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German Pages 326 [327] Year 2012
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von
Albrecht Beutel
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Miriam Rose
Schleiermachers Staatslehre Perspektiven eines europäischen
Mohr Siebeck
Miriam Rose, geboren 1974; Studium der Evangelischen Theologie in Heidelberg, Jerusalem, Berlin und München; 2005 Promotion; 2009 Habilitation; seit 2011 Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
e-ISBN PDF 978-3-16-151851-5 ISBN 978-3-16-150899-8 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2009 als systematischtheologische Habilitationsschrift angenommen. Den Fachmentoren Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Gunther Wenz, Herrn Prof. Dr. Jan Rohls und Herrn Prof. Dr. Harry Oelke danke ich für kollegiale und großzügige Begleitung. Ihnen wie auch Herrn Prof. Dr. Christian Danz (Wien) bin ich für die Übernahme der Habilitationsgutachten sehr dankbar. Beflügelt wurde die Arbeit durch die gesellige Wissenschaft, wie ich sie erfahren durfte mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der alljährlichen Schleiermacher-Symposien in Wittenberg. Besonders Herrn Prof. Dr. Ulrich Barth und Herrn Prof. Dr. Martin Ohst danke ich für entscheidende Hinweise. Und in so vieler Hinsicht: Martin Arneth, Roderich Barth, Birgitta Kleinschwärzer-Meister, Mareike Lachmann, Tim Lorentzen und Andreas Waschbüsch. Für stetige freundschaftlich-konstruktive Begleitung bei der Erarbeitung und Überarbeitung empfinde ich tiefe Dankbarkeit für Herrn Prof. Dr. Claus-Dieter Osthövener. Meine Studierenden in München und in Essen haben durch ihr Interesse, ihre Fragen und Einwände wesentlichen Anteil am Werden dieser Arbeit. Die kluge und kompetente Unterstützung durch Herrn Dr. Henning Ziebritzki empfand ich stets als inspirierend. Ihm und Frau Tanja Idler vom Verlag Mohr Siebeck für all ihr wohlwollendes Engagement großen Dank! Dem Herausgeber der Reihe Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel bin ich für die Aufnahme in die Reihe »Beiträge zur historischen Theologie« zu Dank verpflichtet. Was Diktaturen bis ins Persönlichste zerstören und wie kostbar Freiheit und Menschenrechte sind, habe ich früh im Leben erfahren. Widmen möchte ich daher das Buch meiner Familie, in Dankbarkeit für alles. Zittau – München, 14. Juli 2011
Miriam Rose
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Staatslehre. Ein aktueller Problemaufriss in historischer Perspektive
3
II. Schleiermachers Beschäftigung mit der Staatslehre . . . . . . . . . 1. Akademische Stationen der politischen Theoriebildung . . . . 2. Die Aristoteles-Rezeption Schleiermachers. Grundlegung der Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Preußen 1789–1833. Eskalation im staatstheoretischen Diskurs . .
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IV. Forschungsgeschichte
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Schleiermachers früheste Äußerungen zur Französischen Revolution 31 III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen . . . . . . . . . . . . . 1. Die Französische Revolution in der deutschen Öffentlichkeit 2. Die Bedeutung der Revolution für Schleiermacher – ein Forschungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Französische Revolution in Schleiermachers Vorlesungen zur Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit: Revolution als unaufhebbare Spannung zwischen Entwicklungsnotwendigkeit und Verwerflichkeit . . IV. Staatstheoretische Debattenlage in Deutschland nach der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Revolutionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auseinandersetzung mit der Vertragstheorie . . . . . . . . . . a) Einordnung der Vertragstheorie in die Naturrechtstradition b) John Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
c) Kritik an der Vertragstheorie . . . . . . . . . . . d) Schleiermacher und die Vertragstheorie des Staates 3. Nonkontraktualistische Staatstheorien . . . . . . . . 4. Liberalismus und Konservatismus . . . . . . . . . . 5. Eine historische Fallstudie: Friedrich Christoph Dahlmanns »Politik« . . . . . .
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V. Fazit: Schleiermachers Staatslehre – begrifflich rekonstruierter preußischer Zeitgeist? . . . . . . . . . 104
C. Überblick über die Vorlesungen zur Staatslehre . . . . . . . 107 I. Charakterisierung der einzelnen Vorlesungsnachschriften . . . . . 1. Die Vorlesung von 1817: »Politik« . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorlesung von 1817/18: »Lehre vom Staat« bzw. »Politik« 3. Die Vorlesung von 1829: »Lehre vom Staat« . . . . . . . . . . 4. Die Vorlesung von 1833: »Philosophische Lehre vom Staat« .
. 107 . 108 110 . 113 . 114
II. Schleiermachers Staatslehre-Vorlesung von 1829 . . . . 1. Intention, Gliederung und Einleitung der Vorlesung 2. Staatsbildung und Staatsverfassung . . . . . . . . . . 3. Staatsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Staatsverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Thematische Fokussierungen der Staatslehre . . . . . . . . . 141 I. Theoriedimensionen. Staatslehre als abstrakte Geschichte des Staates 1. Die Staatslehre in Schleiermachers Wissenschaftssystematik . . . 2. Staatslehre als emanzipatorische Theorie . . . . . . . . . . . . 3. Begriffsbildung durch Genetisierung und Differenzierung . . . 4. Staatslehre als Wesensbestimmung des Staates . . . . . . . . . . 5. Staatslehre als Physiologie des Staates . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit: Staatslehre als unpolitische Theorie des Politischen . . . .
141 141 146 149 151 152 155
II. Das Wesen des Staates. In bewusstloser Notwendigkeit gebildetes Werk des Menschen . . . . . . . . . . . . . 1. Bildung und Entwicklung von Staaten . . . . . . . 2. Staatstypologie und ihre Kritik . . . . . . . . . . . 3. Theorie der öffentlichen Meinung . . . . . . . . . 4. Politikbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Die Freiheit des Einzelnen. Risikofaktor staatlicher Gemeinschaft 175 1. Der Einzelne als Untertan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
IX
Inhaltsverzeichnis
2. Der Einzelne als Nicht-Untertan . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Der Einzelne als Untertan und Nicht-Untertan . . . . . . . . . 184 4. Freiheitsrechte für den Einzelnen aus staatlichem Selbsterhaltungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. Staat und Kirche. Notwendigkeit wechselseitiger Selbstunterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pathetisches Dringen auf Trennung von Staat und Kirche in den »Reden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kirche und Staat als getrennte Sphären in der Philosophischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politische Ambivalenz der Religion in den Vorlesungen zur Staatslehre . . . . . . . . . . . .
. . . 189 . . . 191 . . . 192 . . . 194
V. Krieg und Frieden. Geschichtsphilosophisches Konzept einer Annäherung von Politik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Krieg als anerkanntes Mittel für politische Ziele . . . . . . . . 201 2. Auf dem Weg zum ewigen Frieden . . . . . . . . . . . . . . . 207 VI. Rechtstheorie. Sittenexplikativer Rechtsbegriff aus dem Geist der Nüchternheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staat und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktion des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesetzesbruch und die mit ihm befassten Instanzen . . 5. Fazit: Funktionale Zentralbedeutung und inhaltliche Randbedeutung der Rechtstheorie . . . . . . . . . .
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. . . . . 232
E. Die christliche Sittenlehre. Theologische Theorie politischen Handelns . . . . . . . . . 236 I. Konzept, Aufbau und Methode der Christlichen Sitte . . . . . . . 236 II. Der Staat in der Christlichen Sitte . . . . . . 1. Das reinigende Handeln im Staat . . . . . 2. Das verbreitende Handeln im Staat . . . . 3. Zusammenfassung: Der Begriff des Staates in der christlichen Sittenlehre . . . . . . .
. . . . . . . . . . . 242 . . . . . . . . . . . 243 . . . . . . . . . . . 256 . . . . . . . . . . . 267
III. Der Einzelne und das Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 IV. Christlicher Begriff politischen Handelns und philosophischer Staatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
X
Inhaltsverzeichnis
F. Schleiermachers Staatslehre in der Diskussion . . . . . . . . . 286 I. Die vorherrschende Deutungsperspektive: Schleiermacher als Denker der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 II. Gegenlesung: Schleiermacher als nicht-liberaler Denker . . . . . . 287 III. Schleiermachers Staatslehre in abschließenden Thesen . . . . . . 292
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
A. Einleitung Die bedeutendsten deutschen Staatstheorien für das 19. Jahrhundert entstehen sämtlich in Preußen zwischen 1791 und 1830. Hierzu zählen: Humboldts »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen« (1791), Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« (1795), Fichtes Werk »Der geschlossene Handelsstaat« (1800) sowie Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (1820). Dazu gehören auch Schleiermachers Vorlesungen zur Staatslehre (erstmals 1808/09), die er – anders als Hegel – jedoch nicht veröffentlichte, die daher nur über seine Studenten und deren Nachschriften Wirkung entfalteten. Gedruckt erschienen sie im Rahmen der »Sämmtlichen Werke« im Jahre 1845, kritisch ediert liegen sie erst seit 1998 vor. Alle genannten Entwürfe verarbeiten die revolutionäre Veränderung der staatlichen Ordnung in Frankreich und thematisieren die Reformierbarkeit und Reformbedürftigkeit staatlicher Ordnung in Preußen. Kants Text etwa stellt ein ideales Entwicklungsziel für staatliche Ordnung auf, den Weg zu einem »ewigen Frieden«, sowohl innerstaatlich als auch zwischenstaatlich und in weltbürgerlicher Hinsicht. Hegels Entwurf dagegen will den ihm gegenwärtigen, also preußischen Staat als ein in sich Vernünftiges begreifen und darstellen. Es geht gerade nicht darum, das Ideal eines Staates aufzustellen, sondern die Vernünftigkeit des vorhandenen zu erkennen. Schleiermachers Staatstheorie verbindet vieles mit diesen Konzeptionen. Er will aber nun weder ein Entwicklungsideal staatlicher Ordnung aufstellen noch eine Theorie des gegenwärtigen Staates und dessen Legitimation oder seine Kritik liefern, sondern noch allgemeiner eine Theorie von staatlicher Veränderung konzipieren, mit der dann alle nur möglichen realgeschichtlichen Staaten in ihren Entwicklungsdynamiken beschrieben werden können. Veränderung versteht er als eines der wesentlichen Merkmale von Staaten – unabhängig davon, ob diese sie befördern oder aber hindern. Indem er eine Theorie von der Staatsveränderung entwirft, intendiert er eine Theorie, die als solche über staatlicher Veränderung steht, von ihr nicht betroffen wird, sondern sie erfasst. Diese ungewöhnlichen Theorieanlage soll durch die vorliegende Arbeit in ihrer Struktur erhellt und in ihrer Bedeutung für die materialen Inhalte der Theorie untersucht werden. Einem von der Erfahrung des modernen liberalen Rechtsstaats geprägten Leser fällt ein weiteres Merkmal seiner Theorie sogleich auf und irritiert bei in-
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A. Einleitung
tensiver Lektüre immer noch mehr: die Freiheit des Einzelnen spielt keine argumentative Rolle, weder als Argumentationsgrundlage noch als Grenze staatlicher Gewalt. Der Einzelne wird nicht als Träger von Rechten gedacht, er kommt beinahe nur vor als möglicher Störfaktor des politischen Lebens. Der Individualitätstheoretiker Schleiermacher scheint mit dem Staatstheoretiker Schleiermacher nichts zu tun zu haben. Sittliche Konflikte zwischen dem Einzelnen und der staatlichen Ordnung haben keinen Ort in Schleiermachers Staatslehre; staatliches Handeln beurteilt er lediglich nach Klugheitsregeln. Die Frage nach dem theoretischen Ort des Einzelnen und die Frage nach der spezifischen Theorieform der Staatslehre Schleiermacher sollen als heuristische Fragen dienen, um die Eigenart der Staatslehre Schleiermachers im Ganzen und aus verschiedenen Perspektiven zu erschließen. Die folgende Untersuchung geht dabei in drei Schritten vor. Zuerst stellt die Arbeit die zeitgenössische staatstheoretische Debattenlage nach der Französischen Revolution vor. Dabei wird sich zeigen, warum aufgrund einer bestimmten, in Deutschland vorherrschenden Interpretation der Französischen Revolution es nicht mehr plausibel war, mit den Rechten des Einzelnen zu argumentieren und präskriptive Staatstheorien aufzustellen. Zweitens erklärt eine systematisch fokussierte Untersuchung der Staatslehrevorlesungen Schleiermachers den Zusammenhang zwischen den relevanten Theorieaspekten: Theorieanspruch der Staatslehre, Wesen des Staates, das Verhältnis von Staat und Kirche, Krieg und Frieden, Recht, sowie die Rolle des Einzelnen. Es wird sich herausstellen, dass der gewählte Grundansatz Schleiermachers es unmöglich macht, dem Einzelnen eine relevante Rolle in der Theorie zuzuweisen. Zugleich ergibt sich, dass Schleiermacher wesentliche Anliegen von vertragstheoretischen Staatskonzeptionen mit ihrem Fokus auf den Rechten der Einzelnen auf seine Weise aufnimmt. Die spezifische Leistungsfähigkeit der Staatslehre Schleiermacher für eine systematisch kontrollierte empirische Erfassung konkreter Staaten wird dabei vorgestellt. Drittens vergleicht die Arbeit Schleiermachers philosophischen Staatsbegriff in den Staatslehrevorlesungen mit der Staatstheorie, die er in der Christlichen Sitte entwickelt. Den philosophischen Staatsbegriff legitimiert er darin mit theologischen Mitteln. Vor allem aber begründet er ausführlich, warum das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft keinen sittlichen Konflikt zwischen beiden zulässt. Daraus zieht er jedoch nicht die Folgerung, dass der Staat dann also seine Politik beliebig gestalten dürfe, sondern ganz im Gegenteil formuliert er, dass die Sittlichkeit des Staates an der Ermöglichung möglichst freier Kommunikation zwischen allen Bürgerinnen und Bürger hänge. Vorangeschickt seien den Ausführungen vier erste Zugänge: ein Überblick über die gegenwärtige Bedeutung politischer Philosophie in historischer Perspektive, eine Übersicht über Schleiermachers Beschäftigung mit der Staatslehre, eine Skizze der politisch-realgeschichtlichen Situation Preußens zu Schleiermachers Zeiten sowie ein Forschungsüberblick zu Schleiermachers politischer Theorie.
I. Staatslehre. Ein aktueller Problemaufriss
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I. Staatslehre. Ein aktueller Problemaufriss in historischer Perspektive Der moderne Verfassungsstaat steht vor zwei prinzipiellen Herausforderungen: Er muss seine Grundprinzipien unter sich wandelnden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen neu interpretieren. Er muss Wege finden, wie die nationalstaatlichen Prinzipien von demokratischer Kontrolle und Rechtsstaatlichkeit auf transnationaler Ebene wirksam werden können. Beide Aufgaben führen in der aktuellen Debatte sowohl politisch als auch staatsphilosophisch zu einer Besinnung auf die staatsphilosophischen Begründungsdiskurse, die in der Aufklärung und im Deutschen Idealismus geführt wurden. Für die erste Aufgabe sei als repräsentativ der Verfassungsjurist Horst Dreier zitiert: »Insgesamt bestätigt sich die Einsicht, dass der moderne Verfassungsstaat zentrale Postulate der Aufklärungsphilosophie in geltendes Recht umgesetzt hat – und zwar auf höchster innerstaatlicher Rechtsstufe, der der Verfassung selbst. Das hat durchaus Konsequenzen für ein vertieftes Verständnis der Verfassung und ihre Interpretation. Diese muß in gewissem Umfang philosophisch und historisch informiert sein, das heißt, konkrete ideengeschichtliche und verfassungsgeschichtliche Verwurzelungen aufspüren und entfalten. Nur so können tiefer liegende Bedeutungsschichten freigelegt und für das Verständnis der einschlägigen Verfassungsprinzipien fruchtbar gemacht werden«.1 Für das zweite Grundproblem in der staatstheoretischen Diskussion der Gegenwart sei Rainer Wahl zu Gehör gebracht, der als dringende Agenda fordert, »die maßgeblichen Konzepte wie Demokratie, Verfassung, Rechtsstaat usw. darauf zu überprüfen, ob sie mit der nationalen Konstellation unlösbar verbunden sind oder ob sie offen sind für eine Neuinterpretation, in der sie auch die supraund die internationale Ebene erfassen und ›begreifen‹, ob also die bisherigen staatstheoretischen Begriffe in einer paradoxen Weise auch für nichtstaatliche Gemeinschaften und Einheiten fruchtbar sind. [. . . ] Insofern ist ›Staat‹, obwohl unbestritten ein oder der Leitbegriff für Jahrhunderte der politischen Entwicklung, keine stabile Größe, aber auch kein beliebig einsetzbares Konzept«.2 Mit Kersting kann hier als ein zu vollziehender Paradigmenwechsel in der Staatsphilosophie diagnostiziert werden: »Entsprechend muß sich auch die traditionelle Staatsphilosophie von dem Paradigma des kompakt-souveränen Nationalstaats verabschieden und sich der Aufgabe widmen, normative Grundlage einer internationalen Zusammenarbeit und eines global governance zu entwickeln«.3 Die ideengeschichtliche Analyse der historischen Diskurse, die den gegenwärtigen Verfassungsstaat als Zielpunkt begründeten, leistet für die Bewältigung der 1
Dreier: Kants Republik, 188. Wahl: Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die EU?, 124f. 3 Kersting: Art. Staat/Staatsphilosophie, 60. 2
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A. Einleitung
anstehenden Gestaltungs- und Begründungsaufgaben Folgendes: An der Formierungsphase der Begründungsfiguren können politische Anliegen, anthropologische Grundannahmen, Leitbilder und ethische Grundoptionen klarer voneinander unterschieden werden. Die theoretischen Alternativen treten deutlicher vor Augen und können auf ihr Innovationspotential hin theoretisch durchdacht werden. Die Ausgangslage der staatstheoretischen Diskussionen dieser Zeit sei mit Ernst-Wolfgang Böckenförde folgendermaßen skizziert: »Das 19. Jh. bringt in Deutschland die Vollendung und den Ausbau der neuen politischen Ordnungsform des Staates, die durch Absolutismus und Französische Revolution zum Sieg geführt worden war. [. . . ] Auch in Deutschland ergab sich das Auseinandertreten und Sichgegenüberstehen von geschichtlicher Herkunfts- und modellhaft entworfener Zukunftswelt, und damit die Frage des Übergangs, der Vermittlungen und auch prinzipieller Neugestaltung«.4 Das spiegelt sich in der Begriffsgeschichte von »Staat«: erst mit der Französischen Revolution gewinnt der Begriff seine jetzige Bedeutung und damit den Charakter eines unersetzbaren Grundbegriffs. Der Begriff Staat als Kollektivsingular rückt »zum autonomen Handlungssubjekt auf«.5 Politische Philosophie aber ist so alt wie philosophisches Nachdenken überhaupt. Als im Mittelalter die Universitäten als die Institution wissenschaftlicher Theoriebildung (und Theorievermittlung) entstand, hatte die Theoriebildung zur Politik keinen eigenen ausgewiesenen Ort. Sie wanderte in die institutionalisierten Fächer ein und vollzog sich dann innerhalb deren Methoden, Fragestellungen und Zugängen. Die juristische, die theologische Fakultät und die artes liberales fungierten so als die Rahmen für politische Philosophie, welche nun bezogen auf die jeweiligen Grundtexte dieser Disziplinen und mithilfe deren begrifflichen und metaphorischen Mitteln sich ausprägte.6 Für die Theologie bedeutet das, dass die Konzeptionen von Kirche oder von himmlischer Hierarchie (Pseudo-Dionysius Areopagita) auch bestimmend für politisch-soziale Gemeinschaftskonzeptionen wurden. Als »Leitwissenschaft« für die politische Theorie diente jedoch die Kanonistik.7 Die Texte waren weit verbreitet, die juristische Herangehensweise sowohl innerhalb der Kirche als auch an Fürstenhöfen eine hocheffiziente Problembewältigungsstrategie und die hochrangigen Positionen in Verwaltungen wurden vornehmlich an juristische Experten vergeben. Die neuzeitliche Staatsphilosophie ist Teil der Politischen Philosophie, und meint im engen Sinne die Theorie des neuzeitlichen »rationalen Staates«, die grundsätzlich die Vorzugswürdigkeit staatlicher Herrschaft gegenüber anarchischen Zuständen argumentativ ausweist, den Konstitutionsgrund von Staatlich4
Böckenförde: Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, 244–
247. 5
Koselleck: Art. Staat im Zeitalter revolutionärer Bewegung, 27. Einen informativen Überblick gibt dazu Miethke: Politiktheorie im Mittelalter, 1–24. 7 So Miethke: Politiktheorie im Mittelalter, 18. 6
I. Staatslehre. Ein aktueller Problemaufriss
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keit auf den Begriff bringt und über Gestaltungsprinzipien staatlicher Ordnung und deren Legitimitätskriterien reflektiert. Als Begründer der Staatsphilosophie gilt Thomas Hobbes (1588–1679). Indem Hobbes den Zustand von Staatlichkeit von einem staatslosen Naturzustand unterscheidet, versteht er den Staat von dem zu denkenden Übergang her, welcher als Vertragsschluss zwischen den Einzelnen in ihrem Naturzustande angesetzt wird. Der Staat beendet also den Naturzustand, der hier als Kriegszustand erscheint, sodass der Staatszweck im Frieden besteht. Die Staatsmacht wird dabei als weder durch Naturrecht oder noch individuelle Rechte begrenzt gedacht, weil die Bürger bei Vertragsschluss, durch den der Staat entsteht, alle ihre Selbstregierungsrechte vollständig dem Staat übertragen. Die nach-hobbessche Staatsphilosophie vertritt demgegenüber eine Theorie des gerechten Staates, der an bestimmtes Recht gebunden ist und so gerade keine absolute Herrschaft darstellt. John Locke (1632–1704) als der Begründer des staatsphilosophischen Liberalismus sieht im staatsbegründenden Vertrag nur das Recht auf Durchsetzung der natürlichen Rechte auf Freiheit, Eigentum und Gleichheit übertragen, nicht aber diese Rechte selbst. So begreift er den Staat als die Institutionalisierung des natürlichen Rechts auf Durchsetzung der Freiheits-, Gleichheits- und Eigentumsrechte, was für den Einzelnen die Verpflichtung beinhaltet, sich dem Mehrheitsentscheid zu beugen. Die staatliche Herrschaft, also auch der Mehrheitsentscheid, erscheint bei Locke aber immer begrenzt durch das Naturrecht auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum. JeanJacques Rousseau (1712–1778) führt die Idee einer unmittelbaren Ausübung der Volkssouveränität in die Diskussion ein: nur direkte Demokratie ist legitim, da das Recht auf Selbstregierung unveräußerlich sei. Daher müssen Herrscher und Beherrschte identisch sein. Immanuel Kant (1724–1804) vertritt gegen die vorgestellte vertragsrechtliche Argumentationslinie eine vernunftrechtliche Notwendigkeit des Staates. Mit der Forderung der reinen praktischen Vernunft nach Recht ist die Forderung nach Staatlichkeit gegeben. Recht und Staat explizieren sich dabei wechselseitig. Kant hat die Theorie eines prozeduralistischen Rechtsstaates entwickelt. Die Legitimation staatlicher Herrschaftsausübung hängt an den Kriterien einer idealen demokratischen Genese allgemeiner Gesetze. Für Wilhelm von Humboldt (1767–1735) hat der Staat die Aufgabe, durch das Recht die Freiheit des Einzelnen zu garantieren, damit dieser seine individuelle Persönlichkeit entfalten kann. Hegel (1770–1831) kritisiert die vertragsrechtlichen Staatsauffassungen. Die vernünftige Bestimmung des Menschen sei es, im Staate zu leben. Der Staat sei die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Eine Auffassung vom Staat als lebendigem Organismus vertraten im 19. Jahrhundert vor allem Adam Müller und Lorenz von Stein. »Alle Kontroversen über eine neue institutionelle Ordnung des Gemeinwesens hatten im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einen doppelten Fokus: Neben dem zentralen Thema von Bürgerfreiheit oder Freiheiten des Staatsbür-
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A. Einleitung
gers verdichteten sich die fundamentalpolitischen Diskurse um die Ordnung des Gemeinwesens in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat, Religion und Kirchen«.8 Auf diesem Hintergrund ist nach dem Beitrag der Theologie zu dieser Verhältnisbestimmung zu fragen, wobei nur einem solchen Beitrag ein entsprechendes theoretisches Gewicht beizumessen ist, der sowohl in der theologischen Grundlegung als auch in der staatsphilosophischen Durchführung das außerordentliche Differenzierungsniveau der philosophischen Argumentation etwa Kants oder Hegels erreicht. Diese Anforderungen erfüllt für das beginnende 19. Jahrhundert nur Schleiermacher, für dessen mangelnde theoretische Wirkungsgeschichte – vermutlich – lediglich der Umstand verantwortlich war, dass er seine Vorlesungen und Manuskripte zur Staatsthematik nicht veröffentlicht hat. Hieran ist zu beobachten, dass intensivierte staatstheoretische Debatten gesellschaftliche Umbrüche indizieren, welche die Grundlagen des Zusammenlebens und die mit ihnen verbundenen Legitimitätsparadigmen berühren. Für die Gegenwart zentrieren sich die politischen und staatsphilosophischen Kontroversen um folgende fünf Themen, die nur genannt seien: Sozialstaat: Aufgrund der multikausalen Krise des Sozialstaates9 steht aktuell ein Umbau des Sozialstaates an, dessen Zielgestalt wie auch dessen Prinzipien noch völlig unklar sind. John Rawls »A Theory of Justice« von 1975 entfachte ein neues Nachdenken über Prinzipien von Gerechtigkeit und die Rolle des Staates bei der Durchsetzung und Garantie von Gerechtigkeit. Für Rawls ist Gerechtigkeit die zentrale (und eigentlich einzige) »Tugend« von sozialen Institutionen, d. h. insbesondere des Staates. Jede Ungleichverteilung muss gerechtfertigt werden. Als Gegenbewegung gegen Rawls liberale Vertragstheorie von Gerechtigkeit formierte sich in den 1980er-Jahren der Kommunitarismus, der mit den Namen Charles Taylor, Alasdair McIntyre und Martha Nussbaum verbunden ist. Angesichts der realen sozialen Entwicklung in den wichtigen Industrienationen verschärfte sich die Debatte um die sozialen Aufgaben des Staates und die Fragen von gerechter Verteilung. Die aktuellen soziologischen Studien konstatieren eine wachsende Armut, neue Formen von Armut und machen auf das Phänomen von sozialer Exklusion aufmerksam. Heinz Bude behauptet in seinem Buch das »Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft«.10 Damit will er die persönlichen Probleme vieler Einzelner zu öffentlichen Fragen machen. Im Detail und zahlenbelegt führt er vor, dass die gegenwärtige Gesellschaft »gesellschaftlichen Einschluss nur noch um den Preis des sozialen Ausschlusses bewältigt«.11 Dabei geht es eben nicht mehr primär um wirtschaftliche Armut, sondern um »Exklu8
Graf: Theologische Staats- und Kirchendiskurse der »Sattelzeit«, 432. Zum religiösen Hintergrund der europäischen Sozialstaatskonzepte siehe Manow: Religion und Sozialstaat. Zum Gesamtproblem siehe Tanner: Der Staat des christlichen Gemeinwohls? 10 Vgl. Bude: Die Ausgeschlossenen. 11 AaO., 21. 9
I. Staatslehre. Ein aktueller Problemaufriss
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sion«, um das »Ausmaß der Spaltung zwischen denen, die sich sicher sein können, daß ihre Stimme zählt, und jenen, die von dem Gefühl beherrscht sind, daß es auf sie nicht mehr ankommt«.12 Am Phänomen der Exklusion überschneidet sich die ökonomische, die soziale und die politische Dimension. Für die Zukunft der Gesellschaft ist also weniger die Armut als solche, sondern damit verbundene Exklusionsprozesse bzw. notwendige Inklusionsprozesse von entscheidender Bedeutung. Zivilgesellschaft: Wie die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger und ihre freie Assoziation unabhängig von staatlicher Organisation gestärkt werden kann und was das für die Zukunft des Staates bedeutet, wird unter dem Stichwort Zivilgesellschaft diskutiert. Zivilgesellschaft meint dabei einen gesellschaftlichen Bereich, der zwischen dem Privaten, dem Ökonomischen und dem Staatlichen angesiedelt ist. Somit eignet diesem Begriff eine deskriptive und eine normativ-regulative Dimension.13 Da der Staat viele gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben nicht übernehmen kann, wird als Lösung das zivilgesellschaftliche Engagement gefordert und gelobt. So wichtig und unersetzlich ein erhöhtes zivilgesellschaftliches Engagement ist, so sehr bleibt das Problem, dass allem, was zivilgesellschaftlich gestaltet wird, die demokratische Kontrolle fehlt. Die Ungleichverteilung an Bildungsangeboten, sozialer Unterstützung und kultureller »Dichte« erhöht sich somit deutlich. Politik und Religion: Insbesondere religiöse Fundamentalismen, der religiös grundierte Terrorismus14 und das multireligiöse Zusammenleben in den westlichen Demokratien erfordern ein neues Nachdenken über die Verhältnisbestimmung von Staat, Gesellschaft und Religion. Strittig ist schon, ob es einen kausal-analogen Zusammenhang von Religion und Terrorismus gibt. Oder ob der sog. Islamische Terrorismus nicht weitgehend unabhängig von Religion zu verstehen sei. Auch die Funktion und Bedeutung von Zivilreligion wird heftig debattiert.15 Die evangelischen Positionen reichen von »Verfassungsprotestantismus« über »christliche Politik« hin zum Konzept »öffentlicher Theologie«.16 Weiter ist die Rolle zu klären, welche religiöse Argumente in der sogenannten öffentlichen Vernunft einnehmen dürfen (Habermas–Rawls Debatte). Politik und Gewalt: Der neuzeitliche Staat ist durch das staatliche Gewaltmonopol definiert. Gewalt bildet dann aber in mehrfacher Hinsicht die große Her12
Bude: Die Ausgeschlossenen, 34. Zu den besonders von Exklusion, genauer dem Bewußtsein der Exklusion Bedrohten gehören für Bude alleinerziehende Mütter sowie »verwilderte Jungmänner«. 13 Zu der höchst differenten Verwendungsweise dieses Begriffs: Brieskorn: Zivilgesellschaft, v. a. 8–16. 14 »Ein Verstehen des Terrorismus kann nur gelingen, wo der Terrorismus als Lebensform verstanden wird«, Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, 504. 15 Dazu Vögele: Zivilreligion, 210–346. 16 Vgl. aaO., 351–431.
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A. Einleitung
ausforderung für den modernen Staat, der sich als unbedingt verpflichtet auf die Würde und Freiheit der menschlichen Person17 versteht: Wie soll man mit Staaten umgehen, die strukturell und konsequent Menschenrechte verletzen und insbesondere einzelne Volksgruppen auf ihrem Territorium gewaltsam unterdrücken? Wann und wie ist eine gewaltsame humanitäre Intervention legitim und sinnvoll? Ähnliche Fragen stellen sich innerstaatlich angesichts von temporären Gewaltexzessen, wie kürzlich in den Vororten von Paris, oder von organisierter Gewalt, z. B. durch die italienische oder russische Mafia. In Deutschland stellt sich die Frage, wie man mit der totalitären Gewalt im Nationalsozialismus und wie mit den Diktaturerfahrungen in der ehemaligen DDR umgehen soll, einschließlich all der biographischen und gesellschaftlichen Folgen. Jan Philipp Reemtsma18 beschreibt, wie sehr sich die europäische Moderne durch ein besonderes Verhältnis zur Gewalt auszeichnet, als Voraussetzung und Folge des staatlichen Gewaltmonopols: Gewalt wird grundsätzlich geächtet bis auf instrumentelle Gewalt zum Schutz von Einzelnen oder der Gesellschaft als ganzer – wobei auch diese instrumentelle staatliche Gewalt immer vom Gedanken der Menschenwürde begrenzt wird. So wird Folter grundsätzlich ausgeschlossen. Zugleich ist diese gewaltächtende Moderne (in einem positiven Sinne) unfähig, individuell und gesellschaftlich mit aktual begegnender Gewalt umzugehen. »Auslaufmodell Staat«19 : Über die Einzelprobleme hinaus ist die Institution Staat als ganze fraglich geworden.20 Als Faktoren dieser Krise des Staates wirken die ökonomische Globalisierung, die Einbettung in internationale Institutionen und Strukturen und die umfassende Globalisierung aller Risiken. Ebenso bewirkt auch die Komplexität der funktional ausdifferenzierten Gesellschaftssysteme, dass eine zentrale, direkte und kontrollierbare Steuerung nicht mehr möglich ist. Dem entspricht in der Politikwissenschaft die »Erosion des Konzeptes ›Staat‹ in den postmodernen Systemtheorien«.21 Bei den genannten Problemknoten machen sich nicht nur politische Einzelfragen geltend, sondern es steht jeweils das Verständnis des Politischen überhaupt zur Disposition: im Verhältnis zum Religiösen, zum Ökonomischen, zum Sozial-Kulturellen. Entsprechend dominieren wieder normative Theorien des Politischen. An dieser grundlegenden und weichenstellenden Diskussion muss sich die Theologie beteiligen, sowohl mit inhaltlichen Beiträgen als auch mit einer Selbstverortung und Funktionsbestimmung ihrer selbst im politischen und politiktheoretischen Diskurs. Dazu will die entstehende Habilitation einen theo17 Zur Geschichte der Menschenrechtsbegründungen siehe Lohmann: Zwischen Naturrecht und Partikularismus, 165–319. 18 Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. 19 So der Titel eines mahnenden Buches von Eppler: Auslaufmodell Staat?. 20 »Es scheint aber nun, daß die Erfolgsgeschichte des Staates zu Ende gegangen, daß das Zeitalter des Staates vorüber ist«, so Kersting: Art. Staat/Staatsphilosophie, 60. 21 Beyme: Theorie der Politik im 20. Jahrhundert.
I. Staatslehre. Ein aktueller Problemaufriss
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retischen und geschichtlich selbstaufgeklärten Beitrag leisten. Zur hermeneutischen Selbstaufklärung gehört auch das Eingedenksein der realpolitischen Bedeutung von politischer Philosophie. Schleiermachers Staatslehre, wie sie in seinen Vorlesungen zur Staatslehre vorliegt, soll im Folgenden gründlich erschlossen werden. Dabei wird ihr Anspruch zunächst gewürdigt, dann werden die einzelnen Vorlesungen als solche charakterisiert. Das Schwergewicht wird darauf liegen, die wesentlichen Themen seiner Vorlesung systematisch vorzustellen und zugleich deren Entwicklung durch die einzelnen Vorlesungen hindurch zu würdigen. Schleiermachers politische Theorie wird als zeitgenössischer Debattenbeitrag zur politischen und politiktheoretischen Diskussion in Preußen interpretiert. Eben diese Bezüge stellt Schleiermacher auch selbst her. Schleiermachers Politiktheorie steht aber auch in diversen anderen Bezügen. Sie verdankt sich einer intensiven Auseinandersetzung mit platonischer und aristotelischer Politiktheorie. Sie gehört in die Geschichte christlicher, genauer spezifisch protestantischer Politiktheorie.22 Schließlich ist sie entstanden in Konkurrenz zu den Theorie-Entwürfen Kants, Hegels, Fichtes, Humboldts und anderer zeitgenössischer Philosophen. Jeder einzelne dieser ideengeschichtlichen Kontexte der politischen Theorie Schleiermachers erfordert und verdient eine eigene ausführliche Analyse, von denen viele weitere Aufschlüsse zu erwarten sind. Vorliegende Arbeit versteht sich als grundlegende Erschließung der Staatslehre Schleiermachers von ihrem unmittelbaren Kontext her. Sie konzentriert sich daher auf den unmittelbaren Kontext sowie die Werkgeschichte. Auf einer solchen Grundlage können dann künftig die genannten weiteren ideengeschichtlichen Kontexte sinnvoll bearbeitet werden. Erste Vorarbeiten und Perspektivierungen23 liegen dazu bereits vor.
22 Dazu auch von Scheliha: Sources of Normativity, 295. Er hebt vor allem das Unterscheidende an Schleiermacher hervor: »Against the grain of mainstream of Protestant tradition, Schleiermacher assigns a fundamentally positive role to the state as a full-fledges moral good«. 23 Zur Einordnung in die lutherische Tradition: Leonhardt: Politische Ethik bei Schleiermacher und Luther; Miller: Der Übergang, 207–208, ebenso Holstein: Die Staatsphilosophie Schleiermachers, 7–20, sowie Moos: Staatszweck und Staatsaufgaben. Zur Einordnung in den deutschen Idealismus und zum Vergleich von Schleiermacher und Hegel siehe Holstein: Die Staatsphilosophie Schleiermachers, 102–117. 202–204. Holstein hebt die Gemeinsamkeiten hervor, vor allem die Wendung gegen den Individualismus, gegen Rousseau, die organologische Fassung des Staatsbegriffs, die positive Relationierung von Volk und Staat, die Betonung der Selbstverwaltung und die wichtige Stellung der Zünfte. Außerordentlich präzise analysiert Jörg Dierken das Verhältnis von Schleiermacher und Hegel (siehe Dierken: Staat bei Schleiermacher und Hegel). Bei grundlegender Unvergleichbarkeit beider Entwürfe hinsichtlich ihrer Theoriearchitekturen fokussiert Dierken einerseits die gemeinsame Freiheitsintention beider Denker sowie die »innere Unabgeschlossenheit« des Staates (aaO., 409), welche bei beiden Denkern in der Theoriestruktur sich zeige.
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A. Einleitung
II. Schleiermachers Beschäftigung mit der Staatslehre 1. Akademische Stationen der politischen Theoriebildung Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers politischen Erfahrungshintergrund bildet die Französische Revolution in ihren vielfältigen realgeschichtlichen Auswirkungen auf Preußen. Seine gedankliche Beschäftigung mit Staatstheorie lässt sich anhand folgender Etappen beschreiben: 1796/97 hat er sich mittels Notizen und Exzerpten mit der Naturrechtslehre der Aufklärung auseinandergesetzt. Auf das Jahr 1788/89 geht Schleiermachers Interesse an Aristoteles Nikomachischer Ethik zurück; später hat er sich mit der »Politik« des Aristoteles befasst. Es liegt von ihm ein lateinischer Text zum Vergleich von Aristoteles und Platon hinsichtlich ihrer politischen Philosophie vor. In seiner 1794 verfassten, amtlich angeforderten Selbstbiographie spart Schleiermacher das Thema Politik überhaupt aus. Er zeichnet – verbunden in andere Motiv-Stränge – den Weg von einem völligen Überdruss an Beschäftigung mit Geschichte24 hin zu einem fleißigen Interesse25 an derselben. Als Prediger in der Charité in Berlin 1796–1802 bewegte sich Schleiermacher im Kreise der Frühromantiker; vor allem auch das Zusammenleben mit dem intensiv vernetzten Friedrich Schlegel band Schleiermacher ein in das frühromantische Denken und die literarische Produktion. Die Atmosphäre literarischer Beschäftigung, die Ermutigung der Freunde dürfte wesentlich dafür sein, dass Schleiermacher dann 1799 die »Reden über die Religion« verfasste – zum Teil während eines Potsdam-Aufenthaltes, in dem er ersatzweise als Hof-Prediger für einen in den Ruhestand versetzten Kollegen fungierte. Er verkehrte in Henriette Herz’ Salon. »Die Abwendung vom politisch unmittelbar relevanten Gesellschaftsbezug und die programmatische Konzentration auf Philosophie, Poesie, Moral und Religion ließen Umbruch und Krise in den Gestaltungsgrundlagen der geistigen Welt um so spürbarer hervortreten«.26 So stehen die Romantiker für Bruch und Krise. Nowak urteilt, dass die »Frühromantiker nach anfänglichen politischrevolutionären Hoffnungen den politischen Revolutionsimpuls kulturell sublimierten«.27 »Man kann die Romantiker ›Neunundachtziger‹ nennen, gleichviel 24 »Eben so wenig konnte ich der Geschichte Geschmack abgewinnen; ich weiß nicht, ob sie nicht lebhaft genug vorgetragen wurde, nur das weiß ich, daß sie mir tödliche Langeweile verursachte, und daß es mich schreckliche Mühe kostete, die vier Monarchien und die Reihe der persischen Könige in ihrer Ordnung zu behalten« (Schleiermacher: Selbstbiographie, 5). 25 »Nur eins sah ich doch, was man nothwendig lernen müsste, nämlich Geschichte, und zwar, was sich eigentlich als mein höchstes Bedürfnis zeigte, Geschichte der menschlichen Meinungen. Diese studierte ich also in ihren beiden Zweigen, und fing an, mich bei besonders interessanten Stellen nach den Quellen derselben umzusehen« (Schleiermacher: Selbstbiographie, 12). 26 Nowak: Frühromantik, 115. 27 AaO., 116.
II. Schleiermachers Beschäftigung mit der Staatslehre
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ob sie die Revolution bejahten oder verneinten«.28 Als Bewegung datiert man die deutsche Romantik im Allgemeinen zwischen 1790 und 1825. Die zentralen Vertreter der Frühromantik sind Novalis, die Brüder Schlegel und Ludwig Tieck. Ihre ästhetischen Ideen bildeten sich in Auseinandersetzung mit Kants, Schillers und Fichtes Schriften. Als Programmbegriff für die (Früh-)Romantik hat Schlegel die »progressive Universalpoesie« eingeführt. Dies besagt das Ziel einer wahren Synthese von Poesie und Philosophie. Die eigene Zeit wird als Umbruchs- und Entscheidungszeit gedeutet. Beispielhaft dafür Novalis: »Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben – zum Verfliegen an – die Vorstellungen der Zukunft – treiben uns zum Beleben – zum Verkörpern, zur assimilierenden Wirksamkeit«.29 Romantik ist somit die Verarbeitung von Verlust und Umbruch, von zerstörten, unwiederbringlichen Sicherheiten. Während seiner Professur in Halle hat Schleiermacher sich mit der Grundlegung seiner Ethik beschäftigt, und dabei zweimal eine Vorlesung zur Philosophischen Ethik gehalten. Als ausgearbeiteter Text entsteht das »Brouillon zur Ethik« (1805/06), das die Quadruplizität der sittlichen Handlungsformen und ihrer institutionalisierten Bereiche darstellt, das sind Staat, freie Geselligkeit, Kirche und Akademie. Nach Schließung der Universität Halle 1807 durch Napoleon gibt Schleiermacher in Berlin Privatkollegs. Das erste Privatkolleg zur Staatslehre unter dem Titel »Theorie des Staates« hält Schleiermacher 1808/09: leider findet sich kein Manuskript dazu überliefert. Nach Gründung der Universität in Berlin 1810 behandelt Schleiermacher die Staatslehre in insgesamt fünf akademische Vorlesungen: 1813, 1817, 1817/18, 1829, 1833. Diese Vorlesungen finden jeweils innerhalb der philosophischen Fakultät statt. Die intensivste Zeit der Beschäftigung fällt somit in die Jahre 1813–1818; 1814 präsentiert Schleiermacher auch zwei Akademievorträge mit staatsphilosophischen Themen. Von der Vorlesung von 1813 gibt es keine klar zugehörigen Aufzeichnungen; dagegen wurde von der Vorlesung 1817 zumindest eine studentische Nachschrift überliefert. Von Schleiermacher selbst liegen schließlich eigene Notizen für das Kolleg 1817/18 vor sowie eine studentische Nachschrift. Die beste Textbasis bietet das Kolleg von 1829, insofern dafür ein eigenes ausführliches Manuskript Schleiermachers sowie studentische Nachschriften ediert sind. Für die Vorlesung 1833 stützt sich Schleiermacher auf das Kollegheft von 1829 und fertigt eigene ergänzende Notizen an. Auch für diese Vorlesung verfügen wir über studentische Nachschriften. Außerdem sind verschiedene kurze Texte zugänglich, die sich weder präzise datieren noch einer bestimmten Vorlesung zuordnen lassen.
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Nowak: Romantik, 42. Novalis: Vermischte Bemerkungen, Blüthenstaub Nr. 110, 124; zitiert nach Nowak: Romantik, 45. 29
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Das intensive politische Engagement Schleiermachers hat ausführlich Matthias Wolfes30 dargestellt und in seiner Bedeutung für die Entfaltung der Staatstheorie Schleiermachers gewürdigt. Beispielhaft seien Schleiermachers Aktivitäten im Jahre 1813 erwähnt: in dieser für das Verhältnis zwischen Preußen und Frankreich entscheidenden Zeit fungiert Schleiermacher als Redakteur und Autor des »Preußischen Correspondenten«. Von Juli bis August ist Schleiermacher der verantwortliche Redakteur für die viermal wöchentlich erscheinende Zeitung, die sich auf politische Berichterstattung konzentriert. Schleiermachers Wirken richtet sich gegen den Waffenstillstand zwischen Preußen sowie Russland auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite. Die Präsentation und Auswahl der Nachrichten soll »die Kampfesstimmung in der Bevölkerung heben und die Feindschaft gegen die Besatzer festigen«.31 Aufgrund eines Artikels vom 14. Juli 1813 über einen bevorstehenden Friedenskongress in Prag handelt Schleiermacher sich den Vorwurf des Hochverrats durch die Zensurbehörde ein. Die Auseinandersetzung endet schließlich mit einer Zurechtweisung durch Hardenberg, die aber mit der Warnung verbunden war, »sich künftig bescheidener gegen Königl. Behörden zu betragen und zu äußern«.32 Diese Warnung hat Schleiermacher mittelfristig nicht davon abgehalten, sich in Vorlesungen zur Staatslehre und in Predigten klar zur politischen Lage zu äußern. Die politischen Predigten fanden schon früh die Aufmerksamkeit der Forschung. »Schleiermacher ist der größte patriotische Prediger der evangelischen Kirche im Zeitalter der deutschen Erhebung vor hundert Jahren«33 – so urteilt Johannes Bauer in seiner Monographie zu Schleiermachers politischen Predigten von 1908. Daher fordert er: »Was er damals in glaubensfreudigem Optimismus und in klarer Erkenntnis der Schäden und Heilmittel des religiösen wie des nationalen Lebens als Prediger im evangelischen Gottesdienst für die Wiedergeburt Preußens geleistet hat, soll ihm vor allem die evangelische Kirche Deutschlands nie vergessen«.34 Bemerkenswert sind die Zusammenhänge, die Bauer herstellt: die Leistung für die Wiedergeburt Preußens35 soll die evangelische Kirche Deutschlands stets würdigen. Damit postuliert er eine unmittelbare Verbundenheit der evangelischen Kirche mit Preußen, von Staat und Kirche, von Politik und Gottesdienst. Eine fundierte Auswertung der politischen Predigten Schleiermachers kann erst erfolgen, wenn die Predigten vollständig kritisch ediert erscheinen. Daher wurde in der vorliegenden Arbeit auf eine eigene Analyse verzichtet. 30
Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. 2 Bde. Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 451. 32 Zitiert nach Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 527. 33 Bauer: Patriotischer Prediger, 301. 34 AaO. 304. 35 Der Topos von der Wiedergeburt Preußens ist geläufig in der preußischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. 31
II. Schleiermachers Beschäftigung mit der Staatslehre
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2. Die Aristoteles-Rezeption Schleiermachers. Grundlegung der Staatslehre Die politische Philosophie der westeuropäischen Neuzeit war grundlegend von der aristotelischen ›Politik‹ geprägt, auch dort, wo sie andere und neue Wege beschritt. In Deutschland orientierte man sich noch enger und expliziter an Aristoteles als beispielsweise in England oder Frankreich.36 Wie eng sich Schleiermacher in den Grundentscheidungen seiner Staatslehre an Aristoteles anschließt, soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden. Dabei wird deutlich, dass Aristoteles nicht nur biographisch am Anfang der theoretischen Beschäftigung Schleiermachers mit der Staatstheorie stand, sondern auch methodisch und durch die Grundkategorien das Fundament für Schleiermachers Theoriebildung bildete. Zunächst sei die Methode betrachtet. Gleich am Anfang der Politeia bestimmt Aristoteles seine Methode: »Die beste Methode dürfte hier wie bei den anderen Problemen sein, daß man die Gegenstände verfolgt, wie sie sich von Anfang an entwickeln« (1252a, 24–26). Dem entsprechend beginnt Aristoteles mit der Gemeinschaft von Frau und Mann, sowie der Gemeinschaft von Regierenden und Regierten. Beides sind notwendige Gemeinschaften, in denen Eines des Anderen bedarf. Aus diesen beiden Gemeinschaften entsteht die Hausgemeinschaft. Mehrere Hausgemeinschaften bilden ein Dorf. Der Staat besteht für Aristoteles aus der Gemeinschaft mehrerer Dörfer. Der Staat ist »um des bloßen Lebens willen entstanden, dann aber um des vollkommenen Lebens willen bestehend« (1252b, 28–29). Schleiermacher orientiert sich exakt an dieser Methode: er fragt nach der Entwicklung zum Staat. Ähnlich wie Aristoteles versteht er darunter die Strukturmomente einer solchen Entwicklung, nicht aber eine geschichtlich-konkrete Entwicklung. Schleiermacher übernimmt die beiden Grundelemente, die Aristoteles in dieser Entwicklung namhaft macht. Jedoch ordnet er sie anders an. Die Hausgemeinschaft sieht auch er am Anfang; die Differenz von Herrschaftsausübung und Herrschaftsunterordnung setzt er erst für den Staat an, nicht für die Hausgemeinschaft. Diese Differenz aber hat eine ähnlich zentrale Bedeutung wie für Aristoteles: sie ist das entscheidende Strukturmoment, das zur familiärenehelichen Gemeinschaft hinzukommt. Bei Aristoteles konstituiert sie in Verbindung mit der familiären Gemeinschaft die Hausgemeinschaft, bei Schleiermacher ist sie das staatsbildende Moment selbst. Bei der Entfaltung seiner Methode verweist Schleiermacher 1829 auch ausdrücklich auf Aristoteles, dem er hier folgen würde.37 Die aufgezeigte Differenz markiert Schleiermacher auch eigens und erklärt sie mit der Zeitgebundenheit des Aristoteles: »Eine andere Einseitigkeit von Aristoteles ist dass er das Hauswesen nothwendig aus Freien und Knechten zusammensezt. Als warnendes Beispiel vom Befangensein in gegebenem«.38 36 Zur frühneuzeitlichen Aristotelesrezeption eingehend: Riedel: Metaphysik und Metapolitik, 135–141. 37 Staatslehre 1829 69,15 – Zur Zitierweise der ›Staatslehre‹ vgl. unten S. 107. 38 Staatslehre 1829 69,21–23.
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Dieser Orientierung an dem aristotelischen Entwurf entspricht, dass bei Schleiermacher in der Vorlesung von 1829 nun eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Hauswesen und Sklaverei folgt. Auch die Gliederung übernimmt Schleiermacher weitgehend von Aristoteles. Aristoteles beginnt mit einer methodischen Grundlegung und der Wesensbestimmung des Staates (Buch I). Darauf folgen Erörterungen über die Verfassung des Staates bzw. über die verschiedenen Verfassungsformen (Buch II). In Buch III behandelt er den Begriff des Staatsbürgers im Kontext verschiedener Verfassungen. Die Frage nach der besten Verfassung erörtert Buch IV. Wie sich Verfassungen ändern und welche Verfassungen in welche umschlagen, diskutiert Aristoteles in Buch V. Hier entfaltet Aristoteles auch eine Revolutionstheorie. In Buch VI erörtert er die staatlichen Einrichtungen in den jeweiligen Verfassungen. Die beste Lebensform, auf die sich das Leben im Staate bezieht, reflektiert Buch VII. Die Erziehung der Kinder bildet das Thema des letzten Buches. Schleiermacher folgt Aristoteles in der Grundanlage, wie sie in der Abfolge von Grundlegung und Verfassungsdiskussion gegeben ist. Eigene Teile zu Staatsverwaltung und Staatsverteidigung fügt Schleiermacher an, die bei Aristoteles nicht eigens so ausgewiesen sind. Auch bei der Frage der Verfassungstypologie orientiert sich Schleiermacher an Aristoteles, auch wenn er schließlich andere Schlussfolgerungen daraus zieht. Aristoteles führt die Typologie von Politie, Aristokratie und Monarchie ein, anhand des Kriteriums, ob alle, einige oder ein Einziger regieren. Die Entartungsformen nennt er Demokratie, Oligarchie und Tyrannis (1279 a, b). Schleiermacher bezieht sich ausdrücklich auf diese Unterscheidung, aber er will nicht die vergleichsweise äußerlichen Merkmale übernehmen, auf denen die Typologie beruht. Er entfaltet die von Aristoteles namhaft gemachten Staatsformen anhand zweier Kriterien, die sich aus dem Staatsbegriff selbst herleiten: das »Verhältniß zur Zusammengehörigkeit und das Verhältniß zum Uebergang«.39 Durch das zweite Kriterium lassen sich Demokratie und Monarchie herleiten, indem Schleiermacher die Alternative geltend macht, dass der Impuls zur Staatswerdung entweder von allen relativ gleichmäßig ausging oder nur von einem einzigen. Die Aristokratie bestimmt er vom Kriterium der Zusammengehörigkeit: wenn zwei verschieden große Gemeinschaften ein Staat werden und die Differenz von Herrschaft und Beherrschtwerden mit der Differenz der beiden Gemeinschaften zusammenfällt. Für kleine Einheiten gilt ihm die Demokratie als die ursprüngliche Grundform, für große Einheiten die Aristokratie. Schleiermacher rezipiert also die Grundunterscheidungen des Aristoteles, unterstellt sie nur einem Systemanspruch, demzufolge die Unterschiede von Staatsformen aus dem Staatsbegriff und seinen Momenten abgeleitet werden müssen. Daraus ergibt sich die Spannung, dass Schleiermacher mit seinen duallogischen 39
Staatslehre 1829 77,27f.
III. Preußen 1789–1833
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Schematisierungen eine Dreiheit von Formen begründen muss, was ihm erkennbar nur mit Mühe gelingt. Damit sollte an ausgewählten Beispielen vorgeführt werden, wie sehr sich Schleiermacher an Aristoteles in der Grundlegung der Staatslehre orientiert. Dabei behandelt aber Schleiermacher selbstverständlich die Fragen seiner eigenen Zeit. Welche das sind, soll die nun folgende Skizze der Geschichte Preußens zu Schleiermachers Zeit aufzeigen.
III. Preußen 1789–1833. Eskalation im staatstheoretischen Diskurs Der Staat Preußen wird so genannt seit dem Kronerwerb 1701, welcher durch eine Selbstkrönung Friedrichs I. in Königsberg stattfand. Aufgrund der konfessionellen Differenz zwischen der reformierten Dynastie und dem lutherischen Landadel konnten der Hof und seine Institutionen nicht als Integrationsfaktor wirken. Vielmehr sind das Stehende Heer und die Landesverwaltung als entscheidend für die Herausbildung gesamtgesellschaftlicher Strukturen anzusehen. Der Ausbau des preußischen Staates geschah durch Friedrich Wilhelm I. (1713– 1740). Von Beginn an stellte sich das Problem von staatlicher und gesellschaftlicher Einheit. Politische Theorie entsteht in Krisenzeiten – diese These von Eric Voegelin erschließt und erfordert einen genauen Blick auf den Entstehungskontext von Schleiermachers politischer Theorie. »Im frühen 19. Jahrhundert führte die Notwendigkeit, angesichts der Herausforderung durch die Französische Revolution die preußische Regierungsform zu rechtfertigen, zu einer einzigartigen Eskalation im Diskurs. Der preußische Staat legitimierte sich als Träger des historischen Fortschritts und bediente sich dabei eines derart überschwänglichen Vokabulars, dass er zum Modellfall einer bestimmten Ausprägung der Moderne wurde«.40 Zu dieser Eskalation des Diskurses gehören auch die politischen und staatsphilosophischen Äußerungen Schleiermachers. Daher soll nun zwei Fragen nachgegangen werden: Welche Ereignisse und geschichtlichen Erfahrungen in der Folge der Französischen Revolution führten zu dieser Eskalation im Diskurs? Was bedeutet das für Funktion und Rolle von Staatstheorien? Zur ersten Frage: Am 27. Oktober 1806 zog Napoleon in das von französischen Truppen besetzte Berlin ein. In den Schlachten von Jena und Auerstedt hatte der französische Kaiser die preußische Armee vernichtend geschlagen. Bei seinem Berlinbesuch suchte Napoleon das Grab Friedrichs des Großen bei Potsdam auf. Seinen Generälen soll er dabei gesagt haben: »Werte Herren, wenn dieser Mann noch leben würde, dann stünde ich nicht hier«.41 Wie Napoleon 40
Clark: Preußen, 15. Zitiert nach Clark: Preußen, 359. Napoleon galt als Bewunderer Friedrich des Großen. So hatte er wohl eine kleine Statue von ihm in seinem privaten Arbeitszimmer. 41
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auf seine Weise, so analysierten auch der preußische König und mit oder gegen ihn seine Untertanen und Berater, wie das Preußen Friedrichs des Großen nun in eine solche Katastrophe geraten konnte. Was war geschehen? Warum wurde diese Niederlage so umfassend katastrophal empfunden? Und welche Ergebnisse hatten die Ursachenanalysen der preußischen Eliten bezüglich der Niederlage? Die Ereignisse seit 1789 sind von wechselnden Bündnissen Preußens geprägt.42 Zunächst kam es zu einer Annäherung an Österreich, welche ihren Ausdruck in der Konvention von Reichenbach am 27. Juli 1790 fand, laut der beide Länder auf kriegerische Handlungen gegeneinander verzichteten und ihre Interessen zum Ausgleich brachten. In Folge dessen veröffentlichten Preußen und Österreich 1791 gemeinsam die Deklaration von Pillnitz, in der sie sich auf die Seite des französischen Königs gegen die Revolution stellten, die Wiedereinsetzung der Monarchie forderten und ankündigten, entsprechend zu handeln, um diesen Zweck zu erreichen. Am 20. April 1792 erklärte Frankreich dann Österreich den Krieg. Österreich und Preußen marschierten im Sommer in Frankreich ein. In der Schlacht von Valmy siegten die Franzosen überlegen, und die Koalitionstruppen zogen sich erst einmal zurück. Danach beteiligte sich Preußen zwar weiterhin am österreichischen Krieg gegen Frankreich, stellte aber jeweils nur ein kleines Heereskontingent zur Verfügung. Inzwischen war es zu kriegerischen Auseinandersetzungen um Polen gekommen. Das Ergebnis war, dass das gesamte polnische Gebiet in der sogenannten Dritten Teilung 1795 unter den drei Mächten Österreich, Russland und Preußen aufgeteilt wurde. Preußen vergrößerte sich damit um ein Drittel seiner Fläche, und zu den bisherigen 5,5 Millionen Einwohnern kamen ungefähr 3,2 Millionen dazu. Aufgrund dieses Erfolgs schloss Preußen mit Frankreich einen Separatfrieden, am 5. April 1795 in Basel. Damit verließ Preußen die antifranzösische Koalition und das Bündnis mit Österreich.43 Der Vorteil war, dass sich die französischen Kräfte gegen Österreich alleine richteten und damit Österreich in Schach hielten. Außerdem war im Separatfrieden die Neutralität Norddeutschlands vorgesehen. Der große Nachteil bestand darin, dass Preußen damit nun isoliert war und keinen Bündnispartner mehr hatte. Nachdem Frankreich und Österreich 1797 Frieden geschlossen hatten, folgten mehrjährige Verhandlungen darüber, welche Auswirkungen die französischen linksrheinischen Gebietsannektierungen haben sollten. Das Ergebnis war der Reichsdeputationsschluss von 1803, welcher weitreichende Veränderungen vorsah. Bayern, Baden und Württemberg wurden machtpolitisch deutlich gestärkt, sodass Preußens Vorherrschaft im Norden weiter befestigt wurde und dass 42 Diese wechselnden Bündnisbemühungen haben zum Hintergrund »ausgeklügelte Doppeldiplomatie, ängstliches Schwanken und Anfälle von Habgier«. So formuliert es drastisch Clark: Preußen, 333. 43 Die Bewertungen dieses Schrittes fallen sehr kontrovers aus. Von politisch feige bis wirtschaftlich geboten reicht die Skala. Siehe dazu auch Clark: Preußen, 342f.
