig ablehnen, siehe allein DLd 2002, S. 432 (DL 2.6.2). DLd 2002, S. 406 - 421 (Zitat: DLd I2.5.9, S. 413); GIACON 1950 (Fn. 22), S. 140. DLd 2002, S. 433; SCHÜLLER, Der menschliche Mensch. Aufsätze zur Metaethik und zur Sprache der Moral, Düsseldorf 1982, S. 36f., geht auf den Konflikt Vázquez - Suárez ein, gibt aber als Meinung des Suárez eine Passage aus, in welcher Suárez eine von ihm abgelehnte Position zusammenfasst (DLd II.6.2, S. 424). BÖCKENFÖRDE, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Paderborn 2002, S. 354f., legt “iudicium indicans” und “praeceptum”, so wie ich es verstehe, und gegen Schüllers Interpretation aus. BÖCKENFÖRDE 2002 (Fn. 40), S. 356.
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selbst, das dem menschlichen Willen befiehlt oder verbietet, was vom Naturrecht [ius naturale] her zu tun is.” DLd, S. 413). So behutsam Suárez tatsächlich die lex naturalis von der lex aeterna und der lex divina positiva abhebt, so entlässt er sie doch auch nicht aus der Verbindung mit Gott dem Gesetzgeber und der lex aeterna! In II.5.10 spricht Suárez vom “Naturgesetz, das wiederum nichts anderes als eine gewisse natürliche Teilhabe am ewigen Gesetz ist” (DLd, S. 415). Das Ius gentium ist nur unzulänglich mit “Völkerrecht” übersetzt; es ist ius inter gentes, zwischenstaatliches Recht, und es ist ius intra gentes also Recht, das in allen Staaten gilt, nationales Recht, das in ähnlicher Weise in allen nationalen Rechtsordnungen vorhanden ist. Es ist ius humanum, lex humana, denn es ist von Menschen entworfen worden. Das ius gentium ist aber nicht wie das ius civile, also “per modum determinationis”, zustandegekommen, sondern “per modum illationis”, in einer Art Einsammlung der Gewohnheiten; auch gilt es eben für alle und in allen Nationen, während das ius civile eben nur für eine Nation Geltung beansprucht. Wie die lex naturalis ist auch das ius gentium allen Menschen “aliquo modo” gemeinsam, betrifft nur sie und enthält wie jenes gebietende, verbietende und erlaubende Gesetze. Es unterscheidet sich vom Naturgesetz dadurch, dass seine Gebote nicht wesentlich notwendig sind und dass das Verbotene nicht verboten wurde, weil es sich um ein innerlich Böses handelt; es ist veränderlicher als das Naturgesetz, gilt nicht immer, sondern nur in der Regel, und nicht für alle, sondern für fast alle (DL II.19.2, 6, in: Suarez 1856, Bd. V. S. 168a). Seine Rechtsquellen sind der Vertrag und die Gewohnheit (DL. 2.17.2-9; 2. 18.1-5). Gegen Ulpian sah Suárez damit das ius gentium nicht als das für Menschen exklusive Naturrecht an. Sobald im ius gentium Verträge geschlossen sind, stehen diese jedoch unter der naturrechtlichen Forderung des pactum est servandum! (DL II.19.1 - 7).
4.6. FUNKTIONEN DER GESETZE UND TUGEND DES GESETZGEBERS Alle Gesetze haben zur Tugend zu führen (DL 1.13.3). Die Gesetze sollen die Menschen gut machen. Was den Gesetzgeber betrifft, so hebt Suárez die unerlässliche Klugheit und den Gerechtigkeitssinn des Gesetzgebers hervor, über welche er bei der Erarbeitung des Gesetzes zu verfügen hat: Eine prudentia architectonica ist vonnöten, welche darauf aus ist, ein System zu errichten. Doch muss der Gesetzgeber nicht sittlich gut sein, um gute Gesetze fabrizieren zu können (DL 1.7.9 und 1.9.12). Eine der Fragen, welche im 16. Jahrhundert die Gemüter erhitzte, war die, ob das Prinzip des “princeps legibus solutus” gelte oder nicht.36 Der Herrscher ist, so Suárez, wie alle anderen Bewohner des Territoriums den Gesetzen unterworfen, und mögen es auch seine eigenen sein: “ratio iustitiae vel alterius virtutis eadem est in principe et reliquis reipublicae membris”; “si rex statuit legem taxantem pretium, et ipse ut privatus dominus res carius vendat, peccat contra iustitiam et 36
GIACON 1950 (Fn. 22), 178 - 182. Vgl. dazu den zweiten Beitrag WALTHERs in diesel Band.
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tenetur ad restitutionem.” Allerdings steht er nur unter der “vis directiva”, nicht unter der “vis coactiva”, unter einer ihn anleitenden, aber unter keiner positivrechtlichen zwingenden Kraft (DL 3. 35. 12. und 15 – 17, in: Suarez 1856, Bd. V, S. 319a -320b).
4.7. ANZAHL DER GESETZE Suárez behauptete nie, dass es möglichst wenig Gesetze geben solle. Was er feststellte, ist, dass eine jede Gesellschaft ein bestimmtes Maß an Gesetzen nötig hat; es dürfe kein wichtiges Gesetz im Gemeinwesen fehlen, aber auch kein überflüssiges jemanden beschweren (DL 1.3.1ff. – DLd, S. 54ff.)). Suárez arbeitete klar heraus: der Mensch dürfe nicht unter-, aber auch nicht überfordert werden. Jedes Gesetz ist eine Anforderung und Belastung für den Menschen. Die besten Gesetze seien diejenigen, welche nicht zur Anwendung kommen. Ja, doch gilt dies nur für die leges positivae. BIBLIOGRAPHIE Quellen: Cicero, Marcus Tullius, Über die Rechtlichkeit (De legibus). Übersetzt, mit Anm. vers. U. Nachw. v. Karl Büchner, Stuttgart 1969. Cicero, Marcus Tullius, De republica / Vom Gemeinwesen. Lat. /Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Karl Büchner, Stuttgart 1979. Codex Iustinianus, hrsg. vo. Paul Krüger. In: Corpus Iuris Civilis, II, Berlin 1914 (ND Dublin Zürich: Weidmann 141967). Digesta, hrsg. v. Theodor Mommsen, in: Corpus Iuris Civilis, I, Berlin 1872 (ND Dublin – Zürich 22 1973). Francisco de Vitoria, Vorlesungen I, hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven, Joachim Stüben, Stuttgart 1995. Liber Extra, hrsg. von Emil Friedberg, in: Corpus Iuris Canonici, tomus 2. Leipzig 1881 (ND Graz 1959). Mariana, Juan de, De rege et regis institutione Libri III. Toledo 1599 (ND Aalen 1969). Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Auf Grund der Übers. v. Walter Kunzelmann, bearb. V. Horst Kusch. Ausw. u. Nachw. V. Heinz Rausch. Stuttgart 1971. Platon, Politeia., in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gerd Plamböck, Reinbek.. b. Hamburg 1975a. Platon, Nomoi, nach d. Übers. von Hieronymus Müller hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Reinbek b. Hamburg 1975b. Suárez, Franciso: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Übers. u. hrsg. von Norbert Brieskorn. Freiburg - Berlin: Haufe 2002. (Zit. DLd, nach Buch. Kapitel. Nr.) Suárez, Francisco, De legibus ac Deo legislatore, in: R. P. Francisci Suárez S.J. Opera omnia. Editio Nova a Carolo Berton, Tomi V et VI, Paris: L. Vivès 1856. Thomas von Aquin: Opera Omnia. Hrsg. v. R. Busa. Stuttgart / Bad Cannstatt 1980 ff. Literatur: Böckenförde, Ernst Wolfgang, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen, 2002. Burckhardt, Carl J., Richelieu. 3 Bde. München. Bd.1: Aufstieg zur Macht , 1961; Bd. 2: Behauptung der Macht und kalter Krieg, 1965; Bd. 3:
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Tilmann Altwicker, Budapest
GESETZ UND VERPFLICHTUNG IN SUÁREZ’ DE LEGIBUS ABSTRACT: In his work De Legibus Suarez reconsiders the scholastic debate about the intellectualist versus the voluntarist thesis in order to determine the proper general term of law (lex): Is law an act of the intellect or of the will? Suarez rejects both of the extreme positions and advocates a conciliatory one. Accordingly, the intellect is to come up with moral judgments. Such a judgment can be called a “law” only when it is accompanied by the legislator’s will to impose an obligation. Suarez’s concept of obligation in law differs from the one of St. Thomas Aquinas. Whereas Thomas requires a certain rationality of the law to be binding upon the legal subjects, Suarez takes the view that judgment and prescription are two necessary, discernible elements of law. While this account of positive law appears plausible, difficulties arise when it is applied to natural law (lex naturalis). By analyzing the binding effect of law and stressing a certain autonomy of its obligation-dimension, Suarez makes an important contribution to the development of a modern concept of law.
1. DIE BEDEUTUNG DER VOLUNTARISMUS-INTELLEKTUALISMUSDEBATTE IM KONTEXT VON DE LEGIBUS Mit den Gegenbegriffen „Voluntarismus“ und „Intellektualismus“ wird – terminologisch allerdings etwas unscharf – eine Debatte in der Naturrechtslehre bezeichnet, die wie kaum eine andere scholastische Streitfrage für die weitere Entwicklung von Theologie, Philosophie und Jurisprudenz bedeutsam war.1 Die Debatte nimmt ihren Anfang im 13. Jahrhundert als Reaktion auf den thomistischen Intellektualismus. Ursprünglich ging es bei dem Streit, der insbesondere zwischen den Ordensschulen der Franziskaner und der Dominikaner ausgetragen wurde, um die theologische Frage nach der nobilior potestas, das heißt dem Vorrang entweder des Willens oder des Verstandes in Gott. Die hier allein interessierende naturrechtliche Bedeutung dieser Debatte besteht in der bis heute relevanten Grundfrage der Rechtsphilosophie fort, ob durch das Gesetz geboten wird, was zu gebieten ist, oder ob geboten wird, was der Gesetzgeber gebieten will.2
2
Dazu vgl. auch SODER, Josef, Francisco Suárez und das Völkerrecht, Frankfurt am Main 1973, S. 142-143.
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Tilmann Altwicker
Die eine Position, der sog. „Intellektualismus“, kann sich auf Thomas von Aquins klassische Definition des Gesetzes in der quaestio 90 der Summa Theologiae berufen, in der das Gesetz als rationis ordinatio, Anordnung der Vernunft, bezeichnet wird (ST I-II, 90, 4 c). Nach der Gegenauffassung, dem sog. „Voluntarismus“, ist das Gesetz wesentlich eine Hervorbringung des Willens. Das Willensmoment in der Gesetzesdefinition heben etwa Johannes Duns Scotus und sein einflussreicher Schüler, Wilhelm von Ockham, hervor.3 Unter der lapidar erscheinenden Formulierung „Ist das Gesetz ein Akt des Verstandes oder des Willens?“ diskutiert Francisco Suárez in seinem Werk De Legibus ac Deo Legislatore (1612) pointiert die beiden Extrempositionen und entwirft eine eigene, vermittelnde Auffassung (DLd 1.5.1-20). Eine Befassung mit der Debatte ist für Suárez aus drei Gründen erforderlich: Einmal macht der Bauplan seines Werkes, der die Behandlung des Gesetzes im Allgemeinen vor den besonderen Arten des Gesetzes (dem ewigen Gesetz, dem natürlichen Gesetz etc.) vorsieht, eine Bestimmung des Gattungsbegriffs des Gesetzes notwendig, die dann Grundlage einer allgemeinen Gesetzesdefinition werden kann.4 Ferner ist Suárez daran gelegen, einen Syntheseversuch der beiden Extrempositionen zu unternehmen, der einerseits die spezifische Verpflichtungskraft des Gesetzes ernst nimmt, andererseits aber gesetzgeberische Willkür ausschließt. Schließlich führt Suárez selbst an, dass die „Verschiedenheit der Meinungen“ eine Positionierung notwendig mache, zumal diese Folgen hat für die Behauptung seiner Konzeption des Naturgesetzes (insbesondere in Absetzung gegenüber den Auffassungen von Gabriel Vásquez, Gregor von Rimini und Wilhelm von Ockham).5
2. DIE BEHANDLUNG DER DEBATTE IN DE LEGIBUS UND SUÁREZ’ ZWEIGLIEDRIGER GESETZESBEGRIFF In der Diskussion der Streitfrage im fünften Kapitel des ersten Buches von De Legibus folgt Suárez seinem typischen, lehrbuchartigen Aufbau:6 Zu Beginn führt er den hier sog. intellektualistischen Gesetzesbegriff ein und nennt dessen promi-
3
4
5 6
Vgl. ILTING, Karl-Heinz, Artikel „Naturrecht“, in: BRUNNER, Otto; CONZE, Werner; KOSELLECK, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 266-270, und WELZEL, Hans, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962, S. 74. Begründete Zweifel, Duns Scotus dem Voluntarismus zuzurechnen, finden sich allerdings bei HONNEFELDER, Ludger, Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, in: MIETHKE, Jürgen; SCHREINER, Klaus (Hg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 207-213. Auf diesen systematischen Gesichtspunkt weist BRIESKORN, Norbert, Kurzkommentierung, in: SUÁREZ, Francisco, Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, BRIESKORN, Norbert (Hg.), Freiburg 2002, S. 682 hin. Vgl. dazu unten 4. Bemerkungen zur allgemeinen Methode und Vorgehensweise des Suárez finden sich bei BRIESKORN, in: SUÁREZ 2002 (Fn. 4), S. 644-647.
Gesetz und Verpflichtung in Suarez’ De Legibus
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nente Vertreter (neben Thomas auch Caietan, Soto u.a.).7 Es werden vier Gründe referiert, weswegen das Gesetz als ein Akt des Verstandes (intellectus) aufzufassen sei: Erstens könne die Ordnungsleistung des Gesetzes begrifflich nur dem Verstand zugeschrieben werden, gleiches gelte zweitens für die Aufklärungs- und Belehrungsfunktion, drittens sei nur der Verstand als Tugendinstanz in der Lage, eine Handlungsregel zu geben, und schließlich, viertens, sei das bloße Wollen eines Gesetzgebers für die Gesetzeskonstitution nicht hinreichend (DLd 1.5.3-4). Dagegen stellt Suárez in einem weiteren Schritt seine bedeutsame Kritik, dass der intellektualistische Gesetzesbegriff die typische Verpflichtungs- und Steuerungskraft des Gesetzes nicht erklären könne (DLd 1.5.5). Diese wesentliche Eigenschaft erfasse aber, so Suárez, der hier sog. voluntaristische Gesetzesbegriff (DLd 1.5.8-19).8 Dem Gesetz ist, Suárez zufolge, eigentümlich, „(...) über eine Kraft zur Verpflichtung zu verfügen, die der Natur der Sache nach im Willen und nicht im Verstand anzutreffen ist; denn dieser vermag nur die dem Gegenstand selbst zuinnerst mitgegebene sittliche Verbindlichkeit aufzuzeigen. Wenn jene in ihm nicht vorhanden wäre, so könnte sie ihm der Verstand auch nicht anerschaffen. Der Wille hingegen erschafft die sittliche Verpflichtung, welche vorher dem Gegenstand abging, und bewirkt, z.B. auf dem Feld der Gerechtigkeit, dass eine Sache einen bestimmten Preis wert ist, und auf dem Feld anderer Tugenden, wie hier und jetzt sittlich verpflichtend zu handeln ist, wozu ohne eine solche Festlegung kein Anlass bestünde“ (DLd 1.5.15).
Suárez hält die beiden genannten Extrempositionen letztlich für unbeweisbar und schlägt eine dritte, vermittelnde Position vor. Er beschränkt sich dabei zunächst auf das positive Gesetz (DLd 1.5.22). Die Plausibilität seiner vermittelnden Auffassung entwickelt Suárez wie folgt: Der intellectus – hier befindet sich Suárez im Einklang mit der scholastischen Begriffsverwendung – schaut in das Wesen der Dinge und erfasst sie in ihrem Sosein.9 Im Bereich der Gesetzgebung, die als alleinigen Regelungsgegenstand sittliche Handlungen hat (DLd 1.1.1; 1.1.5), besteht die Leistung des Verstandes darin, das richtige Urteil in Fragen des Gemeinwohls zu fällen. Sache des Verstandes ist es demzufolge, „zu überlegen, ob dieses oder jenes Gesetz gerecht oder passend für die politische Gemeinschaft sei“ (DLd 1.4.6). Dieses praktische Urteil, dass etwas im Hinblick auf das Gemeinwohl tunlich sei, wird für seine Adressaten aber nur dann verbindlich, wenn der Wille des Gesetzgebers, die Gesetzesadressaten zu diesem Tun zu verpflichten, hinzutritt. Die Annahme eines gleichsam von außen kommenden Verpflichtungswillens ist für den Juristen Suárez, wie das obige Zitat belegt, insbesondere für Sachverhalte bedeutsam, in denen eine vernünftige Regelung so oder auch anders ausfallen könnte und infolgedessen ein gesetzgeberischer Spielraum besteht. Suárez’ Beispiel ist das einer Preisfestsetzung, denkbar sind aber alle Regelungen, 7 8
9
Vgl. Im Beitrag BRIESKORNs in diesem Band den Abschnitt 4.5. Die weiteren Argumente, die Suárez zugunsten des voluntaristischen Gesetzesbegriffs anführt, können hier aus Platzgründen nicht nachgezeichnet werden; insoweit wird auf den Text verwiesen (DLd 1.5.8-15). Vgl. dazu DE VRIES, Josef, Grundbegriffe der Scholastik, Darmstadt 1983, S. 8; ROMMEN 1947 (Fn. 1), S. 63-64.
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für die eine naturgesetzliche Vorgabe fehlt. So gelangt Suárez zu einem zweigliedrigen Gesetzesbegriff, demgemäß das Gesetz aus dem Verstandesakt des richtigen Urteils in Fragen des Gemeinwohls und aus dem Verpflichtungswillen besteht: „So erfordert das Gesetz also zweierlei: Bewegungs- und Hinordnungskraft, sittliche Gutheit, wie ich sagen möchte, und Wahrheit, d.h. einerseits das rechte Urteil über das, was zu tun ist, und andrerseits den Willen, der imstande ist, zu jenem Tun zu bewegen. Deshalb kann sich das Gesetz aus dem Akt des Willens und des Verstandes zusammensetzen“ (DLd 1.5.20).
Im Ergebnis differenziert Suárez für das positive Gesetz, an dem sich seine Ausführungen im fünften Kapitel orientieren, zwischen dem handlungsanleitenden, zur sittlichen Rechtheit führenden Gesetzesinhalt und der Verpflichtung. Aus seiner Kritik am eingliedrigen Gesetzesbegriff entwickelt Suárez eine Synthese von intellektualistischem und voluntaristischem Gesetzesverständnis. Für den Bereich des positiven menschlichen Gesetzes, in dem auch Kontingentes bzw. Veränderliches zu regeln ist, erweist sich Suárez’ zweigliedriger Gesetzesbegriff als nachvollziehbar und modern. Fraglich ist aber, ob der zweigliedrige Gesetzesbegriff sich auch für die anderen Gesetzesarten, insbesondere für das natürliche Gesetz, durchhalten lässt (sub 4). Als Zwischenergebnis ergibt sich, dass – mangels eindeutiger Festlegung auf eine der Positionen – die Debatte zwischen Intellektualismus und Voluntarismus für die Bestimmung des Gattungsbegriffs des Gesetzes für Suárez wenig fruchtbar ist. Daher spricht er im Rahmen seiner an späterer Stelle gegebenen Gesetzesdefinition auch nur noch von „Anordnung“ ohne eine nähere Qualifizierung (DLd 1.12.5). Seine schließlich gegebene Gesetzesdefinition lautet: „Das Gesetz ist die eine Gemeinschaft betreffende Anordnung, die gerecht, verlässlich, beständig und auch in genügender Weise verkündet worden ist“ (DLd 1.12.5).
3. ELEMENTE EINER OBLIGATIONENLEHRE BEI THOMAS VON AQUIN UND SUÁREZ Eine Obligationenlehre des Gesetzes muss in erster Linie Antwort geben auf die Frage, worin der Grund gesetzlicher Verpflichtung besteht oder, anders gesagt, warum der Gesetzesadressat seine Handlungen gesetzeskonform auszuführen hat. Fragt man so, dann zeigt sich, dass Thomas’ eingliedriger, intellektualistischer Gesetzesbegriff die anspruchsvollere, aber der zweigliedrige Gesetzesbegriff bei Suárez die modernere Konzeption der gesetzlichen Verpflichtung darstellt. Bei allen Unterschieden im Einzelnen sind sich Thomas und Suárez darin einig, dass dem bloßen Machtwillen, wie er seinen Ausdruck im ungerechten, tyrannischen Gesetz findet, nicht die dem Gesetz eigentümliche Verpflichtungskraft zukommt (ST I-II, 92, 1 ad 4; ST I-II, 93, 3 ad 2; DLb 2.20.2: 141; DLd 1.9.20). Ein solcher eingliedriger voluntaristischer Gesetzesbegriff kann nach beiden Denkern keine Gesetzeskraft beanspruchen.
Gesetz und Verpflichtung in Suarez’ De Legibus
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Für ein angemessenes Verständnis der Obligationenlehre ist eine Kenntnis der Struktur von Handlungen notwendig. Thomas und Suárez gehen übereinstimmend davon aus, dass Gesetze auf freiwillige Handlungen des Menschen als vernunftbegabten Wesens einwirken (ST I-II, 91, 2 ad 3; DLd 1.3.2; DLd 1.4.2).10 Die basale Struktur solcher Handlungen, die schon Aristoteles aufgezeigt hat, besteht darin, dass ein als Gut vorgestelltes Ziel mit dafür ausgewählten Mitteln angestrebt wird. Die Mittel werden gegeneinander abgewogen in einem Prozess, an dessen Ende die Handlungsentscheidung steht. Während für Suárez die dem Willen zugeschriebene Entscheidung über das „Ob“ der Handlung das letzte Moment vor der eigentlichen Ausführung ist, hat bei Thomas der Verstand das letzte Wort, indem er das sog. imperium der eigentlichen Handlung vorordnet: „Denn kraft dessen, daß einer ein Ziel will, gebietet die Vernunft hinsichtlich dessen, was zum Ziel hinführt“ (ST I-II, 90, 1 ad 3; siehe auch ST I-II, 17, 1c). Die Bedeutung dieses von Suárez als überflüssiges „Gedankenprodukt“ bezeichneten Moments (DLd 1.5.6) lässt sich wohl am ehesten mit dem Begriff des Handlungsentwurfs erfassen, das heißt der Vorstellung eines Plans, in dem Mittel und Zweck aufeinander abgestimmt sind.11 Diese rationale Zweck-MittelBeziehung bleibt als Handlungsentwurf während der tatsächlichen Ausführung gegenwärtig und wirkt somit handlungsbestimmend. Mit dem Moment des imperiums lässt sich jetzt auch die Verpflichtung durch ein Gesetz erklären. Hier wird das in Gesetzesform verkündete imperium des Herrschers zum je individuellen Handlungsentwurf des Gesetzesadressaten: Der Handelnde begreift das – kraft Ableitungszusammenhangs von der lex aeterna, dem normativen Fluchtpunkt der Schöpfungsordnung –, menschliche Gesetz als ein vernünftiges und sieht es wie ein eigenes imperium an (ST II-II, 50, 2c; ST II-II, 50, 2 ad 3; ST II-II, 47, 12c). Allerdings macht Thomas eine wichtige Einschränkung bezüglich der einforderbaren Vernünftigkeit des Gesetzes: „Soweit selbst in einem ungerechten Gesetz etwas dem Gesetz Ähnliches gewahrt bleibt im Hinblick auf die ordnungsgemäße Vollmacht dessen, der das Gesetz erlässt, soweit leitet auch das sich vom ewigen Gesetz her (...)“ (ST I-II, 93, 3 ad 2).
Die Vernunft führt, so Thomas, dahin, „dass man dem Gebot eines Gesetzes aufgrund von irgend etwas beipflichtet“ (ST I-II, 92, 2c). Obzwar Thomas den Willen als Entscheidungsinstanz anerkennt – denn schließlich muss auch das vernünftige imperium gewollt werden –, kommt damit als entscheidende Bedingung für die Möglichkeit eines Gesetzes, den Adressaten zu verpflichten, nur die Einsicht in die Vernünftigkeit des Gesetzes und das Zueigenmachen des imperiums in Frage. Die Verpflichtungskraft des Gesetzes besteht für Thomas damit letztlich in einer substantiellen, gesetzesimmanenten Notwendigkeit (vgl. ST I-II, 99, 1c), die keines äußeren Anstoßes mehr bedarf.
10 11
Vgl. Dazu Städtlers ersten Beitrag in diesem Band. Vgl. dazu und zum Folgenden die ausführliche Darstellung bei FINNIS, John, Natural Law and Natural Rights, Oxford 2000 (reprint), S. 339-341.
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Eine ganz andere Erklärung der Verpflichtung gibt Suárez. Es ist bereits deutlich geworden, dass Suárez zwischen dem gesetzlichen Regelungsgegenstand, der die Form eines sittlichen Feststellungsurteils (z.B. „Es ist nicht gut, jemanden zu verletzen“) annimmt, und der Verpflichtung („Du bist dazu verpflichtet, Verletzungen anderer zu unterlassen“) keine Implikationsbeziehung sieht. Der gesetzgeberische Verpflichtungswille entspricht, handlungstheoretisch betrachtet, der erwähnten Entscheidung über das „Ob“ einer bestimmten Handlung. Suárez denkt den Verpflichtungswillen als einen in der Person des Gesetzgebers institutionalisierten Willen, der für seine Wirksamkeit rein formalen Anforderungen zu genügen hat: Erstens muss der Gesetzgeber kraft seiner Gesetzgebungskompetenz handeln (DLd 1.8.8; DLd 1.8.3), zweitens muss der Verpflichtungswille tatsächlich gebildet werden (DLd 1.4.7-8), drittens muss eine Über/Unterordnungsbeziehung zwischen Verpflichtendem und Verpflichtetem bestehen, da Suárez eine Verpflichtung unter Gleichen für undenkbar hält (1.8.3), und viertens muss dieser Wille nach außen kundgegeben werden (DLd 1.11.6). Das Vorliegen dieser Bedingungen ist für die gesetzliche Verpflichtungskraft notwendig, allerdings kann die Verpflichtungskraft durchbrochen werden bei evidenter Ungerechtigkeit des Gesetzes, wobei Suárez zwischen „Ungerechtigkeit des Inhalts“ und „Ungerechtigkeit in der Form des Gesetzes“ unterscheidet: „Steht in der ersten Variante (der materiellen Ungerechtigkeit, T.A.) die Ungerechtigkeit fest, so darf aus keinem Grund gehorcht werden, nicht einmal um der Vermeidung irgendeines Schadens oder Ärgernisses willen. ...Was die zweite Variante (der formellen Ungerechtigkeit, T.A.) betrifft, so darf der Adressat, auch wenn das Gesetz von sich aus nicht verpflichtet, ihm doch, wenn er es will, Gehorsam leisten“ (DLd 1.9.20).
Für die Verpflichtetenseite ist bedeutsam, dass eine Zustimmung (acceptatio) oder auch nur eine Einsicht in die Notwendigkeit des Gesetzes durch den Adressaten für das Bestehen der Verpflichtung keine Rolle spielt, denn der Wille des Herrschers sei „aus sich heraus“ wirksam (DLd 1.4.12; DLd 1.11.7). Eine Vertragskonzeption der Verpflichtung kommt für Suárez daher von vornherein nicht in Frage. Das verkündete Gesetz gelangt durch einen bloßen Verstandesakt in das Rechtsbewusstsein der Adressaten. Dieser Akt ist erforderlich, „um dem Willen das Gesetz vorzustellen und unmittelbar nahe zu bringen“ (DLd 1.4.5). So komme das Gesetz dem Willensakt des ihm Unterworfenen zuvor und verpflichte ihn (DLd 1.4.5). Suárez begründet seine Obligationenlehre also anders als Thomas nicht mit der Vernünftigkeit des Gesetzesinhalts, sondern mit der Überlegenheit eines institutionalisierten Gesetzgeberwillens. Auch wenn Suárez anders als die späteren Rechtspositivisten eine inhaltliche Verfügbarkeit und Regelungsoffenheit des Rechts nicht behauptet, sondern im Gegenteil für eine weitgehende materielle Bindung des Gesetzgebers an die Gebote Gottes und die rechte Vernunft eintritt, so ist die Modernität, die aus einer vom Regelungsgegenstand emanzipierten Obligationenlehre resultiert, unübersehbar.
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4. FOLGEN FÜR DAS NATURGESETZ Hat sich Suárez’ zweigliedriger Gesetzesbegriff für das positive menschliche Gesetz, das einen nicht naturrechtlich bestimmten Inhalt hat (etwa die Höhe einer Steuerabgabe), als plausibel herausgestellt, so besteht ein ernsthaftes Problem für die Anwendbarkeit dieses Gesetzesbegriffs auf das Naturgesetz (lex naturalis) selbst. „Naturgesetz“ ist für Suárez das Gesetz, „welches dem menschlichen Geist dazu innewohnt, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden“ (DLd 1.3.9). Das Naturgesetz enthält das Urteil der Vernunft über die Entsprechung von sittlicher Handlung und menschlicher Natur.12 Es umfasst also diejenigen Normen, die sich aus dem Wesen des Menschen ergeben und die „eine von selbst einleuchtende, offensichtliche Gutheit an sich haben“ (DLd 2.7.4). Das Problem besteht darin, dass – soll Suárez’ zweigliedriger Gesetzesbegriff auch für das Naturgesetz Geltung beanspruchen dürfen – ein Verpflichtungswille einer übergeordneten Instanz ausweisbar sein muss, der zu den Feststellungsurteilen über an sich gute bzw. böse Handlungen hinzutritt. Die Begründung der Verbindlichkeit, ja der Gesetzescharakter des Naturgesetzes überhaupt war zu Suárez’ Zeiten hoch umstritten. Bekannt wurde Suárez’ Auseinandersetzung mit seinem Ordensbruder Gabriel Vásquez de Belmonte.13 Suárez referiert die Position des Vásquez’ zur Verbindlichkeit des Naturrechts im fünften Kapitel des zweiten Buches wie folgt: „Grundlage seiner These ist, dass es gewisse Handlungen gibt, die aus ihrer Natur heraus derart in sich schlecht sind, dass sie in keiner Weise in ihrer Schlechtigkeit von einem äußeren Verbot abhängen, auch nicht von einem göttlichen Urteil oder Willensakt, und dass dementsprechend andere Handlungen so in sich gut und ehrenvoll sind, dass sie mit dieser Ausstattung gleichfalls in keiner Weise von einer äußeren Ursache dazu bestimmt sind“ (DLd 2.5.2).
Die Annahme eines gesonderten Verpflichtungswillens lehnt Vásquez schon aufgrund seines intellektualistischen Gesetzesverständnisses ab. Speziell für das Naturgesetz gelte darüber hinaus, dass es – da einige Handlungen schon unabhängig von Gottes Willen oder Beurteilung böse seien – nur in einem sehr eingeschränkten Sinn Gesetzescharakter aufweise und eher eine Regel oder „Richtschnur“ für gute bzw. böse Taten sei.14 In ähnlicher Weise behauptet Gregor von Rimini, dass das Naturgesetz lediglich eine „lex indicans“ darstelle (vgl. DLd 2.6.3). Der entscheidende Punkt, ob die Inhalte des Naturgesetzes nicht bereits ihr Geboten- bzw. Verbotensein implizieren, wird intensiv diskutiert. Da Suárez eine rein voluntaristische Naturrechtskonzeption wie die Wilhelm von Ockhams strikt
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ROMMEN 1947 (Fn. 1), S. 64. Dazu SPECHT, Rainer, Zur Kontroverse von Suarez und Vasquez über den Grund der Verbindlichkeit des Naturrechts, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 45 (1959), S. 235255. SPECHT, Rainer, Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik, Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 86-113 (106).
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ablehnt,15 gerät er in Begründungszwang, weswegen die intrinsische Gut- bzw. Schlechtheit von gewissen Handlungen für eine Verpflichtung nicht hinreicht. Suárez nennt zwei Argumente: Erstens ist für ihn die Gut- bzw. Schlechtheit gewisser Handlungen nur ein Grund, warum sie von Gott durch das Naturgesetz geboten oder verboten sein kann. Ein und dieselbe Handlung kann aus mehreren Gründen geboten oder verboten sein; Suárez nennt als Beispiel die Verpflichtung aus dem Naturgesetz als echtem göttlichen Gesetz und dem Sittengesetz (DLd 2.6.12). Denkbar ist aber auch eine Verpflichtung aus positivem Gesetz neben der naturgesetzlichen, wenn das positive Gesetz eine Umsetzung des natürlichen Gesetzes enthält (dazu DLd 2.16.5). Zweitens führt die Einsicht in die Inhalte des Naturgesetzes dazu, dass eine Verpflichtung notwendig mitgedacht werden muss, denn da in diesem Fall Gott der Gesetzgeber ist, können sein Urteil und die menschliche Nicht-Verpflichtung nicht widerspruchsfrei gedacht werden; Gott wolle die Menschen auch zur Befolgung der Gebote der rechten Vernunft verpflichten (DLd 2.6.13). Suárez’ Argumentation ist deutlich getragen von seiner – schon im Titel De Legibus ac Deo Legislatore hervortretenden – Intention, Gott als den obersten Gesetzgeber aller Gesetze herauszustellen. Das erste Argument der Möglichkeit einer Überdetermination menschlicher Handlungen durch doppelte Verpflichtungen, liefert keine positive Begründung für das Problem des Hinzutretens eines göttlichen Verpflichtungswillens. Das zweite Argument besitzt Plausibilität nur dann, wenn man die hier von Suárez unterstellte Wesen-GottesBegründung für zulässig hält. Das Verdienst des Suárez ist es, die Rolle des Gesetzgebers und damit die Bedeutung der Verpflichtung des Gesetzes für die Moderne in den Blick genommen zu haben.16 An der gewissen Eigenständigkeit der Verpflichtungsdimension wird die rechtsphilosophische Diskussion des Gesetzes von nun an nicht mehr vorbeisehen können. Es zeigt sich einmal mehr, dass Suárez’ Denken mit Recht als Brücke zwischen Mittelalter und Neuzeit verstanden werden darf.
BIBLIOGRAPHIE Quellen: Thomas von Aquin, Summa theologica, lateinisch deutsch, Graz e. a. 1933. Suarez, Francisco, Tractatus de legibus et Deo legislatore. [Liber I - IV]. Edicion critica bilingue, Madrid 1971 – 1981. (Zit. DLb.) Suarez, Francisco, Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, Brieskorn, Norbert (Hrsg.), Freiburg 2002. (Zit. DLd.)
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Argument: Der erste Grund für die Schlechtigkeit könne nicht vom Verbot ausgehen, da ja die Wirkung nicht der Grund ihrer Ursache sei (DLd 2.6.11). Die Tatsache, dass eine Handlung gut oder schlecht ist, könne nicht durch ihr Erlaubt- bzw. Verbotensein erklärt werden (vgl. BRIESKORN, in: SUÁREZ, Abhandlung, S. 758). Vgl. Dazu den Beitrag BRIESKORNs in diesem Band, Abschnitt 4.3.
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Literatur: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen: 2002. Borsche, Tilmann: ‚Intellektualismus’, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Band 4, Darmstadt 1976, S. 439-444. De Vries, Josef: Grundbegriffe der Scholastik, Darmstadt, 1983. Finnis, John: Natural Law and Natural Rights, Oxford 2000 (reprint). Honnefelder, Ludger: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hrsg. von Jürgen Miethke, Klaus Schreiner, Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1994, S. 197-213. Ilting, Karl-Heinz, ‚Naturrecht’, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Konze, Reinhart Koselleck, Band 4, Stuttgart 1978, S. 245-313. Knebel, Sven K., ‚Voluntarismus’, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 11, Darmstadt 2001, S. 1143-1145. Rommen, Heinrich, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, München 21947. Soder, Josef, Francisco Suárez und das Völkerrecht. Grundgedanken zu Staat, Recht und internationalen Beziehungen, Frankfurt am Main 1973. Specht, Rainer: Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik. Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 86-113. Specht, Rainer: „Zur Kontroverse von Suarez und Vasquez über den Grund der Verbindlichkeit des Naturrechts“. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 45 (1959), S. 235-255.
Manfred Walther, Hannover
FACULTAS MORALIS DIE DESTRUKTION DER LEGES-HIERARCHIE UND DIE AUSARBEITUNG DES BEGRIFFS DES SUBJEKTIVEN RECHTS DURCH SUÁREZ EIN VERSUCH1
ABSTRACT: In restricting the term ‘law’ in the strict sense to its deontological meaning, Suárez rejects the equivalence of the terms ‘lex’, ‘mensura’, ‘ars’ etc. as found in Thomas Aquinas. From this it follows that lex aterna is law only in a metaphorical sense. And as man has no direct access to the eternal will of God, he can recognize the natural law as conforming to his nature and its obligatory force by reason alone - without any reference to the will of God. Suárez thus facilitates the secularisation of the natural law theory. As the unchangeability of natural law implies that its contents can be completely acknowledges by theoretical reasoning alone, Suárez anticipates what later will be called ‘Begriffsjurisprudenz’. As corporal integrity, freedom of disposing of how to make use of one’s faculties and having access to the means of preserving one’s life are natural rights with which everybody is endowed and which to hurt is forbidden by natural law, Suárez elaborated a strong notion of basic universal subjective rights which nobody can ever completely be alienated of, even by state formation. Due to the distinction of positive obligatory and but permissive laws of nature which are obligatory only as long as their objects are not removed by human will according to human necessities, there is a wide space for instituting private property and personal political dominium. The contents of lex humana is – seen from the point of view of lex naturalis – contingent and positive from which it follows that human law has its obligatory force from human will alone, either via custom or because it has been set by an authority which has been established by the consent of a free people. Suárez thus dissolves the legal hierarchy as elaborated by High Scholasticism and lays ground to what has later been judged to be a genuine achievement of Protestantism.
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Angesichts des Umfangs der Werke von Suárez sowie ihrer noch nicht überblickbaren Genese und der möglichen Modifikationen seiner Lehre (vgl. V. ABRIL CASTELLIO, L’obligation politique chez Suárez. Bilan et perspectives, Archives de Philosophie 42 (1979), S. 179203,bes. S.184-189) kann die hier vorgelegte Interpretation nicht beanspruchen, etwas Abschließendes zur Thematik vorzulegen. Auch die Beschränkung auf De Legibus vermag angesichts des Gesamtumfangs dieses Werkes – die Bücher 1-4 füllen in der Ausgabe des Cor pus Hispanorum de Pace (in acht Bänden) mehr als 1.600 Seiten - das Tentative dieser Interpretation nicht zu beseitigen.
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1. KONTEXT UND WISSENSCHAFTSSYSTEMATISCHER ORT DER RECHTSLEHRE DES SUÁREZ Zwischen den Werken Thomas von Aquins und denen Francisco Suárez’ liegen mehr als 200 Jahre.2 In dieser Zeit hat sich die Rezeption des Römischen Rechts vollzogen, die sog, nominalistische Schule (Duns Scotus, Ockham) hat ihren Einfluss geltend gemacht, der Renaissance-Humanismus war entstanden, die Anfänge der mathematischen Naturwissenschaft sind zu erkennen; vor allem aber ist die Glaubensspaltung der westlichen Christenheit eingetreten, und die Kolonisierung der neu entdeckten Länder und Völker Mittelamerikas ist in vollem Gange.3 Das alles nötigt einen Denker, welcher der Tradition zu folgen bemüht ist, dazu, in einer Weise auf diese Änderungen zu reagieren, die ihre Innovationen, sofern sie sie nicht explizit macht, in Form mannigfacher Differenzierungen vornimmt und mit einer auflösungsstärkeren Begrifflichkeit arbeitet, in deren Licht die Tradition nicht selten de facto verabschiedet wird. Das gilt, gemessen an der von Thomas ausgearbeiteten Lehre, sowohl für den Begriff des Gesetzes und die sich daraus ergebende Folge einer Auflösung der LegesHierachie als auch für die Erarbeitung eines folgenreichen neuen Begriffs des Rechts als einer „facultas moralis“ im Sinne des Begriffs des subjektiven Rechts. Suárez definiert das Gesetzes als einen Willensakt, der eine Verpflichtung zum Handeln auferlegt, also im deontologischen Sinne, der die (Willens-) Freiheit des Adressaten als Wahlfreiheit zum notwendigen Komplement hat. Er verabschiedet damit (1) einen Begriff vom ewigen Gesetz, der sich in der Tradition des Thomas auf alles (von Gott) Geschaffene oder zumindest auf alles Lebendige bezieht,4 und arbeitet (2) einen Begriff des subjektiven Rechts als der freien Verfügungsgewalt (dominium) des Menschen über das Seine, seine Freiheit selber eingeschlossen, aus. 2
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L. PEREĕA-VIDAL, Genèse du raisonnement juridique chez Francisco Suárez. Logique et Ana lyse 14 (1971), S. 203-208 (203-205), setzt als Entstehungszeit der definitiven Fassung von DL die Zeit von 1607 – 1610 an. Dieser Fassung liegt eine Vorlesung zu Grunde, die sich an Legisten, Kanonisten und Theologen richtete. Daraus erklärt sich, dass Suárez umfangreiche Erörterungen Problemen gewidmet hat, die die Abgrenzung des Kirchen- und Ordensrecht vom Recht der politischestaatlichen Gemeinschaft (z. B. die Art der Verbindlichkeit der sog. „evangelischen Räte“ wie Besitzlosigkeit und Keuschheit im Verhältnis zu den Naturgesetzen) oder die Abgrenzung des „Gnadenrechts“ vom politisch-staatlichen betreffen – ein erster Grund für den Umfang des Werkes. S. den Beitrag von BRIESKORN in diesem Band, Abschnitt 4.3. Die ausführliche Berücksichtigung dieser zeitgenössischen Kontroversen in Verbindung damit, dass Suárez sich mit der gesamten Überlieferung, von der griechischen Antike über die Bibel und die Kirchenväter bis zum Römischen Recht und der Theologie seit der Hochscholastik intensiv auseinandersetzt, ist die zweite Ursache für den ungeheuren Umfang des Buches. Die Folge ist, dass die Integration dieses gesamten Traditionsbestandes in seinen Wahrheitsmomenten eine Fülle von begrifflichen Differenzierungen hervortreibt, so dass Suárez’ eigene Position und die sie tragenden Argumente häufig nur mühsam herausdestilliert werden können. S. den Beitrag von METZ in diesem Band.
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Ich versuche in diesem Artikel, die Gründe genauer zu bestimmen, die ihn zu diesem veränderten Begriff des Gesetzes ‚gezwungen’ haben, und zugleich zu zeigen, dass und inwiefern sich aus seiner Problemlösung ein gegenüber der Hochscholastik neuer, zukunftsweisender Begriff des subjektiven Rechts ergibt und wie das Verhältnis von Naturgesetz und subjektivem Recht bestimmt wird. Suárez lässt sich dabei, wie er im Vorwort ausführt, von der Absicht leiten nachzuweisen, dass „eine Erörterung der Gesetze in den Arbeitsbereich der Theologie fällt“ (DLd Vorwort, 1: 15), nämlich Teil der Moraltheologie ist. Das gilt nicht nur für die Gebote „für das übernatürliche Leben“, sondern auch für das, „was die Natur verbietet, gebietet oder erlaubt“, und für die politische Theorie, „wobei sie sich ja zweifelsfrei eines Lichtes aus größerer Höhe […] bei der Gesetzeserörterung bedienen kann“ als die Moralphilosophie, der wiederum die Jurisprudenz untergeordnet ist, die „nichts anderes als eine gewisse Anwendung bzw. Ausdehnung der Moralphilosophie ist, nämlich zu dem Zweck, die politische Umgangsweise des Gemeinwesens zu lenken und zu leiten“ (DLd Vorwort, 1.3: 18-19). Der ‚Mehrwert’ der Moraltheologie besteht darin, dass sie „sogar das Naturrecht unter der Voraussetzung [untersucht], dass es der übernatürlichen Ordnung unterstellt ist und von ihr eine stärkere Kraft empfängt, als sie selbst zu geben vermag“ – mit der Pointe, dass sie „klarstellt, ob und welche Verpflichtungen dem Gewissen aus den staatlichen Gesetzen entstehen“ (DLd Vorwort, 1.3: 21) -, so dass alles sittlich relevante Verhalten letztlich der Beurteilung und Kontrolle durch die Kirche unterliegt. Besondere Aufmerksamkeit widmet Suárez dabei der Abgrenzung seiner Rechtstheologie (incl. seiner politischen Theorie) sowohl von der lutherisch-reformatorischen Lehre von der unmittelbar göttlichen Einsetzung aller Obrigkeit, welche dieser also eine unmittelbar religiöse Dignität verleiht, als auch von der Lehre von der Befugnis der Kirche, Länder und Völker zu ‚verschenken’ (spanischportugiesischer Kolonialismus). Das geschieht in Form einer Lehre von der auf menschlichem Willen beruhenden, insofern rein natürlichen Entstehung und Ausformung der politischen Ordnung – mit der Pointe, dass gerade dadurch die oberste Kontrollfunktion der Kirche auch in politicis, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, gewahrt bleibt, weil sie auf das höhere, nämlich übernatürliche Ziel ausgerichtet ist und zudem kraft göttlicher Einsetzung nicht der Fehlbarkeit menschlicher Herrschaft unterliegt. Es wird zu prüfen sein, ob und inwiefern die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht im Gegensatz zu dieser Absicht bereits alle diejenigen ‚Sollbruchstellen’ enthält, die dann Ansatzpunkte für verschiedene in der Neuzeit wirkungsmächtige säkulare rechtsphilosophische Konzeptionen darstellen.5 5
Ich teile also die Ansicht derer, die in Suárez keinen Nachfolger der thomasichen Gesetzesund Rechtslehre sehen, sondern einen Denker, der in erheblichem Ausmaß der neuzeitlichen Moral- und (Natur-) Rechtsphilosophie bis hin zu Kant vorgearbeitet hat (s. den Beitrag von Schnepf in diesem Band). Aber ich kann nicht in die Klage derer einstimmen, die darin nichts als einen vermeidbaren Abfall vom ‚rechten Wege’ sehen (vgl. die zahlreichen Polemiken Michel Villeys, z. B. in Michel VILLEY, La formation de la pensée juridique moderne. Cours d’histoire de la philosophie du droit, nouvelle éd. corr., Pari, 1975, S. 368-395), sondern
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2. DER BEGRIFF DES GESETZES IM EIGENTLICHEN SINNE DIE BESCHRÄNKUNG DES GESETZESBEGRIFFES AUF DEONTOLOGISCHE; EINE VERPFLICHTUNG AUFERLEGENDE ANORDNUNGEN UND DIE FOLGEN FÜR DIE FOLGEN FÜR DIE HALTBARKEIT DER LEX AETARNA-LEHRE Suárez beginnt seine Erörterungen zum Begriff des Gesetzes in De Legibus (DL 1.1), aus denen sich eine gegenüber der scholastischen Tradition neue Definition des Begriffs des Gesetzes ergibt, mit einer kritischen Erörterung von vier verschiedenen Bedeutungen von ‚lex’, die bei Thomas promiscue gebraucht wurden;6 drei davon sind schon bei Marsilius unterschieden,7 so dass sich diese Erörterung auch als Auseinandersetzung mit den Folgen der von Marsilius herausgestellten Mehrdeutigkeit des Terminus lesen lässt. Er weist im Ergebnis alle bis auf einen, nämlich den deontologischen Begriff, als uneigentlich, metaphorisch oder analog ab: a) Versteht man unter ‚lex naturalis’ „jenes Gesetz, welches allen Dingen zukommt und aus jener Neigung [inclinatio] heraus wirkt, die ihnen vom Urheber der Natur eingegeben ist“,8 so „handelt es sich […] um eine metaphorische9 Verwendung“ des Terminus, da diese Geschöpfe „der Vernunft entbehren“ und daher „auch nicht eigentlich des Gehorsams fähig“ sind – beides konstitutive Merkmale des authentischen Gesetzesbegriffes. Es handelt sich in allen diesen Fällen vielmehr um „naturnotwendige[.] Abläufe (necessitas naturalis)“ (DLd 1.1.2: 27-28), die sich aus der spezifischen, freilich von Gott geschaffenen Natur der Dinge notwendig ergeben (DLd 2.3.7: 381; vgl. 2.3.4: 360f.). Suarez spricht daher an anderer Stelle auch nicht mehr von Neigungen (inclinationes), sondern präziser im Sinne seiner Auffassung von natürlichem Instinkt (instinctu naturali) (DLd 1.3.8).10 Von „Gehorsam“ kann also bei ihnen nicht die Rede sein; „es handelt sich eher um eine Unabänderlichkeit von Natur aus“ (DL 2.2.13: 370). Das gilt erst recht für diejenigen geschaffenen Dinge, welche „des organischen Lebens entbehren und die nicht frei, sondern aus Naturnotwendigkeit heraus ihre Bewegungen vollziehen“ (DLd 2.3.10: 367).
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möchte zeigen, dass sich diese ‚Neuerungen’ auf dem Weg zur Moderne aus einer gegenüber der Hochscholastik in vielfacher Weise veränderten Problemlage, auch und vor allem hinsichtlich des Begriffs vom Naturgesetz, ergeben (in ähnlichem Sinne sehr erhellend Pauline C. WESTERMAN, The Disintegration of Natural Law. Aquinas to Finnis, Leiden e. a. 1998; vgl. zu Westerman Manfred WALTHER, Folgeprobleme der Selbstauflösung der Naturgesetz lehre zu Beginn der Neuzeit, Nederlands Tijdschrift voor Rechtsfilosofie & Rechtstheorie 29 (2000), 150-163). S. den Beitrag von REIMERS in diesem Band. S. den Beitrag von WAECHTER in diesem Band, Das ist die erste der von Marsiluis unterschiedenen Bedeutungen von ’lex’. Alle Kursivierungen in den Suárez-Zitaten sind meine Hervorhebungen. Auch die in runde Klammern gesetzten und kursivierten lateinischen Wörter habe ich eingefügt, während die in Normalschrift in eckige Klammern gesetzten sich in Brieskorns deutscher Übersetzung finden. WESTERMAN 1998 (Fn. 5), S. 89.
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„Nichts anderes ist über jenes Gesetz zu sagen, insofern es für geistige Geschöpfe Festlegungen traf, dass in ihnen Prozesse ablaufen, welche eine freie Mitarbeit nicht notwendig machen. Gemeint sind Abläufe, gemäß denen […] jene als biologische Einheiten durch natürliche Notwendigkeit bewegt werden“ (DLd 2.3.8: 381; vgl. DLd 1.1.4: 29-30). Spricht man also diesbezüglich von einer Anordnung durch das ewige Gesetz (lex aeterna), dann „versteht [man] es ja metaphorisch“ (ebd.; vgl. DLd 2.3.13: 370). Die Wirkung des ewigen ‚Gesetzes’ ist daher „ weder Wirkung eines Gesetzes im eigentlichen Sinne noch bedarf sie zu ihrer Erklärung mehr als einer rein naturphilosophischen (philosophicam) Erörterung“ (DLd 2.4.1: 393). Suárez arbeitet auch, im Zusammenhang der Begründung der Unveränderlichkeit der lex aeterna (s.u. Abschnitt 5), die Strukturgleichheit zwischen „physikalischen und naturrechtlichen Schlussfolgerungen“ bezüglich der Bedingungen der „Wahrheit“ ihrer „Aussagen“ heraus: Wie die „naturrechtlichen Schlussfolgerungen“ werden auch die „physikalischen […] nicht uneingeschränkt aus den Prämissen gefolgert. Vielmehr stehen sie unter Einschränkungen, wie etwa der, dass nur beim Vorliegen bestimmter Ursachen das bestimmte Ergebnis erzielt wird, immer unter der Bedingung, dass jene Ursachen nicht auf Hindernisse stoßen“ (DLd 2.13.9: 533). Indem Suárez das Vorliegen bestimmter Randbedingungen, also die Wenn-dann-Struktur (DLd 2.132: 523), und zwar unter ceretis-paribus-Bedingungen, als Wahrheitsbedingung „physikalischer Aussagen“ angibt, beschreibt er also bereits wissenschaftstheoretisch exakt die Struktur von Naturgesetzen im deskriptiven Sinne, freilich ohne ihre mathematische Fassung, muss ihnen aber wegen der Reservierung des Terminus für präskriptive Aussagen diese Bezeichnung verweigern.11 Bezüglich des Menschen ist also die Dimension des ens physicum, das der Naturnotwendigkeit unterliegt, von der des ens morale zu unterscheiden, das Vernunft und jedenfalls einen Bereich freier Handlungen – im Sinne der Wahlfreiheit (DLd 1.6.23: 453; s. u., Definitionsmerkmal [3] des 11
Da Suárez die Notwendigkeit, wenn auch die moralische (s. u.), als Eigenschaft auch des Gesetzes im engeren Sinne herausstellt und mit der lex aeterna einen beide Bedeutungen übergreifenden Begriff verwendet, vertritt Schnepf (s. seinen Beitrag in diesem Band) die These, dass Suárez der Ausbildung des wissenschaftlichen Gesetzesbegriffes stark vorgearbeitet habe. Ohne Zweifel ist Suárez sich der Existenz solcher Gesetzmäßigkeit von Naturabläufen in einem Maße bewusst geworden, das aufhorchen lässt. Andererseits könnte sich aber die Abweisung des Gebrauchs des Gesetzesbegriffs in Bezug auf die vorvernünftige Natur als eines bloß metaphorischen, d. h. die Einschränkung des Gebrauchs dieses Terminus auf an einen Adressaten gerichtete verbindliche Vorschriften, also auf Gesetze im deontologischen Sinne, als Hindernis einer solchen Übertragung ausgewirkt haben. Vgl. zu den Hindernissen, die der Einführung eines deskriptiven Gesetzesbegriffes noch im 17. Jahrhundert im Wege standen, auch Gerd GRAßHOFF / Hubert, TREIBER, Naturgesetz und Naturrechtsdenken im 17. Jahrhundert: Kepler – Bernegger – Descartes – Cumberland, Baden-Baden 2002.Bezüglich der Genese des deskriptiven Gesetzesbegriffes bemerkt Spinoza 1670 bereits im Rückblick, dass „das Wort Gesetz auf natürliche Dinge anscheinend im übertragenen Sinne (per translationem) angewendet“ wird (Baruch de SPINOZA, Theologisch-politischer Traktat, Hamburg, 1976, 4. Kapitel, S. 66).
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Gesetzesbegriffs) - haben muss, um Adressat sittlicher Verpflichtung sein zu können.12 b) Schon näher an den authentischen Gesetzesbegriff heran kommt derjenige der Kunstfertigkeit (ars), denn sie ist „ein Werk der Vernunft“, dessen Maßstab (mensura) „in einem angemesseneren Sinne als Gesetz bezeichnet werden“ kann (DL 1.1.5),13 wie etwa bei den Regeln (regulae) des grammatikalisch richtigen Sprechens; allgemeiner gesagt, wird der Terminus ‚lex’ „auch im Bereich der bloßen Zweck-Mittel-Beziehungen und Kunstfertigkeiten“ gebraucht. Da diese aber hinsichtlich ihres Gegenstandes moralisch neutral sind, also auch „in schlechten Angelegenheiten vorkommen“ (DLd 1.1.1: 26, z. B. bei einem Terroranschlag. MW.), sind sie vom Begriffsumfang von ‚lex’ auszunehmen. Wie steht es aber mit jenem „Inbegriff der göttlichen Ideen […], durch welche die Dinge nach außen hin zur Entstehung gebracht werden“ und die z. T. auch als lex aeterna bezeichnet werden (DLd 2.3.2: 375)? Unter diesen „in Gott naturnotwendig vorhandenen Ideen“ befinden sich auch solche, die „sich auf die möglichen Dinge“ beziehen, so dass nur diejenigen Ideen als Kandidaten der lex aeterna in Frage kommen, die „als Urtyp [exemplar]“ der Schöpfung fungieren. Sie scheiden aber ebenfalls aus, „weil die Idee doch eher zum Ausgangspunkt und Muster des Handelns (principium operandi) im Schaffenden [artifecis] und weniger (!) zur Vorschrift und zum Anstoß für die Sache eingesetzt ist“ (DLd 2.3.3: 377; vgl. auch 2.3.10: 383-384). Also scheidet auch die Idee als Urtyp oder Musterbild der zu schaffenden Dinge aus dem Referenzbereich von ‚lex’ aus, da sie „die Funktion eines exemplarischen Vorbildes (rationem exemplaris) lediglich für Gott selbst“ hat, nicht jedoch sich „dem Gegenstand im eigentlichen Sinne auferlegt (imponitur)“ (DLd 2.3.9:.383-384), da die geschaffenen Dinge durch ihre Natur in ihrer Wirkungsweise determiniert sind.14 Damit sind mensura, regula, exemplar, die bei Thomas noch als Äquivalente für lex gebraucht werden können, aus dem Bedeutungsumfeld von ‚lex’ im eigentlichen Sinne ausgeschlossen. c) Schließlich können auch die Räte (consilia) – gemeint sind z. B. die Ratschläge des Evangeliums – nicht als Gesetze bezeichnet werden, da sie keine Verpflichtung auferlegen, wie das für den Gesetzesbegriff konstitutiv ist (DLd 1.1.7: 33 u. ö.). d) Aus dem Begriffsmerkmal, dass Gesetze verpflichten, ergibt sich ein weiterer Grund dafür, dass von einer lex aeterna im strikten Sinne nicht die Rede sein kann, denn dann würde diese lex ja auch Gott verpflichten, was mit seiner 12
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„[…] quia legis proprium est inducere vinculum et obligationem moralem; huius autem non sunt capaces nisi res intellecuales, et illae non in omnibus actibus suis sed in his quos libere operantur, quia omne esse morale pendet de libertate“ (DLb 2.2.11: 26; in DLd nicht enthalten). Das ist die zweite von Marsilius unterschiedene Bedeutung. Suárez hält dieselbe Reihenfolge bei seiner Erörterung ein. Die dritte und die vierte Bedeutung nach Marsilius unterfallen beide, da nur nach ihrem Zweck in natürliche und übernatürliche unterschieden, der von Suárez als einzig zutreffend betrachteten Bedeutung. Vgl. den Beitrag von Waechter in diesem Band. So auch WESTERMAN 1998 (Fn. 5), S. 88-89.
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absoluten Freiheit unverträglich ist, und außerdem existieren die Adressaten, an die sich die Verpflichtung richtet, nicht von Ewigkeit her (DLd 2.1.1: 344). Die eine Verbindlichkeit auferlegenden Gesetze können dennoch zutreffend als ewige Gesetze bezeichnet werden – wie das die Tradition fordert. Denn sie existieren in Gott, bevor er an die Schaffung der Welt und des Menschen geht, auch wenn sie ihre verpflichtende Kraft und damit ihren Gesetzescharakter im engeren Sinne erst mit und nach der Schaffung des Menschen gewinnen können. Denn sie richten sich ja per definitionem an einen Adressaten, müssen also diesem Adressaten verkündet worden sind - was dessen Existenz in der Zeit voraussetzt. Im Ergebnis ist also ein einheitliches Verständnis des ewigen Gesetzes als einer Vorgabe, an der sich alles Geschaffene in irgendeiner Weise orientiert, preis-gegeben. Bezüglich der untervernünftigen Geschöpfe hat Gott freilich durch seine providentia dafür gesorgt, dass sie kraft der ihnen eingeschaffenen ‚Mechanismen’ zweckgerecht ‚agieren’ – eine Art prästabilierter Harmonie.15 Im Zuge der kritischen Abgrenzung des authentischen Gesetzesbegriffes sind implizit auch bereits einige Merkmale des authentischen Gesetzesbegriffes erarbeitet: „’Gesetz’ [ist] [1] ein Maßstab der sittlichen Handlungen, so dass die Übereinstimmung mit ihm moralisch richtig ist“ (DLd 1.1.1: 31);16 es „ist [2] „nur dasjenige Gesetz ein Gesetz, welches eine Verpflichtung (obligatio) auferlegt“ (DLd 1.1.7: 33); daraus folgt: [3] „das Gesetz wird ausschließlich einem Lebewesen auferlegt, das frei handeln kann“ (DLd 1.3.2: 55) – „was „freier Verfügung unzugänglich ist, fällt nicht unter das Gesetz“, ebenso wenig das, „was schlichtweg unmöglich ist“ (DLd 1.9.17: 206) -, so dass nur mit Vernunft begabte Lebewesen, die sich „frei zwischen beiden Handlungen [das Gute oder das Schlechte zu tun. MW.] entscheiden“ können (DLd 2.6.23: 453), Adressaten des Gesetzes sein können (DLd 2.3.11), weil nur sie gehorchen können; [4] zur Gesetzgesetzgeber ist nur ein Höherstehender befugt, „dem Zwangsgewalt zusteht“ (DLd 1.8.2: 172), d.h. der „in der Lage sein“ muss, „Verpflichtungen auch durchzusetzen [efficax ad operandum]“ (DLd 2.4.5: 397). [5] das Gesetz muss „in genügender Weise verkündet (promulgata) worden“ sein (DLd 1.12.5: 255). Hinzu kommt, dass ein Gesetz [6] eine allgemeine Vorschrift ist in dem doppelten Sinne, dass sie sich nicht an einzelne, sondern an eine politische Gemeinschaft richtet (DLd 1.6.8: 129),
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Warum Suárez dennoch am Begriff der lex aeterna festhält, wird im Zusammenhang der Erörterung zur lex naturalis im 3. Abschnitt zu erörtern sein. Damit scheiden solche Vorschriften aus dem Referenzbereich von ‚lex’ im strikten Sine aus, die Ungerechtes anordnen, weil, so auch schon Thomas, „ein sittlich schlechtes Gesetz […] kein Gesetz [sei]“ (DLd 1.1.6: 32). Eine solche Anordnung nicht zu befolgen, ist daher auch kein Akt des Ungehorsams.