III. Preußen 1789–1833
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das Reich offiziell 1806 aufhörte zu existieren. Die zunächst so günstigen Folgen des Separatfriedens von 1795 stellten sich mit der Zeit als für Preußen doch recht prekär dar. Die Neutralität Norddeutschlands und der preußischen Gebiete wurde von Frankreich immer wieder missachtet. Preußen selbst war somit gefährdet, hatte aber keinerlei Bündnispartner. Auf der Suche nach solchen kam es zu großen innenpolitischen Kontroversen darüber, wer nun als Bündnispartner anzustreben sei: Frankreich, Russland oder die Koalitionsmächte? Vor allem die beiden außenpolitischen Berater, von Haugwitz und von Hardenberg, vertraten die entgegengesetzten Positionen und kämpften um Einfluss auf den preußischen König Friedrich Wilhelm III. Durch den französischen Sieg über Österreich und Russland bei Austerlitz am 2. Dezember 1805 veranlasst, bot Preußen dann doch Frankreich ein Bündnis an, das im Vertrag von Schönbrunn vom 15. Dezember 1805 formuliert wurde. Um sich jedoch nicht Russland zum Feind zu machen, unternahm Preußen eine intensive Geheimdiplomatie gegenüber Russland mit dem Ziel einer Annäherung. Dieses Doppelspiel rief heftige Widerstände bei den Verwaltungseliten und im Beraterkreis des Königs hervor. Der preußische Finanz- und Wirtschaftsminister vom und zum Stein verfasste im April 1806 eine harsch kritische Denkschrift mit dem Titel: »Darstellung der fehlerhaften Organisation des Kabinetts und der Notwendigkeit der Bildung einer Ministerialkonferenz«.44 Sie enthält die Warnung: »Sollte der König die vorgeschlagene Veränderung nicht beschließen, [. . . ] so ist zu erwarten, dass der Staat entweder sich auflöst oder seine Unabhängigkeit verliert«.45 Auch von Hardenberg artikulierte seine kritischen Bedenken in einer Denkschrift. Eine weitere Denkschrift, diesmal von Brüdern des Königs und von hohen Militärs verfasst, drängte auf einen Krieg gegen Frankreich und warf dem König Treuebruch vor. Noch im selben Monat schrieb Friedrich Wilhelm III. darauf einen anklagenden Brief an den französischen Kaiser, verlangte die Einhaltung des Neutralitätspaktes sowie die Rückgabe preußischer Territorien am Niederrhein. Napoleons Antwort »troff vor einer geradezu dreisten Mischung aus Arroganz, Aggressivität, Sarkasmus und falscher Sorge«.46 Es stellte sich nun als Problem dar, dass Preußen auf einen Krieg nicht genügend vorbereitet war und das Bündnis mit Russland noch keine verbindliche Form angenommen hatte. So unterlag Preußen in der entscheidenden Schlacht von Jena und Auerstedt in katastrophalem Ausmaß.47 Der preußische König musste bis nach Königsberg flüchten, der Staatsschatz nach Osten in Sicherheit gebracht werden. Der Friedensschluss von Tilsit (9. Juli 1807) brachte sehr einschneidende Gebietsverluste, die Forderung einer Kriegsentschädigung von 120 Millionen 44
Dazu Clark: Preußen, 353f. Zitiert nach Clark: Preußen, 354. 46 Clark: Preußen, 356. 47 Als »Quittung für die tölpelhafte Diplomatie« schätzt Wehler diese Niederlage ein (Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.1, 398). 45
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Francs und eine französische Besatzung bis zur vollständigen Zahlung der Entschädigung. Warum wurde diese Niederlage in Preußen als so katastrophal empfunden und bewertet? Für die Zeitgenossen schien die gesamte politische Ordnung Preußens desavouiert. Das liegt zum einen an der engen Verbindung von Staat und Militär in Preußen. Zum anderen an der tatsächlichen finanziellen Katastrophe. Weiter befand sich das Land in einem merkwürdig ambivalenten politischen Zustand: Das eingeführte Allgemeine Landrecht »hatte das Programm des an Recht und Gesetz gebundenen Staates und der staatsbürgerlichen Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt, aber zugleich die ständisch-regionale Ordnung fixiert und legalisiert«.48 In der Folge engagierten sich verschiedene Persönlichkeiten für tiefgreifende Reformen.49 Bei allen persönlichen Differenzen lassen sich dabei einige Gemeinsamkeiten innerhalb dieser Reformbewegung herausarbeiten:50 Stark ist die philosophische Prägung der Reformorientierung; sie beruht auf der Kantischen Philosophie. Zentral ist daher der Gedanke der Autonomie und Verantwortung des Menschen, der sich in seiner politischen Freiheit ausdrücken soll. Diese politische Freiheit ist als Teilhabe am Staat gedacht, als Identifikation mit Staat und Nation. Laut Thomas Nipperdey nimmt das aber eine auffällige Form an, wie sie dann auch bei Schleiermacher zu beobachten ist: »Das Ganze ist stärker vom Staat her gedacht als vom Individuum, mehr von den Pflichten als von den Rechten; es ist die eigentümlich idealistische Fassung der Freiheit als Freiheit zum Staat«.51 Das Problem der Durchführung dieses Programms lag auch darin, dass die Teilhabe der Bürger nur Ergebnis, nicht aber Instrument und Form der Reform sein sollte. Die Reformer stimmen weitgehend auch in der Orientierung an der liberalen Wirtschaftslehre von Adam Smith überein, welcher geradezu zum Modetheoretiker52 avancierte. Diese wirtschaftliche Komponente prägte sich mit der Zeit immer stärker aus. Die unmittelbaren Ziele der Reformen betrafen aber die Bewältigung des finanziellen Desasters, daher sollte es um die »Entfesselung aller Produktivkräfte und menschlichen Energien in einer ständefreien, rechtsgleichen, privatkapitalistischen Eigentümergesellschaft«53 gehen. 48
Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866, 33. Wehler fordert zu Recht, die Bedeutung dieser Reformen nüchtern einzuschätzen und dieses »in einen Goldrahmen gefasste Kolossalgemälde [. . . ] zu überprüfen« (Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd 1, 397). 50 Zum Folgenden siehe vor allem Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866, 33–69; Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, 397–485; Nolte: Reformen in Preußen; Vogel: Verwaltung und Verfassung; Wiegrefe: Aufbruch in die Moderne. Zur Forschungsgeschichte siehe Sösemann: Die preußischen Reformen. 51 Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866, 34. 52 So Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, 405. 53 AaO. 403. 49
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Nun aber zu den weiteren Ereignissen in der Zeit zwischen 1807 und 1830. Die Wende in der europäischen Politik brachte die Völkerschlacht von Leipzig 1813. Ab 10. August 1813 kämpften 127.000 Österreicher, 110.000 Russen, 30.000 Schweden und 272.000 preußische Soldaten, das entspricht 6% der preußischen Bevölkerung, gegen 442.000 Soldaten unter Napoleons Befehl. Während der Schlacht von Leipzig, 16.–19. Oktober, liefen dann noch 30.000 Bayern und 4.000 Sachsen über zur Koalition. Die Koalition siegte überragend und klar; der Feldzug gegen Frankreich endete 1815. Dieser Erfolg lässt sich u. a. auf die Umstrukturierung der preußischen Armee und auf die gewandelte politische Öffentlichkeit54 in Preußen zurückführen. Viele der preußischen Reformen waren teilweise erfolgreich, teilweise nicht energisch oder nachhaltig genug; das entscheidende Versagen aber lag in der Verfassungspolitik, dass also Preußen bis 1848 eine vorkonstitutionelle Monarchie blieb.55 Einzelne Maßnahmen seien erwähnt: Zwar hatte Preußen kein Parlament, aber die 1823 eingerichteten Provinzialstände veränderten das politische Leben und die politische Öffentlichkeit. Die Zugehörigkeit zu den Provinzialständen definierte sich über den Besitz privilegierten Landes.56 Die heiklen politischen Themen kamen in den gemeinsamen Plenarsitzungen zur Sprache, z. T. mittels Resolutionsentwürfen. Zu diesen Themen gehörten die Forderungen nach einer preußischen Generalversammlung, nach Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle sowie nach öffentlichen Sitzungen und nach mehr Pressefreiheit. Außerdem reichten Städte zahlreiche Petitionen bei den Provinzialständen ein. Die Diskussionen der Landtage verbreiteten sich durch die informellen Netzwerke der Deputierten und durch die Presse. Die militärische Befehlsstruktur war verbessert worden. Das bedeutete, dass die Korpskommandeure während der Schlacht eine gewisse Befehlseigenständigkeit hatten und dem Verlauf der Schlacht angemessene eigene strategische Entscheidungen treffen konnten. Außerdem wurden allen obersten Befehlshabern Stabsoffiziere an die Seite gestellt, so dass man in Ansätzen eine dialogische Entscheidungsstruktur und Beratung vollziehen konnte. Darüber hinaus wurden die regulären Truppen durch eine Landwehr verstärkt. Diese war z. T. hochmotiviert und militärisch effizient, zum anderen Teil aber gerade nicht. In der Folge spielte die Völkerschlacht eine wichtige Rolle für die nationale Identität Preußens. Die Völkerschlacht wurde zum Mittelpunkt einer Gedenkkultur, die gerade nicht für die Einheit Preußens konstitutiv wurde, sondern 54 Zu Wandel und Struktur der Öffentlichkeit in Preußen siehe Herrmann: Die Herausforderung Preußens, 23–67, 145–170. 55 Eine Bilanz im Einzelnen stellt Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 537–543. Sehr positiv urteilt Wiegrefe: Aufbruch in die Moderne, 129: »Für Millionen Menschen in Preußen ging das Mittelalter erst jetzt zu Ende«. 56 1829 befanden sich nur noch 48 % der Adelsgüter im Besitz von Adeligen, jedenfalls gilt das für das Hinterland Königsbergs. Vgl. Clark: Preußen, 470.
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von den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Positionen in unterschiedlicher Weise eine Instrumentalisierung erfuhr. Den militärischen Siegen folgte mit dem Wiener Kongreß 1815 die politische Neuordnung. Preußen erhielt entgegen seinen Wünschen nicht ganz Sachsen, dafür aber ein großes Territorium am Rhein. Auch bezogen auf die politische Organisation der deutschen Lande konnte es seine Vorstellungen nicht durchsetzen: Es hätte sich ein starkes Zentralorgan gewünscht. Österreich aber beharrte auf einem lockeren Zusammenschluss ohne starke zentrale Organe. So wurde der Deutsche Bund gegründet, dessen einziges Zentralorgan die Bundesversammlung bildete. Preußen bemühte sich in Folge um eine Harmonisierung der Zölle, was durch die Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 gelang. In allem aber war es Preußens Ziel, Konflikte mit England, Österreich und Russland zu vermeiden. Manche Historiker sprechen sogar nach 1815 von »außenpolitischer Passivität«57 Preußens. Innenpolitisch vollzog Preußen eine konservative Kurskorrektur infolge der Ermordung von August von Kotzebue durch Karl Ludwig Sand am 23. März 1819. Mit den sogenannten Karlsbader Beschlüssen reagierten Preußen und Österreich und später auch die Bundesversammlung. Die Beschlüsse sahen verschärfte Zensur und Überwachung vor. In Preußen kam es zu einer Verhaftungswelle. Trotz intensiver Diskussionen und öffentlicher Forderung wurde weder ein Parlament noch eine Verfassung eingerichtet. 1830 wurde die außenpolitische Lage durch die Französische Julirevolution wieder verändert. Berlin und Wien arbeiteten eng zusammen und einigten sich 1832, im Zuge der Krise um ein Bundesheer, auf neue Maßnahmen zu Zensur und Überwachung. »Die realgeschichtliche Entwicklung ist im 18.Jh. mit der Ideengeschichte dort eng verbunden, wo es um die Neudefinition der Grundlagen des Staatswesen geht«.58 Das betraf auch das Verhältnis von Staat und Kirche. In Preußen wurde das Staatskirchentum konsequent durchgeführt; so wurde die Kirchenorganisation zu einem Teil der Staatsverwaltung. Das kirchliche Leben wurde für die Staatsräson in Dienst genommen. Das geschah allerdings in einem gewissen Klima der Toleranz,59 welches aus Gründen der Staatsräson nötig war angesichts einer gewissen religiösen Disparatheit. Friedrich II. orientierte sich ganz am Gedanken der Staatsräson; damit begründete er eine gewisse Neutralität des Staates gegenüber den einzelnen Inhalten der Religionen bzw. Konfessionen. Auch die Politik selbst wurde von religiösen Begründungen entlastet, insbesondere die Kriegsführung. An den Kirchen interessierte ihn die Wirkung moralischer Stabilisierung der Bevölkerung bzw. der Soldaten in den sogenannten Militär57
Clark: Preußen, 458. Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Bd 2, 615. 59 Friedrich II. duldete die Jesuiten, obwohl der Orden 1773 vom Papst verboten wurde und in anderen europäischen Territorien verfolgt wurde. 58
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gemeinden. Das 1794 eingeführte »Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten«,60 eine sogenannte Naturrechtskodifikation des späten Absolutismus, garantierte Religionsfreiheit für alle »Konfessionen«, aber auch eine individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Dennoch wurden die Kirchen verpflichtet, ihren Mitgliedern Treue gegen den Staat und Gehorsam den Gesetzen gegenüber einzuschärfen. Unter den Nachfolgern von Friedrich II. wurde dann auch in den dogmatischen Bereich der Kirchen eingegriffen. So sollte mit dem Woellnerschen Religionsedikt (»Edikt die Religionsverfassung in den preußischen Staaten betreffend«) von 1788 die Geltung der Bekenntnisschriften für Predigt, Gottesdienst und Schulunterricht befördert werden, als Gegenwirkung gegen die Aufklärungstheologie. 1798 hob Friedrich Wilhelm III. die Regelungen faktisch wieder auf.61 1817 wurde ein Ministerium der geistlichen, Unterrichtsund Medizinalangelegenheiten geschaffen, als Teil der Verwaltungsreform. »Aus der institutionellen Verflechtung der evangelischen Kirche mit dem Staat ergaben sich in Deutschland organisatorische und ideologische Probleme, die als Grundthemen die Kirchengeschichte des 19.Jh.s bestimmten: Konflikte um eine größere Selbständigkeit der Kirchenverfassung,62 die Union zwischen Lutheranern und Reformierten und die Ergänzung der hinderlichen staatskirchlichen Form durch neue Strukturen, die sog. Vereinskirche als ein Ensemble freier, individueller Zusammenschlüsse. Diese Probleme hingen auch generell mit der Verstärkung der Staatlichkeit zusammen, die viele Lebensbereiche tangierte«.63 Damit komme ich zur zweiten eingangs erwähnten Frage: Diese historischen Ausführungen sollen erhellen, welche Funktion Staatstheorien für das politische Leben Preußens hatten und wie umgekehrt diese politische Lage Preußens sich auf den Status der Staatstheorien auswirkte. Nach 1815 stellte sich für Preußen das Problem, mehr als fünf Millionen neuer Untertanen bzw. neue Gebiete in das staatliche Leben zu integrieren. Der Mangel einer gemeinsamen 60
Dazu Wesel: Geschichte des Rechts, 414–416 sowie Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, 23–51. Das Preußische Allgemeine Landrecht ist inhaltlich zweigeteilt: der erste Teil enthält das Privatrecht der Individuen, der zweite Teil regelt das Recht der Gemeinschaften und das Strafrecht. Wesel entdeckt in §83 der Einleitung einen »Hauch von Menschenrechten« (Wesel: Geschichte des Rechts, 415), wenn es dort heißt: »Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freyheit, sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Andern, suchen und befördern zu können.« Die Bedeutung des Preußischen Landrechts kann nach Koselleck nicht überschätzt werden, so urteilt er: »Die innere Geschichte Preußens im neunzehnten Jahrhundert ist eine Geschichte der Durchsetzung dieses Landrechts gegen die altständischen, regionalen und lokalen Gesetze und Rechtsgepflogenheiten und zugleich eine Geschichte der sukzessiven Verwandlung des Landrechts durch neue generelle Gesetzesbestimmungen, die zunehmend den ganzen Staat erfassten« (Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, 24). 61 Die positiven Regelungen wie Gleichstellung von Katholiken und Duldung von Juden blieben in Geltung. 62 Dazu siehe Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, 56–153. 63 Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Bd 2, 737.
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Verfassung oder eines gemeinsamen Parlamentes bewirkte, dass andere Aspekte für Ausgleich und Zusammenhalt sorgen mussten. Auch Recht und Verwaltung konnten keine Einheitlichkeit verkörpern, da das rheinländische Recht und das von den Franzosen eingesetzte System der lokalen Verwaltung in den westlichen Regionen in Geltung blieben. Insbesondere die Einrichtung der Provinzialstände 1823 intensivierte die Bedeutung der Provinzen auf Kosten des preußischen Staatswesens.64 »Preußen war keine Nation im Sinne einer Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Geschichte. Vielmehr musste sich das ›Preußentum‹ auf einer Basis selbst definieren, die nicht bereits von der rivalisierenden Ideologie des deutschen Nationalismus besetzt war. Das Ergebnis war ein seltsam abstraktes und fragmentarisches Identitätsgefühl«.65 Das einzige, was alle Preußen gemeinsam hatten, war der preußische Staat als Staat. »Es war kein Zufall, dass ausgerechnet in dieser Zeit die Diskussion um die Idee des Staates ungeahnte Kreise zog«.66 Der Staat, nicht das Parlament oder die Verfassung, verband. Die Staatstheorie-Diskussionen, nicht die tagespolitischen Diskussionen drückten die staatsbürgerliche Partizipation aus. Keine konkrete staatliche Ordnung, sondern die Idee des Staates stiftete Einheit und Identität. Staatstheorien entfalten damit in dreifacher Hinsicht eine neue Funktion. In Preußen leisten Staatstheorien erstens einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Identitätsbildung. Sie sind zweitens wesentlich für die politisch-kulturelle Einheitsstiftung. Drittens bilden staatstheoretische Diskussionen die Möglichkeit politischer Partizipation und Einflussnahme, welche auf direkte tagespolitische Weise viel weniger oder kaum möglich war.67 Diese neuen Funktionen von Staatstheorien spiegeln sich auch in der hohen Zahl an staatstheoretischen Veröffentlichungen68 in dieser Zeit. Dem entspricht exakt Schleiermachers Staatstheorie. Sie thematisiert den Staat als solchen, d. h. jeden nur möglichen Staat. Es ist gerade keine Theorie des konkreten Staates noch eines bestimmten Staatsideals. Staat und Staatlichkeit als solche werden zum Thema. Auch für Schleiermacher gibt es den Staat nur als jeweils konkreten Staat. Dessen Konkretum liegt in seiner Geschichtlichkeit, welche seine stetige Wandlung und Wandelbarkeit impliziert.
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So Clark: Preußen, 492. AaO. 493. 66 AaO. 495. 67 In gewisser Hinsicht übernehmen damit Staatstheorien Funktionen, welche dem Christentum bisher zukamen. 68 Siehe dazu auch Moos: Staatszweck und Staatsaufgaben, 45–65. 65
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IV. Forschungsgeschichte Unter welcher Fragestellung, mit welchem Interesse und mit welchem Ergebnis hat man das Staats- und Politikverständnis Schleiermachers untersucht? Bis 1945 dominierte das Interesse an Schleiermacher als nationalstaatlichem Denker. Ein früher Beleg findet sich bei Wilhelm Dilthey, der nach »Schleiermachers politische[r] Gesinnung und Wirksamkeit«69 fragte, womit er Schleiermachers theoretische Reflexion und sein politisches Engagement in enge Verbindung brachte. Er würdigt Schleiermacher als einen der Wenigen, die es vermochten, »für den Staat zu leben, [. . . ] im sicheren Selbstgefühl des Bürgers«, obwohl damals politische Wirksamkeit eigentlich allein vom Beamtenstand ausgehen konnte. Dem verbreiteten Bild Schleiermachers als einer »empfindsame[n] Seele [. . . ], welche zeitlebens am liebsten im zarten Gespräch mit edlen Frauen die großen Fragen des menschlichen Gemüts diskutiert habe« will Dilthey entgegenwirken und zeigen, welch »stahlharte Natur« Schleiermacher auszeichnete.70 Während Dilthey gegenüber bestimmten Inhalten der politischen Theorie Schleiermacher Bedenken anmeldet, konzentriert er sich in seiner Würdigung ganz auf die politische Gesinnung als solche. Dilthey hob dabei besonders die politischen Predigten Schleiermachers hervor, aufgrund derer er urteilte: Schleiermacher sei überhaupt »der erste politische Prediger in großem Stil, welchen das Christentum hervorbrachte«.71 Das Christliche sieht Dilthey in der Schleiermacherschen Verbindung von einem Leben »in den Ideen und Zwecken Gottes« und dem Staatsgedanken: »Die große Form aber, durch welche nach dem Gesetz der Dinge das Individuum in die allgemeinen Zwecke und den göttlichen Weltplan eingreift, ist ausschließlich der Staat«.72 Es sei die große Leistung Schleiermachers (zusammen mit Kant und Fichte) gewesen, in der damaligen »Überfülle sittlicher Werte«,73 wie Ehe und Geselligkeit, Religion und Kunst, überhaupt eine politische Gesinnung hervorzurufen, welche auch zu großer Opferbereitschaft für das Vaterland führen konnte. Schleiermacher gilt ihm dabei als preußischer Patriot, so käme ihm dann auch in der weiteren Rezeptionsgeschichte ein fester Platz im preußisch orientierten Historismus zu.74 Eine eigene Studie zu den politischen Predigten veröffentlichte Johannes Bauer 1908 unter dem Titel »Schleiermacher als patriotischer Prediger«.75 Wie der Titel besagt, kommt Schleiermacher in den Blick als vorbildhafter patriotischer 69
Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit. AaO. 2. 71 AaO. 13. 72 AaO. 15; Hervorhebung im Original. 73 AaO. 8. 74 Dazu im Detail Nowak: Frühromantik, 103–108. Zu nennen sind Heinrich von Treitschke, Franz Schnabel, Reinhard Wittram. 75 Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger. 70
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Prediger. Das spezifische Interesse von Hans Reuters Untersuchung liegt im Verhältnis von Krieg und Kriegspredigten.76 Diese Rezeptionsphase betrachtet Schleiermacher als »Legitimationsgestalt des preußisch-deutschen Nationalstaats«.77 Im Kontext der staatstheoretischen Diskussionen in der Weimarer Republik wandte man sich erstmals auch eingehend der staatstheoretischen Konzeption Schleiermachers zu. Ernst Hermann Meister78 ordnet Schleiermachers Staatsauffassung ein in die Rede vom »Staat als Organismus«. Der Jurist Günther Holstein79 intendierte mit seiner Schleiermacherstudie, den Einfluss protestantischer Denker auf die deutsche Staatsethik ins wissenschaftliche Bewusstsein zu heben und damit zur »protestantischen Identitätsfindung im staatsethischen Bereich«80 beizutragen. Er liest Schleiermacher auch dezidiert hin auf seine Aktualisierbarkeit: »es wird in der Tat wenig Probleme auch der politischen Gegenwart geben, die sich nicht an irgendeinem Punkt in Schleiermachers System einordnen ließen und, was mehr ist, aus ihm eine ihr Wesentliches heraushebende Beleuchtung empfangen würden«.81 Er würdigte ihn im Gegenüber und in Übereinstimmung mit Hegel; dieser verkörpere eine historische, jener eine soziologische Staatsauffassung. Die besondere Leistung Schleiermachers sieht er »in der Darlegung der fließenden Funktionen des Wirklichen, in denen der politische Lebensprozeß sich abspielt«.82 In Reaktion auf Holstein publizierte Ernst Müsebeck, der Leiter der Archivabteilung des Reichsarchivs Potsdam, 1926 »Schleiermacher in der Geschichte der Staatsidee und des Nationalbewusstseins«. Auch ihm diente die Beschäftigung mit der Staatstheorie Schleiermachers der aktuellen politischen Selbstverständigung, mit der das besiegte Deutschland ein neues Selbstbewusstsein finden sollte. Müsebeck entwarf eine Entwicklungslinie der protestantischen Staatsidee vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, als deren Hauptmerkmale er sieht: »Anerkennung der Souveränität des geschichtlich eigenständigen Staates, gleichzeitig Verständnis des Staates als Offenbarung des höchsten Gutes«.83 Gerade aufgrund einer solchen Vereinnahmung wurde nach 1945 infolge der Ablehnung nationalistischer und organologischer Staatstheorien auch Schleiermachers Staatsverständnis zum notorisch vernachlässigten Gegenstand der For76 Reuter: Das innere Erleben des Kriegs, verdeutlicht an Schleiermachers Kriegspredigten, 83–90,129–135; Ders.: Schleiermachers Stellung zum Kriege, 30–80; Ders.: Schleiermachers Stellung zur Idee der Nation und des nationalen Staates, 439–504. 77 Nowak: Schleiermacher, 512. 78 Meister: Schleiermachers Geschichts– und Staatsauffassung. 79 Holstein: Die Staatsphilosophie Schleiermachers. 80 Nowak: Französische Revolution, 110. 81 Holstein: Staatsphilosophie, 205. 82 AaO. 204. 83 Nowak: Französische Revolution, 111.
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schung: »Schleiermachers Staatstheorie fiel in den Jahrzehnten nach 1945 aus dem Netz der Forschung heraus«.84 Ende der 1960er Jahre setzte entsprechend zur Gegenwartslage ein neues Interesse an soziologischen und sozialphilosophischen Aspekten im Schleiermacherschen Werk ein. Genannt seien Yorick Spiegel, Reiner Strunk und Heino Falcke. Fortgeführt wurde diese Forschungsperspektive von Bernd Oberdorfer. Einen einsamen Vorläufer für ein neues Interesse am politischen Schleiermacher stellt Hans-Joachim Birkner dar mit einem Text von 1968, der allerdings erst 1996 veröffentlicht wurde.85 Zum 200. Geburtstag Schleiermachers erscheinen 1968 in der ›Neuen Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie‹ einige Schleiermacher-Aufsätze. Das Spektrum der Beiträge reicht von Schleiermachers Glaubenslehre (Trillhaas) über seine Pädagogik (Lichtenstein) bis hin zur Dialektik (Kaulbach) und schließlich zu Schleiermachers Sicht von freiem und kirchlichem Protestantismus (Rendtorff ). Keil würdigt Schleiermacher in seinem Beitrag unter Berufung auf Holstein hinsichtlich des »organischen Staatsgedankens [. . . ], der als Überwindung der mechanistischen Staatsvorstellungen des Absolutismus eine große Leistung war, die primär Schleiermacher zu verdanken ist. Dadurch wurde die nationalstaatliche, konstitutionelle Monarchie des vorigen Jahrhunderts in Deutschland geistesgeschichtlich mit vorbereitet«.86 Für die wesentlich konfliktreichere Gegenwart sei die Theorie Schleiermachers unzureichend, aber sie liefere in verschiedener Hinsicht weiterführende Ansätze, die für die Gegenwart zu radikalisieren seien.87 Die Untersuchung ist von ihrer Intention (unter Zitierung von Ernst Bloch) auf die Relevanz für die gegenwärtige Situation und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten zentriert. Dem Politischen im engeren Sinne widmete sich dann erstmals eine Studie von Rudolf von Thadden88 über das Verhältnis Schleiermachers zu Preußen. Otto Dann beschäftigte sich mit Schleiermachers Verhältnis zur nationalen Bewegung. Dabei ordnet er Schleiermacher noch ganz in das Bild des nationalen Patrioten ein, anerkennt dabei aber ausdrücklich, dass Schleiermacher »innerhalb des deutschen Protestantismus der erste gewesen [ist], der seine politische Ethik nicht mehr an dem ständisch orientierten Obrigkeitsstaat des Ancien Régime orientiert hat«.89 Welker würdigt die politische Konzeption Schleiermachers emphatisch: Schleiermacher entwickele »unverzichtbare Bausteine für eine Theorie der pluralistischen Gesellschaft, indem er Schwächen des modernen Individualismus aufdeckt und immer wieder mit anspruchsvolleren Theorien experimentiert als 84
Nowak: Schleiermacher, 515. Birkner: Der politische Schleiermacher, 137–156. 86 Keil: Christliche Sittenlehre Friedrich Schleiermachers, 341f. 87 Vgl. Keil: Christliche Sittenlehre, 341 und öfter. 88 von Thadden: Schleiermacher und Preußen, 1099–1106. 89 Dann: Schleiermacher und die nationale Bewegung, 1120. 85
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die liberalen Theorien der Integration von unbestimmter individueller Vielfalt in ein Ganzes«.90 Er kommt zum Gesamturteil: »Schleiermachers Denken treibt in seiner Ethik systematisch über die Moderne hinaus«.91 Die »Anschlußfähigkeit an gegenwärtige Problemlagen«92 würdigt auch Rochus Leonhardt, der sich speziell dem Vergleich von Schleiermacher und Luther hinsichtlich ihrer politischen Ethik widmet. Er sieht Schleiermachers Theorie als Weiterentwicklung von Ansätzen des frühen Luther, also als eine »frühmoderne Fortschreibung von Luthers Zwei-Regimenten-Lehre«.93 Wichtige methodische Impulse gibt Leonhardt durch die Berücksichtigung auch der Christlichen Sitte sowie der Vorlesungen zur Praktischen Theologie Schleiermachers für die Erhebung der politischen Theorie Schleiermachers. Als eine der wenigen politischen Philosophinnen beschäftigt sich Därmann mit Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens. In ihrer Monographie »Figuren des Politischen« fragt sie nach kulturellen Praktiken, welche die Sozialität allererst schaffen und bewahren, die von den politischen Institutionen vorausgesetzt wird. Diese Dimension des Politischen für eine politische Theorie wiederzugewinnen, ist Ziel ihrer Untersuchungen von bei der bisherigen Rezeption wenig beachteten Themen zentraler politischer Denker wie Platon, Hobbes, Kant und eben Schleiermacher. Im Grundsatz zutreffend erscheint ihre Grundanalyse: »Gehen die auf die Kernfamilie und das singuläre Individuum reduzierte Einrichtung der Privatsphäre und die Konsolidierung des Staates Hand in Hand, so entsteht im Zwischenraum zwischen Privatheit und zentraler Staatlichkeit ein neuer öffentlicher Raum, in dem die sozialitätsstiftenden kulturellen Praktiken auch und gerade in der politischen Philosophie wieder zu ihrem Recht kommen«.94 Letztendlich aber misst sie dann Schleiermachers Konzept an einer von ihr vorausgesetzten Theorie phatischen Sprechens. Daher urteilt sie abschließend, dass Schleiermacher »blind [sei] für jene niedere und demokratische Wirklichkeit zweckloser Wechselwirkung, die sich alltäglich, in sämtlichen zweckbestimmten Sphären von Mitteilung und damit in allen und für alle Situationen von Sozialität ereignet«.95 Diese alltägliche Wechselwirkung aber bilde den Humus den Politischen. Mit ihrer Kritik unterstellt Därmann, dass Schleiermachers Konzept des »Kunstwerkes der Geselligkeit«96 paradigmatisch für Sozialität und soziale Kommunikation überhaupt stehen würde, während Schleiermacher die freie Geselligkeit gerade klar von anderen sozialen Interaktionsformen unterscheidet. Schleiermachers vielfache Unterscheidungen von Sphären und 90
Welker: Schleiermachers geniale frühe Ethik, 775. AaO. 776. 92 Leonhardt: Politische Ethik, 121. 93 AaO. 116. 94 Därmann: Figuren des Politischen, 21. 95 AaO. 132f. 96 AaO. 132. 91
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Formen wollen gerade nicht die wechselseitigen Abhängigkeiten und komplexen Funktionszusammenhänge ausblenden, sondern deren klare Beschreibung erst ermöglichen. Wenn dagegen – wie bei Därmann – jede Form von sozialer Kommunikation eine politische Bedeutung hat und zum Bereich des Politischen gehört, dann kann das spezifisch Politische gar nicht mehr erfasst und definiert werden. Zuzustimmen ist ihr umstandslos darin, dass Schleiermachers Kunst der Geselligkeit sozial exkludierende Züge trägt, insofern das von ihm erforderte Maß an Bildung nicht allen Gesellschaftsschichten zugänglich war.97 Die Forschungsgrundlage wurde auf eine ganz neue Basis gestellt, durch die Edition der staatstheoretischen Vorlesungen und Manuskripte Schleiermachers samt erhaltener Hörernachschriften in der Kritischen Gesamtausgabe durch Walter Jaeschke. Daraufhin veröffentlichte Dankfried Reetz in Widerspruch zu Jaeschkes Einleitung eine Studie zu Schleiermachers Politik-Vorlesung von 181798 sowie eine Monographie zu »Schleiermacher im Horizont Preussischer Politik«.99 Auf der kritischen Edition von Jaeschke aufbauend untersuchte Matthias Wolfes dann eingehend Schleiermachers politische Wirksamkeit.100 Diese außerordentlich materialreiche Darstellung verfährt chronologisch. Der genauen Rekonstruktion des politischen Wirkens Schleiermachers in dessen historischem Kontext ordnet Wolfes die Analyse der staatstheoretischen Texte zu. Wolfes wertet dabei sowohl die entsprechenden Vorlesungen, die relevanten Akademievorträge als auch die Behandlung des Staates in der Christlichen Sitte und der Philosophischen Ethik aus. Die Schluss-Thesen seiner Studie lauten: Schleiermacher wurde aus seinem religiösen und theologischen Selbstverständnis heraus zu einem politischen Denker.101 Schleiermachers Staatstheorie beziehe sich auf eine ideale Situation und sei in dieser Hinsicht realitätsfremd, insofern laut Schleiermacher alle Teilnehmer am politischen Prozess im Bewusstsein der Verantwortung für den Staat geeint seien.102 Aber seine Leistung ist darin zu sehen, »einen Staatsbegriff angestrebt zu haben, der die komplexe Realität des modernen politischen und gesellschaftlichen Lebens abbildet«.103 »Sein Leitbild war an dem Ideal einer autonomen, sich selbst gestaltenden und ausbildenden Bürgergesellschaft ausgerichtet«.104 In den Kontext protestantischer Ethiken des 19. Jahrhunderts mit ihren jeweiligen Staatszweckbestimmungen stellt Thorsten Moos105 97
Vgl. Därmann: Figuren des Politischen, 22. Reetz: Staatslehre mit ›politischer Tendenz‹? 99 Reetz: Schleiermacher im Horizont preussischer Politik. 100 Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. 101 Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 391. 102 AaO. 403. 103 AaO. 414. 104 AaO. 415. 105 Moos: Staatszweck und Staatsaufgaben. 98
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seine Untersuchung der Staatstheorie Schleiermacher in dessen christlicher Sitte. Moos stellt dabei würdigend fest: »Erstmals in den hier untersuchten Ethiken ist hier eine limitative Funktion des Staatszwecks im Blick«.106 Als Staatszweck in Schleiermachers christlicher Sittenlehre behauptet er die »Aufrechterhaltung des Rechtszustandes«,107 sowie die »Garantie von Recht, Ordnung und bürgerlicher Freiheit«.108 Insgesamt ordnet er Schleiermachers Staatstheorie als organischen Liberalismus ein.109 Mit der Frage nach einem möglichen Antijudaismus Schleiermachers kommt der Erziehungswissenschaftler Matthias Blum 2010 dagegen zu einer kritischen Sicht auf das politische Denken Schleiermachers: »Schleiermacher schließt sich dem romantischen Zeitgeist mit seiner Betonung von Volksgeist und Nation an und verstärkt im Vergleich zur weltbürgerlichen Aufklärung noch die kulturelle Ausgrenzung der Juden«.110 Die englischsprachige Forschung zur Staatslehre Schleiermachers betont sehr dezidiert die tagespolitische und zeitgeschichtliche Ausrichtung von Schleiermachers politischer Theorie: »Schleiermacher called for Prussians to become citizens of a modern nation, perhaps even a unified Germany, rather than subjects. Just as individuals must cultivate their individuality, so the world needs each nation to develop in its own way«.111 In dieser Hinsicht arbeitet dann Vial auch einen starken Gegensatz von Schleiermachers Staatsauffassung zu aufklärerischen Staatstheorien heraus.112 Die genannten weitreichenden Thesen erfordern einen Vergleich schleiermacherscher Konzepte mit den leitenden staatsphilosophischen Problemstellungen und Entwürfen seiner Zeit. Die Erfassung der Staatstheorie Schleiermachers bedarf daher neben der biographischen und politischen Kontextualisierung, wie sie Wolfes erschöpfend geleistet hat, eine umfassende ideengeschichtliche Einordnung, eine Rekonstruktion der staatsphilosophischen Debattenlage seiner Zeit113 106 Moos: Staatszweck und Staatsaufgaben, 89. Diese starke These überrascht angesichts der sehr schwachen und vagen Textbelege, die Moos vorlegt. Für die limitative Funktion zitiert er folgenden Satz Schleiermachers: »Das Streben nach Freiheit im Unterthan als solchem kann sich nur beziehen auf das außerhalb des Staatszweckes Gelegene, wissenschaftliche Freiheit, religiöse Freiheit, häusliche Freiheit«. Dass Wissenschaft und damit wissenschaftliche Freiheit nicht Teil der staatlichen Sphäre und eben auch nicht Teil des Staatszweckes sind, heißt noch lange nicht, dass es ein Recht oder auch nur einen moralischen Anspruch gegenüber dem Staat gibt, wissenschaftliche Freiheit zuzulassen. 107 AaO. 90. 108 AaO. 102. 109 AaO. 84. 110 Blum: »Ich wäre ein Judenfeind?«, 224. 111 Vial: Schleiermacher and the State, 283. 112 AaO. 272. 113 Umgekehrt fehlt auch weitgehend die Berücksichtigung Schleiermachers in den Forschungen zur Geschichte der Staatsphilosophie und –theorie. Beispielsweise kommt eine der neuesten Monographien in der Rechtswissenschaft zum Thema von Rolin: Der Ursprung des Staates, ohne jeden Verweis auf Schleiermacher aus.
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sowie vor allem eine systematische Durchdringung der Theoriearchitektur. Dieses zu leisten bildet das Ziel der vorliegenden Arbeit.
B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption I. Einleitung Politisches Denken nach der Französischen Revolution ist Interpretation der Französischen Revolution und ihrer Folgegeschichte.1 Unabhängig davon, ob die Haltung zur Französischen Revolution von begrenzter Zustimmung oder von weitgehender Ablehnung bestimmt ist: jede politische Theorie muss sich in ihrer Interpretationskraft an der Revolution ausweisen und bewähren. Das soll im Folgenden für die Debattenlage in Deutschland nach 1800 gezeigt werden. In einem ersten Schritt wird Schleiermachers Verhältnis zur Französischen Revolution untersucht, wie es sich in frühen Briefen und später in der Staatslehre ausdrückt. In einem zweiten Schritt soll Schleiermacher eingeordnet werden in die Rezeptionsgeschichte der Französischen Revolution in Deutschland, indem die gängigen Interpretationsmuster und Interpretationskategorien dargestellt werden. In einem dritten Schritt wird gezeigt, welche Auswirkungen die 1 Wie sehr die Französische Revolution immer noch einen entscheidenden Bezugspunkt für politische Philosophie darstellt, ist beispielsweise an John Rawls zu erkennen. In seinem Entwurf »Eine Theorie der Gerechtigkeit« bezieht er sich explizit auf die Französische Revolution und ihre Parole »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«, um seine Theorie grundlegend zu legitimieren und als anderen Theorien überlegene, authentischere und umfassendere Interpretation der Französischen Revolution auch im Besonderen zu behaupten. Die beiden Grundsätze seiner Gerechtigkeitstheorie versteht er als Auslegung der Prinzipien der Französischen Revolution. Sein erster Grundsatz besagt: gleiche Rechte und Freiheiten für alle Staatsbürgerinnen und -bürger (»Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist« (Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 81). Sein zweiter Grundsatz regelt die Verteilung von Grundgütern einer Gesellschaft und besagt, dass eine ungleiche Verteilung nur unter zwei Bedingungen gerechtfertigt ist: erstens, wenn sie den am wenigsten Begünstigten nützt (Unterschiedsprinzip) und zweitens, wenn sie mit Positionen verbunden ist, die allen offen stehen (faire Chancengleichheit). Dies ordnet er nun wie folgt den Schlagworten der Französischen Revolution zu: »der Freiheit entspricht der erste Grundsatz, der Gleichheit entspricht die Gleichheit im ersten Grundsatz zusammen mit der fairen Chancengleichheit, und der Brüderlichkeit entspricht das Unterschiedsprinzip« (aaO. 127). Er erhebt dabei auch den Anspruch, eine wirklich politischsoziale Interpretation von Brüderlichkeit gefunden zu haben, die sich nicht auf vage Gefühle bezieht, sondern ein klares Prinzip ausdrückt und sich so eindeutig konkretisieren lässt in der gesellschaftlichen Ordnung.
II. Schleiermachers früheste Äußerungen
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Rezeption der Französischen Revolution auf die spezifisch staatsphilosophischen Diskurse hatte. Der Zusammenhang strukturiert sich – so die These – folgendermaßen: Sympathisanten wie Gegner der Französischen Revolution lehnten in Deutschland einhellig die Gewalteskalation im Gefolge der Französischen Revolution ab, also die Enthauptung des französischen Königs und vor allem die Jakobinerherrschaft. Für diese wurden relativ einvernehmlich bestimmte politische Theorien und Denkweisen verantwortlich gemacht. Die Vertragstheorie des Staates (wie sie von Rousseau oder Locke entwickelt wurde) sowie allgemein die Aufklärungsideen von der Autonomie des Einzelnen hätten ein solches gewaltsames Handeln bewirkt. Wenn man also diese Art von Politik ablehne und Ähnliches für Deutschland vermeiden wolle, dann könne man auch nicht mehr vertragstheoretisch argumentieren oder Argumentationsfiguren der Vertragstheorie wie die Rede von natürlichen Rechten der Einzelnen verwenden. Mit dieser Interpretation der Französischen Revolution verband sich also eine Neustrukturierung der Plausibilitätsmuster in der staatstheoretischen Diskussion. Die Vertragstheorie des Staates und ihre einzelnen argumentativen Bestandteile schienen von der Geschichte in ihrer desaströsen Wirkung vorgeführt und damit widerlegt. In einem solchen Plausibilitätsmuster ist auch Schleiermachers Staatstheorie zu verorten. Er wendet sich strikt gegen die Vertragstheorie des Staates, er lehnt das Konzept von Freiheitsrechten des Einzelnen ab und er legitimiert die Institution Staat, indem er die Genese von Staatlichkeit aufweist. Dass sich Schleiermacher damit nicht nur im Konsens überhaupt mit seinen Zeitgenossen, sondern auch und gerade mit liberalen Staatsdenkern befand, soll ein Vergleich mit dem Entwurf von Friedrich Dahlmann zeigen. Der damals breitrezipierte Entwurf Dahlmanns erhellt, wie ein liberales Denken aussehen konnte, das sich eben nicht auf die Idee von Freiheitsrechten des Einzelnen gründete. Dass andererseits trotz scharfer Abgrenzung gegen die Vertragstheorie dennoch wesentliche Anliegen von ihr aufgenommen werden, wird ein Vergleich Schleiermachers mit der Vertragstheorie von John Locke ergeben. Damit kann Schleiermachers Staatslehre als eine Position in einer komplexen Debattenlage identifiziert werden. Sie gewinnt umgekehrt durch eine solche Einzeichnung erheblich an problemgeschichtlichem Profil.
II. Schleiermachers früheste Äußerungen zur Französischen Revolution Die Französische Revolution bestimmt Schleiermachers politische Orientierung. Diese These sollen die nachfolgenden einzelnen Unterkapitel belegen sowie die Art dieser Prägung charakterisieren. Zunächst sind Schleiermachers frü-
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
he Stellungnahmen zur Französischen Revolution zu untersuchen, die er jeweils in privaten Kontexten äußerte. Einschlägig sind dafür frühe Briefzeugnisse. Weil dieses Thema in der Schleiermacherforschung umstritten und kontrovers ist, sei zunächst die Diskussion kurz referiert. Schleiermacher in seiner politischen Bedeutung wurde zunächst in der Forschung hinsichtlich seiner Stellung zu den Befreiungskriegen, eben als preußischer Patriot wahrgenommen,2 und zwar laut Nowak mit der Folge, dass Schleiermacher zu einem integralen Bestandteil der Nationalgeschichte wurde.3 Dilthey hingegen bemängelt am jungen Schleiermacher gerade eine Unterschätzung des Staatlichen. Vor allem lässt Dilthey, der die politische Dimension des Denkens Schleiermachers als erster eingehend untersucht und hervorhebt, Schleiermachers nachdrückliches Interesse an Politik und am Staatlichen erst mit den Monologen beginnen.4 Eines der frühen Briefzeugnisse zur Revolutionsbegeisterung interpretiert Dilthey als lediglich zeittypisch: »Auch er diskutierte, wie alle Welt, gelegentlich über die Französische Revolution, aber mit der Erhabenheit des in Eberhards und Garves Schule von aller Leidenschaft und allem realen Wollen gereinigten Weisen, welche den jungen Gesichtern jener Zeit so seltsam steht.«5 Schleiermacher wird in der Interpretation Diltheys in Berlin »plötzlich« zum politischen Denker, der die sittlichen Grundgedanken, die er »an der Anschauung des Privatlebens durchbildete«6 , dann auch auf den Staat und das politische Leben bezog. In den Monologen drücke sich diese Erkenntnis aus: »Es gibt nur einen Spielraum für die große und männliche Bewegung der freien Individualität: den Staat.«7 Kurz vor der preußischen Katastrophe aber sieht Dilthey bei Schleiermacher dann »aus dem Gedanken der freien Individualität die schönste Frucht herangereift, das energische Gefühl, daß es kein Leben gebe für männliches Selbstgefühl ohne den tätigen Anteil am Staat und daß es besser sei hierfür zu sterben, als unter will2 So würdigt Heinrich von Treitschke ausdrücklich Schleiermacher und insbesondere dessen Predigt: »In der alten Zeit des geistigen Schwelgens konnte ein feingebildeter Berliner nicht leicht auf den Gedanken kommen, dass es Pflicht sei, die Genüsse der reizvollen geistsprühenden Geselligkeit dahinzugeben für die Rettung des in langweiliger Steifheit erstarrten Staates. Jetzt fühlten alle, daß der Reichtum der Bildung keinem den Frieden der Seele sicherte, dass die Schande des Vaterlandes einem jedem die Ruhe und Freude des Hauses störte, und in den beladenen Herzen fanden Schleiermachers Predigten eine gute Stätte. Er vor allen anderen wurde der politische Lehrer der gebildeten Berliner Gesellschaft. Dichte Scharen Andächtiger drängten sich in den engen Rundbau der dürftigen kleinen Dreifaltigkeitskirche, wenn er in seinen breit dahinrauschenden, echt rednerischen Perioden, in immer neuen Wendungen den sittlichen Grundgedanken dieser neuen Zeit verkündigte: daß aller Wert des Menschen in der Kraft und Reinheit des Willens, in der freien Hingabe an das große Ganze liege« (von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Erster Teil, 305). 3 Nowak: Französische Revolution, 105. 4 Vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers, 57 ff. 5 Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit, 2, Hervorhebung MR. 6 AaO. 3. 7 AaO. 7.
II. Schleiermachers früheste Äußerungen
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kürlicher Herrschaft staatlos und heimatlos zu leben.«8 Schleiermacher wurde also so einlinig und ungebrochen als preußischer Patriot interpretiert, dass seine Haltung zur Französischen Revolution nicht in den Blick kam. Ernst Müsebeck arbeitet zwar den positiven Bezug Schleiermachers zur Französischen Revolution heraus, aber immer mit der Abgrenzung, dass Schleiermacher für Deutschland keinerlei Nachahmung gewünscht habe.9 Er kann vor allem die positive Einstellung des jungen Schleiermacher zur Französischen Revolution würdigen. Er charakterisiert sie wie folgt: »a) Schleiermacher habe die unheilvollen Gebrechen des Absolutismus erkannt und deshalb den Ausbruch der Revolution willkommen geheißen. b) Der Schlüssel zum Verständnis der Predigten 1794– 1797 sei die Revolution. c) Die Eigentümlichkeit eines Volkes und Staates sei durch die ›Weltgegebenheit‹ Französische Revolution in das ›helle Licht‹ von Schleiermachers Bewusstsein getreten.«10 Prinzipiell änderte sich die Einschätzung des politischen Schleiermacher erst mit Kurt Nowak, der Schleiermacher deutlicher im Kreis der Frühromantiker verortete und damit auch in deren Rezeption der Französischen Revolution. Dem schließt sich Matthias Wolfes an, der den prägenden Einfluss der Französischen Revolution als »unauslöschlich«11 und für alles weitere entscheidend einschätzt. Er hält die Bedeutung der Französischen Revolution für Schleiermacher und für die ganze Theologengeneration zwischen 1760 und 1780 für bis heute deutlich unterschätzt. Für die philosophiegeschichtliche Forschung konstatiert er dagegen eine entsprechende Würdigung der Bedeutung der Französischen Revolution. Als »antidespotisch und republikanisch« charakterisiert Nowak Schleiermachers Haltung.12 Von einer »Entnationalisierung der Revolutionserfahrung« spricht Wolfes,13 weshalb Schleiermacher auch die preußischen Reformen nach 1807 als Umsetzung von Revolutionsimpulsen unterstützt habe. Die These, dass Schleiermacher die Revolutionsideale in den kirchlichen und religiösen Bereich übertragen und so deren politische Bedeutung relativiert habe, wird von Reiner Strunk14 und von Siegfried Keil15 vertreten. Was ist nun aus den Quellen selbst zu entnehmen? Trotz der zeitlichen Nähe zu den Ereignissen scheint Schleiermacher zunächst wenig unterrichtet und auch wenig davon berührt zu sein. Als frühestes Zeugnis ist bisher nur das Manuskript »An Cecilie« bekannt16 , welches von Günter Meckenstock auf August oder Sep8
AaO. 8. Müsebeck: Schleiermacher, 19–22. 10 Nowak: Französische Revolution, 111. 11 Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 118. 12 Nowak: Französische Revolution, 116. 13 Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 124. 14 Strunk: Politische Ekklesiologie, 56–59; 85 f. 15 Keil: Christliche Sittenlehre, 338f. 16 KGA I/1, 189–212. 9
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
tember 1790 datiert wird. In diesem Text richtet er sich gegen »Verfechter der Schwärmerei«.17 Dem ist aber nur zu entnehmen, dass er ihnen unterstellt, sich nur durch »eine Menge sehr scheinbarer Unterscheidungen«18 vor mancherlei Vorwürfen zu retten und der Welt kund zu tun, gerechtfertigt zu handeln. Daraus spricht ein distanziertes, kritisches Verhältnis zur Französischen Revolution, aber es bleibt zu unbestimmt, um definitive Auskünfte über Schleiermachers Haltung zu geben. Das nächste Briefzeugnis stammt vom 29. August 1791.19 Hier äußert sich Schleiermacher dezidiert für das französische Volk und gegen den Despotismus von Preußens und Österreichs Regierung. Relevant ist ferner die Dankespredigt anlässlich des Baseler Friedensschlusses 1795.20 Die Zeit der Französischen Revolution mit ihren Nachfolge-Ereignissen erlebte Schleiermacher als Hauslehrer in Schlobitten. Der Graf zu Dohna war ein erklärter Royalist; so berichtet Schleiermacher von heftigen politischen Diskussionen.21 Dass Schleiermacher seinen Abschied von Schlobitten nehmen musste und wollte, gründet vor allem auch in politischen Auseinandersetzungen mit Graf zu Dohna.22 Das ausführlichste und persönlichste Briefzeugnis stammt aus Schleiermachers Briefwechsel mit seinem Vater. Die entscheidende Passage ist eingebettet in eine ausführliche Schilderung von Schleiermachers Predigtpraxis, eine Rechtfertigung gegenüber der Anfrage des Vaters, Schleiermacher solle doch eine seiner neuesten Predigten ihm senden. So muss Schleiermacher darlegen, warum er seine neuesten Predigten nicht aufgeschrieben hat. Erst darauf folgt dann – vier Tage später – die Passage über die Französische Revolution. Daran unmittelbar anschließend beschreibt er sehr ausführlich die Außenwahrnehmung und Außendeutung seiner Position zur Hinrichtung des französischen Königs, und wie sehr und wie vielfältig er darin verkannt werde. Dabei zieht er eine Parallele zu seiner theologischen Position, mit der er ebenfalls so vielfältig verkannt werde: »So ist mir’s mit der Theologie auch schon seit langer Zeit gegangen«.23 Die Passage zur Französischen Revolution lautet: »Wenn ich nicht eine Entschuldigung oder doch wenigstens eine Erklärung hätte voranzuschicken gehabt und die Predigt so genau damit zusammenhinge, so würde ich Ihnen schon letzthin davon gesprochen haben, was mich damals ganz einnahm und auch jetzt noch mir sehr oft vorschwebt, ich meine den unglücklichen Tod des Königs von Frankreich. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß ich bis jetzt noch nie 17
KGA I/1, 204. KGA I/1, 204. 19 KGA V/1, 226–230. 20 Sämmtliche Werke II/7, 340–353. 21 Vgl. den Brief an den Vater, 10./14. Februar 1793, in: KGA V/1, 277–281. 22 So auch Nowak: Französische Revolution, 116, der sich damit Meisner (Schleiermachers Lehrjahre) anschließt. Ähnlich Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 122. 23 Brief Schleiermachers an den Vater, 10./14. Februar 1793, in: KGA V/1, 281. 18
II. Schleiermachers früheste Äußerungen
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mit Ihnen von diesen Angelegenheiten gesprochen habe, aber jetzt beschäftigt mich die Sache zu lebhaft. Offen wie ich mit allen meinen Gesinnungen gegen Sie herausgehe, scheue ich mich gar nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe, freilich, wie Sie es wol ohnehin von mir denken werden, ohne Alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann – mit zu loben, und noch vielmehr ohne den unseligen Schwindel einer Nachahmung davon zu wünschen, und Alles über den Leisten schlagen zu wollen – ich habe sie eben ehrlich und unpartheiisch geliebt, aber dies hat mich von ganzer Seele mit Traurigkeit erfüllt, da ich den guten König als sehr unschuldig ansehe, und jede Barbarei gar herzlich verabscheue.«24 Auffällig ist zunächst die Beschreibung der emotionalen Beteiligung. Diese wird mit starken Wertprädikaten ausgedrückt: »lieben« und »von ganzer Seele mit Traurigkeit erfüllt sein«. So ist der Hauptinhalt des Textes die differenzierte Beschreibung der emotionalen Beschäftigung mit der Französischen Revolution, sowohl was die Tiefe der Gefühle als auch was den Fokus der inneren Lebensführung betrifft. Es soll klar werden gegenüber dem Vater, dass das Thema der Französischen Revolution die Gedanken und Gefühle Schleiermachers umfassend bestimmt hat – und dass er deshalb eben auch nicht die Muße und Zeit hatte, seine Predigten schriftlich auszuführen. Der Text selbst ist nicht emotional, er berichtet über Emotionen und innere Beteiligung. Schleiermachers innere Haltung zu den Geschehnissen stellt er als dreifach differenziert dar: Die Französische Revolution »liebt« er. Das wird als solches nicht relativiert oder in Frage gestellt, sondern nur an der Französischen Revolution selbst unterscheidet er diese selbst von dem, was »menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe« dabei getan haben. Diese »lobt« er nicht. Nicht explizit, aber von der Satzfolge her stellt er die Königsenthauptung in eine Reihe mit dem, was überspannte Begriffe verursacht haben. Die Königsenthauptung wird nun ebenfalls mit tiefen Gefühlen verbunden, aber mit entgegensetzten: mit Traurigkeit von ganzer Seele und Abscheu. Interessant ist die Verknüpfung der beiden Themen, also die Französische Revolution und die Enthauptung des Königs. Ausgangspunkt und aktuelles Ereignis ist der für Schleiermacher traurige Tod des französischen Königs. Davon ausgehend sieht sich Schleiermacher zu einer Erklärung seines Verhältnisses zur Französischen Revolution veranlasst. Bei aller inhaltlichen Eindeutigkeit windet er sich sprachlich: die positive Haltung zur Französischen Revolution wird mit zwei Klammern versehen, also zwei einleitenden Bemerkungen, die das Verhältnis zum Vater betreffen. Erkennbar rechnet er damit, dass sein Vater die positive Einschätzung der Französischen Revolution 24
280.
Brief Schleiermachers an den Vater, 10./14. Februar 1793, in: KGA V/1, 277–281, hier
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
nicht teilt.25 Innerhalb eines einzigen, langen, in sich verschachtelten Satzes erklärt Schleiermacher seine Liebe zur Französischen Revolution, grenzt er sich ab gegenüber dem, was politische Leidenschaft an Taten hervorgerufen hat, erklärt er, dass er keine Revolution für Deutschland bzw. Preußen wünscht. Er bemüht sich, gerade trotz des Zusammenhangs zwischen dem Tod des Königs und der Französischen Revolution, die Beurteilung beider Sachverhalte strikt zu trennen und ebenso deren gefühlsmäßige Resonanzen als gleichermaßen unabhängig, entgegengesetzt und jeweils tief zu schildern. Er versucht deutlich zu machen, dass man die Revolution als solche lieben und trotzdem über den Tod des Königs und alle »Barbarei« entsetzt sein kann. Die innige Bejahung der Französischen Revolution und die entschiedene Ablehnung der Gewalttaten verbindet Schleiermacher noch mit einer dritten Stellungnahme: er wünscht keine Nachahmung dieser Revolution für Preußen oder überhaupt anderswo. Dass er keine Nachahmung wünscht, parallelisiert Schleiermacher mit der Ablehnung dessen, alles über einen Leisten schlagen zu wollen. Positiv gewendet ist das die Forderung, alles differenziert und individuell zu beurteilen. Festzuhalten ist also eine dreifache Stellungnahme Schleiermachers: (1) Hochemotionale Bejahung der Französischen Revolution. (2) Scharfe Ablehnung der Gewalttaten in ihrem Gefolge, also z. B. der Enthauptung des französischen Königs, verbunden mit einer ganz grundsätzlichen Abscheu gegenüber Gewalt und »Barbarei«. (3) Ablehnung einer Revolution für Preußen und Forderung nach differenzierter Beurteilung der geschichtlichen Lage der einzelnen Staaten. Es wird sich zeigen, dass diese dreifache Stellungnahme Schleiermachers sich durchhalten wird bis zu seinen späten Vorlesungen zur Staatslehre. Durchhalten wird sich auch Schleiermachers Ärger und Unverständnis hinsichtlich der Urteilsbildung seiner Zeitgenossen. An der oben zitierten Briefstelle fährt er fort: »Aber fast eben so sehr, als ich mich an der Sache selbst geärgert habe, hab’ ich mich über die Art geärgert, wie ich so viele Menschen habe darüber urtheilen hören.«26 Wie Schleiermacher im Brief ausführt, ärgert ihn nicht die politische Ausrichtung der Stellungnahmen, sondern die Argumentation, mit der diese jeweils begründet werden. Zu Beginn seiner Staatslehrevorlesung 1817 25 Dies bestätigt sich auch durch den Antwortbrief des Vaters vom 18. April 1793, in: KGA V/1, 288–291. Der Vater schreibt darin zur Französischen Revolution: »Sollte es denn in Deiner Gegend so wenig philosophische und geschichtskundige Köpfe geben, die es nicht einsehen wollen, daß wenngleich die französische Revolution in Absicht auf ihre Quellen in der Folge für Herrscher und Völker überaus lehrreich ist, sie doch nach dem Ideal, was man sich davon gebildet hat, unmöglich Statt finden könne, wenn man nämlich die Menschen so nimmt wie sie sind. Unsere Idee von moralischer und politischer Vollkommenheit ist in dieser Welt eben sowenig ausführbar als es die platonische Republik, der Friedenstraum von Abbé St. Pierre und Heinrich IV. gewesen sind und als das französische Freiheits- und Gleichheits-System es sein wird« (KGA V/1, 290). 26 Brief Schleiermachers an den Vater, 10./14. Februar 1793, in: KGA V/1, 277–281, hier 280.
II. Schleiermachers früheste Äußerungen
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gibt er als ein Motiv für die Vorlesung an, dass er die »in Verwirrung gerathenen Begriffe vom Staate«27 klären wolle. Schleiermachers politisches Interesse verbindet sich also mit dem beinahe gleichermaßen starken Impetus – wie er selbst schreibt – auf die politische Urteilsbildung der Zeitgenossen klärend einzuwirken. Das lohnt es, eigens hervorzuheben: Schleiermachers lebhaftes Bestreben richtet sich nicht darauf, seine Zeitgenossen zu bestimmten politischen Urteilen und Ansichten zu bewegen, sondern allein darauf, ihrer Urteilsbildung zu mehr Klarheit und Begriffsschärfe zu verhelfen. Es handelt sich also um ein wissenschaftliches Interesse an politischer Urteilsbildung und nicht ein politisches Interesse an der politischen Urteilsbildung. Auf wie wenig Verständnis das bei seinen unmittelbaren Zeitgenossen stößt, die sein Interesse an der Politik gegen seine eigene Intention politisch einordnen, zeigt eine weitere Stelle aus dem gleichen Brief: »Indem ich mich nicht enthalten kann, die Partheilichkeit und Einseitigkeit der Menschen nach bestem Wissen und Gewissen zu bestreiten, und ihnen zu dem audiatur et altera pars hie und da praktische Anleitung zu geben, so verderbe ich es mit Allen, und ich armer Mensch, der ich sehr selten über einzelne Dinge eine Meinung habe, und also noch viel weniger im Ganzen zu einer Parthei gehören kann, gelte bei den Demokraten nicht selten für einen Vertheidiger des Despotismus und für einen Anhänger des alten Schlendrians, bei den Brauseköpfen für einen Politikus, der den Mantel nach dem Wind hängt, und mit der Sprache nicht heraus will, bei den Royalisten für einen Jakobiner und bei den klugen Leuten für einen leichtsinnigen Menschen, dem die Zunge zu lang ist«.28 Schleiermacher fühlt sich also in seinen Intentionen verkannt und fälschlich politischen Lagern zugeordnet, weil sein philosophisch-wissenschaftliches Interesse an der politischen Argumentation nicht erkannt wird. Diese Haltung Schleiermachers, in der sich politische Begeisterung mit einem formal-wissenschaftlichen Interesse an Argumentation und Begriffsklärung verbindet, ist auch für seine späteren Vorlesungen charakteristisch. In der Forschung wird zumeist nur einer dieser Aspekte wahrgenommen. Während Jaeschke die Vorlesungen so versteht, dass Schleiermacher die Tagespolitik ausblende und ein kontextloses, allgemeines, in dem Sinne unpolitisches Bild vom Staat entfalte29 , stellt Wolfes Schleiermachers Staatslehre gerade als dezidiert politische Stellungnahme innerhalb der preußischen Politik dar.30 Schleiermachers Staatslehre ist aber beides: ein intensives und engagiertes Interesse an politischer Gestaltung und aktueller Politik, aber aus der Perspektive eines Denkers, der sich für Argumentationsstrukturen, Begriffsarchitektur, Begründungsfiguren und klare Defi27 28
Staatslehre 1817 Varnhagen 208,9f. Brief Schleiermachers an den Vater, 10./14. Februar 1793, in: KGA V/1, 277–281, hier
281. 29 30
So Jaeschke: Historische Einführung, XXVII. Vgl. Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 16; Bd. 2, 392–417.
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
nitionen interessiert. Es ist der seltene Fall eines unpolitischen Interesses an Politik in Verbindung mit einem praktischen Streben nach politischer Wirksamkeit. Anders als Dilthey urteilt, ist dieses frühe Briefzeugnis Schleiermachers kein »politisch höchst unreifer Radicalismus«31 , sondern stellt die politische Grundüberzeugung Schleiermachers dar, welche sich nur differenzieren, aber nicht wandeln wird. Ebenso wie diese Grundüberzeugungen wird sich auch eine merkwürdige Unbestimmtheit durchhalten: Schleiermacher beschreibt nie, was genau er an der Französischen Revolution liebte. Was ihn begeistert, was er als positiv an der Revolution beurteilt, bleibt in allen zur Verfügung stehenden Texten mehr oder weniger offen. Diese Leerstelle wurde in der Forschung immer aufgefüllt mit nahe liegenden Erklärungen; belegen an Texten lässt es sich nicht. Schleiermacher »ging es um die geschichtliche Bedeutung des Gesamtgeschehens, um das sich Vollziehen eines politischen und gesellschaftlichen Neuaufbruchs von einzigartiger historischer Dimension«.32 Schleiermacher stände also für einen »aufklärerischen Evolutionismus«.33 Was lässt sich aus weiteren Stellungnahmen des jungen Schleiermacher entnehmen? In einem Brief an seine Schwester vom 27. September 1797 schreibt er über den gemeinsamen Bruder: »So gern ich Karln wünschte in einer Republik zu leben wo jedem thätigen Geist aus jedem Gewerbe die Theilnahme an den gemeinen Angelegenheiten offen steht, so ängstlich würde es mir seyn ihn irgendwo zu wißen, wo eben eine Republik gemacht wird. Schönes Wetter hat er zu seiner Reise«.34 Daraus wird deutlich, dass der Inbegriff einer Republik für Schleiermacher darin besteht, dass einem jeden die politische Mitbestimmung möglich ist, dass ein Gestalten der gemeinsamen Belange eröffnet wird. Als weiteres Dokument früher Stellungnahmen zur Französischen Revolution seien die »Reden« untersucht. In der ersten Rede, »Apologie« überschrieben, rechtfertigt er sich, warum er sich gerade an seine deutschen »Hörer« wendet. Es sei nicht blinde Vorliebe für deutsche Hörer, etwa aus Heimatverbundenheit oder wegen der kulturell-sprachlichen Nähe, sondern weil nur im väterlichen Land »eine Freistadt« sei »vor der plumpen Barbarei und dem kalten irdischen Sinne des Zeitalters«.35 So muss er dann begründen, warum er nicht zu den anderen Völkern sprechen könne. Die Briten seien zu sehr auf das Empirische ausgerichtet, und wollten nur »gewinnen und genießen«.36 Die Franzosen seien deshalb keine geeigneten Hörer, »weil sie in jeder Handlung, in jedem Worte fast ihre heiligsten Geseze mit Füßen treten.«37 Als Beleg für seine These be31
Dilthey: Leben Schleiermachers, 57f. Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 123. 33 Nowak: Frühromantik, 96. 34 Brief an die Schwester, 27. September 1797, in: KGA V/2, 173. 35 Über die Religion 18; KGA I/2, 196. 36 AaO. 16; KGA I/2, 195. 37 AaO. 17; KGA I/2, 196. 32
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen
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zieht er sich auf den Umgang der Franzosen mit ihrer eigenen Revolution: »Die frivole Gleichgültigkeit mit der Millionen des Volkes, der wizige Leichtsinn mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten That des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens bestimmt, beweiset zur Genüge wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer wahren Anbetung fähig sind.«38 Die Bezugnahme auf die Französische Revolution dient hier lediglich der Abwertung des französischen Volkes, um die deutschen Intellektuellen als die einzig gemäßen Zuhörer seiner Ausführungen auszuweisen. Dafür kontrastiert er die Französische Revolution als die erhabenste Tat des Universums mit ihrer Wirkung auf die französischen Zeitgenossen. Diese hätten auf diese Tat entweder mit Gleichgültigkeit oder mit Leichtsinn reagiert. In dieser Perspektive wird die Französische Revolution zu einem Ereignis, das losgelöst von den beteiligten Menschen und losgelöst von den Folgen eine unübertreffbare Dignität gewinnt, eine Eigenbedeutung, die sich von allem konkret Geschichtlichen ablösen lässt. Sie ist dabei aber nicht nur Ereignis, sondern Tat. Der Text ist an dieser Stelle nicht ganz eindeutig; es lässt sich aber so lesen, dass das Universum (verstanden als genitivus subjectivus) das Subjekt dieser Tat ist. Damit wird die Revolution hypostasiert und von den beteiligten menschlichen Subjekten deutlich unterschieden, ja vor deren Beschränktheit in Schutz genommen. So rückt die Revolution in eine Parallelbedeutung zur Religion, und entsprechend argumentiert dann auch Schleiermacher hinsichtlich ihrer Wirkung: weil das französische Volk die Französische Revolution nicht richtig gewürdigt hätte, sei es also unfähig, die Religion richtig zu würdigen. Noch deutlicher: das französische Volk sei unfähig zu heiliger Scheu und wahrer Anbetung. Diese Revolutionsdeutung Schleiermachers gewinnt ihr eigenes Profil erst auf dem Hintergrund von zeitgenössischen Revolutionsdeutungen, mit denen sie Wesentliches teilt und sich damit zwar weitgehend dem damaligen Zeitgeist einfügt, aber doch auch eigene Perspektiven entwickelt. Daher sei nun im Folgenden ein Überblick über zeitgenössische Revolutionsdeutungen und die dabei zur Geltung gebrachten Kategorien gegeben.