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nicht im kollektiven, sondern im distributiven Sinne (DLd 1.6.17: 141),17 und dass sie „inhaltlich gesehen auch allgemein gehalten“ ist (DLd 1.6.12: 135), und [7] „um des Gemeinwohls willen erlassen“ werden (DLd 7, Überschrift: 151) – nach Suárez das „allerwichtigste(.)“ Merkmal (ebd.).18 Damit ergibt sich folgende Definition des Gesetzes Als Gesetze im strikten Sinne sind also von Durchsetzungsmacht begleitete allgemeine Vorschriften oder Imperative eines dazu Befugten (Höheren) zu bezeichnen, die einem in einer Gemeinschaft19 lebenden vernunftbegabten und freien Wesen eine Verpflichtung zu sittlich richtigem Handeln bzw. zum Unterlassen unsittlichen Handelns um des Gemeinwohls willen auferlegen und ihm in ausreichender Weise bekannt gemacht worden sind. Nur in diesem Sinne deontologische Vorschriften sind Gesetze.20 Dieser Begriff des Gesetzes ist, wie Suárez gleich zu Beginn betont (DLd 1 Vorbemerkung: 25), so angelegt, dass er alle Arten von Gesetzen umfasst, also sowohl das Naturgesetz als auch das positive göttliche wie menschliche Gesetz.
3. DAS EWIGE GESETZ (LEX AETERNA) Mit dieser Definition des Gesetzes erlegt Suárez sich eine große Beweislast dafür auf, überhaupt noch von einem ewigen Gesetz sprechen zu können, das als letzter Grund absoluter moralischer Verbindlichkeit gleichwohl unentbehrlich sei und im Innersten verpflichte, und wie es zu denken ist. Denn bei den göttlichen Gesetzgebungsakten handelt es sich (a) „um Außentätigkeiten und damit von notwendig zeitlichem Charakter“ (DLd 2.1.10: 349), ein Gesetz muss ferner (b) einen Adressaten haben, (c) als Befehl eine Herrschaftsbeziehung zu diesem Adressaten voraussetzen, (d) promulgiert – was alles die Schöpfung, also einen Akt Gottes in der Zeit, voraussetzt - und (e) absolut notwenig sein – letzteres ist bei keinem Gesetz der Fall (DLd 2.1.1d: 344). 17
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Wenn Suárez als Adressaten der lex naturalis, „welches sich durch das Licht der Vernunft einem jeden Menschen als Maßstab mitteilt“, „die Gemeinschaft des Menschengeschlechts“ angibt (DLd 1.6.18: 142), so widerspricht das der oben zitierten Bestimmung, dass Adressat eine politische – vollkommene, d. h. autarke - Gemeinschaft sei. Es sind vor allem die beiden zuletzt genanten Merkmale, die erkennen lasssen, dass Suárez sich in seiner als allgemein gemeinten Definition des Gesetzes vor allem am menschlichen Gesetz orientiert; s. dazu die vorige Anmerkung. Das Merkmal, dass der Adressat eine politische Gemeinschaft ist, ist in diese zusammenfassenden Definition nicht aufgenommen, da die lex naturalis sich, wie angeführt (Fn. 17), auf die gesamte Menschheit als „natürliche“ im Unterschied zur politischen als einer „künstlichen bzw. „erfundenen“ Gemeinschaft bezieht (s. DLd 1.6.18: 142). Die von Suárez selber im 12., alle erarbeiteten Bestimmungen zusammenfassenden Kapitel des 1. Buches angegebene Definition, das Gesetz „ist die eine Gemeinschaft betreffende Anordnung, die gerecht, verlässlich, beständig und auch in genügender Weise verkündet worden ist“ (DLd 1.12.5: 255), bezeichnet er selber daher zu Recht als „verkürzte(.) Form“ (ebd.).
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Suárez begegnet dieser mehrfachen Schwierigkeit, indem er ausführt, dass das ewige Gesetz nur diejenige Teilmenge (vgl. DLd 2.3.11: 385) der Ideen Gottes in Gestalt seiner Vorsehung - für die Schöpfung ist, die sich auf das ihrer Natur angemessene Handeln freier und damit des Gehorsams (wie des Ungehorsams!) fähiger Geschöpfte bezieht, das „von Seiten des Gesetzgebers [durch einen inneren Willensakt Gottes] […] erlassen wurde, um Gültigkeit für die ihm zugedachte Zeit zu haben“, d.h. „dass es im Bewusstsein des Gesetzgebers verbindlich festgelegt worden ist“ (DLd 2.1.11: 355). Denn zwar „ist nicht (zu) leugnen, dass in Gottes Verstand logischerweise zuerst praktische Urteile [dictamina practica] tätig werden. […] Diesen Urteilen kommt jedoch in Bezug auf den göttlichen Willen nicht das Wesen eines Gesetzes zu“, weil sie erstens „kein Gebot aufstellen […], sondern nur hinweisender Art sind, indem sie anzeigen (indicando), was von der Natur der Sache her in Ordnung ist“, zweitens aber auch deshalb, „weil sich in Gott der Sache nach Wille und Verstand nicht unterscheiden lassen“ (DLd 2.2.8: 364). Die Folge ist, „dass das ewige Gesetz niemals durch sich selbst und unabhängig von einem anderen Gesetz [dem natürlichen oder dem positiven, menschlichen oder göttlichen. MW] verpflichtet; es muss sich notwendigerweise mit irgendeinem anderen Gesetz verbinden, um eine in der Zeit wirksame Verpflichtung hervorzubringen“ (DL d 2.4.10: 403). Das bedeutet: Wirklichen Gesetzescharakter erhält die lex aeterna erst in Gestalt der lex naturalis, welche „sich im Menschen und nicht in Gott [befindet], da es zeitlich (temporalis) [Brieskorn: „irdisch“] und geschaffen ist; sein Ort liegt auch nicht außerhalb des Menschen“ (DLd 2.5.12: 417).21 Das ist auch deshalb so, weil „sich das ewige Gesetz nicht in direkter Weise mitteilt, sondern dass es entweder im Inhalt anderer Gesetze oder mittels deren [per] erkannt wird“ (DLd 2.4.9: 401).22 Damit aber ist nicht nur der einheitliche Begriff des ewigen Gesetzes der Tradition preisgegeben, sondern darüber hinaus auch der Sinn, in dem überhaupt von einem ewigen Gesetz gesprochen werden kann, in mehrfacher Hinsicht entscheidend eingeschränkt.
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Die Auseinandersetzung mit den einschlägigen Lehren der Tradition, die sich in DL 2.1.7-9 findet, lässt deutlich erkennen, dass die zitierten Autoren sich nach Suárez’ Ansicht mehrfach der Äquivokation schuldig gemacht haben, vor allem indem sie die Differenz zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit nicht beachtet oder zumindest nicht wirklich durchdacht haben. Die Folgen, die sich daraus für den Grund der Verbindlichkeit des Naturgesetzes ergeben, sind im nächsten Abschnitt zu ziehen.
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4. DAS NATURGESETZ (LEX NATURALIS) Die Bestimmung der lex naturalis als derjenigen Teilmenge der alles Geschaffene auf sein natürliches Ziel hinlenkenden lex aeterna, an welcher der Mensch als vernunftbegabtes Geschöpf in der Weise teilhat, dass er sie als Regel und Musterbild seines eigenen Handelns erfassen und sich an ihr orientieren kann, also diejenige Thomas von Aquins,23 ist Suárez durch seine Kritik am Gesetzescharakter der lex aeterna versperrt. Das Naturgesetz, das allererst, nun aber wirklich, so scheint es jedenfalls, alle Merkmale des Gesetzesbegriffes voll und ganz erfüllt, ist, von Gott her gesehen, die in der Zeit erfolgende Mitteilung des ewigen Gesetze an die Vernunft freier Wesen, vom Menschen her gesehen daher die Teilhabe am ewigen Gesetz (in der zweifach eingeschränkten Bedeutung) mittels des „Licht[s] der menschlichen Vernunft“ (DLd 2.5.1: 405). a) Sein Inhalt besteht aus (1) allgemeinen, evidenten Prinzipien wie „’Das Tugendhafte ist zu tun!’, ‚das Verwerfliche ist zu meiden’ […], ‚Was Du nicht willst, dass es Dir geschehe, darfst Du nicht einem anderen antun’24 etc.“ (DLd 2.7.5: 460-461; 2.7.2: 457458); (2) „detailliertere[n] und der Sache nach besondere[n] Prinzipien, die sich dennoch durch ihre Zielbestimmung zu erkennen geben, z. B. ‚Gerechtigkeit ist zu bewahren’“ (DLd 2.7.5: 461); (3) den aus diesen Prinzipien zu ziehenden „Schlussfolgerungen“, „wie ‚Die hinterlegte Sache (depositum) ist zurückzugeben’“ etc. (DLb 2.7.2: 458), die „sich zwar einsichtig von den natürlichen Prinzipien ableiten, sich jedoch erst durch Überlegung zu erkennen geben“ (DLd 2.7.5: 461).25 Das „Naturrecht [umfasst] sämtliche Vorschriften bzw. moralischen Prinzipien […], welche eine von selbst einleuchtende, offensichtliche Gutheit an sich haben, die zur Richtigkeit sittlichen Verhaltens notwendig ist“ (DLd 2.7.4: 459). b) Das Kriterium des naturgesetzlichen Charakters dieser Gebote ist die Natur des Menschen, so wie Gott sie geschaffen hat: Geboten sind solche Handlungen, die mit der Natur des Menschen übereinstimmen, ihr entsprechen. Dieser Maßstab ist für alle Menschen durch das Licht der Vernunft erkennbar, ist ihnen eingeprägt, so dass sie bezüglich der menschlichen Handlungen anhand dieses Maßstabes Feststellungsurteile darüber treffen können, was mit ihm übereinstimmt und was nicht. Das ist ein Akt theoretischer Urteilskraft (judicium). Ein solches Urteil hat daher nur anzeigenden (indicantem) Charakter. „Jenem Urteil kommt […] nicht der Charakter eines Gesetzes bzw. der des Verbotes zu. Vielmehr ist es bloße Mitteilung einer bereits geschehenen Feststellung darüber, 23 24
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S. den Beitrag von METZ in diesem Band. Man beachte, dass Suárez als naturgesetzliches Prinzip die negative Formulierung der Goldenen Regel verwendet. Im Zitat nennt Suárez zwar zunächst einige dieser Gebote als Beispiele dafür, was einige aus dem Geltungsbereich des Naturrechts ausnehmen, für ihn selber gehören sie aber zum Naturrecht. Zur näheren Begründung s. den folgenden Abschnitt.
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was als gut oder schlecht anzusehen ist“, d.h. die Handlung ist an sich „verwerflich“ und wird dafür [Brieskorn: als solches] erkannt“ (DLd 2.6.6: 429).26 Dieses „Ver-standesurteil, welches die Natur der Handlung anzeigt, [ist] keine Handlung, die einem Oberen vorbehalten ist, vielmehr kann sie auch von einem Gleich- oder sogar Untergeordneten stammen, der gar keine Vollmacht hat, jemanden zu verpflichten“ (DLd 2.6.6: 430). c) Welches ist dann aber der Grund der Verbindlichkeit, die für den Gesetzescharakter des Naturgesetzes konstitutiv ist? Das kann nach dem bisher Ausgeführten nur der Wille Gottes als eines Oberen über die Menschheit sein. Aber dieser Wille ist ja keinem Menschen direkt zugänglich, vielmehr „stoßen die Menschen auf das ewige Gesetz… [w]ährend ihrer Wanderschaft durch das Leben […] nur in dem, was an ihm teilhat, also in den gerechten irdischen und geschaffenen Gesetzen“ (DLd 2.6.9: 401). Die Naturgesetze haben also für das ewige Gesetz, an sich gesehen, nur Zeichencharakter (DLd 2, Vorrede: 341-342), den aber nicht alle Menschen zu erkennen vermögen, „weil gar nicht alle die Fähigkeit haben, aus der Wirkung die Ursache zu erkennen“ (DLd 2.4.10: 401402).27 Wohl aber haben alle Menschen notwendigerweise insofern an sich am ewigen Gesetz teil, als sie, sobald sie ihre Vernunft benutzen, erkennen, „das sittlich Gute sei zu befolgen und das Schädliche zu meiden“ (DLd 2.4.9: 401402).28 Gottes gebietender oder verbietender Wille “ist nicht der gesamte, d. h. der einzige Grund für die Gut- und Schlechtheit, die sich mit der Beachtung oder Übertretung des Naturgesetzes einstellt. Vielmehr knüpft dieser Wille „an […] Handlungen die besondere Verpflichtung des göttlichen Gesetzes an“, und zwar unter der Voraussetzung, „dass schon im voraus [!] die Handlungen selbst unter der Verpflichtung zur sittlichen Gutheit oder gegen die Schändlichkeit stehen“ (DL 2.6.11: 437; vgl. DLd 2.6.5: 427).29 26
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Suárez erarbeitet diese Bedeutung in Abgrenzung von der Lehre des Gabriel Vasquez; vgl. dazu ausführlich Rainer SPECHT, Zur Kontroverse von Suárez und Vasquez über den Grund der Verbindlichkeit des Naturrechts, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 45 (1959), S. 235-255. Das trifft offensichtlich auf die Heiden zu, also z. B. auch auf die Bewoner der von den Spaniern und Portugiesen ‘eroberten’ Länder/Staaten – was aber der Verbindlichkeit des Naturgesetzes auch für sie nicht entgegensteht! Vgl. zu Thomas das Zitat bei METZ, in diesem Band, Fn. 18. Vermutlich macht sich in diesen Ausführungen bei Suárez der Einfluss der im Humanismus der Renaissance erneut aufgenommenen, aber schon der Aristotelesrezeption des Thomas immanente Einfluss der aristotelischen Tugendethik als einer Strebensethik bemerkbar, die Suárez freilich noch einmal und folgenreich mit der Sollensethik der christlichen Tradition zu verbinden sucht. Das unterstreicht zu Recht auch Brian TIERNEY, The Idea of Natural Rights. Studies on Natural Rights, Natural Law and Church Law 1150-1625, Atlanta, GA, 1997, S. 305, wenn er schreibt: „The natural law discerned by reason, he held, both indicated what was intrinsically good or evil and also commanded the one and forbade the other“ (meine Kursivierung. MW.). Tierneys Suárez-Darstellung ist wie wenige andere Interpretationen besonders scharf durchdacht. Ich folge ihr daher auch bei der Darstellung von Suárez’ Begriff und Herleitung des subjektiven Rechts (s. u. 7. Exkurs).
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Damit ist die Sollbruchstelle innerhalb der ‚rationalen Rekonstruktion’ der Lehre von der Legeshierarchie durch Suárez markiert: Wenn die Menschen zu erkennen vermögen, was sittlich zu befolgen bzw. zu vermeiden sei, und zwar im Modus des Verpflichtetseins, dann kann daran eine säkulare Naturgesetzlehre anknüpfen: Grundlage und Bezugspunkt ist die Natur des Menschen, so dass die Anthropologie zur Fundierungsdimension der Naturrechtslehre wird und die menschlichen Vernunft daher zureicht, die Verbindlichkeit des Naturrechts (an-) zu erkennen.30 Zwar bemüht Suárez sich ganz intensiv darum, den Verbindlichkeitscharakter des Naturgesetzes allein aus dessen Teilhabe am ewigen Gesetz, also letztlich aus dem Willen Gottes, herzuleiten. Aber man lese nur Formulierungen wie die folgende: „Ohne ein solches Verbot [das ja als nur von einem Oberen kommend ein solches ist. MW.] würde das Handeln sozusagen nicht bis in die letzte Faser oder vollständig davon geprägt sein, Schuld und Beleidigung Gottes zu sein“ (DLd 2.6.19: 448), und man erkennt, dass hier eine sichtlich angestrengte Rhetorik am Werke ist.
5. DIE UNVERÄNDERLICHKEIT DES NATURGESETZES ODER URSPRÜNGE DER BEGRIFFSJURISPRUDENZ Wenn der Mensch mittels des „Lichts der Vernunft“ am ewigen Gesetz partizipiert, so heißt das, dass das Naturgesetz, anders als das menschliche Gesetz, wie das ewige Gesetz unveränderlich ist, solange jedenfalls, „als die vernünftige Natur mit ihrem Gebrauch der Vernunft und der Freiheit bestehen bleibt“ (DL 2.13.2d: 523; vgl. DLd 2.14.5: 542-543). „Keine menschliche Macht, die päpstliche eingeschlossen, kann eine im strengen Sinn zum Naturgesetz gehörende Vorschrift aufheben“ (DLd 2.14.8: 546); ja „Gott selbst vermag es zumindest nicht durch seine gewöhnliche Rechtsmacht (saltem iure ordinario), von irgendeiner der Vorschriften des natürlichen Gesetzes zu dispensieren“ (DLd 2.14.10: 548). Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz bezüglich der Status der Auslegung des Naturgesetzes: die Ermittlung seines Inhaltes ist ein Akt der 30
Indem der Mensch, der als ens morale Adressat des Gesetzes ist, zugleich als ens physicum der necessitas naturalis unterworfen ist, erbt die vernunftrechtliche Variante auch das Problem, wie denn das Verhältnis zwischen dem Menschen als den Kausalgesetzen unterworfenem ens physicum und demselben (!?) Menschen als ens morale plausibel zu bestimmen ist, während der klassische Utilitarismus (Mill, Bentham) zur Bestimmung dessen, was als gut zu tun geboten und als schlecht zu meiden ist, eine empirisch ansetzende Konstruktion von Freude-Trauer-Bilanzen erarbeitet, eine naturalistische Konzeption dagegen zwar die deontologische Verbindlichkeit zugunsten einer Tugend- als Strebensethik insgesamt verabschiedet, sich dafür aber dasselbe Problem in anderer Gestalt, nämlich als Bestimmung des Verhältnisses zwischen Vernunfterkenntnis und Handlungsmotivation, einhandelt und zu dessen Lösung eine Affektenlehre auszuarbeiten hat. Eine Darstellung der Handlungstheorie des Suárez in Korrespondenz zu derjenigen Städtlers zu Thomas in diesem Band bleibt ein Desidarat. Vgl. jedoch die Skizze in dem Beitrag BRIESKORNs in diesem Band, Abschnitt 4.1.
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erkennenden Vernunft.31 Entscheidend für den Erfolg ist, dass alle relevanten Umstände in der Formulierung der Naturgesetze berücksichtigt werden. So ist z. B. das naturgesetzliche Gebot, fremdes Gut zurückzugeben, in dieser abstakten Form zwar für Normalfälle zutreffend. Tatsächlich ist der Regelungsbereich dieses Gebots aber enger, weil es z. B. nicht gilt, wenn der Eigentümer ein verwahrtes Gut zu einer moralisch verbotenen Handlung wie der Schädigung des Gemeinwesens zu verwenden beabsichtigt und dies dem Depositär bekannt ist (DLd 2.13.5-8).32 Das diesbezügliche Naturgesetz als ewiges Gesetz, wie es im Bewusstsein der Menschen existiert, enthält also an sich, um es mit Kant auszudrücken, alle einschränkenden Bedingungen seiner Verbindlichkeit und ist, so reformuliert, uneingeschränkt verbindlich. Die Existenz von Ausnahmen, die um der Billigkeit willen eine Abweichung vom Naturgesetz zu erheischen scheinen,33 ist also nur Schein: Das Naturgesetz gestattet, adäquat aufgefasst, daher auch keine Ausnahmen, etwa und vor allem aus Billigkeitsgründen, eben weil es die relevanten Umstände seiner Applikation, d. h. die seine Anwendung im Regelungsbereich beschränkenden Bedingungen, bereits in sich enthält.34 Der Grund für den Schein von Ausnahmefällen ist, „dass ja nicht sämtliche naturrechtlichen Vorschriften in gleicher Weise bekannt und in gleicher Weise mühelos einsichtig sind. Sie bedürfen vielmehr der Auslegung, um ihren wahren Sinn ohne Verkürzung und Überdehnung zu begreifen. […] Die Epikie im eigentlichen Sinne findet bei keiner einzigen naturrechtlichen Vorschrift als natürlicher bzw. für sich betrachtet statt. Deshalb kann weder der Mensch noch Gott selbst sie vornehmen“ (DLd 2.16:6: 613; 7: 614-615). Das Naturrecht „umfasst nämlich […] sowohl die Prinzipien sittlichen Verhaltens, die aus sich heraus bekannt sind, als auch sämtliche Schlussfolgerungen, allerdings nur solche, welche aus jenen Prinzipien mit notwendiger Folgerung abgeleitet sind, sei es 31
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S. dazu ausführlich WESTERMAN,1998 (Fn. 5), Chapter III, 2, S. 107-111; Robert SCHNEPF, Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation, in: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik, Tübingen, 2001, S. 99102; vgl. auch die kurze diesbezügliche Bemerkung bei Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike u. Mittelalter, Tübingen 2002, S. 356. Dort werden auch andere Anwendungsfälle (Tötungsverbot, Inzestverbot, Gebot der Geheimniswahrung) erörtert. Das Inzestverbot verpflichtet z. B. nicht im Notstandsfall (in casu necessitatis), etwa wenn «nur durch seine Verletzung das Menschengeschlecht in seinem Bestand erhalten werden könnte“ (DLd 2.13.5: 528). Suárez rekapituliert in DL 1.2.9-10 die aristotelische Lehre von der Billigkeit als des Korrektivs des ius strictum, beschränkt den Anwendunsbereich der Korrektur des „Gesetzeswortlauts“ durch Billigkeits- = Gerechtigkeitserwägungen dort aber auf das „menschliche Gesetz [iustum legale]“ (s. u. Abschnitt 7). Die einschränkende Bedingung „ist notwendigerweise immer mit zu verstehen“ (DLd 2.7.8: 533). Insofern ist es missverständlich, wenn es im einschlägigen Abschnitt der dem Interpretationsproblem bei Suárez gewidmeten Monografie von Fernandez heißt: „“um das Naturgesetz richtig anzuwenden, kann der Jurist sich nicht auf eine unwandelbare Vorschrift“ berufen, oder wenn er ausführt, dass der Jurist zu dem Schluss kommt, dass eine bistimmte Vorschrift des Naturgesetzes „keine Anwendung mehr findet“ (Joao Manuel Azevedo Alexandrino FERNANDEZ, Die Theorie der Interpretation des Gesetzes bei Francisco Suaárez, Frankfurt am Main 2005, 155; Kursivierungen nicht im Original).
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durch unmittelbare Ableitung oder über mehrere Syllogismen“ (DLd 2.13.3: 525), so dass der Syllogismus, in dem diese Applikation erfolgt, als Akt der Vernunft die absolute Verbindlichkeit des Ergebnisses verbürgt.35 „Die wissenschaftliche Aufgabe der D o g m a t i k eines bestimmten positiven Rechts liegt aber in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen. Dies ist, abgesehen von der Erforschung der geltenden positiven Rechtssätze, d. h. der vollständigen Kenntnis und Beherrschung des zu bearbeitenden Stoffes, eine rein logische Denktätigkeit“
– so beschreibt Paul Laband 1911 die Aufgabe der Rechtswissenschaft als Dogmatik.36 Zwar handelt Laband, in des Suárez Terminologie gesprochen, vom menschlichen Gesetz, aber dessen Systemcharakter, d. h. seine systematische Geschlossenheit und daher Lückenlosigkeit, erfüllt, was die Ermittlung seines Inhaltes als eines objektiv bestehenden betrifft, dieselbe Funktion wie im Falle des Naturgesetzes dessen Unveränderlichkeit. Insofern handelt es bei dieser Ermittlung in beiden Fällen „um eine rein logische Denktätigkeit“, die freilich „die vollständige Kenntnis und Beherrschung des zu bearbeitenden Stoffes“ voraussetzt – so wie das durch die Ermittlung und Beachtung sämtlicher rechtlich relevanter Gesichtspunkte bei der adäquaten Formulierung des authentischen Gehalts des Naturgesetzes nach Suárez der Fall sein muss. Suárez kann damit wohl als Urheber dessen bezeichnet werden, was man später ‚Begriffsjurisprudenz’ genannt hat.
6. DIE ANPASSUNGSFÄHIGKEIT DES NATURGESETZES ODER POSITIVES/GEBIETENDES UND NEGATVES / ERLAUBENDES NATURRECHT Der Eindruck der Starrheit des Naturgesetzes37 schwindet, sobald Suárez die Folgen einer zentralen Unterscheidung im Begriff dieses Gesetzes vorführt. 35
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Friedo RICKEN, Unveränderlichkeit und Wandelbarkeit des natürlichen Sittengesetzes nach Francisco Suérez, in: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, Freiburg, 1990, S. 340-353 (348-350). Da, wie Ricken richtig feststellt, nach Suárez die „Umstände […] zum Inhalt des Gesetzes“ gehören, diese sich aber, so seine Feststellung, „bei vielen Normen einer vollständigen sprachlichen Formulierung“ entzögen, folgert er: „Das Naturrecht lässt sich letztlich nicht kodifizieren“, und schreibt Suárez daher ein Verständnis der Vernunft als einer „abwägenden praktischen Vernunft“ zu (RICKEN 1990 (Fn. 35), S. 349, 353, 350). Zur Begründung der These, Suárez habe, im Unterschied zu Thomas von Aquin, die praktische Vernunft zugunsten der theoretischen ganz und gar verabschiedet, vgl. WERSTERMAN 1998 (Fn. 5), Chapter IV.2). Vgl. dazu Suárez: „Denn wenn es um notwendig wahre Behauptungen geht – und um solche handelt es sich nach den Aussagen der Logiker und Dialektiker bei Gegenständen das Naturrechts […]“ (DLd 2.14.10: 550). Paul LABAND, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, Tübingen, 51911 (ND Aalen, 1964), S. IX. Die es bezeichnenden „Ausdrücke […] klingen rigoristisch, weil sie mit der Vorstellung ver-
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Das Problem, auf das Suárez reagiert und das ihn zu der für ihn charakteristischen, ganz spezifischen Ausgestaltung des Naturrechtsdenkens ‚zwingt’, besteht darin, dass im Corpus Iuris (auch) die stoische Naturrechtslehre überliefert wird, der zufolge die Rechtsinstitute der Sklaverei (Digesten 1.2.5), des Privateigentum (Digesten 1.2.5) und des Krieges (Digesten 1.2.4) zwar dem Völkerrecht – d. h. dem ius gentium in der traditionellem Definition – angehören, aber „dem Naturrecht zuwider […] (sind), nach dem alle Menschen von Anfang an frei geboren sind“ (Institutionen 1.2.2). Darauf muss jede Naturgesetzlehre reagieren! Als ‚Aufhänger’ für die Einführung dieser Unterscheidung fungiert das Naturgesetz, dass Verträge zu halten sind. Das ist ein Gebot, das nicht ein bestimmtes Handeln (oder Unterlassen) kategorisch vorschreibt, sondern dessen Einschlägigkeit von einer Bedingung abhängt, die der menschlichen Willensentscheidung unterliegt: Ein Typus „verpflichtet [erst], wenn es zum Abschluss von Verträgen [pacta] […] gekommen ist, die sich menschlichen Willensakten verdanken“ (DLd 2.147: 545). Die „Verpflichtungskraft samt gebietendem Charakter [man beachte diese Doppelung. MW.]“ setzt „erst ab dem vorausgehenden Konsens menschlichen Willens“ ein (DLd 2.14.11: 550). Und ebenso kann ein menschlicher Willensakt, etwa der Schuldenerlass durch den Gläubiger, dazu führen, dass die Verpflichtung zur Begleichung der Schuld ‚erlischt’. Es gibt also Naturgesetze, deren „Regelungsgegenstand (materia)“ – so der Termins bei Suárez – erst faktisch geschaffen werden muss, damit das Naturgesetz seine verpflichtende Kraft entfalten kann (vgl. DLd 2.14.19: 560). In einem schwächeren Sinne auf menschliche Willensakte bezogen „wird etwas als zum Naturrecht gehörig ausgesagt (dicitur [Brieskorn: „ausgegeben“]), indem es nur von ihm erlaubt (solum permissive), also entweder negativ – nicht verboten und nicht geboten – oder als eingeräumt (concessive) ausgesagt wird“ (DLd 2.14.6: 544) – im Unterschied zu jenen positiven Naturgesetzen, die etwas vorschreiben oder verbieten, weil „die natürliche Vernunft […] verpflichtend bestimmt, etwas gehöre unabdingbar zum Bestand der sittlich richtigen Handlungen“ (DL 2.14.6: 544; vgl. 2.14.7: 545-455), so dass dessen Verpflichtungskraft, weil seine Änderung oder Aufhebung eine Änderung oder ‚Aufhebung’ der Natur des Menschen voraussetzen würde, unveränderlich bestehen bleibt. Dazu rechnet Suárez „solche der Religion, d. h. der Bindung an Gott, der kindlichen Ehrfurcht gegenüber den Eltern, der Barmherzigkeit oder des Almosengebns gegenüber dem Nächsten“ (DLd 2.14.7: 546). Die bloß 38 erlaubenden oder negative Naturgesetze beziehen sich daher auf einen
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bunden sind, moralische Normen seien starr und ungeschichtlich und sie nähmen keine Rück sicht auf sich wandelnde Verhältnisse, in denen Menschen leben und sich entscheiden müssen“ – so beginnt RICKEN 1990 (Fn 35), S. 340, einen knappen Überblick über des Suárez Lehre vom „natürlichen Sittengesetz“, der in der Verbindung von Kürze und Prägnanz einer der informativsten Texte zum Thema ist. Ein in diesem Sine bloß negatives oder erlaubendes Naturgesetz ist zu unterscheiden von Naturgesetzen als „verneinend gehaltenen Vorschriften“, nämlich naturgesetzlichen Verboten; diese „verpflichten […] immer und für immer“, weil sie sich auf etwas beziehen,
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Regelungsgegenstand, der sich kraft menschlicher Willensentscheidung ändern kann, so dass die diesbezügliche Vorschrift sich, falls der Regelungsgegenstand sich ändert, ihren Anwendungsbereich verliert. „Zuweilen verändert sich der Regelungsgegenstand selbst so sehr, dass er nicht mehr nützt, sondern schadet oder nicht mehr sinnvoll ist, sondern sich ins Gegenteil verkehrt“ (DLd 2.13.1: 523). In welchem Ausmaß (negative) Naturgesetze gewissermaßen leer laufen, weil sie „die Zukunft damit der menschlichen Gestaltung“ überantworten, „die vernünftig vorzunehmen ist“, kann erst beurteilt werden, wenn Reichweite und Variationsbreite dessen bestimmt sind, was nach Suárez in dieser Weise dem menschlichen Herrschafts- und Gestaltungswillen überantwortet ist. Es handelt sich dabei um den Umgang der Menschen mit dem ursprünglichen Gemeinbesitz, mit ihrer Freiheit und mit der politischen Lenkung des Gemeinwesens, also der Herrschaft im Gemeinwesen – eben dem, was allen Menschen nach stoischem Naturrecht zukommt, dem aber die völkerrechtlichen Institute des Eigentums, der Sklaverei und der personalen Herrschaft im Gemeinwesen widersprechen (s. o.). Suárez hat also zu erklären, in welchem Sinne es sich beim Gemeinbesitz, bei der Freiheit und bei der politischen Selbstregierung um wirkliche natürliche Rechte handeln und inwiefern diese dennoch legitimer Weise durch kraft menschlicher Willensakte geschaffener völker- oder bürgerlich-rechtliche Institute ihren genuinen Anwendungsbereich verlieren. Naturrechtliche Grundlegung und Ausgestaltung der den Menschen ursprünglich durch das Naturgesetz übertragenen Verfügungsgewalt oder Herrschaft (dominium)39 durch Suárez sind daher kurz zu skizzieren.