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen 1. Die Französische Revolution in der deutschen Öffentlichkeit Zunächst stieß die Französische Revolution in der deutschen literarischen Öffentlichkeit auf lebhafte Zustimmung. Klopstock und Wieland äußerten sich enthusiastisch. Die Revolution leuchtete vielen auf als der Beginn eines neuen 38
Über die Religion 17; KGA I/2, 196.
40
B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
Zeitalters, als Triumph der Philosophie, als edle Tat der Menschheit. Die Begeisterung erfasste auch das Tübinger Stift. Nur Schiller und Goethe erschienen als prominente Ausnahmen. Gemeinsam ist aber Gegnern wie Befürwortern in Deutschland eine kulturellgeistig-moralische Interpretation der Französischen Revolution, also keine im engeren Sinne politische. Damit zusammen hängt auch bei Revolutionsbegeisterten die Ablehnung einer politischen Revolution für Deutschland. Gerade dadurch aber entwickelte sich ein öffentliches politisches Bewusstsein. Kritiker der Französischen Revolution beurteilen diese als Produkt der Aufklärung. Dadurch verband sich bei den Kritikern politischer Konservatismus mit einem kirchlichtheologischen Konservatismus. In der einsetzenden Frühromantik39 dagegen entwickelte sich eine Deutung der Französischen Revolution als Zeitenwende.40 Volker Leppin ordnet Schleiermacher in diesen Kontext ein: »Und F. Schleiermachers Idee einer Wiedergeburt des Christentums in den ›Reden über die Religion‹ (1799) stand unter dem Eindruck der Französischen Revolution als einer religiöse Erneuerung geradezu fordernden historischen Grenzscheide. Durch seine Beteiligung an der Berliner Universitätsgründung hatte er auch aktiven Anteil an dem Modernisierungsschub mit preußischen Reformen, Säkularisation und territorialer Umstrukturierung [. . . ], den die Französische Revolution Deutschland direkt durch die zunächst verheerenden napoleonischen Kriege brachte«.41 Die Frühromantik sei gekennzeichnet durch die Vergeistigung der Revolutionsidee ins Künstlerische. Sie entwickelt einen Praxisbegriff, der das Politische transzendiert, aber zugleich integriert.42 »Jene Standortfindung oberhalb des Politisch-Sozialen ist es, die den in der Frühromantikforschung herausgearbeiteten Zusammenhang zwischen den frühen politischen Äußerungen der Frühromantiker zur Französischen Revolution [. . . ] und ihrem späteren Weg sichert.«43 Die Frühromantiker deuten die Französische Revolution als weltgeschichtliche Wende, weit über das konkrete Politische und Soziale hinausweisend. Die Französische Revolution löste überhaupt in Deutschland intensive Anteilnahme und eingehendes Interesse aus. Für die Rezeption spielten moderne Druckmedien eine große Rolle, die in informellen und in formellen Zirkeln, 39 Zum Verhältnis Schleiermachers zur Frühromantik referiert sehr übersichtlich den Forschungsstand Dittmer: Schleiermachers Wissenschaftslehre, 30–44. 40 Zur geschichtlichen Deutung der Französischen Revolution in der Geschichtsschreibung des deutschen Vormärz Zuckermann: Das Trauma des »Königsmordes«, 39–75. Er analysiert ausführlich die spezifischen Schwierigkeiten, die Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, weshalb auch gegenwärtige Forschung mehr die Geschichtsschreibung und Rezeption der Französischen Revolution untersuchen würde. 41 Leppin: Art. Französische Revolution, 256. 42 Vgl. Nowak: Französische Revolution, 118. 43 AaO. 118.
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen
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wie z. B. Lesegesellschaften, debattiert werden. Die Zeit nach 1790 markiert außerdem einen Umbruch in der gesellschaftlichen Alltagskultur: eine oral orientierte Alltagskultur geht über in eine schriftlich geprägte Alltagskultur. »Schriftlichkeit und Lektüre als alltägliche Informations- und Kommunikationsmuster verändern die Wahrnehmungshorizonte und Weltbilder insgesamt: ›Erfahrung‹ erhält eine neue, räumlich wie zeitlich fast unbegrenzte Dimension.«44 In dieser Übergangszeit funktionieren aber neben den neuen schriftlichen Kommunikationsprozessen die mündlichen Kommunikationssysteme weiterhin so stabil, dass die nach 1790 verschärften Zensurmaßnahmen kaum Auswirkungen auf die Meinungsbildung der Bevölkerung haben.45 Interesse in den Druckmedien finden v. a. Reise- und Augenzeugenberichte46 von den Ereignissen in Frankreich. Gegenüber der Revolution treten zustimmende, begeisterte, ablehnende und entrüstete Stimmen in der Öffentlichkeit auf. Aufgrund der Radikalisierung, insbesondere durch die Hinrichtung des französischen Königs und dann dem Ausgreifen auf deutsche Gebiete ab 1792 fand ein Wandel der öffentlichen Meinung statt, in der die kritischen Stimmen sich vermehrt zu Wort meldeten. Die Errichtung der Herrschaft von Robespierre stieß viele ursprüngliche RevolutionsSympathisanten ab. Außerdem wurde die Diskussionslage auch dadurch verändert, dass Österreich und Preußen 1791/92 ihre Zensurbestimmungen verschärft hatten. Nach 1793, aber auch schon früher, bilden sich differenzierte Stellungnahmen, welche zwischen den zu begrüßenden Zielen und Inhalten der Revolution und dem problematischen Vorgehen der an der Revolution Beteiligten unterscheiden. Zu den zeitgenössischen Stellungnahmen gehört auch bereits die Wahrnehmung eines solchen Umschwungs hinzu, wie das folgende Zitat von Joseph Görres zeigt: »Noch mehr: in den ersten Tagen meiner Jugend haben sich die Ideen von Republikanism und Verbesserung der politischen Lage der Menschheit und ihrer gesellschaftlichen Verhältniße mit meinem ganzen Wesen verschmolzen; Ich habe ihnen angehangen mit Wärme und Selbstverläugnung, an sie meine erste und beste Lebenskraft verwendet, nur in ihnen gelebt, und auf sie das Gleichgewicht meiner innern Natur begründet. Der Drang der auf mich ein44 Kaschuba: Revolution als Spiegel, 383. Zu diesem Umbruch gehöre auch, dass die »modische Stilisierung und vor allem die kommerzielle Vermarktung von Weltanschaulichem« hiermit beginne. »Die Produzenten der ›Revolutionsmode‹ bieten bald alle möglichen Accessoires an, mit deren Hilfe sich Kleidung zeitgeisthaft garnieren läßt: trikolore Bänder, Stickereien mit den Symbolen der drei Stände und sogar ›Schnallen in Form der Bastille‹« (Kaschuba: Revolution als Spiegel, 393). Mit der Mode war ein Medium gegeben, öffentlich klar Position zu beziehen; der Darstellungsraum reichte von der Straße zur Universität bis zur Kanzel (Belege dazu bei Jäger: Enthusiasmus und Schabernack, 409). 45 Dazu Kaschuba: Revolution als Spiegel, 385f. 46 Einen ersten Überblick über die deutschen Paris-Reisenden nach der Revolution gibt Jäger: Enthusiasmus und Schabernack, 399. Die Rolle dieser Reiseberichte führt er dann anschaulich vor Augen aaO. 400–405.
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
stürzenden Erfahrungen mußte sehr groß, [. . . ], wenn Ich anerkennen sollte, daß die gegenwärtige Generation für die Freyheit verlohren ist, daß alle die Kraft, das ganze gräsliche Kapital von Menschenleben und Menschenglück, das zu ihrer Erhebung verwendet wurde, todt da liegt«.47 Die negative Deutung der Revolution in Deutschland wurde maßgeblich bestimmt durch die Revolutionsdeutung von Edmund Burke. Daher sei diese in einem Exkurs eigens vorgestellt. Edmund Burke (1729–1797) schrieb seine »Reflections on the Revolution« in London als irischstämmiger, aber nun englischer Parlamentarier, der sich zum reformfreudigen Lager zählte. Er wollte verhindern, dass Ideen der Französischen Revolution auf England übergreifen. Das Buch rief innerhalb weniger Jahre zahlreiche literarische Stellungnahmen hervor; mehr gegen ihn als für ihn. In Deutschland machte ihn Friedrich Gentz durch seine Übersetzung 1793 berühmt. Seine leidenschaftliche Kritik an der Französischen Revolution trägt Burke in Form eines Briefes an einen jungen Franzosen vor. Nur im dritten und letzten Teil befasst er sich eingehend und eigens mit der neuen Situation in Frankreich, während der zweite Teil sich mit England und der Differenz der englischen Kultur von der französischen beschäftigt. Der erste Teil widerlegt eine Parallelisierung von Glorious Revolution und Französischer Revolution, wie sie in England teilweise vorgenommen wurde; konkret wendet er sich gegen einen solchen Vergleich beim englischen Geistlichen Richard Price. Die Glorious Revolution habe nicht mit dem englischen Rechtszustand gebrochen, sondern stelle eine Reform dar, welche die Substanz des Staates nicht angetastet habe. Burke intendiert eine politische Stellungnahme, die sich dementsprechend auch einer dezidiert politischen Rhetorik bedient. Der Stil orientiert sich an Redebeiträgen im englischen Unterhaus48 , in dem er seit mehr als 20 Jahren durch rhetorisch brillante Reden liberale Politik vertreten hatte. Nun richten sich seine Bemühungen ganz darauf, die Gefahr, welche von der Französischen Revolution für England ausgehe, abzuwehren. Die nachhaltigste und vielgestaltigste Wirkung erzielte Burkes Schrift aber in Deutschland. Durch die Universität Göttingen, die zum Königreich Hannover gehörte, wurde das Werk der deutschen Öffentlichkeit erstmals vermittelt. Die eigentliche Vermittlungsleistung aber erbrachte Friedrich Gentz’ Übersetzung. Novalis urteilte: »Es sind viele antirevolutionäre Bücher für die Revolution geschrieben worden. Burke hat aber ein revolutionäres Buch gegen die Revolution geschrieben.«49 Revolutionär und wegweisend sei sein Zugang, die Revolution als geschichtliches 47
Görres: Resultate meiner Sendung nach Paris (1800), in: Stammen / Eberle (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution 1789–1806, 453 f. 48 So Henrich: Einleitung, 7. 49 Zitiert nach Henrich: Einleitung, 11. Dort kein Zitatnachweis.
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen
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Ereignis aus der Geschichte zu begreifen. »Nur aus einem Gang der Menschheit, der zur Revolution führt und zugleich über sie hinausweist, kann man dies Geschehen verständlich machen.«50 Mit Burke begann also eine geschichtsphilosophische Deutungsperspektive auf die Französische Revolution. Aus seinem Text kann daher keine eigene, in sich geschlossene politische Philosophie entnommen werden. Umso klarer aber drängen sich die Vorwürfe gegen die Französische Revolution dem Leser ins Bewusstsein. Seinen Erfolg verdankt die Schrift auch den starken und emotionalen Bildern. Der von Gentz übersetzte Begriff der »Totalrevolution« wurde zu einem Standardbegriff der Diskussion.51 Burkes Hauptargument lautet: Weil die Revolution ein Traditionsbruch sei, müsse sie notwendig gewalttätig werden. Henrich sieht in Burkes theoretischer Position vier Traditionselemente verbunden: aristotelische Klugheitslehre, stoische Lehre vom Weltgesetz, moderne Vertragstheorie und empiristische Psychologie.52 Die stoische Weltvernunft diene bei ihm als Begründungsinstanz von Recht, Ordnung und Notrecht. Das Notrecht enthält das Recht auf Revolution zur Beseitigung von ernsten Missständen. Der Staat wird jedoch auf einen menschlichen Ursprung zurückgeführt, freilich im Einklang mit dem göttlichen Weltgesetz. Im Staat ist Kontinuität um des Menschen und seiner Sittlichkeit willen erforderlich, denn der Mensch bildet seine Sittlichkeit aus und bewahrt sie nur durch Erziehung und Übung. Der Theoriestatus von Burkes Argumentation ist in der Forschung umstritten. Handelt es sich um eine Kompilation von Motiven und Traditionen, die eben insofern herangezogen werden, als sie sich gegen die Französische Revolution geltend machen lassen? Oder kann aus der Verbindung der Traditionen auf eine eigene konsistente Theorie des Politischen geschlossen werden? Henrich vertritt diese zweite Position, indem er dem Kompilatorischen selbst einen systematischen Sinn abzugewinnen versucht: »Auf solche Weise kann sich jedoch mehr ergeben als die Sinnlosigkeit des Widersprüchlichen, - dann nämlich, wenn solche Redeweise System hat. So bewirkt sie, dass gewisse Implikationen, welche das einzelne Theorem je für sich hat, durch Kombination mit einem anderen aufgehoben werden.«53 Das Ergebnis sei ein Begriff von Politik, der besage, dass vernünftig-politisches Handeln nur in Kenntnis der bisherigen Geschichte und in positiver Bezugnahme auf sie und durch gemeinschaftliche Verständigung möglich sei – und nicht durch Gewalt und in Abkehr von Geschichte. Über die politische Stellungnahme hinaus ist zu fragen, mit welchen Kategorien und Metaphern die Französische Revolution gedeutet wurde und wie sich die Gegner und Befürworter in ihren Kategorien unterschieden. 50
AaO. 12. Vgl. dazu Eke: Signaturen der Revolution, 206 f. 52 Vgl. Henrich: Einleitung, 14–19. 53 AaO. 17. 51
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
Für die Deutung der Französischen Revolution standen den Zeitgenossen zunächst nur traditionelle Begriffsinstrumentarien zur Verfügung.54 Der herkömmliche Begriff der Revolution implizierte die Vorstellung einer Rückkehr in einen ursprünglichen Zustand; somit meinte Revolution als Deutekategorie die Wiederherstellung einer alten Ordnung. In solcher Perspektive erscheint die Französische Revolution als Wiederherstellung von Glück oder Recht und Gerechtigkeit der ganzen Nation. Die Spannung zwischen diesem Vorstellungsgehalt und der Wahrnehmung der französischen Ereignisse seit 1789 provozierte Deutediskurse auf verschiedenen Ebenen. Im Ringen um begriffliche Erfassung entfalten zwei hermeneutische Zugänge eine orientierende Wirkung: die historische Parallelisierung und die metaphorische Deutung. Als historische Parallelen boten sich drei Ereignisse an: die Glorious Revolution von 1688, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die deutsche Reformation. Da alle drei Ereignisse zumindest im preußischen Kontext positiv denotiert waren, schieden sich die Geister daran, ob die Parallelisierung zutraf oder nicht. Jede Behauptung von Parallelität implizierte die Legitimierung der Französischen Revolution, jede Bestreitung von Parallelität die Delegitimierung.55 Schleiermacher vollzieht diese Parallelisierung in seinen Vorlesungen oft und mit unbetonter Selbstverständlichkeit.56 Eine wesentliche Rolle im Deutediskurs spielen Metaphern; gerade angesichts der Insuffizienz der traditionellen Begriffe. Zunächst dominiert bei Befürworten die Metapher der Naturkatastrophe; damit sollte die unabwendbare Notwendigkeit des Geschehens klar werden sowie die Transmoralität der Ereignisse. Als Vergleichsbild konnte eine »Schneelawine«57 fungieren oder ähnliche Konkretionen. Aber auch die allgemeine Rede von Naturerscheinung oder Naturkatastrophe findet sich in zeitgenössischen Texten. Das reagierte auch auf die Komplott-Theorie der Revolutionskritiker, welche besagte, dass sich Freimaurer und Philosophen aus »Irreligion« zusammengeschlossen hätten, um den Staatsumsturz durchzuführen. Ein Beispiel sei zitiert: »Dieß Komplott besteht aus den sogenannten Freymaurern, Illuminaten etc. aus Jansenisten, aus Philosophen, Freydenkern, denen zu ihren schaudervollen Absichten nicht nur unsere neumodischen Gelehrte, und Skribenten, sondern ganze Universitäten und Gesellschaften, Regierungen, Minister, und Staatsräthe«.58 In Verbindung mit der Komplott-Theorie wird auch der Mangel an (echter) Religion verantwortlich gemacht; ein Beispiel aus der eben zitierten Quelle: »Mehrere unglückliche Be54
Vgl. dazu Eke: Signaturen der Revolution, 178 f. Einzelbelege bei Eke: Signaturen der Revolution, 208–213. 56 Z. B.: KGA II/8, 102. 57 Forster: Parisische Umrisse (1793), in: Stammen / Eberle (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution 1789–1806, 264. 58 Anonymus 1793, in: Stammen / Eberle (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution 1789–1806, 239. 55
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen
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gebenheiten sind nun in Frankreich zusammen getroffen. Ein Volk ohne Religion, oder doch größten Theils ohne Religion; ein Volk durch so viele Schriften verführt, und gegen die königliche Gewalt aufgehetzet, ein Volk von Philosophen regieret, was konnte es thun?«59 Damit ergibt sich die interessante geistesgeschichtliche Situation: »Es sind die Verteidiger der Französischen Revolution, in Deutschland vor allem von der Kantschen Philosophie inspiriert, die die Rolle der moralischen Kategorien stark einengen und sich auf die Objektivität des Naturprozesses berufen.«60 Die Eigenlogik der Naturmetaphorik schließt aber aus, die politische Verantwortlichkeit der Herrschenden am Ausbruch der Revolution zu markieren. Das Bild von Naturkatastrophen muss also entsprechend modifiziert werden, indem vorheriges hemmendes Handeln des Menschen als Ursache der Naturkatastrophe61 hervortritt. So bei Fichte, wenn er schreibt: »der zurückgehaltene Gang
59
Anonymus 1793, in: Stammen / Eberle (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution 1789–1806, 243. 60 Losurdo: Kategorien der Revolution, 97. 61 Der Deutung vom Geschichtshandeln des Menschen als Naturkatastrophe im 18. Jahrhundert tritt die Deutung von Naturkatastrophen als Folge menschlich-geschichtlichen Handelns im 21. Jahrhundert gegenüber. Ulrich Beck trägt in seinem Eröffnungsvortrag zum Soziologentag 2008 die Analyse vor: »In der naturgesetzlichen Evidenz der ,Naturkatastrophe vollzieht sich eine Naturalisierung gesellschaftlicher Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse.« (Beck: Neuvermessung, 25). Daran lassen sich mehrere Beobachtungen anschließen. Natur und Geschichte treten in moderner Wahrnehmung einerseits einander gegenüber in klarer Abgrenzung voneinander. Andererseits dienen Deutekategorien aus dem einen Bereich dafür, extreme Erfahrungen, welche dem anderen Bereich primär zugehören, zu integrieren und gedanklich zu bewältigen. Unter dem Aspekt der Parallelität beider Redeweisen, hier die Französische Revolution, dort den gesellschaftlich verursachten Klimawandel, als Naturkatastrophe zu deuten, geht es jeweils darum, die Verantwortung bestimmter Akteure zu verschleiern und die anderer Akteure zu betonen. Bei der Deutung von Klimawandelfolgen als »Naturkatastrophen« wird tendenziell die Verantwortung der entwickelten Industriegesellschaften ausgeblendet und die Verantwortung der Regierungen der entsprechenden betroffenen Regionen zugesprochen, für das Krisenmanagement zu sorgen. Umgekehrt kann die Deutung von Naturkatastrophen als Klimawandelfolge dazu dienen, allein oder vor allem die Industriegesellschaften verantwortlich zu machen und daraus politisch-ökonomische Forderungen abzuleiten. Der Deutungsstreit um das Verhältnis von menschlichem Handeln und Naturereignis dient also vornehmlich der Legitimierung von politischen Forderungen oder Maßnahmen bzw. der Ablehnung solcher Forderungen. Der Deutungsstreit ist ein Streit um politische Zukunftsgestaltung. Ulrich Beck hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Zentrum dieses Deutungsstreites die Frage nach Gleichheit/Ungleichheit steht. »Das Weltbild der natürlichen Gleichheit der Menschen kippt in das Weltbild einer durch Naturkatastrophen erzeugten natürlichen Ungleichheit der Menschen.« (aaO. 25). Globale Ungleichheit, gesellschaftlich erzeugte globale Ungleichheit erhält durch Naturkatastrophen eine neue Legitimation: die Natur selbst. Wird durch die westliche Kultur einerseits die Idee der Gleichheit aller Menschen (verbunden mit der Französischen Revolution und ihren Idealen) globalisiert, globalisiert der vor allem westliche produzierte Klimawandel die Ungleichheit und legitimiert sie als natürlich – so Ulrich Beck.
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
der Natur bricht gewaltsam durch und vernichtet alles, was ihm in Wege steht«.62 Die Hemmung erscheint damit als menschlich-moralisches Handeln, der gewaltsame Gang der Natur aber als rein natürliches Geschehen ohne menschlichmoralische Verantwortlichkeit. Die Zuweisung von Verantwortlichkeit an die Herrscher entlastet damit moralisch die Revolutionäre, aber lässt die Revolution doch nur als Zerstörung und Gewalt erscheinen. Im Laufe der Zeit wechselt die Naturmetapher die politische Seite; nun dient die Rede von geschichtlichen Ereignissen als Naturkatastrophen der konservativ-restaurativen Argumentation, z. B. bei Metternich63 oder überhaupt bei Kritikern wie bei Friedrich Schlegel: »Man kann die Französische Revolution als das größte und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermessliche Überschwemmung«.64 Hegel und andere kritisieren dann grundsätzlich die Naturmetaphorik für menschliche Geschichte, weil Natur nur zyklische Wiederkehr des Gleichen sein könne, aber nie wirklich Neues schaffe. Die Geschichte dagegen bringe wirklich Neues hervor; das und nur das seien Revolutionen. Diesen politischen Revolutionen gehen aber immer Revolutionen im Geiste vorher; Revolutionen entspringen also neuen Gedanken, also der Philosophie.65 Das zweite semantische Feld von Revolutionsdeutung bezieht sich auf Krankheit. Zuerst führen es deutsche Anhänger der Französischen Revolution ein, um die mit der Revolution einhergehenden Kämpfe und Krisen als notwendigen Teil des Gesundungsprozesses zu legitimieren. Diese Bildmetaphorik eignen sich aber dann restaurative Kritiker an, um das Fremdartige und Störende der Revolution auszudrücken. Bis zu Krebsschaden und Pest reicht die Palette der Krankheiten, mit denen die Revolution da abwertend verglichen wird.66 Die Revolution kann aber auch als heilendes Eingreifen zugunsten des kranken Staatskörpers gedeutet werden67 , sie rückt damit in die Rolle des Arztes ein. 62
Fichte: Zurückforderung der Denkfreiheit, 6. Fichte verbindet damit die Forderung, »die Dämme, die man noch immer, jenes Schauspiel vor den Augen, anderwärts dem Gange des menschliches Geistes entgegensetzt, zu lüften, damit er sie nicht gewaltsam durchbreche, und die Fluren umher schrecklich verwüste« (ebd.). Ein hinreißend pathetischer Text, ein begeistertes Bekenntnis zu den Menschenrechten: »So ist es z. B. ewige, menschliche und göttliche Wahrheit, dass es unveräusserliche Menschenrechte giebt, dass die Denkfreiheit darunter gehört« (aaO. 19). 63 Vgl. dazu Losurdo: Kategorien der Revolution, 100. 64 Schlegel: Fragmente, in: Stammen / Eberle (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution 1789–1806, 403. 65 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. v. G. Lasson, Hamburg 1968, 920 ff. Hegel widmet ein eigenes ausführliches Kapitel der französischen Revolution und ihren Folgen. Auch er interpretiert sie so, dass sie »im Gedanken ihren Anfang und Ursprung genommen« habe. »Der Gedanke, der allgemeine Bestimmungen als das Letzte annimmt und das, was da ist, im Widerspruche mit ihnen findet, hat sich gegen die daseienden Zustände empört« (aaO. 920. 66 Vgl. Losurdo: Kategorien der Revolution, 111 f. 67 Vgl. dazu Eke: Signaturen der Revolution, 180.
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Neben den Metapherfeldern sind die Leitaspekte, unter denen die Revolution diskutiert wurde, erhellend für die Art ihrer deutschen Rezeption. Humboldt gehört zu den ersten, welche nach dem Verhältnis von allgemeiner Vernunft zu Geschichte fragten und inwiefern die Vernunft – und die Philosophie – gestaltend auf die Geschichte einwirken können. Insbesondere wird danach gefragt, inwieweit die Revolution auf die Aufklärung zurückzuführen sei: »Die Klagen, daß die Aufklärung Revolutionen hervorbringe, sind so ungestüm und so allgemein, daß es nicht unnütz scheint, eine Untersuchung über die Wahrheit und Rechtmäßigkeit derselben anzustellen.«68 Konservative Denker machen aufklärerische Philosophen und Literaten für die Revolution und ihre Gewaltauswüchse verantwortlich. Deren öffentliche Diskussion über Fragen staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung hätten volksaufhetzend gewirkt. Aufklärer werden im Nachhinein damit als Demagogen wahrgenommen bzw. diffamiert.69 Dabei werden den Aufklärern z. T. auch unlautere Motive unterstellt, durch den Kampf um Freiheit und Gleichheit eigentlich nur Freiheit zum Ausleben der sinnlichen Begierden zu erstreben oder aus sonstigem Eigennutz zu handeln. »Das Vorstellungsmuster, in dem dieses vom Feindbild des Aufklärers her bestimmte Denken kreist, ist einfach: ist der Staat reformierbar, lässt sich keine dringende Unumgänglichkeit umfassender Veränderungen des status quo begründen, braucht es mit anderen Worten keine Revolution; ist diese objektiv nicht notwendig, kann sie nur durch das subjektive Wollen einiger weniger eingeleitet und mit Hilfe der Literatur verbreitet worden sein; sind es nur Einzelne, die am Umsturz des Staates arbeiten, bedarf es lediglich geeigneter polizeilicher Maßnahmen, um Ruhe und Ordnung im Staat wieder herzustellen oder zu sichern.«70 Auch die religiöse Frage nach dem Wirken Gottes in der Geschichte beschäftigte die Geister; als Beispiel sei der begeisterte Revolutionsanhänger Klopstock zitiert: »Übrigens kenne ich keinen mächtigern Beweiß des Daseyns einer weisen Vorsehung, als die Geschichte politischer Revolutionen. Solche Kräfte in solchem Kampfe, und dennoch am Ende sichtbarer Gewinn an Weisheit und Humanität, wahrlich! da waltet kein blindes Ungefähr.«71 Kirchliche Deutungen wiesen ein weites Spektrum auf. Es gab eine harsche Verurteilung der Französischen Revolution mit ihren Freiheitsidealen, insbesondere eine Verurteilung der Revolutionsbegeisterung innerhalb Deutschlands. Infolgedessen konnten einzelne katholische Ordenspriester die französischen Kriege dann auch als göttliche Strafe für diese Revolutionsbegeisterung und als Mittel 68 Bergk: Bewirkt die Aufklärung Revolution? (1795), in: Stammen / Eberle (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution 1789–1806, 338. 69 Einzelnachweise bei Eke: Signaturen der Revolution, 65–84. 70 Eke: Signaturen der Revolution, 77. 71 Klopstock: Meine Meinung über die Revolution (1796), in: Stammen / Eberle (Hg.): Deutschland und die Französische Revolution 1789–1806, 346.
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
zur Bekehrung von dieser interpretieren.72 Es dominierte jedoch auf katholischer Seite das Deutungsmuster »göttliche Prüfung« zur Erziehung der Gläubigen hinsichtlich der Revolutionskriege. Der Krieg solle die Hinfälligkeit aller irdischen Güter aufzeigen und so die Seelen bereiten für die wahren, ewigen Werte.73 Auf protestantischer Seite fanden sich eher Aufrufe zur Nächstenliebe, um solidarisch den Mitbürgern beizustehen oder sogar sein Leben für sie zu lassen in der Nachfolge Jesu Christi. Der Opfertod im Krieg konnte dabei als höchste Form der Nachfolge propagiert werden. Der Bezug zur Revolution spielte dann theologisch keine Rolle mehr. Als einen entscheidenden Umbruch im Verhältnis von Gedanke und Wirklichkeit deutet Hegel74 die Revolution: »Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut«.75 Darin klingt eine Zurückweisung des Kantischen Bildes von der Kopernikanischen Wende hinsichtlich der Erkenntnistheorie an;76 das Neue betrifft die Haltung, die Fortbewegungsart des Menschen selbst. Die in allen Deutediskussionen präsente Frage aber lautet, wie eine Revolution in Deutschland zu vermeiden sei bzw. was man aus der Französischen Revolution zu lernen habe. Neben klaren Extrempositionen bildet sich eine mittlere, breit geteilte Auffassung heraus, welche eine eher konservative oder eine liberale Tendenz annehmen konnte: Nur durch Reformen von oben kann eine Revolution von unten verhindert werden. Stellvertretend sei Herder zitiert: »Mein Wahlspruch bleibt also fortgehende, natürliche, vernünftige Evolution der Dinge; keine Revolution. Durch jene, wenn sie ungehindert fortgeht, kommt man dieser am sichersten zuvor; durch jene wird diese unnütz und zuletzt unmöglich.«77 Mit diesem Leitgedanken ist ein politisches Spannungsfeld eröffnet zwischen »systemstabilisierender Modifikation und systemöffnender Transgression«.78
72
Ausführlich dazu Planert: Der Mythos vom Befreiungskrieg, 511–523. Vgl. aaO. 514. 74 Zu Hegels vielschichtiger Deutung der Französischen Revolution siehe Losurdo: Hegel, die Französische Revolution und die liberale Tradition. 75 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 529. 76 Diese einleuchtende Interpretation vertritt D’Hondt: Französische Revolution und Hegelsche Dialektik, 254. 77 Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, 332. 78 Eke: Signaturen der Revolution, 186. Eke führt diese Mittelposition ausführlich vor am Dramenfragment von Johann Wolfgang Goethe: Die Aufgeregten, das 1793 entstand. 73
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2. Die Bedeutung der Revolution für Schleiermacher – ein Forschungsstreit79 Schleiermachers Wendung zum Frühromantikerkreis kann nicht nur als biographischer Zufall oder als Konsequenz seiner Sehnsucht nach Freundschaft und Geselligkeit gewertet werden, sondern auch als Ausdruck einer geistigen Orientierung.80 In diesen Kontext stellt Nowak auch die »Reden über die Religion«: Es handelt sich dabei um eine Neuinterpretation des Revolutionsimpulses, der inhaltlich und räumlich ausgeweitet wird: »auf eine neue Sicht des Weltganzen aus dem Geist der Religion hin; [. . . ] Überbietung ihrer lokalen Geltung hin auf universale Geltung«81 Dilthey urteilt über das Ende der frühromantischen Phase bei Schleiermacher: »Der Staat des Gedankens war zertrümmert . . . Nun gewährt ein gütiges Geschick Schleiermacher, in dem großen Gange der öffentlichen Angelegenheiten einzustehen mit seiner Person für die Existenz des Staats und die Verwirklichung seiner Ideals in ihm.«82 »Wo fortan Schleiermachers Stellung zur französischen Revolution zur Sprache kam, geschah es fast durchweg nebenher und oft genug nur im kontrastierenden Blick auf die Jahre nach 1806/07.«83 Eine andere Deutung der Umformung des Revolutionsimpulses vertritt Siegfried Keil: »daß Schleiermacher von seinen polaren Prinzipien der Gleichheit und der Individualität her Gedanken ableitet, die bereits in der Aufklärung auftauchen und in dem politischen Programm der Revolutionen seit der Gründung der Vereinigten Staaten und der französischen Revolution immer wieder als Forderungen erhoben wurden. Doch während diese Vorstellungen von Demokratie und Pluralismus, Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit in den weltlichen Bereichen von Staat und Gesellschaft noch hart umstritten und umkämpft wurden und im Zeitalter von Restauration und Heiliger Allianz in Kontinentaleuropa noch einmal für eine ganze Epoche unterdrückt werden konnten, möchte Schleiermacher diese Grundsätze in dem eigentlich kirchlichen Leben, das von politischem Kalkül frei ist, verwirklicht sehen«.84 Entscheidend ist die Begründung Keils: »Für ihn ergeben sich die Grundzüge dieses Denkens aus dem Zentrum des christlichen Glaubens. Darum drängen sie zunächst dort auf Realisierung, wo dieser Glaube in der Gestaltung des Zusammenlebens frei ist, eben in der Gemeinschaft der Gläubigen untereinander.«85 Wolfes sieht als Inbegriff der Revolutionsdeutung Schleiermachers den Freiheitsgedanken in der Gestalt der republikanischen Freiheitsidee in Abgrenzung zum Ancien Regime. Diese 79
Vgl. den sehr guten Überblick in: Nowak, Französische Revolution, 103–114. So auch Nowak: Französische Revolution, 118. 81 AaO. 119. 82 Dilthey: Leben Schleiermachers, 541. 83 Nowak: Französische Revolution, 108. 84 Keil: Christliche Sittenlehre, 338. 85 Ebd. 80
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
Zuspitzung hat keinen Anhalt an den diesbezüglichen Texten, und Wolfes nennt auch für seine Deutung keine Belegstellen, so sehr er die frühen Äußerungen Schleiermachers zunächst im Einzelnen erörtert hat. Den Textbelegen lässt sich nur folgendes zuverlässig entnehmen: a) Schleiermacher deutet die Französische Revolution insgesamt positiv. b) Schleiermacher hat ein hochemotionales Verhältnis zur Französischen Revolution. c) Die Französische Revolution ist für ihn nicht nur ein einzelnes geschichtliches Ereignis, sondern hat universale menschheitsgeschichtliche und lebensbestimmende Bedeutung. d) Trotzdem deutet er die einzelnen geschichtlichen Details und Umstände differenziert und mit klaren, nüchtern reflektierten ethischen Maßstäben. Die Zentrierung auf die Freiheit in der Deutung Wolfes hat aber eine elegante Interpretationskraft, insofern damit einerseits die politische Kontinuität im Denken und Wirken Schleiermachers ausgesagt werden kann, andererseits auch die preußisch-nationale Ausrichtung mit dem Menschheitsdenken kraftvoll vereint werden kann. In Worten von Wolfes: »Der Freiheitsgedanke als politisches Prinzip ist das verbindende Element zwischen den Ideen von 1789 und der politischen Ideenwelt des jungen Schleiermacher. Am Freiheitsgedanken als einem weltanschaulichen Leitprinzip hat Schleiermacher zeitlebens festgehalten. Ohne lebendige Freiheit kann es für ihn auch eine politische Kultur nicht geben. Sein Ideal einer freiheitlichen Staatsbürgergesellschaft war inspiriert vom revolutionären Geschehen«.86 Entscheiden lässt sich das erst durch die Untersuchung der theoretischen Texte, insbesondere der Staatslehre-Vorlesungen. Diese Vorlesungen sind dann in drei Hinsichten zu befragen: 1. In welchen Kontexten und wie spricht Schleiermacher explizit über die Französische Revolution? 2. Wie wird das Thema Revolution und Staatsveränderung ganz allgemein behandelt und bewertet? Dabei wird sich herausstellen, so die These, dass die drei oben (S. 36) genannten Haltungen Schleiermachers sich auch in den Vorlesungen durchhalten: Grundlegende Bejahung der Französischen Revolution, scharfe Ablehnung der Gewalttaten in ihrem Gefolge, Ablehnung einer Revolution für Preußen. 3. Die Französische Revolution in Schleiermachers Vorlesungen zur Staatslehre Die Nähe der Revolutionen und den Kampf der Parteien nimmt Schleiermacher in der Vorlesung zur Staatslehre von 1829 ausdrücklich als den geschichtlichen Kontext seiner Staatstheorie wahr. Dieser spezifische Kontext beeinflusst die Theorie ganz grundsätzlich, insofern schon eine bestimmte Form von Staatslehre, nämlich eine »Kunstlehre für die Staatsleitung« durch sie unmöglich werde.87 Erklärtes Ziel seiner Theoriebildung ist es, Einfluss zu nehmen und richtiges Handeln der Einzelnen zu ermöglichen. Die Theorie dient dabei nicht 86 87
Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 127. Vgl. Staatslehre 1829 69.
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der Formulierung von Handlungsimperativen oder Handlungsnormen, sondern dem Verstehen der Natur des Staates. Wie dabei der Weg vom Verstehen zum kompetenten Handeln zu beschreiten ist, lässt Schleiermacher hier offen; auch insofern intendiert er eben keine »Kunstlehre«. Im Folgenden dient ihm die Französische Revolution als erstes Anwendungsbeispiel, damit als eine Art konkrete Gegenprobe, für die Erklärungskraft seiner Staatsdefinition, welche besagt, Staat sei das Gegebensein eines Gegensatzes von Herrschenden und Beherrschten. Bezogen auf die Französische Revolution eröffnet das zwei Deutungsmöglichkeiten: in der ersten Deutung erscheint die Revolution als Veränderung in der Form des herrschaftssoziologischen Gegensatzes, wobei die Formveränderung des Gegensatzes nicht die Gegebenheit des Gegensatzes überhaupt aufhebt oder tangiert. In der zweiten Deutung erscheint die Französische Revolution als ungenügend ausgeprägter Gegensatz, insofern die »mit einseitiger Willkühr übernommene Gewalt«88 nicht zu einer stabilen Anerkennung führte. Somit erfährt die Französische Revolution hier eine rein formale Analyse, die zudem noch zwei gegensätzliche Deutungsmöglichkeiten offenlässt. Den Analysegesichtspunkt bestimmt Schleiermacher als die Staatlichkeit. Zugleich eröffnet Schleiermacher in der Eingangssequenz den doppelten Horizont seiner Ausführungen: das ist zum einen die Gegenwart von Revolutionen und Parteienkämpfen, Frankreich, England, Preußen usw. mit ihren jeweiligen Deutungen. Das ist zum anderen die antike Staatslehre bezogen auf die griechischen Stadtstaaten, v. a. Platon und Aristoteles. Im Folgenden seien einige der Kontexte benannt, in denen sich Schleiermacher auf die Französische Revolution oder Revolution überhaupt bezieht. Als Referenztext dient das eigenhändige Manuskript Schleiermachers für die Vorlesung von 1829. In allen diesen Bezugnahmen verwendet Schleiermacher die Französische Revolution als geschichtliches Beispiel für allgemeine Thesen. Die Französische Revolution wird dabei an keiner Stelle als ein eigenes Thema reflektiert, sondern jeweils nur nebenbei in einem einzigen Aspekt. 1. Die Differenz von Völkern innerhalb eines Staates: »Unterjocht der Oberbefehlshaber die sich lösen wollenden Unterbefehlshaber (französischer Weg) so entsteht die Monarchie aber mit militärischem Uebergewicht und dann fängt die Reaction gegen dieses von unten an (Darstellung der französischen Revolution als der Tendenz den Unterschied zwischen Franken und Galliern aufzuheben.) und die militärische Form geht zulezt verloren, indem die arbeitende Masse zugleich die kriegerische Function ausübt.«89 Hier also beschreibt Schleiermacher, wie aus einem Kriegsstaat ein sich selbst ernährender Staat (wieder) wird. So sieht er die europäische Völkerwanderung als Phase von Kriegsstaaten 88 89
Staatslehre 1829 70,4f. Staatslehre 1829 90,6–12.
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an, welche sich auf verschiedene Weise in sesshafte und bodenorientierte Staaten wandeln. In Frankreich geschieht das durch Unterdrückung, woraus Widerstand hervorgeht. Etwas unvermittelt bringt er dann in Klammern den Gedanken ein, dass die Französische Revolution mit dem Problem des Verhältnisses von Franken und Galliern zu tun habe. 2. Konflikt zwischen föderalistischer und zentralistischer Ausrichtung im Staat: Schleiermacher beschreibt in diesem Abschnitt allgemeine Entwicklungsgesetzmäßigkeiten von Staatstypen. »Insofern ein Staat im Schwanken zwischen beiden Tendenzen begriffen ist giebt es in ihm einen Kampf zwischen Föderalisten und Centralisten wie er in der französischen Revolution bestand und auch in amerikanischen Staaten sich findet.«90 Auch hier dient die Französische Revolution als Anschauungsbeispiel und zugleich Bewährungsfall seiner abstrakten Erklärungsprinzipien. 3. Revolution als ein möglicher Ausgang eines unbewältigten Konfliktes: Im Staat kann es einen Konflikt geben zwischen Privatinteressen und Gemeinwohlinteresse. »Denken wir aber den Conflict entstanden und fortwirkend so werden wir nach der verschiedenen Stärke desselben die verschiedensten Resultate entstehn können. Der Staat kann fortbestehn in mancherlei Annäherungen zur Revolution fortkränkelnd; es kann sich ein Theil loslösen. . . «91 Revolution versteht Schleiermacher hier als Resultate eines ungelösten Konfliktes. Sie wird in das semantische Feld von Krankheit eingeordnet. Revolution erscheint als verschärfte Krankheitserscheinung eines Staates. Damit greift Schleiermacher ein verbreitetes zeitgenössisches Deutungsmuster auf, wie oben gezeigt wurde. 4. Krieg als Hemmnis des Kulturprozesses und als Notwendigkeit für den Staatserhalt: Denkt »man einen Krieg wie zur Zeit der französischen Revolution, wo sich halb Europa gegen diesen inneren Entwiklungsproceß bewaffnete ein Aufstehen in Masse – so war hier doch kein ruhiger Fortschritt des Culturprocesses zu denken weil die Existenz des Staats Gefahr lief.«92 Diese höchst differenzierte Sicht fügt Schleiermacher seinen Überlegungen zur Gestaltung kriegerischer Verteidigung ein, bei der er den Grad der Beteiligung der Bevölkerung diskutiert im Unterschied dazu, einen Krieg nur durch ein Söldnerheer führen zu lassen. Die Französische Revolution mit ihren Folgeerscheinungen gefährdete europäische Staaten einschließlich des preußischen Staates. Die Französische Revolution drückt aber zugleich auch einen inneren Entwicklungsprozess aus; sie wird dadurch von Schleiermacher in geschichtliche Entwicklung eingeordnet und als ein solcher Entwicklungsausdruck auch affirmiert. Im weiteren Kontext stellt Schleiermacher verschiedene Relationen her zwischen Differenzen bezüglich staatlicher Entwicklung und Krieg. Bestehen Dif90
Staatslehre 1829 98,32–99,3. Staatslehre 1829 103,31f. 92 Staatslehre 1829 Willich 746,5–8. 91
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ferenzen zwischen Bevölkerungsteilen hinsichtlich der gewünschten Entwicklungsgeschwindigkeit des eigenen Staates, entsteht ein Bürgerkrieg, in dem sich das stärkere Anliegen durchsetzt. Bestehen zwischen Staaten Differenzen in der Entwicklungsgeschwindigkeit, kann das zu Eifersucht und in der Konsequenz zu Krieg führen. Einzig letzteren Kriegsgrund verurteilt Schleiermacher eindeutig als falsch. Die Eifersucht sollte stattdessen zu einer Beschleunigung bei der eigenen Staatsentwicklung antreiben. Was ist diesen Erwähnungen der Französischen Revolution in Schleiermachers Manuskript zu entnehmen? Schleiermacher bewertet an keiner solchen Stelle die Französische Revolution negativ, aber ebenso wenig bewertet er sie positiv, er behandelt sie schlicht als vergangenes geschichtliches Ereignis, ohne sich zu einer direkten politischen Stellungnahme veranlasst zu sehen. Die Thematisierung der Französischen Revolution dient immer der historischen Veranschaulichung einer abstrakten Theorie sowie der Bewährung dieser Theorie an diesem historischen Ereignis. Sie erscheint unter dieser Perspektive als ein geschichtliches Ereignis, dessen kausale Faktoren sich erklären und benennen lassen. Ihr kommt keinerlei geschichtlicher Sonderstatus zu; von der Hypostasierung der Revolution in den »Reden« ist keine Spur mehr erhalten. Betont nüchtern, ja unbefangen behandelt Schleiermacher dieses Thema, so sehr auch deutlich wird, dass die Französische Revolution eines der prägenden Ereignisse der Epoche ist und daher einen der Referenzpunkte jeder politisch-geschichtlichen Theorie bilden muss. Theoretisch viel interessanter gestaltet sich Schleiermachers grundsätzliche Beurteilung von Revolution und Widerstand gegen einen je bestimmten Staat. Im jeweils dritten Teil seiner Vorlesungen, die er Staatserhaltung oder Staatsverteidigung nennt, kommt das zur Darstellung. Diese Verortung bestimmt von vornherein die Perspektive: in der Staatsverteidigung müssen die Überlegungen darauf zielen, wie sich ein jeweils bestimmter Staat in seiner Staatlichkeit erhält, wie er sich gegen Angriffe von innen und außen bewahrt. Anders als in der christlichen Sitte kommt nicht die Perspektive der einzelnen Staatsbürger, nicht die Perspektive der Beherrschten zur Geltung. Daher fehlt auch die Erörterung eines Widerstandsrechtes oder ähnliches. Diese Perspektive aus Sicht des bestehenden Staates und damit der bestehenden Regierung drückt sich bis ins Terminologische aus. »Antipolitische, anarchische Elemente«93 seien die Gefahr von innen für den Staat. Innerhalb dessen kann man in der Reihe der Vorlesungen von 1817 bis 1833 eine klare Entwicklung in der Art der Äußerung feststellen: von einer relativen Offenheit für revolutionäre Anliegen und gewisser Regierungskritik bis hin zu einer klaren Verurteilung jedweder revolutionärer Bewegung und einem artikulierten Verständnis für staatliche Maßnahmen dage93
Staatslehre 1817 Varnhagen 354,38.
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gen. Diese Entwicklung in der Äußerung braucht nicht allein oder vornehmlich inhaltliche Gründe haben; auch die Vorsicht bei öffentlichen Äußerungen und das geistige Klima unter den Studierenden, insbesondere auch die Wahrnehmung der jeweiligen Verfasser der Mitschriften kann einen wesentlichen Faktor darstellen. 1817 behandelt Schleiermacher erstaunlich ausführlich die verschiedenen Staatsformen, deren Übergänge und Eigenarten. Hinsichtlich der Übergänge zwischen verschiedenen Staatsformen analysiert er, was geschieht, wenn sich eine große Aristokratie weiterentwickelt. Im guten Fall fördert der Herrscher die Entwicklung der Untertanen und des Staates; daraus entsteht dann mit der Zeit eine »zusammengesetzte representative Verfassung«.94 Im anderen Fall vernachlässigt der Herrscher diese seine Herrschaftsaufgaben und wird entweder despotisch oder verfällt sittlich. Das führe zu einem revolutionären Zustand. Damit wird eindeutig die schlechte Amtsführung von Herrschern für das Entstehen von Revolutionen verantwortlich gemacht. An dieser Stelle trägt Schleiermacher seine Revolutionsdeutung vor, die auf der Parallelisierung von Staatsbildung und Änderung der Staatsform basiert: wie ein Staat sich bilde, so ändere er sich auch. Die Parallelisierbarkeit dieser beiden Phänome wurde vor allem vom vertragstheoretischen Entwurf Lockes zur Geltung gebracht. Diese Parallelisierung spielt Schleiermacher für seine eigene Staatsgründungstheorie durch sowie für drei andere Staatsbegründungskonzepte. Schleiermacher zielt auf einen auffälligen Vergleichspunkt: beides seien unbewusste Prozesse.95 Die Kategorie »unbewusst« impliziert bei dieser Verwendung laut Kontext die Abwesenheit von Planung oder zumindest effektiver Planung; es impliziert aber gerade nicht die Abwesenheit von Einsicht und Verstehen. Denn Einsicht ist gerade Ursache von revolutionärem und darin unbewusstem Handeln: die Einsicht in die nicht mehr gegebene Staatlichkeit des gesellschaftlichen Zustandes. Mit dieser Deutung revolutionären Handelns identifiziert Schleiermacher als Kausalursache revolutionären Handelns die vorherigen mangelhaften Zustände bzw. das persönliche Versagen des herrschenden Personals. Diese Ursachenbestimmung zentriert die Schuldfrage ganz auf die vorrevolutionären Zustände und deren Verantwortliche; den Revolutionären dagegen wird durch die unterstellte Planlosigkeit und Unbewusstheit eine Ursächlichkeit fast vollständig abgesprochen. Das bedeutet eine weitgehende Entlastung der Revolutionäre. Die Parallelisierung und damit Legitimierung revolutionären Umbruchs mit der Staatsbegründung wendet er nun an auf vertragstheoretische, auf gewalttheoretische und auf theologische Staatsbegründung. Sowohl innerhalb der Vertragsals auch der Gewalttheorie stellt eine Revolution nur die Umkehrung des Grün94
Staatslehre 1817 Varnhagen 276,8f. »Das Handeln der Revolution ist eben so unbewußt als der Ursprung des Staates« Staatslehre 1817 Varnhagen 276,30f. 95
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen
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dungsfaktums dar und ist genauso berechtigt wie das Gründungsfaktum, also der Vertrag oder die erste Gewalttat. Unterstellt man, der Staat gründe sich auf göttliches Recht, so verwirken Herrscher diese ihre göttliche Legitimation, »wenn sie aufhören, die Masse zu durchdringen, und die in der Masse hervorgehende sittliche Kraft ist dann ein ebenso göttliches Recht«.96 Die göttliche Begründung bleibt, aber wechselt sozusagen die Seite laut dieser Interpretation Schleiermachers. Anschließend an diese kausaltheoretische Deutung der Revolution schärft er ein, dass es zur Revolution nur eine einzige Alternative gibt: nicht Stillstand, sondern nur »Reformation auf dem gesetzlichen Wege«.97 Auch hier fungiert die Revolutionsdeutung also als Argument für die Forderung nach staatlichen Reformen. In welcher Perspektive aber erscheint die Revolution, wenn sie innerhalb der Staatsverteidigung thematisiert wird? 1817 reflektiert Schleiermacher zunächst die äußere Staatserhaltung, dann das Verhältnis des Staates zu Wissenschaft und Religion, sodann die innere Staatserhaltung gegen »anarchische Elemente« durch Polizei und Justiz. Ein starkes Plädoyer für die Freiheit der Meinungsäußerung durchzieht 1817 seine Ausführungen zum Verhältnis des Staates zu Wissenschaft und Religion. Expliziter Bezugspunkt der Argumentation bildet die Französische Revolution. Zwar haben Schriftsteller die Französische Revolution mit hervorgerufen und in ihrem Verlauf beschleunigt, aber diese Schriften seien erst durch die »aufrührerischen Volksredner«98 wirksam geworden – wofür die Schriften Rousseaus als Beispiel genannt werden. Daher sei die freie Meinungsäußerung innerhalb der Wissenschaft ungehindert zuzulassen; als solche sei sie für den Staat immer ungefährlich. Im Gegenteil sei es für den Staat vergeblich oder gar gefährlich, wenn er versuchte, hier hemmend einzuschreiten, insbesondere, wenn solche theoretischen Auffassungen sich schon über mehrere Staaten verbreitet hätten. Große Krisen des Staates stellen jedoch einen Sonderfall dar; in solchen Krisen können öffentlich geäußerte Meinungen eine große Wirkkraft entfalten. Wenn der Staat dann dagegen Maßnahmen ergreife, seien diese nie zu loben, »aber doch zu rechtfertigen«.99 Damit bezieht Schleiermacher klar Stellung gegen Zensurmaßnahmen; noch aber liegen die Karlsbader Beschlüsse in der Zukunft. Insgesamt urteilt Schleiermacher: »Die Äusserung der Meinung kann nie gefährlich werden, und der Staat mag sie immer frey geben; aber auf die Elemente der That soll er wachen und ihnen kräftig begegnen.«100 Ähnliches gilt dann auch für religiöse Lehren, die frei zu geben seien, aber für tätige »Ausartungen« müsse es umso mehr Strafen geben. Schleiermacher entfaltet von hier ausgehend 96
Staatslehre 1817 Varnhagen 276,43–277,1. Staatslehre 1817 Varnhagen 277,6. 98 Staatslehre 1817 Varnhagen 368,21. 99 Staatslehre 1817 Varnhagen 369,1. 100 Staatslehre 1817 Varnhagen 368,16–19. 97
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
einen interessanten Fall, in bemerkenswerter Offenheit: Wenn die Bevölkerung aber schon in einer grundsätzlichen Opposition zur Regierung sei, dann würden Strafen nichts mehr ausrichten können. Dann sei vielmehr der Fall eingetreten, dass die Regierung nicht mehr volksmäßig sei, womit eine Krise, »eine Art Revolution«101 entstände. Die Rechtmäßigkeit dieser Revolution oder die Handlungsoptionen in diesem Fall diskutiert Schleiermacher nicht weiter. Wenn Schleiermacher dann die Gefährdung durch anarchische Elemente im engeren Sinne behandelt, beginnt er mit einer auffallenden Grundsätzlichkeit: antipolitische Elemente gäbe es in jedem Staat, ohne Ausnahme. Auch in solchen Betonungen zeigt sich Schleiermachers Intention zu relativieren und geschichtlich einzuordnen. Die sogenannten antipolitischen Elemente differenziert Schleiermacher dahingehend, ob sie sich gegen Staatlichkeit als solche richten, also gegen den Rechtszustand überhaupt, oder ob sie opponieren gegen die jeweils bestimmte Staatlichkeit. Die Opposition gegen eine bestimmte Staatsform erklärt Schleiermacher mit dem Wunsch, ein Idealbild von Staat zu verwirklichen. Revolutionäre Bestrebungen klassifiziert Schleiermacher sittlich: es gibt die niedere und die edlere Form. Bei der niederen Form drückt sich im revolutionären Bestreben das »Verderben der Masse« aus.102 Für diesen Fall rechnet Schleiermacher damit, dass sich die wohlgesinnten Bürger zugunsten und mit der Regierung gegen die revolutionären Bestrebungen wenden. Um eine edlere Form handelt es sich, wenn der Widerstand damit zusammenhängt, dass die Regierung sich nicht gleichzeitig und gemäß der gesellschaftlichen Entwicklung mitentwickelt. In allen revolutionären Situationen stelle sich aber die Frage, »wer doch das eigentliche Recht hat, der welchen den alten Zustand fest halten will, oder der welcher ihn zu verändern sucht«.103 Das ist ein bemerkenswert offenes Wort, eine mögliche Rechtfertigung von Revolutionen. Das eigentliche Argumentationsinteresse Schleiermachers liegt innerhalb des Themas der inneren Verteidigung daran, gegen die Einschränkung der freien Meinungsäußerung und gegen die Institution der Geheimpolizei zu argumentieren. Die Geheimpolizei erscheint ihm als ein solcher politischer Fehler, dass er sogar sagen kann – wenn man dem Mitschreiber Glauben schenken darf –: »Niemals darf aber alsdann dies Institut [der Geheimpolizei, MR] gegen die eigenen Bürger gerichtet sein«,104 in Ausnahmefällen aber gegen ausländische Gastpersonen im eigenen Land. Als Argumentationsziel gibt er sich stets vor, die mangelnde Zweckhaftigkeit und dann die tatsächliche Schädlichkeit der Maßnahme in Anbetracht des Zweckes, für den sie eingesetzt werden, aufzuzeigen. So liefert er pragmatisch101
Staatslehre 1817 Varnhagen 369,27. Staatslehre 1817 Varnhagen 371,38. 103 Staatslehre 1817 Varnhagen 372,15 f. 104 Staatslehre 1817 Varnhagen 373,16f. 102
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen
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sozialpsychologische, politische Gründe dafür, keine Geheimpolizei einzusetzen und die Meinungsfreiheit nicht einzuschränken. Er plädiert aber an keiner Stelle zugunsten eines Rechtes auf freie Meinungsäußerung in einem prinzipiellen Sinne. Die Argumentationsperspektive ist fast durchgehend – wie schon beschrieben – die der Regierung und ihr staatserhaltendes Handlungsinteresse. Als eigenes Problem stellt er die Pressefreiheit dar. Auch hier benennt er die Französische Revolution als den Bezugspunkt der Diskussion. Die von der Pressefreiheit »gefürchtete Gefahr liegt in der Corruption der Sitte und Religion, und in dem anarchischen Element gegen den Staat«.105 Hier urteilt Schleiermacher sehr viel abwägender. Er macht auf die vielerlei Schwierigkeiten aufmerksam, die sich durch und bei einer Zensur ergeben. Zensur von Druckschriften verurteilt Schleiermacher nicht strikt; aber sagt dafür positiv: »In einem Staat, der auf der Annäherung zur Verfassung ist, und wo die öffentliche Meinung herrscht, scheint die Furcht vor Druckschriften ganz unnatürlich.«106 Auch hier zeigt sich seine Argumentationsstrategie, sich und die Hörer auf das intakte Funktionieren zu fokussieren einerseits, und andererseits vor scharfen Maßnahmen gegen bestimmte Gefahren zu warnen, weil diese erst die Gefahren verstärken und das Vertrauen in das funktionierende Gemeinwesen schwächen. Eine dafür besonders typische Formulierung lautet: »zugleich aber ist diese Maassregel [die Zensur, MR] die deutliche und gefährliche Erklärung, dass eine Gefahr vorhanden ist, zu deren Vermeidung mancher Staat die Freiheit der Presse lieber nicht aufheben wollte.«107 Festzuhalten bleibt: Schleiermacher tritt gegen eine Übersteuerung und Überregulierung von Seiten der Regierung ein zugunsten der Förderung von bürgerschaftlichem Vertrauen in den Staat und staatlicher Veränderung in Verbindung mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Obwohl er die Herrschaftsperspektive einnimmt, verurteilt er nicht grundsätzlich alle Revolutionen als illegitim. Er unterscheidet edle von niedrigen Formen revolutionärer Bestrebungen und hält explizit die Frage offen, wer bei einer Revolution das Recht auf seiner Seite habe: das bisherige System oder die revolutionäre Seite. Revolution kann also bei großen Fehlern und Versäumnissen der Herrscher ein legitimes Mittel zur Veränderung sein. Das wird schon 1817/18 etwas anders. Leider ist die Nachschrift von Goetsch erkennbar unzusammenhängender, mitunter ohne Einsicht in den Argumentationskontext und sprachlich unbeholfener. Statt vom antipolitischen Element spricht Schleiermacher hier vom widerstrebenden bzw. feindseligen Element108 , wie 1817, aber differenziert in Widerstand gegen Rechte anderer Bürger, damit 105
Staatslehre 1817 Varnhagen 373,19–21. Staatslehre 1817 Varnhagen 374,8–10. 107 Staatslehre 1817 Varnhagen 374,14–17. 108 Vgl. Staatslehre 1817/18 Goetsch 478. 106
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
gegen den Rechtszustand überhaupt und Widerstand gegen den Staat, meint gegen den konkreten Staat. Die Erörterung konzentriert sich ganz auf die Frage, ob eine Regierung dagegen lediglich abwehrende oder auch zuvorkommende Maßnahmen ergreifen solle. Schleiermacher legt dar, warum aus verschiedenen Gründen und in verschiedenen Situationen zuvorkommende Maßnahmen, also Geheimpolizei und Spionagewesen nach innen immer kontraproduktiv seien. Schlussfolgernd ist dann zu sagen: »Also wird das zuvorkommende Verfahren immer hemmend erscheinen müssen.«109 Ohne weitere Bewertung unterscheidet Schleiermacher zwischen den Fällen, in denen Herrscher und Beherrschte eins seien und Fällen, in denen sie im Gegensatz zu einander stünden. Dabei aber vertritt er eine dezidierte Theorie der politisch-rechtlichen Bedeutung von geistiger Bildung: ausgeprägte und breite geistige Bildung eines Volkes verhindere, dass Leidenschaften entstünden, welche sich gegen das Gemeinsame richteten. Damit bezeichnet er allgemein Straftaten. 1817/18 beginnt Schleiermacher seine Vorlesung mit einer Gegenwartsdiagnose, der zufolge alle seine Zeitgenossen »eine größere Theilnahme am Staat«110 hegen und »selbst denken und urtheilen wollen«.111 Dieses neue Interesse am Staat hänge damit zusammen, dass »alle Verhältnisse sich bedeutend geändert haben«.112 Schleiermacher klärt aus dieser diagnostizierten Motivationslage für das Interesse an Staatslehre, inwieweit der Einzelne überhaupt praktisch-politische Bedeutung habe für den Staat. Ob das Handeln von Einzelnen große Wirkungen erziele, hänge nicht an den Einzelnen selbst, sondern an einer »höhern Macht«.113 Trotz der geringen, bzw. völlig unkalkulierbaren Wirkung sollen die Einzelnen prinzipienorientiert handeln – um ihrer eigenen Würde willen. Einfluss aber hat im Staat die Einsicht des Einzelnen, seine Auffassung vom Staat. Das untersucht Schleiermacher im Folgenden für den Fall, dass Revolutionen ausbrechen oder ausgebrochen sind. Dabei entwickelt er in Ansätzen eine Revolutionstheorie. Er setzt sich dabei implizit mit der zeitgenössischen Deutung der Französischen Revolution auseinander, dass »willkührliche Ideale«114 für den Ausbruch der Revolution verantwortlich seien. Hierfür macht er eine Differenzierung geltend: die willkürlichen Ideale als solche seien nicht schädlich oder revolutionsverursachend, aber sie könnten dann revolutionäre Auswirkungen haben, wo ein Einzelner mit solchen willkürlichen Idealen »thätig seyn kann«.115 Diese revolutionären Auswirkungen sind aber nur dann möglich, wenn zuvor 109
Staatslehre 1817/18 Goetsch 480,12f. Staatslehre 1817/18 Goetsch 379,21. 111 Staatslehre 1817/18 Goetsch 379,24. 112 Staatslehre 1817/18 Goetsch 379,17. 113 Staatslehre 1817/18 Goetsch 380.32. 114 Staatslehre 1817/18 Goetsch 382,21. Mit diesem Begriff zielte man v. a. auf Rousseau und überhaupt auf die Philosophie der Aufklärung. 115 Staatslehre 1817/18 Goetsch 382,38. 110
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im Staate kaum Entwicklung statt gefunden hat, wenn eine dauerhafte »Vernachlässigung« herrschte. Schleiermacher arbeitet dabei mit einer interessanten Doppelmetapher: Als Unterbrechung von Ordnung, als Störung der bisherigen Ordnung stellt jede Revolution eine Krankheit dar; aber jede staatliche Ordnung, die sich nicht weiterentwickelt, erfährt den Tod durch Revolution. Revolution bedeutet sowohl Krankheit als auch Tod. Diese Metaphern klingen sinnverwandt, bezeichnen sie doch beide lebensverneinende Prozesse an lebendigen Organismen. Schleiermacher verwendet sie aber aus verschiedenen Perspektiven, wodurch sie zu polaren Metaphern werden, mit deren Hilfe Schleiermacher die Mehrdeutigkeit von Revolutionen zu veranschaulichen sucht. Als Krankheit erscheinen Revolutionen, insofern sie aus der Perspektive geordneten Staatslebens dieses in Unordnung bringen, und zu überwinden sind auf erneute Ordnung und Stabilität. Das ist aber die Perspektive einer abstrakten Ordnungsbetrachtung, losgelöst von der konkreten Staatlichkeit und der politischen Form. Den konkreten Staat aber hat die Metapher vom Tod im Blick: der schon sterbende, weil sich nicht entwickelnde Staat stirbt durch die Revolution, wodurch ein neuer Staat zum Leben ersteht. In dieser Metapher erscheint die Revolution als Ermöglichungsgrund eines neuen Staates und als Ende des schon sterbenden alten Staates. In der Krankheitsmetapher erscheint sie als gefährliches Phänomen, als eine zu überwindende Störung, die keine positive Qualität, sondern nur destruktives Potential hat: »Ein Gegensaz von unendlichen Reibungen und Zwiespalten; dies ist der Character der Revolution.«116 Schleiermacher sieht in der Revolution also eine ausgebliebene, notwendige Entwicklung, die zum Wesen des Staates gehört, nachgeholt. Insofern sind für die Revolution die vorherigen Zustände und Entwicklungsunterlassungen verantwortlich, und die Revolution selbst stellt einen notwendigen Prozess dar. Insofern die Revolution eine Aufhebung von Ordnung bedeutet, ist die Revolution in ihrer Form als Revolution ein krankhaftes Übel. Das bleibt für Schleiermacher eine unaufhebbare Spannung: So sehr sie inhaltlich gerechtfertigt und darin notwendig sein können, so sehr bleibt ihre Form krankhaft und verwerflich. Daraus leitet Schleiermacher an anderer Stelle Handlungsempfehlungen für Regierungen ab, wie sie Revolutionen vermeiden können, die doch immer »traurig«117 seien. Er schärft zuvor jedoch ein: »Fast alle Völker, die zur Verfassung gekommen sind, sind durch gewaltsame Mittel dazu gekommen.« Um diese Gewaltsamkeit zu verhindern, müsse Politik »darnach trachten die Verwaltung liberal zu machen, ferner die Opposition in der Meinung so zu mäßigen, daß keine gewaltsame Explosion entstehen«118 könne. Die oben skizzierte Analyse der Entstehung von Revolutionen dient Schleiermacher hier zur Affirmation 116
Staatslehre 1817/18 Goetsch 382,12f. Staatslehre 1817/18 Goetsch 417,30. 118 Staatslehre 1817/18 Goetsch 417,35–37. 117
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
von Verwaltungsreformen und Verwaltungsliberalisierung, wie sie in Preußen tagesaktuell diskutiert wurden. Damit bewegt er sich ganz im Gedankenduktus vieler Zeitgenossen: um Revolution zu verhindern, muss der Staat von oben Reformen vorantreiben, vor allem Verwaltungsreformen. 1829 behandelt Schleiermacher im Abschnitt über die Staatsverteidigung zunächst die Strafgerichtsbarkeit, also die Verbrechen gegen den Rechtszustand überhaupt, dann die Bestrebungen gegen den je bestimmten Staat (die antipolitischen Verbrechen) und als drittes die äußere Verteidigung. Bei den hier sogenannten »antipolitischen Verbrechen« zentriert sich Schleiermacher auf die Art des Gerichtsverfahrens, der anzuwendenden Gesetze und auf das Strafmaß. Er referiert distanziert, dass die Forderung herrsche – ohne zu sagen von wem –, dass die Richter hierbei um ihrer vollkommenen Unabhängigkeit willen unabsetzbar und unbeweglich sein müssten. Diese Forderung interpretiert er sozialpsychologisch, dass in ihr negative Erfahrungen oder die starke Angst vor solchen Erfahrungen sich ausdrücken. Insofern ein solcher Zustand, in dem solche negativen Erfahrungen sich bilden können, unerwünscht sei, sei auch ein Beharren auf einer solchen Forderung weder wünschenswert noch verständlich. Er plädiert dann für die Strafe des Exils – und gegen grausame Strafen, durch welche die Revolutionäre nur zu Märtyrern gemacht würden. Schleiermacher reflektiert ausführlich die Rolle des Staates, den er als eine personifizierte Größe beschreibt. So schreibt er dem Staat dabei einen »Trieb zur Rache«119 zu, »persönliche Gereiztheit, die Genugthuung fordert«120 in Analogie zur Situation einer ehrbeleidigten Person. Schleiermacher beschreibt das nicht denunzierend oder ironisierend, sondern mit der expliziten Intention, mit dieser Deutung staatliche Maßnahmen, genauer also: Regierungsmaßnahmen, verstehen zu können. Von dieser beschreibend-hermeneutischen Ebene wechselt er anschließend wieder zur Erwägung von Handlungsoptionen hinsichtlich der klugen Selbsterhaltung des Staates sowie seiner Würdigkeit.121 In diesen Gedankengang integriert hat Schleiermacher eine Definition von antipolitischen Verbrechen und deren weitere Differenzierung. Antipolitische Verbrechen »haben gewöhnlich ihren Ursprung darin, dass viele wünschen, entweder den Staat zurükzuführen in einen Zustand, der nicht mehr da ist – oder welche eine Entwiklung der größeren politischen Gleichheit im Staat auf einem ungesetzlichen Wege beschleunigen wollen, zu der der Staat allerdings einmal kommen wird.«122 Kühn und eigen mutet auch hier wieder an, dass Schleiermacher Revolution bzw. Gegenrevolution nicht durch Gegensätze im politischen Konzept oder in der Staatsauffassung erklärt, sondern ganz auf verschie119
Staatslehre 1829 Willich 738,40. Staatslehre 1829 Willich 738,41. 121 Vgl. Staatslehre 1829 Willich 739. 122 Staatslehre 1829 Willich 737,35–738,2. 120
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dene Optionen zur Reformgeschwindigkeit reduziert. Die politischen Inhalte und politischen Ziele erscheinen bei ihm als unstrittig; strittig allein ist im Staate die Geschwindigkeit, mit der sie sich verwirklichen und verwirklicht werden. Also nicht die Inhalte und die Richtung staatlicher Entwicklung stehen zur Diskussion und in Frage, sondern allein die Geschwindigkeit dieser Entwicklung. Schleiermacher reduziert so inhaltliche Unterschiede auf formale Unterschiede. In dieser Perspektive muss dann auch Schleiermachers Urteil der Französischen Revolution expliziert werden: die Inhalte und Ziele der Französischen Revolution sind gutzuheißen, stellen die Entwicklungsschritte des Staates dar; nur über die Geschwindigkeit dieser Prozesse kann man verschiedener Auffassung sein. 1833 erfolgt eine explizite Deutung der Französischen Revolution, welche genau diese Schlussfolgerung enthält und präzisiert: »In der Entwicklungsgeschichte zeigt sich aber häufig der Fall, daß unter der Form von Attentaten gegen den Staat das Naturgemäße erst zu Stande gekommen ist; so die Französische Revolution die Englische von 1688, die Unruhen in Sachsen.«123 Daher »geschieht es häufig, daß die natürlichen Änderungen auf diesem Wege erfolgen, was jedoch ein Zeichen eines Fehlers bleibt, und war der nicht da, würden alle Veränderungen richtiger zu Stande kommen.«124 Die Revolution von 1789, aber auch die Glorious Revolution werden als Ausdruck naturgemäßer Entwicklung gedeutet, damit grundsätzlich und im Ganzen positiv. Kritisch sieht Schleiermacher dagegen die Form dieser natürlichen Änderung, nämlich die Form der Revolution – so sehr er diese Kritik auch wieder relativiert, insofern das als geschichtlicher Normalfall einzuschätzen sei, dass die Änderung in Form des Ausnahmeereignisses stattfände. Es fällt auf, dass Schleiermacher hier nicht mehr explizit von Entwicklungsgeschwindigkeiten spricht, sondern eine direkte Wertung des Inhalts der Revolutionen vornimmt. Die Änderung selbst kategorisiert er als naturgemäß. Diese Redeweise impliziert, dass es nicht nur eine Natur des Staates gibt, sondern vielmehr auch eine Natur seiner Entwicklungsgeschwindigkeit. Auch hierin zeigt sich wieder, dass Staat und Staatlichkeit von Schleiermacher immer als Entwicklungsprozess konzipiert werden. Der Staat ist seine Entwicklung, und die Natur des Staates drückt sich in der Natur seiner Entwicklung aus. »Betrachten wir die Fortentwicklung der civilisirten Staaten, so geschieht sie theils in ruhigem Gange, theils durch anarchische Momente. Daß letzteres ungehörig ist, ist klar, und die Motive dieses Unterschieds darzulegen möchte unnöthig sein. Denn sie müssen eintreten, wenn die verschiedenen Elemente sich nicht allmählich einander nähern. So entstanden in England und Frankreich die Revolutionen durch das Festhalten an dem Alten, ja sogar positives Rückschreiten gegen das, was schon dagewesen war. In solchen Fällen ist über die Schuld 123 124
Staatslehre 1833 Waitz 940,41–941,1. Staatslehre 1833 Waitz 941,6–9.
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
der einzelnen handelnden Personen auf beiden Seiten nicht wohl zu richten. Ist die Bewegung entstanden, so ist es die natürliche Compensation für den gestörten Gang.«125 4. Fazit: Revolution als unaufhebbare Spannung zwischen Entwicklungsnotwendigkeit und Verwerflichkeit Die Revolution wird unter der Leitperspektive von Entwicklungsgeschwindigkeit diskutiert. Diese Perspektive auf die Französische Revolution entschärft und relativiert die Differenz politischer Optionen, denn nicht diese sind laut Schleiermacher strittig, sondern lediglich die Umsetzungs- bzw. Veränderungsgeschwindigkeit. Die mit der Revolution durchgesetzten Änderungen versteht Schleiermacher unproblematisch als natürliche Änderungen, genauer als natürlich anstehende Änderungen, die zur geschichtlichen Entwicklung gehören. Revolution als Ausdruck der natürlichen Entwicklung oder als Durchbruch aufgehaltener Entwicklung beurteilt Schleiermacher positiv. In dieser Hinsicht befördert sie anstehenden Fortschritt oder überwindet einen vom Herrscher verursachten staatlichen Verfallszustand. Als Form, als Staatsumsturz, als gewaltsames Handeln aber ist Revolution für Schleiermacher verwerflich. Revolution ist darin ein Übel. Aus dieser unaufhebbaren Innenspannung des Schleiermacherschen Revolutionsbegriffs ergibt sich für Schleiermacher nur ein konstruktiver Umgang: Regierungen müssen so handeln, dass es nicht zu Revolutionen kommt, weil die notwendigen Änderungen von der Regierung selbst eingeführt werden. Eine Perspektive für Bürgerinnen und Bürger formuliert er nicht; so ist keine Rede von einem Revolutionsrecht oder Widerstandsrecht in definierten Extremfällen. Überhaupt spielt das Revolutionsthema eine relativ geringe Rolle in der Staatslehre. Nur wenige Belegstellen finden sich direkt zur Französischen Revolution und die Ausführungen zur Revolutionsthematik im Allgemeinen fallen ziemlich knapp aus. Erkennbar bemüht sich Schleiermacher um eine relativierende Einordnung dieses Themas in jeweils umfassendere Theoriezusammenhänge. Wie verhält sich aber inhaltlich die Stellungnahme zur Revolutionen in der Staatslehre zu den ersten Äußerungen des jungen Schleiermacher? Für diese frühen Äußerungen war eine dreifache Differenzierung Schleiermachers herausgearbeitet worden: (1) Hochemotionale Bejahung der Französischen Revolution. (2) Scharfe Ablehnung der Gewalttaten in ihrem Gefolge, also z. B. der Enthauptung des französischen Königs, verbunden mit einer ganz grundsätzlichen Abscheu gegenüber Gewalt und »Barbarei«. (3) Ablehnung einer Revolution für Preußen und Forderung nach differenzierter Beurteilung der geschichtlichen Lage der einzelnen Staaten. – Nach wie vor lehnt Schleiermacher eine Revolution für Preußen ab. In ihrer Pragmatik zielen seine Staatslehrevorlesungen auf 125
Staatslehre 1833 Waitz 849,33–43.
III. Zeitgenössische Revolutionsdeutungen
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die Unterstützung der Preußischen Reformen. Auch in seiner Staatslehre verurteilt Schleiermacher alle Formen von nicht rechtlich sanktionierter Gewalt. Insofern Revolution Gewalt bedeutet, betrachtet Schleiermacher sie als verwerflich, lehnt er sie ab. Die Staatslehre selbst trägt Schleiermacher möglichst nüchtern und anti-pathetisch vor. Ihr erklärtes Ziel ist, alle Leidenschaft hinsichtlich politischer oder staatstheoretischer Angelegenheit zu dämpfen. Insofern kommt auch seine Darstellung der Französischen Revolution ohne explizites emotionales Engagement aus. Doch bejaht er durchaus die Französische Revolution sowie Revolutionen überhaupt. Wie auch in seiner Stellungnahme von 1793 führt er eine Unterscheidung ein, mit deren Hilfe er die positive Bedeutung der Französischen Revolution wie auch deren Negativität gleichermaßen aussagen kann. 1793 hatte er an der Französischen Revolution diese davon unterschieden, was Menschen aufgrund von Leidenschaft und überspannten Begriffen getan hätten, einschließlich der Enthauptung des französischen Königs. Indem er dieses verurteilte, konnte er seine »Liebe« zur Französischen Revolution festhalten. In den Staatslehrevorlesungen findet sich eine funktional identische Unterscheidung: Die Revolution als Beförderung notwendiger Entwicklungsschritte wird bejaht, während ihre Form als Staatsumsturz verneint und abgelehnt wird. Ob eine solche Fundamentalunterscheidung begrifflich wirklich durchführbar und sinnvoll ist, diskutiert er weder 1793 noch in den Staatslehrevorlesungen. Insgesamt hält Schleiermacher seine grundsätzliche dreifach differenzierte Stellungnahme zur Französischen Revolution von 1793 durch alle seine Vorlesungen zur Staatslehre durch. Seine Begründungsfiguren ändern sich, sowie die Intensität der Bewertung. In den Staatslehrevorlesungen – auch entsprechend der Gattung einer öffentlichen und überwachten Vorlesung – äußert er sich wesentlich nuancierter und skeptischer als in der Begeisterung der frühen Jahre. Damit ist gezeigt, dass Schleiermachers frühe Begeisterung für die Französische Revolution seine politischen und staatsphilosophischen Überzeugungen grundlegend geprägt hat und seine spätere Entfaltung einer philosophischen Staatslehre in Kontinuität zu den frühen Auffassungen stattfand bei allen Modifikationen und Differenzierungen. Eine noch weitreichendere These sei daran angeschlossen: Der Revolutionsimpuls wird von Schleiermacher ins Prinzipielle gewendet, insofern Bewegung und Veränderung in den Wesensbegriff des Staates aufgenommen werden. Durch diese Prinzipialisierung des Revolutionsimpulses wird dieser zugleich als konkreter Impuls entschärft. Die Revolutionserfahrung bestimmt somit grundsätzlich und schon auf formaler Ebene seinen Zugang zur Staatstheorie, denn Schleiermachers Staatstheorie wird von ihm programmatisch verstanden als eine Theorie staatlicher Veränderung. Seine Staatstheorie intendiert weder den Entwurf eines Idealstaates noch die Beschreibung von bestimmten staatlichen Zuständen, z. B. seiner Gegenwart, sondern will die Entwicklungsprinzipien von Staaten erfas-
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sen. Politik hat es für Schleiermacher mit der Gestaltung von Entwicklungsgeschwindigkeiten zu tun. Schleiermachers Staatslehre ist auf thematischer Ebene keine Theorie der Französischen Revolution, aber die wesentlichen Kategorien und Leitgesichtspunkte von Schleiermachers Staatslehre haben sich wesentlich an der denkerischen Erfahrung der Französischen Revolution gebildet. Darin ist Schleiermachers Staatslehre die theoretische Ausdrucksgestalt der Erfahrung der Französischen Revolution aus preußischer Perspektive.
IV. Staatstheoretische Debattenlage in Deutschland nach der Französischen Revolution 1. Der Revolutionsbegriff126 In seiner heutigen Bedeutung eines Aufstandes, der zu einem Wechsel der Verfassung eines Staates führt und mit Gewalt verbunden ist,127 ist der Revolutionsbegriff ein neuzeitlicher. Der Begriff in einem weiteren Sinne meint auch längerfristige Strukturwandelprozesse in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Beide Aspekte sind im Revolutionsbegriff aufeinander bezogen, denn »der geschichtliche Aspekt erläutert den politischen Zweck, und umgekehrt wird durch die politische Zielsetzung die geschichtliche Dimension erschlossen«.128 Die Verbindung aus handlungsanweisender Pragmatik und erkenntnisleitender Semantik macht die modernitätsspezifische Signatur des Begriffes aus. Vor der Französischen Revolution gab es beurteilungsperspektivisch differenziert drei Wortfelder für gewaltsame politische Unruhen: Aus der Perspektive der herrschenden Macht geurteilt wurden solche Unruhen als Tumult, Aufruhr, Empörung bezeichnet, oder lateinisch als turba, tumultus, seditio, rebellio. Die Perspektive der Akteure solcher Unruhen drückt sich aus in der Bezeichnung dessen, gegen was sich diese Unruhe richtet, also Tyrannis und Despotie. Eine neutrale Beschreibung liefern Begriffe wie Zwietracht, Bürgerkrieg, Wechsel, oder lateinisch discordia, bellum civile, motus. Mit diesen Begriffen bezog man sich auf das Recht und auf eine bestehende gemeinsame Rechtsordnung; in diese Tradition gehört der Begriff Revolution zunächst nicht. In der Spätantike bezieht er sich schlicht auf das Wegwälzen des Grabsteines vom Grab Jesu. Diese Bedeutung erhält sich nicht ins Mittelalter, in dem Revolution als ein astronomischer Begriff die Umdrehung der Gestirne um die Erde aussagt. Damit verbindet sich eine temporale Bedeutung, weil die Gestirnsbewegung auch 126
Zum Folgenden Koselleck: Einleitung Revolution. Durch die sogenannte Friedliche Revolution von 1989 ist der Begriff der Revolution auch weiter entwickelt worden. Zur Kennzeichnung von Ereignissen seit 1789 wird er aber nach wie vor in der oben genannten Weise verwendet. 128 Koselleck: Einleitung Revolution, 654. 127
IV. Staatstheoretische Debattenlage in Deutschland
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der Zeitmessung dient. Ab dem 14. Jahrhundert finden sich Übertragungen des Revolutionsbegriffes auf die politische Sphäre in der Bedeutung, dass auch im Politischen es sich um gleichförmige Prozesse handelt, dass es einen Kreislauf von Zuständen gibt. Erst in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung bezieht sich der Begriff auf geschichtlichen Wandel; der Begriff weitet sich auf alle menschlichen Bereiche aus; diese seien Revolutionen, Wandlungsprozessen unterworfen. Mit der Übertragung des Begriffs auf die Englische Revolution von 1688 in der französischen Sprache Mitte des 18. Jahrhunderts, zentriert sich die Bedeutung von Wandel auf den politischen Bereich. Dieser politische Wandel, den die Aufklärungsdenker erhoffen, soll durch eine geistige Revolution erreicht werden.129 In Frankreich wurde so »die Hoffnung auf einen friedlichen, vernunftgesteuerten Strukturwandel des Feudalsystems durch den Revolutionsbegriff zum dauerhaften Interpretament«.130 Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg erfährt daher auch gleich in Frankreich die öffentliche Deutung als »Revolution«. Diese spezifisch politische Bedeutung des Begriffs setzt sich nach der Französischen Revolution auch in Deutschland durch. Mit der Erfahrung der Französischen Revolution gewann der Begriff die Bedeutung eines Wandels, der grundsätzlich Neues schafft, der sich auf alle Lebensbereiche bezieht und der eine neue, bessere Zukunft einleiten soll. Religiös eschatologische Hoffnungen erhielten so eine geschichtlichpolitische Fassung. Der Begriff nötigt zu einer Stellungnahme und fungierte daher nach 1789 immer auch als Parteibegriff.131 Die spontane Zustimmung vieler Deutscher zur Französischen Revolution fällt gerade deswegen zunächst so euphorisch aus, weil die Französische Revolution als friedliche Revolution wahrgenommen und bewundert wird. Die Begeisterung in Deutschland verwandelt sich angesichts der Folgeereignisse; Abscheu vor den Gewalttaten bewegt das Empfinden. Die verschiedenen Verfassungsänderungen, die Herrschaft Napoleons wirken als rein willkürliche und zufällige Handlungen, welche ein Klima von Unsicherheit und Unordnung erzeugen. Die Ablehnung solcher als Willkür wahrgenommenen Politik überträgt sich auf die Theorieformationen politischer Philosophie, die verantwortlich für die geschichtliche Praxis gemacht werden: das ist Rousseau und mit ihm die ganze Tradition von vertragstheoretischer Staatsbegründung. Wer also in Deutschland sich entsetzte angesichts der französischen Staatsumstürze, der wandte sich auch ab von jeder Form von Vertragstheorie mitsamt ihren Charakteristika: das sind konstitutive Freiheitsrechte der Einzelnen, die Rede von Staatszwecken sowie naturrechtliche Begründungsfiguren. Nur wenn man 129
So Koselleck: Revolution IV, 719. Koselleck: Revolution IV, 720. Koselleck konstatiert, dass im französischen 18. Jahrhundert »Revolution« zum Modewort wird, zum Lieblingsbegriff kulturell-intellektueller Selbstverständigung. 131 So Koselleck: Einleitung Revolution, 656. 130
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theoretisch aussagte, dass der Staat nicht durch menschliches Handeln begründet worden sei, konnte man auch theoretisch und praktisch verneinen, dass Menschen das Recht der Revolution und des Umsturzes zukomme. So bildete sich in Deutschland nach 1800 allmählich und nach 1806 verstärkt die Denkalternative: entweder Vertragstheorie mit Revolution und Willkürgewalt im Gefolge oder antikontraktionelle Staatstheorien mit Ordnung in der Konsequenz. Auch und gerade liberale Denker wandten sich daher scharf gegen vertragstheoretische Begründungsmodelle und gegen starke Freiheitsrechte des Einzelnen – wie beispielhaft an Dahlmanns Entwurf vorgeführt werden wird. In der staatsphilosophischen Debatte kehrte sich damit das Plausibilitätsgefälle um: Nicht politische Ordnung war begründungspflichtig und individuelle Freiheit vorausgesetzt, sondern politische Ordnung und stabile Institutionen waren vorausgesetzt und Freiheit von ihnen her zu bestimmen und zu gewähren.132 Inhaltlich stand im Vordergrund der staatstheoretischen Debatten bis 1848 die Frage nach Einführung, Geltung und Gestalt konstitutioneller Verfassungen. Als Fokus dieser Debatten fungierte der Organismus-Gedanke und die mit ihm zusammenhängenden Metaphern. Diese Vorstellung vom Staat als Organismus muss bei Zeitgenossen solche tiefreichenden Evidenz-Erfahrungen ausgelöst haben, dass er in kurzer Zeit zur beinahe unumstrittenen Leit-Metapher der politiktheoretischen Verständigung und Selbstverständigung avancierte. Diese Metapher eignete sich auch, um große Emotionen auszulösen und zu binden. Als hinreichend offen und zugleich bestimmt genug konnte dieses Bild sehr verschiedene Anliegen bündeln und integrieren. In der Organismus-Metaphorik drücken sich gleichermaßen die oben erörterte Ablehnung von vertragstheoretischer Staatsbegründung wie auch von absolutistischen Ordnungsvorstellungen aus. Dieser Begriff »entsprach in seinem auf Zusammenhang und Zusammenwirken, auf Ausgleich und Überwindung von Antithesen und Antinomien zielenden Gehalt der durchaus evolutionären, auf mittlere Lösungen ausgerichteten Grundtendenz der verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland«.133 Die Organismus-Metapher impliziert dabei den lebendigen Zusammenhang der Teile untereinander und mit dem Ganzen, das aus all diesen Teilen besteht und doch mehr ist als deren Summe. Strukturell gelingt es mit diesem Bild, dem Einzelnen, v. a. den kleinen Einheiten eine hohe Bedeutung zu geben, die gerade mit einer hohen Bedeutsamkeit des Ganzen und Gemeinsamen harmoniert – und nicht konkurriert. Die konstitutive Funktion der kleinen Einheiten, z. B. der Familie für den Staat, konnte verbunden werden mit einer alle einzelnen transzendieren132 So auch für den englischen Bereich Tully: Locke in Contexts, 321: »Ever since the Reaction to the French Revolution and the attack on Lockean popular sovereignty by Burke and Bentham, there has been a widespread tendency to take political, social, and economic institutions as foundational and then to ask what forms of freedom are compatible with them.« 133 Böckenförde: Organ, 588f. Böckenförde ist aber ungenau in seiner Darstellung, insofern er Kant auch mit dem Begriff des Organismus gegen die Textbefunde in Verbindung bringt.
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den Staatsselbstzwecklichkeit. Diese Metapher impliziert aber auch Wachstum und Veränderung, also Wandelbarkeit des Politischen. Geprägt hat diese Grundvorstellung vom Staat als Organismus Immanuel Kant, wobei dieser freilich vom »organisierten Wesen«, und nicht vom »Organismus« spricht. In seiner »Kritik der Urteilskraft« schreibt Kant unter Anspielung auf die Französische Revolution: »So hat man sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat, des Worts Organisation häufig für die Einrichtung der Magistraturen u. s. w. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein«.134 Der Kontext ist folgender: In seiner Analytik der teleologischen Urteilskraft untersucht er Dinge als Naturzwecke und was diese ausmache. Ihnen ist es eigentümlich, dass sie im Unterschied zu Maschinen und menschlichen Handwerksprodukten, eine bildend-fortpflanzende Kraft haben. Das meint zunächst, dass die Teile sich wechselseitig hervorbringen und somit auch das Ganze hervorbringen. Die einzelnen Teile sind dann insofern nur um der anderen Teile und um des Ganzen willen da, welches wiederum überhaupt erst die Teile und ihre Verbindung ermöglicht und bestimmt. Ein »organisiertes Wesen« organisiert sich selbst – so Kant. In einer Anmerkung verweist dann Kant darauf, dass man mit Hilfe der Analogie dieser entfalteten Theorie der Naturzwecke Licht in ein anderes Phänomen bringen könnte, und spricht dann über die Französische Revolution. Entscheidend ist seine Erläuterung, die er im zitierten zweiten Satz der gespannten Leserin darbietet: Alles zielt auf die Relation zwischen Glied und Ganzem. Beide jeweils sind doppelt-bestimmt: das Glied ist Mittel für das Ganze und es ist zugleich Zweck in sich. Ebenso verdankt sich das Ganze der Existenz und dem Wirken der Glieder; zugleich aber bestimmt das Ganze auch die Glieder in ihrer Funktion und Stellung. Das ist also ein Modell wechselwirkender Harmonie, in der zwar jeweils sowohl dem Glied als auch dem Ganzen Selbstzwecklichkeit zukommt, aber gerade keine Unabhängigkeit. Neu an Kants Anwendung der Organismus-Vorstellung gegenüber weit älteren Vorstellung vom Staat als corpus erscheint der Fokus: nicht die Relation Glieder – Haupt ist entscheidend, sondern die Relation von Gliedern und Ganzem, genauer die Relation der Glieder untereinander in der Relation zum Ganzen.135 Diese Relationslogik in der Organismusvorstellung seit Kant legte sich in der staatstheoretischen Debatte in sehr verschiedener Weise politisch aus; ein gemeinsamer Grundbestand der theoretischen Explikation der Organismusvorstellung sei nachfolgend in drei Punkten benannt: 134 135
Kant: Kritik der Urteilskraft, 323 (§ 65). So die These von Böckenförde: Organ, 580f.
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1. Staat bezeichnet eine Personengesamtheit. Damit wird betont, dass jeder und jede im Staat Teil des Staates ist. Zugleich drückt sich darin auch der Gedanke der Volksbezogenheit des Staates (und der Staatsbezogenheit des Volkes) aus. Jeder und jede ist somit wesentlich für den Staat, unabhängig von der konkreten, spezifischen Aufgabe innerhalb des Staates. Diese Vorstellung hat eine Dynamik hin zu demokratischen Auffassungen, die jedoch meist ein ständisch geordneter Volksbegriff abbremst. 2. Staat meint eine Ganzheit, die auf ihren verschiedenen Teilen beruht. Familien, Gemeinden und andere Basisgrößen haben eine gewisse Eigenständigkeit und eine Eigenfunktion, die für das Ganze notwendig sind. Die Bedeutung der kleinen Gemeinschaften, vor allem der Familie für das staatliche Leben tritt damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit, gerade in Abgrenzung zu vertragstheoretischen Vorstellungen, welche das Individuum zur Basis des Staates erklären. 3. Der Staat ist als eine juristische und moralische Person zu denken. Der Staat ist also mehr als die Summe seiner Teile, wird damit gesagt. Außerdem zielt dieser Gedanke auf eine bestimmte Herrschaftsvorstellung, nämlich, dass der Herrscher nicht seinen Privatwillen vollzieht, sondern dem Eigenwillen, den Eigennotwendigkeiten des Ganzen entspricht. Auch der Herrscher ist Staatsorgan; er steht nicht über dem Staat, sondern ist Teil von ihm. Dem Staat eignet eine Selbstzwecklichkeit. Der Staat ist gerade nicht definiert durch bestimmte Staatszwecke, die ihn zugleich legitimieren und begrenzen, wie das in Vertragstheorien der Fall ist. Er ist wertvoll und sinnvoll in sich. Die vorgestellten Grundbedeutungen der Organismusmetapher konnten in den staatstheoretischen Debatten auf sehr verschiedene Weise ausgewertet und argumentativ verwendet werden. Nach diesem allgemeinen Überblick soll nachfolgend nun die staatstheoretische Debatte des Vormärz genauer untersucht werden. Im Folgenden sei zunächst die Vertragstheorie dargestellt und ihre Kritik durch Schleiermacher im Kontext der zeitgenössischen Kritik. Darauf folgt eine Darstellung der Theoriealternativen in den deutschen staatstheoretischen Debatten. Exemplarisch sei das dann untersucht an dem Entwurf Dahlmanns. Anschließend sei Schleiermacher in diese Debattenlage eingeordnet. 2. Auseinandersetzung mit der Vertragstheorie a) Einordnung der Vertragstheorie in die Naturrechtstradition Zunächst seien einführend zur Naturrechtstradition im Allgemeinen deren grundlegende Annahmen benannt. Mit Naturrecht bezeichnet man die Vorstellung, dass für alle Menschen als Vernunftwesen bestimmte Normen verbindlich sind, auch unabhängig und im Konfliktfall sogar gegen positives, geschriebenes Recht. In theistisch-religiösen Kontexten wird es mit göttlicher Urheberschaft begründet und stellt dann den Teil des göttlichen Gesetzes dar, der mit der natürlichen Vernunft von allen Menschen erkannt werden kann im Unterschied
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zum geoffenbarten Gesetz Gottes. Gott ist der Urheber und Richter dieses für alle Menschen zu allen Zeiten geltenden Gesetzes. Der geschichtliche Ursprung dieser Vorstellung liegt in der sophistischen Unterscheidung (5. Jhdt v. Chr.) von phýsis und nómos. Die ewige Ordnung der Natur soll die Grundlage bilden für alle positiv gesetzten Gesetzesordnungen der Polis. Bei den Stoikern entsteht dabei der Gedanke, dass die Ordnungen der politischen Gemeinschaften auch nur insoweit und insofern verbindlich seien, als sie mit den Normen des Naturrechts vereinbart werden können. Zugleich rechnen sie damit, dass auch in allen Ordnungen aller Völker die Normen des Naturrechts wirksam seien. Mit dem Christentum entsteht eine politische Theologie, d. h. die politische Ordnung wird von einem religiösen, heilsgeschichtlichen Standpunkt beurteilt, in jüdisch-alttestamentlicher Tradition.136 Entsprechende wissenschaftssoziologische Verschiebungen finden statt: Rechts- und Staatsphilosophie entwickeln nun Theologen, die selbst über keine politische Erfahrung verfügen und die zumindest im Frühmittelalter mit ihrer Theoriebildung nicht auf aktuelle politische Fragen reagieren. Mittelalterliche Staatsphilosophie ist somit eine »theologisch fundierte Buch- und Textphilosophie«.137 Das Christentum teilt zwei der grundlegenden Annahmen nicht: zum einen ist christliche Rede, dass die Natur nicht ewig, sondern ex nihilo geschaffen ist. Zum anderen, dass die natürliche Vernunfterkenntnis des Menschen nicht so klar sei, wegen der Sünde und weil die Gottesoffenbarung die natürliche Erkenntnis weit übertrifft. Trotzdem rezipiert Augustin die Naturrechtslehre folgenreich für die christliche Theologie und entwickelt Thomas von Aquin138 eine höchst differenzierte Naturrechtslehre. Erst Duns Scotus kritisiert das Naturrechtskonzept grundlegend und gründlich. Thomas versteht die Naturrechtsnormen als erste selbstevidente Prinzipien, als analytische Urteile.139 Duns Scotus unternimmt den Nachweis, dass außer den beiden Normen des Fremdgötterverbots und der Namensheiligung keine anderen Dekaloggebote strenge Ableitungen aus selbstevidenten Prinzipien seien, und damit auch keine Naturrechtsnormen im strengen Sinne. Einziger Inhalt des natürlichen Gesetzes ist das Gebot der Gottesliebe. Dieses leuchtet allen Menschen unbedingt und ohne Ausnahme ein, die den Begriff »Gott« verstanden haben. Alle anderen Gebote aber stimmen lediglich mit den Naturrechtsnormen zusammen; als solche sind sie dann Naturrecht im weiteren Sinne. Die Verbindlichkeit solcher und anderer Sätze, die bisher als 136
Böckenförde nennt das die Ablösung von politischer Religion durch politische Theologie. Anstatt dass die Religion funktional auf die staatliche Ordnung bezogen wird, ordnet umgekehrt die christliche Religion die staatliche Ordnung unter. Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 188. 137 Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 190. 138 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 90–108; II-II 57. 139 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 94,2 c. a.
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Naturrechtsnormen verstanden wurden, sieht Duns Scotus in der Bindung des Willens an diese Normen. Er begründet somit ein voluntaristisches Naturrecht, das also nicht in der Vernunft Gottes, sondern in dessen Willen gründet. Für die politische Wirklichkeit bedeutet das, dass dem positiven Gesetz und dem Willen des politischen Herrschers eine hohe Eigen-Bedeutung zukommt.140 Für die Begründung politischer Herrschaft entwirft Duns Scotus den Gedanken eines Herrschaftsvertrages. Zeitgenössische Literatur bedenkt Herrschaftsverträge innerhalb einer schon bestehenden und legitimierten politischen Ordnung, aber eben noch nicht als Modell für Herrschaftsbegründung im grundsätzlichen Sinne. Ockham radikalisiert den scotistischen Ansatz, indem er sich für die voluntaristische Begründung nicht auf Gottes Willen, sondern auf den Willen des Menschen bezieht. In dieser Tradition bewegt sich auch Luthers Denken. In seiner Konzeption einer Zwei-Regimenten-Lehre aber spannt er einen »Dualismus eines göttlichen Naturgesetzes und eines menschlichen Naturrechts«141 auf. Eine solche Bestimmung zeitigte unintendierte Folgen: das natürliche und das positive Recht wurden enttheologisiert. Das hatte auch damit zu tun, dass sich im 17. Jahrhundert die professionell-institutionelle Verankerung des Naturrechtsdiskurses verändert: statt Theologie sind nun die Philosophie und die Jurisprudenz zuständig. Das bedeutete auch zwei inhaltliche Veränderungen: Im Naturrechtsdenken des 17. Jahrhunderts entwickelt sich eine spezifische Funktion: Mit dem Naturrechtsgedanken legitimieren Denker wie Hobbes und Locke nun die staatliche Ordnung bzw. das staatliche Zwangsrecht. Den Umfang der natürlichen Rechte der Menschen bestimmen sie aber verschieden. Insgesamt entfaltete das rationale Naturrechtsdenken ein revolutionäres Potential; es delegitimierte die ständische Staatsordnung des Ancien Régime. Bei der Revolution in Frankreich und in den USA berief man sich auf naturrechtliche Grundsätze. In Deutschland entwickelten sich entsprechende Argumentationen zu Programmentwürfen einer »Revolution von oben«. Die zweite Änderung betrifft die Art der Begründung: theologische und naturteleologische Begründungsmuster verstummen; an deren Stelle tritt bei Hobbes die Bedeutung normsetzender Souveränität von Staatsgewalt. Prinzip und Anfang seiner Naturrechtslehre bildet nun erstmals die Auffassung des Menschen als Träger subjektiver Freiheitsrechte. Daraus leitet er kühn ab, dass jede Einschränkung dieser subjektiven und jedem einzelnen Menschen eignenden Freiheit rechtfertigungsbedürftig ist. Diese Rechtfertigung kann ausschließlich der Wille dieses einzelnen Menschen leisten. Intersubjektive Verbindlichkeiten können also nur durch freiwillige Verträge entstehen. 140
Siehe dazu ausführlich Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 284–
294. 141 Heckel: Naturrecht und christliche Verantwortung im öffentlichen Leben nach der Lehre Martin Luthers, in: Zur politischen Predigt, München 1952, 45.
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Eine Grundschwierigkeit dieser Argumentationsform besteht darin, wie Normen aus der Natur des Menschen abgeleitet, wie also aus einem Sein ein Sollen gefolgert werden kann. Pufendorf führt dazu in seinem Werk »De iure naturae et gentium« von 1672 die Unterscheidung von physischer und moralischer Natur des Menschen ein. Recht versteht er als Einschränkung der menschlichen Freiheit. Pufendorf konzipiert erstmals die für die Neuzeit prägende Fassung der Idee der Menschenwürde. Grundlage des Staatsrechts wird das Selbstbestimmungsrecht der menschlichen Individuen. Für die Lage in Deutschland bezeichnend erweist sich eine adressatendifferente Publikationsstrategie der Politik-Theoretiker: Fachveröffentlichungen auf Latein diskutieren in großer Offenheit und Klarheit Naturrechtsideen und ihre Konsequenzen. Für deutschsprachige allgemeinverständliche Texte halten sie sich angesichts der politischen Brisanz deutlich zurück.142 Für die deutsche Tradition typisch erwies sich auch die Konzentration auf das Privatrecht innerhalb der naturrechtlichen Diskussion, während in England und Frankreich das Staatsrecht alle intellektuelle Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit Kant beginnt in Deutschland die Ersetzung der philosophischen Naturrechtslehren durch eine Philosophie des Rechts. Kant begründet das Naturrecht aus der Idee autonomer Vernunft. Normen können nur aus der Vernunft abgeleitet werden. Sein Entwurf reflektiert zugleich auch die Spannung zwischen universal gedachten Rechten und der Partikularität der jeweiligen politischen Ordnung. Kant hängt konzeptionell vielfach von Hobbes ab. Er ist jedoch der erste, der die rechtlichen (und die moralischen) Grundnormen allein aus der Idee der Autonomie des menschlichen Willens zu begründen versucht. Fichte trennt die Naturrechtslehre konsequent von der Ethik. Da für ihn keine Anwendung von Zwangsrecht – und nur das ist wirklich Recht – möglich ist außer in einem Staat, wird der Staat zum Garanten und Träger von Recht. Die Historische Rechtsschule verabschiedet naturrechtliche Legitimationskonzepte als abstrakt und ungeschichtlich und wendet sich ganz dem positiven Recht zu. Die Juristen dieser Historischen Rechtsschule verstehen ihre Aufgabe darin, sich mit dem positiven Recht zu beschäftigen und wehren eine philosophische Beschäftigung mit dem Recht als abstrakt ab; dazu zählen sie insbesondere auch naturrechtliche Überlegungen. Der Kampf zwischen Historischer Rechtsschule und philosophischer Rechtsbetrachtung konzentriert sich auf die Namen Savigny und Hegel. Angesichts des nationalistischen Staatsunrechtes debattierte man neu über Naturrecht als Rechtfertigungsquelle für Widerstand. Dabei gewann die »Radbruchsche Formel« zentrale Bedeutung; sie besagt: dass »das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des po142
Vgl. Ilting: Naturrecht, 296f.
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sitiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat«.143 Die Grundform von Vertragstheorie im Allgemeinen prägt Thomas Hobbes mit seinem Werk Leviathan. Er schränkt die Geltung des Naturrechts in zweifacher Hinsicht ein. Naturrechtliche Normen können nur allgemeine Bedingungen für rechtliche Verhältnisse benennen, stellen aber gerade keine konkreten Rechtsordnungen an sich selbst dar. Vor allem aber fehlen Sanktionen, mit welchen Verträge im Naturzustand durchgesetzt werden könnten; das führt auch zu einer eingeschränkten Gültigkeit der naturrechtlichen Normen. Erst der Staat schafft und garantiert die Bedingungen, unter den das Naturrecht und damit die geschlossenen Verträge gültig sind. »Dieser Versuch, den normativen Begriff der Verbindlichkeit auf den deskriptiven Begriff der Macht zu reduzieren, ignoriert nicht nur die gesamten Anstrengungen, zwischen normativen und deskriptiven Sätzen sorgfältig zu unterscheiden, die seit Duns Scotus und Ockham gemacht worden waren«.144 Eine These zur politischen Theorie prägte die Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte in ähnlicher Weise wie die Max-Weber These: die MacphersonThese.145 Macpherson behauptete, dass die politische Theoriebildung in England vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine gemeinsame Grundannahme teilt: die des Besitzindividualismus. Der Theoriebildung jener Zeit verdanke sich der liberaldemokratische Rechtsstaat der Gegenwart. Macpherson diagnostiziert nun für die Gegenwart grundlegende Defizite in der Theorie der liberalen Demokratie. Dafür macht er eine problematische Auffassung vom Begriff des Individuums in der frühen Theoriebildung verantwortlich. Diese liberale Tradition bestimme das Individuum als Eigentümer seiner selbst und seiner Fähigkeiten. Die Beziehungen zwischen Individuen erscheinen in dieser Theorie als Beziehungen zwischen Eigentümern. Laut Macpherson spiegeln sich darin die realen Marktverhältnisse.146 An dieser These ist neben vielem anderen auch zu kritisieren, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse die einer merkantilen Wirtschaftsordnung und nicht die einer »possessive market society«147 waren. Bevor als Beispiel eines vertragstheoretischen Entwurfes und seiner politischen Implikationen John Locke vorgestellt wird, sei noch an Jean-Jacques Rousseau erinert, durch welchen die Vertragstheorie als Konzept eines Gesellschaftsvertrags für die Französische Revolution entscheidend wurde. Ob und wie Rousseaus Politische Philosophie die Französische Revolution bestimmte, wie überhaupt Rousseaus Gesellschaftsvertrag einzuordnen sei, erregte die intensiven De143
Radbruch: Rechtsphilosophie, 345. Ilting: Art. Naturrecht, 284. 145 Einen guten Überblick über Geschichte und Inhalt der Debatte liefert Tully: Locke in Contexts, 71–95. 146 Vgl. zum Gesagten Macpherson: Besitzindividualismus, 13–20; 295–310. 147 Tully: Locke in Contexts, 85. 144
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batten um dieses Werk. Im Laufe der Zeit erhielt er die widersprüchlichsten Etiketten: »Begründer der modernen Demokratie«, Denker von Despotismus, Begründer der neuzeitlichen Rechtsidee und Vordenker des Totalitarismus. Kant steht für eine Rezeption als Philosophie der Freiheit, Constant für eine Interpretation als despotismusförderndes Werk. Der »Emile« von Rousseau verschaffte seinem Autor weiteren literarischen Ruhm und hohe Aufmerksamkeit, nachdem er sich schon mit seinen bürgertumskritischen Schriften von 1750 und 1755 bekannt gemacht hatte. Der »Gesellschaftsvertrag« dagegen stand zu Lebzeiten des Autors eher im Schatten. Für die Forschung stellen sich die genannten Schriften als so verschiedene Perspektiven dar, dass eine gedankliche Einheit – die Rousseau für sein Werk beansprucht – nur schwer zu rekonstruieren ist. Das Thema seines Werkes zur Gesellschaftstheorie lautet: Wie ist die Rechtmäßigkeit des Staates zu begründen? Rousseau erhebt den Anspruch erstmals die Frage der Rechtmäßigkeit von der Frage nach der Geschichte des Staates klar zu trennen. Er knüpft an Hobbes und Locke an, indem er einen Naturzustand und einen Übergang in den Staat konzipiert. Sein argumentatives Interesse gilt aber der Vergesellschaftung durch das Recht. Wie kann das so gedacht werden, dass der Einzelne innerhalb der Gesellschaft so frei bleibt wie in einem gedachten »zuvor«? Freiheit begreift er als Selbstbestimmung. Die Rechte des Einzelnen konzipiert er als Implikate staatlichen Handelns und nicht als dessen Grenze. Wie ist das zu begründen? Freiheit und Gesetz begrenzen sich nicht, sondern bedingen einander. Der Mensch wird erst ganz er selbst, indem er Staatsbürger ist. Das politische Gemeinwesen stellt er in Kategorien von Selbstzwecklichkeit dar. Rousseau orientiert sich an antiken Vorbildern: von ihnen aus entwickelt er seine kritische Gegenwartsdiagnose: eine Republik, wie sie wünschenswert und ideal sei, könne es in der Gegenwart nicht mehr geben. Ein Interpret hat das auf die etwas bemühte Formel gebracht: »Ohne Liberaler sein zu wollen, hätte Rousseau kein Kommunitarist mehr sein können«.148 Einen ganz anderen Zusammenhang von Staat und Einzelnem vertritt John Locke, dessen Theorie nun ausführlich zur Sprache kommen soll. b) John Locke John Locke verfasste seine Gegenschrift zum Absolutismus im Umfeld der Glorious Revolution von 1688. Der Text erschien 1689 anonym und wirkte so als die nachträgliche Rechtfertigung dieses politischen Umbruchs. Neuere Forschungen149 haben ergeben, dass Großteile des Textes allerdings schon zwischen 148
Herb: Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 316. Vgl. Ashcraft: Revolutionary Politics and Locke’s »Two Treatise of Government«. Laslett: Introduction, 1–133, zum Thema Datierung 45–66. Laslett nennt drei Dogmen der bisherigen Locke-Forschung, welche er m. E. überzeugend als falsch erweisen kann: a) Locke habe den Text 1689 als Rechtfertigung der schon geschehenen Glorious Revolution verfasst. b) Locke 149
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1679 und 1682 verfasst wurden, als theoretische Begründung für revolutionäre Bestrebungen. John Locke gehörte nämlich zum Lager der »Whigs«, und innerhalb dieser Parteiung zu deren radikalen Flügel, welcher die Thronfolge des zum Katholizismus konvertierten Bruders von König Karl II. verhindern wollte, notfalls mit Waffengewalt. Der Mordplan (Rye House Plot) scheiterte, worauf John Locke 1683 in die Niederlanden floh. Nach der Glorious Revolution kehrte er zurück und übernahm wichtige Staatsämter. Seine Schrift wurde zunächst sehr ablehnend rezipiert. Sie galt als zu radikal und zu revolutionär. Erst durch ihre wirkmächtige Rezeption in Frankreich und in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 entfachte sie auch in England und in ganz Europa eine lebendig-intensive Auseinandersetzung.150 Die Schrift ist zweigeteilt. Im ersten Teil widmet sich John Locke der Widerlegung der Position von Robert Filmer, der eine theoretische Begründung von Absolutismus und Gottesgnadentum der englischen Könige in verschiedenen Abhandlungen vorgelegt hatte. Im zweiten Teil entfaltet John Locke seine eigene Theorie von staatlicher Herrschaft und der Art ihrer Legitimation, überschrieben mit »Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung«. Seine Grundbestimmung lautet: »Da aber keine politische Gesellschaft bestehen kann, ohne daß es in ihr eine Gewalt gibt, das Eigentum zu schützen und zu diesem Zweck die Übertretungen aller, die dieser Gesellschaft angehören, zu bestrafen, so gibt es nur dort eine politische Gesellschaft, wo jedes einzelne ihrer Mitglieder seine natürliche Gewalt aufgegeben und zugunsten der Gemeinschaft in all denjenigen Fällen auf sie verzichtet hat, die ihn nicht davon ausschließen, das von ihr geschaffene Gesetz zu seinem Schutz anzurufen«.151 Die Zielrichtung der Argumentation liegt in der Allgeargumentiere hauptsächlich gegen Hobbes. c) Lockes politische Konzeption stelle nur eine Anwendung seiner allgemeinen philosophischen Prinzipien dar. (Vgl. Laslett: Foreword, X). – Wichtig bleibt die Frage, inwiefern Locke gegen Hobbes argumentierte. Sein erklärter und zeitgenössisch wirkungsstarker Gegner war ohne Zweifel Filmer. Dieser wurde von Lockes politischen Gegnern theoretisch in Anspruch genommen; entsprechend musste Locke sich auch theoretisch mit der Widerlegung von Filmer befassen. Als theoretische Gegenposition war jedoch Hobbes sehr viel stärker und gefährlicher und herausfordernder. Dunn entwickelt daher eine psychologische Erklärung, die besagt, dass gerade weil Hobbes das geistige Ärgernis, den intellektuellen Albtraum darstellte, wich Locke einer direkten, textnahen Auseinandersetzung aus (vgl. Dunn: The Political Thought of John Locke, 79–83). Als Motiv mag das einleuchten oder nicht; primär relevant ist einfach die Feststellung, dass die Texte von Locke keine explizite, keine eingehende Auseinandersetzung mit einzelnen Argumenten von Hobbes enthalten. 150 In der englischsprachigen Forschung fällt auf, wie sehr den Interpreten eine Grundskepsis gegenüber Locke unterstellt wird, und zwar hinsichtlich der Konsistenz seiner Argumentation, siehe beispielsweise Ashraft: Locke’s Political Philosophy, 226; Rawls: Geschichte der politischen Philosophie, 165–168. John Dunn spricht gar von der »odd balance of recklessness and cowardice, quietism and radicalism, disingenuousness and sincerity«, mit der Locke sein Projekt einer politischen Philosophie unternommen hätte (aaO. 9). 151 Locke: Zwei Abhandlungen, 253 (II, § 87).
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meingültigkeit der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit, dass also kein einziges Mitglied der Gesellschaft davon ausgenommen wird oder sich davon ausnehmen kann. Jedem steht zu, ein Gericht anzurufen und jeder kann auch vor Gericht gestellt werden. Nur wenn das auch für den Herrscher gilt, kann von einer politischen Gesellschaft gesprochen werden. Im anderen Fall handelt es sich um einen Naturzustand, nur dadurch aber negativ vom ihm unterschieden, dass das Recht auf Selbstjustiz ihm auch noch verwehrt wird.152 John Locke expliziert die Stoßrichtung der Argumentation auch konsequent: »Das beweist, daß die absolute Monarchie [. . . ] in Wahrheit mit bürgerlicher Gesellschaft unverträglich ist und überhaupt keinerlei Form von bürgerlicher Regierung sein kann«.153 John Lockes Definition von politischer Gesellschaft und seine Zielbestimmung von politischer Gesellschaft legen einander wechselseitig aus. Die Zielbestimmtheit politischer Ordnung setzt er argumentativ dann auch als Legitimitätskriterium für politische Ordnung ein. Das Ziel der politischen Gesellschaft »ist es, die Unzuträglichkeiten des Naturzustands, die sich notwendigerweise ergeben, wenn jeder sein Richter in eigener Sache ist, zu vermeiden und ihnen abzuhelfen, indem eine allen bekannte Autorität eingesetzt wird, die jedes Mitglied der Gesellschaft anrufen kann, wenn es ein Unrecht erlitten hat oder ein Streit entstanden ist«.154 Eine politische Gesellschaft kann dies nur dann leisten, wenn dies auch zuverlässig durchzusetzen ist. Politische Gewalt definiert Locke daher als »Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls«.155 Der argumentative Zentralpunkt von Locke liegt in der Grundannahme, dass nicht nur staatliche Ordnung überhaupt legitimationsbedürftig ist anhand rationaler Kriterien, sondern dass gegenüber jedem Einzelnen als Mitglied der politischen Gesellschaft mit ihrer Rechtsstruktur dessen Unterworfensein unter diese Rechtsstruktur legitimiert werden muss. Als einzig mögliche Legitimitätsgrundlage benennt Locke die Einwilligung jedes Einzelnen: »Da die Menschen [. . . ] von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden«.156 Daraus ergeben sich folgende Fragen: a) Wie ist der Naturzustand des Menschen näher zu charakterisieren? Welche argumentative Funktion hat die Vorstellung des Naturzustandes? b) Worin be152
Vgl. aaO. 255f (II, § 90f ). AaO. 255 (II, § 90). – Anzumerken ist, dass Locke politische Gesellschaft und bürgerliche Gesellschaft synonym verwendet, vgl. II, § 89. 154 AaO. 255 (II, § 90). 155 AaO. 200 (II, § 3). 156 AaO. 260 (II, §95). 153
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steht der Vertragsschluss und seine bindende Kraft? c) Wie kann diese Theorie ein Widerstandsrecht begründen? Konstitutiv für Lockes Theorie ist die Annahme, der Mensch habe natürliche Rechte und es herrsche zwischen den Menschen ein natürliches Gesetz, das der Vernunft entspricht – und von Locke dann noch schöpfungstheologisch rückgebunden wird. Dieses natürliche Gesetz impliziert für Locke auch das Recht jedes Einzelnen, dieses Gesetz zu vollstrecken, d. h. Gesetzesbrecher zu strafen und für erlittenen Schaden Wiedergutmachung zu fordern. Das natürliche Gesetz wird durch die Vernunft erkannt, denn es ist klar und verständlich.157 Mit diesen Grundannahmen bewegt sich Locke innerhalb des Feldes traditioneller Naturrechtslehre. In der Forschung sind die Einschätzungen umstritten, ob Locke mehr von diesen traditionellen Elementen oder mehr von seinen Ansätzen einer »bürgerlichen« Sozialtheorie her zu interpretieren ist bzw. wie sich diese verschiedenen Tendenzen zueinander verhalten.158 Im Unterschied zur Tradition bestimmt Locke die Rechte der Einzelnen anders: Alle haben ein gleiches Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum, genauer ein gleiches Recht auf Freiheit und Verfügungsgewalt über Eigenes. Seine Interpretation des Naturrechts (mit den entsprechenden Schlussfolgerungen bis hin zum Widerstandsrecht) stritt mit der Tradition, insbesondere mit Hobbes. Dieser dominierte die zeitgenössische Diskussion jedoch sehr viel weniger als Filmers Schriften und Theoreme.159 Die Vernunftbegabtheit ist so im Allgemeinen konstitutiv für die Freiheit der Menschen. Auch in jedem Einzelfalle hängt die Gewährung von Freiheitsrechten an der konkreten Vernunftausbildung. Daher sind dann Kinder und mental nicht zurechnungsfähige Erwachsene von dem Gebrauch der eigenen Freiheit auszuschließen und einem Vormund zu unterstellen. Sobald aber jemand die Freiheit eines anderen Menschen aus anderen Gründen antastet, nämlich um ihn in seine absolute Gewalt zu bekommen, herrscht zwischen diesen beiden Menschen der Kriegszustand. Den Kriegszustand unterscheidet Locke dabei dezidiert vom Naturzustand; aber ein enger Bezug besteht insofern, als im Naturzustand der Kriegszustand jederzeit ausbrechen kann.160 Die Motivation, sich aus dem Naturzustand in die politische Gesellschaft zu begeben, setzt Locke auf mehreren Ebenen an. Zunächst zeichnet sich der 157
Vgl. Locke: Zwei Abhandlungen, 279 (II, § 124). Vgl. dazu Euchner: Naturrecht und Politik, 7–19. 159 Laslett hat gezeigt, dass bei Locke keine ausführlichen Hobbes-Studien belegt werden können, während Locke ansonsten zu seinen Lektüren ausführliche Aufzeichnungen in Notizbüchern hinterließ (vgl. Laslett: Introduction, 67–77). Daher schlägt er vor: »It may not, we have seen, have been a matter of direct derivation, since it is quite possible that Locke made his own way along the same road trodden by Hobbes before him, aided only by derivative acquaintance with what Hobbes had said.« (aaO. 91). Specht bemerkt zu diesem Forschungsproblem in seiner Locke-Einführung nur lakonisch: »Lockes Staatsphilosophie ist weder für noch gegen Hobbes geschrieben« (Specht: John Locke, 158). 160 Vgl. Locke: Zwei Abhandlungen, 211–213 (II, § 19–21). 158
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Mensch schöpfungstheologisch dadurch aus, dass er eine solitäre Existenz für ungut ansieht und ganz allgemein nach Gemeinschaft strebt. Dieses Streben nach Gemeinschaft beinhaltet eine Bedürfnisgrundlage, eine rational-bestimmte Zweckmäßigkeitsorientierung sowie eine Neigungskomponente. Dafür aber würde der Naturzustand ausreichen; allein die »Verderbtheit und Schlechtigkeit entarteter Menschen«161 bewirkt das Verlangen nach einem Zustand von Sicherheit. Die spezifische Gemeinschaftsform einer politischen Gesellschaft strebt der Mensch daher an, um der Möglichkeit des Kriegszustandes zu entgehen, welche im Naturzustand immer besteht.162 Aber auch ohne Kriegszustand herrscht im Naturzustand immer nur eine »vage Gerechtigkeit«,163 insofern nicht alle das Gesetz der Natur klar und identisch anerkennen, man sich nicht an einen unparteiischen Richter wenden kann und Strafen nicht zuverlässig durchzusetzen sind. Die dadurch wache beständige Gefährdung verleidet die Freude an der Freiheit und trübt den Genuss des Eigentums. Dagegen ermöglicht der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum im Staate ein freudig-wohliges Genießen von Freiheit und Eigentum.164 Die Vorstellung des Vertragsschlusses hat für Locke eine geschichtliche Erklärungsfunktion der faktischen Entstehung von politischen Gemeinwesen sowie eine normative Funktion, welche die Legitimitätsgrundlage jeder Staatlichkeit als den Maßstab für vorhandene politische Ordnungen und deren Wesensbestimmung setzt. So unternimmt Locke den eingehenden Versuch, aus Quellen zu belegen, dass es Menschen im Naturzustand gab, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben. Außerdem stellt er Überlegungen an, warum bei den meisten politischen Gebilden keine Erinnerungen an einen freiwilligen Zusammenschluss lebendig oder quellenmäßig belegbar sind. Dazu entwirft er eine Theorie des sozialen Gedächtnisses in Analogie zum biographischen Gedächtnis.165 Diese beiden Funktionen der Vertragstheorie unterscheidet Locke nicht immer präzise – was aus seiner Sicht auch gar nicht erforderlich ist, den Kritikern aber berechtigte Angriffsfläche bot.166 Was beinhaltet der Vertragsschluss für die einzelnen Menschen? Sie geben bestimmte Rechte auf und erhalten dafür bestimmte Sicherheiten. Das Recht zu strafen übereignen die Vertragspartner ganz der Gemeinschaft. Das Recht, alles zu tun, was zur Erhaltung des eigenen Lebens und der Menschheit für angemessen gehalten wird, ist dagegen nur eingeschränkt aufzugeben, insofern es nämlich durch positive Gesetze der politischen Gesellschaft geregelt wird. Der Einzelne verpflichtet sich auch, die Beschlüsse der Mehrheit in jedem Fall zu 161
Locke: Zwei Abhandlungen, 280 (II, § 128). Vgl. aaO. 212 (II, § 21). 163 Brocker: John Locke, 266. 164 Vgl. Locke: Zwei Abhandlungen, 278 (II, § 123f ). 165 Vgl. aaO. 262f (II, § 101). 166 Vgl. dazu auch Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 250. 162
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akzeptieren. Darin besteht das dauerhaft Verpflichtende des Vertrages, das den Vertragszustand vom Naturzustand unterscheidet, dass es also in den einzelnen Fällen und Situationen nicht mehr im Belieben des Einzelnen steht, die Beschlüsse der Gemeinschaft zu akzeptieren oder nicht. Im Gegenzug für diese vertragliche Selbstbindung und Selbsteinschränkung erhält der Einzelne Schutz für sein Leben und sein Eigentum, unter einem allgemeingültigen, bekannten Gesetz und mit unparteilichen Richtern, deren Urteile zuverlässig durchgesetzt werden können. Diese Beschreibung Lockes orientiert sich zunächst am Fall, dass sich Menschen, welche im Naturzustand geboren wurden, erstmalig zu einem Staatswesen zusammenschließen. Wie aber ist das zu denken für die Menschen, welche in einem Staat geboren werden? Wie ist deren Verhältnis zum Vertrag und zur freiwilligen Mitgliedschaft im Staat zu denken? Locke stellt die These auf, dass jeder Einzelne in einem Staat die Zustimmung dazu gegeben hat, zu diesem Staat zu gehören und dafür auf bestimmte Rechte des Naturzustandes zu verzichten. Um das zu plausibilisieren, muss Locke erklären, erstens, warum eigentlich niemand das Bewusstsein davon hat, seine Zustimmung gegeben zu haben oder zu geben, und zweitens, worin dieser Zustimmungsakt besteht und wie er zu erkennen ist. Wer irgendein Eigentum, das unter dem Gesetz des jeweiligen Staates steht, benutzt oder erwirbt, der verpflichtet sich damit zu dem Gesetz des jeweiligen Staates, was jedoch noch nicht bedeutet, Mitglied dieses Staates zu sein.167 Im Folgenden differenziert Locke klar zwischen stillschweigender und ausdrücklicher Zustimmung, die unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen. Bei einer nur stillschweigenden Zustimmung untersteht die Person nur dem Staatsgesetz, ist aber noch kein Mitglied dieser politischen Gesellschaft. So kann sich diese Person auch jederzeit entscheiden, mit dem Eigentum auch die Unterwerfung unter das jeweilige Staatsgesetz aufzugeben und sich aus dem Herrschaftsbereich des Staates zu entfernen. Eine ausdrücklich gegebene Zustimmung – z. B. durch einen Treueeid zur Krone – konstituiert die Mitgliedschaft im Staat und verpflichtet zugleich, lebenslänglich Mitglied dieses Staates zu bleiben. Macpherson168 interpretierte das so, dass sich aus der Differenz von stillschweigender und ausdrücklicher Zustimmung eine Klassengesellschaft legitimiere. Die als Eigentümer an Grund und Boden explizit zustimmen, bilden damit die Klasse der vollwertigen Staatsbürger, welche für die Mehrheitsentscheidung als Stimme zählen – während die Nicht-Eigentümer über keine politische Stimme verfügten. Die Tendenz der Lockeschen Argumentation beobachtet er nachvollziehbar; der Einzelbeleg am Text misslingt aber meines Erachtens. Die zentrale Stelle, auf 167 »Jeder Mensch, der irgendwelchen Besitz hat oder sich irgendeines Teiles der Herrschaftsbereiche eines Staates erfreut, gibt eben hiermit seine stillschweigende Zustimmung.« 168 Vgl. Macpherson: Besitzindividualismus, 278–289. Macpherson behauptet aber nicht, dass Locke eine Legitimation des Klassenstaates intendiert habe, sondern nur, dass seine Argumentation logisch zu einer Rechtfertigung eines Klassenstaates führe.