7. EXKURS Begründung und naturrechtlicher Status der Verfügungsgewalt (des subjektiven Rechts) Dass der Mensch als Adressat von Gott gesetzter Imperative Gehorsam zu leisten vermag, setzt bei ihm außer Vernunft auch Willens- als Wahlfreiheit voraus, weil Gehorsam logisch die Möglichkeit des Ungehorsams voraussetzt. Des Suárez Lehre vom dem Menschen mit der Schöpfung verliehenen dominium eröffnet der menschlichen Freiheit einen sehr weiten Anwendungsbereich.
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das „in sich selbst und intrinsisch schlecht ist“ (DLd 2.13.4: 526). Daher liegen die erlaubenden Naturgesetze im Regelungsreich dessen, worauf sich die „bejahend gehaltenen Vorschriften“ beziehen (ebd.), insofern nämlich diejenigen Konstellationen, auf die sie sich beziehen, aufhören zu existieren; die bejahendes Naturgesetze verpflichten zwar „immer, wenn auch nicht für immer“ (DLd 2.13.4: 527). Da ‚Herrschaft’ in der Regel als auf das politisch-staatliche Zusammenleben bezogen verstanden wird, werde ich im folgenden dominium, sofern dieser (Sonder-) Fall nicht vorliegt, mit ‚Verfügungsgewalt’ übersetzen.
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Kaum etwas verdeutlicht klarer, welche entscheidende Wendung die Rechtslehre durch und seit Suárez genommen hat, als die große Schwierigkeit, Thomas von Aquins Lehre vom ‚ius’ überhaupt noch zu verstehen. Gleich im 2. Kapitel des 1. Buches führt Suárez nämlich, und zwar als Interpretation der Lehre des Thomas, neben und vor der Bedeutung von ‚ius’ im Sinne von ‚lex’ (DL 1.2.6-7), eine weitere Bedeutung ein, die für die Gestaltung seiner Rechtstheologie von entscheidender Bedeutung ist und weitgehend dem entspricht, was wir in der kontinentalen Tradition als ‚subjektives Recht’ bezeichnen und damit vom ‚objektiven Recht’ im Sinne von ‚Gesetz(esordnung)’ unterscheiden.40 Wenn in den Digesten (I, 1, 10) „die Gerechtigkeit“ als „diejenige Tugend“ bezeichnet wird, „’die einem jedem das ihm zukommende Recht zuteilt’, d.h. dasjenige einem jeden zuteile, was einem jeden gebührt“, so wird also „’Recht’“ genannt „[j]ener Anspruch [actio] oder diese moralische Fähigkeit (facultas moralis) […], welche einem jeden gegenüber seiner Sache (in re) oder auf eine Sache (ad rem) zusteht, auf die er wegen eines bestimmten Titels einen Anspruch hat“ (DLd 1.2.5: 43). In dieser „engeren Bedeutung pflegt ‚Recht’ zutreffende eine bestimmte sittliche Fähigkeit [facultas moralis] zu bezeichnen, welche ein jeder entweder in Bezug auf sein Eigentum oder eine ihm geschuldete Sache ausüben darf“ (DLd 1.2.5: 42) - „mag es sich um wirkliches Eigentumsrecht (dominium) handeln oder um eine Teilhabe daran“ (DLb 2.17.2: 100 = DLv: 32). Den Ausgangspunkt für die Anschließbarkeit der Bedeutung des Terminus ‚ius’ an die Lehre des Thomas bildet für Suàrez also die bei Thomas zu findende zweite Bedeutung von ’ius’ – neben derjenigen als ‚lex’ -,: „Gerechtigkeit […] bedeutet nämlich einen gewissen Ausgleich […]. Ausgleich besteht aber immer in Bezug auf einen anderen“ (Thomas, STh II- II, art. 57, resp.: 4-5). Gerechtigkeit ist also, so folgert Suárez, „ die besondere Tugend, die dem anderen zuteilt, was das Seine ist“ (DLd 1.2.4: 41), und eben das ist damit sein Recht als die – nicht physische, sondern moralische – Fähigkeit, über etwas verfügen zu dürfen (ius in re) oder auf etwas einen Anspruch erheben zu können (ius ad rem).41 Und dieses Recht setzt Suárez gleich mit der Verfügungsgewalt (dominium) (DLd 2.14:16: 557). Ist die Existenz eines dem Menschen zur eigenen Verfügung und Gestaltung Gegebenen (dominium) aus dem Sprachgebrauch sowohl von Juristen als auch von Theologen entwickelt, so ist im Rahmen der Erörterung des Naturgesetzes nun zu bestimmen, (1) welches gemäß dem Naturgesetz der Inhalt des natürlichen 40
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Eine dritte Bedeutung im Sinne von Rechtsprechung wird DL 1.2.8-10 erörtert (s. dazu den letzten Absatz von Abschnitt 8). Man sich kann also, wie TIERNEY 1997 (Fn. 29), S. 304, unter Rekurs auf John FINNIS, Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, ausführt, den Schritt von Thomas zu Suárez so vorstellen, dass letzterer die thomasische Definition von ius „ausschließlich auf den Begünstigten eines gerechten Verhältnisses bezieht“ u. so die Übereinstimung der Lehre des Thomas mit seinem eigenen Begriff des Rechts, der freilich schon bei Vitoria und einigen Nachfolgern zu finden (Richard TUCK, Natural Law Theories. Their origin and development, Cambridge 1979, passim) und der ganz offensichtlich aus den Digesten gewonnen ist, festbzw. herzustellen vermag.
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Rechts oder der natürlichen Verfügungsgewalt ist, (2) ob und ggf. in welcher Weise die lex naturalis für die Ausübung dieses natürlichen Rechts relevant ist und (3) schließlich, aus welchem Grunde und inwiefern eine Änderung im Naturgesetz insofern eintritt, als „durch Änderung des Regelungsgegenstandes […] ein bestimmtes Handeln der Verpflichtung des Naturgesetzes entzogen wird“ (DL 2.13.6: 529).42 (1) Suárez präzisiert seine Lehre von der natürlichen, d.h. ursprünglichen Verfügungsgewalt des Menschen in Auseinandersetzung mit der Kritik, die an der Unterscheidung von vorschreibendem und lediglich zugestehendem Naturgesetz geübt wurde: Wenn nämlich „die Gütergemeinschaft naturrechtlichen Ursprungs“ war, weil kraft seiner „alle Dinge gemeinsam geblieben wären, wenn die Menschen nicht eine andere Ordnung eingeführt hätten“ (DLd 2.14.14: 555; teilweise meine Übers. MW.), und wenn dasselbe von der Freiheit des einzelnen und von der Freiheit der politischen Gemeinschaft – als Selbstregierung – galt (s. DLd 2.14.6: 544), so scheint das desaströse Folgen für die die menschliche Willkür beschränkende Funktion des Naturgesetzes zu haben, die Suárez auch explizit anführt. „Gemäß dieser Unterscheidung wäre ja […] die Freiheit nicht stärker als die Knechtschaft und die Gütergemeinschaft nicht weniger als die Gütertrennung vom Naturrecht gedeckt“ (DLd 2.14.15: 555). Ja es scheint sogar aus dieser Position zu folgen, „dass sich die Menschen erlaubterweise, willkürlich und mit Macht (per potentiam) sowohl alle Dinge als auch die Rechtsetzungsgewalt und Herrschaft über andere hätten anmaßen dürfen. Damit hätten sie gegen keine einzige Vorschrift des Naturrechts verstoßen“, weil das Abweichen vom naturrechtlich „zugestandenen“ Zustand „nicht aus sich heraus schlecht ist“ (DLd 2.14.15: 556). Das würde zudem bedeuten, dass weltliche Könige absolute Macht haben (absoluta potentia) und damit willkürlich ihre Herrschaft ausüben könnten (ebd.).43 Kurz gesagt: Wenn es dem kategorischen Naturgesetz nicht widerspricht, den Gemeinbesitz, die individuelle Freiheit und die Selbstregierung der politischen Gemeinschaft nicht nur aufzugeben, sondern auf Grund von Macht willkürlich darüber zu verfügen, dann gewinnen Suárez’ vorhergehende Ausführungen zur lex aeterna wie zur lex naturalis und deren Unveränderlichkeit, so scheint es, weitgehend ihre Relevanz für das Leben sowohl des einzelnen wie der Gemeinschaft, stellen sich als rein rhetorisch heraus.44 Suarez wehrt diese Kritik ab, indem er klarstellt, dass zwar „die Privateigentumsordnung nicht gegen das Naturrecht in dem Sinn verstößt, dass sie von jenem absolut und schlechthin verboten werden würde. Dasselbe gilt für die Sklaverei und Ähnliches“ (DLd 2.14.15: 557). Aber es handelt sich bei dem, was 42
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Die Paragrafen 15-19 im 14. Kapitel des 2. Buches von DL sind für das Verständnis, das Suárez vom Verhältnis der natürlichen Rechte zu den positiven subjektiven Rechten erarbeitet, von entscheidender Bedeutung. Gegen dieses Verständnis politischer Herrschaft wendet sich Suárez explizit in der DF. S. dazu meinen Beitrag zum Widerstandsrecht in diesem Band. In dieser Weise interpretiert Westerman den ‚Ertrag’ der Naturgesetzlehre des Suárez (WESTERMAN 1998 (Fn. 5), S. 125-128).
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das Naturgesetz erlaubt, nicht um moralisch indifferente, bloß zugestandene (solum permissive) Betätigungsmöglichkeiten des menschlichen Willens, sondern um positiv eingeräumte (concessive):45 „So ist es wahr, dass das Naturrecht die Freiheit in positiver und nicht in bloß negativer Weise versteht, weil es die Natur selbst ist, die dem Menschen eine wahre Verfügungsgewalt über seine Freiheit zugeteilt hat. Auch die Gütergemeinschaft würde, wenn und solange keine Privateigentumsordnung errichtet worden wäre, kraft des Naturrechts in gewisser Weise zur Verfügungsgewalt der Menschen gehören“ (DLd 2.14.16: 557-558). Das aber heißt, dass „der Zustand der Freiheit mehr als jener der Knechtschaft dem Naturrecht entspricht. Die Natur hat die Menschen positiv […] zu freien Wesen mit einem in ihrem Inneren verankerten Recht auf Freiheit ausgestattet, hat sie jedoch nicht in der erwähnten positiven Weise zu Sklaven gemacht, wenn ich mich so scharf aussprechen darf“ (DLd 2.14.16: 558).46 Ebenso hat jeder ein Recht und einen Anspruch darauf, die allen gemeinsam gegeben Dinge zu gebrauchen; ein solches ursprüngliches Recht auf Privateigentum gibt es dagegen nicht (ebd.). Suárez lehrt also, dass die natürlichen subjektiven Rechte sich von den erst durch menschliche Willensmacht eingeführten ‚völkerrechtlichen’ Institutionen positiv abheben, also diesen gegenüber einen klaren naturrechtlichen Vorrang haben. Das aber bedeutet, dass die den Geltungsbereich einschränkenden oder gar beseitigenden menschlichen Gestaltungen einer Beweislast insofern unterliegen, als sie als für das Wohl der Menschen unter bestimmten Umständen notwendig oder zumindest förderlich (nützlich) nachgewiesen werden müssen und gleichwohl einen naturrechtlich minderen Status haben.47 (2) Wenn also derjenige, der die allen gemeinsam übergebenen Dinge „im Naturzustand der Menschheit“ (DLd 2.18.4: 117) nutzt, damit sein natürliches Recht ausübt - nämlich das Recht der Selbsterhaltung als jenes natürliche Recht, „das der Mensch hat zur Ernährung, zu Schutz und Erhaltung des eigenen Körpers“ (DL 8.5.38 = Suárez 1858: 575); - wenn es sich so verhält, dann gewinnt das kategorische Naturgesetz für diesen Naturzustand eminente Bedeutung. Denn von Naturgesetzes wegen „hat der eine die Verpflichtung, das Recht eines 45
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Diese Unterscheidung trifft Suárez in dem oben, im 4. Absatz dieses Abschnitts, zitierten Text, jedoch ohne dass deren Relevanz dort deutlich würde. Der Zusatz richtet sich natürlich gegen die aristotelische Lehre, dass eine Gruppe von Menschen, die Barbaren nämlich, von Natur den Status von Sklaven hat. Das hebt auch Wilenius in seiner Sárez-Interpretation zu Recht hervor, auch wenn seine Deutung, Suárez stehe, indem er lehre, dass Gott „ownership ǿ…] immediately to society and not to any private individual“ gegeben habe, der „communist idea“ sehr nahe (Reijo WILENIUS, The Social and Political Theory of Francisco Suárez, Helsinki, 1963, bes. den so benannten Abschnitt: S. 86-95), vielleicht etwas sehr weit geht. Zu Suárez’ Lehre von der Demokratie als der einzig natürlichen Regierungsform, die dieser Deutung ja durchaus korrespondiert, vgl. meinen Artikel zum Widerstandsrecht in diesem Band, Abschnitt 2. Dazu passt auch, dass Suárez die Lehre, Privateigentum, Sklaverei und absolute politische Herrschaft seien von Gott als Folge der Sünde verhängt – was sie ja für die Dauer des Sündensandes alternativlos machte -, strikt zurückweist!
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anderen nicht zu verletzen“ (DLd 2.18.7: 121).48 Das kategorische Naturgesetz schütz also alle Menschen im Gebrauch, den sie von ihren natürlichen subjektiven Rechten machen!49 (3) Wenn etwas der Disposition der Menschen, also der Gestaltung durch den „Konsens menschlichen Willens und ab der Wirkkraft eben jenes Willens zu bestimmtem Handeln“ (DLd 14.11: 550) übergeben ist, so können die Menschen – entweder die menschliche Gemeinschaft insgesamt oder auch die politische Gemeinschaft, es anders gestalten, als es als natürliches, d. h. ursprüngliches Recht den Menschen von Gott eingeräumt ist, so „dass es überhaupt nicht gegen das [erlaubende. MW.] Naturgesetz verstößt, jenen Regelungsgegenstand zu ändern und auszuwechseln, weil ihn der menschliche Wille ändern darf“ (DLd 14.11: 551). Das ist nun weiter auszuführen, und zwar (a) zum (Privat-)Eigentum und (b) zur individuellen Freiheit und schließlich, nur im Ansatz, auch (c) zur politischen Freiheit, d. h. zur Selbstbestimmung des Gemeinwesens. a) Änderungen im Umgang mit dem, was der Ausgestaltung durch menschlichen Willen von Gott anheim gegeben ist, betreffen vor allem die Güter, die Gott nach Genesis 1, 28 („Machet Euch die Erde untertan“) allen Menschen gegeben hat, ohne jedoch eine bestimmte Art des Umgangs damit positiv vorzuschreiben (DLd 2.14.13). Daher können die Menschen, und zwar nur im Konsens, die Art der Nutzung ändern, indem sie – nach Suárez durch Völker(gewohnheits)recht – das Institut des Privateigentums einführen, sofern das „den Menschen zuträglich und in Anbetracht der verschiedenen Wechselfälle, die dem Menschen in seinem Leben zustoßen, oft notwendig ist“ (DLd 2.14:12). Dadurch wird jedoch die (Natur-) Rechtmäßigkeit des Gebrauchs, den jemand aus Gründen der Erhaltung seiner körperlichen Existenz von fremdem Eigentum macht, nicht tangiert (s. das Zitat bei (2)). b) Zu den jedem Menschen von Gott ursprünglich gegebenen natürlichen Rechten gehört auch die Freiheit, verstanden als das Recht, keinem fremden Willen willfahren zu müssen. Nun hat Suárez aber, wie schon zitiert, dazu ausgeführt, dass „die Natur selbst [es] ist, die dem Menschen eine wahre 48
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Wer also eine zum Gemeineigentum gehörende Sache demjenigen wegnimmt, der sie gerade besitzt, verletzt diesen in seinem natürlichen Recht, verstößt gegen das Naturgesetz. Man sieht: Die Fragestellung, die Kant in seiner Rechtslehre beschäftigt, wie es nämlich zu denken sei, „dass ich durch den Gebrauch, den ein Anderer von einer Sache macht, in deren Besitz ich doch nicht bin, gleichwohl lädiert werden könne“ ( Immanuel KANT, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten Erster Teil, Hamburg, 1986, S. 245/53) – sie setzt voraus, dass jemand, der mir etwas wegnimmt, das ich gerade gebrauche, mich in meiner natürlichen Freiheit verletzt -, schließt vollständig an die Exposition des Problems bei Suárez an. Die apriorische Begründung des von Kant sog. ‚intelligiblen’ Besitzes bereitet ihm daher auch – wohl unüberwindbare – Schwierigkeiten. Zu dieser Bestimmung des Verhältnisses von erlaubendem und gebietendem Naturgesetz als Antwort auf die im Text angeführten Einwände vgl. auch TIERNEY, 1997 (Fn. 29), S. 307308. Damit nimmt Suárez zugleich, wie Tierney ausführt, zum Streit um die rechtliche Möglichkeit der Armut (Franziskanerstreit) im Sinne der Franziskaner und gegen den Papst Stellung, insofern diese nur gebrauchen, was entweder zum Lebensnotwendigen jedes Menschen gehört oder aber vom Eigentümer zu gebrauchen ‚eingeräumt’ wurde.
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Verfügungsgewalt über seine Freiheit zugeteilt hat“. Wer über seine Freiheit 1, die Nichtunterworfenheit unter fremden Willen, ein natürliches Verfügungsrecht (Freiheit 2) hat, der kann dann eben auch darüber verfügen, wer über sie verfügen kann!50 Dass es dazu einer Notwendigkeit bedarf, ist klar. Diese ergibt sich jedenfalls aus der Funktion der politischen Gemeinschaft, die Befolgung der auf das weltliche Leben bezogenen Gesetze zu sichern, so dass sie in Form der öffentlichen Strafgewalt daher auch die Todesstrafe verhängen darf.51 c) Am widerwilligsten und mit zahlreichen Kautelen gesteht Suárez schließlich auch die (fast!?) vollständige Abtretung der politischen Freiheit, d. h. der Selbstregierung, der vollkommenen Gemeinschaft, an den oder die Herrscher zu.52
8. DAS POSITIVE MENSCHLICHE GESETZ (LEX HUMANA) Für das positive menschliche Gesetz – auch die lex naturalis ist ja nach Suárez menschliches Recht! - gilt zwar: „Verpflichtungskraft kommt ihm nur so weit zu, als es sich auf die Grundsätze des ewigen Gesetzes [d. h., strikt gesprochen: des Naturgesetzes. MW.] stützt“. Aber der unmittelbare Grund seiner Verpflichtung ist nicht „ein[.] göttliche[r]“, es „erhält seine Formung und Vollendung im Geist und Willen des Menschen; es verdankt sich unmittelbar dem Menschen und nicht Gott selbst“; „es bezieht vom Willen des Menschen, der als Gesetzgeber handelt, unmittelbar seine Kraft und Wirksamkeit“ (DLd 2.4.8: 399400) – gegen die Reformatoren. Sein Regelungsbereich beschränkt sich auf dasjenige, wofür das Naturgesetz Raum lässt, so dass die menschlichen Gesetz „überhaupt erst mit ihrem Verbot das, was verwerflich ist, und mit ihrem Gebot das, was sittlich verpflichtend zu tun ist“, schaffen, während „das Naturgesetz in seinem Handeln und als seinen Gegenstand das sittlich Gute voraus“setzt, „welches es gebietet“ (DLd 2.7.1: 457). Das menschliche Gesetz ist in diesem strikten Sinne rein positiv und bezieht sich auf den – vom Naturgesetz her gesehen – kontingenten Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen. Freilich gehört zu diesem kontingenten Bereich auch alles, was dem Naturgesetz in seiner negativen Form untersteht, da die Menschen die Befugnis haben, im Regelungsbereich Veränderungen vorzunehmen, und dabei das Gewohnheitsrecht eine beträchtliche Rolle spielt.53 Eine solche „ausweitende Vervollständigung“ 50
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Das Recht eines jeden auf die Erhaltung seines Körpers (also, so ist zu folgern, auf Leben und körperliche Unversehrtheit und Erhaltung) ist das einzige natürliche Recht, das niemand einem anderen rechtmäßiger Weise nehmen darf (s. das Zitat in Abschnitt (2)). Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden, aber es wird schon deutlich, dass mit der Bildung einer politischen Gemeinschaft zugleich einige subjektive Rechte dieser Gemeinschaft emergieren. Vgl. dazu meinen Artikel zum Widerstandsrecht in diesem Band. Auf die bedeutsame Rolle des Gewohnheitsrechts sowohl im Regelungsbereich des negativen Naturrechts als auch im innerstaatlichen Bereich, vor allem aber im Regelungsbereich des Völkerrechts als des Rechts der Völker sowohl ‚inter se’ als auch ‚intra se’ (DLb 2.19.8:
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des natürlichen Gesetzes erfolgt „um des menschlichen Nutzens willen“ (DLd 2.13.1: 522). Als Teil der Gemeinschaft, für die er Gesetze gibt, ist der menschliche Gesetzgeber freilich – „auf welche Weise auch immer – durch sein eigenes Gesetz verpflichtet“ (DLd 2.2.6: 362), er ist also nicht „’legibus solutus’.54 Das menschliche Gesetz bestimmt im Unterschied zum Naturgesetzen „das gesetzlich Gerechte [ius legale]“ nun aber in allgemeiner Weise, und so versagt es „doch oft als Falllösung im Besonderen“ (DLb 2.2.9: 49), so dass die Epikie „sich in einem besonderen Fall gegen den Wortlaut des menschlichen Gesetzes zu richten“ hat, „wenn dessen wörtliche Befolgung die natürliche Billigkeit verletzt, […] was nichts anderes heißt, als die Absicht des Gesetzes55 zu befolgen, während das gegenteilige Vorgehen das Recht verletzen würde“ (DLd 1.2.10: 51). Und wegen eben dieser ggf. den Gesetzeswortlauf korrigierenden Feststellung des Gerechten „nennt man [vielleicht] die Jurisprudenz die Kunst (ars) des Billigen und Guten, weil sie bei der Auslegung der Gesetze das Gute und Billige immer vor Augen haben muss“ (DLd 1.2.10: 51). Diese Spielart von Gesetzesauslegung ist also, bezogen auf den Wortlaut des Gesetzes, sehr wohl schöpferisch, nicht nur erkennend.56
134), kann ich hier nicht weiter eingehen (vgl,. die kurze Skizze in WESTERMAN 1998 (Fn. 5), Chapter IV.7). Hier erst zeigt sich aber wohl vollständig, welche Folgen die Unterscheidung eines vorschreibenden und eines erlaubenden Naturrechts (s. dazu Abschnitt 5) für die gesamte Rechtstheologie des Suárez hat. 54 Wie ein Mensch zum legitimen Gesetzgeber wird, also, obwohl die Menschen alle frei und gleich geboren werden, in die Stellung eines „Oberen“ kommt, der verbindliche Befehle in Gestalt allgemeiner Normen zu erlassen befugt ist, vgl. meine Ausführungen zum Widerstandsrecht nach Suárez in diesem Band, bes. 7. Exkurs. Genau hier entfalten die Ausführungen über das Fundierungsverhältnis von ewigen und Naturgesetz und wiederum zum menschlichen Gesetz alle ihre (rechtspolitischen) Implikationen. 55 Nimmt der menschliche Gesetzgeber ein Naturrecht in seiner allgemeinen Formulierung ins positive Gesetz auf, so ist es in dieser Formulierung ebenfalls „der Ausnahme durch Epikie zugänglich“ (DLd 2.16.16: 630), weil in diesem Falle eine entsprechender Wille des Gesetzgebers unterstellt werden kann (die Nähe von Hobbes’ Lehre von der Pflicht der Justiz zur Interpretation der positiven Gesetze im Lichte der natürlichen ist offensichtlich!), während ansonsten der menschliche Gesetzgeber, wie an anderer Stelle ausgeführt wird, irren bzw. eine optimale Regelung verfehlen kann, so dass korrigierende Gesetzesauslegung angezeigt ist. 57 Vgl. dazu ausführlich SCHNEPF 2001 (Fn. 31), Abschnitt B, S. 95-99; Ernesto GARZONVALDES, Die Wörter des Gesetzes und ihre Auslegung, in: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik, Tübingen 2001, S. 109-122. Die Ermittlung des Inhaltes des Naturgesetzes müsste man daher, da es immer und nur das natürlicherweise Gerechte zum Inhalt haben, als jurisscientia (Rechtswissenschaft) bezeichnen (s. o. Abschnitt 6), und genau das geschieht dann ja auch im Einflussbereich der Rechtslehre der spanischen Spätscholastik (Rechtswissenschaft)!
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9. DER ERTRAG DER LEHRE DES SUÁREZ VON GESETZ UND RECHT (1) Das ewige Gesetz (lex aeterna) als auf alles Geschaffene sich beziehend ist nur im metaphorischen Sinne als Gesetz zu bezeichnen. (2) Auch diejenige Teilmenge der lex aeterna, die sich auf das Handeln vernünftiger und freier Wesen bezieht, hat vor der Schöpfung nicht Gesetzesqualität im eigentlichen Sinne. (3) Das Naturgesetz (lex naturalis) als zeitliches und nur im Menschen existentes, gleichwohl unveränderliches Gesetz bezieht sich auf etwas natürlicherweise Gutes oder Schlechtes, das durch ein Feststellungsurteil der menschlichen Vernunft bis ins Detail hinein erkennbar ist und zugleich dem Handeln der Menschen die Pflicht zur Befolgung auferlegt, so dass die Beziehung auf Gott als den Urheber für die Verpflichtungskraft also inter homines letztlich nicht erforderlich, vielmehr nur eine Zugabe ist, die ihm - wohl nicht zuletzt im Blick auf Gottes unendliche (Durchsetzung-) Macht – allerdings größere Tiefe und Schärfe verschafft. (4) Das Naturgesetz räumt dem Menschen durch Verleihung von Verfügungsgewalt einen weiten Bereich zur eigenständigen Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten ein, schütz aber die Ausübung dieser Kompetenz durch das Naturgesetz im strikten Sinne. Zugleich wird klar gestellt, dass ein Zustand der menschlichen Gemeinschaft, in dem die natürlichen subjektiven Rechte auch tatsächlich in vollem Umfang ausgeübt werden können, naturechtlich positiv ausgezeichnet ist. (5) Das menschliche Gesetz (lex humana) bezieht sich nur auf insofern kontingente Sachverhalte und schafft daher daher erst durch reine Setzung - die freilich im Blick auf das Gemeinwohl und unter Beachtung des Naturgesetzes zu erfolgen hat - Gutes und Schädliches, hat aber über die mittelbare Ableitung der Gesetzgebungskompetenz aus dem Naturrecht und über dieses wiederum aus dem ewigen Gesetz gleichfalls an der gewissensbindenden Verpflichtungskraft des ewigen Gesetzes teil. So erfährt die Gewissens“anleitung“ durch die Kirche auch bezüglich der menschlichen Gesetze ihre moraltheologische Begründung. Somit ist zwar die formale Architektonik der klassischen Gesetzeslehre vor allem Thomas von Aquins gewahrt, aber letztlich ist die Leges-Hierarchie soweit aufgeweicht, dass auch ein säkulares Natur- bzw. Vernunftrechtdenken fast unmittelbar an Suárez anzuschließen vermag, das sich allerdings der Erinnerung an seine Herkunft aus der ‚gegenformatorischen’ Lehre der Spanier rasch entledigt und, durch Grotius vermittelt, als rationales protestantisches Naturrecht in die einschlägigen Lehrbücher eingeht.
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Manfred Walther, Hannover
BEGRÜNDUNG UND BESCHRÄNKUNG DES WIDERSTANDSRECHTS NACH SUÁREZ ABSTRACT: Suárez articulates his theory of the right to forcefully resist those who hold state power, as an application of the just war theory which is itself based on the natural rights and natural law doctrine. Due to the natural and unalienable right to life and corporal integrity with which God has endowed every man, each private person, be he/she a citizen or a foreigner, is entitled to defend these natural rights by force against an attack by the persons who hold state power, be they usurpers or despots, slaughter included. If external goods (the propriety) of a private person are attacked, force can legally be used only against the usurper, not against the despot. As every usurper if he rules by force, always attacks the commenwealth itself, privat persons are entitled also to defend their fatherland by force, but only if six restritive conditions are met. The commonwealth itself can lead such a defensive war against a usurper a fortiori. No private person soever and no foreigner or foreign state is entitled to punish a tyrant because this is an act of public power and presupposes legal superiority over the person to be punished. As the commonwealth has never completely given away its right of self-government, it is entitled to deposit and to expel a despot, this being some kind of punishment; that is why it requires a legally ordered procedure. As only the Pope is a real superior to all kinds of princes of Christian commonwealthes, he alone is entitled to punish those princes for crimes they committed in spiritual affairs; but as a tyrannical government is always pernicous for the soul’s salvation, his right to punish extends, via indicert power, to any case of tyrannical government of legal princes as well.
1. Die Relevanz der Ausführungen, die ein Autor zum Problem des Widerstandsrechts (im folgenden: WR) macht, besteht darin, dass man aus ihr die jeweilige Lehre vom Grund der Rechtsgeltung in konzentrierter Form ablesen kann. So machen z.B. Kants Ausführungen zum WR klar, dass dieser, was die Rechtspraxis betrifft, einen knallharten, kompromisslosen Gesetzespositivismus vertritt. Man könnte sich überlegen, was die Lehre des Suárez für die Rechtmäßigkeit eines Attentats auf Hitler ergeben würde.
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2. Klarzustellen ist vorweg, wie das WR begrifflich bestimmt ist. Unter WR versteht Suárez, wie die meisten anderen Autoren seit dem Mittelalter, ein Recht, gegen den oder die Inhaber der Staatsgewalt mit Gewalt vorzugehen, ihn oder sie ggf. auch zu töten. Daher handelt Suárez das WR im Rahmen seiner Lehre vom gerechten Krieg ab.1 Es geht also nicht um das, was man, das entscheidende Kriterium der Gewaltanwendung verwischend, als „passives“ WR bezeichnet hat, also nicht um das – weitgehend unbestrittene – Recht, den Gesetzen und Anordnungen der Inhaber der Staatsgewalt den Gehorsam zu verweigern; dieses Recht hat jeder bei Verstoß der Gesetze und Anordnungen gegen natürliches – und göttliches – Recht.
3. Unmittelbarer Anlass der ausführlichsten Behandlung des Themas durch Suárez ist der Eid, den der englische König James I. von allen Untertanen verlangt,2 nämlich eidlich zu beschwören, dass (1) James der legitime englische König ist – was Suárez nicht bestreitet, (2) dass Papst und Römische Kirche kein Recht auf seine Absetzung oder andere Behinderungen seiner Herrschaftsausübung haben und keinen Untertan von der Gehorsamspflicht entbinden können – was Suárez bestreitet, (3) dass eine etwa erfolgte Exkommunikation oder Absetzung des Königs durch die kirchlichen Autoritäten und die Gehorsamsentbindung der Untertanen daher als nichtig zu betrachten seien – was Suárez bestreitet, (4) dass es eine Irrlehre sei, dass ein so exkommunizierter, d.h. abgesetzter christlicher König, wenn er sich dem päpstlichen Urteil nicht fügt, von jedermann bekämpft und ggf. auch getötet werden dürfe – was Suárez nicht bestreitet, (5) dass niemand das Recht habe, von diesem Eid zu entbinden – was Suárez bestreitet. Zeitgenössischer Kontext ist eine Serie häufig erfolgreichen Tötungsanschläge auf Herrscher – von Wilhelm von Oranien 1584 bis Henri IV. 1610.3 Dogmengeschichtlicher Hintergrund, auf den Suárez sich bezieht, ist das Dekret „Quilibet tyrannus“ des Konzils von Konstanz, verabschiedet in dessen 16. Sitzung vom 6. Juli 1415. Der Herzog Ludwig von Orléans war am 23. November 1407 von einer von Herzog Johann von Burgund gedungenen Bande ermordet worden, und der Pariser Magister Jean Petit hatte 1408 eine Verteidigungsschrift 1
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Denselben Ort hat die Lehre vom WR dann auch bei Grotius, wie das schon in der Überschrift seines Hauptwerkes besonders plastisch hervortritt; vgl. Manfred WALTHER, Das Widerstandsrecht bei Grotius, in: Staat bei Hugo Grotius, Baden-Baden 2005, S. 49-65. Norbert BRIESKORN, Francisco Suárez und die Lehre vom Tyrannenmord, in: Ignatianisch: Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, Freiburg 1990, S. 326. BRIESKORN, 1990 (Fn. 2), S. 324-326.
Begründung und Beschränkung des Widerstandsrechts nach Suárez
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für den Burgunder-Herzog verfasst. Die vom Konzil verurteilte Auffassung von der Zulässigkeit des Tyrannenmordes – sie entspricht nicht genau der Lehre Petits4 – lautet: „’Jedweder Tyrann kann und muss erlaubter- und verdienstvoller Weise durch jedweden seiner Vasallen oder Untertan getötet werden, auch durch heimliche Anschläge und einfühlsame Schmeicheleien; dem steht keinerlei vorausgehender Eid oder mit ihm geschlossener Bund entgegen, und ein Urteil oder Auftrag irgendeines Richters muss nicht abgewartet werden.’ Es[das Konzil] verwirft und verurteilt sie als Glaubens- und moralischen Irrtum, als häretisch, skandalös und zu Betrug, Täuschung, Lüge, Verrat, Meineid den Weg ebnend. Es erklärt darüber hinaus, beschließt und bestimmt, dass diejenigen, die diese verderbliche Lehre hartnäckig vertreten (asserentes), Häretiker sind“.5
4. Suárez entwickelt seine Lehre von den Bedingungen, unter denen es erlaubt ist – sei es einem Privatmann, sei es einem staatlichen Kompetenzträger, sei es dem Gemeinwesen insgesamt –, einem Inhaber der Staatsgewalt gegenüber Gewalt anzuwenden, ihn gar zu töten, systematisch in einer ausführlichen Kasuistik im 6. Buch der Defensio fidei catholicae at apostilicae adversus Anglicanae sectae errores, die 1613 publiziert wurde, und zwar in dessen Kapitel IV, „Ob im dritten Teil des Eides etwas über den (staats-)bürgerlichen Gehorsam hinaus und im Widerspruch zur katholischen Lehre enthalten ist“.6 Dieser dritte Teil des Eides lautet: „Ich schwöre außerdem, dass ich diese Lehre und These von Herzen verabscheue, zurückweise und ihr abschwöre als gottlos und häretisch, dass Fürsten, die durch den Papst exkommuniziert oder ihrer Rechte beraubt sind, von ihren Untertanen oder irgendjemand anders abgesetzt oder getötet werden können“ (zit. Nach Nr. 1).
Das 3. Buch entwickelt übrigens ausführlich die Lehre von der Volkssouveränität: Die Staatsgewalt liegt ursprünglich und solange nichts anderes von dieser beschlossen wird, bei der vereinigten Menge selber. Suárez greift an einem entscheidenden Punkt (s.u., Ziffer 6, Satz 7) auf diese Lehre zurück. Die Konstitutionstheorie von Staat (res publica) und Staatsgewalt (potestas), wie sie im 3. Buch der Defensio ausführlich entwickelt wird, durchläuft folgende Begründungsschritte:7 4
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S. dazu, auch zum Zusammenhang, Mario TURCHETTI, Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquité à nos jours, Paris 2001, S. 319-326 (322-323). Henricus DENZINGER; Adolfus SCHÖNMETZLER, Enchiridion symbolorum, Barcelonino e. a., 34 1966, Nr. 1235, S. 326 Meine Übers. MW.). In den Nachweisen wird, wenn sie sich auf DF 6.4 beziehen, nur die Nr. des betreffenden Abschnitts angegeben. Wird deutsch zitiert, so handelt es sich hier wie für Zitate aus DL, wenn dort nicht auf die deutsche Übersetzung verwiesen wird, immer um meine Übersetzung. Die Hervorhebungen durch Kursivierung sind in keinem Falle solche im Originaltext. Vgl. dazu ausführlich die Darstellung in Manfred WALTHER, From potestas multitudinis in Suárez to potentia multitudinis in Spinoza. The foundation of democracy inverted, in: Spinoza and Late Scholasticism (= Studia Spinozana 16 (2007)), im Erscheinen.
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(1) Die politische Gemeinschaft konstituiert sich natürlich, d.h. kraft dessen, dass der Mensch als soziales Wesen von Natur aus auf das Leben in der Gemeinschaft hin angelegt ist (DFb 3.2.5: 18). Die tatsächliche Bildung der Gemeinschaft (communitas) erfolgt, da im Naturzustand alle frei und gleich sind, durch einen freien Zusammenschluss von Menschen (DFb 3.2.11: 25; vgl. DLb 3.2.3: 21, 23). (2) Ist der Zusammenschluss zu Gemeinwesen den Menschen von Natur aus teleologisch vorgezeichnet und ist ein solcher Zusammenschluss nur funktionsfähig, wenn er ein Leitungsorgan hat, so ist auch die Genese der als funktional notwendig erkennbaren Staatsgewalt rein natürlich (DFb 3.1.4: 7-8; DLb 3.2.4: 25). (3) Sind alle Menschen ursprünglich, kraft natürlichen Rechts, frei und gleich (DFb 3.2.9: 22; 2.11: 25), so liegt auch die Staatsgewalt, der in erster Linie die Gesetzgebung obliegt, ursprünglich, also nach natürlichem Recht, bei denjenigen, die sich so zusammengeschlossen haben, d.h. bei der staatlichen Gemeinschaft (DFb 3.2.5-8: 18-22). Die ursprüngliche Form der Staatsgewalt ist immer demokratisch, ist „Selbstregierung“ (DFb 3.2.11: 25). Daraus folgt, dass „kein König oder Monarch […] unmittelbar von Gott oder durch göttliche Einsetzung die Staatsgewalt (politicum principatum) inne hat oder inne gehabt hat, sondern [nur] in Vermittlung durch menschlichen Willen und menschliche Einsetzung“ (DFb 3.2.10: 22-23; 3.2.11: 25).8 Letzteres ist möglich, weil das natürliche Recht lediglich negativen Charakters ist, d.h. eine Erlaubnis verleiht, nicht aber positiv die demokratische Regierungsform vorschreibt.9 Die Demokratie bleibt also so lange bestehen, bis anderes, z.B. die Errichtung einer Monarchie, durch menschlichen Willen, d.h. positiv-rechtlich, beschlossen worden ist (DFb 3.2.8-9: 21-22; 3.2.13: 27). Das kann aber nicht durch ein Gesetz geschehen, denn im Resultat würde der Gesetzgeber ja seine Gesetzgebungskompetenz negieren (DFb 3.2.12: 26); die einzig mögliche Form ist daher ein Beschluss des Volkes, so dass jede andere als die demokratische Regierungsform Gott nicht unmittelbar, sondern nur in Vermittlung durch eine bestimmte Ausübung der dem Volk unmittelbar verliehene Gewalt zum Urheber hat. Da Gott diesen Akt billigt, geht die daraus resultierende Gehorsampflicht gegenüber dem Fürsten ebenfalls mittelbar auf den Willen Gottes zurück (DFb 3.2.13: 27). Dem Volk stehen dazu drei Möglichkeiten zur Verfügung. - Ein mögliches Verfahren ist ein Vertrag, „in dem das Volk seine Gewalt auf den Fürsten überträgt“, und zwar mit Verpflichtung der Sorge für das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit, also ein Herrschaftsvertrag – so interpretiert Suárez die lex regia (Dig. I.4,1); Verträge aber sind lege naturae zu halten (DFb 3.2.12: 26). 8
9
Das ist sowohl gegen den Gallikanismus als auch gegen Luther und im hier maßgebenden Kontext gegen den englischen König James I. gerichtet (DFb 3.3.1: 34) und wird z.B. von Hobbes in De Cive übernommen, bevor er, um den demokratischen ‘Zwischenschritt’ zu vermeiden, im Leviathan die Figur des Autorisierungsvertrages einführt. Vgl. die Ausführungen im vorangehenden Beitrag in diesem Band, Abschnitt 6.
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- Eine zweite Form ist die der Schenkung (donatio). Zwar gehört zu den dem Menschen von Natur aus zukommenden, weil mit der Schöpfung verliehenen subjektiven Rechten (im Sinne von „Herrschaft [dominium] oder ‚Quasiherrschaft‘ über eine Sache oder auch ‚Berechtigung‘ [actio], die Sache zu benutzen“ (DLd 2.14.16: 557), auch die Freiheit, d.h. die Befugnis, von seinen Kräften frei – im Rahmen des natürlichen Gesetzes – Gebrauch zu machen.10 Suárez wendet sich also entschieden gegen die aristotelische Lehre, die Natur habe Menschen „in der erwähnten positiven Weise [d.h. im Sinne einer natürlichen Ausstattung. Wa.] zu Sklaven gemacht, wenn ich es so scharf ausdrücken darf“ (ebd.: 558). Aber „obwohl die Freiheit und alle aus ihr fließende Herrschaft eine Gabe der Natur ist, so hat sie dennoch nicht absolut verboten, diese Freiheit zu veräußern oder sich ihrer zu entäußern (vendere seu alienari; teilw. meine Übers. MW.) Denn gerade dadurch, dass der Mensch Herr seiner Freiheit ist, kann er sie veräußern bzw. sich fremder Gewalt (dominium) unterstellen“ (DLb 2.14.18: 560). Dasselbe gilt für die „juristische Person“ (persona ficta) der staatlichen Gemeinschaft (DFb 3.2.9: 25): Auch „die vollkommene staatliche Gemeinschaft ist nach dem Naturrecht frei und keinem Menschen außer sich selbst unterworfen“ und kann „gleichwohl [..] durch eigenen Willen […] einer solchen Gewalt beraubt [..] werden“ (DFb 3.2.11:22) und die ihr eo ipso zukommende Staatsgewalt nicht nur vertraglich unter festgelegten beiderseitigen Pflichten übertragen, sondern sich ihrer auch auf dem Wege der Schenkung (donatione) entäußern,11 und ist dann kraft ihres eigenen Willensaktes naturgesetzlich daran gebunden. Kraft einer solchen absoluten Übertragung der Staatsgewalt durch die Gemeinschaft, mit der sie „sich unterworfen und ihres vorherigen Rechts beraubt hat, […] steht der König über dem Reich, weil es sich, indem es sie ihm gegeben hat, unterworfen und der vorhergehenden Freiheit [selber] beraubt hat, wie aufgrund des Beispiels vom Knecht feststeht, wenn es nur im rechten Verhältnis genommen wird (servata proportione)“ (DLb 3.4.6: 43). - Eine dritte, freilich unfreiwillige Form ist der Quasi-Vertrag, kraft dessen das Volk in einem von seiner Seite ungerecht geführten Krieg durch den Sieger seiner Gewalt beraubt wird und als Strafe der von der Natur gewährten Freiheit 10
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„Diesbezüglich gilt: So wie der Mensch eben damit, dass er geschaffen wurde und seine Vernunft zu gebrauchen vermag, die Gewalt über sich selbst und über seine Fähigkeiten und Glieder zu deren Gebrauch hat und aus diesem Grunde von Natur frei, d.h. nicht Knecht, sondern Herr seiner Handlungen ist, so hat der politische Körper der Menschen, eben damit, dass er auf seine Weise hervorgebracht wurde, die Gewalt und das Regiment über sich selbst, und folglich hat er auch die Gewalt über seine Mitglieder und eine eigentümliche Herrschaft [dominium] über sie“ (DLb 3.3.6: 32). „Diesbezüglich [...] ist die Übergabe dieser Gewalt durch das Gemeinwesen an den Fürsten [...] eine Quasi-Entäußerung oder vollkommene Schenkung [largitio] der gesamtem Gewalt, die bei der Gemeinschaft lag“ (DLb 3.4.11: 49). Dass die Staatsgewalt von der Gemeinschaft an einzelne immer nur delegiert sei, wie Bartolus sagt, gilt also nur „in denjenigen Gemeinwesen, die de facto frei sind und die höchste Gewalt bei sich behalten und nichtsdestoweniger die Gesetzgebungsbefugnis entweder einem Senat oder einem Führer oder einem einzelnen zusammen mit dem Senat überlassen“ (ebd., Nr. 12: 49).
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verlustig geht und in Knechtschaft gerät (DFb 3.2.20: 32). Danach ist der Herrscher auch dem Volk insgesamt vorgeordnet, denn es hat seine Freiheit weggegeben (DLb 3.4.5: 42-43).12 Insofern Gott durch seinen concursus mit allen weltimmanenten Abläufen, kraft deren eine staatliche Gemeinschaft positiv-rechtlich alle Regierungsformen beschließen kann (skizziert in DF 3.2.18-19: 30-32), erst deren Existenz ontologisch verbürgt, gilt natürlich auch hierfür: „Alle Obrigkeit ist von Gott“ (DFb 3.2.6: 19; 2.13: 27).13 Die Hinlenkung auf das erst durch Offenbarung bekannte übernatürliche Ziel erfolgt durch die hierarchisch geordnete Kirche, denn Gott hat kraft seiner außeroder übernatürlichen Gewalt die oberste kirchliche Gewalt unmittelbar gestiftet und die Amtsgewalt an Petrus direkt übertragen (DFb 3.2.3: 17). Lediglich die Auswahl der Person des Amtsinhabers erfolgt, jedenfalls nach dem neuen Gesetz (d.h. dem Neuen Testament), durch legitime Wahl (DFb 3.2.16 : 29). Damit kommt der Kirche nur eine indirekte Gewalt in politicis zu; und zwar deshalb, weil im Konfliktfall das höhere dem niederen Ziel vorgeht.14 Ob ein solcher Konfliktfall vorliegt, der auch indirekt sein kann, darüber hat natürlich der Hüter des übernatürlichen Zieles die Definitionsherrschaft.
5. Suárez erarbeitet seine Position zu der Frage, wer wann in welcher Weise ein Recht zur Anwendung von Gewalt gegen den/die Inhaber der Staatsgewalt, d.h. ein WR hat, indem er vier grundlegende Unterscheidungen einführt: 5.1 Er unterscheidet – mit der gefestigten Tradition – zwei Arten von Tyrannis:15
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15
Vgl. jedoch die entscheidende Einschränkung, von der in 6, Satz 7, die Rede sein wird, und den Exkurs. Vgl. Robert SCHNEPF, Concursus – theoretische Hintergründe der Auslegung von Römer 13,1 bei Francisco Suárez; Kommentar zu Gerald Hartung, in: Religion und Politik, BadenBaden, 2004, S. 127-140. Zum Verhältnis zwischen ‘vernunftimmanenter’ und durch Gottes Willen verschäfter Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes bezüglich der Bindungswirkung freier Willensakte vgl. den vorigen Beitrag in diesem Band, Abschnitt 4, lit. c). „[D]ie von der Natur vorgeschriebene Treue gegenüber ihren Königen“ ist „dem gemeinsamen Recht der christlichen und katholischen Völker angepasst“ auf die Weise, „dass der bürgerliche Gehorsam dem kirchlichen untergeordnet ist und von ihm geleitet wird, soweit es das betrifft, was zum Heil der Seele gehört, und folglich dass jenes Band, auf dem die Verpflichtung zum bürgerlichen Gehorsam beruht, durch den Hirten der Kirche gelöst werden kann, wenn derjenige, der die bürgerliche Gewalt innehat, sie zum geistlichen Verderben der Untertanen oder zu seinem und anderer öffentlichen Ärgernis und Schaden missbraucht“ (DFb 6.6.12: 116). Francisco SUAREZ, Tractatus de legibis et Deo Legislatore, in: DERS., Opera omnia, vol. 5, Paris, 1858, S. 820. Dieselbe Unterscheidung, aber ohne diese Terminologie, findet sich auch in Nr. 1.
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- Die eine ist der tyrannus quoad dominium, der also ohne Rechtstitel, d.h. gewaltsam und daher unrechtmäßig, zur Herrschaft gelangt ist (Nr. 1). Suarez nennt ihn auch zuweilen den „eigentlichen Tyrannen“ (proprius tyrannus, Nr. 13). Ich spreche – mit Suárez (Nr. 1) - vom Usurpator. - Die andere ist der tyrannus quoad regimen, der also von seiner legitimen Herrschaftsgewalt einen tyrannischen Gebrauch macht, (1) sei es, dass er alles auf seinen statt auf des Gemeinwesens Vorteil ausrichtet, (2) sei es, dass er „seine Untertanen durch Plünderung, Gemetzel, Korruption oder Verübung anderer ähnlicher Taten mit öffentlicher Wirkung und wiederholt ungerecht unterdrückt“. In christlichen Gemeinwesen kommen hinzu (3) die Anstiftung zur Häresie oder einer anderen Form von Abtrünnigkeit oder (4) zu einem öffentliche Schisma (Nr. 1). Ich spreche vom Despoten. 5.2 Zentral ist die Unterscheidung zwischen verschiedenen Rechtstiteln der Gewaltanwendung, nämlich zwischen - defensiver Gewalt, d.h. der Befugnis, das jeweilige suum zu verteidigen, und - Vergeltung oder Strafgewalt (Nr. 4 u.ö.). 5.3 Hinzu tritt die Unterscheidung zwischen zwei Schutzgütern, nämlich - der Privatperson (zum einen Leben und körperliche Unversehrtheit, zum anderen äußere Güter; zu dieser Unterscheidung s. Nr. 5) und - dem Gemeinwesen (Nr. 6). 5.4 Die letzte Unterscheidung ist diejenige zwischen materiell-rechtlichem (iusta causa) und formal- oder kompetenzrechtlichem Aspekt (potestas), die besonders in Bezug auf die Unterscheidung der beiden Arten von Tyrannis (5.1) relevant ist.16
6. Ich versuche, Suárez’ Lehre vom WR in 8 Sätzen samt Begründung zusammenzufassen. Die Sätze 1-5 behandeln das WR der Privatperson: Satz 1 – 4 beziehen sich auf Abwehrhandlungen, Satz 5 bezieht sich auf Bestrafung. Die Sätze 6-7 handeln vom WR des Gemeinwesens. Satz 8 schließlich bestimmt das Recht des Papstes gegenüber Tyrannen. Satz 1: Jeder Privatmann, ob Untertan oder Fremder, hat, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist, die Befugnis, einen aktuellen Angriff des Tyrannen, sowohl des Usurpators (Nr. 5) als auch des Despoten (Nr. 13), auf sein und aller anderen so attackiertes Leben und körperliche Unversehrtheit17 mit Gewalt abzuwehren, auch wenn der Tyrann dabei sein Leben verliert (Nr. 5). Der Rechtsgrund ist, dass das Recht auf Schutz des Lebens das höchste ist (Nr. 5), so dass im Verteidigungsfall „kein Unterschied zwischen beiden Tyrannen [besteht], 16
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Die Terminologie ist entnommen aus SUAREZ 1858 (Fn. 15), S. 759b; dieselbe Unterscheidung, aber ohne diese Terminologie, wird auch verwendet in Nr. 3; vgl. Nr. 7. „vitam aut membra seu gravem corporis mutilitationem“ , Nr. 5.
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weil es unter dem Rechtstitel der Verteidigung einer Privatperson erlaubt ist, auch einen wahren König, der tyrannisch sein eigenes Reich oder seinen Staat angreift, zu töten.“ Die Erlaubnis dazu stammt „aus der Autorität Gottes, der durch das natürliche Gesetz jedem die Befugnis (facultatem) gegeben hat, sich und sein Vaterland, ebenso auch jedweden Unschuldigen zu verteidigen“, so dass auch ein Außenstehender diese Befugnis hat (Nr. 12). Das Liebesrecht freilich mag ihn veranlassen, sich im Falle des Despoten für das Gemeinwesen zu opfern, wenn die Tötung des Tyrannen dieses ins Unglück stürzen würde (Nr. 5). Ansonsten besteht aber kein Unterschied zwischen Usurpator und Despot. Satz 2: Nur gegenüber dem Usurpator, nicht dagegen gegenüber dem Despoten, besteht ein Recht auf gewaltsame Verteidigung auch der „äußeren & zufälligen Güter“. Der Grund dieser Beschränkung auf den Usurpator ist, dass (1) „dem Leben des Fürsten – auf Grund der Würde seines Amtes und der Tatsache, dass er, in einzigartiger Weise, Gottes Repräsentant und sein Stellvertreter ist – der Vorzug gegenüber privaten Gütern zu geben ist“ und er (2) „eine höhere administrative Gewalt über das Eigentum aller seiner Untertanen hat“, so dass selbst bei Übergriffen Gewalt nicht zulässig ist, zumal da (3) der von ihm angerichtete Schaden auf dem Rechtswege kompensiert werden kann (Nr. 5) – was alles ja beim Usurpator nicht der Fall ist. Satz 3: In Verteidigung des Gemeinwesens (Suárez: „des Vaterlandes“), d.h. auch ohne dass ein Angriff auf ihn selber vorliegt, ist der Privatmann sowie jeder Außenstehende zum Widerstand gegen den Usurpator (unter Einschluss seiner Tötung) autorisiert, und zwar zum einen durch Gottes Autorität unmittelbar (Nr. 12; ähnlich 13), zum anderen weil „ein eigentlicher Tyrann [d.i. ein Usurpator], solange er die Herrschaft (regnum) unrechtmäßig ausübt und gewaltsam (per vim) herrscht, immer dem Staat zusetzt, und so führt es [das Gemeinwesen] immer mit jenem einen aktuellen oder virtuellen Krieg, nicht einen Angriffskrieg, [...] sondern einen Verteidigungskrieg“, so dass, solange es das Gegenteil nicht erklärt, immer davon auszugehen ist, „dass es von jedem seiner Bürger, ebenso auch von jedem beliebigen Fremden verteidigt werden will“ (Nr. 13), freilich nur unter sechs einschränkenden Bedingungen: (1) Im Falle, dass ein höherer Kompetenzträger vorhanden ist, darf der Usurpator, sofern er sich bereits etabliert hat, nicht von einem Untertan und erst recht nicht von einem Fremden getötet werden (Nr. 8). (2) Im Falle, dass kein höherer Kompetenzträger vorhanden ist, muss die Tyrannis und Ungerechtigkeit öffentlich und offensichtlich sein (publica & manifesta, Nr. 8); jeder Zweifel daran vernichtet den Rechtstitel, da im Zweifel der Positionsinhaber in der rechtlich stärkeren Position ist. (3) Die Tötung muss erforderlich (necessaria) sein, um die Freiheit des Reiches aufrecht zu erhalten (Nr. 8). (4) Es darf keine vertragliche oder eidliche Bindung des Volkes gegenüber dem Tyrannen vorliegen, denn diese verpflichtet auch gegenüber dem Feind – außer wenn sie offensichtlich ungerecht und erzwungen ist (Nr. 3 u. 9).
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(5) Weiterhin darf die Tyrannentötung nicht aller Voraussicht nach zur Verschlechterung der Lage führen (Nr. 9).18 (6) Schließlich darf das Gemeinwesen der Tötung nicht ausdrücklich widersprochen haben, denn dann liegt keine Autorisierung vor, und der Akt ist unerwünscht (Nr.9). Liegt keine dieser Einschränkungen vor, ist die Tötung des Usurpators erlaubt (Nr. 10) – gegen Luther. Satz 4: Zur gewaltsamen Verteidigung des Gemeinwesens gegenüber einem Despoten bis hin zur Tötung ist der Privatmann und ebenso jeder Außenstehende nicht dann schon berechtigt, wenn der Despot nur tyrannisch (parve) herrscht, sondern erst dann, wenn er akut das Gemeinwesen angreift. Denn bei lediglich ungerechter Herrschaft liegt der Verteidigungsfall nicht vor. Die Rechtsgrundlage ist in diesem Falle nicht, wie beim Usurpator, die stillschweigende Ermächtigung durch das Gemeinwesen (Nr. 12), sondern allein die direkte durch die Autorität Gottes (s. das Zitat bei Satz 1). Bezüglich der Verteidigungshandlungen zum Schutz des Gemeinwesens besteht also insgesamt nur dieser Unterschied zwischen beiden Tyrannisarten, dass der Verteidigungsfall bei Usurpation der Herrschaft immer, bei Despotie nur dann gegeben ist, wenn der tyrannisch Herrschende das Gemeinwesen angreift (Nr. 12, Ende). Satz 5: Zur Bestrafung eines Tyrannen gleich welcher Art ist ein Privatmann nicht kraft privater Autorität berechtigt. Denn zum einen ist die Strafgewalt als Form der Sorge für das Gemeinwohl des Staates ausschließlich dem Inhaber der öffentlichen Gewalt übertragen; zum anderen ist Strafen ein Akt, der nur einem rechtlich Übergeordneten zusteht, sie hat also öffentlich-rechtlichen Charakter und muss in einem fairen Verfahren erfolgen, stillschweigende Zustimmung des Gemeinwesens kann nicht unterstellt werden; schließlich wären die Folgen „unendliche Verwirrung und Unordnung“. Wenn das schon im Verhältnis von Privatleuten untereinander gilt, so a fortiori im Verhältnis Privatmann - Fürst (Nr. 4 u. 12). Erforderlich ist vielmehr „eine ausdrückliche Erklärung durch besondere oder wenigstens durch generelle Delegation (commissio)“ durch das angegriffene Gemeinwesen (Nr. 12). Jedoch ist die Bestrafung eines Usurpators ein geringeres Vergehen, weil bloße Ungerechtigkeit und Amtsanmaßung, die des Despoten dagegen Majestätsverbrechen (Nr. 13). Das ist explizit gegen die Irrlehren von Huß und Wiclif gesagt. Auch externe Privatleute und (niedere) Amtsträger ohne einschlägige Zuständigkeit sind nicht zur Bestrafung berechtigt (Nr. 13). Satz 6: Das Gemeinwesen oder ein einschlägiger Kompetenzträger hat, wenn schon jeder Privatmann das Gewaltrecht der Verteidigung gegen den Usurpator hat, dieses Recht a fortiori, da die Usurpation der königlichen Gewalt per se ein andauernder und aktueller Gewaltakt ist.19 18
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Diese Bedingung ist uns in Form der Erfolgsaussicht (quia fit malum sine spe maioris boni, Nr. 9) ja aus der Rechtsprechung des BGH zum Wiedergutmachungsgesetz bekannt. Vgl. das Zitat in Satz 3.
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Satz 7: Gegenüber einem Despoten hat das Gemeinwesen auch ein Bestrafungsrecht in Form eines Absetzungs- und Vertreibungsrechts als eines im äußersten Fall erforderlichen Defensivaktes, und zwar nur „das Gemeinwesen als ganzes und in Übereinstimmung mit den öffentlichen und allgemeinen Beratungen seiner Körperschaften (civitatium) und führenden Männer“ (Nr. 15), also in einem rechtförmigen Verfahren.20 Dazu ist es aus zwei Gründen berechtigt: Zum einen weil gemäß dem Naturgesetz Gewalt mit Gewalt begegnet werden darf, und zum anderen, „weil dieser für die Erhaltung des eigenen Gemeinwesens notwendige Fall immer als in jenem ersten Vertrag (foedere) ausgeschlossen zu betrachten (intelligere) ist, mit dem das Gemeinwesen seine Gewalt auf den König übertrug“ (Nr. 15).
EXKURS In De Legibus hatte Suárez zunächst ausgeführt, dass, sofern das Volk sich durch Schenkung (donatio) der Staatsgewalt entäußert und diese absolut auf ihn übertragen hat, „der König über dem Reich steht“ (s.o.5.1, vor dem 2. Spiegelstrich), aber sofort hinzugefügt: „es sei denn, dass er etwa in Tyrannei abgleitet (declineat), derentwegen das Reich (regnum) einen gerechten Krieg gegen ihn führen kann“ (DLl 3.4.6: 44).21 In der Defensio fidei wird das nun – soweit ich sehe erstmals - damit begründet, dass das Gemeinwesen sich auch im Modus der Schenkung niemals seines Letztentscheidungs- und damit seines Jurisdiktionsrechts vollkommen begeben kann: „Und aus diesem Grunde [d.i. weil das Volk sich die Staatsgewalt für einige schwerere Fälle vorbehalten hat] kann das Volk, wenn der König seine rechtmäßige Gewalt zur Tyrannei pervertiert, seine natürliche Gewalt zu seiner Verteidigung gebrauchen; derer hat es sich nämlich niemals begeben“ (DFb 3.3.3: 35). In einer anderen Schrift heißt es explizit, „dass in einem solchen Falle [d.i. im Falle despotischer Ausübung der Staatsgewalt] das Gemeinwesen als ganzes (tota res publica) über dem König steht“. Und Suárez bringt zur Begründung das aus Mariana22
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Dies dürfte der Hintergrund der Bestrebungen bestimmter Kreise der Opposition gegen Hitler gewesen sein, diesen in einem Verfahren anzuklagen. Fast wörtlich genauso heisst es schon in der Vorlesung De legibs tractatus von 1601/02: „Und aus eben diesem Grunde [weil „durch die Übertragung der Gewalt auf den König bewirkt wird, dass er über dem Reich steht“] kann er jener Gewalt nicht beraubt werden, weil er wahre Herrschaft (dominium) über es erworben hat, es sei denn, er verfällt etwa in Tyrannei, derentwegen das Reich einen gerechten Krieg gegen ihn führen kann“ (in DLb 3, Appendix II., S. 289). „Gewiss kann der König vom Gemeinwesen, dem die königliche Gewalt entstammt, zur Rechenschaft [in ius] gerufen werden, wenn die Sache es verlangt, und, wenn er Heilung ablehnt, des Amtes beraubt werden. Und es hat die Herrschaftsrechte [iura potestatis] nicht so auf den Fürsten übertragen, dass es sich nicht größere Gewalt vorbehalten hätte“ (Juan de MARIANA, De rege et regis institutione libri III, ND d. Ausg. Toledo 1599, Aalen 1969, Liber primus, S. 72-73).