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die er sich für die Kopplung von ausdrücklicher Zustimmung, Eigentum und voller Staatsmitgliedschaft bezieht, stellt zwar den Zusammenhang dieser drei Größen her, nur in einer anderen logischen Ordnung als Macpherson behauptet. Die Stelle lautet: »jeder Mensch hat, wenn er sich erst einmal einem Staatswesen eingliederte, durch dieses seine Vereinigung mit ihm auch den Besitz, den er hat oder erwerben wird, der Gemeinschaft hinzugefügt und unterstellt [. . . ]. Denn es wäre ein direkter Widerspruch, wenn irgendjemand mit anderen gemeinsam, der Sicherung und Regelung des Eigentums wegen, in eine Gesellschaft eintreten und gleichwohl annehmen würde, dass sein Grund und Boden, dessen Besitz von den Gesetzen der Gesellschaft geregelt werden soll, von der Rechtssprechung jener Regierung ausgenommen sei, welcher er selbst, der Eigentümer des Bodens, untertan ist«.169 Macpherson kommentiert das mit »Nicht jeder Grundeigentümer ist notwendig ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft [. . . ], aber bei jedem vollwertigen Mitglied wird der Besitz von Boden vorausgesetzt«.170 Locke aber behandelt ja zunächst die explizite Eingliederung in die Gesellschaft, für die er gerade keine Bedingung formuliert, etwa Eigentum an Grund und Boden. Erst als Konsequenz dieser vollwertigen Mitgliedschaft benennt er Folgen auch für gegenwärtigen oder zukünftigen Besitz. Die Bedingungsreihenfolge ist also genau andersherum als von Macpherson behauptet: Nicht der Besitz entscheidet über die vollwertige Mitgliedschaft, sondern die vollwertige Mitgliedschaft hat Konsequenzen auch für den Besitz. Die Argumentation ist an der Stelle deshalb so komplex, weil Locke zwei argumentative Gedankengänge miteinander verbindet, um ein Problem zu klären, nämlich was unter einer stillschweigenden Zustimmung zu verstehen sei und wie weit sie bindet: Der eine Begründungsgang lautet: wer immer Land-Besitz erwirbt oder benutzt, unterstellt sich damit den Gesetzen des Staates, in dessen Herrschaftsbereich das Land sich befindet. Genauso gilt dann auch umgekehrt: wer Land-Besitz aufgibt oder das Land verlässt, das zum Herrschaftsgebiet eines Staates gehört, wird von der Verpflichtung auf die Gesetze des Staates frei. Ein zweiter Gedankengang wird dann nur zur Plausibilisierung des ersten eingeführt (»Um dies besser zu verstehen, muß man bedenken«171 ), weil dieser zweite als selbstverständlich und unproblematisch erscheint. Er lautet: Wenn sich jemand durch ausdrückliche Zustimmung einem Gemeinwesen eingliedert, unterstellt er sich selbst diesem Gemeinwesen und mit sich auch sein gesamtes Eigentum auf unwiderrufliche Weise. Fortan ist also dieses Eigentum – gedacht ist hier an Grund und Boden – diesem Gemeinwesen unterstellt, auf genauso unwiderrufliche Weise wie sein Eigentümer. Daher bleibt dieses Eigentum dem Gemein169 Locke: Zwei Abhandlungen, 276 (II, § 120) zitiert nach Macpherson: Besitzindividualismus, 281. 170 Macpherson: Besitzindividualismus, 281. 171 Locke: Zwei Abhandlungen, 276 (II, § 120).
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wesen auch dann unterstellt, wenn sein Eigentümer es verkauft, vererbt, verpachtet oder auf sonstige Weise weitergibt. Wer auch immer dieses Stück Land dann pachtet oder benutzt, ist mittels dieses Stück Landes den Gesetzen des Gemeinwesens unterstellt, weil eben das entsprechende Stück Land durch seinen ersten Eigentümer diesem Gemeinwesen eingegliedert wurde. Daraus ist also mitnichten zu folgern, dass Eigentum an Grund und Boden Bedingung einer Vollmitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen sei. Allerdings legt Locke aber an der zitierten Stelle mit seiner Formulierung nahe, dass die Motivation für eine Vollmitgliedschaft (mit dem Nachteil der Unwiderruflichkeit) vor allem bei Eigentümern172 gegeben sei. Ebenso sind andere Textstellen zu finden, die wie selbstverständlich davon ausgehen, dass alle Staatsbürger Eigentum haben, von dem sie abgeben, um die Staatskosten zu decken.173 Diese verschiedenen Befunde drängen zur Schlussfolgerung, dass Lockes Theorie prinzipiell von der Gleichheit aller ausging, Staatsmitgliedschaft nicht an Eigentum band und somit keine theoretische Begründung einer Klassengesellschaft intendiert. Gleichwohl aber hatte er die Gesellschaft seiner Zeit mit deren implizit geteilten Voraussetzungen und Wertungen vor Augen und fasste diese seine Zeit in den philosophischen Begriff. Sein Werk zielte, wie oben ausgeführt, auch nicht auf die Differenz zwischen der Gesellschaft seiner Zeit und seinen eigenen theoretischen Konzepten, sondern auf die Differenz von legitimer und illegitimer Regierung innerhalb der Gesellschaft seiner Zeit. Brisant an Lockes Theorie war das Widerstandsrecht,174 das er einer politischen Gesellschaft gegenüber ihrer Regierung einräumte. Das Verhältnis von Regierung und politischer Gesellschaft beschreibt Locke in der Kategorie von Treuhänderschaft. Wenn die Treuhänder gegen die Aufgabe, zu der sie eingesetzt sind, handeln, können sie vom Volk wieder abgesetzt werden. »Wann immer daher die Gesetzgeber bestrebt sind, dem Volk sein Eigentum zu nehmen und zu vernichten oder das Volk in Sklaverei unter ihre willkürliche Gewalt zu bringen, versetzen sie sich dem Volk gegenüber in einen Kriegszustand. Dadurch wird es von jedem weiteren Gehorsam befreit«.175 »Anders als bei früheren Widerstandstheoretikern – etwa den Monarchomachen – war das ›ius resistendi‹ bei Locke insofern ein echtes ›ius revolutionis‹, das nicht nur zur Wiederherstellung 172 Im Englischen ist von »property« die Rede; das muss sich also gerade nicht ausschließlich auf Landbesitz beziehen, sondern Locke meint mit Eigentum oft »Leben, Freiheit und Besitz«, manchmal eben auch nur Eigentum an Boden und Gütern. Vgl. auch Macpherson: Besitzindividualismus, 278f. 173 Locke: Zwei Abhandlungen, 289f (II, § 140). 174 Allgemein zum Thema von Legitimitätskriterien bei Locke vgl. Rawls: Geschichte der politischen Philosophie, 201–214. Hervorzuheben ist, dass Locke zwar von legitimen und illegitimen Regierungs- und Staatsformen spricht, aber keine Kriterien für bessere oder schlechtere Staatsformen aufstellt. 175 Locke: Zwei Abhandlungen, 338 (II, § 222).
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des alten Rechtszustandes, sondern auch zur revolutionären Neugestaltung der Verfassung ausgeübt werden durfte«.176 c) Kritik an der Vertragstheorie Eine philosophisch besonders gehaltvolle und wirkungsreiche Kritik von Vertragstheorien177 hat David Hume in seinem Essay »Of the Original Contract« 1742 veröffentlicht. Zum einen kritisiert er, dass die Theorie die Geschichte von Staaten sowie deren Gegenwart nicht zutreffend beschreibe. Alle existierenden Staaten seien mit Gewalt gegründet worden, ohne auch nur vorzugeben, sich auf die freiwillige Zustimmung der Untertanen gründen zu wollen. Dieser Befund sei nicht durch die These von stillschweigender Zustimmung aufzuheben, da auch eine stillschweigende Zustimmung freiwillig sein muss, um als Zustimmung gelten zu können. Zum anderen kritisiert er, dass der Vertrag als Erklärungsinstanz für den Staat und seine Institutionen überflüssig sei, da er schon durch das Interesse der Beteiligten hinreichend erklärt werde. Mit Hume prägen utilitaristische Modelle die praktische Philosophie der englisch-sprachigen Welt und ersetzen die vertragstheoretischen Entwürfe. Hegel kritisiert die Gedankenfigur des Vertrags aus anderen Gründen: »die der aus dem Privatrecht stammenden Vertragsfigur anhaftenden Bestimmungen der Willkür und Kontingenz, der beliebigen Interessiertheit und der Besonderheit sind dem Begriff des sittlichen Gemeinwesens völlig unangemessen«.178 Dem Staat eigne Notwendigkeit, diese könne aber eine Vertragstheorie nicht ausdrücken. Hegel entwickelt eine Vertragstheorie, die begründet, warum Verträge nur Eigentum, genauer den Tausch von Eigentumsrechten betreffen können, aber nicht die Grundlage von Staatlichkeit darstellen können. Hegels Kritik an Kontingenz und Willkürlichkeit einer vertragstheoretischen Staatsbegründung avancierte zum Standardargument der Denker der deutschen Restauration und der Romantik.179 Die wesentlichen Kritikpunkte seien im Folgenden benannt.180 Die Vertragspartner des Staatsvertrages: Wer hätte einen solchen Vertrag geschlossen, auch die Kinder, auch weniger gebildete Menschen? Der Modus des Vertragsschlusses: Ist es eine Mehrheitsentscheidung gewesen? Wie hat man die Zustimmung der Beteiligten bei einer so großen Menschenanzahl überhaupt feststellen können? Die Verbindlichkeit des Vertragsschlusses über die vertragsschließenden Beteiligten hinaus: Wie konnte der Vertrag auch für folgende Generationen als bindend be176
Brocker: John Locke, 270. Zum Folgenden: Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 250–258; Lesnoff: Social Contract, 83–90, 97–122. 178 Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 252. 179 Vgl. aaO. 256. 180 Vgl. die äußerst präzise und kundige Darstellung bei Rolin: Der Ursprung des Staates, 156–163. 177
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hauptet werden? Die Geschichtlichkeit des Vertragsschlusses: Ein solcher Vertrag ist historisch nicht nachweisbar. Also ist der Gedanke des Vertragsschlusses lediglich eine Fiktion. Mit diesen Kritikpunkten erreichen die Kritiker keineswegs die Höhe der Lockeschen Vertragstheorie, die auf alle diese Anfragen eine präzise Antwort enthält.181 Die eigentliche Kritik aber zielt darauf, dass man den Staat nicht aus einer freien und damit beliebigen Entscheidung einzelner Individuen begründen könne. Dem Staat fehle so, was doch zu seinem Wesen gehöre: Notwendigkeit und Dauerhaftigkeit. In Konsequenz dieser theoretischen Position erscheint dann auch die strikte Unterscheidung von Naturzustand und Staatlichkeit als dem politischen Wesen des Menschen nicht angemessen. Stattdessen sei von einer graduellen Weiterentwicklung von staatlichen Strukturen auszugehen. Der Staat entstehe nicht plötzlich – wie auch immer; sondern der Staat entwickle sich mit der menschlichen Kultur immer höher.182 Diese Anliegen sind Ausdruck einer grundsätzlichen Haltung, nämlich »einer tiefen Abneigung gegen Revolution und gewaltsame Staatsumwälzungen, die über politische Positionen hinweg konservatives und liberales Denken im 19. Jahrhundert grundsätzlich einte«.183 Diese starke Abneigung gegen revolutionäre Bewegungen bildete sich als Reaktion auf die Erfahrung der Französischen Revolution und deren Folgen. Diese gewaltsamen Umsturzbewegungen interpretierte man in Deutschland großteils als Umsetzung von Staatsvertragslehren. Insofern identifizierte man die politische Ablehnung von gewaltsamen Staatsveränderungen mit der theoretischen Ablehnung von Vertragstheorien des Staates.184 181 Zur Erinnerung seien kurz die Lockeschen Antworten genannt: Die Vertragspartner des Staatsvertrages seien ausnahmslos alle Menschen, welche dann auch Staatsbürger seien. Kinder sind keine Vertragspartner; erst bei ihrer Volljährigkeit entscheiden sie selbst über ihren Beitritt oder ihre Entfernung. Vorher gehörten sie zu ihren Eltern, die für sie entscheiden. – Der Modus des Vertragsschlusses besagt, dass (bis auf Kinder oder anderweitig Unmündige) jeder Einzelne und jede Einzelne für sich entscheidet und Vertragspartner ist. Wer dem Vertrag nicht sich anschließt, wird eben auch kein Mitglied der politischen Gemeinschaft und verbleibt im Naturzustand oder schließt sich einer anderen politischen Gemeinschaft an. Wer allerdings beitritt, verpflichtet sich für alle folgenden Entscheidungen innerhalb der politischen Gemeinschaft auf das Mehrheitsprinzip. – Die Verbindlichkeit des Vertragsschlusses über die vertragsschließenden Beteiligten hinaus behauptet Locke gar nicht. Jeder einzelne Mensch entscheidet mit seiner Volljährigkeit darüber, ob er selbst in die politische Gemeinschaft eintritt, sich darauf verpflichtet oder ob er die politische Gemeinschaft verlassen will. Die Entscheidung der Eltern für ihre Kinder ist nur bis zu deren Volljährigkeit bindend. – Die Geschichtlichkeit des Vertragsschlusses ist nach Locke zu erweisen. Er versucht das durch Auswertung verschiedener Quellen. Zweifellos ist aber dieser Punkt die eigentliche Schwäche der Theorie, weil sie gleichermaßen eine historische Erklärung und eine Legitimation für den Staat liefern will. 182 Vgl, Dahlmann: Die Politik auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt, 11. 183 Rolin: Der Ursprung des Staates, 159. 184 Dazu im Einzelnen Rolin: Der Ursprung des Staates, 158–160, mit Einzelnachweisen.
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d) Schleiermacher und die Vertragstheorie des Staates Die Kenntnis von Vertragstheorien setzt Schleiermacher bei seinen Vorlesungshörern erkennbar voraus; aber weder widmet er sich einer ausführlichen Darstellung einer einzelnen vertragstheoretischen Konzeption, noch widerlegt er eingehend ein solches Konzept. Nur flüchtig und wie nebenbei geht er auf Vertragstheorien ein und nennt Argumente, warum man Staatlichkeit nicht mit einem Vertragsschluss erklären kann. Sehr dezidiert lehnt er Vertragstheorien ab; er scheint damit zu rechnen, dass seine Hörer diese Haltung ganz selbstverständlich teilen. Die Vertragstheorie setzte schon als geltend voraus, was sie erst begründen will – so Schleiermachers Kernsatz der Widerlegung vertragstheoretischer Staatsbegründung in der Vorlesung von 1817.185 Ein Vertrag setzt nach Schleiermacher voraus, dass gemeinsam artikulierte Willensbekundungen der Vertragspartner vorliegen sowie dass eine Schlichtungsinstanz für mögliche Streitigkeiten existiere einschließlich von Maßstäben zur Beurteilung der möglichen Streitigkeiten der Vertragspartner. Diese drei Elemente setzten aber ihrerseits schon einen bestehenden Staat voraus. Daher könnten sie unmöglich einen solchen begründen. 1817/18 argumentiert Schleiermacher zunächst ähnlich, wenn auch äußerst knapp: »Vertrag kann aber vor dem Staat nicht statt finden«.186 Die Struktur des Arguments erweist sich als identisch, der konkrete Inhalt leicht variiert: Vertrag setze die Möglichkeit voraus, seine Erfüllung zu erzwingen. Vertrag erfordere also die vorgängige verlässliche Wirksamkeit von Sanktionen. In einem anderen Abschnitt führt Schleiermacher nun den Fall ein, dass in einem bestehenden Staat zwischen Herrschenden und Beherrschten ein Vertrag geschlossen wird. Negativ bewertet Schleiermacher aber auch diesen Fall. Bei einem solchen Vertrag, wie er in der Geschichte durchaus vorgekommen sei, habe Gewalt den Herrschenden etwas abgezwungen oder haben die Herrschenden etwas aus Schwäche gewährt. Die Form der Vertragsmäßigkeit sei dann also letztlich nicht wesentlich.187 Am Anfang seiner Vorlesung von 1817/18 findet sich ein weniger distanziertes Eingehen auf die Lehre vom Naturzustand bei Hobbes und Locke auf der einen und Rousseau auf der anderen Seite. Die einen hätten den Naturzustand als Krieg aller gegen alle interpretiert, die anderen als allgemeine Liebe. Die Wahrheit aber sei, dass eine »Vermischung von Streit und Liebe«188 herrschte.
185
Zur Vertragstheorie: Staatslehre 1817 Varnhagen 220,17–28. Staatslehre 1817/18 Goetsch 388,15. 187 Etwas zusammenhanglos ist in der Mitschrift aber noch zu lesen: »Sezzen wir daß der Staat aus Vertrag entstanden ist, so können wir auch gegen alles protestiren, was gegen den Vertrag ist« (Staatslehre 1817/18 Goetsch 389,17f ). 188 Staatslehre 1817/18 Goetsch 385,36. 186
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1829 weist er die Vorstellung ab, der Staat sei um des Rechtes oder der Verteidigung willen entstanden – ohne die konkreten Bezugspunkte solcher Theorien zu nennen. Wahrscheinlich hat er bei der rechtstheoretischen Staatsbegründung Kant vor Augen. In der Vorlesungsmitschrift begründet er die Ablehnung ein wenig ausführlicher. Eine ausdrückliche Stellungnahme zur vertragstheoretischen Staatsbegründung aber fehlt. 1833 thematisiert er die Vertragstheorie auch wieder innerhalb des Einleitungsteils, in dem er den Begriff des Staates argumentativ Schritt für Schritt entfaltet. Der Zusammenhang der Staatswerdung mit Familien und Familienzusammengehörigkeit veranlasst ihn dazu, auch auf das darin entgegen gesetzte Modell der Vertragstheorie hinzuweisen, welches nicht von Familien und deren Zusammengehörigkeit, sondern von einer rein zufälligen Vereinigung ausgehe. Schleiermacher schließt daran eine Art Gedankenexperiment an: gesetzt, man ließe sich auf eine zufällige Vereinigung ein, dann wäre es, als ob man Schiffbrüchige auf einer Insel hätte. Für einen Staat würde diesen schon die Generationenfortdauer fehlen, aber auch die Selbständigkeit. Aber auch davon abstrahiert: die in einem Vertrag vorgesehenen Gemeinschaftseinrichtungen, welche auf Dauer und Zukunft angelegt sein müssten, »wären ohne Sicherheit, da das bloße gemeinsame Wohlgefallen daran durchaus zufällig wäre«.189 Schleiermacher unterstellt ein grundsätzliches anthropologisches Anarchieprinzip. Dieses bestehe in der »Lust das Gewesene zu ändern«.190 Dieses Anarchieprinzip könne gerade von einem Vertrag nicht gebändigt werden, weil der Vertrag als Vertrag nur Bestand haben könne, wenn das Anarchieprinzip schon überwunden sei; ansonsten würde das Anarchieprinzip sich eben so auswirken, dass der Vertrag in Frage gestellt wird. Ein Staat könne dagegen nur entstehen, wenn das Anarchieprinzip überwunden sei, wenn das Zusammenleben einen Grund gefunden habe und frei sei von »willkührlichen Erscheinungen«.191 Schleiermacher benutzt für seine Argumentation das semantische Feld eines Gegensatzes von Willkür und Grund.192 Das Argument dabei lautet schlicht: allein durch einen Vertrag wird eine zufällige Vereinigung keine bindende, gebundene Gemeinschaft mit verlässlichen Einrichtungen. Der Vorstellung einer Selbstbindung im Vertrag schreibt Schleiermacher keine verlässliche Kraft zu; ihr entgegen wirke das Anarchieprinzip. In allen Vorlesungen wendet sich Schleiermacher gegen die vertragstheoretische Begründungsfigur von Staatlichkeit. Es fehlen aber konkrete Namen und spezifische Theoriefassungen als auch wirklich eingehende Auseinandersetzungen mit den prominenten Theoriefassungen. In seinen verschiedenen Vorlesun189
Staatslehre 1833 Waitz 760,42f. Staatslehre 1833 Waitz 761,2. 191 Staatslehre 1833 Waitz 761,8f. 192 In zwanzig Textzeilen fällt fünfmal das Stichwort »zufällig« oder willkürlich« und zweimal »ohne Sicherheit«. 190
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gen variiert Schleiermacher eine einzige Argumentationsstrategie: die Vertragstheorie sei selbstwidersprüchlich im strengen Sinne, da sie voraussetze, was sie erst begründen wolle. Dies Argument setzt aber die Schleiermachersche Fassung vom Vertragsbegriff voraus, die erheblich abweicht vom Vertragsbegriff der verschiedenen prominenten Vertragstheoretiker. Das Anliegen, welches sich in Schleiermachers harscher Ablehnung artikuliert, gibt Schleiermacher durch seine prägnante Terminologie zu erkennen: Die Aspekte von Willkürlichkeit, Zufälligkeit und individueller Beliebigkeit sollen aus dem Staatsbegriff weit möglichst ausgeschlossen werden. Mit dieser Art der Gegenüberstellung akzentuiert Schleiermacher, welche konzeptionellen Anliegen er mit seiner Staatstheorie verfolgt. Staatswerdung vollzieht sich für ihn als ein natürlicher Prozess in der menschlichen Geschichte. Einzelne Menschen spielen für diesen Prozess eine verschieden wichtige Rolle; aber dieser Prozess hängt nicht an Einzelnen und deren Entscheidungen. Der Einzelne als Einzelner tritt überhaupt erst auf als Ergebnis und im Laufe des Staatswerdungsprozesses. Die von der Vertragstheorie vorausgesetzten Differenz-Kategorien der Einzelne und die Gemeinschaft, Freiheit und Zwang, Rechte und Rechtsverletzungen werden für Schleiermacher überhaupt erst durch den Staatsbildungsprozess als solche Kategorien konstituiert; sie können daher gerade nicht dazu dienen, den Staatswerdungsprozess zu erklären. Schleiermacher stellt damit auch heraus, dass die Staatsbildung dem Menschen und seiner Vernunft in keiner Weise äußerlich bleibt, sondern Bedingung und Vollzugsweise der menschlichen Vernunft ist. Staatsbildung steht damit für Schleiermacher am Anfang der menschlichen Geistesgeschichte im engeren Sinne. Die Verbindung von Staat und Vernunft bestimmt Schleiermacher damit als innerlichen und wechselseitigen Zusammenhang. Die Staatswerdung ist Implikat und Konsequenz der Entwicklung des menschlichen Geistes; ebenso ist die Entwicklung des menschlichen Geistes Implikat und Konsequenz von Staatswerdung. Die scharfe Abgrenzung193 Schleiermachers gegen vertragstheoretische Begründungsfiguren von Staatlichkeit sollte die strukturellen Ähnlichkeiten nicht überblenden. Im Folgenden seien fünf strukturelle oder funktionelle TheorieGemeinsamkeiten von Schleiermacher und Locke benannt. Diese stellen sich als sehr viel tiefreichender heraus als die harsche Abgrenzungsrhetorik vermuten lässt. 1. Grunddifferenz von vorstaatlichem und staatlichem Zustand. Schleiermacher grenzt diese Zustände scharf voneinander ab. Beide Zustände tragen ihr jeweils eigenes Gepräge und lassen sich präzise definieren. Die Kontinuitätsannahme zwischen beiden Zuständen dient gerade dazu, das Unterscheidende umso klarer herauszuarbeiten. Den staatlichen Zustand kennzeichnen ein herrschaftssoziologischer Gegensatz, dessen allgemeine Anerkennung, ein allgemeines Gesetz und 193
»Es ist ein Missgriff« – Staatslehre 1817/18 Goetsch 389,27.
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ein gemeinsamer Bezug auf den Boden. Genau diese Sachverhalte fehlen dem vorstaatlichen Zustand, ohne dass diese Defizitbeschreibung den vorstaatlichen Zustand mit einer Negativbewertung versehen würde. 2. Neutrale Bewertung des vorstaatlichen Zustands. Der klare Unterschied zwischen beiden Zuständen wird nicht mit einer klaren Negativ-Positiv-Bewertung belegt, sondern im Gegenteil den Naturzustand beschreiben beide relativ neutral. Lockes Naturzustand zeichnet sich nur durch potentielle Negativität aus, indem der Kriegszustand ständig ausbrechen kann. Aber der Naturzustand ist selbst gerade nicht mit dem Kriegszustand identisch und ist als solcher durch keinerlei Negativität bestimmt. Dass Krieg herrschen kann, unterscheidet nach Schleiermacher den Naturzustand nicht vom Staat. Als vorstaatlicher Zustand in seiner Eigenart ist er in keiner Weise negativ bewertet. Umgekehrt bedeutet eine solche Theorieanlage, dass der Staat nicht als Flucht vor unerträglichen Verhältnissen oder als Lösung bedrohlicher Probleme in den Blick kommt, sondern durchgehend in seiner eigenen positiven Bestimmtheit, die keines Negativbildes bedarf. 3. Geschichtliche Erklärungsfunktion der Übergangsvorstellung. Die Abfolge von vorstaatlichem Zustand, Übergang und staatlichem Zustand versteht Schleiermacher als geschichtliche Beschreibung. Wie Locke intendiert auch Schleiermacher, eine historisch plausible Theorie zu liefern. Stärker aber als bei Locke hängt an der geschichtlichen Erklärungsplausibilität auch die Plausibilität der Wesensbestimmung des Staates. Dafür fällt die historische Plausibilisierung grundsätzlich leichter als bei Locke, da die geschichtlichen Thesen wesentlich unspezifischer und vager ausfallen – entsprechend der Vagheit der in ihnen behaupteten geschichtlichen Vorgänge beim Übergang. 4. Grundlegungstheoretische Funktion der Übergangsvorstellung. Schleiermacher leitet Wesen und Inbegriff des Staates aus dem Übergang zwischen vorstaatlichem und staatlichem Zustand her. In seiner Bestimmung des Staatsbegriffes setzt er ein gewisses konsensfähiges Vorverständnis von vorstaatlichem und staatlichem Zustand voraus. Aus der Differenz dieser Zustände, genauer aus dem Übergang zwischen diesen Zuständen will er den Begriff des Staates entwickeln. Nur das mache das Wesen des Staates aus, was in diesem Übergang geschehe. Im Übergang bildet sich ein Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten aus, indem zugleich die implizite Sitte als Gesetz explizit und allgemein wird. Am und im Übergang bestimmt sich und zeigt sich das Wesen von Staatlichkeit. Bei Locke bündeln sich die Phänomene des Übergangs im Vertragsschluss und seinen einzelnen logischen Komponenten. Das Wesen staatlicher Herrschaft definiert und legitimiert Locke dann auch ganz vom Übergang, also dem Vertragsschluss her. Der Vertragsschluss legt fest, was staatliche Aufgabe ist, wie und inwieweit staatliche Herrschaft gerechtfertigt ist. Bei Locke und bei Schleiermacher leitet sich die Staatstheorie ganz von der Bestimmung des Übergangs ab. Alle einzelnen
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Fragen der Staatstheorie werden grundsätzlich durch die Bezugnahme auf die Figur des Übergangs behandelt. 5. Wesentliche Bedeutungsaspekte des Übergangs verstehen beide Denker ähnlich – wenn man einmal davon abstrahiert, dass Locke diese Bedeutungsaspekte am Vertrag festmacht. – Zwangsfreiheit: Schleiermacher betont die Abwesenheit von Zwang und Gewalt bei der Staatsbildung; die Herrschaftsdifferenz, die sich im Übergang herausbildet, erscheint bei Schleiermacher weder als aufgezwungen noch als vertraglich vereinbart bzw. beliebig frei gewählt. Sie bildet sich aber im Konsens aus, durch die Anerkennung aller Beteiligten über den Gegensatz und über die eigene soziale Positionierung auf der einen oder anderen Seite des Gegensatzes. In der Verneinung von jeglichem Zwang und jeder Form von Gewalt bei der Staatswerdung trifft er sich mit den Vertragstheoretikern. – Beteiligungsallgemeinheit: Ebenso berühren sich Locke und Schleiermacher in der Gedankenfigur, dass wirklich jeder und jede an dem Prozess der Staatsbildung beteiligt ist. Alle sind laut Schleiermacher involviert, auch wenn sie verschiedene Rollen innerhalb der Herausbildung des Gegensatzes von Herrschenden und Beherrschten ausüben. Der Bewusstwerdungsprozess, der sich als herrschaftssoziologische Differenz auswirkt, vollzieht sich in allen – unabhängig von der Frage, wie spontan oder wie induziert dieser Prozess bei den Einzelnen abläuft. Erst recht bei Locke beruht der Vertrag darauf, dass alle, welche dann Mitglied der politischen Gemeinschaft werden, dem Vertrag individuell und explizit zustimmen – ausgenommen Unmündige. – Staatsbildung als Selbstunterwerfung unter Gesetze: Bei Schleiermacher anerkennen die einzelnen im Übergang Herrschaft (und damit die Differenz von Herrschenden und Beherrschten) und Gesetz, mit der Folge, dass sie sich Herrschaft und Gesetz prinzipiell unterwerfen, gerade auch indem sie die Differenz von Eigenwillen und Gesetz wahrnehmen. – Selbstbegrenzung staatlicher Zuständigkeit: Die Begrenzung von staatlicher Zuständigkeit liegt schon in der Staatsbildung selbst begründet. Schleiermacher bezieht das darauf, dass der Staat nur für das zuständig ist, was das gemeinsame Verhältnis der Bürger zum Boden betrifft. Nicht zuständig im eigentlichen Sinne ist der Staat daher für Religion, für freie Geselligkeit und für Wissenschaft. Allerdings gelangt der Staat zu dieser Selbsterkenntnis erst im Laufe der Entwicklung. Doch dieses Prinzip liegt in der Staatsbildung selbst begründet, die sich auf den Boden bezieht und seine gemeinsame Kultivierung. Bei Locke begrenzt sich die Zuständigkeit des Staates durch die im Vertrag geregelten Staatszwecke von Sicherung von Freiheit, Leben und Eigentum. Schleiermacher möchte die Staatswerdung als Prozess zwischen Notwendigkeit und Freiheit beschreiben. Die Anerkennung des herausgebildeten Gegensatzes ist nicht mit Gewalt erzwungen. Er beschreibt diese Art von Freiheit mit den Stichworten Anerkennung und Zustimmung. Die Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung kann also von Schleiermacher so ausgesagt werden, dass sie
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sich mit Freiheit verträgt. Die Freiheit aber der Anerkennung hat nichts mit beliebigen Entscheidungen oder individuellen Setzungen zu tun, sondern bezieht sich auf einen Prozess, an dem man beteiligt war, ohne sich für ihn entschieden zu haben. Die Anerkennung drückt die eigene Beteiligung aus, ist somit Ausdruck von Freiheit, der aber nichts von Beliebigkeit eignet. Der Begriff Anerkennung ist bestens geeignet, diese bestimmte Verbindung von Notwendigkeit und Freiheit theoretisch zu fassen. 3. Nonkontraktualistische Staatstheorien Wie oben ausgeführt, verbindet sich in Deutschland die Missbilligung der Gewaltexzesse in Frankreich und der Revolutionskriege nach 1792 mit der Ablehnung von vertragstheoretischen Staatsbegründungen, weil diese für jene verantwortlich gemacht werden. So muss eine jede Staatstheorie sich scharf von vertragstheoretischen Konzepten mit all ihren Implikationen, wie etwa konstitutiven Freiheitsrechten des Einzelnen, abgrenzen und Gegenmodelle entwickeln. Weil also die Vertragstheorie mit Willkürakten, unkalkulierbarer Gewalt und Staatsumsturz in Verbindung gebracht wird, ändert sich die Plausibilitätsstruktur für jede staatstheoretische Argumentation in Deutschland. Weil sich diese verwandelte Plausibilitätsstruktur nicht theoretischen (neuen) Argumenten, sondern allein sozialen, geschichtlichen Erfahrungen in bestimmter Deutungsperspektive verdankt, kann man von wissenssoziologisch veränderter Plausibilitätsstruktur sprechen. Daher bildet die gemeinsame Grundlage für Staatstheorie nur die Ablehnung bestimmter Theorie-Elemente oder Theoriedimensionen. Staatstheorien verdanken ihre Plausibilität in Deutschland zunächst dem, was sie nicht sind. Deutsche Staatstheorien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kann man kennzeichnen als antikontraktionell, anti-individualistisch, anti-voluntaristisch, anti-abstrakt (daher geschichtlich) und anti-konflikttheoretisch. Auch einige wenige positive Grundzüge kann man als gemeinsame Grundgedanken der verschiedenen Staatstheorien dieser Zeit in der notwendigen Vagheit formulieren: Ein enger wechselseitiger Zusammenhang zwischen Staat und Geschichte wird gedacht. Der Staat entwickele sich geschichtlich; und die Geschichte sei wesentlich durch die Geschichtsmacht Staat bestimmt. Das wirkt sich auch auf die entstehende Geschichtswissenschaft, v. a. in Preußen aus, welche Geschichte wahrnimmt als zentriert auf die Geschichte von Staaten und des Staates. Gemeinsam tragen die deutschen Staatstheorien ein bestimmtes Selbstverständnis vor. Der Staatstheorie vorgängig sei die geschichtlich-gegenwärtige Wirklichkeit. Auf diese habe sich die Theorie als deutend zu beziehen, um die gegenwärtige politische Praxis zu orientieren – aber nicht zu normieren. Theorie hat so eine rein dienende Funktion; sie ist Theorie gegenwärtiger Praxis und für gegenwärtige Praxis. Zugleich erfüllen Staatstheorien jenseits ihrer praxisorientierenden Intention im damaligen Preußen drei wichtige Funktionen, wel-
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che auf die Texte und Inhalte zurückwirken: Staatstheorien tragen bei zur gesellschaftlichen Identitätsbildung sowie zur politisch-kulturellen Einheitsstiftung. Sie ermöglichen auf einer Meta-Ebene eine politische Partizipation, welche als direkte tagespolitische Einflussnahme gerade verwehrt war. Im Gegenüber zu den in Deutschland abgelehnten Vertragstheorien des Staates bilden sich organologische Staatstheorien. Das sind Theorien, welche organisch-biologische Kategorien und Analogien zugrunde legen. Einen starken Impuls strahlten Werke der Romantik und des Deutschen Idealismus aus, insbesondere Kant, Fichte und Schelling. In der Forschung194 ordnete man solche Entwürfe einhellig als »politisch konservativ« oder auch als »konservativ liberal« ein. Inzwischen kann man ein differenziertes Bild skizzieren: im frühen 19. Jahrhundert sind die vertretenen organologischen Staatstheorien tatsächlich fast immer konservativ orientiert. Man denke dabei an Adam Müller, Heinrich Leo oder Nikolaus Thaddäus von Gönner. Nach 1848 weisen organologische Staatstheorien ein größeres Spektrum an politischer Orientierung auf; oft vermitteln solche Theorien zwischen konservativen und liberalen Anliegen. Sie versuchen ein drittes Modell zu entwickeln zwischen absolutistischem Obrigkeitsstaat und liberalem Rechtsstaat. Zudem tritt die organologische Metaphorik reflektierter auf: der Staat wird nicht mehr unmittelbar als Organismus verstanden, sondern es dominiert die Rede vom »ethischen Organismus« oder vom »sittlich geistigen Organismus«,195 wodurch der Staat zugleich auch als Dimension der kulturellen Sphäre anerkannt wird. Bei der Vorstellung von einem »ethischen Organismus« finden sich also naturhafte mit willentlich-bewussten Elementen geeint.196 Diese organologischen Gedankenfiguren beziehen sich zurück auf viel ältere Traditionen, die bei Platon beginnend in der Renaissance sich entfalteten. Auch in dieser Zeit diskutierte man aber skeptisch, ob ein solch metaphern-basiertes Argumentieren wissenschaftlich sei. Die Rede von organischen Strukturen oder vom ›corpus rei publicae‹ in Renaissance und früher Neuzeit unterscheidet sich aber wesentlich von den organologischen Argumentationen des 19. Jahrhunderts, denn zur Semantik dieses Organismus-Begriffs gehört der Gegensatz von organisch und mechanisch konstitutiv hinzu. Wenn der Staat als Organismus verstanden wird, heißt das immer: der Staat ist keine Maschine, kein Instrument, kein ›toter‹ Mechanismus.197 Der Begriff ›Organisation‹ dagegen bildet keinen Gegensatz zum Begriff des ›Organismus‹, sondern ist eng mit ihm verbunden.198 Organisation und Organismus werden gemeinsam die Leitbegriffe staatstheoretischer Debatten im frühen 19. Jahrhundert. 194
Vgl. dazu Rolin: Ursprung des Staates, 215–218. Nachweise im Einzelnen bei Rolin: Ursprung des Staates, 228f. Freilich finden sich diese Ausdrücke vereinzelt auch schon in der ersten Phase organologischen Staatsdenkens. 196 Siehe auch Böckenförde: Organ, 589f. 197 Dazu im Einzelnen Dohrn-van Rossum: Organ, 557–560. 198 Dazu Böckenförde: Organ, 561. 195
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Einige Charakteristika von organologischen Staatstheorien seien im Folgenden vorgestellt: (1) Ablehnung eines Legitimationsbedarfs von Staatlichkeit. Da der Staat natürlich entstanden sei und sich natürlich entwickelt habe, bedürfe er keiner eigenen Legitimation und sei auch keiner fähig. Für den Staat gelte, was auch für Pflanzen, Tiere und Menschen gelte: sie werden und entfalten sich lebendig nach ihren eigenen Lebensgesetzmäßigkeiten. Da nach dem Rechtsgrunde zu fragen, sei sinnlos und überflüssig. (2) Parallelisierung einzelner Staatsfunktionen mit einzelnen physiologischen Funktionen wird vorgenommen. Das Militärwesen erscheint als Bewegungsapparat, die Verwaltung als das Nervensystem des Staates, usw.199 (3) Ableitung von Handlungsempfehlungen und von allgemeinen Grundsätzen der Staatsleitung. (4) Mit dem organologisch gedachten Staat wird zugleich ein organologisch gedachtes Volk konzipiert. Mit diesem Konzept ließen sich Nationalismus und Nationalstaatsidee legitimieren. Zugleich eignete sich die begriffliche Dreiheit von Staat, Nation und Volk, um die realen Verhältnisse in Deutschland zu verstehen und zu beschreiben.200 (5) Der organologische Volksbegriff impliziert eine ständische Gesellschaftsordnung. Den Organismus Volk stellt man sich bestehend aus verschiedenen Einzel-Organen vor, welche den verschiedenen Ständen entsprechen. Auch das Zunftwesen erscheint als das organische Modell vom Zusammenwirken verschiedener Organe, also der einzelnen Zünfte in einem Organismus. (6) Eine »Verkollektivierung von Freiheit«201 findet sich in den meisten Entwürfen. Der Freiheitsbegriff hat zum Subjekt vor allem das Volk oder andere, kleine Kollektive (Zünfte), kaum das einzelne Individuum. (7) Organologische Staatslehren sind keine Konflikttheorien, sondern Harmonie-Theorien. Sie zielen nicht auf den Fall eines möglichen Konfliktes zwischen Individuum und Staat, sondern sie wollen die Theorie des wünschenswerten Zustands von harmonischer Einbindung des Einzelnen in tragende Ordnungen, welche umgekehrt den Einzelnen ein gemeinschaftsförderndes Wirken ermöglichen. Nicht Grenzfälle staatlichen Lebens, sondern gelingendes Staatsleben bilden den Theoriegegenstand. (8) Der Souveränitätsgedanke bindet sich an den Staat; damit wenden sich organologische Staatsdenker sowohl gegen Volkssouveränität als auch gegen Fürstensouveränität. Dem Staat als dem Gesamtorganismus kommt allein Souveränität zu; sowohl der Fürst als auch das Volk erscheinen als Organe innerhalb des Organismus und müssen sich ihm einordnen. Mit dem Konzept der Staatssouveränität202 kommt dem Fürsten zwar eine hohe Bedeutung zu, aber innerhalb des Staatsorganismus, nicht über ihm stehend. Weiterhin aber vertraten auch in Deutschland Staatsrechtler eine naturrechtliche bzw. eine vertragstheoretische Staatslehre, von der aus sie organologische 199
Weitere Beispiele und Einzelnachweise bei Rolin: Ursprung des Staates, 227. Dass mit organologischem Denken nicht immer die Forderung nach Einheit von Staat und Volk verbunden war, zeigt Langewiesche: Nation, 56–58, auf. 201 Rolin: Ursprung des Staates, 253. 202 Vgl. Rolin: Ursprung des Staates, 260f. 200
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Entwürfe scharf kritisierten. Dazu zählen Carl von Rotteck, Andreas Metz und Theodor Schmalz. Ihr Hauptkritikpunkt richtete sich gegen die Verneinung der konstitutiven Bedeutung der Freiheit für den Einzelnen. Daher seien die organologischen Theorien reaktionär. Doch konnten sich vertragstheoretische Staatsbegründungen durchaus mit einer organologischen Perspektive verbinden, beispielsweise bei Carl Theodor Welcker. Organologische Argumentationen erfüllten dabei drei Funktionen innerhalb der Vertragstheorie: Erstens konnte die Staatsgründung zwar als beruhend auf freiem Willen ausgesagt, zugleich aber von der Vorstellung eines willkürlichen Aktes losgelöst werden, indem der Vertragsschluss als Ausdruck eines bestimmten erreichten Entwicklungsstadiums begriffen wurde. Zweitens rechtfertigte man bestimmte Gestaltungen/Forderungen der staatlichen Ordnung durch die Analogisierung mit der Physiologie von Lebewesen (z. B. die Verfassung als das Herz des Staates). Drittens konnten Reformforderungen damit auch plausibilisiert werden, dass alles Lebendige sich entwickele, reife und vervollkommne, so also auch der Staat.203 Damit zielt eine organologisch erweiterte Staatsvertragstheorie in dieser Zeit generell darauf, eine Weiterentwicklung und beständige Reform des Staates als dessen Wesensbestimmung zu behaupten und zu legitimieren. Diese allgemeinen staatstheoretischen Debatten zentrierten sich, was die politische Wirklichkeit anging, auf die Frage der Verfassung, d. h. der konstitutionellen Monarchie. Dabei stritt man mit aller politischen Heftigkeit um die Frage, wie dabei die Mischung aus demokratischen und monarchischen Elementen aussehen könnte. Auch in dieser spezifischen Debatte bekämpften sich die verschiedenen Arten, wie man überhaupt staatstheoretische Aussagen begründet. Insofern schlägt sich die oben geschilderte Debatte auch in dieser unmittelbar aktuellen Positionierung nieder. Diese Verfassungsdebatten zur konstitutionellen Monarchie traten verstärkt nach 1830 auf, als nach der Julirevolution in Frankreich und dem Bürgerkönigtum dort das Bewusstsein in Deutschland von der Eigentümlichkeit der deutschen Verhältnisse sich noch einmal vertiefte und auch in der Theorie der Begriff eines »deutschen Konstitutionalismus« sich ausprägte. »Praxis und Theorie in Deutschland polarisierten sich«.204 Konservative Regierungspolitik in den Einzelstaaten stieß auf liberale Orientierung in den jeweiligen zweiten Kammern. Ebenso platzten in der Theorie konservative Anhänger einer monarchischen Regierungsform auf progressive Geister. Zunächst ergibt sich dabei das Bild, dass sich alle liberalen Haltungen zunehmend abschwächten zugunsten einer Akzeptanz der geschichtlichen Situation, für die dann aber umso mehr eine Vermittlung der monarchischen Elemente mit liberalen Prinzipien erstrebt wurde. Das Stichwort »Vermittlung« charakterisiert die theoretische Entwicklung der folgenden Jahre am besten. 203 204
Vgl. aaO. 222f. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, 167.
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4. Liberalismus und Konservatismus Die staatstheoretische Debattenlage wurde bisher hinsichtlich der Argumentationsformen und Argumentationsparadigmen untersucht. Abschließend sollen noch die inhaltlichen Positionen selbst zur Geltung gebracht werden. Welche inhaltlich-politischen Optionen gab es, wie lassen die sich näher beschreiben und wie verbinden die sich mit den vorgestellten Argumentationsformen? Grundsätzlich stritt man darüber, wie Staat und Gesellschaft zu gestalten sind. Es war ein Ideen-Streit, der aber getragen wurde von Interessen und sozialen Interessengruppen. In diesem Ideen-Streit rang man aber auch um eine Deutung der Vergangenheit, um die Deutung der Französischen Revolution und der Ereignisse ab 1793. Die beherrschende Deutungsalternative lautete: führte die Französische Revolution mit innerer Notwendigkeit zu den Ereignissen von 1793 oder ist das eine kontingente Entwicklung. »Die Entwürfe von Zukunft sind Bilder der Vergangenheit und Deutungen der Gegenwart zugleich«.205 Auch bei den inhaltlichen Ausrichtungen zeigt sich zunächst eine einzige Grundalternative: Liberalismus und Konservatismus. Der Liberalismus206 gründet sich auf das Bild des autonomen, selbstverantwortlichen Individuums, das in allen Bereichen sich frei entfalten können soll. Daraus prägte sich einerseits eine umfassende Wirklichkeitsdeutung, eine »Weltanschauung« aus, andererseits konkrete Bestrebungen in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Die Zukunft würde Fortschritt bedeuten, eine idealere Welt schaffen, eine Realisierung von Vernunft und Freiheit. In politischer Hinsicht kämpften Liberale um einen repräsentativen Verfassungsstaat. Als soziale Bewegung begehrten Liberale gegen feudale Privilegien auf und arbeiteten an einem bürgerlichen Umbau der Gesellschaft. In wirtschaftlicher Hinsicht faszinierte sie die Vision einer »selbstgeregelten Marktgesellschaft«.207 In Deutschland artikulierten sich diese Anliegen in einer staatsloyalen, staatsfreundlichen Haltung. Die französische Entwicklung, die jakobinische Herrschaft, die revolutionären Staatsumstürze übten nicht nur keine Faszination aus, sondern stießen im Gegenteil einhellig auf erschreckte Ablehnung. Veränderung und Reform konnte es daher für Liberale in Deutschland nur mit dem Staat und nicht gegen ihn geben. Die Freiheit, um die es ging, dachten Liberale daher auch als Freiheit zum Staat, als Freiheit zum Gesetz.208 In der historischen Rückschau erscheint das als Kompromisshaltung oder Kompromissdenken;209 aus damaliger Perspektive war diese Haltung jedoch so nahe liegend, dass eine Alternative kaum denkbar schien. Die Erfahrung mit Frankreich, mit den Befreiungskriegen, den Herrschaftswechseln in den verschiedenen 205
Nipperdey: Deutsche Geschichte, 286. Zum Folgenden v. a. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, 413–431. 207 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, 413. 208 Vgl. Nipperdey: Deutsche Geschichte, 287. 209 So auch bei Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, 414. 206
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Territorien ließ einen starken und stabilen Staat als das einzig Wünschbare erscheinen. Auch war die Aufklärungstradition prägend, »die auf die Versöhnung von europäischem Vernunftrecht, aufgeklärter Fürstenherrschaft und antizipierter bürgerlicher Gesellschaft zielte«.210 Über diese Gemeinsamkeiten liberaler Orientierung hinaus aber differenzierte die Bewegung sich regional und sozial sehr stark aus. In der Forschung hat sich folgende Einteilung derselben bewährt: bürokratischer Liberalismus, konstitutioneller Liberalismus und politischer Radikalismus.211 Bei der Frage, ob und inwieweit Schleiermacher liberal dachte, ist der bürokratische Liberalismus die angemessene Vergleichsgröße. Diese Strömung hatte ihre prägende Zeit zwischen 1800 und 1820, wirkte aber auch danach weiter. In ihr wirkten und dachten vor allem Beamte und Professoren. Sie wünschten und kämpften für eine moderne Staatsbürgergesellschaft, mit breiter Partizipation gleichberechtigter Bürger in einem funktionierenden Rechtsstaat. Den Weg dahin sollte gerade der Staat durch Reformen von oben und durch die Verwaltung bereiten. Der Kern des Konzeptes war eine Modernisierung der Gesellschaft durch die Bürokratie, genauer durch die Modernisierung der Bürokratie. Nach 1820 dominierte aber die Erfahrung, dass der Staat erfolgreiche Reformen gerade nicht zu einer Entwicklung der Gesellschaft im Sinne liberaler Prinzipien, sondern zur Stabilisierung der alten Ordnung nutzte. Der konstitutionelle Liberalismus zentrierte seine Bestrebungen auf die Verfassung: Der Staat sollte zu einem Rechts- und Verfassungsstaat werden. Rechtssätze und Normen sollten den Staat gestalten, nicht Monarchen durch ihre persönliche Herrschaft – so wichtig die Monarchie den Liberalen auch blieb. Diese Liberalen setzten sich ein für eine konstitutionelle Monarchie mit juristischer Ministerverantwortlichkeit. Die Erbmonarchie stellten sie nicht in Frage, und auch ein Widerstandsrecht forderten sie im Allgemeinen nicht. Die zweiten Kammern sollten das Volk repräsentieren durch bürgerliche Abgeordnete, die am Gesetzgebungsverfahren, an allen Gesetzen beteiligt werden sollten. Auch das Recht auf Gesetzesinitiative verlangten sie daher. Dieses Konzept verfolgte aber gerade keine demokratische Tendenz, sondern zielte auf eine Elitenherrschaft; so intendierte man z. B. ein Wahlrecht, das von Eigentum und Ausbildung abhing. Den Prototyp des Wählers bzw. des Bürgers bildete der »Hausvater«, der gebildete und besitzende Vorsteher einer Familie – also gerade nicht das einzelne Individuum unabhängig von seiner sozialen Stellung. Vordringlich setzten diese Liberalen auf das Recht auf freie Meinungsäußerung und eine freie Presse als zentrale Freiheitsforderung. Einzig der freie Austausch der Meinungen und Argumente schien einen durchgreifenden Reformprozess bewirken und steuern zu können. Damit verband sich die überzeugte Hoffnung, dass sich die Gesell210 211
Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, 414. Vgl. aaO. II, 416.
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schaft aus einer »inneren Bewegungsmechanik«212 heraus zu der freien Ordnung hin entwickeln würde – und nur der Beseitigung von Entwicklungshindernissen bedürfe. Neben dem konstitutionellen Liberalismus traten auch radikal-liberale Denker in die Öffentlichkeit; sie blieben aber eine Minderheit, oftmals im Exil. Die Forschung unterscheidet dabei einen populistischen Radikalismus von einem intellektuellen Radikalismus, den vor allem Linkshegelianer verfochten. Diese kritischen Denker, welche Kritik zum Prinzip erhoben, formierten sich jedoch nicht zu einer einheitlichen politischen Kraft. Sie teilten jedoch die existenzbestimmende Erfahrung, trotz brillanter intellektueller und akademischer Leistungen nicht zu einem akademischen Lehramt zugelassen oder daraus wieder entfernt zu werden. »Als freie Schriftsteller, Hauslehrer, Dauerrezensenten, auch von den Eltern weiter unterstützt, schlugen sich die meisten durch«.213 Insgesamt stellt sich der Liberalismus im deutschen Vormärz als weit weniger modern dar als in England oder in Frankreich oder auch, als der historische Rückblick der Gegenwart in identitätsvergewissernder Intention sich wünschen würde. Als kommunikatives Medium der Identitäts- und Meinungsbildung fungierten öffentliche Feste, gemeinsame Petitionen und vor allem das Publikationswesen. Aber auch das evangelische Gemeindeleben fungierte als sozialer Ort der Einübung liberaler Handlungsmöglichkeiten.214 Der politische Konservatismus215 unterscheidet sich von einem bloßen Traditionalismus darin, dass er die bewusste und reflektierte Antwort auf den Liberalismus, auf Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung und vor allem auf die Erfahrung der Französischen Revolution darstellt. Er formiert sich als Reaktion auf die geistige Strömung der Aufklärung und des Rationalismus bereits vor der Französischen Revolution, aber verstärkt sich in seinen Anliegen durch die nachfolgenden Erfahrungen. Sehnsucht nach Ruhe und Stabilität treibt ihn an, ein Verlangen nach Verlässlichkeit nach all den Umstürzen, Kriegen und Reformen. Inbegriff seiner Orientierung ist, dass es um die Bewahrung des Bestehenden gehe gegen die Versuche, das Bestehende zu ändern oder abzuschaffen. Lautet der Zentralbegriff der Liberalen »Freiheit«, so der der Konservativen »Ordnung«. Ordnung kann in der konservativen Vorstellung allein durch Autorität garantiert und bewahrt werden. Konkret bedeutete das ein Eintreten für die Verbindung von Kirche und Staat, für das Herrschertum von Gottes Gnaden, für die Fürstenherrschaft und die Ständeordnung, für Adelsprivilegien. In Folge bekämpften die Konservativen auch den Nationalismus. Auch den Konservatismus klassifiziert die Forschung in verschiedene Unterströmungen: Beamtenkonservati212
Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, 421. AaO. II, 435. 214 Vgl. aaO. II, 428. 215 Zum Folgenden Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte II; 440–457; Nipperdey: Deutsche Geschichte, 313–330. 213
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vismus, altständisch-patrimonialer Konservatismus, legitimistisch-neuständischer Konservatismus, pragmatischer Staatskonservativismus und Reformkonservativismus.216 Innerhalb der preußischen Verwaltung setzte sich ab 1820 der Beamtenkonservativismus gegenüber dem Beamtenliberalismus durch. Bei aller Orientierung am Bestehenden dringt aber auch der Beamtenkonservativismus auf eine effiziente, leistungsstarke und durchorganisierte Verwaltung. Dem Konservatismus aller Spielarten förderlich erwiesen sich romantische Strömungen und Autoren, wie Friedrich Schlegel, Achim von Arnim und Franz von Baader. Sie verklärten das Mittelalter, fanden in Edmund Burke ein Vorbild. Damit konnte sich auch eine Hinwendung zur katholischen Kirche entwickeln. Im Folgenden sei ein Beispiel damaliger Staatstheorie vorgestellt, verfasst von Friedrich Christoph Dahlmann. Für die gegebene Fragestellung interessant ist darin, dass sein Verfasser zu politischem Handeln gemäß seiner eigenen Theorie schritt und dass die Theorie gerade auch deshalb breit rezipiert wurde. Es zeigt, wie sehr gerade auch ein liberal orientierter Ansatz im damaligen Deutschland sich scharf gegen Vertragstheorien abgrenzte. Ferner zeigt es die Schwierigkeiten der klassifizierenden Einordnung, denn ob und inwiefern Dahlmanns Konzept »liberal« sei oder nicht, war zu Dahlmanns Zeiten offen und ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Auch darin ist er ein wertvoller Vergleichspunkt für die Untersuchung von Schleiermachers Staatslehre. 5. Eine historische Fallstudie: Friedrich Christoph Dahlmanns »Politik« Beispielhaft sei das an Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860) vorgeführt.217 Seine Staatslehre gilt als die berühmteste des Vormärz, was vornehmlich mit dem Verfasser zu tun hat. Der Professor für Geschichte gehörte zu den Göttinger Sieben, welche 1837 schriftlichen Protest dagegen einlegten, dass der König Ernst August von Hannover das Staatsgrundgesetz von 1833 aufhob und die hannoverischen Staatsbeamten vom Eid auf diese Verfassung entband. Der Sprecher und Initiator des Protestes war Dahlmann, der zusammen mit den sechs anderen Göttinger Professoren seines Lehrstuhls enthoben und mit zwei anderen des Landes verwiesen wurde. Dafür avancierten sie in der bürgerlichen Öffentlichkeit zu Helden; zu ihren Gunsten führte man öffentliche Sammlungen durch. In diesem Zusammenhang interessierte sich die gebildete Öffentlichkeit für Dahlmanns Werk zur Staatslehre mit dem Titel »Politik«, welches er zwei Jahre zuvor veröffentlicht hatte; mit faszinierter Aufmerksamkeit studierte man dabei insbesondere sein Kapitel zum Widerstandsrecht.218 Seine Theorie entfal216
Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, 442. Zum Folgenden Bleek: Dahlmann, 273–277. 218 Dahlmann setzte seine politischen Aktivitäten fort; nach Ausbruch der Märzrevolution wählte man ihn in die verfassungsgebende Nationalversammlung. So spielte er in der Paulskirche eine wichtige Rolle. In der Folge der Ereignisse wurde er zur »Personifikation des Scheiterns 217
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tet damit im deutschen Bildungsbürgertum eine hohe Wirkung, die sich weniger auf einzelne Inhalte bezog, sondern darauf, dass »die Bildung selbst politisch« wurde, »politisch nach dem Sinn und Bedürfnis der Emanzipationsbestrebungen des liberalen Bürgertums«.219 Dahlmann versteht nämlich Bildung als das Fundament auch der Rechtsanstalten des Staates und ihrer Wirkungen. Der Bildung eignet im Staat eine hohe Macht, größer als allen staatlichen Institutionen, und zwar vermittels der öffentlichen Meinung, die ganz vom Stand der Bildung abhänge.220 »Der Einfluß von Dahlmanns Politik auf die Vorbereitung und den Gang der Revolution von 1848 – das Buch hatte ein Jahr zuvor die 2. und 3. Auflage erlebt und wurde in den Debatten der Parlamente nicht nur immer wieder zitiert, sondern auch praktisch bei Fragen der Verwaltung und Gesetzgebung zu Rate gezogen – war vor allem in dieser politischen Umsetzung eines von klassischer Philosophie und Literatur genährten Bildungsbegriffs begründet«.221 Diese Rezeptionsgeschichte ist nach Riedel sogar als so dominant zu beurteilen, dass »das deutsche Bürgertum sein politisches Gewissen in Dahlmanns Politik [. . . ] und nicht in den Werken von Kant und Hegel, von Fichte und Schleiermacher entdeckte«.222 Dahlmann selbst ist von all diesen Traditionen geprägt; er verbindet in seinem Entwurf Aufklärungselemente und Ideen der Romantik, er synthetisiert liberale und konservative Auffassungen.223 Dahlmanns staatstheoretische Veröffentlichung »Die Politik, auf den Grund das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt« von 1835 lässt paradigmatisch erkennen, welche Alternativen die Debattenlage bestimmten und wie stark die Frontstellung gegen die Vertragstheorie die eigene Theorie formte. Innerhalb der Staatstheorie gilt er als Begründer einer streng historischen Betrachtungsweise, die er ebenso in die praktische Politik einführte.224 Nicht begrifflichsystematisch orientiert sind seine Ausführungen, sondern bildhaft-eindringlich und abwägend-perspektivenreich, geprägt durch geschichtliche Betrachtungen. Das Buch zielt erkennbar auf die öffentliche Meinung, wie das Vorwort schon prononciert verlautet, so sehr es auch als Manuskript zu seiner Vorlesung konzipiert ist. Seinen Ausführungen stellt er eine Einleitung (»Wie der Staat zu der Menschheit stehe«) mit 18 Thesen voran. Die ersten beiden Thesen sind als Verneinunder deutschen Freiheits- und Einheitsbewegung« (Bleek: Dahlmann, 277). Ab 1850 lehrte er wieder, diesmal an der Universität Bonn. 219 Riedel: Politik und Geschichte, 308. 220 »Wo der Geist der Nation einen hohen Schwung nimmt, da allein ist öffentliche Meinung und diese ist dann eine Macht, ununterbrochen und mehr aus der Tiefe wirkend als alle politischen Institutionen.« (Dahlmann: Politik, 201). 221 Riedel: Politik und Geschichte, 308. 222 Ebd. 223 Vgl. dazu Bleek: Dahlmann, 305. 224 Vgl. aaO. 275.
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gen formuliert, die dezidiert vertragstheoretische Konzepte zurückweisen. An die Verneinung schließen sich dann jeweils die positiven Bestimmungen an – und nicht umgekehrt. Die Motivstruktur und Begründungslogik bildet sich so direkt sprachlich ab. Die erste These lautet: »1. Dem Staate geht kein Naturzustand voran, der von blinden Trieben und vernunftlosen Menschen handelt. Der Naturstand des Menschen ist Vernunft zu besitzen, ein Über und ein Unter sich zu unterscheiden«.225 Den Unterschied von staatlichem Leben der Menschen und einem natürlichen, vorstaatlichen Leben der Menschen zieht er damit ein; Natur und Staat bilden keine Gegensätze. Das Positivum formuliert Dahlmann nicht direkt, sondern vermittelt über den Begriff der Vernunft, dass es eben zum Naturstand des Menschen gehöre, Vernunft zu besitzen und Hierarchien zu kennen. Noch deutlicher fällt die Abgrenzung gegen die Vertragstheorie in der zweiten These Dahlmanns aus: »Der Staat ist also keine Erfindung, weder der Noth noch der Kunst, keine Actiengesellschaft, keine Maschine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben hervorspringendes Vertragswerk, kein nothwendiges Übel, kein mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menschheit«.226 Implizit lehnt er damit zwei Bestimmungsmomente von Staatlichkeit ab: der Staat soll nicht etwas Willkürliches, durch menschliche Geistestätigkeit erst Hervorgebrachtes sein. Die Menschen haben den Staat nicht geschaffen. Dahlmann zieht den Schluss nicht explizit, aber es ist zu vermuten, dass dem Menschen damit zugleich auch die aktuelle Verfügungsgewalt über den Staat als Staat abgesprochen werden soll. Dann lehnt er ab, die staatliche Ordnung in ihrem Wesen mit Negativattributen zu belegen oder als anderweitig verbunden mit defizitären Dimensionen. Was also ist der Staat? »Der Staat ist uranfänglich. Die Urfamilie ist Urstaat«.227 Mit dem gemeinschaftlichen Sein des Menschen, das sich in der Fortpflanzung vollendet, ist also schon Staatlichkeit gegeben. Worin aber besteht Staatlichkeit im Unterschied zur Familie? Dahlmann ist kein Differenztheoretiker, seine positiven Bestimmungen des Staates bleiben vage und unsystematisch. So ist der Staat für ihn »eine leiblich und geistig geeinte Persönlichkeit« (These 6), eine »Ordnung, ein nothwendiger Zustand, ein Vermögen der Menschheit« (These 2).228 Diese Unbestimmtheit in der allgemeinen Staatsdefinition begründet Dahlmann eigens, und zwar mit der Geschichtlichkeit des staatlichen Lebens229 225
Dahlmann: Politik, 11. – In der Auflage von 1847 zitiert Dahlmann an dieser Stelle explizit Burke und stellt sich damit in die Tradition von dessen scharfer Kritik an der Französischen Revolution und der mit ihr verbundenen Staatsauffassungen. 226 Ebd. 227 Ebd. (3. These). 228 Alle Zitate Dahlmann: Politik, 11. 229 Hier stellt er zwei Extremformen von Staatlichkeit einander gegenüber, die als Minimalform und als günstige Form von Staatlichkeit näher bezeichnet werden. Dabei gibt er ein als allen Staatsformationen zugrundeliegendes Minimum an: ein äußerlich unabhängiger Verein von
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und der hermeneutischen These von der geschichtlichen Standortbedingtheit jeder Staatstheorie. Daraus zieht er die Schlussfolgerung: »Darum mag auch selbst die Erklärung, was der Staat bedeute, in den Fluß der Zeit hingestellt seyn«.230 Umgekehrt bedeutet die These von der Geschichtlichkeit jeder Staatstheorie auch, dass jede Staatslehre auf ihre eigene Gegenwart zielt, und noch genauer: auf den eigenen Weltteil, auf das eigene Volk. Aus dieser Gegenwart erhält eine Staatstheorie auch die Fragen, die sie zu beantworten und die Probleme, die sie zu bearbeiten hat: »Die Politik [i. e. die Politische Theorie, MR] muß, um lehrreich zu seyn, ihre Aufgaben nicht wählen, sondern empfangen, wie sie im Drange von Raum und Zeit hervorgehen aus jener tiefen Verschlingung der gesunden Kräfte der Menschheit mit allem dem krankhaften Wesen, welches in der physischen Welt Übel, in der moralischen Böses heißet«.231 Dabei soll die Politik die Ursachen des Krankhaften aufdecken und vermindern helfen. Verbunden ist mit dieser Aufgabenbestimmung politischer Theorie eine scharfe Abgrenzung gegen Formen von Staatstheorien, welche mit Staatsidealen, abstrakten Kategorien und selbst gestellten Theorieproblemen arbeiten. Damit konzipiert Dahlmann eine radikale Vorordnung von geschichtlich-gegenwärtiger Praxis vor politischer Theoriebildung, welche sich deutend und analysierend ausschließlich auf diese in ihrer Vorgegebenheit zu richten habe. Staatstheorie ist für ihn daher immer konkrete Reflexion einer konkreten Praxis hin zur Förderung dieser politischen Praxis. Staatstheorie ist damit eine praktische Wissenschaft.232 Auch das Förderungspotential der Theorie hält er für sehr begrenzt, insofern die Theorie nur die Ursachen von Störungen/Krisen erkennen, aber nicht selbst ProduktivVerbesserndes für den Staat bewirken kann. Mit dieser Reflexion auf den Theoriestatus der Staatslehre nimmt Dahlmann eine starke, prinzipielle Selbstbegrenzung und Selbstrelativierung von Staatslehre vor. Doch nicht nur die Grenzen der Theorie von Staatlichkeit beschreibt er, sondern auch die Grenzen von Staatlichkeit selbst. Trotz der so betonten Uranfänglichkeit und Notwendigkeit des Staates bezieht der Staat sich noch auf höhere Ordnungen, an denen er sich zugleich auch begrenzt. Zum einen dient der Staat der höheren Ordnung der Menschheit. Dahlmann spricht von dem großen gemeinsamen Werk der Menschheit, für welche die Staaten nur Vorarbeit leisten.233 Dahlmann hat dabei keinen Weltstaat oder Menschen, verbunden durch »eine Anzahl gemeinsamer Obliegenheiten, durch eine Regierung gewahrt« (Dahlmann: Politik, 14). Hiermit hätte man eine allgemeinste Staatsdefinition Dahlmanns. 230 Dahlmann: Politik, 14 (13. These). Damit hängt auch zusammen, dass Dahlmann fortan in seinen Ausführungen kaum den Allgemeinbegriff Staat verwendet (vgl. dazu auch Riedel: Politik und Geschichte, 318). 231 Ebd. 232 Dazu auch Riedel: Politik und Geschichte, 317. 233 Vgl. Dahlmann: Politik, 12.
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ähnliches im Blick; diesen lehnt er explizit ab zugunsten einer Staatenfamilie.234 Mit dem Gedanken der Menschheit verbunden, aber nicht mir ihr identisch, ist für Dahlmann das »Sittengesetz des Individuums«,235 die höhere Bestimmung des Menschen. Konflikte für den einzelnen Menschen zwischen Gehorsam gegenüber staatlicher Ordnung und gegenüber dem Sittengesetz, der göttlichen Ordnung sollte ein Staat möglichst verhindern. Tritt ein solcher Konflikt aber auf, muss der Mensch zuerst seine sittliche Pflicht erfüllen – so Dahlmann, dabei Luther zitierend. »Das ist der Ruhm und die Gefahr der menschlichen Dinge, daß der Einzelne am Ende unberechenbar gegen den Staat steht«.236 Obwohl also Dahlmann für die Staatsbegründung sich in keiner Weise auf Freiheitsrechte des Einzelnen bezieht, sogar die Einzelnen bei ihm überhaupt keine Rolle für Begründung und Wesen des Staates spielen, konzipiert er hier ein Widerstandsrecht des Einzelnen. Dieses Widerstandsrecht237 leitet sich ausschließlich ab aus der Hierarchie von Sittengesetz und staatlichem Gesetz/staatlicher Ordnung. Unbedingt bindendes Gesetz ist nur das Sittengesetz; erst danach kommt die Verbindlichkeit staatlicher Ordnung. Dass damit keine Abwertung dieser staatlichen Ordnung impliziert ist, betont Dahlmann eigens, indem er sagt, dass »nichts auf der Erde der göttlichen Ordnung so nahe steht als die Staatsordnung«.238 Wie Dahlmann das Widerstandsrecht im Detail konzipiert, sei nun etwas ausführlicher vorgestellt. Dabei soll auch exemplarisch die Theoriestruktur hervortreten: der nachdenkliche, behutsame, themenumkreisende Stil, mit dem Dahlmann ein Problem jeweils erst aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, um dann ausgewogene Antworten zu entwickeln, bei denen Dahlmann immer schon mitreflektiert, wie diese Antworten wirken könnten und welches politisch-praktische Potential in ihnen steckt. Mit einer Definition setzt Dahlmann ein. Widerstandsrecht bezeichnet das Recht der Untertanen, sich mit physischer Gewalt gegen Überschreitungen der Regierung zu sichern.239 Zunächst stellt Dahlmann zwei mögliche Extrempositionen zum Widerstandsrecht einander gegenüber und zeigt auf, dass beide jeweils völlig inakzeptable Konsequenzen nach sich ziehen. Wenn bei jeder Verfassungsverletzung durch die Regierung die Untertanen die Pflicht hätten, sich zu bewaffnen und dann bewaffnet die Regierung zu bezwingen, dann wäre keine einzige Regierung mehr sicher – und so müsste man wohl hinzufügen, für Dramenstoff in Fülle gesorgt. Ebenso pathetisch zeichnet Dahlmann die andere Extremposition. Wenn nämlich die Untertanen unterschiedslos jedem Befehl einer Regierung folgen und jedes Gesetz widerspruchslos ausführen müssten in blindem Gehorsam, dann sei 234
Vgl. aaO. 15. AaO. 13. 236 AaO. 13. 237 Dem Widerstandsrecht widmet Dahlmann auch ein eigenes Kapitel. 238 AaO. 13. 239 AaO. 135. 235
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»jede Verfassung Lüge«,240 weil dann nicht mehr zwischen Recht und Unrecht, zwischen Verfassungsgemäßem und Verfassungswidrigem zu differenzieren sei. Keine vernünftige Regierung könne eine solche Forderung erheben, denn damit könnten die Untertanen auch nicht praktisch unterscheiden zwischen unrechtmäßigen Eroberern und der rechtmäßigen Regierung. Sie könnten der rechtmäßigen Regierung auch nicht mehr zu Hilfe eilen; insofern sollten Regierungen um ihrer eigenen Sicherheit, um ihres eigenen Selbsterhaltes willen nicht die Forderung eines unterschiedslosen blinden Gehorsams erheben. In einem nächsten Schritt widerlegt er auch alle vorgebrachten religiösen bzw. theologischen Argumente für die Forderung nach einem unbedingten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Das Pauluszitat aus Röm 13 entkräftet er durch Verweis auf Christi Handeln gegenüber der Ehebrecherin und was dieses Handeln impliziere für seine Bestimmung menschlicher Gerichtsbarkeit. Auch Luther und den »sanfte[n] Melanchthon«241 stellt Dahlmann dann als Opponenten einer unbedingten Gehorsamsforderung dar. Sein Plädoyer dafür, Widerstand auch gesetzlich zuzulassen, begründet er mit politischer Erfahrung: »Politische Erfahrung räth, gewisse Wege des erlaubten Widerstandes freiwillig zu eröffnen, damit die zerstörenden durch Warnung bei Zeiten, umso sicherer verschlossen bleiben«.242 Dahlmann rät zum gesetzlichen Recht auf passiven Widerstand bei »solchen Steuerausschreibungen und Gesetzen, welche ohne die verfassungsmäßig erforderliche ständische Verwilligung und die Anführung der wirklich geschehenen erlassen sind«.243 Dahlmann argumentiert also auf zwei Ebenen: in sittlicher Hinsicht hat jeder Mensch das sittliche Recht und die sittliche Pflicht, staatlichen Gesetzen zuwider zu handeln, wenn diese dem Sittengesetz widersprechen und seine Realisierung hindern, weil das Sittengesetz unmittelbar und schlechthin bindet. Eine zweite Ebene betrifft das positive Recht des Staates: hier tritt Dahlmann dafür ein, ein Recht auf Widerstand in bestimmter Hinsicht in das positive Gesetz des Staates selbst mit aufzunehmen. Für dieses zweite argumentiert er mit pragmatischen Klugheitserwägungen (»politische Erfahrung«, etc), aber auch damit, dass sich nur so innerhalb des staatlichen Gesetzes und seiner Perspektive auch die Unterscheidung von Faktizität und Rechtmäßigkeit konsequent aufrecht erhalten lässt. Diese Unterscheidung sei aber für das Selbstverständnis und die Legitimität einer Regierung unerlässlich und in deren eigenem Interesse. Als drittes Argument macht er geltend, dass zum Begriff der Verfassung gehöre, dass sie geltendes Recht sei, auch für die Regierung. Ohne ein irgendwie geartetes Widerstandsrecht gegen Verfassungsverletzungen durch die Regierung sei eine Verfassung 240
Dahlmann: Politik, 135. AaO. 136. 242 AaO. 136. 243 AaO. 137. 241
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nicht geltendes und geltend zu machendes Recht und daher gar keine Verfassung. Dahlmann interessiert aber erkennbar weniger die Begründung eines solchen gesetzlichen Rechts auf passiven Widerstand, sondern der politische Umgang mit einer solchen Situation von Widerstand. Er artikuliert dabei eine schreckensvisionäre Angst vor unkontrollierter Gewalt und vor Zerstörung rechtlich geordneter Verhältnisse. Der Widerstand gegen eine einzelne Tat oder gegen die bestimmte Regierung eskaliere allzu schnell zum Umsturz der ganzen staatlichgesellschaftlichen Ordnung. Nachdenklich-behutsam reflektiert er auf die Ambivalenz jeder Revolution, auch derjenigen, die gerechtfertigt ist durch ihre Auslöser, denn »jede Revolution ist nicht bloß das Zeugniß eines ungeheuren Misgeschicks, welches den Staat betroffen hat, und einer keineswegs bloß einseitigen Verschuldung, sondern selbst ein Misgeschick, selbst schuldbelastet«.244 Daher sei auch eine Revolution mit den besten Intentionen und Gründen »eine schwere Krise, die Gewissen verwirrend, die innere Sicherheit unterbrechend«.245 Damit verbindet Dahlmann eine beißend-scharfe Ablehnung »revolutionären Sinns« zugunsten einer Haltung, welche sich zentriert um die Kultivierung der eigenen Seele und der eigenen Familie. Einer solchen Haltung komme das Verdienst zu, gerade in dieser Beschränktheit die öffentliche Sitte zu verbessern und ein unverletzliches Gebiet der Freiheit zu bewahren, unter welcher äußeren Despotie auch immer. Dahlmanns Kapitel über das Widerstandsrecht ist in Aufbau, Schwerpunktsetzung und sprachlicher Gestaltung so verfasst, dass er trotz seines Eintretens für ein passives Widerstandsrecht nicht der Sympathie mit Revolution und Faszination an Revolution verdächtigt werden kann. Durchgängig und nachdrücklich betont er, wie wichtig staatliche Ordnung und die Stabilität von Regierungen sei. Ebenso unmissverständlich distanziert er sich auch von vergangenen Revolutionen, wiewohl er erklärt, dass im Nachhinein erfolgreiche Revolutionen auch zu unterstützen seien, um der Stabilität staatlicher Ordnungen willen. Diese Staatstheorie in die damalige Debattenlage und Lagerbildung einzuordnen, fiel Zeitgenossen wie nachfolgenden Forschergenerationen gleichermaßen schwer. Als Vertreter eines Liberalismus mit Orientierung an englischen Vorbildern rezipierte man Dahlmann in der älteren Forschung. Seinen Anhalt hatte das an den Textpassagen, in denen Dahlmann die englische Verfassungswirklichkeit als Darstellung überhaupt der neueren Verfassungsgeschichte konzipiert, jedoch mit dem Argument, dass die englische Verfassung die Bauelemente von Verfassung am reinsten ausgeprägt habe und dass die englische Verfassung ein Bild ist der besten Kräfte des germanischen Volkslebens.246 Ziel der Geschichte sei 244
Dahlmann: Politik, 139. AaO. 140. 246 Vgl. Dahlmann, Politik, 50: »Das Germanische Volksleben steht nicht bloß an sittlicher 245
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es, jene Verbindung der drei Gewalten von Königtum, Aristokratie und Volk zu verwirklichen – wie es in England bereits der Fall sei. Ausdrücklich beruft sich Dahlmann für dieses Ideal einer Mischverfassung aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie auf Aristoteles. Mit der Orientierung an der englischen Verfassungsgeschichte impliziert Dahlmann also mitnichten eine Theorie in der Tradition des englischen Liberalismus. Die Forschungen seit den 1970er Jahren zeigten aber,247 dass Dahlmann erst seit einem Aufsatz seines Schülers Treitschke als Liberaler interpretiert und positiv aufgenommen wurde. Den Zeitgenossen gilt er aber nicht als liberal und auch er selbst wandte sich 1831 gegen die Bezeichnung »liberal«.248 Die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft, von der Dahlmann durchaus pointiert spricht, bezieht sich auch bei ihm gerade nicht auf die Freiheit der Einzelnen im Staat und in der Gesellschaft, sondern auf die Beteiligung »aller Stände und Gliedmaßen eines Volks«249 an der Veränderung des Staates und seiner Ordnungen. Man hat ihn eingeordnet unter die Bezeichnung »deutscher Konstitutionalismus«250 oder auch unter »Frühkonstitutionalismus«.251 Andere heben seine »konservative Grundhaltung«252 hervor, in der sich aristotelische Politiktradition mit dem Programm der historischen Rechtsschule verbinde. Eine grundsätzlich liberale Orientierung drückt sich in seinen Texten aber doch aus, insofern er die Restauration ebenso wie die Revolution bekämpft, da beide sich gegen die natürliche geschichtliche Entwicklung wenden. Als das höchste Darstellbare zeichnet Dahlmann den »Fortschritt« aus.253 Mit Bleek kann man den Eindruck gewinnen, dass »Dahlmanns moderate Verfassungslehre lange Jahre in der Bundesrepublik nicht in das progressive Wunschbild passte, das man sich vom frühbürgerlichen Liberalismus machte«.254 Das kann man auch dadurch erklären, dass die akademische Lehrtradition, in welcher dieser Entwurf steht, nicht genügend berücksichtigt wurde: seit dem Mittelalter bildete sich eine Politik-Lehre heraus, Tiefe und Vielgestaltigkeit dem des Alterthums voran, es hat bei dieser Fülle der nebeneinander gepflegten Formen des Daseyns auch der zur Einheit durchbildenden Kraft, welche dem Ganzen seine Frische und Bedeutung verbürgt, nicht überall ermangelt. Davon giebt England das Zeugniß«. 247 Vgl. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, 185f. 248 Vgl. aaO. 185. 249 Dahlmann: Politik, 15. 250 So Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, 185. Boldt merkt an selber Stelle an, dass für deutsch-konstitutionelle Ansätze auch typisch sei, wie Dahlmann vorginge: »die Aussparung des Konfliktsproblems als eines heißen Eisens, vorsichtiges Lavieren und die Ersetzung seiner Analyse durch Harmonie-Prämissen«. 251 Bleek: Dahlmann, 307, der sich damit der Position von Vierhaus anschließt (vgl. Vierhaus: Dahlmann, 51–62). 252 Bermbach: Liberalismus, 351–354. 253 Dahlmann: Politik, 15. 254 Bleek: Dahlmann, 317.
IV. Staatstheoretische Debattenlage in Deutschland
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die auf Aristoteles fußte und innerhalb der artes liberales angesiedelt war. Diese älteren Lehren von der Politik setzten sich fort in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erlebten da nochmals eine Blüte, bevor sie untergingen, und die spätere Politikwissenschaft sich als moderne Sozialwissenschaft auf ganz andere Vorbilder bezog.255 Wie schwer die Einordnung der politischen Theorie Dahlmanns fällt, ist deutlich geworden; dies kann helfen, die vielfältigen Schwierigkeiten der Forschung, Schleiermachers politische Theorie zu positionieren, zu verstehen und Einseitigkeiten zu vermeiden. Zusammenfassend lassen sich bei Dahlmanns Staatslehre folgende Charakteristika bezeichnen: (1) Der Theorie liegt explizit und implizit eine dezidierte Abgrenzung von Vertragstheorie und vertragstheoretischen Elementen zugrunde. (2) Geschichtlichkeit und Staatlichkeit menschlichen Lebens implizieren einander wechselseitig. Geschichte des menschlichen Lebens beinhaltet Staatlichkeit; und Staatlichkeit ist immer geschichtlich geformte, geschichtlich sich verändernde Staatlichkeit (Geschichtlichkeitsthese). Geschichtliche Veränderung versteht Dahlmann zugleich als Fortschritt (Fortschrittsthese). (3) Begrenzung staatlicher Ordnung geschieht ausschließlich durch Bezug auf Menschheitsordnung und auf das Sittengesetz (Ordnungshierarchie-These). Die Ethik übernimmt damit die Funktion einer Gesamttheorie, in die sich die Staatslehre einzuordnen hat. Der mögliche Konfliktfall des Einzelnen mit dem Staat bildet dann einen Teil ethischer Theorie, nicht jedoch der Staatstheorie als solcher. Die Reflexion des Verhältnisses des Einzelnen zum Staat verlagert Dahlmann damit aus der politischen Theorie in die ethische Theorie. Der Einzelne in seinem Verhältnis zum Staat ist somit lediglich ein Gegenstand der sittlichen Reflexion und der individuellen Verantwortung; es ist kein Thema des Staates, seiner Ordnung und der Theorie vom Staat (Theorietransfer-These). (4) Aus der Begrenzung staatlicher Ordnung am Sittengesetz wird ein sittliches Widerstandsrecht abgeleitet. Aus dem Begriff der Verfassung wird die Forderung nach einem gesetzlichen Recht auf passiven Widerstand konzipiert. (5) Zur Staatslehre gehört die Reflexion auf ihren Theoriestatus. Die Staatslehre bestimmt Dahlmann als geschichtlich-deutende Theorie gegenwärtiger politischer Praxis mit praktischer Ausrichtung. Damit verbindet sich eine tiefe Überzeugung von der politischen Relevanz politischer Theorie, die zu einer erhöhten Vorsicht bei der Formulierung der Theorie führt und zu einer bewussten Verantwortungsübernahme für die Folgewirkungen der eigenen Theorie. (6) Die Grundmetaphern für den Staat entstammen dem anthropologischen Bereich (»Persönlichkeit«) und dem biologischen Bereich (Krankheit, Gesundheit). (7) Die Staatstheorie gliedert sich in Staatsverfassung, Staatsverwaltung und Außenbeziehung des Staates. Die vorgestellten Grundzüge von Dahlmanns Theorie sollten die Debattenlage in Deutschland paradigmatisch vorführen, um das argumentative Feld vor255
Dazu ausführlich Bleek: Dahlmann, 319–322.
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
zuführen, in das sich Schleiermachers Staatslehrevorlesungen einordnen. Dabei ist zu beobachten, wie stark die Übereinstimmungen zwischen Dahlmann und Schleiermacher in der Theoriebildung sind. Von den oben genannten Charakteristika treffen auch alle auf Schleiermacher zu, mit Ausnahme von Punkt 4. Schleiermacher konzipiert kein Widerstandsrecht, weder in der Staatslehre noch in seiner Ethik. Zwischen Dahlmann und Schleiermacher gibt es eine direkte Verbindung, insofern der junge Dahlmann Vorlesungen Schleiermachers in Halle hörte. Schleiermacher las in Halle jedoch noch nicht eine eigene Staatslehre, also konnte Dahlmann, was auch immer er sonst von Schleiermacher gehört haben mag, nicht von einer ausgearbeiteten Staatstheorie Schleiermachers geprägt worden sein. Persönliche Begegnungen oder eine Korrespondenz sind auch nicht zu belegen. Die Theorie-Ähnlichkeiten zwischen Dahlmanns und Schleiermachers Staatslehre sind daher wohl nicht auf einen genetischen Zusammenhang zurückzuführen, sondern auf die gemeinsame zeit- und geistesgeschichtliche Situation. Aber auch für den Fall, dass Dahlmann Schleiermacher Grundzüge seiner Staatstheorie verdanken sollte, wäre das ein Beleg dafür, was an Schleiermachers Grundeinsichten für Dahlmann plausibel war, inwiefern sie also einen gemeinsamen Plausibilitätshorizont teilen – mit welchen genetischen Verbindungen auch immer versehen. Die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen sind also vor allem auf die geteilten Grundanliegen in einer spezifisch strukturierten Debattenlage zurückzuführen, jedoch kaum oder nur geringfügig auf genetische Zusammenhänge, denn die Durchführung im Einzelnen und die Begrifflichkeit unterscheiden sich doch stark voneinander.
V. Fazit: Schleiermachers Staatslehre – begrifflich rekonstruierter preußischer Zeitgeist? Schleiermacher schreibt und denkt im Horizont der Französischen Revolution aus der Perspektive der preußischen Debatten zu Politik und Staatstheorie. Diesen spezifischen Kontext zeichnete das letzte Kapitel nach. Zunächst wurde Schleiermachers Deutung der Französischen Revolution beleuchtet, wie sie sich trotz Modifizierungen im Wesentlichen von seinen frühen Jahren bis hin zu den späteren Staatslehrevorlesungen durchgehalten hat. Dabei zeigte sich, wie Schleiermacher die zeitgenössischen Interpretationskategorien und Deutemetaphern aufgreift. Anschließend wurde ausführlich die staatstheoretische Debattenlage mit ihren zugrunde liegenden Leitannahmen vorgestellt. Diese basieren auf einer Deutung der Französischen Revolution, die zumindest deren Gewaltauswüchse mit vertragstheoretischen Entwürfen kausal verbindet. Daher gelten vertragstheoretische Staatsbegründungen und deren einzelne Argumentationsfi-
V. Fazit
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guren als durch die Geschichte in ihrer zerrüttenden Wirkung auf das Gemeinwesen widerlegt. Zu den mit der Vertragstheorie verbundenen Argumentationsfiguren zählen die Rede von Freiheitsrechten des Einzelnen, von politischem Widerstandsrecht, von der konstitutiven Bedeutung menschlicher Willensakte für die Staatsentstehung und vom definierten Staatszweck. In einem solchen Kontext waren nur Theoriealternativen plausibel, welche den Staat als jeweils individuelles geschichtliches Gebilde interpretierten und sein Entstehen mit Naturprozessen parallelisierten, und sei es durch die Rede von der Natur des Geistes, wie z. B. eben bei Schleiermacher. Diese Debattenlage wurde methodisch erschlossen durch den Verweis auf Debatten unter Staatsrechtlern und unter Beamten, sowie exemplarisch durch die Analyse von Dahlmanns Entwurf. Bewusst thematisierte die Untersuchung nicht die Großtheorien von Hegel oder Fichte, sondern das allgemeine argumentative Umfeld, in dem auch diese Großtheorien wurzeln. Beim Vergleich mit dieser allgemeinen Debattenlage zeigte sich, wie wenig sich Schleiermacher in seiner Staatslehre davon abhebt. Anliegen, Argumentationsfiguren und Theoriepräferenzen teilt er mit den Denkern seiner Zeit. Worin Schleiermacher staatstheoretisch innovativ ist, ist fast vollständig der Grundlegung der Staatslehre in seiner philosophischen Ethik zu verdanken. Die Durchführung der Staatstheorie im Einzelnen, ihre Motive und Anliegen entstammen dagegen vornehmlich den mit Zeitgenossen geteilten Plausibilitäten. Auch die geltend gemachte Eigentümlichkeit, dass trotz emphatischer Betonung von Freiheit seine Staatslehre keine Freiheitsrechte des Einzelnen vorsieht, erklärt sich ganz aus dem geistesgeschichtlichen Kontext Schleiermachers. In der Durchführung dieser mit den Zeitgenossen geteilten Anliegen und Argumentationsfiguren besticht Schleiermachers Staatstheorie durch ihre klare Begriffsarchitektur, die Ableitung aller einzelnen Themen aus der begrifflichen Grundbestimmung des Staates sowie der komplexen Bündelung von Gedankenmotiven. Wie er das genau gestaltet, sollen thematische Einzelstudien zu seiner Staatslehre zeigen. An dieser Stelle sei nur abschließend kurz skizziert, wie Schleiermacher seine Staatslehre anlegt. Schleiermachers Theorie teilt also mit seinen Zeitgenossen bestimmte argumentative Plausibilitäts-Strukturen, welche durch Entgegensetzungen und AntiHaltungen geprägt sind. Innerhalb dieser gemeinsamen Plausibilitäten aber unterläuft Schleiermacher die Theorie-Alternativen von »vertragstheoretisch« und »antikontraktionell«, und in anderer Weise von liberal und konservativ. Innerhalb eines antikontraktionellen Theorie-Rahmens synthetisiert er kontraktionelle und antikontraktionelle Motive. Auf der Theorie-Oberfläche bezieht Schleiermacher zu allgemeinen politischen Fragen keine Stellung; implizit unterstützt seine Theorie aber die preußischen Reformen und Reformer. Bei vielen einzelnen politischen Fragen zeigt er Handlungsoptionen auf und wägt Vorteile und Nachteile der einzelnen Optionen ab. Den Maßstab für Vor- und Nachteile der
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B. Die Französische Revolution in der deutschen Rezeption
Optionen bildet argumentativ das Regierungsinteresse, der Machterhalt oder die Staatsstabilität. Die Empfehlungen, die er dann gelegentlich ausspricht, aber immer sehr zurückhaltend und behutsam vorträgt, haben den Charakter von Klugheitsregeln. Auf der Textoberfläche stimmt Schleiermacher also der TheorieAlternative zwischen Vertragstheorie und antikontraktioneller Theorie zu, und formuliert so ebenfalls eine dezidiert antikontraktionelle Staatstheorie, die dementsprechend weder mit konstitutiven, natürlichen Freiheitsrechten der Einzelnen argumentiert noch mit expliziten Willensakten als Staatsgründungsfaktum. Innerhalb dieses Rahmens aber entwickelt er eine Theorie, welche Strukturmomente von vertragstheoretischer Staatsbegründung aufnimmt und die Theoriealternativen in mancher Hinsicht unterläuft. Der Staat entsteht nach Schleiermacher durch menschliche Handlungen und er besteht in menschlichen Handlungen. Diese Handlungen sind aber gerade keine beliebigen Zustimmungshandlungen oder explizite Willenserklärungen, wie in der Vertragstheorie, sondern sind implizite Anerkennungsakte, die sich in Handlungen ausdrücken. Die Bildung von Staaten ist Teil des Vernunfthandelns des Menschen, und nicht etwa eines Triebes zur Staatsbildung. Dieses Vernunfthandeln bezieht sich aber nicht auf Zweck-Mittel-Relationen, sondern ist Ausdruck der Bestimmung der menschlichen Vernunft, auf die Natur zu handeln. Ebenso unterläuft Schleiermacher auf komplexe Weise die Alternative von Staatlichkeit als beruhend auf dem freien Entschluss der Staatsbürger und Staat als feste Größe, welche dem freien Willen der Einzelnen über- und vorgeordnet ist. Indem Schleiermacher den Staat als eine Sphäre des höchsten Gutes versteht, gilt für ihn beides, dass der Staat menschliche Handlungen freisetzt und dass er in und aus menschlichen Handlungen besteht. Der Staat entsteht nach Schleiermacher nicht allmählich, auch war er nicht schon immer da, sondern er bildet sich jeweils in einem bestimmten geschichtlichen Moment. Dieser geschichtliche Moment besteht aber nicht in einem Vertragsschluss, sondern im Explizitwerden einer herrschaftssoziologischen Differenz und eines allgemeinen Gesetzes. Den Revolutionsimpuls, die zukunftsgestaltende Kraft von revolutionärer Veränderung, greift Schleiermacher denkbar positiv auf, indem er ihn theoretisch radikalisiert und damit zugleich sublimiert, da er ihn in die Wesensbestimmung des Staates integriert. Das Wesen des Staates ist seine Veränderung. Der Staat ist sich verändernder Staat. Im Umkehrschluss behauptet Schleiermacher, dass ein Staat, der sich nicht verändert, auch aufhört, ein Staat zu sein.
C. Überblick über die Vorlesungen zur Staatslehre I. Charakterisierung der einzelnen Vorlesungsnachschriften Schleiermacher hielt seine Vorlesungen zur Staatslehre an der philosophischen Fakultät der Berliner Universität. Damit nahm er das Recht aller Akademiemitglieder wahr, unabhängig von ihrem Lehrstuhl auch an der philosophischen Fakultät lehren zu dürfen. Schleiermachers Lehrerfolg war darin dann auch beträchtlich; er übertraf darin deutlich die Hörerzahlen, die Hegel zu seinen Vorlesungen über die Philosophie des Rechtes zu verzeichnen hatte.1 Namentliche Bezüge auf Hegel fehlen jedoch völlig; Fichte dagegen wird durchaus erwähnt, in anerkennender Abgrenzung. Aristoteles und Platon kommen jeweils mit Namen vor. Insgesamt jedoch fällt die explizite Auseinandersetzung mit anderen Positionen und mit der Geschichte der Staatsphilosophie sehr knapp aus. Zurückhaltend bezieht Schleiermacher sich auch auf die Zeitgeschichte – doch der Text enthält vielerlei zeitgenössische Anspielungen, welche die Zuhörer gewiss identifizieren konnten. Was die Französische Revolution betrifft, verschlüsselt Schleiermacher es nicht, wenn er sie interpretiert oder als Beleg für eine These heranzieht. Der Grundduktus der vier Vorlesungen, die wir durch die Nachschriften kennen, ist erstaunlich ähnlich. Auch der Aufbau ist der gleiche wie in der Vorlesung von 1829: nach der Einleitung behandelt er die Staatsverfassung, dann die Staatsverwaltung und als drittes die Staatsverteidigung. Nur die Überschriften dieser Teile wechseln. Die Vorlesungen mit ihren spezifischen Eigenarten, welche vor allem die Einleitung und den Schluss sowie Gewichtungen betreffen, seien nun im Überblick vorgestellt. Zitiert werden die Vorlesungen als »Staatslehre« versehen mit dem entsprechenden Jahr, dem Namen, unter der die Nachschrift überliefert ist sowie nach Seite und Zeile. Das eigenhändige Manuskript Schleiermachers wird ohne Namensnennung zitiert als »Staatslehre 1829«. Damit ist immer klar ersichtlich, ob ein Zitat aus einer Nachschrift oder aus Schleiermachers eigenen Notizen stammt.
1 Auf diesen Sachverhalt macht Hoover: The Foundation of the Communitarian State, 295, aufmerksam.
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
1. Die Vorlesung von 1817: »Politik« Vor 74 Hörern hat Schleiermacher diese Vorlesung2 im Zeitraum vom 21. April bis 13. August 1817 vorgetragen, zur frischmorgendlichen Zeit 6–7 Uhr.3 Die in der Kritischen Gesamtausgabe abgedruckte Nachschrift stammt als Manuskript von Karl August Varnhagen, der höchstwahrscheinlich jedoch eine – inzwischen verschollene – Nachschrift abgeschrieben hat. Die Nachschrift Varnhagens zeichnet sich durch große Präzision in den Formulierungen sowie ein hohes Interesse an theoretisch-begrifflichen Konstruktionsweisen aus. Die Sprache ist weder elegant noch schön (anders als z. B. bei der Mitschrift von 1833), aber sehr genau und komplex im Satzbau. Am Anfang spricht der Text über Schleiermacher in der dritten Person (»die Gründe, welche Schleiermacher für die Wahl der Politik in seinen Vorlesungen angab«4 ), wechselt dann aber gleich in die Perspektive der ersten Person Plural. Ein Framing dient dazu, Intention, Anlass und Selbstverständnis eines Beitrages (intendiert oder unbewusst) vorzustellen. Daher sei bei der Charakterisierung der verschiedenen Vorlesungsnachschriften deren Anfang und Ende eigens dargestellt. Schleiermacher eröffnet die Vorlesung von 1817, indem er die Wahl des Vorlesungsthemas zweifach begründet. Zunächst macht er wissenschaftssystematische Gründe geltend, dann aber politisch-zeitgeschichtliche. Seine Gegenwartsdiagnose besagt, dass die Begriffe vom Staat in Verwirrung geraten seien. Dafür nennt er drei verantwortliche Faktoren: »die Zeit«, »einzelne Urtheile« und die »historische Verbildung und Zernichtung der Staaten«.5 Damit bezieht er sich auf die verunsichernde Erfahrung von Eroberung und Staatsauflösung, auf die Neuordnung der Staatenwelt bis 1815, ausgelöst durch die Nachfolgeereignisse der Französischen Revolution. Als verwirrend bezeichnet er aber auch Urteile und Auffassungen zum Staat, also das ganze Feld der öffentlichen und wissenschaftlichen Meinungsbildung. Politik- und Geistesgeschichte sieht Schleiermacher hiermit zusammenwirken hin zur Verwirrung der zeitgenössischen Reflexion. Als Adressaten seiner Vorlesung identifiziert Schleiermacher die deutsche Jugend, »welche durch ihre Thaten jener Verwirrung ein Ziel gesezt hatte«.6 Damit spielt Schleiermacher an auf die Befreiungskriege und insbesondere auf die Leistung der jungen Männer dabei. Zum Schluss seiner Vorlesung7 schärft er nochmals den Status seiner Ausführungen ein. Intention sei es ausdrücklich nicht gewesen, eine bestimmte Staatsform als Ideal darzustellen, sondern jede Staatsform zu verstehen an ihrer je bestimmten geschichtlichen 2
Ausführlich dazu Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 98–120. Vgl. dazu Jaeschke: Historische Einführung, XXVIIIf. 4 Staatslehre 1817 Varnhagen 208,2f. 5 Staatslehre 1817 Varnhagen 208,8f. 6 Staatslehre 1817 Varnhagen 208,11. 7 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 375f. 3
I. Charakterisierung der einzelnen Vorlesungsnachschriften
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Stelle. In der Entwicklung der Staaten walte nicht Zufall, sondern die Entwicklung verlaufe entsprechend der Natur des Volkes und gemäß der geschichtlichen Notwendigkeiten; diese aber werde durch die Vorsehung bestimmt. So geschehe nichts, als was im vorher bestimmten Gang der Entwicklung liege. Diese Überzeugung drücke aber keinen Quietismus aus, sondern solle zu Zuversicht führen. Die Vorlesung reflektiert an vielen Stellen die Hoffnung auf eine kommende Verfassung in Preußen. Schleiermacher wirbt in allen Teilen seiner Vorlesung für eine solche Verfassungseinführung, indem er ihre Vorteile jeweils benennt – und einen Staat ohne Verfassung dem entgegenhält. Drei Beispiele seien genannt: 1. Recht geübte Diplomatie: »Auch hier hat wieder der constituirte Staat den größten Vorzug, da in ihm der Übergang zu dem grossen diplomatischen Styl leicht ist, indem es stets das Streben der Regierung und der Repräsentation seyn muss, sich zu verständigen und mithin Offenheit herbeizubringen«.8 Großer diplomatischer Stil ist das Bemühen zwischen Regierungen, einander wirklich zu verstehen und offen zueinander zu sein. Mit kleinem diplomatischen Stil kennzeichnet Schleiermacher listiges Taktieren und Intrigieren: dies lehnt er entschieden ab. 2. Überflüssigkeit der Geheimpolizei in einem Staat: »Schon in der Communal Verfassung ist sie es [i. e. ist die geheime Polizei ganz überflüssig, MR]; und in Staaten die auf der Annäherung zur Verfassung liegen, nemlich durch Hervortreten der öffentlichen Meinung, da wird eben diese hinreichend seyn in jedem Einzelnen das antipolitische Element zu unterdrücken«.9 3. Grundsätzliche Überlegenheit einer konstitutionellen Monarchie gegenüber einer reinen Monarchie: »Freiheit des Monarchen liegt daher nur in dem primitiven heroischen Zustande der Monarchie oder in der Verfassung. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit äusserte sich in jenem als Gehorsam im Volke, in der Verfassung erhöhte es sich zur Liebe von beiden Seiten [. . . ]. Diese Liebe ist das reine Produkt der Verfassung«.10 Die Verfassung bedeutet aber nicht nur eine ultimativ positive Veränderung der Beziehungen im Staat, sondern auch eine positive Veränderung für den Einzelnen als solchen: »In der Verfassung wird das frühere öffentliche Leben des Einzelnen wieder hervor gerufen und zwar auf eine höhere und schönere Weise; indem nun jeder Einzelne die ganze Dignität des Staats in sich ruhend fühlt«.11 Obwohl Schleiermacher an sehr vielen Stellen die Vorteile einer Verfassung hervorhebt, schärft er auch immer wieder ein, dass sich die Einführung einer 8
Staatslehre 1817 Varnhagen 366,1–4. Staatslehre 1817 Varnhagen 372,22–26. 10 Staatslehre 1817 Varnhagen 309,19–24. Verfassung zur emotionalen Steigerung des gesellschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühls sowie zur Erotisierung der Beziehung von Regent und Bevölkerung: ein interessantes politisches Konzept. 11 Staatslehre 1817 Varnhagen 310,6–9. 9
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
Verfassung an der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes orientieren muss; ebenso muss sich die inhaltliche Ausgestaltung der Verfassung an »dem Geist, dem Charakter und dem Geschichtlichen des Volkes«12 ausrichten. Damit wendet er sich scharf gegen abstrakte Forderungen nach einer Verfassung, die für ihn fälschlich impliziert, allein die Einführung einer Verfassung würde alle Probleme lösen und von selbst die Entwicklung des Staates befördern. Genauso aber schärft er auch – gegen den König gewandt – ein, dass einzig das einer Monarchie gefährlich werden könne, dass sie die Entwicklung des Volkes zu hemmen versuche.13 So kann diese Vorlesung von allen als die politischste bezeichnet werden; Schleiermacher nimmt in ihr am deutlichsten Stellung zu aktuellen Fragen und verwendet die Vorlesung auch bewusst als Mittel zu politischer Meinungsbildung und Einflussnahme. Das wurde jedoch auch schon von den Zeitgenossen bemerkt, bis zur höchsten politischen Instanz. Der Staatskanzler Hardenberg schreibt am 8. Dezember an den Kultusminister Altenstein: »Bei dieser Gelegenheit mache ich Ew. Excellenz auf die Vorlesungen des Professors Schleiermacher aufmerksam. Sie hatten hauptsächlich eine politische Tendenz, dienten, ohne einen reellen Nutzen zu gewähren, dazu, die Gemüter zu bewegen und zu entzweien. Se. Majestät der König haben sich mehrmals missfällig darüber geäußert, und sie dürfen unter diesen Umständen nicht ferner gestattet werden.«14 An diesem Brief entzündete sich in der Forschung eine Debatte, ob Schleiermacher ein Lehrverbot erteilt wurde. Weitere Indizien – außer diesem Brief – finden sich nicht. So ist es eher unwahrscheinlich, dass ein direktes Lehrverbot erlassen wurde.15 Wie auch immer jedoch es sich damit verhalten hat, so hat Schleiermacher doch gleich im nächsten Semester wieder zur Staatslehre vorgetragen. 2. Die Vorlesung von 1817/18: »Lehre vom Staat« bzw. »Politik« 1817/18 las Schleiermacher bereits wieder die Staatslehre.16 Diese Vorlesung wurde nicht in den Vorlesungsverzeichnissen angekündigt; doch ist ihre Durchführung in den Universitätsakten belegt. 105 Hörer haben an ihr laut Akte vom 1. Dezember 1817 bis 8. April 1818 teilgenommen. Die in der Kritischen Gesamtausgabe abgedruckte Nachschrift stammt von Leutnant Goetsch, über 12
Staatslehre 1817 Varnhagen 295,18. Staatslehre 1817 Varnhagen 291,37–40. 14 Zitiert nach Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 100. Das Original dieses Briefes wurde bisher nicht gefunden, wahrscheinlich ist es nicht erhalten. Die Brieffassung findet sich aber in Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, II/1, 39. 15 Zu diesem Urteil kommt auch Wolfes. Seine Argumentation im Einzelnen findet sich in Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 100–106. 16 Hoover sieht den Grund für die sofortige Wiederholung der Vorlesung im »popular demand« (Hoover: The Foundation of the Communitarian State, 296), ohne aber Belege dafür zu nennen. 13
I. Charakterisierung der einzelnen Vorlesungsnachschriften
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den weiter nichts bekannt ist. »Unbestreitbar weist Go[etsch, MR] erhebliche Schwächen in der Wiedergabe des Gehörten auf«17 – urteilt der Editor Jaeschke. Der argumentative Zusammenhang zwischen einzelnen Aussagen scheint ihm oft nicht klar, jedenfalls hat er ihn nicht selten offen gelassen. So stehen viele Gedanken unverbunden nebeneinander. Sprachlich ist der Text ungeschickt und holprig. Im Unterschied zu den anderen Mitschriften sind die Sätze viel kürzer und in ihrer syntaktischen Struktur wenig variabel. Die Gliederung der Vorlesung aber ist bei Goetsch besonders klar markiert. Goetschs Nachschrift nimmt im Allgemeinen die Perspektive der ersten Person Plural ein; nur an wenigen Stellen wechselt die Nachschrift in die dritte Person: »Davon kann aber Schleiermacher sich nicht überzeugen«.18 Dass Schleiermacher gleich nach dem Sommersemester im Wintersemester wieder die Staatslehre las, sieht Wolfes durch die Materialfülle motiviert, für welche Schleiermacher eine noch gemäßere Form sucht als sie ihm im Sommersemester gelungen sei.19 Im Folgenden soll die Vorlesung wieder anhand ihrer Rahmung vorgestellt werden. Sie beginnt damit, die Wichtigkeit staatstheoretischer Reflexionen für den »gebildeten Mann« herauszustellen und zugleich die Berechtigung solchen Interesses am Staat darzulegen. Es wird eine Differenz von Gegenwart und Vergangenheit behauptet. Früher sei es gewagter Frevel gewesen, sich außerhalb eines Staatsamtes für den Staat theoretisch zu interessieren. Heute aber sei es eine wesentliche Aufgabe für jedermann, sich auch theoretisch mit dem Staat zu beschäftigen. Die Verhältnisse hätten sich bedeutend geändert; jetzt wollten die Menschen »selbst denken und urtheilen«.20 Die folgenden Ausführungen tasten sich am Problem entlang, was das Handeln des Einzelnen im Staate austragen kann und soll, auch wenn die Wirkung seines Handelns nicht in der Hand des Einzelnen liegt und seiner Einsicht nicht vorhersehbar ist. Die Antwort lautet, dass der Einzelne nur seiner Würde gerecht wird, wenn er gemäß seiner Überzeugung im Staat handelt – unabhängig von der Wirkung, die seinem Handeln faktisch zuteil wird. Von der Wirkung her betrachtet ist eine einzelne Person »nur das unbewußte Werkzeug einer höhern Macht«.21 Das besondere Reflektieren der Rolle des Einzelnen und seiner Stellung im Staat zieht sich durch die ganze Vorlesung; diese Reflexion zielt aber nicht auf eine Affirmation der Rolle 17
Jaeschke: Editorischer Bericht, LVI. Staatslehre 1817/18 Goetsch 418,38. 19 »Schleiermacher hatte in den Jahren seit 1813 eine derart große Menge an Material angesammelt, dass es ihm nicht gelungen war, den Stoff im Laufe des Sommersemesters in einer ihm angemessen erscheinenden Weise zu verarbeiten. Die erneute Durchführung, die keine Fortsetzung der früheren Vorlesung war, sondern weitgehend den gesamten Themenumfang aufs neue ausmaß, gab ihm die Gelegenheit zu weiteren Erörterungen und Klärungen« (Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 115). 20 Staatslehre 1817/18 Goetsch 379,24. 21 Staatslehre 1817/18 Goetsch 380,24. 18
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
der Einzelnen, sondern auf die Bedeutung der Identifikation der Einzelnen mit dem Staat. Die wichtigsten Aspekte seien genannt: 1. Vaterlandsliebe: Mit dem Begriff Vaterlandsliebe beschreibt Schleiermacher die Weise, wie der Einzelne sich in wünschenswerter Weise zum Ganzen stellt, sich im Ganzen und vom Ganzen her versteht und wahrnimmt. Dieses Ganze bestimmt Schleiermacher jedoch selbst wiederum als etwas Individuelles, konkret Geschichtliches, etwas eigentümlich Gestaltetes; es ist nie ein abstraktes Ganzes. Schleiermacher definiert daher die Vaterlandsliebe wie folgt: »Sie ist nichts anders als ein Eingewurzeltseyn des Einzelnen im Ganzen, und das Bewußtseyn daß der Einzelne in seinem eigenthümlichen Leben nicht bestehen kann als nur im lebendigen Zusammenhang mit diesem und keinem andern Ganzen«.22 2. Freiheitsrechte und Verfassung: Schleiermacher reflektiert das Verhältnis von rechtlich garantierter persönlicher Freiheit des Einzelnen und verfassungsgemäßem Zustand des Staates. Freiheit des Einzelnen definiert Schleiermacher dahingehend, dass der Einzelne nur aufgrund eines richterlichen Beschlusses bestraft werden dürfe. Diese rechtliche Freiheit kann laut Schleiermacher aber gerade nicht einen verfassungsgemäßen Zustand des Staates garantieren. Eine solche Emphase auf den Freiheitsrechten des Einzelnen sei inhaltlich nicht berechtigt und könne geschichtlich nur mit lebendigen Erinnerungen an despotische Zustände bzw. an eine erlebte Revolution erklärt werden.23 Damit erklärt Schleiermacher seinen Zuhörern, warum einerseits Freiheitsrechte in Frankreich so vehement gefordert wurden, und warum andererseits für Preußen diese Freiheitsrechte keine so große Rolle spielen sollten. 3. Gesetzesübertretungen aus Unzufriedenheit mit dem Staat: Schleiermachers Theorie von Gesetzesübertretungen zentriert sich auf den Einzelnen. In politischer Absicht geschehen Gesetzesübertretungen, wenn der »Einzelne mißvergnügt mit dem Staat ist«;24 dann wird er auf das Staatsleben schädlich einwirken. Die Haltung des Einzelnen zu dem Staat, in dem er lebt, erklärt Schleiermacher hiermit als wesentlich für das staatliche Leben und für die Stabilität. Große Emphase entfaltet die Vorlesung hinsichtlich der Reformfähigkeit jedes Staates. Das gilt für die Verfassung, aber auch ganz allgemein für die Struktur des Staates: »Es ist daher gut, daß in einem Staat wo die Verfassung gemacht ist, diese von Zeit zu Zeit einer gewissen Neuerung unterworfen wird«.25 Einer solchen allgemeinen Sicht der Reformbedürftigkeit jeder Verfassung stellt Schleiermacher den Grundsatz zur Seite, der Staat müsse sich »immer umbilden nach dem Geiste der Zeit«.26 Zum Schluss der Vorlesung vermerkt Goetsch kei22
Staatslehre 1817/18 Goetsch 444,1–5. Vgl. Staatslehre 1817/18 Goetsch 419. 24 Staatslehre 1817/18 Goetsch 479,7f. 25 Staatslehre 1817/18 Goetsch 427,26–28. 26 Staatslehre 1817/18 Goetsch 382,18f. 23
I. Charakterisierung der einzelnen Vorlesungsnachschriften
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ne grundlegenden Reflexionen mehr. Es endet schlicht mit Überlegungen zur Verteidigungsorganisation des Staates, wie sich ein stehendes Heer zu allgemeiner Bewaffnung verhält.27 3. Die Vorlesung von 1829: »Lehre vom Staat« Erst elf Jahre später hat Schleiermacher wieder eine Vorlesung zur Staatslehre gehalten. 1829 las er fünfstündig, jeweils 8–9 Uhr morgens, vor 81 Hörern. Vom 4. Mai bis zum 29. August spannte sich der Vorlesungszeitraum. Die Edition der Nachschrift in der Kritischen Gesamtausgabe bezieht sich auf die Nachschriften von Heß und von Ehrenfried von Willich, Schleiermachers Stiefsohn. Bis zur 14. Stunde der Vorlesung wird die Nachschrift von Heß abgedruckt, die an dieser Stelle endet; danach wird die von Willich wiedergegeben. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie erkennbar direkt mitgeschrieben und nicht mehr ins Reine umformuliert und umgeschrieben wurde. Die Inhalte der Vorlesung von 1829 wurden bereits ausführlich dargestellt. Hier soll nun an einem ausgewählten Beispiel ein Vergleich von Schleiermachers Manuskript mit der Mitschrift durchgeführt werden, und zwar mit der Fragestellung, ob sich Anhaltspunkte für einen bewußten Umgang Schleiermachers mit einer möglichen Überwachung seiner Vorlesungen ergeben. Schleiermacher engagierte sich in der preußischen Politik vor allem im Rahmen der politischen Öffentlichkeit. Seine Erfahrung bezieht sich nicht auf politische Ämter und politische Machtausübung im engeren Sinne, sondern auf die Mitwirkung bei der Bildung von öffentlicher Meinung und auf die Gestaltung politischer Diskurse. Die politische Wirksamkeit von Text und Rede (z. B. als Predigt) ist ihm vertraut. So ist anzunehmen, dass er sich über diese politisch-wirksame Dimension seiner Staatslehre-Vorlesung im Klaren war und diese auch bewusst einsetzte. Doch standen Schleiermachers Vorlesungen zur Staatslehre unter Überwachung. Daher ist mit vorsichtigeren Formulierungen bei Aussagen mit aktuell kritischem Gehalt oder bei Beiträgen zur aktuellen politischen Diskussion zu rechnen, unabhängig davon, ob solche Vorsicht einem bewussten Kalkül entspringt oder eine Art innere Selbstzensur darstellt. Beim Vergleich von Schleiermachers Manuskript mit der Mitschrift seiner Vorlesung ergibt sich ein klares Bild, das anhand des Themas politische Verbrechen im Folgenden beleuchtet werden soll. Im Manuskript heißt es: »Es giebt aber auch defensive politische Verbrechen die es eigentlich nur scheinbar sind nämlich kräftige Opposition gegen eine ihre Befugniß überschreitende Regierung sei es nun daß sie eingreife in häusliches religiöses wissenschaftliches oder daß sie ihre politische Befugnis überschreite.« (Staat 1829 169,2–6). Dem entspricht in der Mitschrift am ehestens der Passus: »Wir gehen über zu den antipolitischen Verbrechen [. . . ]«. Dafür führt er mehrere Typen an, u. a. solche Verbrechen, »welche eine Entwiklung der größeren 27
Vgl. Staatslehre 1817/18 Goetsch 491.
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
politischen Gleichheit im Staat auf einem ungesetzlichen Wege beschleunigen wollen, zu der der Staat allerdings einmal kommen wird« (Staat 1829, Willich 737,33–738,2). Eine mögliche Rechtfertigung von staatsumstürzenden Aktionen kann man viel eher der Formulierung des Manuskriptes entnehmen als der Mitschrift-Formulierung, die mit dem Adjektiv »ungesetzlich« eine viel deutlichere Distanz zu einem solchen »antipolitischen Verbrechen« artikuliert. In der Mitschrift taucht die Gedankenfigur auf, dass sich bei einem politischen Verbrechen der Staat im Kriegszustand gegen den Verbrecher, gegen diesen Einzelnen befindet. Daher würden dann auch die Regeln für den Krieg gelten, genauer die Regeln für die Behandlung von Gefangenen, die man im Krieg gemacht hat.28 Da man aber Gefangene in einem fortgeschritten gesitteten Staatswesen milde behandeln würde, müsse das auch für die Revolutionäre gelten. In der Folge plädiert Schleiermacher für die Vermeidung der Todesstrafe und stattdessen für die Ausweisung solcher politischen Revolutionäre. Mit dieser Argumentationsfigur gibt er dem Staat grundsätzlich das Recht zu einem »vorgesetzlichen« Umgang mit ergriffenen Revolutionären, das ist die affirmative Seite. Mit dem Vergleich zu den Kriegsgefangenen hingegen appelliert er an die gesittet-milden Einstellungen, und stellt sich so – das ist das kritische Moment – gegen die Todesstrafe für Revolutionäre. In Schleiermachers eigenem Manuskript findet sich auch die Empfehlung, die Revolutionäre auszuweisen; allerdings wird das ohne den Rekurs auf die Gedankenfigur des Kriegszustandes zwischen Staat und Einzelnem im Falle revolutionärer Aktionen begründet. Das Argumentationsergebnis bleibt dasselbe – im Manuskript und in der mündlichen Vorlesung –, aber die Argumentationsmethode und die Argumentationsschritte differieren. Die Argumentationsmethode von »Kritik durch Überaffirmation« führt Schleiermacher vor allem in der mündlichen Vorlesung (den Mitschriften zufolge) durch. Das lässt auf einen bewussten Umgang mit der Überwachung seiner Vorlesung schließen. 4. Die Vorlesung von 1833: »Philosophische Lehre vom Staat« Am 29. April 1833 begann Schleiermacher mit seiner letzten Vorlesung zur Staatslehre, die er am 6. August abschloss. Wie viele Hörer sich regelmäßig zwischen 7 und 8 Uhr dabei einfanden, ist quellenmäßig nicht belegt. Die in der Kritischen Gesamtausgabe enthaltene Nachschrift verfasste Georg Waitz. Dieser war als Student der Rechtswissenschaften 1833 von Kiel nach Berlin gekommen, wo er juristische, geschichtliche und philosophische Vorlesungen besuchte. Waitz’ Mitschrift ist nach derjenigen von 1829 (254 Druckseiten) die ausführlichste mit 199 Druckseiten. Sie besticht durch sprachliche Eleganz und durch argumentative Feinsinnigkeit. Über weite Strecken liest sich diese Mitschrift als ein konziser, monographischer Text in der Perspektive der ersten Person Plural. Sehr häufig gliedert Waitz den Text, indem er eine Frage auftreten lässt, welche 28
Vgl. Staat 1829 Willich 738f.
I. Charakterisierung der einzelnen Vorlesungsnachschriften
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dann im folgenden Abschnitt beantwortet wird. So beginnt die Mitschrift mit einer begrifflichen Klärung von »Politik« und einer philosophiegeschichtlichen Einordnung des Politikverständnisses. Von der Vorstellung von Denkalternativen leitet die Mitschrift über zur Vorstellung des Schleiermacherschen Theorieansatzes, eine Physiologie des Staates zu erstellen. Bei dieser Mitschrift herrscht erkennbar ein geschultes Interesse an begrifflichen Zusammenhängen und an Theoriearchitektur. Spezifisch thematische oder politische Interessen sind dagegen kaum auszumachen. Ein Beispiel für dieses betont theoretische Interesse sei kurz vorgestellt: Die Nachschrift benennt zwei grundsätzliche Alternativen zur Frage, wie stark der Staat regelnd und reglementierend eingreifen soll. Die eine Maxime lautet: Alles ist der persönlichen Freiheit zu überlassen. Die andere Maxime dagegen besagt: Der Staat sollte »Auge und Hand in Allem«29 haben, also möglichst viel reglementieren. Im Folgenden findet kein Abwägen der Alternativen statt, keine Stellungnahme, keine Analyse der jeweiligen Vorund Nachteile. Stattdessen werden die alternativen Maximen als reiner Ausdruck des staatsbildenden Gegensatzes von Herrschenden und Beherrschten interpretiert, also als theoretischer Reflex der Grundbedingung staatlicher Ordnung, wie die Schleiermachersche Staatstheorie sie entworfen hat.30 Damit zeigen sie ein waches Bewusstsein für die soziale und gesellschaftliche Standortbedingtheit auch oder gerade von politischer Theoriebildung. Eine Selbstanwendung dieser Einsicht aber wird hier nicht vorgenommen. Der Schluss der Nachschrift überrascht, denn er drückt große realpolitische Hoffnung aus, die im Laufe der Vorlesung so gar nicht durchschimmerte. Es heißt, »daß die gegenwärtige Staatenwelt sich solchem Zustande nähert, wo alle Keime der Zwistigkeiten sich ausgleichen und auf Compromissarische Weise sich auflösen werden, ohne dass jedoch ein bestimmtes Recht besteht, und daß auf dem Wege der Öffentlichkeit sich die Ungleichheit der Entwicklung verlieren und alle innere Unruhe mindern kann«.31 Auch überrascht er, weil er das Verhältnis von politischen und sittlichen Prinzipien thematisiert, und dabei deren Harmonie kommen sieht: »Werden auch noch hemmende Bewegungen eintreten, so nähern wir uns doch dem Zustande sittlicher Motive in der Staatsleitung, wo die inneren Prinzipien den Gegensatz zwischen ethischer und politischer Richtung aufheben und der vollkommenen ruhigsten Entwicklung Raum geben«.32 So endet das letzte uns überlieferte Wort Schleiermachers zur Staatslehre mit einer großen Fortschrittszuversicht, die nach den katastrophalen Gegenerfahrungen des 20. Jahrhunderts nur mit distanzierter Wehmut zu hören ist und ohne die doch keine zukunftsfähige Politik zu gestalten ist. 29
Staatslehre 1833 Waitz 858,14f. In Waitz’ Formulierung: »Der Gegensatz dieser Maximen ist der Ausdruck für das Spannungsverhältniß zwischen dem Staat oder der Regierung auf der einen, und dem Volk oder der Gesammtheit der Privatinteressen auf der andern Seite« (Staatslehre 1833 Waitz 858,24–26). 31 Staatslehre 1833 Waitz 954,14–19. 32 Staatslehre 1833 Waitz 954,25–29. 30
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
II. Schleiermachers Staatslehre-Vorlesung von 1829 Nach dem Überblick über die Nachschriften soll nun die Vorlesung von 1829, von der ein eigenes ausführliches Manuskript Schleiermachers erhalten ist, ausführlich vorgestellt und in ihren Inhalten referiert werden. In der »pragmatischen Nüchternheit«33 besteht das zunächst hervorstechendste Merkmal von Schleiermachers Staatslehre, gerade auch im Vergleich mit den Entwürfen Kants, Fichtes und Hegels. Jedes Pathos ist Schleiermacher in der Staatslehre fremd. So nüchtern und abwägend wie irgend möglich trägt er seine Überlegungen zum Staat vor. Sein Vorgehen bestimmt sich an vielen argumentativen Schaltstellen über das Vermeiden von Extrempositionen und von Gegensätzen. Das Weder-Noch fungiert so als zentrale Argumentationsfigur. Der Staat soll weder zum Inbegriff des Sittlichen erklärt werden noch darf er abgewertet werden als bloßes Mittel für bestimmte Zwecke. Der Staat ist weder Ergebnis menschlicher Entscheidungen noch ist er ohne geistige Beteiligung aller Bürger entstanden. Weder Revolution noch Stillstand sei dem Staat gemäß. Weder will Schleiermacher ein Staatsideal aufstellen noch das Gegebene auf den Begriff bringen. Deutlich lässt Schleiermacher also seine Abgrenzungsinteressen erkennen: Explizit erfolgen sie gegen folgende staatstheoretische Positionen: gegen Vertragstheorien des Staates, gegen Staatszwecktheorien, die entweder vom Recht oder von der Verteidigung ausgehen, gegen die Forderung einer schriftlichen Verfassung und gegen Fichtes Theorie des geschlossenen Handelsstaates sowie gegen eine Staatstheorie, die den Staat als Inbegriff des guten Lebens bzw. des Guten versteht. Was aber will Schleiermacher positiv gefasst mit seiner Staatslehre? Das Anliegen und die Grundanlage von Schleiermachers Staatslehre seien einleitend kurz benannt. Im Zentrum steht der Naturbildungsprozess im Bewusstsein von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit. So interessiert er sich für alles, worin sich dieses Gemeinschaftsbewusstsein vollzieht und für das, was störend wirkt. Beim Störenden kennt er drei Hauptfaktoren: Krieg, welcher den Naturbildungsprozess hemmt, Privatinteressen, welche das Gemeinwohl gefährden und das Misstrauen, welches das Gemeinschaftsbewusstsein unterminiert. Das Misstrauen zwischen Regierenden und Regierten entsteht durch das Verhältnis zu den anderen drei ethischen Bereichen, also Kirche, Wissenschaft und freie Geselligkeit. Das hat strukturelle Anhaltspunkte, braucht aber gerade nicht zu tatsächlichem Misstrauen zu führen. Schleiermacher nimmt die Perspektive des Ganzen ein. Und da das Ganze, als Identifikation mit dem Gemeinwohl, gerade der Herrschaft zukommt, schreibt er aus der eingenommenen Perspektive der 33
Stegmaier: Schleiermachers bewegliche Konzeption eines beweglichen Staates, 481. Weiter benennt Stegmaier an derselben Stelle: die »Lösung vom moralischen Pathos, von politischen Ressentiments und von fundamentalistischer Metaphysik« als besondere und positiv zu würdigende Kennzeichen der Staatslehre Schleiermachers.
II. Die Staatslehre-Vorlesung von 1829
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Regierung. Dagegen werden Bürgerängste vor dem Missbrauch staatlicher Gewalt, vor Freiheitsbeschneidung und Willkür kaum artikuliert, wenngleich sie auch nicht verschwiegen werden. Aber sie bilden kein erkennbares Movens der Ausführungen. Im Zentrum seiner theoretischen Aufmerksamkeit steht die Entwicklung von Staaten, sowie die dabei wirksam werdenden Kräfte und Motive. Um das im Einzelnen vorzuführen, sei eine ausgewählte Staatslehrevorlesung von Schleiermacher in ihrem Verlauf, mit all ihren Themen und in ihrer eigenen Semantik dargestellt. Das soll die Grundlage bilden, von der aus dann anschließend die Systemarchitektur durch thematische Einzelstudien erschlossen wird. Für die exemplarische Darstellung sei die Staatslehre-Vorlesung von 1829 gewählt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass hierzu sowohl ein Manuskript von Schleiermacher selbst als auch studentische Nachschriften vorliegen. Das aber ist für eine methodisch kontrollierte Interpretation unverzichtbar. Es soll darum gehen, einen lebendigen Eindruck von dem Vorgehen Schleiermachers zu vermitteln, davon, welche Themen er behandelt und mit welchem Duktus. Die tragenden Begriffe sollen dabei herausgearbeitet werden sowie grundlegende argumentative Muster. Die Darstellung wird daher nahe an der Semantik Schleiermachers bleiben. Zugleich wird sich daran zeigen, wie wenig deutlich die interne Systematik auf der Textoberfläche ist. An vielen Stellen interessiert sich Schleiermacher mehr für materiale Inhalte als für deren strenge Systematisierung. Ebenso fokussiert er sich oft mehr auf einzelne Detailfragen als auf die Klärung von Grundbegriffen. Diese Detailfragen beschäftigen sich fast immer entweder mit zeitgeschichtlichen Problemen oder mit der antiken Polis. Implizit sieht er auf diese Probleme aus Regierungsperspektive bzw. aus »Entscheiderperspektive«. Er stellt Gesichtspunkte und Argumente zur Verfügung, um Sachverhalte sachgerecht(er) beurteilen und gestalten zu können. Das lässt darauf schließen, dass er seine Adressaten als zukünftige Entscheidungsträger im preußischen Staat sieht, vor allem wohl als höhere Beamte und als militärische Führungselite. Diese beiden Themen – Verwaltung und Verteidigung – nehmen auch einen besonders großen Raum ein. Meine Darstellung orientiert sich im Folgenden vornehmlich an Schleiermachers eigenem Manuskript, während der Verweis auf die Nachschriften zur Ergänzung dient, denn diese sind wesentlich ausführlicher als Schleiermachers eigenes, sehr knappes Manuskript. Zunächst nun zur Einleitung der Vorlesung, in welcher Schleiermacher die Grundbegriffe seiner Theorie erläutert. 1. Intention, Gliederung und Einleitung der Vorlesung Die Staatslehre soll laut Schleiermacher »die Natur des Staats im Leben betrachten und die verschiedenen Functionen in ihren Verhältnissen verstehen lernen und auf diesem Wege ein richtiges Handeln möglich machen.«34 Schleiermacher 34
Staatslehre 1829 69.