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übernommene, dann später auch bei Grotius23 und bei Pufendorf24 an derselben Stelle angeführte Argument: Denn da das Gemeinwesen (res publica) „ihm die Macht (potestatem) gegeben hat, ist anzunehmen, dass es sie nur unter der Bedingung gegeben hat, daß er entsprechend dem Staatswohl (politice) und nicht tyrannisch regiere, und dass er sonst vom Volk [ab ipsa, i.e. a re publica! MW.] abgesetzt werden könne“.25 (Suárez 1965: 204/205). Das Gemeinwesen entscheidet, wann der Extremfall gegeben ist, und eröffnet ggf. ein zur Absetzung führendes Strafverfahren; das Recht dazu aber steht, wie Suárez betont, nur einem „Oberen“ zu. Somit bleibt nach Suárez und gegen Bodin – und vielleicht in Korrektur der Position in De Legibus26 - die Souveränität immer und unabtretbar beim Volk.
Satz 8: Wenn nur ein dem Herrscher Übergeordneter das Bestrafungsrecht gegenüber dem legitim ins Amt gekommenen, aber tyrannisch agierenden Fürsten hat, so kommt dieses – freilich nur gegenüber christlichen Fürsten – nur dem Papst zu, und zwar auch gegenüber Monarchen, „weil diese Fürsten als ihm untergeben zu betrachten sind“. Verbrechen in geistlichen Angelegenheiten, wie z.B. Häresie, berechtigen den Papst zur Bestrafung, die Absetzung eingeschlossen. Auch in weltlichen Angelegenheiten ist der Papst kraft indirekter Amtsgewalt zur Bestrafung befugt, „insofern die tyrannische Amtsführung eines weltlichen Fürsten immer verderblich für die Erlösung der Seelen ist“ (Nr. 16). Aber auch der häretische König bleibt in Besitz und Verwaltung seines Königreiches, bis er durch einen expliziten zusätzlichen Spruch für sein Verbrechen verurteilt wurden ist. Dann, aber eben erst dann, darf er uneingeschränkt als Usurpator betrachtet und folglich von jedermann getötet werden (Nr. 14). Hier errichtet Suárez also einen Damm gegen das diesen selber 23
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Es ist, so führt Grotius bei der Erörterung des Verbotes der Gewaltanwendung gegen den Despoten aus, fraglich, ob der Wille derer, „die sich zuerst zu einem Staat zusammentun“, dahingehend verstanden werden kann, dass „sie allen die Last auferlegen wollten, lieber zu sterben als in irgendeinem Falle der Gewalt der Vorgesetzten mit den Waffen entgegenzutreten“. Wahrscheinlich würden sie sich diese Last nur mit der Ausnahme auferlegen, „daß der Widerstand gestattet sein solle, wenn dem Umsturz des Staates oder dem Untergang vieler Unschuldiger damit zuvorgekommen werde“ (Hugo GROTIUS, De jure belli ac pacis libri tres / Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens [...], Tübingen 1950, I.4.VII.2. Vgl. WALTHER 2005 (Fn.1), S. 59-61. „Wenn die Urheber Bürgerlicher Gesellschaft gefragt werden sollten: Ob denn ihr Wille gewesen wäre/daß alle Nachkommen lieber sterben/als sich/einigerley Weise/wider unrechte Gewalt der Obrigkeit mit Waffen beschirmen sollten? So würden sie wol alle nach des Grotii wohlgegründeter Anmerckung mit Nein antworten“ (Samuel PUFENDORF, Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht [...], ND d. Ausg. Frankfurt/Main 1711, Hildesheim e. a. 1998, VII.VIII, § VII, Bd. II, S. 683. Francisco SUAREZ, De triplici virtute theologali, Tractatus tertius de charitate, Disputatio XIII et ultima: De bello. Sectio 8: Utrum seditio sit intrisece mala. in: DERS., Ausgewählte Texte zum Völkerrech; Lat./dtsch, Tübingen, 1965, S. 204/205.. Oder zumindest in der Entfaltung der Implikationen seiner Lehre vom naturrechtlichen Vorrang der Freiheit (vgl. den vorangehenden Beitrag in diesem Band, Abschnitt 7, bei (1)).
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gefährdende Losschlagen eines katholischen Bevölkerungsteils gegen seinen rechtmäßigen, obwohl häretischen Fürsten.27
7. Ich fasse zusammen: (1) Ein WR als Recht der Gewaltanwendung im Verteidigungsfalle, unter Einschluss der Tötung des Herrschers als ultima ratio, hat jedermann, sei er Staatsangehöriger oder nicht, gegenüber einem Usurpator a) bei dessen Angriffen auf irgend eines Menschen Leben und körperliche Unversehrtheit kraft unmittelbarer Autorisierung durch das Naturrecht, ferner ein Untertan auch bei Angriffen auf äußere Güter, b) bei stets gegebenem Angriff auf das Gemeinwesen kraft doppelter Autorisierung: einer stillschweigenden durch das Gemeinwesen und einer unmittelbaren durch das Naturrecht, d.h. durch Gott – jedoch unter mehreren stark einschränkenden Bedingungen. (2) Ein WR als Verteidigungsrecht hat jeder Untertan auch gegenüber dem Despoten, sofern dieser der Untertanen „Leben und Glieder“ oder das Gemeinwesen angreift, und zwar kraft direkter Ermächtigung durch das Naturrecht – gegen Luther –, nicht jedoch beim Angriff auf die eigenen äußeren Güter oder bei ‚lediglich‘ tyrannischer Herrschaftsausübung, welche das Gemeinwesen nicht direkt bedroht – in der einschränkenden Bedingung gegen Huß und Wiclif. (3) Ein WR als Verteidigungsrecht gegen den Usurpator und gegen den Despoten hat a fortiori auch das Gemeinwesen insgesamt. (4) Ein WR als Strafrecht kommt keinem Privatmann zu – gegen Huß und Wiclif. (5) Ein Absetzungsrecht – zuweilen auch als Strafrecht bezeichnet gegenüber dem Despoten kommt dem Gemeinwesen als ursprünglichem und unabtretbar obersten Inhaber aller Staatsgewalt zu; dazu bedarf es aber eines förmlichen Verfahrens. (5) Ein Strafrecht gegenüber einem Despoten kommt in christlichen (!) Gemeinwesen nur einem Träger übergeordneter Kompetenz zu, und das ist immer auch, bezüglich eines Monarchen nur der Papst kraft direkter oder auch indirekter Gewalt im Falle von Häresie oder Schisma..
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BRIESKORN 1990 (Fn. 2), S. 335.
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8. In der Lehre vom WR treten so die Grundlagen der Rechtsphilosophie des Suárez mit besonderer Klarheit und komprimiert hervor: (1) Alle politische Herrschaft und Amtsgewalt gründet „in der natürlichen Würde des Menschen. Denn der Mensch ist nach dem Bilde Gottes gemacht, eigenen Rechts (sui iuris) und als nur Gott untertan geschaffen“ (DFb 3.1.2: 5-6). (2) So hat er ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als natürliches, ihm durch Gott als den Schöpfer verliehenes Recht, das auch durch einen Herrschaftsvertrag nicht abgetreten werden kann. (3) Dieses Recht auf Verteidigung des ihm natürlicherweise Eigenen darf er gegen jedermann, auch gegen den Despoten, geltend machen, ja er darf jedem anderen Menschen zu Hilfe eilen, dessen natürliches Recht angegriffen wird; darin ist ggf. auch die Tötung des Angreifers eingeschlossen.28 (4) Die Gemeinschaft, die durch den freiwilligen Zusammenschluss der Freien entsteht, kann das ihr natürlicherweise zukommende Direktionsrecht über die Gemeinschaft weitestgehend an einen Herrscher oder an mehrere Herrscher abtreten, jedoch nicht so absolut, dass sie sich nicht im Notstandsfall auch gegen die despotisch Herrschenden (z.B. gegen den Monarchen) gewaltsam verteidigen dürfte. Nicht nur das basale Selbsterhaltungsrecht der Gemeinschaft, sondern auch die Souveränität kann also nicht abgetreten werden, diese bleibt immer beim (politisch vereinigten) Volk. (6) Der von Gott direkt eingesetzte Amtswalter über das geistliche Wohlergehen der Bürger, d.i. der Papst, hat als diesbezüglich übergeordneter Amtsträger ein Absetzungsrecht gegenüber einem Despoten, sofern dieser direkt oder in der Konsequenz seines Handelns gegenüber den Untertanen deren Seelenheil gefährdet.
9. Diese Lehre einer allen Menschen verliehenen Würde und eines unabtretbaren natürlichen Rechts auf Leben und Unversehrtheit, der Demokratie als der natürlichen Regierungsform jedes Staates und eines daraus sich ergebenden WR nicht nur gegen den Usurpator, sondern auch gegen den Despoten, sowie schließlich der Oberhoheit des Papstes über alle christlichen Völker erarbeitet Suárez in der Auseinandersetzung mit vier verschiedenen Gegenpositionen: (1) Auf den Streit zwischen Konziliaristen und Papisten antwortet er mit einer grundlegenden Unterscheidung in zwei Organisationsformen, die jeweils begründet werden: eine natürlich-egalitäre, dann positiv-rechtlich änderbare für 28
Das ist, wie klar zu erkennen ist, die naturrechtliche Grundlage der Intervention in die Angelegenheiten anderer: „Und solange es [das Gemeinwesen] das Gegenteil nicht erklärt, ist immer zu unterstellen, dass es von jedwedem seiner Untertanen verteidigt werden will, ebenso auch von jedem beliebigen Fremden“ (Nr. 13) – freilich immer im Modus des Notrechtes der Verteidigung, niemals aber als Strafaktion.
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den Bereich des bürgerlichen Gemeinwesens und eine hierarchische für den Bereich der Kirche. (2) Damit ist auch der Anspruch des Papstes ebenso wie der des Kaisers, die im Konsens die eroberten „Indianer“-Länder auf Spanien und Portugal aufgeteilt haben, abgewiesen, und es ist das politische Selbstorganisationsrecht dieser Völker begründet. (3) Die Lehre Bodins von der absoluten Souveränität jedes Herrschers eines bürgerlichen Gemeinwesens wird zurückgewiesen, die zwar eine materielle Rechtswidrigkeit (Verstoß gegen natürliches oder göttliches Recht) des Handelns des Herrschers kennt, aber keine Kompetenz zum gewaltsamen Vorgehen gegen den Souverän einräumt. (4) Schließlich ist die ursprüngliche Luthersche Position abgewiesen, der zufolge jedwede Gestalt weltlicher Herrschaft als direkt von Gott eingesetzt und somit als unantastbar gilt mit der Folge, dass es kein politisch begründetes WR gegen einen Despoten gibt.
10. Abschließend seinen einige markante Züge dieser Lehre vom WR hervorgehoben: (1) „Salus populi – suprema lex“ – das Selbsterhaltungsrecht des Volkes steht über allen Rechtstiteln verliehener Staatsgewalt, in welchem Modus auch immer diese Verleihung geschehen sein mag. (2) Die ausgefeilte Kasuistik, die Suárez zum WR entfaltet, ist so gearbeitet, dass der Rechtstitel zur Gewaltanwendung – außer im Falle des direkten Angriffs auf Leben und körperliche Unversehrtheit – immer nur dann vorliegt, wenn zugleich auch die Machtverhältnisse Erfolg versprechen. Das Problem aller Erörterungen zum WR hat Hume knapp und präzise formuliert: „Ein Recht ohne dazugehörige Mittel wäre jedoch eine Absurdität“.29 (3) Suárez spricht im Rahmen der Rechtslehre immer nur von der Befugnis zum Widerstand, niemals aber von einer Widerstandspflicht; lediglich von einer Pflicht zur Nichtbefolgung ungerechter Gesetze ist die Rede (DLb 3.10.7: 138). (4) Suárez spricht jedem Staat bzw. dessen Herrscher ein Recht zur Intervention auch in die ‚inneren Angelegenheiten’ anderer Staaten zum Schutz von deren Bürgern gegen ihre(n) Despoten zu, denn es handelt sich dann um einen – gerechten - Verteidigungskrieg zum Schutz Unschuldiger.30
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David Hume, Über passiven Gehorsam, in: DERS., Politische und ökonomische Essays, Teilband 2, Hamburg, 1988, S. 328. Zum völkerrechtlichen Aspekt vgl., unter Bezugnahme auf De bello, TURCHETTI, 2001 (Fn. 4), S. 551-552.
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IV. AUSBLICK
Robert Schnepf, Halle/S.
NATÜRLICHES GESETZ, NATURGESETZ UND ZWEIWELTENTHEORIE VON DER SPÄTSCHOLASTIK BIS KANT – EINE PROBLEMSKIZZE1 ABSTRACT: Hypothesis: In the works of Immanuel Kant one can find a term of law, which implies moral law and natural law. In nature and in ethics law is a connection between a condition and an effect. Would our decision-making be perfectly rational, moral laws would be like natural laws. Acting rational means acting according to law, because any alteration would be caused heteronomously and not be a product of freedom of choice. A natural law indicates a state of nature; a moral law not likewise. For you can never be sure, that the action is fully a product of the freedom of choice only. The article explains the locigal conditions, that allow transporting the term of law from ethics to nature in the historical period from Suarez to Kant. This transportation is based on a term of law as lex indicans, not imperans.
1. NATÜRLICHES GESETZ UND NATURGESETZ – RECHTSBEGRIFFE UND NATURBEGRIFFE. Der Gesetzesbegriff wird heute gleichermaßen in den Rechts- wie den Naturwissenschaften verwendet. Das ist eine vergleichsweise neue Erscheinung, denn von Naturgesetzen im Sinne der Naturwissenschaften spricht man erst seit dem 17. Jahrhundert.2 Zuvor waren die Begriffe „lex naturalis“ oder auch „lex naturae“ weitgehend auf den Bereich des Rechtlichen bzw. Moralischen eingeschränkt. Dass der Gesetzesbegriff – insbesondere der eines Naturgesetzes – seitdem in beiden Bereichen verwendet wird, muss verwundern. Der Bereich des Rechts und derjenige der Natur scheinen nämlich heterogener nicht sein zu können: Der eine Bereich enthält vermeintlich schlicht Faktisches, der andere hingegen Normatives. Die Differenz zwischen den beiden Bereichen wird gemeinhin durch den Begriff des freien Willens markiert. Normen gibt es nur dort, wo man 1
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Die vorliegende Abhandlung verdankt sich der naiven Übernahme einer Anfrage der Veranstalter der Tagung, einer wahrhaften mission impossible, nämlich auf knappstem Raum eine Problemgeschichte der Zweiweltentheorie von Suárez bis Kant zu entwickeln. Mehr als eine lückenhafte Skizze konnte dabei nicht entstehen. Doch besteht der Wert einer Skizze ja bekanntlich vor allem darin, der Ausarbeitung eines genaueren Bildes vorzuarbeiten – wobei auch Irrtümer und falsche Linien hilfreich sein können. Vgl. hierzu F. WEINERT (Hg.), Laws of Nature: Essays in the Philosophical, Scientific and Historical Dimension, Berlin 1995, und A. HÜTTEMAN (Hg.), Kausalität und Naturgesetz in der frühen Neuzeit, Stuttgart 2001, darin insbesondere den Aufsatz von R. SPECHT, „Regulae quaedam sive leges naturae“, S. 65-76.
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unterstellt, der Betreffende hätte sich auch anders verhalten können. Entsprechend ist es für rechtliche Gesetze charakteristisch, dass aus ihrem Bestehen nicht folgt, sie würden in allen Fällen erfüllt, während Naturgesetze nur dann in aller Strenge zu gelten scheinen, wenn es keine Ausnahmen gibt. Gleichwohl zeigen sich auf den zweiten Blick auch Gemeinsamkeiten: In beiden Bereichen wird nämlich mit diesem Ausdruck die Idee eines notwendigen Zusammenhanges zwischen den gesetzmäßig Verknüpften verbunden, ein Zusammenhang, der im Bereich des Rechtlich-Moralischen durch den Begriff der praktischen Notwendigkeit oder auch der Pflicht expliziert wird. Notwendig verbunden werden nämlich auch durch ein moralisches Gesetz oder durch ein Rechtsgesetz das Vorliegen bestimmter Charakteristika etwa von Handlungen und ihren Umständen mit einer entsprechenden moralischen oder rechtlichen Wertung.3 Doch auch hier lauert unter der Oberfläche des Selbstverständlichen möglicherweise ein Abgrund, denn was sollte die Notwendigkeit im Sinne unserer Naturgesetze mit der praktischen Notwendigkeit im Sinne der Pflicht außer der bloßen Namensähnlichkeit gemeinsam haben? Was leicht von den Lippen geht – die Rede von Gesetzen über die Grenzen der Gegenstandsbereiche hinweg –, erweist sich als durchaus problematisch.
2. ZUR VORGESCHICHTE UND DEN VORAUSSETZUNGEN DER ÜBERTRAGUNG DES MORALISCH-RECHTLICHEN GESETZESBEGRIFFS AUF DEN BEREICH DER NATUR Um kurz die entscheidenden historischen Stationen dieser Übertragung des Gesetzesbegriffes vom Bereich des Rechts auf den Bereich der Natur in Erinnerung zu rufen: Naturwissenschaftler wie etwa Galilei haben den Terminus „Naturgesetz“ kaum verwendet.4 Sie sprachen etwa von „Regel“, von „Proportionali3
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Spätestens mit der Annahme eines univoken Kernbegriffs des Gesetzes über die Grenzen der beiden wohlunterschiedenen Gegenstandsbereiche hinweg scheint der Ausdruck „lex“ in keinem Fall mehr mit „Stil“ übersetzt werden zu können, wie das Westermann für den Ausdruck bei Thomas von Aquin vorgeschlagen hat – vgl. P. WESTERMANN, The Disintegration of Natural Law. Aquinas to Finnis, Leiden 1998, S. 30 ff. Vielleicht gehören die Gründe, die diese Erweiterung des Anwendungsbereichs der Gesetzesterminologie ermöglicht haben, auch zu den Gründen, die der von Westermann diagnostizierten Bedeutungsverschiebung zugrunde liegen. Vgl. dazu F. STEINLE, The Amalgamation of a Concept – Laws of Nature in the New Sciences, in Weinert (Hg.) 1995 (Fn. 2), S. 316-368, der ausführlich verschiedene Konzeptionen von Naturgesetzen in der frühen Neuzeit analysiert und auch den theologischen Kontext betont. Ein Autor wie Kopernikus verwendet den Gesetzesbegriff im Sinne eines allgemeine Satzes, aus dem andere Sätze abgeleitet werden können – also in der Tradition der axiomatisierbaren Mathematik, nicht der Naturwissenschaften (vgl. auch F. STEINLE, Von a-priori Einsichten zu empirischen Regularitäten. Der Gesetzesbegriff und seine Alternativen in der frühen Royal Society, in: Hüttemann (Hg.) 2001 (Fn. 2), S. 77-98, insbes. S. 77, sowie M. HAMPE, Revolution, Epoche, Gesetz – Zur Entwicklung der wissenschaftlichen Terminologie in der frühen Neuzeit“, in: Hüttemann (Hg.) 2001 (Fn. 2), S. 225-240). J. RUBY, Origins of Scientific ‘Law’, in: Weinert (Hg.) 1995 (Fn. 2), S. 289-315, ist entsprechend skeptisch ge-
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tät“ etc. Die aristotelisch-scholastische Physik kannte den Begriff des Naturgesetzes ebensowenig.5 Es ist eine ziemlich junge Begriffsbildung, wenn etwa Descartes in den Principia Philosophiae von „leges naturae“ spricht (PPII, § 37), diesen Be-griff aber ausschließlich auf seine drei grundlegenden Bewegungsgesetze anwendet (genauer nennt er sie „regulae quaedam, sive leges naturae“).6 Allerdings findet sich etwa in spätscholastischen Physikkommentaren der Ausdruck „lex generalis“ (allgemeines Gesetz) an einer prägnanten Stelle, die thematisch mit dem recht spezifischen Gebrauch bei Descartes verwandt ist:7 Wenn ein Ereignis A ein Ereignis B verursacht, so ist dies nach den unterschiedlichsten Theorien der Zeit nicht möglich ohne eine unterstützende Handlung Gottes. Dabei gehört zur vollständigen kausalen Erklärung eines Ereignisses (etwa des Erhitzens von Wasser durch Feuer) die Ausdifferenzierung derjenigen Aspekte, die sich der (natürlich geschaffenen) Natur verdanken, und derjenigen Aspekte, die sich der unterstützenden Handlung Gottes verdanken. Nach Auffassung der spätscholastischen Kommentatoren gehört zu denjenigen erklärungsbedürftigen Umständen, die allein unter Rekurs auf Gott zu erklären sind, insbesondere die Intensität der Wirkung, also das Maß der Erwärmung des Wassers pro Zeiteinheit bei gegebener Hitze des Feuers (ein Zusammenhang, der geradezu ein klassischer Kandidat für Naturgesetze im modernen Sinne ist und durch funktionale Gleichungen in der Sprache der Mathematik erfasst werden kann). Die Regularität dieser quantitativen Zusammenhänge kann sich in diesem Modell alleine der Regularität der unterstützenden Handlung Gottes verdanken, der sich – verkürzt gesprochen – dazu selbst verpflichtet haben muss, die natürliche Kausalität zu subventionieren, bis das reguläre Maß erreicht ist. Diese Regularität muss sich einer Handlung Gottes verdanken, weil die Quantität der Wirkung in den Augen spätscholastischer Physikkommentatoren nicht aus dem nur qualitativ bestimmbaren Wesen der Ursache ableitbar bzw. erklärbar zu sein scheint. Der Grund dafür, dass Gott überhaupt in
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gen die Herleitung des Naturgesetzbegriffs aus dieser theologischen Tradition – die mir immer noch die wahrscheinlichere zu sein scheint. Die stoische Lehre von einem umfassenden Weltgesetz scheint mir im vorliegenden Zusammenhang keine zentrale Rolle zu spielen – vielleicht aufgrund der Auflösung des Zusammenhangs von lex aeterna und lex naturae (doch bin ich mir darin noch unsicher). Ein Beispiel für diese seltene Verwendung des Gesetzesbegriffs in physikalischen Kontexten bietet etwa Francsico de VITORIA in seiner Relectio de homicidio: „Potuit ergo Deus ab initio aquam calidam facere aut frigidum ignem, levem terram, gravem aerem et legem ponere, ut sic perpetuo perseverarent“ (Francisco de Vitoria, Vorlesungen I, hrsg. v. U. Horst/H.-G. Justenhoven/J. Stüben, Stuttgart e. a. 1995, S. 458). Allerdings referiert Vitoria ein Argument aus der Tradition, auf die ich mich im Folgenden beziehe und in der er gerade nicht steht. DESCARTES, Principia Philosophiae II § 37ff., AT VIII, S. 62 ff. Vgl. dazu D. GARBER, Descartes´ Metaphysical Physics, Chicago 1992. Es ist kein Zufall, wenn STEINLE 1995 (Fn. 4) seine Untersuchung über den Begriff des Naturgesetzes in der frühen Royal Academy mit einem Exkurs zu Descartes beginnt. Ich stütze mich hierbei auf die Commentarii Collegii Conimibricensis in Octo libros physicorum Aristotelis, Lib. II, cap. 7, q. 15 – dazu ausführlicher R. SCHNEPF, Der ordo geometricus und die Transformation der kausalen Ordnung in Spinozas Ethik, in: M. Czelinski e. a. (Hg.), Transformation der Metaphysik in die Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und praktischen Philosophie Spinozas, Würzburg 2003, S. 32-51.
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gleichbleibender Weise handelt, ist seine Unveränderlichkeit (weshalb sich noch Descartes bemüht, seine Naturgesetze aus Gottes Unveränderlichkeit herzuleiten).8 Der letzte Grund dafür, dass Gott diese Regularität schafft und keine andere, ist aber ein praktischer, nämlich seine Güte. Dies ist in scotistischer Tradition auch der letzte Ursprung des moralisch-rechtlichen natürlichen Gesetzes.9 Der moderne Begriff des Naturgesetzes entspringt so dem originär praktischen Begriff des natürlichen Gesetzes. Doch worin besteht die gemeinsame Struktur, die eine Übertragung der Begriffe ermöglicht hat? Und wie war dabei die Differenz der beiden Bereiche zu bewahren – die Differenz von Natur und Freiheit? Die Voraussetzungen unserer alltäglichen Redeweise von Gesetzen im Bereich des Rechts und der Natur sind also älter und verdanken sich einer längeren Tradition, als es unserem üblichen Selbstverständnis entspricht – sie sind damit aber auch problematischer, als wir oftmals denken. Um es verkürzt zu sagen: Auch Naturgesetze waren ursprünglich Gesetze für Handlungen, wenn auch für recht spezifische, nämlich göttliche in Bezug auf die Natur. Es geht also weniger um in der Natur als solcher verankerte oder in ihr liegende Gesetze, sondern um Gesetze für die Natur. Ähnliches gilt zumindest in bestimmter Hinsicht – wie zu zeigen sein wird – für die Gesetzmäßigkeiten, die den Zusammenhang zwischen beobachtbaren natürlichen Charakteristika von Handlungen und den ihnen zukommenden moralischen Qualitäten beschreiben. Diese Voraussetzungen für den Recht/Moral und Natur umfassenden Gesetzesbegriff werden in der spanischen Scholastik – radikalisiert aber im Okkasionalismus – in aller Klarheit entwickelt; die ausgefeilteste Theorie der Voraussetzungen in weitgehender Unabhängigkeit von der Theologie findet sich jedoch erst bei Kant, dann allerdings auf der Grundlage einer radikal transformierten Ontologie. Auch hier gibt es auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Beide Theorien oder Theorietypen arbeiten mit der Annahme zweier unterschiedlicher Seinsbereiche oder Welten, nämlich einmal der Differenz zwischen Gott und Welt, das andere Mal der Differenz zwischen intelligiblem weltkonstituierendem Ich und der „Welt“ der Erfahrungen. Die Gesetzmäßigkeiten in den Bereichen des Natürlichen wie des Rechtlich-Moralischen verdanken sich in beiden Fällen einer auf spezifische Handlungen bezogenen, ordnenden Selbstgesetzgebung, die – wie wieder erst im Folgenden zu zeigen ist – in beiden Theorien oder Theorietypen an den Prinzipien der Widerspruchsvermeidung und den Bedingungen der Identität des Subjekts (sei es Gottes, sei es des endlichen epistemischen und praktischen Subjekts) orientiert ist, wobei diese Prinzipien je unterschiedlich verstanden und ausbuchstabiert werden. Allerdings tritt bei Kant an die Stelle der Güte Gottes, bezüglich derer Gott sich nicht selbst widersprechen kann, die Reflexion auf die Möglichkeit der Freiheit des endlichen erkennenden und handelnden Subjekts. Die beiden Arten von Gesetzmäßigkeiten des einen derivativen oder sekundären Bereichs gründen also in 8
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Vgl. dazu ausführlich GARBER 1992 (Fn. 6), S 256 ff. Abwegig erscheint mir die Interpretation, es handle sich bei den drei Naturgesetzen von Descartes auch nach dessen Selbstverständnis um empirische aufgefundene und nur induktiv gestützte Gesetze. Vgl. Johannes Duns Scotus, Ord. IV, dist. 46, in A. WOLTER (Hg.), Johannes Duns Scotus: Duns Scotus on the Will and Morality, Washington 1986, S. 238 ff..
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beiden Theorietypen auf besonderen Charakteristika des grundlegenden, konstituierenden oder schlicht prinzipiierenden Bereichs. Wenn man will, kann man also sagen, dass zu den Voraussetzungen der Übertragbarkeit des Begriffes vom natürlichen Gesetz in der einen oder anderen Weise eine „Zweiweltentheorie“ gehört. Gegen diesen Ansatz der Skizze einer Problemgeschichte von Suárez bis Kant gibt es natürlich zahlreiche naheliegende Einwände. Einer von ihnen besteht in dem Verdacht, dass so auf unzulässiger Weise vermischt werde, was in den Augen Kants getrennt gehört, nämlich das Reich der Natur und das Reich der Freiheit. Mir scheint jedoch – zumindest hoffe ich das plausibel zu machen –, dass sich die Zweiweltentheorie Kants als ein Versuch verstehen lässt, einen univoken Gesetzesbegriff anzusetzen, von dem ausgehend Natur- und Rechtsgesetze (aber auch moralische Imperative) zu unterscheiden sind. Dafür, dass Kant einen solchen umfassenden Gesetzesbegriff angenommen oder zugrundegelegt hat, sprechen vorderhand zwei Indizien, nämlich zum einen die berühmt-berüchtigte Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,10 zum anderen aber die Fassung des Gesetzesbegriffs vor allem in den unterschiedlichen Vorlesungen zur Moralphilosophie,11 aber auch in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Metaphysik der Sitten.12 Dort wird beispiels-
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Vgl. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 241 – Die Schriften Kants werden unter Angabe der Band- und Seitenzahl nach der Akademie-Ausgabe zitiert. Eine der Passagen, auf die ich mich stütze, sei ausführlicher zitiert: „Der Unterschied bey den practischen Regeln geht darauf, dass einige Naturgesetze, und andere moralisch sind. Erstere zeigen nie an, dass etwas und was geschehen soll, sondern sie zeigen nur die Bedingungen an, unter welchen etwas geschieht. Die moralischen Gesetze haben es dagegen jederzeit mit dem Willen und dessen Freiheit zu thun, und wesentlich sind diese Gesetze von der Vernunft so vorgezeichnet, dass, wenn sie allein Einfluß hätten, und sie allein der Grund der Wirklichkeit der Handlung enthielte, eine Abweichung von diesen Gesetzen nie erfolgen würde. So würde z. E. jeder ungemahnt seine Schuld bezahlen. / Weil nun der Mensch in sofern gehindert wird, den Gesetzen der Vernunft frei und ungehindert gehör zu geben, als ihn entgegen stehende Neigungen, sinnliche Triebe und die mit seinen Handlungen in Verbindung gezogenen Zwecke, zur Uebertretung geneigt machen, so wird es daher nothwendig, dass die practischen Regeln bei dem Menschen jederzeit Imperative sind, d.i. Regeln, denen sein Wille unterworfen werden muss, um zu bestimmen, was geschehen soll, und man bezeichnet daher die moralischen Handlungen des Menschen, eben deshalb, weil sie zwar den Gesetzen der Vernunft unterworfen sind, der Mensch aber der Vernunft ganz unbedingt nicht folgt, als objective nothwendig, und subjective zufällig; ...“ (Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA XXVII, 2, S. 485. Vgl. KANT, KpV, AA V, S. 76 f., und MS, AA V, S. 221 f. – Jüngst hat R. ENSKAT (Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft normieren, in: H. U. Baumgarten/C. Held (Hg.), Systematische Ethik mit Kant, Freiburg e. a. 2001, S. 82-123) im Rahmen seiner systematische Überlegungen im Anschluß an Kant auf diese Passagen und die in Anm. 11 zitierte Stelle hingewiesen, dabei jedoch den Akzent eigentümlich verschoben. Enskat zieht aus allen diesen Stellen im Blick auf endliche selbstbewußte Agenten folgendes Fazit: „Sie handeln nicht von selbst, also nicht spontan so, wie es die entsprechenden normativen Ansinnen es ihnen zumuten und zutrauen“ (S. 91). Er entwickelt daraus konsequent und völlig zurecht eine Theorie des Spontaneitätsmangels bei Kant. Allerdings lässt er die komplementäre These Kants beiseite, dass endliche selbstbewusste Subjekte mit Notwendigkeit aus ihrer Spontaneität so handeln würden, wie es die entsprechenden Normen fordern, wäre
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weise deutlich, dass für Kant ein gemeinsames Bedeutungsmoment des Gesetzesbegriffs darin besteht, dass es sich in beiden Fällen um wahre hypothetische Sätze (also Wenn-dann-Sätze) handelt, die allerdings ihrerseits unter Bedingungen stehen. So gilt für Moralgesetze, dass sie Naturgesetze wären, wenn unser Wille ein göttlicher oder ein heiliger wäre, ja dass sich der Unterschied zwischen beiden Typen von Gesetzen alleine dem Umstand verdankt, dass unser Wille kein immer vernünftiger ist. Dass Gesetze der Natur und Gesetze der Freiheit von einem gemeinsamen Be- griff des Gesetzes aus entwickelt werden müssen, hat seinen letzten Grund allerdings in dem Umstand, dass wir uns nach Kant beim Denken von Gegenständen immer bestimmter logischer Formen bedienen müssen, die deshalb den Kern auch noch der bereichsspezifischen Kategorien ausmachen. Die These von einem univoken Kern bezieht sich auf diese „logische Bedeutung“ der Kategorien.13 Eine Konfrontation spätscholastischer Theorien, in denen die Übertragung des Naturgesetzbegriffes vom Bereich der Moral bzw. des Rechts auf den der Natur begründet wurde, und der Theorie Kants hat deshalb nicht zuletzt die Aufgabe zu prüfen, inwieweit es interne Instabilitäten der ersteren Theorien waren, welche die kritische Philosophie überzeugender erscheinen lassen. Dabei sollen im Kern nicht allgemeine ontologische Thesen im Mittelpunkt stehen, sondern Behauptungen über die Bedeutung des moralischen Vokabulars. Ich vermute indessen, dass das eigentliche Resultat dieser Untersuchung am Ende vielleicht doch noch überraschen wird: dass nämlich beiden Theorien oder Theorietypen ein dritter Theorietyp vorzuziehen sein könnte, der moralisches Vokabular auf Außermoralisch-Natürliches zu reduzieren bestrebt ist.14 Ich möchte im Folgenden also in der Art einer Problemskizze der Frage nachgehen, wie es möglich war, den Begriff des Gesetzes vom Bereich des Rechts auf den der Natur auszudehnen. Davon verspreche ich mir genauere Einsichten in die ontologische Vor- oder Untergrundgeschichte, die nicht nur unserem vereinheitlichenden, aber unscharfen Alltagsgebrauch des Gesetzesbegriffes vorausgeht, sondern vor allem auch den verschiedenen zeitgenössischen Versuchen, den Gesetzesbegriff in beiden Bereichen zu analysieren. Nicht auflösbare Probleme der systematischen Analyse verweisen oft auf solche vergessenen Vorgeschichten. Es geht also darum, in philosophiehistorischer Spurensuche mögliche ontologischen Annahmen durchsichtiger zu machen, von deren Diskussion sich zeitgenössische Versuche gerne als entbunden betrachten. Dazu möchte ich drei Fragen etwas genauer verfolgen, nämlich zum einen die Frage nach der Deutung der spezifisch rechtlichen oder wertenden Ausdrücke in den Gesetzen des einen Typs in der Spätscholastik, insbesondere bei Suárez (= 3); dann die Frage nach den unterschiedlichen epistemischen Möglichkeiten, rechtlich-moralische Gesetzmäßigkeiten als solche zu erkennen, und zwar im Übergang von diesen scholastischen und
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nur ihr Wille resp. ihre Vernunft einziger Handlungsgrund. Ich komme darauf ausführlicher unten in Abschnitt 5 zu sprechen. Vgl. zum Hintergrund dieser Thesen auch die Interpretation von G. PICHT zur Architektonik der Philosophie Kants (Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1990, S. 544 ff.). Prominente Vertreter eines solchen Ansatz in dem hier zu behandelnden Zeitraum wären beispielsweise Spinoza und Hume.
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rationalistischen Theorien zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= 4); und schließlich die Frage nach den ontologischen Voraussetzungen eines beide Bereiche umfassenden Gesetzesbegriffs insbesondere in der Theorie Kants (= 5).15
3. DAS PROBLEM DER INTERPRETATION DER NORMATIVEN AUSDRÜCKE „GUT“ UND „BÖSE“ IN DER SPÄTSCHOLASTIK. Um den genauen Sinn von moralischen oder naturrechtlichen Gesetzen zu verstehen, muss man in neuerer Deutung unter anderem über eine Theorie bzw. eine Semantik der deontischen Operatoren wie „es ist geboten, dass ...“ und „es ist verboten, dass ...“ verfügen. Dieses Thema ist zwangsläufig kontrovers. In den Texten, die uns beschäftigen, wird diese Frage anders eingeführt, nämlich als die Frage, worin denn das Gut-Sein menschlicher Handlungen und ihr Geboten-Sein recht eigentlich bestehen. Die Beziehung zwischen dem Begriff des Guten und dem des Gesollten wird dadurch offensichtlich, dass das Gute als das praktisch Notwendige gilt; praktisch notwendig zu sein heißt nichts anders, als Gegenstand korrespondierender Imperative sein zu können. Das gilt auch dann, wenn man die moralische Qualifikation vom Gebotensein einer Handlung unterscheidet. Was bezeichnet also der Ausdruck „gut“, bzw. „moralisch gut“, insofern er von Handlungen prädiziert wird? Wie ist dessen ontologischer Status zu bestimmen? Wie verhalten sich die Antworten auf diese Fragen zur Ausgangsfrage, wie der Verpflichtungscharakter zu deuten ist – also etwa der Sollensoperator? Fragen dieser Art wurden traditionell im Kontext von „Gut“ und „Böse“ als moralischrechtlichen Qualitäten, von entia moralia, gestellt. Theo Kobusch hat in anderem Zusammenhang auf die Theorie der entia moralia hingewiesen.16 Er hat jedoch m. E. nicht mit zureichender analytischer 15
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Meine problemgeschichtliche Skizze wird gravierende Lücken enthalten: Ich werde beispielsweise nicht auf Theorien eingehen, die von einer bloß metaphorischen oder auch analogen Übertragung des Gesetzesbegriffs vom einen Bereich auf den anderen ausgehen. Ebenso werden eher empiristische Theorien wie etwa die von David Hume außen vor bleiben – ob wohl auch er zu den Theoretikern gehört, die gerade aufgrund empiristischer Sinnkriterien keine Differenz zwischen Notwendigkeit und praktischer Notwendigkeit erkennen konnten (vgl D. HUME, A Treatise of Human Nature, hrsg. v. David Fate Norton/Mary J. Norton, Oxford Philosophical Texts, Oxford 2000, I, xiv S. 171). Ich blende Hume aus Platzgründe aus, obwohl alles, was folgt, die Problematik des Sein-Sollen-Fehlschlusses unmittelbar berührt. Vgl. T. KOBUSCH, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 1993, 21996. Das Interesse von Kobusch ist freilich ein anderes: Ihm kommt es darauf an, in der Theorie der entia moralia eine Vorläufertheorie oder gar den Ursprung der modernen Menschenrechte und des mit ihr verbundenen Persönlichkeitsbegriffs aufzuzeigen. Kobusch rückt damit zu Recht einen Begriff und eine Theoriengruppe in den Mittelpunkt, der bisher weitgehend nur von der Grotius- und Pufendorfforschung wahrgenommen wurden – vgl. zur Theorie der entia moralia bei Grotius und Pufendorf T. BEHME, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat, Göttingen 1995, S. 50 ff., H. DENZER, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, München 1972, sowie zum Zusammen-
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Trennkraft herausgearbeitet, dass und wie die Theorie der entia moralia – bzw. besser: die unterschiedlichen Theorien der entia moralia – als Beitrag zur Analyse der Bedeutung des normativen Vokabulars gedeutet werden können.17 Dabei liegt der Zusammenhang offen zu Tage: Jede äußere Handlung kann bereits für Autoren des 13. Jahrhunderts als ein rein natürlicher Vorgang beschrieben werden, ohne dass diese Beschreibung eine moralisch-rechtliche Wertung implizierte. Denn zwei Handlungen vom selben Handlungstyp (unter naturaler Beschreibung) können je nach Kontext moralisch-rechtlich unterschiedlich beurteilt werden. Die Gutheit oder Schlechtheit einer Handlung folgt deshalb nicht aus ihrer Essenz (also aus einer Beschreibung, die zu ihrer Identifizierung dem Typ nach notwendig und hinreichend ist) und ist ihr in diesem Sinn qua physischer Entitäten nicht wesentlich. Wird eine Handlung moralisch-rechtlich beurteilt, wird sie also nicht lediglich als ein physisches Ereignis beschrieben und aufgefasst, sondern als eine moralische Entität, als ens moralis. Will man die Redeweise vermeiden, dass ein und dieselbe Handlung unter zwei Aspekten betrachtet werden kann, oder dass es gar zwei verschiedene Entitäten gibt, nämlich die physische und die moralische Handlung, dann lässt sich auch sagen, dass der Handlung unter moralischrechtlicher Beurteilung ein Prädikat oder eine Eigenschaft zugesprochen wird, die nicht auf seine physischen Eigenschaften reduzierbar ist. Gut und Schlecht sind wesentliche Prädikate dieser entia moralia oder aber selbst entia moralia. Mit einem natürlichen Gesetz (im moralisch-rechtlichen Sinn also) wird jeder Handlung von einem bestimmten, natürlich beschreibbaren Typ zunächst nichts anderes als eine solche moralische Entität zugeordnet (also nicht etwa das allgemeine Prädikat gut/schlecht, sondern ihr jeweiliges individuelles Charaktersitikum ihres Gutseins bzw. Schlechtseins). Tatsächlich ist die Form natürlich komplizierter, doch mag diese grobe Anayse zunächst genügen. Denn gerade in ihrer Schlichtheit illustriert sie den entscheidenden Punkt, dass die Besonderheit natürlicher Gesetze durch ihre logische Form nicht erfasst wird. Das liegt daran, dass die moralischen Qualitäten ähnliche Eigenschaften wie bestimmte Operatoren und Prädikate vereinigt haben sollen. Entia moralia sind nämlich recht komplexe Entitäten, die unter verschiedenen Aspekten, die in moderner deontologischer Logik nicht in einem Zeichen vereinigt ausgedrückt werden, zu analysieren sind. Diese unterschiedlichen Aspekte werden in den unterschiedlichen Fragerichtungen deutlich, unter denen entia moralia in diesen spätscholastischen und frühneuzeitlichen Debatten untersucht werden. Ein Blick auf die Abhandlung über die entia moralia von Suárez macht beispielsweise deutlich, dass mindestens drei Aspekte unterschieden werden können, wenn die Semantik der Ausdrücke, die entia moralia bezeichnen, untersucht wird. Suárez scheint zu differenzieren zwischen (1) einer Untersuchung der Charakteriastika und der Umstände von Handlungen, unter denen ihnen die eine oder andere moralische Qualität zukommt; (2) einer Untersuchung der Bedeutung der moralischen
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hang mit der Spätscholastik R. SCHNEPF, Naturrecht und Geschichte bei Hugo Grotius, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 20 (1998), S. 1-14. Die Theorie der entia moralia kann zusätzlich Interesse gewinnen, deutet man sie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten um den „moralischen Realismus“.
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Qualität, sofern sie nicht in der bloßen Relation zu diesen Charakteristika und Umständen der Handlung betrachtet wird, sondern an sich selbst; und schließlich (3) einer Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Zuschreibung einer moralischen Qualität und der korrespondierenden Verpflichtung. Die Unterscheidung dieser drei Aspekte ist keine Selbstverständlichkeit, sondern setzt bereits inhaltliche Thesen voraus. Um nur einige Beispiele zu geben: Kobusch verweist auf Petrus Aureoli, der meinte, die moralische Entität oder das moralische Sein sei nichts Zusätzliches in der Sache, sondern nichts anderes als die Wertschätzung der Menschen.18 Hier scheint sich die Bedeutung des korrespondierenden Prädikats „gut“ darin zu erschöpfen, dass es eine solche Wertschätzung ausdrückt – woran man weit über Aureoli hinausgehend sogar eine Theorie der Verpflichtung konstruieren mag, gemäß der Verpflichtet-Sein in nichts anderem besteht, als dem Erwartungsdruck der Gesellschaft ausgesetzt zu sein. Suárez hingegen kann weder meinen, die Bedeutung des Ausdrucks „gut“ bestehe primär darin, Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, noch behauptet er, die Verpflichtung bestünde lediglich im Erwartungsdruck der Gesellschaft. Andernfalls könnte er weder von einer Bedeutung der Ausdrücke „Gut“ und „Böse“ für sich genommen sprechen, noch wäre die Unterscheidung der drei Aspekte nötig. Bereits diese kurze Andeutung der möglichen Differenzierungen im Bereich der Theorie der entia moralia macht deutlich, dass sich in ihr die unterschiedlichen Möglichkeiten, normative Rede zu interpretieren, ausbuchstabiert finden. Suárez will zwei Reduktionsschritte ausschließen, um die Eigendimensionalität des Moralischen zu sichern, nämlich einmal die Reduktion der Bedeutung des moralischen Vokabulars auf die Summe der natürlichen Charakteristika und Umstände der Handlungen, sowie die Reduktion des Geboten- oder Verbotenseins auf natürliche Reaktionen (des Lobes resp. der Sanktion) oder auf das bloße Zuschreiben der moralischen Qualität.19 Um die erste Reduktion zu vermeiden, muss Suárez annehmen, dass zwar eine solche Summe von natürlichen Charakteristika und Umständen der willentlichen Handlung hinreichend ist, eine bestimmte moralische Qualität zuzuschreiben, dass aber damit eine Eigenschaft zugeschrieben wird, die selbst nicht dem Bereich des Natürlichen zugehört.20 Wenn ich richtig sehe, ist eines der Argumente dafür, dass die Differenz zwischen den Indizien für das Zukommen einer bestimmten moralischen Qualität und dem Gehalt dieser Qualität selbst, dass jeder Akt, der seinen Ursprung im freien Willen hat, von sich 18
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Petrus AUREOLI, Commentariorum in Quartum Librum Sententiarum Pars I, Romae 1695, IV. Sent, d. 14, q. 1, a. 4, II 134aE – dazu KOBUSCH 21996 (Fn. 16), S. 50, sowie S. KNEBEL, Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit. Das System der moralischen Notwendigkeit in der Jesuitenscholastik 1550-1700, Hamburg 2000, S. 499 ff. Dass diese Position des Suárez im Kontext der spanischen Spätscholastik alles andere als unumstritten war, sondern eher eine Minderheitenposition darstellt, legen schon die zahlreichen Belege bei KNEBEL 2000 (Fn. 18), S. 496, Anm. 49, nahe. Es ist hier wie im Folgenden vor einer gewissen Mehrdeutigkeit des Naturbegriffs zu warnen, der nämlich sowohl die Natur insgesamt als alles das bezeichnen kann, was zur Schöpfung Gottes gehört, als auch exklusiv nur dasjenige aus dem Bereich der Schöpfung, das lediglich physikalische Eigenschaften hat. Im ersten Sinn gehören entia moralia zur Natur, im zweiten nicht.
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aus ein irgendwie moralisch bestimmter bzw. bestimmbarer Akt ist, ihm also von sich aus die moralische Qualität zukommt, als guter oder schlechter bestimmbar zu sein.21 Für diese Eigenschaft ist der Umstand, dass sich der Akt dem freien und überlegten Willen verdankt, notwendig und hinreichend. Duns Scotus hat für diese Relation zwischen den natürlichen Charakteristika und Umständen einer Handlung und der ihr zukommenden moralischen Qualität einen Begriff verwendet, der – sei es aus Zufall, sei es aus historischer List – in gegenwärtigen Diskussionen meistens an ganz andere Stelle wieder auftritt,22 aber auch in der Grundlagendiskussion der Ethik eine gewisse Rolle spielt, nämlich den der Supervenienz.23 Entia moralia sind im Bereich des Willentlichen supervenient zu natürlichen Eigenschaften der Handelnden, der Handlungen und ihrer Umstände. Eigenschaften einer Gruppe A sind nämlich dann supervenient zu Eigenschaften einer Gruppe B, wenn (a) Eigenschaften der Gruppe A nicht Eigenschaften der Gruppe B sind bzw. begrifflich implizieren, aber (b) das Zukommen der Eigenschaften der Gruppe A in gesetzmäßiger Weise abhängig ist vom Zukommen der Eigenschaften der Gruppe B, so dass jede Änderung des Zukommens von Eigenschaften der Gruppe B mit Notwendigkeit eine Änderung des Zukommens der Eigenschaften in Gruppe A zur Folge hat.24 Für die beiden Typen oder Gruppen von Eigenschaften A und B ist dabei charakteristisch, dass sie nicht auseinander zu erklären sind, d.h. beispielsweise, dass nicht zu sehen ist, wie Eigenschaften der einen Art für das Zukommen bzw. für die Existenz von Eigenschaften der anderen Art kausal ver21
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Vgl. hierzu die Argumente von SUÁREZ gegen die Position, das esse morale sei eine rein re- spektive Eigenschaft in De bonitate et malita humanorum actorum, in: Opera Omnia 4 (1856), S. 277-454, Vivès, Paris, I, sec. 2, 9 ff. Das ist vor allem im Bereich der Philosophie des Geistes der Fall, wo dieser Begriff insbesondere durch J. KIM, Supervinience and Mind, Cambridge 1993, prominent gemacht wurde. Vgl. z. B. Johannes DUNS SCOTUS, Quodlibet q. 18, (zitiert nach A. WOLTER 1986 (Fn. 9), S. 210), im Kontext der Abhebung des spezifisch moralische Guten vom (primären) metaphysischen Guten: „Sicut enim bonitas primaria entis, quae dicitur bonitas essentialis, est integritas vel perfectio entitatis in se, importat positive negationem imperfectionis, per quod excluduntur diminutio et imperfectio, sic maior bonitas entis secundaria, quae est accidentalis sive superveniens entitati, est integritas convenientiae vel integra convenientia [alteri cui debet convenire vel alterius sibi] quod debet sibi convenire.“ Die Interpretation von H. MÖHLE, Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung, Münster 1995 (S. 288 ff. und 303 ff.), arbeitet zwar den ontologischen Sonderstatus der moralischen Gutheit heraus, verzichtet aber darauf, den Supervenienzbegriff zu registrieren und als Brücke zu zeitgenössischen metaethischen Diskussionen zu nutzen. Das Historische Wörterbuch der Philosophie hat zwar einen Artikel „Supervenienz“ von P. HOYNIGEN-HUENE (Bd. 10, Basel 1998, Sp. 649-650), der aber mittelalterliche Vorläuferbegriffe nicht thematisiert. KNEBEL 2000 (Fn. 18), S. 496, spielt zwar auf den Supervenienzbegriff an, aber ohne ihn für seine Interpretation auszuwerten und ohne auf die Vorlagen etwa bei Johannes Duns Scotus einzugehen. – Der Supervenienzbegriff ist gegenwärtig auch im Kontext der Theorien des moralischen Realismus diskutiert worden – vgl. dazu zum ersten Überblick P. SCHABER, Moralischer Realismus, Freiburg/München1997, S. 105 ff. Dieser Kontext ist für das Folgende besonders relevant. Tastsächlich gibt es eine Fülle von divergierenden Supervenienzbegriffen – vgl. dazu A. BECKERMANN, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin e. a. 2000, S. 203 ff.
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antwortlich sein könnten. Eines der Hauptanwendungsgebiete des Supervenienzbegriffes heute ist die Philosophie des Geistes: Mentale Zustände sind nach diesen Theorien von physischen Zuständen des Gehirns unterschieden, aber in der skizzierten Weise abhängig von den neuronalen Zuständen des Gehirns. In ähnlicher Weise sind entia moralia supervenient zu bestimmten physischen Entitäten, nämlich freien Handlungen samt ihren Umständen und Relationen. Supervenienztheorien sind jedoch – wie nicht zuletzt die gegenwärtigen Debatten im Bereich der Philosophie des Geistes zeigen – recht labil.25 Das Kernproblem besteht darin, ob überhaupt noch ein realer Unterschied zwischen den Typen oder Familien von Eigenschaften angegeben werden kann oder ob sich diese Differenz nicht reduziert auf eine des epistemischen Zugangs oder gar nur der Redeweise. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass natürliche Rechts- und Moralgesetze in einem ersten Schritt zunächst nicht vorschreibende Gesetze sind, sondern die Supervenienz der moralischen Eigenschaften zu den Chrakteristika und Umständen einer Handlung beschreiben. Bei dem – nun um die Umstände ergänzten – gesetzmäßigen Zusammenhang handelt es sich also der Form nach um ein Gesetz in dem Sinne, in dem später auch in den Naturwissenschaften von Gesetzen die Rede sein kann, nur mit der Besonderheit, dass im Antezendenz von einer freien Handlung deskriptiv besondere Charakteristika (darunter auch die besonderen Umstände) prädiziert werden, während im Konsequenz eine superveniente moralische Eigenschaft zugesprochen wird. Um diesen Zusammenhang noch deutlicher zu machen, muss natürlich noch eine modale Komponente ergänzt werden, die auch die späteren Naturgesetze auszeichnet: Es ist bei Erfülltsein der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Zukommen einer bestimmten moralischen Qualität notwendig, dass diese bestimmte moralische Qualität der Handlung zukommt. Doch ist der Grund dieser Notwendigkeit noch offen. Wenn moralische Eigenschaften supervenient sind, dann kann dieser Grund nicht in den natürlichen Charakteristika der Handlungen und ihren Umständen liegen. Hat man erst einmal gesehen, dass die natürlichen Rechtsgesetze, von denen Autoren wie Suárez handeln – solange von ihrem Befehlscharakter als Imperativen abgesehen wird –, diese Form haben, wird plausibel, wie die Antwort auf die Frage nach ihrem Grund zugleich die Grundlage für die Übertragung des Naturgesetzbegriffs auf den Bereich der Natur überhaupt bieten konnte: Die Übertragung des Naturgesetzesbegriffs auf natürliche Vorgänge ist insbesondere dann möglich, wenn man die Frage nach dem Grund der Notwendigkeit in diesem gesetzmäßigen Zusammenhang als Folge der Handlungen Gottes und seiner Selbstverpflichtung deutet. Dabei kann der Gesetzesbegriff in dieser Funktion deshalb auf den Bereich der Natur ausgedehnt werden, weil in beiden Fällen das Antecends nicht die reale Ursache für die Existenz der Wirkung benennt – sei es für die Existenz der individuellen moralischen Qualität einer Handlung, sei es für den Grad der 25
Vgl. zu den Problemen des Supervenienzbegriffs im Problemzusammenhang des moralischen Realismus S. BLACKBURN, Subervenience Revisited, in: G. Sayre-McCord (Hg.), Essays on Moral Realism, Ithaca/London 1988, S. 59-75, M. PLATTS, Moral Reality, in: G. SayreMcCord (ibid.), S. 282-300, und R. M. HARE, Supervenience, in: Ders., Essays in Ethical Theory, Oxford 1989, S. 66-81.
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Hitze des Wassers. So wie sich die moralische Qualität nicht aus den natürlichen Charakteristika und Umständen derjenigen Handlung erklären lässt, der sie zukommt, so lässt sich der Grad der Erhitzung eines Kessels Wasser nicht aus den natürlichen Umständen erklären, in denen sie stattfindet, und das, obwohl in beiden Fällen eine strikte Regularität beobachtet werden kann. Der kausale Grund für die Regularität muss in beiden Fällen außerhalb der natürlichen Umstände gesucht werden, nämlich bei Gott als Autor der Natur und Garant ihres regelmäßigen Verlaufs. Naturgesetze wie natürliche Gesetze sind also nicht kausal zu deuten, sondern beschreibend oder indizierend. In beiden Fällen verdankt sich die Existenz der Wirkung einer freien aber regelmäßigen Handlung Gottes. Um diesen Punkt zusammenzufassen: Übertragen wird das natürliche Gesetz als lex indicans, nicht als lex imperans. Was ich bisher zur Problemübersicht konstruiert habe, ist natürlich eine Extremform dieses Modells, die so vielleicht nicht vertreten worden ist. Doch unabhängig davon, für welche Alternative man sich an dieser Schaltstelle entscheidet – ob sich der gesetzmäßige Supervenienz-Zusammenhang aus der Natur der Sache ergibt (also auch unabhängig davon, ob Gott existiert) oder ob er sich alleine der göttlichen Institution und Selbstverpflichtung verdankt –, stellt sich noch eine zweite Frage, nämlich ob die superveniente moralische Eigenschaft Verpflichtung (oder Verbot) impliziert oder nicht. Von dieser Eigenschaft eines moralischrechtlichen Gesetzes sieht ihre Betrachtung als lex indicans gerade ab. Es sind im Grunde auch unter den Theorien, die entia moralia als superveniente Entitäten akzeptiert haben, drei Positionen vertreten worden, nämlich zum einen diejenige, die sowohl den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen natürlichen Charakteristika der Handlung und moralischer Qualität allein auf Gottes Einrichtung zurückgeführt, als auch zugleich das Implikationsverhältnis zwischen moralischer Qualität und deontischem Operator geleugnet haben (solche Theorien sind rein voluntaristisch, sie stehen in der Tradition Ockhams – vielleicht ist hier aber auch die Position von Pufendorf anzusiedeln);26 zum anderen solche Theorien, die zwar Gesetze qua lex indicans unabhängig von Gottes Willen (aber nicht von seiner unterstützenden Handlung) konzipierten, aber das Implikationsverhältnis zwischen moralischer Qualität und deontischem Operator leugneten und lediglich hier Gottes Befehl annahmen; und schließlich solche Postionen, die sowohl die lex indicans als unabhängig von Gottes Einrichtung konzipierten als auch das Implikationsverhältnis zwischen der moralischen Qualität und dem deontischen Operator behaupteten (mir scheint das die thomistische bzw. rationalistische Position zu sein – vielleicht trifft diese Beschreibung späterhin die Position von Hugo Grotius).27 Wenn ich richtig sehe, hat Suárez die mittlere Position eingenommen. Sein 26
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Vgl. zu Pufendorf z. B. T. BEHME 1995 (Fn. 17), S. 50 ff., der darauf hinweist, dass sich für Pufendorf die entia moralia völlig der impositio durch freie Wesen verdankten Vgl. zu VITORIA wiederum die Relectio de homicidio 1999 (Fn. 5), in der Vitoria diese Zusammenhänge recht ausführlich entwickelt, sowie zu H. GROTIUS, De Iure Belli ac PacisLibri tres, P. C. Molhuysen (ed.), Lugduni Batavorum 1919, I, 1, x 5-7 sowie Prol § 11 – die Interpretation dieser Passagen ist naturgemäß umstritten, und dieser Streit kann und soll hier nicht aufgegriffen oder entschieden werden. Weit im hier präsentierten Sinn interpretiert A.-H.
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Argument dafür, dass die Bedeutung des moralischen Vokabulars den verpflichtenden Charakter noch nicht impliziert, scheint darin zu bestehen, dass die Handlungen Gottes zwar als seinem freien Willen entsprungene moralische Qualität haben, aber doch ohne dass Gott einem Gesetz unterstünde und zu diesen Handlungen verpflichtet wäre.28 Für welche Position man sich in dieser Frage auch immer entscheidet: Dieser Zug des Gesetzesbegriffs als lex imperans wurde von Autoren wie Descartes nicht auf die Natur übertragen. Der Notwendigkeitsgedanke in der Natur verdankt sich also nicht einer problematischen Analogie zu Verpflichtungs- und Gehorsamsverhältnissen im Bereich des Naturrechts, sondern drückt genau dieselbe Notwendigkeit aus wie diejenige, mit der einer Handlung bestimmten Typs eine bestimmte moralische Qualität zukommt.29
4. DIE ZUSPITZUNG DES ERKENNTNISPROBLEMS IN DER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE KANTS. Gesetze sind nicht einfach zu erkennen, zumal wenn nicht einfach nur eine bisher empirisch gut gestüzte Regularität behauptet werden soll, sondern ein notwendiger Zusammenhang – das gilt insbesondere auch für die sogenannte praktische Notwendigkeit, also das Sollen. Ich möchte hier nur den spezifischen Fall der Gesetze betrachten, die den Zusammenhang zwischen Handlung und moralischer Qualität bescheiben oder gar regeln, also der Gesetze, die in der Theorie der entia moralia das Supervenienzverhältnis begründen (qua lex indicans). Die problematische Unterscheidung zwischen den entia moralia, insofern sie an sich betrachtet werden, und insofern sie als Konsequenzen von Charakteristika und Umständen der Handlung aufgefaßt werden, ergibt eine eigentümliche erkenntnistheoretische Problematik: Einerseits können und müssen die Begriffe des Guten und des Schlechten an sich bestimmbar sein unabhängig von allen Umständen und Relationen, in denen die zu beurteilende Handlung steht (sollen sie nicht schlichtweg auf natürliche Charakteristika und Umstände reduziert werden); andererseits sollen gerade die Umstände und Relationen (unter Umständen) notwendige und hinreichende Bedingungen für die Beurteilung der moralischen Qualität der Handlung bieten (und sie scheinen dann doch den Begriff des Guten resp. Schlechten insgesamt auszumachen). Um dafür nur ein Beispiel zu geben: Es liegt nahe, das Kriterium für die moralische Qualität einer Handlung in ihrer Tauglichkeit zu sehen, unter Berücksichtigung sämtlicher Handlungsfolgen zum (weltlichen oder umfassend verstandenen) Glück (sei es nur des Handelnden, sei es der Gemeinschaft oder gar der Welt insgesamt) in höherem Maß beizutragen als alle
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Chroust diese Passage – A.-H. Chroust: Hugo Grotius and Scholastical Law Tradition, in: The Modern Schoolman XVII (1943), S. 101-133.. Wiederum stütze ich mich auf seine Argumentation in De bonitate I 1856 (Fn. 21), sec. 2, 9ff. Ich vermute also, dass die deutliche Unterscheidung zwischen lex indicans und lex imperans auch eine Voraussetzung für die Begriffsübertragung ist.