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
setzt ein mit der Frage, wie aus Nichtstaat Staat wird, und worin daher also das Definitionsmerkmal von Staatlichkeit zu finden sei. Als solches bestimmt er das Gegebensein eines Gegensatzes von Obrigkeit und Untertanen. Die Vorlesung von 1829 ist in drei Teile gegliedert: Staatsbildung / Staatsverfassung, Staatsverwaltung und Staatsverteidigung.35 Hierzu gibt er selbst einen ersten Überblick. Im Teil zur Staatsbildung beginnt er mit dem Gegensatz zwischen Staaten, bei denen die drei Gewalten geteilt sind und solchen, wo sie vereinigt sind. Es folgen ausführliche Erörterungen zum Prinzip der Gewaltenteilung, das ihm nur sehr eingeschränkt plausibel ist. Die Staatsverwaltung definiert er als »die richtige Leitung des gesezlichen Zustandes um die vollständigste Bildung der Natur zum Organismus der Intelligenz zu entwikkeln.«36 Hier thematisiert Schleiermacher folgerichtig dann auch das Verhältnis des Staates zu den Institutionen der Kirche und der Wissenschaft. Ein interessantes Problem stellt die Erziehung und Bildung dar, weil an der Erziehung nun alle Institutionen, also Staat, Kirche, Wissenschaft und Familie beteiligt sein können. Ausführliche Erörterung findet die Ökonomie. Bei der Staatsverteidigung unterscheidet er die Verteidigung nach innen – das ist die Gerichtsbarkeit – und die Verteidigung nach außen, differenziert in die friedliche und die kriegerische Verteidigung. Insgesamt vertritt Schleiermacher eine konstitutionelle Monarchie als höchst entwickelte Staatsform, aber mit starken Repräsentativorganen der Bürger, wobei den kleinen politischen Einheiten ein besonderes Gewicht beigemessen wird. Als Zentralbegriffe für das staatliche Leben führt Schleiermacher »Wechselwirkung« zwischen Regierenden und Regierten und »Öffentlichkeit« ein. Dass die Bürger sich über das Nationale hinaus zu einem weltbürgerlichen Bewusstsein erheben, ist Wirkung der christlichen Religion, die im Menschen seine allgemein gesellige Natur zum Gefühl allgemeiner Menschenliebe durchbildet. Diese seine Gliederung entwickelt Schleiermacher anhand der beiden konstituierenden Staatsmerkmale: gegebener Gegensatz zwischen Obrigkeit und Untertanen bezogen auf die Beherrschung des Bodens bzw. den Naturbildungsprozess. Die Gliederungskategorien lauten unter dieser Einheitsperspektive wie folgt: Die verschiedenen möglichen Gestaltungen dieses Gegensatzes thematisiert die Lehre von der Staatsbildung beziehungsweise Staatsverfassung. Die Organisation des Naturbildungsprozesses behandelt die Lehre von der Staatsverwaltung. Als drittes nennt Schleiermacher die Lehre von der Staatsverteidigung, welche die Verhältnisse des Staates zu dem reflektiert, was räumlich und funktionell außerhalb seiner selbst liegt. Das sind zum einen die anderen Gemeinschaftsformen und Tätigkeiten der Untertanen, die nicht in den Bereich des Staatlichen fallen, und zum anderen die Beziehungen zu den anderen Staaten, zu allem, was au35 Gemäß den Nachschriften ist das in den anderen Staatslehrevorlesungen auch so strukturiert, nur die Titel der Teile variieren leicht. 36 Staatslehre 1829 114.
II. Die Staatslehre-Vorlesung von 1829
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ßerhalb der Staatssphäre liegt. Die Reihenfolge dieser drei Teilgebiete in der Behandlung plausibilisiert Schleiermacher historisch (vgl. Staat 1829, Heß 530,39); da er den Staatsbegriff bestimmt durch den Übergang von Nichtstaat zu Staat, will er auch die Reihenfolge der Behandlung daraus ableiten. Der Übergang wird rein vom Formellen her bestimmt, dass also ein Gegensatz sich herausbilde zwischen Obrigkeit und Untertanen. So beginnt auch die Staatslehre mit dem Teil zur Staatsverfassung, während dann erst die Staatsverwaltung abzuhandeln ist. Wenn die Staatsverteidigung als letztes folgt, so liegt das daran, dass ein erst entstehender Staat isoliert von anderen bestehen könne und außerdem auch die Bereiche Wissen und Religion sich noch nicht vom Staatlichen ausreichend differenziert hätten. Die verschiedenen Funktionen des Staates (also Verwaltung und Verteidigung) »müssen durch einander bedingt sein« (Staat 1829, Nachschrift Heß 529,29f ), weshalb auch in der Darstellung »eines jeden auf die beiden andern müsse Rüksicht genommen werden« (Staat 1829 76,9). Schleiermacher beginnt die Vorlesung thematisch, indem er nach Inhalt und Zweck der Staatslehre fragt. Zunächst grenzt er sich gegen zwei mögliche Bestimmungen ab: Der Zweck soll keine »Kunstlehre für die Staatsleitung« (Staat 69,1–2) sein. Kunstlehre ist für Schleiermacher nach seiner Wissenschaftssystematik eine »technische Disziplin«. Dabei charakterisiert er seine Gegenwart als »in der Nähe der Revolutionen« (Staat 69,2) und »im Kampf der Partheien« (Staat 69,3). Ebenso grenzt sich Schleiermacher dagegen ab, ein Ideal zu entwerfen. Dies sei seit Platon von der Philosophie her geschehen. Schleiermacher nennt zwei Gründe dagegen: Wenn das Ideal wirklich werden sollte, müssten dadurch alle Differenzen zum Verschwinden gebracht werden. Das Ideal aber könnte keine Wirkmächtigkeit entfalten, weil es voraussetze, dass Veränderungen im Staate am Willen von Einzelnen hängen, und dass sei nicht der Fall, bzw. Schleiermacher formuliert noch schärfer: das könne nicht so sein. Damit unterstellt Schleiermacher zugleich, dass die Wirkmächtigkeit von Idealen an den Willen Einzelner gebunden sei. Die positive Bestimmung seines Ziels nimmt Schleiermacher zunächst darüber vor, wie seine Vorträge sein sollen: nämlich »ganz physiologisch« (Staat, 69,8). Er will »die Natur des Staats im Leben betrachten« (Staat 69,8f ) und »die verschiedenen Functionen in ihren Verhältnissen verstehen lernen« (Staat 69,9f ) mit dem Ziel, »ein richtiges Handeln möglich« (Staat 69,10f ) zu machen. Diese drei Bestimmungen seien im Einzelnen nun erläutert, weil sie einen sehr genauen Eindruck von Schleiermachers Anliegen einprägen. 1. »die Natur des Staats im Leben betrachten«: Aufgrund der vorhergehenden Abgrenzungen muss diese Aussage interpretiert werden von der Emphase auf die Wendung »im Leben«. Es geht also nicht um das Ideal des Staates, sondern darum, den Staat im Leben, den lebendigen Staat zu verstehen durch Betrachtung. Zugleich zielt diese Betrachtung darauf, die »Natur« des Staates zu eruieren, also
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
nicht auf eine bloße Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse. Auch spricht er nicht explizit vom preußischem Staat oder von »diesem« Staat, sondern er hebt ab auf »die Natur des Staats«, welche also nur als eine gedacht wird. Dabei zeigt sich schon an dieser Stelle die für Schleiermacher charakteristische Bestimmung »im Leben«. Der Staat »existiert« nicht, »herrscht« nicht, sondern ist »im Leben«. An der Formulierung bleibt jedoch merkwürdig, dass es nicht heißt »in seinem Leben«. 2. »die verschiedenen Functionen in ihren Verhältnissen verstehen lernen«: Aus dieser Formulierung lässt sich erschließen, dass die Natur des Staates über seine Funktionen zu bestimmen ist. Diese Funktionen müssen aus »ihren Verhältnissen« heraus begriffen werden. 3. »ein richtiges Handeln möglich machen«: Zunächst stellt sich die Frage nach dem Subjekt des Handelns. Aufgrund Schleiermachers erfolgter Abgrenzung gegen eine Kunstlehre für die Staatsleitung scheint es unwahrscheinlich, dass er hier nur die staatsleitenden Persönlichkeiten bzw. die Staatsämter innehabenden Personen meint. Die Offenheit der Formulierung kann dahingehend gedeutet werden, dass er zumindest zwar vor allem Verantwortungsträger meint, aber auch sonst politisch wache Bürger einbeziehen will. Was beinhaltet ein richtiges Handeln bezogen auf den Staat? Hier ist nicht gesagt, dass richtiges Handeln nur auf Veränderung des Staates zielen müsste oder auf seine Erhaltung; es ist bewusst offen gelassen. In der Heßschen Nachschrift betont Schleiermacher den theoretischen Charakter seiner Vorlesungen (vgl. Staat 1829, Heß 498). Diese sollen gerade nicht praktisch sein. Trotzdem haben sie einen praktischen Wert darin, »dass sie uns durch eine Betrachtung der Natur der Sache zu der Ruhe versetzen, wodurch am Besten alles Leidenschaftliche erstickt wird« (Staat 1829, Heß 499,7–9). Diese Ruhe sei eine notwendige Stufe sowohl für die Kunst der Staatsleitung als auch für die Kunstlehre derselben. Die Staatslehre ist nach Schleiermacher also dezidiert theoretisch, aber in praktischer Absicht. Sie gibt keine Handlungsregeln, aber ermöglicht Handeln, indem das Wissen um den Handlungsgegenstand und die mögliche Reichweite des Handelns geboten und andererseits die subjektiven Bedingungen von Handeln, nämlich Ruhe und Besinnung als Überwindung von Leidenschaft, geschaffen werden. Schon im nächsten Punkt reflektiert Schleiermacher explizit auf die methodische Schwierigkeit vom »Befangensein in gegebenem [sic]« (Staat 69,23) anhand Aristoteles’ Annahme, dass ein Hauswesen notwendig zusammengesetzt sei aus Freien und Knechten. Laut der Heßschen Nachschrift erläutert Schleiermacher den PhysiologieBegriff. Schleiermacher wolle den Staat als Erzeugnis der menschlichen Natur und als einen bestimmten Organismus. Schleiermacher expliziert, was das genau heißen soll (Staat, Heß 496): a) Das Gleiche tritt in einer Menge verschiedener Gestaltungen hervor. b) Je mehr sich die Funktionen entfalten und je mehr
II. Die Staatslehre-Vorlesung von 1829
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Funktionen bei einem Organismus anzutreffen sind, um so vollkommener ist er. c) Die Erkenntnis eines Organismus besteht darin, das Verhältnis seiner Funktionen zueinander zu begreifen. Das wendet Schleiermacher selbst dann auf den Staat und dessen Erkenntnis an: a) Es gibt etwas, das allen staatlichen Gebilden zu Grunde liegt. b) Je vielfältiger er in seiner inneren Gestaltung ist, umso vollkommener ist der Staat. c) Um wirklich zu wissen, muss man den Zusammenhang verstehen, in die Natur der Sache eindringen und Einsicht in die Ursachen haben (vgl. Staat, Heß 497). Die Geschichte biete das Material zur Untersuchung, weil da sehr verschiedene Formen von Staaten sich zeigen. Als Unterscheidungsmerkmal nennt er an dieser Stelle das Verhältnis von Öffentlichem und den Einzelnen, »zwischen dem öffentlichen Ansehn [sic] und der Freiheit der Einzelnen« (Staat, Heß 497,20), in welchem Grad der Staat das ganze Leben der Bürger zu bestimmen sucht und sein Verhältnis zu ergriffenen Regionen (vgl. Staat, Heß 497, 21f ) Wie verhält sich diese Einsicht in die Natur des Staates zu einer Bestimmung des Staatsideals? Obwohl Schleiermacher sich möglichst deutlich von einer solchen Lehre eines idealen Staates abgrenzen möchte, hält er es selbst aus prinzipiellen Gründen für schwierig, die Frage des Staatsideals auszuklammern. Insofern der Staat sich in und aus menschlichen Handlungen zusammensetzt, die im menschlichen Willen begründet sind, welcher als solcher von der Idee des Guten her zu beurteilen ist, kann auch die Sicht auf den Staat nicht die Idee des Guten ausklammern, und das heißt die Frage nach der besten oder zumindest besseren Form des Staates. Trotzdem kann die Frage nach dem Ideal des Staates von der Untersuchung der »verschiedenen Entwicklungen des politischen Lebens« (Staat 1829, Heß 498,8f ) getrennt behandelt werden, weil, so Schleiermacher, die Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes und die Vorstellung eines Staatsideals noch nicht die Kenntnis eines Weges zur Verwirklichung des Ideals bedeutet. »Freilich werden sich uns auch Differenzen in dem Verhältniß dieser Naturgestaltungen zur Idee des Guten selbst ergeben, aber nur insofern, als uns unsere Untersuchungen ein Maß angeben dafür, wie sich in dem Staat die Idee des Guten ausspricht.« (Staat 1829, Heß 498, 28–31). Schleiermacher sieht den Staat als »Erzeugniß der menschlichen Natur« (Staat 1829, Heß 496,25f ); genauso betont er aber, dass der Staat »aus und durch menschliche Handlungen besteht« (Staat 1829, Heß 497,33). Ist der Staat das Gesamt dieser Handlungen oder das Ergebnis dieser Handlungen? Wie bilden sich diese menschlichen Handlungen zu dem Organismus, welcher der Staat ist? Der Staat ist für Schleiermacher eine geschichtliche Naturgestaltung. Wie sich darin Natur und Geschichte verhalten, müssen die weiteren Ausführungen zeigen. Den Begriff des Staates versucht Schleiermacher dadurch zu bestimmen, dass er das zu begreifen sucht, was den Übergang von Nichtstaat zu Staat ausmacht. Dieser besteht darin, dass sich ein »Gegensaz von Obrigkeit und
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
Unterthan« ausbildet (Staat 1829 69,24f ). Schleiermacher klärt den Begriff des Untertanen näher, indem er ihn abgrenzt vom Begriff des Sklaven. Sklaven sind keine Untertanen. Den Untertanen im Unterschied zum Sklaven oder Knecht kennzeichnet »eine in seinem Verhältniß zur Obrigkeit mitgesezte freie Willensthätigkeit« (Staat 1829 70,26f ). Der Gegensatz muss ein veränderlicher sein, der durch freie Handlungen immer neu gesetzt wird. Die Staatlichkeit ist dann einerseits gefährdet durch eine zu geringe Veränderlichkeit wie auch durch eine zu hohe. Schleiermacher setzt sich mit der Definition des Aristoteles auseinander, die Schleiermacher wie folgt formuliert: »ein Staat ist eine Gemeinschaft von einzelnen Hauswesen, welche hinreichend ist, den Einzelnen das vollständige Gut [. . . ] zu verschaffen.« (Staat 1829, Heß 501, 19–21). Dagegen argumentiert Schleiermacher, dass dann während des Kriegszustandes nicht von einem Staat gesprochen werden könne; während andererseits bei einem glücklichen Gesamtzustande aber ohne den Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen auch von einem Staat gesprochen werden müsste. Das aber widerspreche dem üblichen Sprachgebrauch. Schleiermacher drückt so seine Orientierung am sprachlich codierten common sense aus. Wie lässt Schleiermacher den Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen entstehen? Die Obrigkeit grenzt Schleiermacher scharf gegen den Hausvater auf der einen und den Hausherrn auf der anderen Seite ab.37 Der Unterschied zum Hausvater besteht darin, dass die Obrigkeit durch das Gesetz den Untertanen gegenübertritt, der Hausvater aber individuell. Anders als der Hausherr will die Obrigkeit den Willen der Untertanen. Von der anderen Seite betrachtet ist es auch wieder der Wille, der den Unterschied begründet zwischen einem Sklaven und einem Untertanen. Der Knecht »verrichtet also nichts aus sich selbst und für sich selbst« (Staat 1829, Heß 503,18), während der Untertan wenigstens »in irgend einer Beziehung das Seinige« verrichtet (Staat 1829, Heß 504, 3f ) bzw. ein »Gebiet hat, in dem er aus sich selbst und für sich selbst thätig ist« (Staat 1829, Heß 504,27f ). Im »Begriff des Unterthanen liegt ein Zusammensein von freier Thätigkeit und von Unterwerfung unter die Regel, die von einem Andern gegeben wird« (Staat 1829, Heß 506,21–23). Den Staat kennzeichnet ein bestimmtes Verhältnis, eine bestimmte Differenz, durch die Menschen sich unterscheiden als Obrigkeit und Untertan; der Gegensatz konstituiert also Obrigkeit wie Untertanen. Wird die Differenz von Seiten der Obrigkeit verabsolutiert hin zur Despotie, löst das ebenso die Staatlichkeit auf wie die Nivellierung des Gegensatzes hin zur Anarchie. Was konstituiert also 37 Vgl. dazu die Begriffsbestimmung von politischer Macht bei John Locke, welcher die Macht der Obrigkeit von der des Familienvaters, des Herrn über den Diener, des Herrn über den Sklaven und des Ehemanns über seine Frau abgrenzt (Locke: Zwei Abhandlungen, 201 (II, § 2), 252f (II, § 86).
II. Die Staatslehre-Vorlesung von 1829
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die Differenz? Der Gegensatz besteht nun in Handlungen. Durch jede Handlung von einer Seite wird das Verhältnis verändert, zumindest minimal. Zur Staatlichkeit gehört nun nicht nur, dass ein Gegensatz existiert zwischen Obrigkeit und Untertanen, sondern dass dieser auch veränderlich ist. Eine zu schnelle Veränderung wie auch eine zu langsame gefährden die Staatlichkeit (vgl. Staat 1829, Heß 505). Das Handeln der Obrigkeit tut sich kund durch das Gesetz. Das Gesetz ist die ausgesprochene und sanktionierte Sitte (Staat 1829, Heß 511f ). Staatlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass die Sitte zum Gesetz wird. Sitte bezeichnet »die einer Masse angehörige Art und Weise, gewisse Thätigkeiten zu verrichten« (Staat 1829, Heß 511, 17f ). Schleiermacher diskutiert, ob alles, was Sitte ist, in den Bereich staatlicher Gesetze gehört, anhand der Frage, ob Religion vom Staat geregelt werden sollte. Verschiedenes von dem, was Sitte ist, kann aus dem Bereich des Staates entlassen werden. Gewisse Bereiche der Sitte können und sollen nicht Gegenstand der Gesetzgebung werden, weil diese Bereiche sonst ihren eigentümlichen Charakter verlieren würden (vgl. Staat 1829, Heß 523). Diese Bereiche betreffen das »Beschauen der Menschen voneinander« (Staat 1829, Heß 523, 16f ). Schleiermacher fragt nun nach dem Kernbereich, nach dem, was auf keinen Fall aus staatlicher Verantwortung entlassen werden darf, wenn der Staat Staat bleiben soll. Den Kernbereich identifiziert er als das, was »unmittelbar mit der Beherrschung des Erdbodens zusammenhängt« (Staat 1829, Heß 516,32). Die Zusammengehörigkeit von Menschen und Boden macht den Staat aus. Für die Staatswerdung ist also ein allgemeines Zusammenleben vorausgesetzt, das auf natürliche Weise geworden ist, im Normalfall durch ein »näheres Abstammungsverhältniß« (Staat 1829, Heß 523,11) konstituiert, das sich in der gemeinsamen Sprache und ähnlichen Körperlichkeit äußert. Es bildet sich ein »Gemeingefühl« heraus. Schleiermacher beschreibt, wie in unterschiedlich großen Einheiten und auf verschiedenen Ebenen dieses Gefühl entsteht. Der Staat aber muss an dieses Gemeingefühl anknüpfen. Die vorhandenen Staaten bilden aber in ihren Abgrenzungen meist gerade nicht dieses Gemeingefühl ab. Schleiermacher führt dies auf die Zufälle der Geschichte zurück. Die Beschränkung der Willkür des Einzelnen zugunsten des Staates ist für Schleiermacher keine Begrenzung der Tätigkeit des Einzelnen, sondern nur eines bestimmten Tätigseins, nämlich eines solchen, das den Einzelnen aus der Gemeinschaft aussondert (Staat 1829, Heß 519,17f ). Davon unberührt ist die Frage, wie innerhalb des Staates die Verantwortlichkeit zwischen Obrigkeit und Untertanen aufgeteilt wird. Welche menschliche Tätigkeit gehört in den Aufgabenbereich des Staates und definiert seine spezifische Gemeinschaftsform?38 So »wie das Zusammenleben durch das Verhältniß zum Grund und Boden bestimmt ist: so ist auch die wesentliche Thätigkeit, das Verhältniß des Menschen 38
In der Ethik dazu: Schleiermacher: Werke, 259.273.275–320. bzw. 605–626.
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
als des beherrschenden Geistes zu dem Erdboden, den er beherrschen soll.« (Staat 1829, Heß 516, 24–27). Der Erdboden oder der Boden, von dem Schleiermacher spricht, meint das landschaftlich je eigengeprägte Territorium, nicht eine abstrakte Bodenfläche. Was zum Staat gehört, erschließt Schleiermacher zunächst über die ausgeschlossenen Extreme: weder Naturkräfte noch das Tätigsein des Menschen als reiner »Intelligenz« (Staat 1829 74,18) fallen darunter. Wegen zweitem sind Religion und Spekulation aus dem Verantwortungsbereich des Staates auszuschließen. Ebenso die freie Geselligkeit ist ausgeschlossen, weil diese sich bezieht auf die Individualität; damit gehört es zur »persönlichen Differenz« (Staat 1829 72,24), und nicht zur Sitte. Zugleich gebe es bei Religion, die auf Vergemeinschaftung drängt, und beim Wissen, das Traditionsbildung anzielt, »Mittelglieder« zum Staat, weil das reine Wissen Verbindungen aufweist zum Wissen, das für die Herrschaft über den Boden gebraucht wird. Das religiöse Verhältnis motiviert den Menschen, sich in das Verhältnis zum Boden »fester hineinzuleben« (Staat 1829, Heß 522,41f ). Aus der behaupteten Eigenständigkeit der Bereiche Wissen und Religion (und freie Geselligkeit) vom Staat ergibt sich die Frage, wie sich der Staat zu ihnen verhalten solle. Schleiermacher führt aus, weil diese drei Gemeinschaften auch zum Bodenverhältnis des Menschen in Beziehung stehen, sind sie in genau dieser Beziehung auch abhängig vom Staat. Der Staat soll diese Gemeinschaften frei lassen und sie anerkennen. Als Grund nennt Schleiermacher, dass der Staat Glückseligkeit ermöglichen soll; indem er die dazu nötigen Elemente ermöglicht. Die präzise Abgrenzung des Staates von den anderen Gemeinschaften bildet sich aber erst allmählich in der Geschichte heraus. Vorher handelt es sich um ein verworrenes Verhältnis, das laut Schleiermacher noch bis in seine Gegenwart andauert (vgl. Staat 1829, Heß 525, 1f ). Nach dieser allgemeinen Einführung behandelt Schleiermacher nun die genannten Themen im Einzelnen. 2. Staatsbildung und Staatsverfassung Hier geht es Schleiermacher zunächst darum, die gegebene Vielfalt der Staatsformen durch Typenbildung zu ordnen. Diese Typenbildung dürfe sich nicht an äußeren Merkmalen orientieren; dies erscheint ihm als der Fehler antiker Ordnungsschemata beim Staatswesen, womit die Klassifizierung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie gemeint sind. Stattdessen soll die Methode verfolgt werden, von der Staatsbildung auszugehen und dabei Verschiedenheiten in den Ausgangsbedingungen festzustellen (vgl. Staat 1829 76,24–27). Zu den Konstituentien von Staatlichkeit gehören einerseits Gesetz, damit die Differenz von Aussprechen und Ausführen, und andererseits der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten. Beide Merkmale sind nach Schleiermacher »eins und dasselbe« (Staat 1829, Heß 537,15). Verbunden und aufeinanderbe-
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zogen sind die genannten vier Größen durch zwei Anerkennungsvollzüge: Die Obrigkeit spricht das Gesetz aus, die Beherrschten führen es aus, wozu die Anerkennung der Obrigkeit erfolgen muss, damit das Gesetz ausgeführt ist. Umgekehrt anerkennen die Beherrschten erst durch ihr Befolgen des Gesetzes, dass das Gesetz die Sitte ausspricht. Schleiermacher summiert: »Also das ganze Leben ein Kreislauf den man von zwei gegenüberstehenden Punkten construiren kann, der aber immer zum Anfang zurückgeht.« (Staat 1829 77,23–25). Stehen sich diese Anerkennungsvollzüge gleichberechtigt gegenüber? Die Anerkennungsvollzüge spiegeln ein jeweils auf verschiedener Ebene liegendes Prä: die Sitte ist Leben aller und geht jedem Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten voraus. Auf einer anderen Ebene, »in abstracto« (Staat 1829, Heß 538,6–7) ist das Aussprechen des Gesetzes durch die Herrschenden überhaupt erst die Bedingung der genannten Anerkennungsvollzüge. Zusammen bilden diese Anerkennungsvollzüge den »Akt des Staatslebens [. . . ], der aus der Duplicität des Gebens und des Realisirens des Gesetzes besteht« (Staat 1829, Heß 537,33–35). Die staatstypenkonstituierenden Merkmale sieht Schleiermacher nun in zweierlei: im Verhältnis zur Zusammengehörigkeit und im Verhältnis zum Übergang (vgl. Staat 1829 77,26–28). Beide Kriterien seien nun im Einzelnen erläutert: Zunächst das Verhältnis zur Zusammengehörigkeit. Schleiermacher nennt das auch »Gesammtverhältniß der Masse als Einheit, ob sie Volk ist oder Stamm« (Staat 1829 77,30f ). Zum zweiten Kriterium führt Schleiermacher aus, dass der Übergang sich zusammensetzt aus »allmähliger Annäherung und plözlichem Uebergang« (Staat 1829 77,36); zum Übergang gehören dann also die innere Möglichkeit und die äußere Veranlassung (so Staat 1829 77,38–40). Beim Übergang kann Gleichheit von Ungleichheit unterschieden werden. Im Falle der Ungleichheit wird der äußere Impuls nur in einem Einzigen zur Tat, die anderen eignen sich diese Tat aber nur an. Aus dieser Differenz von Spontaneität und Rezeptivität bildet sich dann der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten. Bei Gleichheit wird der äußere Impuls zur Staatswerdung bei allen gleichermaßen auch zur Tat; alle sind also spontan daran beteiligt. Dabei gilt dann auch, dass alle gleichermaßen das Gesetz auszuführen haben. Nach Schleiermacher sind in diesem Fall Obrigkeit und Untertanen die gleichen Subjekte, die lediglich unterschiedliche Funktionen in bestimmten Zeiten ausfüllen. »Die Differenz dieser Zeiten geht aber allerdings auch auf Gegensaz von Spontaneität und Receptivität zurük, weil nämlich in der Geschäftführung das politische BeWußtsein zurüktritt und in der Staatsversammlung das PrivatInteresse« (Staat 1829 78,14–17). Schleiermacher entwickelt aus dem Genannten ein vierteiliges Einteilungsschema, dessen Kriterien kleine oder große Einheit sowie Gleichheit oder Ungleichheit lauten (vgl. Staat 1829 80,12f ). Dabei gilt: Kleine Einheit mit Gleichheit: Demokratie. Große Einheit mit Ungleichheit: Aristokratie, Große Einheit mit Gleichheit: Staatenbund oder Bundesstaat, Kleine Einheit mit Ungleichheit
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ist höchst unwahrscheinlich, da in allen kleinen Einheiten die Gleichheit vorherrsche (vgl. Staat 1829 79). Diese seine gedankliche Ableitung, die er mit historischen Beispielen schon versehen hatte, behauptet er dann als der Geschichte entsprechend: »Wenn wir nun nach Ausfüllung aller Felder das Ergebniß mit dem geschichtlich vorliegenden vergleichen, so müssen wir sagen daß im großen genommen die Geschichte ihm entspricht.« (Staat 1829 81,17–19). Schleiermacher führt nun die Rede vom »Staat der höchsten Ordnung« (Staat 1829 82) ein. Das ist ein solcher, bei dem ein zusammengesetzter Staat aufgrund seiner geschichtlichen Entwicklung eine vollkommene Einheit ist und in einer gewissen Mannigfaltigkeit äußerer Verhältnisse existiert (Staat 1829 82,17f ). Dieser höchste Staat ist »seinem Wesen nach monarchisch« (Staat 1829 82,35). Bei diesem stellen »die äußeren Verhältnisse ein großes die ganze Bildung mitbestimmendes Moment« dar (Staat 1829 83,3f ). Jeweils größere Einheiten bilden sich nicht durch innere Entwicklung, sondern durch spezifische äußere Relationen. Schleiermacher fragt daher, ob diese äußeren Relationen zu einem Universalstaat führen könnten. Im Folgenden begründet er die Ablehnung eines Universalstaates. Einen solchen, die ganze Menschheit umfassenden, hält er auch bei gesteigerten Kommunikationsmöglichkeiten für unmöglich. Einen europäischen Staatenbund hält er für überflüssig und für eine »unhaltbare Fiction« (Staat 1829 83,22), laut Vorlesungsmitschrift für »faktisch unmöglich – wegen der räumlichen Dimensionen« (Staat 1829 Willich 554,35f ). Etwas abgeschwächter beurteilt Schleiermacher die Idee einer Universalmonarchie, verstanden als das Übergreifen eines Staates auf andere, die in einer verwandten geschichtlichen Entwicklung sind mit dem Ergebnis eines einheitlichen Staates. Nur insofern das mit dem geschichtlichen Prozess einhergeht, in dem die Differenz der tatsächlichen Staaten von dem »Ideengemäßen« des Staates (Staat 1829 Willich 555,16) sich verkleinert, kann Schleiermacher dieser Idee einen Realitätsgehalt zugestehen. Zur Idee eines allgemeinen Staatenbundes, dessen Ziel in Anknüpfung an Kants gleichnamiger Schrift ein ewiger Frieden wäre, führt Schleiermacher aus, dass dessen Ziel genauso ohne die Form des Staatenbundes zu erreichen ist, und insofern die Form als solche nichts dazu beiträgt. Mit und ohne Form hängt für den »Ewigen Frieden« alles an der Gesinnung der Beteiligten, und an dieser allein. Daraus folgt für Schleiermacher, dass die von ihm dargestellte Staatstypologie vollständig sei in der Erfassung des Geschichtlichen und des geschichtlich Möglichen. Bei der Staatsgeschichte unterscheidet er drei Stadien: den primitiven Staat, den Übergangsstaat und den Volksstaat. Der Volksstaat sei ein »wesentlich aristokratischer und untergeordnet monarchischer« Staat (Staat 1829 83,26f ). Eigens widmet er sich ausführlich der Staatsbildung durch Kolonisierung. Die mehrheitlich monarchischen Formen seiner Zeit erklärt Schleiermacher damit, dass sie aus der Unterdrückung von aristokratischen Formen entstanden seien;
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als Beispiele nennt er Deutschland, England, Frankreich und die Niederlande. Der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten sei durch »etwas Innerliches« (Staat 1829 Willich 577,20) begründet. Bei der Demokratie sei ebenfalls ein solch »innerlicher Grund« (Staat 1829 Willich 577,25) gegeben. Methodisch will Schleiermacher diesen identifizieren, indem er bei denselben Menschen ihr Dasein in der gesetzgebenden Versammlung unterscheidet von ihrem späteren Dasein, das dann die Gesetze befolgt. Im ersten Fall sind diese Menschen unmittelbar bezogen auf das Gemeinwohl, im zweiten Fall unmittelbar bezogen auf die einzelnen, die den Staat bilden. Der Zustand, in dem »die Zusammengehörigkeit aller das unmittelbar gegenwärtige« (Staat 1829 Willich 579,6f ) ist, stellt für Schleiermacher den Status höherer »politischer Dignität« dar. Wie erfolgt die Gesetzgebung in der Demokratie? In der Demokratie sind für den Staat, der sich bildet als Aussprechen der Sitte als Gesetz, zwei Instanzen notwendig: die Vertretung und die Regierung. Die Vertretung bereitet die gesetzgebende Versammlung vor; ihre Idee ist die Repräsentation der »Totalität der Erfahrungen« (Staat 1829 Willich 582,40f ). Das ist deshalb notwendig, weil die arbeitsteilige Gesellschaft zu jeweils einseitigen und verschiedenen Erfahrungen führt, entsprechend den verschiedenen Tätigkeiten (vgl. Staat 1829 Willich 579). Diese verschiedenen Erfahrungen erzeugen dann auch unterschiedliche Ansichten darüber, was dem Gemeinwohl dient. In der gemeinsamen Gesetzgebung müssen diese verschiedenen Erfahrungen bzw. Ansichten zum Ausgleich gebracht werden. Schleiermacher zieht daraus den Schluss, dass sogar überhaupt das Wohlbefinden des Staates abhängt vom dem bestmöglichen Gelingen dieses Ausgleichs (vgl. Staat 1829 Willich 579). Die Regierung ist die Instanz, welche für die Ausführung der gegebenen Gesetze zuständig ist. Insofern letztlich jedes einzelne Mitglied des Staates Gesetze vollzieht und ausführt, bildet »die Masse [. . . ] das Ende der Regierung« (Staat 1829 Willich 583,9). Eine Verfassung gilt für Schleiermacher erst dann und genau dann als vollständig, wenn eine gesonderte Organisation von Regierung und Vertretung auftritt. Für eine solche Verfassung sei es aber nicht wesentlich, dass sie kodifiziert sei. Garantie für eine solche Verfassung ist allein »in der allgemeinen Ueberzeugung von der Güte dieser Verfassung« zu finden (Staat 1829 Willich 585,12f ). Eine kodifizierte Fassung dagegen behindert Ergänzungen und Weiterentwicklungen. Die zeitgenössische Überzeugung, dass die schriftliche Verfassung die beste Garantie sei, lässt sich nur mit dem natürlichen Misstrauen der Bevölkerung gegen die Regierung verstehen. Dieses Misstrauen sowie das der Regierung gegen die Bevölkerung lässt sich nach Schleiermacher nur mit der Zeit überwinden; dazu gehört, dass das Volk die Überzeugung gewinnt, dass »sein Erwerb und blühendes Leben nur von dem Schutze der Regierung abhängt« (Staat 1829 Willich 585,22f ). Von dieser Art von Garantie unterscheidet Schleiermacher eine »eigentliche Sicherheit« von Verfassungen, man könnte sie in-
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terne Interdependenz-Sicherheit nennen. Sie besteht nämlich darin, dass jede Instanzeinheit »in Beziehung auf seine eigenthümliche Function abhängig ist von den andren« (Staat 1829 Willich 586, 30f ). Das meint zum einen, dass die Vertretung das alleinige Recht hat, die öffentlichen Abgaben für die Regierung zu bewilligen. Während umgekehrt die Vertretung abhängig ist vom Schutz der Regierung. Danach diskutiert Schleiermacher die Problematik, dass es in bestimmten Verfassungen zwei Vertretungsinstanzen gibt. Den Vorteil sieht er im retardierenden Moment bei der Gesetzgebung. Die eine Vertretungsinstanz sei für Ideengebung zuständig, die andere für ausführliche Prüfung und kritische Sichtung. Das begründet er ausführlich, um sich dann der Frage zuzuwenden, worauf die Teilung der beiden Vertretungsinstanzen beruhen soll, bei gegebener politischer Gleichberechtigung (vgl. Staat 1829 Willich 595–599). Die Rolle der öffentlichen Meinung sieht Schleiermacher da als besonders wichtig an, wo das Staatsvolk keine geregelten Wege hat, um Erfahrungen, Einsichten und Ansichten in die Gesetzgebung einzubringen. Schleiermacher setzt hier die notwendige Pluralität, ja den Streit von Meinungen und Ansichten voraus. Unvermeidlich sei dies insofern, als die Erfahrungen der Einzelnen schon durch die Arbeitsteilung verschieden seien. Es kommt nun darauf an, ob die »Ausgleichung« durch die Gesetzgebung durch einen Majoritätsbeschluss geschähe oder durch eine »Uebereinkunft der Meinungen« (Staat 1829 Willich 578,18f ) zustande gekommen sei. Nur im letzten Fall rechnet Schleiermacher mit einer Stabilität einer solchen Entscheidung. »Das Wohlbefinden des Staates wird also abhängen von der möglichst vollständigen Ausgleichung der Erfahrungen – und wird daher immer größer sein, je mehr eine wahre Vereinigung der Meinungen stattfindet« (Staat 1829 Willich 579,14–17). Die Repräsentation bei der gesetzgebenden Versammlung denkt sich Schleiermacher entweder durch Repräsentanten der Einzelgebiete, also territorial oder berufsständig, er spricht von »Zünften« (Staat 1829 Willich 580,31). Bei der territorialen Vertretung hat dann schon ein gewisser Ausgleich der aufgrund von Arbeitsteilung differenten Meinungen stattgefunden. Im Folgenden behandelt er die Aristokratie. Bezogen auf die Gesetzgebung sieht Schleiermacher eine »natürliche Opposition« gegen alles Neue in den Beherrschten gegeben, weil sie nicht an der Gesetzgebung beteiligt werden. Entsteht aber in den Beherrschten eine politische Einsicht, so kann diese sich auf keinem organisierten Wege Geltung verschaffen. Diese Einsicht kann jedoch auf formlose Weise, nämlich als öffentliche Meinung Einfluss gewinnen. Dieser Einfluss macht sich aber nicht im Staat als solchem geltend, sondern im Privatverkehr. Daher sieht Schleiermacher diese Aristokratie als eine Form, die keinen längerfristigen Bestand haben kann (Staat 1829 Willich 582,28f ). Hier greift Schleiermacher nochmals die Frage nach der besten Staatsgestalt auf und ob es diese überhaupt geben könne. Er rechnet damit, dass bei einem
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vollkommen ausgebildeten Zusammenwirken der Staaten aufeinander sich eine beste Gestalt herausbilden kann, die gültig für alle ist. Beim religiösen, wissenschaftlichen Leben und bei der freien Geselligkeit geht der Zusammenhang über die Volkseinheit hinaus (Staat 1829 Willich 568). Für den Staat bedeutet das, dass zu seinen Aufgaben gehört, in friedlichem Verkehr mit den anderen Staaten zu leben, um eben diesen religiösen und wissenschaftlichen Zusammenhang zu ermöglichen, jedenfalls nicht zu stören. Eine Aufgabe, den Einzelstaat zu erweitern, folgt daraus gerade nicht. Da sieht Schleiermacher in der »NaturEinheit [. . . ] die wahre Grenze« (Staat 1829 Willich 569, 14). Beim Verhältnis des Staates zum Einzelleben und zu den anderen ethischen Gütern lassen sich verschiedene Konflikte denken. Die Staatsverteidigung muss nun so organisiert sein, dass in jedem möglichen Konfliktfall diese Staatsverteidigung eingreift. Schleiermacher klassifiziert das für drei mögliche Fälle: je nachdem, ob die Staatsbildung überwiegend auf die Staatsverfassung, auf die Verwaltung oder auf die Verteidigung bezogen ist. Die Staatsverwaltung hat zum Gegenstand die Beherrschung der Naturkräfte durch die Vernunft innerhalb des Gegensatzes von Herrschenden und Beherrschten. Der Fall, dass die Staatsverfassung sich vornehmlich in Beziehung auf die Staatsverteidigung entwickelt, ist denkbar nur im Falle der Verteidigung des Staates in den äußeren Verhältnissen. Das Verhältnis der anderen ethischen Organisationen zum Staat gestaltet sich aber immer so, dass die ethischen Organisationen zumindest in einer Hinsicht jeweils vom Staat direkt abhängig sind und in einem Konfliktfall deshalb eigentlich unterliegen müssen. Die Staatsverfassung entwickelt sich weiter mit der zunehmenden Komplexität des Austausches und der Beherrschung der Natur. Die Beherrschung der Natur durch die menschlichen Kräfte in ihrem jeweiligen Entwicklungsstand bezeichnet Schleiermacher mit Industrie (Staat 1829 Willich 571,32). Wenn nun die Staatsverteidigung wesentliche Kräfte bindet, dann hemmt das die Wirtschaftsleistung und führt zu einem Abnehmen der produktiven Tätigkeit. Wird nun sogar die Form eines Staates von der Verteidigung her gebildet, dann handelt es sich um einen »militärischen Staat«; im Unterschied zu einem industriösen Staat. Im Letzten aber kann Schleiermacher einen militärischen Staat nur als eine Übergangsform denken – oder als einen zum Untergehen bestimmten Staat. Nur jedoch, wenn der militärische Staat ein angreifender Staat, in Schleiermachers Worten ein »Raubstaat« (Staat 1829 Willich 572,37) ist, kann ein solcher Staat für eine gewisse Zeit stabil sein. Zusammenfassend gesagt: Für eine Staatstheorie kommt es darauf an, dasjenige zu identifizieren, wodurch aus Nichtstaat ein Staat wird. Schleiermacher versucht also, das sachliche Konstituens von Staatlichkeit durch die Genese von Staatlichkeit zu bestimmen. Dieses Konstituens erblickt Schleiermacher im Gegebensein eines Gegensatzes von Obrigkeit und Untertan. Wie sich daraus die
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verschiedenen Staatsverfassungen differenzieren lassen, war Ziel der bisherigen Ausführungen. Im Folgenden sei Schleiermachers zweiter Teil der Staatslehre vorgestellt: die Staatsverwaltung. 3. Staatsverwaltung Der Staat besteht fort, indem der »Proceß der Naturbildung des Staats sich beständig erneuert« (Staat 1829 Willich 570, 2f ). Die Leitung dieses Prozesses ist nun Inhalt der Staatsverwaltung. Den Begriff der Staatsverwaltung definiert Schleiermacher als »die richtige Leitung des gesezlichen Zustandes um die vollständigste Bildung der Natur zum Organismus der Intelligenz zu entwikkeln« (Staat 1829 114, 30f ). Die vorhandenen Differenzen in der staatlichen Gestaltung dieser Aufgabe systematisiert Schleiermacher, indem er zwei entgegengesetzte Extremformen benennt und alles Vorhandene als je spezifische Mischformen bestimmt. Der theoretische Nutzen besteht nicht in der Ermittlung einer Idealform, sondern in der Klärung, »durch was für Verhältnisse jede bedingt und unter welchen Umstände also die natürlich ist« (Staat 1829 115,21f ). Die abstrahierten Extremformen ergeben sich aus der Alternative, ob die Tätigkeit des Naturbildungsprozesses von den Einzelnen ausgehen soll und das Gesetz bzw. die Gesamtheit nur eine korrigierende Funktion hat, oder ob die Tätigkeit vom Gesetz ausgehen und von den Einzelnen nur vollzogen werden soll. Nachfolgend begründet er, dass dieser Naturbildungsprozess sobald er staatlich geordnet ist, zwei Seiten hat: eine äußerlich-leibliche und eine innerlich-geistige. Daher beziehe sich die Staatsverwaltung auf diese beiden Aspekte. Schleiermacher beginnt seine Argumentation mit einer Theorie des Eigentums. Eigentum und Besitz parallelisiert er mit Staat und vorstaatlichen Verhältnissen. So beruht Besitz lediglich auf Gewöhnung und Nachahmung, während Eigentum ein »Bewusstsein von dem Verhältniß des Menschen und der Dinge« (Staat 1829 116,6) impliziert, sowohl individuell als auch kollektiv. Daher also korrelieren auch Eigentum und Staatlichkeit miteinander. Mit Eigentum und Staat entsteht geregelte Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung »ist die Form welche der NaturBildungsProzeß mit dem Staate und durch ihn annimmt« (Staat 1829 116,20f ). Die staatliche garantierte Arbeitsteilung bewirkt, dass der Einzelne durch seine spezifische Arbeit, durch sein spezifisches Talent sich zugleich auf den Staat bezieht, und zwar ist diese Beziehung eine durch das jeweilige Talent spezifizierte Beziehung. Das gilt nur dann, wenn der Einzelne selbst »diese Beziehung anerkennt und darstellt«. Begrifflich fasst Schleiermacher das als »bürgerliche Ehre« oder »Gemeingeist«, welche die innerlich-geistige Seite des staatlich geordneten Naturbildungsprozesses darstellen. Ein solcherart staatlich geordneter Naturbildungsprozess macht Tätigkeiten nötig, welche nicht unmittelbar Teil des Naturbildungsprozesses sind, sondern der gemeinsamen Naturbildung dienen, wie Verteidigung und Verwaltung. Diese Tätigkeiten müssen
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entsprechend entschädigt werden. Das erfordert eine Mittelumverteilung, welche Schleiermacher Finanzwesen nennt. Seine Erwägungen zum Geld machen die Grenzen seiner Theorie deutlich: der Wert des Geldes kann seiner Ansicht nach nur in seinem Materialwert liegen (vgl. Staat 1829 118,35–37). Grundsätzlich müsse das Geldwesen so eingerichtet werden, wie es für den Handel am besten sei. Zunächst thematisiert er die Staatsverwaltung in Bezug auf den Naturbildungsprozess im engern Sinn. Schleiermacher untersucht dabei, wie sich das Verhältnis der Einzelnen untereinander und zur Gemeinschaft aller verändert durch die Staatswerdung in Verbindung mit der Arbeitsteilung. Mit der Arbeitsteilung entstehen einander konkurrierende oder entgegengesetzte Interessen. Dies betrifft den Staat in zweierlei Hinsicht: zum einen weil dem Staat an politischer Gesinnung im Sinne von Allgemeinwohlorientierung gelegen sein muss, welche durch widerstreitende Interessen gestört wird, zum anderen weil dem Staat an möglichst großem gemeinsamen Wohlstand gelegen ist. Daraus entwickelt Schleiermacher drei mögliche Optionen für den Staat: Der Staat garantiert jedem völlige Freizügigkeit, oder der Staat verpflichtet sich, jedem Bürger den Lebensunterhalt zu garantieren oder der Staat »erklärt jeden cautionspflichtig gegen die Gesammtheit« (Staat 1829 120,34f ). Diese drei Optionen diskutiert Schleiermacher durch und ordnet sie verschiedenen Staatsformen zu. Diese Optionen machen sich geltend auf der Ebene lokaler Verwaltung. Die lokale Verwaltung, von Schleiermacher »Commune« genannt, spielt eine zentrale Rolle in der Vermittlung der Einzelnen und der Gesamtheit, insofern die Commune »das Ganze gegen den Einzelnen und wiederum den Einzelnen gegen das Ganze vertritt« (Staat 1829 124,6f ). Schleiermacher leitet davon über zu einer kritischen Einordnung des Zunftwesens, welches er als Mittel versteht, geordnet mit der Konkurrenz gleichartiger Tätigkeiten umzugehen. Ausführlich widmet er sich dem Problem, dass Angebot (Produktion) und Nachfrage (Verbrauch) sich oft nicht entsprechen. Da er die Arbeitsteilung für dieses Missverhältnis verantwortlich sieht, und diese mit dem Staat entsteht, so muss auch der Staat für den Ausgleich dieses Missverhältnisses Sorge tragen, z. B. durch Einwanderung, Kolonisation oder Begünstigungen für bestimmte Gewerbezweige. Begünstigungen geschehen durch Monopol, Prämie oder Privilegien in Bezug auf Lieferanten und Konsumenten. Die Arbeitsteilung bedingt auch eine Differenz im Verhältnis der Bürger zum Boden, unterschieden in diejenigen Berufe, die an den Boden binden und die Berufe, die vom Boden lösen. Insofern die Bindung an den Boden zusammenhängt – zumindest in weniger entwickelten Gesellschaften – mit der Gemeinwohlorientierung, in Schleiermachers Worten mit der politischen Gesinnung, muss der Staat Maßnahmen ergreifen, um die berufliche Bindung an den Boden zu fördern. Daraus lässt Schleiermacher einen Konflikt entstehen zwischen der Freiheit des Einzel-
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nen bei seiner beruflichen Orientierung und der staatlichen Sicherung der Gemeinwohlorientierung. In diesem Zusammenhang diskutiert er ausführlich die Maßnahmen, welche eine Teilung oder Veräußerung des Bodens verhindern. Wesentliche Frage der Verwaltung ist die Art ihrer Organisation hinsichtlich Zentralität oder Lokalnähe. Die Regel dafür lautet: »Die Furcht vor diesen Widersprüchen ist das Maaß des Centralisierens, das Vertrauen auf Gemeingeist und Gesammtbewußtsein ist das Maaß des Lokalisierens.« (Staat 1829 139,34–36) Anders ausgedrückt entspricht der Zentralisierung eine weitgehende Ungleichheit in der Ausprägung des politischen Bewusstseins, während die Dezentralisierung die weitgehende Gleichheit in dieser Hinsicht widerspiegelt. Insofern keine Rückentwicklung aus sich heraus denkbar ist, muss jede natürliche Entwicklung von Zentralorganisation zu mehr Dezentralisierung verlaufen; der geschichtliche Richtungssinn ist dabei nach Schleiermacher also eindeutig und unumkehrbar. Nach der Organisation und dem Bezugspunkt von Verwaltung ist schließlich die Zielsetzung von staatlicher Verwaltung zu betrachten. Diese besteht in zweierlei: in ausreichender Bevölkerungsgröße im Blick auf Staatsautarkie und in Nationalreichtum. Diese beiden Größen gehören folgendermaßen zusammen: »Die hinreichende Bevölkerung also ist die hinreichende Thätigkeit, und der NationalReichthum ist die Probe darauf in der Fülle der Resultate.« (Staat 1829 141,14–16) Unabhängig von der Größe des Nationalreichtums ist seine innere Verteilung zu bewerten. Bei einer Gleichverteilung sieht Schleiermacher keine negativen Folgen. Trotzdem ist einzugestehen, dass bei einer Gleichverteilung »die höchste Vollkommenheit eines großen Staats« nicht erreicht werden kann, denn um der Differenz der Arbeiten und der damit verbundenen Bildung willen ist eine Ungleichverteilung nötig. Für Schleiermacher ist es – schon allein was die Finanzierung betrifft – nicht möglich, dass jeder eine historische Bildung erhalten kann. Außerdem würden sich die »niedrigsten KulturArbeiten« nicht mit einer solchen historischen Bildung vertragen (vgl. Staat 1829 145,5–7). Also ist um der Differenziertheit der Aufgaben willen eine differenzierte Bildung und damit auch eine differenzierte Mittelverteilung anzustreben. Eine extreme Ungleichverteilung dagegen hat gravierende Nachteile: zum einen ist es schädlich für den Nationalreichtum als Ganzem. Vor allem aber ist es schädlich für die politische Gesinnung. Bei Ausprägung von Extremen nehmen sowohl die Armen als auch die Reichen kein Interesse an staatlichen Belangen als solchen.39 Um eine möglichst große politische Gesinnung zu erreichen, ist also eine Gleichverteilung anzustreben. Eine solche wird nie ganz möglich sein, denn laut Schleiermacher erzeugt sich Ungleichheit von selbst – gerade auch bei politischer Gleichberechtigung. Diese Ungleichheit soll aber dann dazu eingesetzt werden, um die Gleichheit wieder herzustellen (vgl. Staat 1829 Willich 690). Ungleich39 Vgl. »denn weder die Reichen noch die Dürftigen können hier an dem Staate hängen« (Staat 1829 Willich 690,25f ).
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heit sieht Schleiermacher dabei als unvermeidbar an: es kommt nur darauf an, diese zur Förderung von Gleichheit einzusetzen, sowie einen gleichberechtigten Zugang zu ihr zu eröffnen. In gewisser Weise sieht er unter solchen Rahmenbedingungen dann Ungleichheit auch wieder als wünschenswert an, insofern nämlich politische Leitungsaufgaben ein höheres politisches Gesamtbewusstsein erfordern, zu dem eine höhere materielle Verfügungsgewalt gehöre (vgl. Staat 1829 Willich 695). Hinreichende Bevölkerung – das zweite Ziel von Verwaltungshandeln – bemisst sich zunächst an der Arbeitsteilung, ob also eine genügende Menschenzahl für eine hochdifferenzierte Arbeitsteilung ohne Monopolausbildung vorhanden ist. Im Anschluss daran diskutiert Schleiermacher auch das Problem der Überbevölkerung. Hier warnt er, Verarmung mit Überbevölkerung zu verwechseln. Armut definiert er als »das Unvermögen der Familien ihre Kinder verhältnismäßig zu erziehen und ihnen eine Stelle der Thätigkeit anzuweisen« (Staat 1829 146,16f ). Der zweite Teil der Staatsverwaltung bezieht sich auf die Entwicklung der geistigen Kräfte. Dies lässt sich differenzieren in die politische Gesinnung, in geschichtliche Kenntnisse sowie in naturwissenschaftlich-anwendungsorientiertes Wissen. Zunächst behandelt er die politische Gesinnung, die definiert ist als »das Wollen eines Jeden mit den Übrigen ein Staat zu sein« (Staat 1829 146,33f ). Das Problem der politischen Gesinnung ist erstens, dass sie in den einzelnen Bürgern ein Gegengewicht hat in den religiösen und wissenschaftlichen Bestrebungen, welche »eine unbeschränkte Gemeinschaft jedes mit Allen« anzielen (Staat 1829 147,28). Dies kann sich verbinden mit »Liebe zum Fremden«, also mit einer Öffnung für fremde Kultur und Bildung. Zweitens ist die politische Gesinnung in Staaten mit politischer Ungleichheit auch ungleich entwickelt und bedarf der staatlichen Förderung. Das geschieht unter der Form des öffentlichen Lebens, wobei Schleiermacher Volksfeste und Ähnliches vor Augen hat: »Hier ist das wahre Element das Hervortreten der bewußten Zusammengehörigkeit wobei jeder den Gemeinsinn und Gemeingeist Anderer zur Wahrnehmung bekommt und also in sich aufnimmt« (Staat 1829 149,22–25). Der Einzelne muss merken, dass seine eigene Tätigkeit »im Staat zum Bestehn und zur Entwiklung desselben beiträgt« (Staat 1829 150,10), dann entsteht politische Gesinnung. Dies zu fördern nennt Schleiermacher »Volksentwiklung«, dies in den nachwachsenden Generationen zu bilden »Volkserziehung«. Erziehung und Schulwesen stellen ein besonderes Problem dar, weil daran neben dem Staat auch die Religion und die Wissenschaft beteiligt sind. »Der wünschenswertheste Zustand ist der, wenn sich der Staat ohne Einmischung und ohne Eifersucht der gehörigen Unterstützung von beiden erfreut und nur lokalisierend das für seine eignen Zwekke nöthige entweder selbst hinzufügt, oder als Privatunternehmung sanctionirt« (Staat 1829 154,3–7). Kinder gehören sowohl den Eltern als auch dem Staat.
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Nach der Bildung ist nun als letztes noch das Finanzwesen zu behandeln. In ihm zentriert sich alles um die beiden Fragen, welche Leistungen der Staat zu fordern und wie er sie zu verteilen habe – seien das nun Geldmittel oder andere Leistungen. Zunächst diskutiert Schleiermacher die Vor- und Nachteile hauptamtlicher Staatsbediensteter im Unterschied zum Staatsdienst als Nebenaufgabe. Dann widmet er sich den verschiedenen Steuerarten. Damit hat Schleiermacher alle wichtigen Verwaltungsaufgaben klassifiziert. Als dritten und letzten Teil seiner Staatslehre bestimmt er noch die Anforderungen an die Staatsverteidigung. 4. Staatsverteidigung Unter dem Begriff Staatsverteidigung reflektiert Schleiermacher alle AußenBeziehungen des Staates, das betrifft die anderen Staaten (äußere Staatsverteidigung) und die innere Staatsverteidigung. Die innere Staatsverteidigung besteht in der Gerichtsbarkeit. Die Verteidigung des Staates gegen Handlungen, die sich gegen seine bestimmte Form (antipolitische Handlungen) oder die sich gegen die Staatlichkeit als solche (anticivile Handlungen) richten, vollzieht sich durch eine je spezifische Gerichtsbarkeit. Anticivile Handlungen unterscheidet Schleiermacher weiter nach solchen, die aus Leidenschaft oder Eigennutz begangen werden und die durch Strafgerichtsbarkeit bekämpft werden und solchen, die aus Irrtum über die Gesetze geschehen und durch Zivilgerichtsbarkeit zu ahnen sind. Die Zivilgerichtsbarkeit interessiert Schleiermacher nicht weiter; es sei nur wichtig, dass den Einzelnen die Freiheit zugestanden würde, sich zwischen einem schiedsrichterlichen Verfahren und einem staatlichen Zivilgericht zu entscheiden. Im Folgenden liefert Schleiermacher aber eine ausführliche Theorie des Strafrechts. Zwei Interessen spiegeln sich im Strafrecht: das Interesse der Rache des durch eine Straftat Beleidigten und das dem Staat spezifisch eigene Interesse an Prävention, an Schutz vor Wiederholung der Tat. In welchem Verhältnis diese Interessen jeweils stehen, drückt sich durch die Art der Strafen aus: das Minimum, dass vom Täter »Caution« gefordert wird, entspricht rein dem Interesse des Staates an einer Sicherung vor Wiederholung. Das Maximum einer Todesstrafe hingegen drückt das reine Interesse an Rache aus. Im Laufe der Geschichte, urteilt Schleiermacher, mildern sich die Strafen ab. Das begründe sich zum einen damit, dass Rache den »Gemeingeist« im Staate schwächt und der Staat daher die Rache immer mehr begrenzt. Zum anderen vervollkommnet sich die Gesittung allmählich, so dass sich Schleiermacher die Frage stellt, ob nicht eine Zeit kommen mag, da die Strafen ganz aufhören werden. Schleiermacher fährt fort, dann den Unterschied zu erläutern zwischen Geschworenengerichten und Berufsgerichten. Schleiermacher fordert ein Begnadigungsrecht, um die Ungleichzeitigkeit von allmählichen Fortschritten in der Gesittung und sich nur in großen geschichtlichen Abständen ändernden Gesetzen auszugleichen.