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in der Handlungssituation gegebenen alternativen Handlungsmöglichkeiten.30 Mehr noch liegt es nahe, diesen zunächst nur kriteriellen Begriff des moralisch Guten zum eigentlich definierenden Begriff des Guten selbst zu machen. Verschiedene rationalistische Entwürfe wie etwa die praktische Philosophie von Christian Wolff (um nur ein Beispiel zu nennen) scheinen dafür gute Beispiele abzugeben.31 Das Argument, das sich bei Suárez gegen die Identifikation von kriteriellem und definierendem Begriff des moralisch Guten findet – dass nämlich eine freie Handlung noch unabhängig von allen Umständen und Relationenen die Qualität hat, moralisch qualifizierbar zu sein – scheint tatsächlich wenig tragfähig, hängt doch jede mögliche Bestimmung von der Voraussetzung ab, dass dazu die Umstände und Relationen in Rechnung gestellt werden. Wenn ich richtig sehe, ergibt sich die Alternative, den Begriff des moralisch Guten bzw. Schlechten in einen relationalen Begriff aufzulösen oder aber zu versuchen, ausgehend vom Begriff eines moralisch Guten, dessen moralische Qualität eben nicht relational, sondern absolut zu bestimmen ist, Kriterien zur Beurteilung von Handlungen auch in konkreten Situationen zu gewinnen. – Diesen zweiten Weg scheint Kant verfolgt zu haben, allerdings mit gravierenden Folgen für die entia moralia. Will man im Sinne der Supervenienztheorie trennen zwischen den physischen und natürlichen Eigenschaften und Umständen der Handlung einerseits und dem Gehalt der moralischen Begriffe andererseits, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wie man die moralischen Begriffe unabhängig von den Supervenienzbeziehungen explizieren und wie man dann im einzelnen das Bestehen solcher Supervenienzbeziehungen, ausgehend von dieser Bestimmung der supervenienten Qualität, begründen könne. Man muss nämlich zeigen können, dass bestimmte Charakteristika und Umstände tatsächlich Indikatoren des Guten sind (und nicht etwa des Bösen).32 Diese Aufgabe scheint unausweichlich, weil die andere Theoriealternative in noch größere Schwierigkeiten führt. Die epistemologischen Probleme nämlich, die man sich einhandelt, wenn man den Weg der Auflösung des absoluten Begriffs des moralisch Guten in einen relationalen Begriff einschlägt und gleichwohl an einem originär moralischen Gehalt des moralischen Vokabulars festhalten will, hat Kant beispielhaft analysiert. Genauer handelt es sich um zwei 30
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Vgl. dazu z. B., die Formulierungen von Johannes DUNS SCOTUS, Ord. I, d. 17, nn. 62 ff (WOLTERS 1986 (Fn. 9), S. 206 ff.). Vgl. dazu beispielsweise C. SCHRÖER, Naturbegriff und Moralbegründung. Die Grundlegung der Ethik bei Christian Wolff und deren Kritik durch Immanuel Kant, Stuttgart 1988, sowie C. SCHWAIGER, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und geistesgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. Dass dieses Begründungsproblem besteht, ist ein Teil des „vernünftigen Gehalts“ der nominalistisch-voluntaristischen Position, Gott könne per potentiam absolutam machen, dass eine bestimmte Handlungen, die faktisch gut ist, schlecht sei (solange er sich dabei nicht in Widersprüche verwickelt). Denn diese Überlegung macht deutlich, dass ein zwingender begrifflicher Zusammenhang zwischen dem Gehalt moralischer Begriffe und den Kriterien für ihr Vorliegen aufgewiesen werden muss, dem es sich verdankt, dass sich Gott bei einem möglich scheinenden Austausch der „moralischen Vorzeichen“ in einen Widerspruch verwickeln würde
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Probleme, bei denen das erste nicht mehr als ein Indikator für das Bestehen des zweiten ist. Das erste Problem besteht darin, dass schlicht umstritten ist, welche Charakteristika, Umstände und Relationen einer Handlung tatsächlich Kriterien für die moralische Qualität des Guten sind. Bei der Beantwortung dieser Frage scheint man mehr oder weniger auf moralische Intuitionen angewiesen zu sein, die durchaus konfligieren können. So muss ein am Glücksbegriff orientierter Entwurf immer erst noch begründen, warum er sich beispielsweise am allgemeinen und nicht am individuellen Glück des Handelnden orientiert; und er muss darüber hinaus mit moralischen Intuitionen rechnen, die Handlungen als moralisch gut qualifizieren, obwohl sie dem individuellen oder allgemeinen Glück schaden – etwa die Wahrhaftigkeit auch in extremen Situationen.33 Doch ist dieses Problem, dass es keine Möglichkeit zu geben scheint, zwischen verschiedenenen Angeboten für kriterielle Begriffe zu entscheiden (so dass die Moral und das Recht zur Ansichtssache zu werden drohen), nur ein Indikator für ein zweites grundlegenderes Problem: Es ist auf der Ebene der Umstände und Relationen überhaupt kein Grund dafür angebbar, warum Handlungen, die diesem Kriterium entsprechen, moralisch gut sein sollten. Es ist also – anders ausgedrückt – kein Argument vorhanden, das zeigt, wie und warum dieses Kriterium ein Kriterium für die moralisch Güte der Handlung sein könnte. Denn ein solches Argument setzt zwangsläufig einen Begriff des moralisch Guten voraus, der nicht der kriterielle, sondern der definitorische ist, und es müßte darin bestehen zu zeigen, dass alles, was der Definition gerecht wird, auch das Kriterium erfüllt, und umgekehrt.34 Um auch hier den Punkt noch ein kleines Stück weiterzutreiben: Die scheinbare Möglichkeit, hier mit dem Verweis auf eine Art moralisches Gefühl zu argumentieren, löst in den Augen dessen, der diese Frage stellt, das Problem nicht. Denn auch hier lässt sich die Frage wiederholen, warum denn dieses Gefühl ein zuverlässiger Indikator dafür sein sollte, dass es sich um eine moralische Qualität handelt, die zugesprochen wird. Diese Probleme ergeben sich insgesamt nur, wenn man einen kriteriellen Begriff vom absoluten definitorischen Begriff des Guten unterscheiden will – die Alternative wäre eine Reduktion der Bedeutung
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Vgl. dazu z. B. seine Kritik der eudaimonistischen Ethikkonzeptionen – dazu M. FORSCHNER, Über das Glück des Menschen, Darmstadt 1993, und darin das Kapitel „Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen“ (S. 107-150). Vgl. dazu exemplarisch KANT, Moralvorlesung Collins, AA XXVII: „Nun kommt es darauf an, dieses Pricipium zu eruiren, worin wir die Sittlichkeit setzen, und wonach wir das sittliche vom unsittlichen unterscheiden können. Wenn ein Mensch viele gute Fähigkeiten und Geschiklichkeiten hat, so frägt sich doch gleich, wie ist sein Charakter. Wenn er alle Bonitaeten besitzt, so fragt man doch immer nach seiner moralischen Bonitaet. Was ist denn nun das oberste Principium der Sittlichkeit, wonach wir alles beurtheilen und worin unterscheidet sich die sittlich Bonitaet von aller übrigen Bonitaet?“ (vgl. auch Moralvorlesung Mrongovius, 1404) – dazu R. SCHNEPF, Variationen der Frage nach dem Guten – Metaethische Überlegungen bei Aristoteles, Spinoza und Kant, in: K. Hammacher u. a. (Hg.), Zur Aktualität der Ethik Spinozas, Würzburg 2000, S. 421-451 (440 ff.).
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des gesamten moralischen Vokabulars auf natürliche Sachverhalte, etwa auf Weisen des affektiven Reagierens in Termini von Billigung und Missbilligung.35 Kant unternimmt in seiner praktischen Philosophie den Versuch, diese epistemologischen Probleme aufzulösen, ohne eine Reduktion des moralischen Vokabulars auf natürliche Sachverhalte akzeptieren zu müssen. Man kann nämlich die ersten Abschnitte von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als den Versuch interpretieren, ausgehend von diesen epistemologischen Problemen ein Kriterium der Moralität zunächst zu identifizieren, um anschließend im dritten Abschnitt den definitorischen Kernbegriff des Guten und den argumentativen Zusammenhang zwischen diesem definitorischen Begriff des moralisch Guten und dem Kriterium aufzuweisen. Dabei dient das aufzufindende Kriterium als ratio cognoscendi des Faktums, das dann als ratio essendi des Kriteriums – und damit als sein moralrelevanter Grund – fungieren soll.36 Das Kriterium für die Moralität einer Handlung bzw. von Handlungstypen muss allerdings aufgrund der bisherigen Überlegungen von allen Umständen und Relationen der Handlungen absehen, und das heißt nichts anderes, als dass es sich um einen kategorischen Imperativ im Unterschied zu einem hypothetischen handeln muss, der noch dazu nichts anders als ein rein formales Prinzip sein darf.37 Dieses formale Prinzip wiederum darf sich nicht auf formale Bestimmungen der Handlungen beziehen, sofern sie Teil der Natur sind, sondern muss die formalen Charakteristika des den Handlungen zugrundeliegenden Willens zum Gegenstand haben. Es ist entsprechend von allen physischen Charakteristika und Umständen des Handelns einschließlich der Selbsterfahrung des Wollenden abzusehen, um das principium diiudicationis als solches in den Blick zu bekommen. Das Prinzip bezieht sich entsprechend auf einen Willen, der uneingeschränkt „gut“ genannt werden können soll. Dabei ist der kategorische Imperativ alleine ein kriterieller Begriff des Guten (eben princi35
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Vgl. dazu exemplarisch aus jüngerer Zeit P. STRAWSON, Freedom and Resentment, Proceedings of the British Academy 48 (1960), S. 187-211. Dieser Ansatz Strawsons ist seinerseits verwandt einer Theorie, die in der von mir zu betrachtenden Zeitspanne vertreten wurde, nämlich der Spinozas. Diese Verwandtschaft ergibt sich beispielsweise aus dem Schlusskapitel von P. STRAWSON, Analysis and Metaphysics. An Introduction into Philosophy, Oxford 1992, aber auch aus P. STRAWSON, Liberty and Necessity, in: N. Rothenstreich; N. Schneider (Hg.), Spinoza. His Thought and Work, Jerusalem 1983, S. 120 – 129. Vgl. das Paradoxon der Methode in KANT, KpV, AA V, S. 62 f. – ENSKAT 2001 (Fn. 12) bemerkt, dass nach dem „sittlichen Gehalt“ des kategorischen Imperativs allererst gefragt werden müsse, „weil er ausschließlich einen.logischen Gehalt hat“ (S. 95). Er findet diesen Gehalt dann – kurz gesprochen – darin, dass das Scheitern der Lügenmaxime auf eine Authentizitäts- und Solidaritätsforderung verweise, die als Ermöglichungsbedingungen von Autonomie den eigentlichen moralischen Gehalt ausmachten. Allerdings greift Enskat bei seiner Verortung des moralischen Gehalts auf Vorstellungen von „Moral“ zurück, die er nicht der Analyse des Ausdrucks „gut“ durch Kant abgewinnt, sondern von außen heranträgt. Mir scheint, dass man Kants radikale Zuspitzung des Ausdrucks „gut“ im moralischen Sinn mitmachen muss, will man mit seinen Mitteln die Frage nach dem moralischen Gehalt des kategorischen Imperativs beantworten. Ich übergehe an dieser Stelle den Umstand, dass es sich für Kant bei einem Imperativ natürlich immer um eine lex imperans handelt, nicht nur um eine lex indicans – auf diesen Punkt komen ich vielmehr erst im nächsten Abschnitt zu sprechen.
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pium diiudicationis), er bietet noch nicht den definitorischen, relevanzbegründenden Begriff des moralisch Guten, von dem aus er als Kriterium der Moralität begründet werden muss.38 Gerade deshalb stellt sich für Kant nach der Gewinnung dieses kriteriellen Begriffs noch die Frage nach seiner Rechtfertigung, d.i. nach der Deduktion des kategorischen Imperativs als eines moralischen Prinzips. Der Deduktionsgrund macht entsprechend den eigentlichen Begriff des moralisch Guten in Kants praktischer Philosophie aus, und dieser ist – lässt man alle die vielleicht unauflösbaren Probleme dieser Deduktion beiseite – der Begriff der Freiheit bzw. der Autonomie.39 Insofern das Sittengesetz eben auch kriterieller Begriff des Guten ist, ist es jedoch als principium diiudicationis nicht eo ipso auch Imperativ, sondern zumindest auf einer ersten Ebene der Betrachtung lex indicans. Der Imperativ-Charakter ist durch einen gesonderten Gedankengang allererst zu begründen.40 Vergleicht man nun dieses Resultat der erkenntnistheoretischen Überlegungen Kants mit der Theorie der entia moralia, die ja der Ausgangspunkt dieser methodologischen Überlegungen waren, so stellt man fest, dass Kant offensichtlich bereits aufgrund methodologischer Reflexionen einige Züge dieser Theorie abweisen musste: Die Gesetze, die vormals als kriterielle Begriffe des Guten die Supervenienz moralischer Qualitäten zu physischen bzw. naturalen Charakteristika und Umständen der Handlung regelten, waren notwendigerweise auf relationale Aspekte des Guten bezogen. Die epistemologischen Überlegungen Kants haben jedoch zu dem Resultat geführt, dass auch der kriterielle Begriff des Guten keinerlei relationale Momente einschließen darf, dass vielmehr auch hier von einem absoluten Begriff des Guten ausgegangen werden muss. Daraus ergibt sich unmittelbar, dass moralische Qualitäten eben nicht mehr supervenient zu den naturalen Charakteristika und Umständen einer Handlung sein können. Niedergeschlagen hat sich dieses Resultat in den Behauptungen Kants, man könne einer Handlung als solcher gar nicht ansehen, ob sie moralisch gut oder verwerflich sei, komme es doch primär auf die der Handlung zugrundeliegende Maxime des Willens als Handlungsgrund an – wobei der Wille für Kant nicht einfach als Teil der Natur aufgefaßt werden darf. In der Konsequenz hat Kant die entia moralia als geschaffene Seiende mit eigentümlichem Status schlicht verabschiedet.
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Vgl. dazu K. CRAMER, Metaphysik und Erfahrung in Kants Grundlegung der Ethik, in: G. Schönrich; Y. Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 280326 (334), der vom Sittengesetz als „Deskriptor des Guten“ spricht, die Frage aber nicht stellt, ob es sich um einen kriteriellen oder definitorischen Deskriptor handelt. Vgl. dazu D. HENRICH, Ethik der Autonomie, in: Ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 6-56, und Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Ders. u. a. (Hg.), Die Gegenwart der Griechen im Denken, Tübingen 1960, S. 77-115. Vgl. den in Anm. 11 zitierten Text.
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5. KANTS TRANSFORMATION DER ONTOLOGISCHEN GRUNDLAGEN Um die argumentative Entwicklung von der Theorie der entia moralia zur Zweiweltenlehre Kants in Umrissen als eine Art Problemgeschichte zu rekonstruieren, ist nun zusätzlich zu überlegen, was auf der Basis der Transzendentalphilosophie aus diesem Versuch einer ontologischen Grundlegung des normativen Vokabulars werden muss, wenn aus den skizzierten Gründen von einer Art supervenienter moralischer Entitäten nicht mehr gesprochen werden kann. Dabei ist der terminologische Befund von T. Kobusch, dass Kant nicht von entia moralia redet,41 nicht nur eine Bestätigung der bisherigen Interpretation: Er lässt sich vielmehr auch aus Kants Transformation der tradierten Ontologie erklären. – Denn die ontologisch entscheidende These der entia-moralia-Theorien war ja, dass es sich nicht um bloß fingierte oder durch den Verstand produzierte entia rationis handle, sondern um reale Entitäten eigenen Typs. Natürlich ist dann zu untersuchen, wie sich damit die Grundlagen des normativen Vokabulars verschieben. Dabei wird sich trotz aller Veränderungen als grundlegende Gemeinsamkeit erweisen, dass auch bei Kant die theoretische wie die praktische Notwendigkeit in spezifischen Handlungen bzw. in Charakteristika bestimmter Handlungen gründen, allerdings nunmehr in Handlungen der logisch und praktisch spontanen, endlichen Subjekte. Dabei möchte ich die These plausibel machen, dass auch bei Kant ein, die Bereiche des theoretischen wie des praktischen umgreifender, univoker Begriffskern des Ausdrucks „Gesetz“ feststellbar ist, ja angenommen werden muss, schlicht weil sich alles Denken, sei es im Feld der theoretischen Vernunft, sei es im Feld der praktischen Vernunft, denselben Handlungen verdankt, die sich in bestimmten logischen Funktionen im Urteil ausdrücken – unter anderem in der Form des allgeneralisierten Wenn-dann-Satzes, die den Gesetzen in beiden Gegenstandsbereichen gemeinsam ist. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist allerdings die Frage, ob auch die Art der Notwendigkeit, die in den Gesetzen der beiden Bereichen jeweils anzutreffen ist, nach Kant einen gemeinsamen begrifflichen Kern hat. Doch zuvor muss die These, bei Kant finde sich eine Theorie der entia moralia nicht mehr, in bestimmter Hinsicht präzisiert werden, um nicht absurd zu erscheinen. Dann natürlich verwendet Kant den Ausdruck „moralisch“ etwa in der Metaphysik der Sitten in Kombination mit anderen Ausdrücken in einer Art und 41
Vgl. KOBUSCH 21996 (Fn. 16), S. 132. Seine dort vorgetragene These halte ich indessen für nicht haltbar: „Die 1797 in zwei Teilen und Bänden erschienene Schrift Kants ‘Die Metaphysik der Sitten’ steht als ganze und im einzelnen, obwohl der Begriff des ens morale nicht vorkommt, in der dargelegten Tradition der metaphysica moralis und ist so mit der mittelalterlichen Lehre vom ens morale verbunden.“ Nach Kobusch werde hier „die Lehre von den entia moralia erstmals, nachhaltig und wirkungsvoll auf das Fundament der kritischen Philosophie gestellt“(S. 133). Mir scheint demgegenüber, dass man aus dem Umstand, dass Kant von „Pflicht“, „Verpflichtung“ und den übrigen Begriffen redet, die in einer Theorie der entia moralia geklärt werden sollten, nicht schließe dürfen, er selbst entwickle eine derartige Theorie.
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Weise, die an die Theorie der entia moralia erinnert. So kennt auch er den Ausdruck „moralische Macht“ in Gegensatz zu „physischem Vermögen“, um von Rechtsmacht zu sprechen.42 Ähnlich spricht er von einer „moralischen Persönlichkeit“. Auch hier scheint ein Persönlichkeitsbegriff anvisiert zu werden, nach dem unter „Person“ ein regelrechtes Ding mit einem besonderen Status zu verstehen ist, und zwar so, dass es zwar auf das physische Ding bezogen, aber zugleich wesentlich von ihm verschieden ist, ohne mit dem Welt konstituierenden Grund zusammenzufallen. Doch muss man sich die Explikationen insbesondere des letzteren Ausdrucks genauer ansehen, um die entscheidende Differenz zu bemerken. Die „moralische Person“ ist „nichts anderes als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen, ... woraus dann folgt, dass eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie ... sich selbst gibt, unterworfen ist.“43 Auf der ontologischen Ebene ist also diese moralische Persönlichkeit kein von anderen Dingen irgendwie real unterschiedenes Ding oder irgendeine reale Qualität, die einer neben der natürlichen Welt und der weltkonstituierenden Subjektivität eigenständigen ontologischen Sphäre zuzurechnen ist, sondern nichts anderes als eine spezifische Verfasstheit des Menschen selbst, nämlich seine Freiheit. In einem von diesem Begriff abgeleiteten Sinn kann man dann auch sagen, dass die moralische Persönlichkeit nichts anderes ist als der Mensch, „nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens ... als von physischen Bestimmungen unabhängige Persönlichkeit vorgestellt.“44 Kant reduziert also seinerseits den Begriff der moralischen Persönlichkeit respektive des ens morale, aber nicht auf die physischen Charakteristika des Menschen, sondern auf seine Freiheit. Seine Freiheit ist aber nichts anderes als seine praktische Spontaneität, die ihm – und das ist Konsequenz der transzendentalphilosophischen Transformation der vormaligen Metaphysik – als intelligiblem Ich zugeschrieben werden muss, also als Bürger einer anderen Welt. Verknappt ausgedrückt: Während das ens morale in der vormaligen Metaphysik einen eigenständigen ontologischen Charakter zwischen physischer Welt und weltkonstituierendem Prinzip zu bewahren suchte, wird es hier auf besondere Charakteristika des weltkonstituierenden Prinzips zurückgeführt und verliert in diesem Sinn seinen eigenständigen Status – gerade um eine Reduktion auf natürliche Charakteristika zu vermeiden.45 Das ist vor dem Hintergrund von Kants Transformation der vormaligen Metaphysik konsequent. Dazu muss man sich nur deutlich machen, was es heißt, ein Gegenstand zu sein bzw. einen Gegenstand als solchen zu erkennen. Gegenstände sind zunächst nichts anderes als Komplexe von Vorstellungen, die gemäß den Kategorien als zu einer notwendigen Einheit verbunden vorgestellt werden, bzw. dasjenige, das als die dieser notwendigen Verknüpfung von Vorstellungen zu42 43 44 45
Z.B. AA VI, S. 230 oder S. 239. AA VI, S. 223 – Hervorh. R. S. AA VI, S. 239 – Hervorh. R. S. Wenn ich hier verkürzende von „weltkonstituierendem Prinzip“ rede, dann soll damit nicht Kants „Zweistämmlehre“ geleugnet, sondern nur darauf hingewiesen werden, dass dieses Ich eben kein Teil der Welt ist, sondern ihr – eventuell mit anderen problematischen Entitäten wie Dingen an sich und deren Schöpfergott – zugrunde liegt.
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zugrundeliegene Einheit gedacht wird.46 Einen Gegenstand zu denken heißt also nichts anderes, als einen entsprechenden Grund der notwendigen Verknüpfung von Vorstellungen zu einer kategorialen Einheit zu denken. Einen Gegenstand zu erkennen kann dann aber zunächst nichts anderes bedeuten, als das Vorliegen dieser Verknüpfung gemäß den Schemata der Kategorien in der Erfahrung zu verifizieren. In diesem Sinn lässt sich das moralisch Gute nicht als Gegenstand erkennen und wahrscheinlich noch nicht einmal denken. Doch selbst wenn man den Begriff der Gegenstandserkenntnis mit Kant in praktischer Absicht erweitert und bereit ist, bereits dann von „Erkenntnis“ zu sprechen, wenn man nicht nur die Lizenz, sondern in praktischer Absicht auch die Pflicht hat, einen entsprechenden Satz über entia moralia für wahr zu halten, wird man nicht auf entia moralia im oben explizierten Sinne kommen, sondern auf ein Ich, das sich in praktischer Absicht Kausalität aus Freiheit unter selbstgegebenen Gesetzen zusprechen muss. Dabei ist der Gegenstand dieser Aussage – das Ich – kein anderes als dasjenige, dem als synthetische Einheit der Apperzeption, die gegenstands-konstituierende Leistung zugesprochen wird (auch wenn diesem Ich dabei zusätzlich noch Charakteristika zugesprochen werden, die noch nicht im Begriff der logischen Spontaneität enthalten sind).47 Es ist daher kein Zufall, dass Kant den Gegenstandsbereich der Metaphysik der Sitten im Unterschied zu einer Metaphysik der Natur gerade nicht als Bereich besonderer Gegenstände bestimmt (etwa entia moralia im Unterschied zu entia physica), sondern als Bereich besonderer Gesetze, nämlich der Gesetze der Freiheit im Unterschied zu den Gesetzen der Natur.48 Dazu müssen natürlich Begriffe eingeführt, expliziert und in ihrer Berechtigung ausgewiesen werden, die auch in einer Theorie der entia moralia zu explizieren waren (beispielsweise der Pflichtbegriff). Das bedeutet aber nicht, dass von Entitäten neuen Typs die Rede sein müßte. Naturgesetze und moralische Gesetze haben die logische Form des Wenndann-Satzes gemeinsam, die der Kategorie der Kausalität zugrunde liegt. Auch moralische Gesetze sind daher in gewisser Weise „Kausalgesetze“, allerdings solche, die unter besonderen Bedingungen stehen. Für die in moralischen Gesetzen behaupteten Zusammenhänge gilt nämlich, dass ein rein vernunftbestimmter Wille von sich aus in der als „moralisch gut“ qualifizierten Weise handeln würde, schlicht weil „gut“ im definitorischen Sinn nichts anderes meint, als eine Handlung aus Freiheit zu sein. Handeln aus Freiheit muss gesetzförmig und damit regelhaft ohne Ausnahme sein, schlicht weil jede Abweichung von dieser selbstgegebenen Regel einen Grund voraussetzen würde, der nicht im Willen selbst liegt, der Mensch in diesem Fall also nicht autonom, sondern heteronom handeln würde. Es widerspricht dem Begriff eines freien Willens, nicht mit sich übereinzustimmen – Gesetzförmigkeit (und in seinem Willen durch das Gesetz bestimmt zu 46
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Ich stütze mich hierbei natürlich auf Kants Neubestimmung des tradierten Begriff einer res bzw. eines Gegenstandes, die er explizit erst im Zusammenhang seiner Transzendentalen Deduktion expliziert (KrV A104 f.). Vgl. zu den hier lauernden Problemen HENRICH 1960 (Fn. 39). Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 387 f.; KrV AA III, S. 538 ff.; Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 211 ff.
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sein) ist entsprechend notwendige und hinreichende Bedingung für autonomes Handeln. Grund der Gesetze und der in ihnen enthaltenen Notwendigkeit ist also auch bei Kant eine Art Verbot des Selbstwiderspruchs bzw. – wenn man den Bereich der Naturkausalität noch hinzunimmt – sind die Bedingungen der Identität des logischen und praktischen Subjekts mit sich in seinen Handlungen.49 Die Unterschiede zwischen moralischen Gesetzen und Naturgesetzen sind von zweierlei Art: Zum stehen moralische Gesetze, wie angedeutet, unter Bedingungen, insbesondere unter der im Fall der endlichen Subjekte, die wir sind, nicht erfüllten Bedingung, dass der Wille vernunftbestimmt sei. Diese Differenz ist der Grund des Pflichtbegriffs, und in Gefühlen der Achtung, des Sich-verbundenFühlens oder des Genötigt-Seins manifestiert sich die Anerkenntnis dieser Differenz als Grund der Normativität. Doch ist das nur der eine Unterschied zwischen beiden Typen von Gesetzen. Der andere besteht darin, dass für Naturgesetze durch das Schema der Kausalität die Möglichkeit besteht, sie auf Gegenstände der Erfahrung anzuwenden bzw. etwas als Fall der Erfüllung eines bestimmten Gesetzes zu diagnostizieren. Regularitäten sind Indizien für das Vorliegen kausaler Zusammenhänge, sie berechtigen uns dazu, entsprechende Kausalaussagen zu behaupten. Analoge Indizien gibt es im Fall moralischer Gesetze nicht, schlicht weil das Handeln und die der Selbstbeobachtung abgelauschten Vermutungen über die dem Handeln zugrundeliegende Motivation gerade keine verläßliche Antwort auf die Frage gestatten, ob sich die Handlung einem autonomen Willen verdankt.
7. AUSBLICK Es ist nicht nur bei philosophischen Theorien wie bei dem Spitzen von Bleistiften: Ab einem gewissen Punkt droht einem die Spitze abzubrechen, bzw. schlimmer noch: Sie mag bereits abgebrochen sein, ohne dass man den etwas höheren Widerstand beim Spitzen als Indiz dafür erkannt hätte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es kein zuverlässiges Indiz dafür gibt, wann man es mit einem echten Sachproblem zu tun hat und wann mit einem durch die Theorie generierten. So mag man durchaus daran zweifeln, ob das Problem, wie sich eine Reduktion des moralischen Gehalts auf natürliche Charakteristika und Umstände der Handlungen vermeiden lasse, nicht lediglich ein Folgeproblem ganz anderer Thesen ist, etwa derjenigen, moralisches Vokabular lasse sich gemäß unseren grundlegenden Intuitionen nur dort anwenden, wo die Handlung in einem besonderen Sinn eine freie sei. Die Plausibilität des einen oder anderen Versuchs oder der einen oder anderen Problemstellung hängt damit von Hintergrundvoraussetzungen 49
Entgegen der Interpretation etwa von H. MÖHLE, Wille und Moral. Zur Voraussetzung der Ethik des Johannes Duns Scotus und ihrer Bedeutung für die Ethik Immanuel Kants, in: L. Honnefelder (Hg.), John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics, Leiden 1996, S. 573-594, der Duns Scotus auch in der praktischen Philosophie in große Nähe zu Kant rückt, scheint mir deutlich, dass es sich bei Kant letztlich um ein rein formales Prinzip der Widerspruchsvermeidung handeln soll, während Duns Scotus davon spricht, dass Gott nicht seiner bonitas widersprechen können, womit aber ein materiales Prinzip gesetzt ist.
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ab, die zu haben einen überhaupt nicht bemerken lässt, dass der Bleistift bereits abgebrochen ist. Alle die hier skizzierten Theorien sind von ihren Autoren nicht lediglich im Rückgriff auf Annahmen über die Bedeutung moralischer Ausdrücke abgestützt worden. Für einen Autor wie Suárez sind die zahlreichen Hintergrundannahmen etwa in der Schöpfungstheologie Thema bereits der Metaphysik, und die Kantische Redeweise von einem intelligiblen Ich, das als spontanes und autonomes über einen freien Willen verfügt, gewinnt einen guten Teil ihrer Anfangsplausibilität aus den Analysen der logischen Spontaneität des Ichs im Kontext der theoretischen Philosophie. Diese Hintergrundannahmen liegen insbesondere der uns so vertrauten Anwendung des Gesetzesbegriffs im Bereich der Natur wie der Moral zugrunde. Gleichwohl fragt es sich, wie aussichtsreich der alternative Weg wäre, alles dasjenige, was beispielsweise selbst im Rahmen der Kantischen Philosophie als Indizien für moralisch gute Handlungen thematisiert wird, für sich zu nehmen und gleichsam, von diesen erfahrbaren Charakteristika und Umständen ausgehend, eine Art Phänomenologie des moralischen Bewußtseins zu versuchen. Es müßte sich im Verlauf einer solchen Untersuchung zeigen, ob man tatsächlich auf die skizzierten anspruchsvollen Hintergrundannahmen verpflichtet ist, wenn man die moralischen Intuitionen ernst nehmen möchte. Phänomene des Zusammenstimmens mit sich selbst – oder des im Handeln Bei-sich-selbst-Seins – müßten sich auch ohne Schöpfergott und intelligibles Ich verstehen lassen. Anknüpfungspunkte für eine solche Untersuchung wären im von mir untersuchten Zeitraum insbesondere zwei Autoren, die ich auslassen musste, nämlich Baruch de Spinoza und David Hume. Doch auch bei diesen Ansätzen besteht die Gefahr, dass ihre Hintergrundannahmen gegenüber der Vielfalt der Phänomene blind machen und ihrerseits theorieinterne Probleme neu generieren, die man leichtfertig für Sachprobleme hält.
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DIE AUTOREN UND HERAUSGEBER Tilmann Altwicker Zöldkert u. 6/A H-1025 Budapest/Ungarn [email protected] Prof. Dr. Norbert Brieskorn Kaulbachstr. 31 a D-80539 München Tel.: 089 / 2386 2356 [email protected] Prof. Dr. Wilhelm Metz Philosophisches Seminar II Werthmannplatz 3 D-79085 Freiburg [email protected] Dr. phil. Carlo Regazzoni Reinacherstrasse 29 CH 4106 Therwil [email protected] Priv.-Doz. Dr. Franz Reimer Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie Albert-Ludwigs-Universität Freiburg D-79085 Freiburg [email protected] Priv.-Doz. Dr. phil. Robert Schnepf Seminar für Philosophie Martin-Luther-Universität Schleiermacherstr. 1 D-06114 Halle/S. [email protected] Dr. phil. Michael Städtler Philosophisches Seminar „Leibniz“ Universität Hannover Im Moore 21 / Hinterhaus, 3. OG D-30167 Hannover [email protected]
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(vakat)
Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez
Herausgegeben von Manfred Walther, Norbert Brieskorn und Kay Waechter
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008
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