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Warum aber straft der Staat und worin besteht das Wesen von Straftaten? Straftaten richten sich gegen den Staat als solchen, indem sich Einzelne gegen die Eigentumsrechte anderer Einzelner richten. Da der Staat Eigentum verbürgt, ist somit jedes Eigentumsvergehen ein Angriff auf den Staat als solchen. Nicht ersichtlich ist an dieser Stelle, wie Schleiermacher mit den Verletzungen des Rechts auf körperliche Unversehrtheit umgeht. Das dem Staat zukommende Interesse dabei ist nach Schleiermacher nun lediglich das, eine Wiederholung zu verhindern, wobei Schleiermacher die Unterscheidung von General- und Einzelprävention nicht trifft. Von diesen Straftaten unterscheidet Schleiermacher nun die Staatsverbrechen, welche sich gezielt gegen die je bestimmte Form des Staates richten. Das kann im Auftrag ausländischer Mächte geschehen, als Staatsverrat. Die zweite und wesentliche Form stellen die revolutionären Staatsverbrechen dar. Diese opponieren gegen die herrschende Regierung, und zielen auf eine Beschleunigung oder gerade Verlangsamung der Entwicklung. Schleiermachers Beurteilung erscheint hier schwebend ambivalent: Einerseits gibt es ein distanzierendes Moment, insofern er von einem ungesetzlichen und daher zerstörerischen Wirken spricht,40 wobei die Bezeichnung ungesetzlich auch als rein deskriptiv interpretiert werden kann. Andererseits signalisiert Schleiermacher auch Verständnis für solch revolutionäres Tun: es sei ein »Wagniß der Ueberzeugung und er [der Revolutionär, MR] umgiebt sich mit der Glorie eines Märtyrers« (Staat 1829 168,37–169,2).41 Der letzte Halbsatz drückt aber auch eine Distanzierung gegenüber dem Pathos solch revolutionären Tuns aus. Noch deutlicher spricht Schleiermacher eine zumindest mögliche Rechtfertigung solch revolutionären Handelns aus, wenn es sich gegen Eingriffe der Regierung in die Bereiche Religion, Wissenschaft und Familie wehrt oder gegen sonstige Kompetenzüberschreitungen der Regierung. Dann seien es »eigentlich nur scheinbar«42 politische Verbrechen, eigentlich aber nur »kräftige Opposition gegen eine ihre Befugniß überschreitende Regierung«.43 Erkennbar ist aber deutlich, dass sich Schleiermacher hier nicht für die Fragen eines moralischen Rechts von Widerstand interessiert. Die Erörterung von Einzelhandlungen gehört für ihn nicht in eine Staatstheorie, genauer in sein Konzept einer Staatslehre, »weil Veränderungen im Staat nie vom Willen des Einzelnen ausgehen können«.44 Schleiermacher interessiert sich aber für die Veränderungen im Staat, für Prozesse und Zusammenhänge als solche, nicht als Mittel um einen bestimmten Endzweck, 40
Vgl. Staat 1829 168,35f. Die Begriffe Überzeugung, Wagnis und Märtyrer greifen zentrale Schlagworte des radikalen Flügels der Burschenschaften auf, deren theoretische Affirmation u. a. vom Juristen Follen und vom Philosophen Fries geliefert wurde. Vgl. dazu: Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800– 1866, 280f. 42 Staat 1829 169,2f. 43 Staat 1829 169,3f. 44 Staat 1829 69,6f. 41
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den idealen Staat zu erreichen. Entsprechend hatte er als das Ziel seiner Staatsvorlesung bestimmt: »die Natur des Staats im Leben betrachten und die verschiedenen Functionen in ihren Verhältnissen verstehen lernen«.45 Kann das aber im Letzten so kohärent durchgeführt werden? Schleiermacher nimmt mit seinen Überlegungen zur Natur des Staates eine Wesensbestimmung des Staates und des Staatlichen vor, die er dann sehr wohl normativ gegen faktische Praktiken und vorhandene Regelungen hält. Dies wird auch explizit in seinen Überlegungen zum Staatsverbrechen, welche sich – wie oben zitiert – gegen »eine ihre Befugniß überschreitende Regierung« richten. Wenn Schleiermacher hier Regierungshandeln als potentielle Normverletzung identifiziert, also einer Norm unterstellt, dann müsste daraus auch eine Norm folgen, wie mit Normverletzungen umzugehen sei. Oder es müsste als eine Aporie markiert werden, nämlich dass es keine staatsinterne Regelung und dann auch keine staatstheoretische Lösung dafür geben kann, wie mit staatlichem Handeln in Form von Regierungshandeln umzugehen sei, dass sich selbst gegen das Wesen des Staatlichen wendet. Zugespitzt: was ist, wenn der Staat mit staatlichen Mitteln gegen den Staat handelt? Diese Aporie hat Schleiermacher nun zumindest aus der Perspektive des Staates markiert: der Revolutionär, der sich gegen den bestimmten Staat richtet, stellt sich damit im Staatlichen außerhalb des Staatlichen. Daher kann es dafür keine Gesetze geben. In Schleiermachers Worten: »Bei solchen Attentaten muß der einzelne eigentlich im Kriegszustand gegen den Staat gedacht werden – für solche Fälle ist daher eigentlich eine Gesetzgebung möglicherweise gar nicht zu denken, sondern das Gesetz könnte erst darauf folgen und daraus folgt daß man solche Attentate müßte ohne die Gesetze beurtheilen«.46 Schleiermacher deutet also revolutionäres Handeln als Selbstausschluss aus dem bestimmten Staat und Eintritt in den Kriegszustand gegen diesen Staat. Schleiermacher schlussfolgert dann, dass Revolutionäre (sofern sie erfolglos sind und gefasst werden) wie Kriegsgefangene zu behandeln seien. Da tritt also das überstaatliche Kriegsrecht in Geltung. Schleiermacher hätte nun also theorieinterne Möglichkeiten, spezifisches Regierungshandeln, das gegen das Wesen und damit die Grenzen des Staates verstößt, als Selbstausschluss aus dem Staatlichen zu deuten und damit den Staatsbürgern eine Art Kriegsrecht gegen ihre eigene Regierung zuzugestehen. Dieser argumentative Schritt ist aber Schleiermacher deshalb nicht möglich, weil er Staat und Regierung zwar nicht identifiziert, aber die Verbindung sich so eng vorstellt, dass selbst im realen Extremfall47 (einer ihre Befugnisse radi45
Staat 1829 69,8–10. Staat 1829 Willich 738,34–38. 47 Dabei ist zu fragen, ob Schleiermacher sich überhaupt einen solchen realen Extremfall theoretisch denken kann. Dies ist deshalb fraglich, weil staatliche Herrschaft erst durch die Anerkennung der Beherrschten konstituiert wird. Eine staatliche Herrschaft, die ihre Befugnisgrenzen zu gravierend verletzt, würde wohl nach dieser theoretischen Annahme ihre Anerkennung verlieren und damit ipso facto die Herrschaft. 46
II. Die Staatslehre-Vorlesung von 1829
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kal überschreitende Regierung) die Relation theoretisch nicht als Entkopplung interpretiert werden kann. Die Verteidigung des Staates nach außen behandelt Schleiermacher in seinem Manuskript nur noch in neun Zeilen, dann bricht das Manuskript ab. Hier ist also auf die Mitschrift allein zu rekurrieren. Schleiermacher betont hier noch einmal ausdrücklich, dass er keine Staatskunst lehren will, sondern die möglichen Zustände des Zwischenstaatlichen und deren Entwicklung beschreiben möchte. Schleiermacher entwirft eine allgemeine Theorie von zwischenstaatlichen Relationen, ihrer Typen und Faktoren. Als ein Bestandteil dieser Theorie entwirft er eine Theorie des Krieges. Diese beinhaltet drei Grundthesen: 1. Bisherige Kriege beruhten oft statt auf klar verstandenem Vorteil auf dumpfem Gefühl und unaufgeklärten Ahnungen; 2. Krieg sollte genau dann geführt werden, wenn er tatsächlich vorteilhaft ist für den kriegführenden Staat; 3. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wird Krieg überhaupt aufhören, ein Mittel der Politik zu sein. Dazu nun seine Argumentation im Einzelnen: Krieg setzt ein Verhältnis zwischen Staaten voraus, welches die Staaten in ihrem Innenzustand beeinflusst. Die innerstaatliche Arbeitsteilung hat für Schleiermacher notwendig äußeren Handelsverkehr zu Folge. Von diesem äußeren Verkehr ist der geistige Verkehr zu unterscheiden. Beide Arten von Austausch beeinflussen das innerstaatliche Leben; je nachdem ob dieser Einfluss als positiv oder hemmend eingeschätzt wird, wird der Staat versuchen, diesen Einfluss selbst zu begrenzen oder zu fördern. Schleiermacher beschreibt dann, dass die Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen einschließlich der Entscheidung zu einem Krieg durch »politische Vorurtheile, Antipathien, Leidenschaft«48 bestimmt werden anstatt durch »richtige und vernünftige Berechnung des wahren Vortheils«.49 Dass sich Kriege oft einem »instinktartigen Proceß«50 bzw. einer großen Bewusstlosigkeit verdanken, zeigt Schleiermacher dann beim Religionskrieg sowie beim Wanderungskrieg, mit welchem er die Kriege zur Zeit der indogermanischen Völkerwanderung bezeichnet. Als ebenso irrational unterzieht er die Theorie von »natürlichen Freundschaften« und »natürlichen Feindschaften« zwischen Staaten einer radikalen Kritik. Beides hätte jeweils seinen Grund in geschichtlichen Entwicklungen; durch neue Konstellationen kann sich das jeweilige Verhältnis auch wieder verändern. Es können Konstellationen eintreten, die den Krieg als tatsächlich vorteilhaft und daher empfehlenswert für einen Staat vorstellen. Das ist unter folgenden Bedingungen der Fall: ein bestimmtes Ziel ist nicht mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Dieses Ziel muss dann für den Staat aber als von großer Bedeutung 48
Staat 1829 Willich 742,18. Staat 1829 Willich 742,19f. 50 Staat 1829 Willich 744,25. 49
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
vorgestellt werden, genauer: dieses Ziel ist »für die Entwiklung und Fortschritt seines materiellen Leben so wichtig [. . . ] daß ein großer Theil seiner Existenz daran hängt«.51 Die den Krieg hemmenden Momente des Staatslebens nehmen aber nach Schleiermacher in ihrer Bedeutung zu. So sei der Krieg aus der Perspektive des wissenschaftlichen, des geselligen und des religiösen Lebens immer unangenehm, insofern deren Entwicklung dadurch gehemmt, der Kulturprozess überhaupt gestört wird.52 Je stärker diese Interessen werden, umso unwahrscheinlicher werden Kriege. Dazu tragen Religion und Wissenschaft auch insofern bei, als sie auf eine allgemeine menschheitliche Verbundenheit zielen. Daher erwartet Schleiermacher eine starke und rasche »Annäherung an diesen Zustand des ewigen Friedens«.53 Alle etwaigen Konflikte würden dann durch diplomatische Verhandlungen ausgetragen. Gezielt gefördert werden kann dieser friedliche Umgang, indem zwei Staaten jede Einschränkung ihres Güter- und Kulturaustausches aufheben und ihre Volkswirtschaften vernetzen. Schließlich behandelt Schleiermacher noch die Heeresorganisation. Da es um die Gefahr für die Existenz des Staates geht, stellt die »Organisation des Volks für die Kriegführung«54 einen wichtigen Teil der Politik dar. Im Folgenden diskutiert Schleiermacher die grundsätzliche Heeresorganisation, also die Möglichkeiten eines stehendes Heeres neben die eines allgemeinen Kriegsdienstes. Insofern es beim Krieg aber auch auf Strategiekunst und Wissenschaft ankommt, bedarf es dafür hauptberufliche Spezialisten. Die Detailüberlegungen Schleiermachers seien dazu nicht referiert, aber einer seiner Überlegungen sei ausführlich erwähnt, welche er selbst als »ethische Betrachtung«55 einführt. Es handelt sich dabei um die Frage, ob es einen ethischen Grund gebe für die Beibehaltung des Krieges, insofern nämlich der Krieg die Tugend der Tapferkeit schult. Schleiermacher antwortet darauf mit der Versicherung, dass es auch sonst im Staat Verhältnisse und Beschäftigungen gibt, die Tapferkeit erfordern und schulen. Er schließt mit einem Plädoyer für die »nationale Gestaltung des Kriegswesens«.56 Einen besonderen Kriegsauslöser stellen Konflikte innerhalb eines Staates über Entwicklungsgeschwindigkeit und Entwicklungsrichtung dar. Große Differenzen bezüglich der Entwicklungsgeschwindigkeit rufen politische Verbrechen bzw. Widerstandsgewalt hervor, während Auseinandersetzungen über die Entwicklungsrichtung in einen Bürgerkrieg münden können.57 Konflikte zwischen Staaten über unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten können ebenso – aus Eifersucht – zu Krieg führen. Ein solcher Krieg entstehe aber lediglich 51
Staat 1829 Willich 742,8–10. Staat 1829 Willich 742–744. 53 Staat 1829 Willich 742,42. 54 Staat 1829 Willich 746,17. 55 Staat 1829 Willich 746,19. 56 Staat 1829 Willich 749,7. 57 Vgl. Staat 1829 Willich 744. 52
II. Die Staatslehre-Vorlesung von 1829
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aus »Bewußtlosigkeit«;58 bei wahrer Einsicht in die Vorteile der schnelleren Entwicklung würde man eher versuchen, die eigene Entwicklung zu beschleunigen anstatt die des anderen Staates zu hemmen. 5. Fazit Schleiermacher behandelt viele verschiedene Einzelthemen, vom Strafrecht bis zur Geldtheorie, von der Arbeitsteilung bis zur Ministerverantwortlichkeit. Detailerörterungen wechseln mit grundsätzlichen Überlegungen, geschichtliche Beispiele mit abstrakten Erwägungen. Ein starkes Interesse an begrifflicher Konstruktion ist ebenso erkennbar wie das Bemühen, eine große Materialfülle von geschichtlichen und gegenwärtigen Gestaltungen darzustellen. Über weite Strecken dominieren auf der Textoberfläche die Detailerörterungen und die geschichtlichen Deutungen. Um die systematischen Konstruktionsprinzipien klarer zu erkennen, sind thematische Fokussierungen erforderlich. Daher sollen Schleiermachers Staatslehrevorlesungen von einigen zentralen Leitbegriffen her erschlossen und in ihrer Theoriearchitektur rekonstruiert werden. Das werden die folgenden Einzelkapitel leisten, deren Fragestellung hier einführend begründet sei. Dass er weder ein Staatsideal aufstellen noch eine Kunstlehre der Staatsführung aufstellen will, wird Schleiermacher nicht müde zu betonen. Daher muß der Theoriestatus seiner Staatslehre zunächst erörtert und ausführlich untersucht werden. Diese Klärung soll auch erhellen, in welcher Weise und mit welcher Absicht sich Schleiermacher mit seiner Staatslehre auf den Staat seiner Zeit beziehen will, woraus sich die weitere Frage ergibt, welchen Status die von ihm angeführten konkreten Beispiele haben. Schleiermacher hält die ganze bisherige Geschichte der Staatsphilosophie für dürftig und größtenteils verfehlt. Auch die Gründe für diese starke These müssen aufgesucht und überprüft werden. Wie dann schließlich mit Schleiermachers sehr spezifischer Theoriestruktur das Wesen des Staates bestimmt wird, erörtert ein zweites Kapitel. Zur Sprache kommt, wie aus dem Wesen des Staates die bestimmten Staatsfunktionen folgen, worin das Leben des Staates sich vollzieht und welche Rolle die öffentliche Meinung dabei spielt. Auch der Politikbegriff Schleiermachers wird näher beleuchtet. Da Schleiermacher Staatlichkeit und Recht als gleichursprünglich setzt und mit dem Staat das Recht notwendig verbunden denkt, wird in einem dritten Abschnitt die Rechtstheorie Schleiermachers analysiert. Das Recht ist Ausdruck der Sitte. Dabei wird jedoch nicht der einzelne Bürger als Träger von Rechten vorgestellt, auch hat das Recht keine explizite Schutzfunktion für den Einzelnen. Daher sei viertens Schleiermachers Verhältnisbestimmung zwischen dem Staat und dem Einzelnen untersucht. Dabei wird sich zeigen, dass Schleiermacher staatstheoretisch die Freiheit für wesentlich hält, aber diese nicht vor allem als Freiheit des Einzelnen 58
Staat 1829 Willich 745,5.
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C. Die Vorlesungen zur Staatslehre
denkt, sondern zunächst als Freiheit für andere Institutionen und damit nur indirekt als Freiheit für den Einzelnen. Das soll exemplarisch an Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche dargestellt werden. Der Staat tritt aber nicht nur in ein Verhältnis zu anderen Institutionen, sondern auch zu anderen Staaten. Wie Schleiermacher dies begrifflich fasst, soll abschließend ein Kapitel zum Thema Krieg und Frieden zeigen. Mit diesen thematischen Fokussierungen wird das Profil von Schleiermachers Staatstheorie prägnant in Erscheinung treten. Weitere Themen wären denkbar und interessant, würden aber an dem Gesamtbild nichts ändern. Schleiermachers Verständnis von Ökonomie59 und von Bildung60 sind wichtig; da sie im Detail aber für die Konstruktion seiner Staatstheorie nichts beitragen und außerdem eingehende Studien in der Forschung hierzu bereits vorliegen, seien sie hier nur im Zusammenhang mit den anderen Themen, nicht aber eigens behandelt. Diese thematischen Einzelkapitel haben also die Funktion, die systematische Konstruktion von Schleiermachers Staatslehre zu erschließen. Daher nun noch einige Reflexionen zur Methodik dieser Erschließung. Die einzelnen Themen werden danach untersucht, welche argumentativen Funktionen Schleiermacher ihnen zuweist, in welchen verschiedenen Kontexten er sie aufgreift und wie er sie mit anderen Themen verknüpft. Mit dieser synchronen Betrachtung sei eine diachrone verbunden. So soll die Gedankenentwicklung Schleiermachers von 1817 (bzw. 1814) bis 1833 nachgezeichnet werden, wie sie sich in den vier Vorlesungen zwischen 1817 und 1833 zu erkennen gibt. Dabei sind keine Brüche oder radikale Veränderungen in der Theorie zu bemerken. Umso interessanter sind Akzentverschiebungen oder Weiterentwicklungen in der argumentativen Strategie, die beobachtet werden können.
59
Vgl. Arndt: Tauschen und Sprechen. Vgl. Ehrhardt: Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher; Frost: Einigung des geistigen Lebens; Riemer: Bildung und Christentum. 60
D. Thematische Fokussierungen der Staatslehre I. Theoriedimensionen. Staatslehre als abstrakte Geschichte des Staates Schleiermacher trägt seine Staatslehrevorlesungen an der Philosophischen Fakultät vor. Welchen theoretischen Status beansprucht er für seine Ausführungen? Wie sind sie in seinem System der Wissenschaften zu verorten? In der bisherigen Forschung rezipierte man – bei allen Unterscheidungen im Detail – seine Theorie als (liberales) politisches Programm1 oder als politische Stellungnahme.2 Welchen Status Schleiermachers Theorie nach dessen Selbstanspruch hat, muss aber erst einmal gründlich erhoben werden, bevor man Schleiermachers materiale Aussagen auswertet. Eine Untersuchung der Theoriedimensionen von Schleiermachers Staatslehre ist daher für eine angemessene Interpretation unerlässlich. Es wird sich gegen die bisherige Forschung erweisen, dass Schleiermacher für die Staatslehre einen eigenen Ort in der Wissenschaftssystematik beansprucht, der sich aus dem Staatsbegriff begründet. Dabei kann erstmals gezeigt werden, dass Schleiermacher keine politische Theorie vertritt, sondern eine dezidiert unpolitische Theorie des Politischen, die aber sehr wohl bestimmte Wirkungen erzielen will. Zunächst nun zur Wissenschaftssystematik Schleiermachers und dem Ort der Staatslehre in ihr. 1. Die Staatslehre in Schleiermachers Wissenschaftssystematik Schleiermacher ordnet Wissen sowohl nach dem Gegenstand als auch nach der Art des Wissens.3 So unterscheidet er empirisches Wissen von spekulativem Wissen. Empirisches Wissen gründet sich auf Wahrnehmung, spekulatives Wissen verdankt sich der Kategoriebildung des Denkens. Hinsichtlich des Gegenstandes differenziert Schleiermacher Wissen über Physisches (als Wirken der Natur 1 Von Scheliha sei als Beispiel genannt: »Schleiermacher selbst hat vor allem die Weiterentwicklung des preußischen Staates im Auge gehabt« (von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 320). 2 Jaeschke bildet eine Ausnahme. Er erkennt in Schleiermachers Staatslehre eine zeitlose Theorie – was er heftig kritisiert. Vgl. Jaeschke: Historische Einführung, XXVII sowie Jaeschke: Schleiermacher als politischer Denker, 307ff. 3 Zur Wissenschaftssystematik im Allgemeinen siehe die ausführliche Darstellung bei Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, 28–103.
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D. Thematische Fokussierungen
auf die Vernunft) und Wissen über Ethisches (als Handeln der Vernunft auf die Natur). Daraus ergibt sich die Struktur von vier Wissenschaftsbereichen: Physik und Naturkunde, Ethik und Geschichtskunde. Mit dieser Grundstruktur lassen sich jedoch keineswegs alle wissenschaftlichen Disziplinen erfassen. Zusätzlich konzipiert Schleiermacher daher sogenannte »technische Disziplinen«, welche Regeln für das menschliche Handeln in einem bestimmten Gebiet entwickeln. Seine Definition dafür lautet: »Inwiefern der Einzelne mit seinem sittlichen Vermögen in der Production jener Erscheinung begriffen ist, ist er in besondere Gegensäze und besondere Naturbedingungen gestellt und es ist ein Bedürfniß besonders zusammenzustellen, wie diese zu behandeln sind. Dies ist das Wesen der Technik und es gibt daher einen Cyclus von technischen Disciplinen, welche von der Ethik ausgehen.«4 Als prägnantestes Beispiel führt er die Staatslehre an, die er in einer Reihe mit Staatsklugheit nennt.5 Also liegt der Schluss nahe, dass die Staatslehrevorlesungen eine technische Disziplin im Anschluss an die Ethik darstellen. Zwei Gründe sprechen jedoch dagegen. Zunächst grenzt sich Schleiermacher in fast allen6 uns erhaltenen Staatslehrevorlesungen scharf dagegen ab, Staatsklugheit oder Klugheitsregeln für staatliches Handeln mit seiner Vorlesung bieten zu wollen. Besonders deutlich erfolgt diese Ablehnung 1829: »Es ist besonders zweierlei, den Staat Betreffendes, was auch oft Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden ist, was ich aber hier nicht vorhabe, das Eine ist, was wir in der neuern Zeit Politik nennen, nämlich die Theorie der Kunst in Beziehung auf den Staat, [. . . ] für die den Staat Leitenden. Damit will ich hier nichts zu schaffen haben; denn das ist ein mir ganz fremdes Gebiet«.7 Doch auch abgesehen davon, dass Schleiermacher sich selbst explizit dagegen verwahrt, eine Staatsklugheitslehre zu liefern, sprechen schon theoriestrukturelle Gründe dagegen, die Staatslehre als technische Disziplin zu verstehen. Die Definition einer technischen Disziplin rekurrierte auf das Handeln des Einzelnen: »Inwiefern der Einzelne mit seinem sittlichen Vermögen in der Production jener Erscheinung begriffen ist«,8 sind für dieses Handeln des Einzelnen Regeln zu erstellen. Nun aber schließt es der Begriff des Staates nach Schleiermacher aus, dass der Einzelne im Staat planvoll durch sein Handeln bestimmte, intendierte Zwecke erreicht und in der »Production« des Staates begriffen ist. Der Staat erscheint nicht »als die Absicht eines Einzelnen, sondern als das Resultat einer unendlichen Menge von Handlungen«.9 Der Einzelne kann die Ergebnisse seines politischen Handelns nicht voraussehen oder planvoll herbeiführen, da der 4
Schleiermacher: Philosophische Ethik, 12 (59/60). Vgl. aaO. 12 (61). 6 In der Vorlesung von 1817/18 findet sich diese Abgrenzung nicht, aber ebensowenig die anderen Abgrenzungen, mit denen Schleiermacher sonst sein Vorhaben eingrenzt. 7 Staatslehre 1829 Heß 495,6–11. 8 Schleiermacher: Philosophische Ethik, 12 (59). 9 Staatslehre 1817 Varnhagen 209,28f. 5
I. Theoriedimensionen
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Staat aus den Handlungen aller besteht und das Handeln des Einzelnen dabei nur das »unbewußte Werkzeug einer höhern Macht«10 ist. Anders also als in der Hermeneutik oder Pädagogik lassen sich prinzipiell für das politische Handeln keine Regeln für den Einzelnen aufstellen, wie ein bestimmtes Ziel am besten zu befördern ist. Die Staatslehre kann also keine technische Disziplin sein. Dann kommt also offenbar nur die andere Möglichkeit in Frage, dass sie stattdessen als eine kritische Disziplin anzusehen ist. Kritische Disziplinen beurteilen, »wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowohl dem Grade als der eigenthümlichen Beschränktheit nach verhalten«.11 Angewandt auf den Staat würde das bedeuten, dass konkrete Staaten darauf hin analysiert würden, wie sich in ihnen das Wesen des Staates ausdrückt und wie das Wesen des Staates nur eingeschränkt sich in ihnen zeigt. Naheliegend wäre, dass Schleiermacher den preußischen Staat in dieser Hinsicht untersucht. Ein solches Vorgehen findet sich aber an beinahe keiner Stelle in den Staatslehrevorlesungen. Wohl spricht Schleiermacher von konkreten Beispielen; aber diese dienen erstens als Beispiele für ein abstraktes Prinzip und zweitens werden diese Beispiele nie kritisch evaluiert auf ihren Abstand zur »Idee« oder zum »Wesen« des Staates. Schleiermachers Staatslehre stellt somit weder eine kritische noch eine technische Disziplin dar. Nach der in der philosophischen Ethik ausgearbeiteten Systematik bleibt dann also nur noch, dass sie zur Ethik im engeren Sinn gehört. Ethik definiert Schleiermacher als »Darstellung des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunft, d. h. von der Seite, wie in dem Ineinandersein der Gegensätze die Vernunft das Handelnde ist, und das Reale das Behandelte«.12 Entsprechend dieser Definition kommt in Schleiermachers Ethik, genauer in der Güterlehre, auch der Staat vor. Das Wesen des Staates wird dort definiert als bestehend »in dem, gleichviel wie, heraustretenden Gegensaz von Obrigkeit und Unterthanen, und er verhält sich zur Horde insofern wie Bewußtes zum Unbewußten«.13 Diese Definition deckt sich mit dem Staatsbegriff der Staatslehrevorlesungen; ebenso stimmen die in der Ethik formulierten Prinzipien des Staates genau mit den diesbezüglichen Aussagen in den Staatslehrevorlesungen überein. Der fundamentale Unterschied besteht in der theoretischen Herleitung und Verbindung dieser Aussagen. In der Ethik wird der Staat als Gemeinschaft konstruiert, die auf dem Handlungstyp »identisches Organisieren« beruht. Im Unterschied dazu verzichtet Schleiermacher bei den Vorlesungen zur Staatslehre in der argumentativen Plausibilisierung des Staatsbegriffs wie der einzelnen Prinzipien des Staatslebens auf diese ethischen Begriffe und Kategorien. Er entwickelt den Staatsbegriff und auch sämtliche Klassifizierungen aus der (vorgestell10
Staatslehre 1817/18 Goetsch 380,24. Schleiermacher: Philosophische Ethik, 12 (57). 12 AaO. 8 (28). 13 AaO. 94f (85). 11
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D. Thematische Fokussierungen
ten) Genese des Staates. Während Schleiermacher in der Ethik alles begrifflich ableitet aus einer handlungstheoretischen Grunddifferenz (zwischen organisieren und erkennen/symbolisieren in Verbindung mit der Differenz von identisch und eigentümlich), begründet er in den Staatslehrevorlesungen alle Aussagen aus einer abstrakten Entwicklungsgeschichte des Staates. Daher sind diese Vorlesungen nicht einfach nur eine ausführlichere Darstellung der ethischen Behandlung des Staates. Einen weiterführenden Hinweis gibt Schleiermacher 1817: »Die Staatslehre oder Politik ist eine abhängige Disciplin der Ethik, und hat ihre Idee in der allgemeinen Idee der Intelligenz des höhern menschlichen Lebens. Aus der Ethik könnten wir sie daher füglich ableiten. Wir wollen uns aber dieses Vortheils entschlagen, von der Ethik abstrahieren, und den Begriff der Staatslehre allgemein aufsuchen, unabhängig von der Ethik«.14 Die Staatslehre ist zwar von ihren Ergebnissen durchaus identisch mit dem Staatsbegriff in der Ethik, aber durch Methodik und Vorgehen unabhängig und verschieden von der Ethik.15 Der Staatslehre kommt – so nun die These – eine vermittelnde Funktion zu zwischen einer philosophisch-ethischen Theorie des Staates und einer kritischen Disziplin, welche bei einem konkreten Staat evaluativ dessen Verhältnis zum Wesen des Staates untersucht. Diese Vermittlung ist aber notwendig, weil zum Wesensbegriff des Staates die Geschichtlichkeit des Staates gehört. Schleiermacher versteht den Staat nicht als Zustand, sondern als Entwicklungsprozess. Das kann auf Schleiermachers Bestimmung des Staates zurückbezogen werden, dass der Staat aus unendlich vielen freien Handlungen besteht. Handlungen selbst sind immer zeitlich, und die Vielzahl der sich aufeinander beziehenden Handlungen bildet keinen Zustand, sondern einen Prozess. Für eine Wesensbestimmung des Staates muss also eine Theorie der geschichtlichen Entwicklung des Staates gebildet werden. Diese muss jedoch abstrakt sein, sonst wäre es keine Wesensbestimmung des Staates, sondern nur die Geschichte eines bestimmten Staates. Wenn also eine kritische Disziplin einen konkreten Staat am Wesen des Staates messen wollte, dann muss ihr überhaupt eine geschichtlich verfasste Wesensbestimmung zur Verfügung stehen. Die Ethik konnte das nicht liefern, da sie die Güter, also auch den Staat, von den Handlungsarten her bestimmt. Die Staatslehre gehört also in ihrer Abstraktheit zur Ethik, ist aber von dieser verschie14 Staatslehre 1817 Varnhagen 210,1–6. Schleiermacher weist der Ethik aber doch eine wichtige Funktion für die Theoriebildung der Staatslehre zu, indem er fortfährt: »Indem wir dies nun auch können, so müssen wir jederzeit zulezt auf den wissenschaftlich ethischen Gesichtspunkt zurückkommen, von dem aus die Prüfung der vollkommenen Sicherheit und des Umfangs des Begriffes allein vorgenommen werden kann« (Staatslehre 1817 Varnhagen 210,6–9). 15 Diesem Befund entspricht, dass Schleiermacher 1817 auch wissenschaftssystematische Gründe dafür nennt, eine Staatslehrevorlesung zu halten. In der Nachschrift heißt es: »Er hatte bisher Ethik gelesen und wollte an diese, mehrere specielle Disciplinen schliessen, von denen die Staatslehre doch den dauerndsten Gegenstand behandelt. Er folgte in diesem Grunde also dem Zusammenhange und der Gleichartigkeit des Gegenstandes« (Staatslehre 1817 Varnhagen 208,3– 6).
I. Theoriedimensionen
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den durch den geschichtlichen, prozesshaften Zugang. Staatslehre ist abstrakte Geschichte des Staates. Gegenüber der Geschichtskunde als auch gegenüber einer möglichen kritischen Disziplin zum Staatswesen kommt ihr der Status einer Metatheorie zu: sie stellt die Kategorien und Modelle zur Verfügung, mit denen diese anderen beiden Wissenschaften konkrete Staaten beschreiben oder evaluieren könnten. Diese Einschätzung wird bestätigt durch Schleiermachers Bestimmung von 1817: »Die Staatslehre welche diese Betrachtung zum Zweck hat, ist also nichts anders, als die naturgemäße allgemeine Betrachtung der Geschichte«.16 Aufgrund dieser Allgemeinheit gehört sie zur Ethik, durch ihre geschichtliche Theoriebildung gehört sie zur Grundlegung der Geschichtskunde bzw. zu einer möglichen kritischen Disziplin zum Staatswesen. Schleiermacher konzipiert also eine abstrakte Theorie des geschichtlichen Staates. Der Staat ist ein geschichtliches, ein sich entwickelndes, ein jeweils individuelles Gebilde für Schleiermacher. Welche rechtlichen Regelungen, welche verfassungsmäßige Gestalt ein Staat verwirklicht und verwirklichen soll, hängt demzufolge an seinem Entwicklungsstande, an den spezifischen innerstaatlichen Konstellationen.17 Das wird von Schleiermacher nicht aus der Perspektive eines erreichten, daher normativen Endzustandes beschrieben, sondern aus einem bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstand (der in keiner Weise als privilegierter Standpunkt verstanden ist), der aber durch den Überblick über die bisherige Entwicklung eine theoretische Wesensbestimmung des Staates ermöglicht, welche die konzeptionellen Mittel liefert, alle bisherigen und künftigen geschichtlichen Entwicklungen beschreibend zu erfassen. Für diese künftigen Entwicklungen meint Schleiermacher, zumindest die Richtung und Entwicklungsgesetzmäßigkeiten angeben zu können. Stegmaier nennt dies die (bewegliche) Konzeption eines beweglichen Staates.18 Der Staat und seine Verfasstheit 16
Staatslehre 1817 Varnhagen 224,5–7. In diesem Sinne ist Stegmaier Recht zu geben, wenn er formuliert: »Im Anschluss an Adam Smith’ Konzept der freien Marktwirtschaft geht Schleiermacher davon aus, dass eine Theorie oder Philosophie des Staates, wenn sie der geschichtlichen Realität gerecht werden will, dem freien Spiel der Kräfte möglichst großen Raum lassen muss« (Stegmaier: Schleiermachers bewegliche Konzeption eines beweglichen Staates, 486). Das untermauert er, jedoch zu Unrecht, mit folgendem Zitat: »Offenbar ist also Freiheit der Zustand zu welchem alles hinstrebt und die Beschränkungen sind immer Indicationen von mehr oder minder bedenklichen Uebergangszuständen« (Staatslehre 1829 112,23–25). Hier ist von der Freiheit der Privatgeselligkeit die Rede in ihrer Spannung zum Staat. Der natürliche Zustand sei der, wenn die Spannung möglichst klein und daher die Freiheit der Privatgeselligkeit (Versammlungsfreiheit; Unverletzbarkeit der Wohnung) möglichst groß sei. »Zum vollkommenen Zustand des Staates müssen wir uns aber denken auch den unbefangenen Genuß der Freiheit« (Staatslehre 1829 112,25–27). Hier geht es also sehr wohl um Freiheitsrechte und um deren möglichst weitgehende Gewährung; nur knüpft Schleiermacher die Empfehlung ihrer Gewährung und des Ausmaßes der Gewährung an den jeweiligen Zustand des Gemeinwesens, und bringt es nicht als unbedingte politische Forderung ein. 18 Vgl. Stegmaier, aaO. 479–502, besonders 488f. 17
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D. Thematische Fokussierungen
ist aber nicht »beweglich«,19 sondern in ständiger Bewegung begriffen, wobei es auf die rechte Selbststeuerung der Bewegungsgeschwindigkeit ankommt. Er bestimmt des Weiteren Schleiermachers Staatstheorie ebenfalls als eine Theorie möglicher Staatstheorien, also als eine Staatstheorie zweiter Ordnung. Als Grundlegungstheorie oder Metatheorie ist sie selbst weder politisch noch realgeschichtlich. Weder kann sie unmittelbar Regeln für politisches Handeln geben noch beschreibt sie konkrete Staaten. Doch beides kommt vor in den Staatslehrevorlesungen. Wie ist das zu verstehen? Geschichtliche Beispiele und die Beschreibung konkreter geschichtlicher Prozesse fungieren als Plausibilisierung abstrakter Prinzipien. An diesen konkreten Beispielen führt Schleiermacher die Deute- und Erschließungskraft der entwickelten Modelle und Differenzierungen vor. Ebenso macht er durch konkrete politische Beispiele deutlich, was aus seiner Theorie staatlicher Entwicklung für anstehende Entscheidungen folgen würde. Darin zeigt sich gelegentlich sehr wohl auch Schleiermachers politische Position; aber die Staatslehre selbst ist kein politisches Programm und zielt auch nicht auf direkte politische Einflussnahme. Immer wieder gibt er indirekt zu erkennen, was er in der preußischen Politik für angebracht halten würde, doch das ist selbst nicht als solches Teil der Theorie, wie er sie konzipiert hat. Diese Verweise erfolgen auch immer nebenbei, anlässlich nur einer bestimmten abstrakten Überlegung. Trotzdem verfolgt Schleiermacher mit seiner Theorie nicht nur wissenschaftliche Absichten, sondern auch bestimmte Ziele bei seinen Zuhörern. Die Pragmatik von Schleiermachers Staatslehre soll daher als nächstes betrachtet werden. 2. Staatslehre als emanzipatorische Theorie Was heißt und zu welchem Ende lehrt man Staatslehre? »Richtiges Handeln möglich zu machen«, so formuliert Schleiermacher 1829 seine Intention in der Staatslehrevorlesung. Den praktischen Wert seiner Ausführungen identifiziert Schleiermacher dann näher darin, »dass sie uns durch eine Betrachtung der Natur der Sache zu der Ruhe versetzen, wodurch am Besten alles Leidenschaftliche erstickt wird«.20 Diese Ruhe sei neben der Begeisterung eine notwendige Stufe für die Kunst der Staatsleitung. Die Staatslehre ist nach Schleiermacher dezidiert theoretisch, aber in praktischer Absicht. Sie will die subjektiven Bedingungen (und nicht Regeln) für richtiges Handeln vorbereiten, indem das Wissen um den Handlungsgegenstand, die mögliche Reichweite des Handelns dargelegt und andererseits die affektiven Bedingungen des Handelns, nämlich Ruhe und Besinnung als Überwindung von Leidenschaft, geschaffen werden.
19 »Beweglich« impliziert, dass der Staat bewegt wird und dass die Bewegung auch unterbleiben kann. Beides trifft für Schleiermachers Staatslehre nicht zu. 20 Staatslehre 1829 Heß 499,7–9.
I. Theoriedimensionen
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Die Frage nach dem intendierten Subjekt des richtigen Handelns beantwortet Schleiermacher in der Einleitung von 1817. Einen der Gründe für die Vorlesung findet er »in der deutschen Jugend, zu der er spräche [. . . ]. In ihr ruhe ein besonderes Recht an dem Staate, da sie seine Vernichtung gehindert hätte«.21 Damit setzt sich Schleiermacher affirmativ ins Verhältnis zur Zuhörerschaft, die er als deutsche Jugend anspricht. An sie wendet sich Schleiermacher bewusst als politische Akteure. Dementsprechend formuliert er seine Intention ihnen gegenüber als Begriffsklärung der »durch die Zeit, durch einzelne Urtheile, wie durch die historische Verbildung und Zernichtung der Staaten in Verwirrung gerathenen Begriffen vom Staate«.22 Also auch hier fungiert die Staatslehre als distanzierende Theorie gegenüber der bedrängenden geschichtlichen Erfahrung, welche die Klarheit des Denkens bedroht und damit auch die Möglichkeit bewussten Handelns. Schleiermacher will also die Staatslehre als handlungsermöglichende Theorie konzipieren, die von der Unmittelbarkeit der politischen Erfahrung und der affektiven Betroffenheit distanziert, um klare Begriffe einerseits und andererseits besonnene Ruhe zu schaffen. Darüber hinaus hat sie eine emanzipatorische Funktion: »Also nicht um des Erfolges willen, – denn dieser liegt in höhern Händen – sondern um unsers eigenen Bewustseins willen, wollen wir uns eine klare Vorstellung von dem machen, was man Staat nent«.23 »Wollen wir mehr ausrichten, so verschwenden wir unsere Kraft; wollen wir weniger übernehmen, so handeln wir nicht unserer Würde gemäß, denn Passivitaet allein ist unsrer unwürdig«.24 Was ist und zu welchem Ende betreibt man Staatstheorie? Zuallererst und zuallerletzt: um der eigenen Würde willen. 1817 schließt Schleiermacher laut der Nachschrift von Varnhagen die Vorlesung mit einer Reflexion auf das Verhältnis von Theorie und Praxis: »Zwar geht die Theorie der Praxis voran, besonders wo allgemein eine wissenschaftliche Ansicht hervor zu brechen beginnt; aber nur eine solche, welche auf geschichtlichen Ansichten begründet ist; eine reine Idee, ohne die geschichtliche Beziehung, bleibt hier ohne Effekt«.25 Im Umkehrschluss traut Schleiermacher also einer geschichtlich fundierten Staats-Theorie einen Effekt auf die Praxis zu und andererseits der Theorie das Potential, die Entwicklung der Praxis vorwegzunehmen. 1817/18 beginnt Schleiermacher seine Vorlesung nun gerade mit dieser Frage: wozu kann die wissenschaftliche Betrachtung vom Staate führen?26 »Wie viel vermag nun der Einzelne hervorzubringen, und wozu kann er beytra21
Staatslehre 1817 Varnhagen 208,7–13. Staatslehre 1817 Varnhagen 208. 23 Staatslehre 1817/18 Goetsch 380,43–381,3. 24 Staatslehre 1817/18 Goetsch 381,23–25. 25 Staatslehre 1817 Varnhagen 375,34–38. 26 Vgl. Staatslehre 1817/18 Goetsch 379. 22
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D. Thematische Fokussierungen
gen?«.27 Den Erfolg seines Handelns hat der Einzelne nicht in seiner Hand; in dieser Hinsicht ist er der »DurchgangsPunkt einer höhern Kraft«.28 Nicht also um des möglichen Erfolgs willen, »sondern um unsers eignen Bewusstseins willen« ist die Theoriebildung vom Staate sinnvoll.29 Welchen Einfluss hat das (richtige oder falsche) Staatskonzept des Einzelnen auf den Staat? Ein unzutreffendes Konzept, – das ist bei Schleiermacher ein willkürliches Ideal des Einzelnen – wirkt schädlich, sobald und insofern der Einzelne aus diesem heraus und ihm zufolge tätig wird. Denn nur »was in der Handlung besteht, ist im Staat, und nur durch Handlung kann er werden«.30 Schleiermacher setzt stark und nachdrücklich mit dieser Fragestellung an, bleibt aber bei der Beantwortung – jedenfalls, was das Explizite betrifft – vage. Zugleich aber zeigt seine Staatstheorie, dass die Antwort vage bleiben muss. Der Staat, der in Handlungen unter der Form des Gegensatzes von Obrigkeit und Untertan besteht, kann zum einen betrachtet werden als die Form des Gegensatzes, die sich im Gesetz ausdrückt. Daran kann zunächst nur die Obrigkeit etwas ändern. Andererseits verändert sich der Staat mit jeder einzelnen Handlung, wobei jedoch Wirkung und Reichweite nicht mit der Intention des Handelnden korrelieren. Wie sehr das Gesetz selbst durch diese Handlungen veränderlich ist, ist jeweils verschieden. So geht es bei der Bedeutung der Staatstheorie für das Wirken des Einzelnen zunächst negativ darum, zerstörerisches Handeln zu unterbinden oder zumindest zu begrenzen. Im Positiven geht es dann aber darum, dem Einzelnen zum Bewusstsein seiner Würde zu verhelfen sowie dieser Würde Ausdruck zu verleihen, indem ihm ein Handeln nach Grundsätzen ermöglicht wird, welches nach Schleiermacher immer groß ist – unabhängig vom Erfolg. Der Einzelne soll und kann auf das Ganze des Staates wirken, einmal um seiner selbst willen, einmal um des Staates willen, der nur Staat bleibt, insofern er sich umbildet »nach dem Geiste der Zeit«.31 Die Leistung einer Wesensbestimmung des Staates für richtiges Handeln liegt aber nun darin, dass diese Theorie einerseits ein Analyseinstrumentarium zum Verstehen des konkreten Staates und seines konkret-geschichtlichen Lebens liefert und zugleich daraus Gesichtspunkte für die anzustrebenden Weiterentwicklungen dieses staatlichen Lebens zu erheben sind. Indem er seinen Zuhörern ermöglicht, das Geschichtlich-Gegenwärtige zu verstehen und damit individuell für eine wesensgemäße Weiterentwicklung des staatlichen Lebens zu orientieren, ermöglicht er richtiges Handeln im Staat.
27
Staatslehre 1817/18 Goetsch 380,19f. Staatslehre 1817/18 Goetsch 380,25f. 29 Staatslehre 1817/18 Goetsch 381,1f. 30 Staatslehre 1817/18 Goetsch 382,34f. 31 Staatslehre 1817/18 Goetsch 382,18f. 28
I. Theoriedimensionen
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3. Begriffsbildung durch Genetisierung und Differenzierung Im Unterschied zur Ethik setzt Schleiermacher in der Staatslehre nicht beim Handeln der Vernunft auf die Natur an und dementsprechend auch nicht bei der Abgrenzung der vier Gemeinschaftsformen. Die methodisch an sich mögliche Ableitung der Staatslehre aus der Ethik lehnt er in allen erhaltenen Vorlesungsmanuskripten ab. Er entwickelt stattdessen den Staatsbegriff aus dem geschichtlichen Phänomen Staat, indem er nach seinem nur gedanklich zugänglichen Anfang fragt. Um ein präzises Kriterium für das Vorliegen eines Staates zu eruieren, will Schleiermacher den gedachten Moment des Gerade-Noch-NichtStaates gegen den Moment des Gerade-Schon-Staates halten. Dass bei diesem Verfahren also ein Vorverständnis von Kennzeichen geschichtlicher Staatlichkeit methodisch verwendet wird, ist damit offengelegt. Man muss vorher schon intuitiv wissen, was ein Staat ist, um den Übergang bestimmen zu können zwischen Staat und Nichtstaat. Nicht anders als vage und offen kann man die Gedankenfigur des Übergangs bei Schleiermacher bezeichnen. Außer in der notwendigen geschichtlichen Abstraktion, liegt das an der internen Logik der Gedankenfigur selbst. Der Übergang von Unbewusstheit zu Bewusstheit kann weder ein bewusstloser noch ein bewusster sein. Daher ist er als ein »Analogon von Absicht und reiner Naturentwikkelung zu denken, und in dieser Mitte aufzufassen«.32 Eine weitergehende Bestimmtheit bezieht Schleiermacher hier aus den Negationen gegen alternative Theoriemodelle: gegen Vertragstheorien, gegen die Entstehung des Staates aus Gewalt und gegen die Entstehung des Staates aus göttlichem Recht. Der Übergang besteht nach Schleiermacher nun darin, dass sich ein »Gegensaz von Obrigkeit und Unterthan« ausbildet.33 Formal konstituiert genau dieser Gegensatz also Staatlichkeit. Wie bildet sich dieser Gegensatz aus? Indem die Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeit der Menschen ihnen bewusst wird. Mit dem Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit im Handeln entsteht im Einzelnen zugleich auch das Bewusstsein der davon abweichenden Eigentümlichkeit des Einzelnen. Durch das Unterordnen dieser persönlichen Eigentümlichkeit unter das Ganze und Gemeinschaftliche, erhält der Mensch Anteil am Staat. Das Gemeinschaftliche, die gemeinsame Sitte, wird im Gesetz ausgesprochen. So geschieht die Unterordnung als Unterordnung unter das Gesetz. Der Gegensatz bildet sich also aus, indem durch das Bewusstsein der Gemeinsamkeit in eins das Bewusstsein der Differenz von Gemeinsamen und Individuellen entsteht und die Differenz handlungspraktisch zugunsten der Unterordnung des Individuellen unter das Gemeinsame gelöst wird. Wie bildet sich aber die Differenz von Untertan und Obrigkeit? Sie bildet sich daran, wie in der Unterordnung des Individuellen unter das Allgemeine mit eben dieser Differenz umgegangen 32 33
Staatslehre 1817 Varnhagen 221,8f. Staatslehre 1829 69,24f.
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D. Thematische Fokussierungen
wird. Obrigkeit ist gekennzeichnet dadurch, dass sich die Überzeugung von der notwendigen Identität des einzelnen Willens mit dem allgemeinen Willen mit der Dominanz der Identität herausbildet. Wo sich das Bewusstsein der Differenz herausbildet mit der Dominanz des eigenen Willens, wird der Mensch Untertan. Schleiermacher relativiert diese Aussage in ihrer geschichtserfassenden Kraft, indem er anfügt, dass diese Bestimmungen nicht immer mit den Funktionsaufteilungen in eins fallen.34 Zu dieser Ausdifferenzierung von Obrigkeit und Untertanen gehöre dann noch ein gemeinsamer Wille zu genau dieser Aufteilung, also ein freies gegenseitiges Anerkennungsverhältnis: »Kein anderes Fundament hat das StaatsVerhältniß als die Pietät in der Anerkennung des gemeinsamen Willens, und jeder wird nur dann ein Mitglied desselben, in so fern der allgemeine Wille sich in ihm darstellt und ihn belebt«.35 Genau deshalb ist der Staat »Element des höchsten Gutes, indem er die einzige Möglichkeit ist, den Gegensatz zwischen dem einzelnen und dem allgemeinen Willen aufzuheben«.36 Schleiermacher bildet also seine Theorie, indem er Differenzen auftreten lässt, die wiederum zu weiteren Differenzierungen führen. Durch die Differenzierung der Differenzierung entfaltet er Mannigfaltigkeit, ohne die theoretische Einheit darin zu mindern. Die Differenz setzt er aber auch ein, um Phänomene voneinander abzugrenzen und in ihrer Eigenart zu profilieren. Das sei anhand des Begriffspaars Untertan und Obrigkeit vorgeführt, das Schleiermacher charakterisiert durch die Abgrenzung vom Sklaventum und von der Familie. Den Untertanen im Unterschied zum Sklaven oder Knecht kennzeichnet »eine in seinem Verhältniß zur Obrigkeit mitgesezte freie Willensthätigkeit«.37 Im »Begriff des Unterthanen liegt ein Zusammensein von freier Thätigkeit und von Unterwerfung unter die Regel, die von einem Andern gegeben wird«.38 Den Untertan zeichnet also aus, dass seine freie Willenstätigkeit von der Obrigkeit gerade bejaht und gefördert wird, insofern diese freie Willenstätigkeit sich als individuelle bezogen auf das Allgemeine und Gemeinschaftliche betätigt. Den Gegensatz zwischen Obrigkeit und Untertan bestimmt Schleiermacher nun auch von Seiten der Obrigkeit näher. Die Obrigkeit grenzt Schleiermacher scharf gegen den Hausvater auf der einen, und den Hausherrn auf der anderen Seite ab. Der Unterschied zum Hausvater besteht darin, dass die Obrigkeit durch das Gesetz den Untertanen gegenübertritt, der Hausvater aber individuell. Anders als der Hausherr will die Obrigkeit den Willen der Untertanen. Den Staat kennzeichnet ein bestimmtes Verhältnis, eine bestimmte Differenz, durch die Menschen sich unterscheiden als Obrigkeit und Untertan; der Gegensatz konstituiert also Obrigkeit wie Untertanen. Wird die Differenz von Seiten der Obrigkeit verabsolutiert 34
Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 219. Staatslehre 1817 Varnhagen 220,5–8. 36 Staatslehre 1817 Varnhagen 221,20–22. 37 Staatslehre 1829 70,26f. 38 Staatslehre 1829 Heß 506,21–23. 35
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hin zur Despotie, löst das ebenso die Staatlichkeit auf wie die Nivellierung des Gegensatzes hin zur Anarchie. Die Gemeinschaftlichkeit, deren Bewusstwerdung die Staatswerdung hervorruft, ist nun noch genauer zu erfassen. Gemeinschaftlichkeit von Menschen, die über das Familiäre hinausgeht, bildet sich über das gemeinsame Verhältnis zum Boden. Durch dieses gemeinsame Verhältnis zum Boden entwickelt sich eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Form in der Tätigkeit. Durch diese Gemeinschaftlichkeit, insofern sie sich in familiären Verbindungen niederschlägt, entsteht auch eine gemeinsame Physiognomie. Die gemeinsame Form in der Tätigkeit nennt Schleiermacher Sitte. Differenzierung verwendet Schleiermacher auch als ein Mittel, um die geschichtliche Entwicklung zu beschreiben. Die staatliche Entwicklung ist eine fortschreitende Ausdifferenzierung. Das sei anhand des Verhältnisses von Sitte und Gesetz vorgeführt. Beim Übergang zum Staat wird bewusst und ausgesprochen, was vorher unbewusst die Sitte war. Die ausgesprochene und dann auch sanktionierte Sitte ist das Gesetz. Gehört dann zweitens alles, was zur Sitte gehört, ins Gesetz? Von der Sitte gehört dasjenige ins Gesetz, was das Verhältnis des Menschen zum Boden betrifft, weil dies die Gemeinschaftlichkeit konstituiert, die im Staat Form gewinnt. So ist also zu unterscheiden, was zum gemeinschaftlichen Verhältnis des Menschen zum Boden gehört und was nicht. Auf diese Weise kommt Schleiermacher in der Staatslehre zur Differenzierung der vier Institutionen Kirche, freie Geselligkeit, Wissenschaft und Staat. Und weil diese ersten drei Gemeinschaften auch zum Bodenverhältnis des Menschen in Beziehung stehen, sind sie in genau dieser Beziehung auch abhängig vom Staat und seiner Anerkennung. Der Staat nun soll diese Gemeinschaften frei lassen und sie anerkennen. Die präzise Abgrenzung des Staates von den anderen Gemeinschaften bildet sich aber erst allmählich in der Geschichte heraus. Vorher handelt es sich um ein verworrenes Verhältnis, das laut Schleiermacher noch bis in seine Gegenwart andauert39 und das sich erst zukünftig vollständig ausdifferenzieren wird. Die in der Geschichte zu beobachtenden Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche sind als Ausdifferenzierungskämpfe zu verstehen. Schleiermachers Theoriebildung vollzieht sich also in mehrfacher Hinsicht durch Differenzierung. Wie kann er trotz dieser vielfachen Differenzierungen noch einen Staatsbegriff konzipieren, der abstrakt und einfach genug ist, um alle nur möglichen Staaten zu erfassen? Wie sieht seine Wesensbestimmung des Staates aus? Was ist ihr Proprium? 4. Staatslehre als Wesensbestimmung des Staates In der Politikwissenschaft unterscheidet man normative von deskriptiven Staatstheorien. Dieser Unterscheidung fügt sich Schleiermachers Staatstheorie dezi39
Vgl. Staatslehre 1829 Heß 525,1f.
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D. Thematische Fokussierungen
diert nicht.40 Er will eine Wesensbestimmung41 des Staates vornehmen – so 1817. Das Vorgehen dabei sei: »mit der Betrachtung des von jeher geschichtlich statt gefundenen ausgehen, dabei aussondern, was blos der Zeit und der Form, und herausheben, was dem Wesen des Staats angehört«.42 Später heißt es noch präziser: »Die Staatslehre [. . . ] ist also nichts anders, als die naturgemäße allgemeine Betrachtung der Geschichte, in wiefern in ihr verschiedene mögliche Formen des Staats ausgeprägt sind, wobei jederzeit von dem Ursprung des Begriffs ausgegangen und das Historische nur als Beleg, welche ohne den Begriff nur leere Form ist, herzugezogen wird«.43 Die Wesensbestimmung lässt sich in vier Merkmalen beschreiben: (a) Die Staatslehre betrachtet Geschichte und geht vom Geschichtlichen aus. (b) Am Geschichtlichen unterscheidet sie das bloß Geschichtliche und das Wesenhafte, das sich jedoch immer geschichtlichkontingent ausdrückt. (c) Das Wesenhafte wird dann als abstrakte Geschichte rekonstruiert. (d) Das bloß Geschichtliche bzw. das einzelne Geschichtliche hat dann die argumentative Funktion von Belegen für die begriffliche Rekonstruktion des Wesens als abstrakte Geschichte. Diese methodischen Aspekte lassen sich folgendermaßen an der Staatslehre nachvollziehen: Schleiermacher geht von gegebener geschichtlicher Staatlichkeit und von gegebener Nichtstaatlichkeit aus, woraus er einen geschichtlichen Übergang erhebt. Dieser wird nun begrifflich bestimmt. Von dieser begrifflichen Bestimmung aus bekommen die einzelnen zu erwähnenden geschichtlichen Phänomene den Status von Belegen. 5. Staatslehre als Physiologie des Staates »Physiologie des Staates« – 1829 drückt er sein Vorhaben mit diesem folgenreich rezipierten Stichwort aus. Er wurde dadurch in die Traditionslinie eines organologischen Staatsverständnisses eingereiht. Matthias Wolfes zeigt die Unangemessenheit dieser Einordnung, kritisiert aber Schleiermacher an dieser Stelle, weil Schleiermacher durch seine spezifischen Erklärungsmuster »mit der Vorstellung arbeitet, Abläufe staatlichen Handelns könnten in Analogie zu organischen Prozessen gedeutet werden«.44 Schauen wir uns diese Bestimmung genauer an. Zunächst die Formulierung im Satzkontext, in Schleiermachers eigenem Manuskript von 1829: »Die Natur dieser Vorträge soll ganz physiologisch sein; die Natur des Staats im Leben betrachten und die verschiedenen Functionen in ihren Verhältnissen verstehen lernen und auf diesem Wege ein richtiges Handeln 40 Hoover erkennt bei Schleiermacher einen »descriptive approach« (Hoover: The Foundation of the Communitarian State, 298), der sich gegenüber Hegel vor allem dadurch auszeichne, dass er auf die Differenz von »reality and appearances« verzichte (aaO. 297). 41 Zur strukturellen Logik von Wesensbestimmungen vgl. die herausragende Darstellung von Schröder: Kritische Identität, 124–183. 42 Staatslehre 1817 Varnhagen 210,13–16. 43 Staatslehre 1817 Varnhagen 224, 5–10. 44 Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Bd. 2, 413.
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möglich machen«.45 Das Physiologische erkennt Schleiermacher hier in zwei konstitutiven Momenten: der Staat muss im Leben, im Vollzug, in seiner Dynamik betrachtet werden. Um den Staat zu verstehen, müssen seine Funktionen und zwar in ihrem gegenseitigen Verhältnis verstanden werden. Gegenüber der 1817 gewählten Aufgabe einer Wesensbestimmung liegt damit ein neuer Akzent auf den Funktionen und der Dynamik. Das ist ein neuer Akzent, aber kein Alternativmodell zur Wesensbestimmung. Schleiermacher führt weiter aus, er wolle den Staat als Erzeugnis der menschlichen Natur und als einen bestimmten Organismus verstanden wissen. Hierfür zählt er Merkmale von lebendigen Organismen (Staat, Heß 496) auf, die sich auf den Staat beziehen lassen: 1. Das Gleiche tritt in einer Menge verschiedener Gestaltungen hervor. Beim Staat: Es gibt etwas, das allen staatlichen Gebilden zu Grunde liegt und das trotzdem nur in der Vielfalt der Gestalten auftritt. 2. Je mehr sich die Funktionen entfalten und je mehr Funktionen bei einem Organismus anzutreffen sind, um so vollkommener ist er. Beim Staat: Je vielfältiger er in seiner inneren Gestaltung ist, umso vollkommener ist der Staat. 3. Die Erkenntnis eines Organismus besteht darin, das Verhältnis seiner Funktionen zueinander zu begreifen. Vom Wortlaut her deutet nichts darauf hin, dass Schleiermacher die Bestimmung »Physiologie« in einem metaphorischen oder analogen Sinne gebrauchen wollte. Die inhaltlichen Merkmale des Physiologiebegriffs, die Schleiermacher damit liefert, sind an sich unproblematisch und keine Abkehr von seinem bisherigen Konzept. Die Verwendung dieses Begriffs fällt jedoch in zweifacher Hinsicht auf: zum einen weil mit ihm die Charakterisierung des Staates als Organismus verbunden ist und weil er sich mit beiden Begriffen in die theoretische Strömung organologischen Denkens stellt. Der Begriff »Physiologie des Staates« kommt bereits in einem staatsphilosophischen Werk von Julius Schmelzing von 1817 vor: Grund-Linien der Physiologie des Staats; oder die sogenannte Staats-Wissenschaft und Politik (Nürnberg 1817). Organologische Staatstheorien behaupten gemeinsam die »Vergleichbarkeit der Staatsbildung mit der naturgesetzlichen Entwicklung realer Organismen«.46 Der Staat gilt einerseits als Naturprodukt, andererseits als sittlich-geistiger Organismus.47 Für die Staatsentstehung wäre nicht eine bewusste Willensentscheidung der Menschen verantwortlich gewesen. Prima facie spricht für eine gewisse Distanz von organologischen Staatstheorien zweierlei: Es gibt wichtige Unterschiede zu typischen organologischen Staatslehren. Innerhalb der Staatslehre selbst versucht Schleiermacher keine Parallelisierung von Staatsfunktionen mit Funktionen oder Organen von Lebewe45
Staatslehre 1829 69,8–11, Hervorhebung im Original. Rolin: Der Ursprung des Staates, 224. 47 Vgl. aaO. 226. 46
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sen. Aus Gesetzmäßigkeiten, wie sie bei Lebewesen auftreten, werden bei Schleiermacher keine direkten Konsequenzen für die Funktionsweise oder gar Handlungsanweisungen abgeleitet. Außerdem ändert sich bei Schleiermacher an der Gesamtkonzeption nichts gegenüber den früheren Vorlesungen. Daher ist zu fragen, ob sich diese neue Terminologie möglicherweise aktuellen Abgrenzungsinteressen verdankt, und welches theoretische Interesse Schleiermacher am Organismusbegriff hatte. Den Organismusbegriff führt er 1829 betont ein: »den Staat als Erzeugniß der menschlichen Natur zu betrachten, freilich auch der Intelligenz, aber doch immer aus dem Gesichtspunkt einer natürlichen Produktion. [. . . ] So ist meine Absicht, den Staat hier zu betrachten als einen bestimmten Organismus«.48 Inwiefern und wie genau Nähe zu diesen organologischen Traditionen in der Vorlesung von 1829 wirksam ist, kann nur die präzise Untersuchung des Organismusbegriffs, nicht aber der Physiologiebegriff bei Schleiermacher zeigen. Das bestätigt die Vorlesung von 1833: Auch da gebraucht Schleiermacher den Physiologiebegriff, um die Theoriegestalt seiner Vorlesung zu charakterisieren. Er verwendet hier und im näheren Kontext zwar den Lebens-, jedoch nicht den Organismusbegriff. 1833 lässt der Wortlaut auf eine bewusst analoge Verwendung des Physiologiebegriffs schließen,49 und er bezeichnet das Unternehmen, am Staat, der aus der Wiederholung von freien Handlungen besteht, dasjenige zu untersuchen, was in diesen Handlungen das Gleichbleibende und Beharrliche ist. Die Staatslehre untersucht also weder die einzelnen spezifischen Handlungen noch spezifische Handlungszusammenhänge, sondern das Strukturelle und Wesentliche. Meine These lautet, dass der zweideutige Physiologie-Begriff bei Schleiermacher den Sinn hat, die methodische Eigenart und Schwierigkeit zu bezeichnen, dasjenige, was aus Handlungen besteht, dennoch nicht von diesen einzelnen Handlungen oder Handlungszusammenhängen her zu begreifen, um es eben als ein Ganzes zu verstehen. Genauso wenig soll dieses Ganze aber als abstrakte Struktur von Handlungen aufgefasst werden, weil das unzulässig von dem Wesen von Handlungen als zeitlichen abstrahiert. Wenn man dann eine gewisse inhaltliche Kontinuität zwischen 1829 und 1833 unterstellt, dann wäre auch 1829 das theoretisch primäre der Physiologiebegriff, und der 1829 verwendete Organismusbegriff stellte eine problematische Explikation oder Konsequenz dar. So wäre also 1829 der Organismusbegriff vom Physiologiebegriff zu interpretieren und nicht umgekehrt. Zusammengefasst: Schleiermachers Staatslehre unternimmt eine Wesensbestimmung oder Physiologie des Staates, indem am 48
Staatslehre 1829 Heß 496,25–30. »Und was in Beziehung auf das leibliche Leben die Physiologie ist, das geben wir hier in der Betrachtung der verschiedenen Thätigkeiten, durch die sich das Leben manifestiert, mit Berücksichtigung der Einheit in der Manifestation« (Staatslehre 1833 Waitz 758,24–27). 49
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Geschichtlichen das bloß Geschichtliche abstrahiert und das Wesen als abstrakte Staatsgeschichte konstruiert wird. 6. Fazit: Staatslehre als unpolitische Theorie des Politischen Schleiermachers Staatslehre ist eine abstrakte Geschichte des Staates. Als eine solche Theorie staatlicher Entwicklung ist sie selbst nicht politisch. Weder konzipiert Schleiermacher einen idealen Staat noch entwirft er ein politisches Programm. Sein wissenschaftssystematisches Interesse am Staat überwiegt in der Staatslehre deutlich die durchaus vorhandenen politischen Interessen des Bürgers Schleiermacher. Trotzdem geht es ihm um eine praxisrelevante Theorie. Die Praxisrelevanz besteht in zweierlei: zum einen will er die einzelnen Bürger in ihrem Würdebewusstsein stärken und als politisch Handelnde affirmieren. Dann aber will er zum anderen Politikberatung betreiben. Damit ist gemeint, dass er Gestaltungsalternativen vorstellt und deren jeweilige Konsequenzen erörtert. Er verbindet damit nur äußerst selten eine Handlungsempfehlung, denn es geht ihm darum, informierte Entscheidungen politischer Handlungsträger zu ermöglichen. Auch im Stil ist Schleiermacher stets abwägend, erörternd, Möglichkeiten aufzeigend. Fast nie verwirft er etwas, selbst wenn er auf höchst problematische Konsequenzen aufmerksam macht. Aus anderen Texten (siehe das Kapitel zur Christlichen Sitte) ist seine strikte Ablehnung der Todesstrafe bekannt. In der Staatslehre gibt er lediglich zu bedenken, ob sie den angestrebten Zweck erfüllt. Beim Tonfall seiner Erörterungen fällt Schleiermachers unpathetische Nüchternheit und gelehrsame Weitschweifigkeit auf. Oft widmet er Einzelfragen ausführliche Darlegungen, während Zentralbegriffe und Grundfragen sich mit knappen Bemerkungen begnügen müssen. Dieser trockene Redestil entspricht genau seiner Intention, zur Ernüchterung und Leidenschaftserstickung in politischen Fragen beizutragen. Das Pathos hat nämlich seiner Ansicht nach zur Begriffsverwirrung und zu politischen Fehlentscheidungen geführt. Man ist geneigt zu sagen, wenn er überhaupt in der Staatslehre ein politisches Programm verfolgt, dann ist es das politische Programm der Ernüchterung der Zuhörer. Jaeschke hat die These aufgestellt, die Staatsvorlesungen »blenden die Tagespolitik offensichtlich bewusst aus und entwerfen statt dessen Grundlinien eines allgemeinen, nahezu zeit- und ortlosen Verständnisses des Staates«.50 Damit ist m. E. eine wesentliche Intention Schleiermachers erfasst; er wollte eine zeitlose Theorie, die gerade von allem Geschichtlichen in seiner Mannigfaltigkeit abstrahiert, um damit gerade das jeweils konkrete Geschichtliche auf eine reflektierte Weise erfassen zu können. Doch Schleiermacher bedenkt auch die hermeneutische Schwierigkeit einer solchen Theoriebildung. Immer wieder macht er auf die Gefahr aufmerksam, doch nur das Gegebene auf den Begriff zu bringen, d. h. die eigene Gegenwart oder einen gegenwärtigen Blick auf eine ganz be50
Jaeschke: Historische Einführung, XXVII.
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stimmte geschichtliche Epoche zum Maßstab zu machen.51 Die eigene Gegenwart stellt für Schleiermacher keinen privilegierten Punkt in der Geschichte dar. Die eigene Geschichtsgebundenheit kann für Schleiermacher durch begriffliche Kontrolle überwunden werden, was durch Abgleich mit den Kategorien der Ethik geschieht.52 Insofern entspricht die Zeitlosigkeit durchaus der Intention und dem Anspruch Schleiermachers, was die Anlage der Theorie angeht. Für die Durchführung im Einzelnen trifft es jedoch in keiner Weise zu. Schleiermacher präsentiert zahlreiche geschichtliche Beispiele, er macht aktuelle politische Anspielungen und reflektiert die eigene geschichtliche Gegenwart. Daher ist Schleiermachers Theorie ihrem Anspruch nach zeitlos, in ihrer Gestaltung aber geschichts- und gegenwartsgesättigt. Aus der Außenperspektive konnte im Kapitel zur zeitgenössischen Debattenlage nach der Französischen Revolution gezeigt werden, dass Schleiermachers Staatslehre entgegen ihrer Intention ganz von den zeitgenössischen Debatten geprägt ist. Seine Argumentationsfiguren, seine unterstellten Plausibilitäten, sein Projekt als solches verdanken sich weitgehend der real- und geistesgeschichtlichen Lage in Preußen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Schleiermachers Staatslehre kann nur innerhalb des damaligen Diskursfeldes gewürdigt werden. In dieser historischen Konstellation vertritt Schleiermacher eine liberal orientierte Staatstheorie, die aber als solche keine politische Theorie sein will, sondern eine unpolitische, weil metatheoretische Theorie des Politischen.
II. Das Wesen des Staates. In bewusstloser Notwendigkeit gebildetes Werk des Menschen Als Gegenkonzepte zu vertragstheoretischen Modellen zielten prominente Entwürfe im 19. Jahrhundert auf eine Verschmelzung von naturhaften und geschichtlichen Grundlagen in der Theorie des Staates. Die Differenz zwischen Staatswerdung und Staatslegitimation wurde bewusst eingezogen. Konnte eine »natürliche« – oder organische – Staatsentstehung plausibilisiert werden, entband das von der Frage nach der Legitimation der Staatsgewalt. Was natürlich und damit notwendig entstanden war, konnte nicht und musste nicht eigens legitimiert werden. Typische Argumentationstendenzen im deutschen Staatsdiskurs bis Mitte des 19. Jahrhunderts seien benannt. Die Entstehung des Staates erklärt man aus na51 Z. B. Staatslehre 1833 Waitz 758,34–39: Bei der Untersuchung »müssen wir uns vor zweierlei hüten, 1. nicht statt des Staates Einen Staat zu nehmen, um nicht statt des allgemeinen eine einzelne Erscheinung aufzufassen, was alles übrige ausschlösse und die Betrachtung unvollständig machte. 2, nicht, indem wir das Besondere entfernen, etwas aufnehmen, was nicht mehr der Staat ist«. 52 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 210.
II. Das Wesen des Staates
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türlichen Gesetzmäßigkeiten heraus. Die Semantik der »Natürlichkeit« bedeutet primär eine Verneinung von »Willkürlichkeit« oder Zweckrationalität. Aus dem Begriff des Staates sollte alles ausgeschlossen werden, was dem Staat einen kontingenten Status oder den Status eines Mittels für einen staatsexternen Zweck verleihen und damit dem Staat eine eigene Dignität absprechen würde. Die positive Explikation der Natursemantik fiel dagegen oft weitaus vager aus. Man kann drei Referenzgrößen von »Natur« in diesem Zusammenhang unterscheiden. Mit Natur kann zum einen allgemein die Natur des Menschen gemeint sein. Oft aber wird darunter die Natur menschlicher Lebensgemeinschaften verstanden, d. h. der Familie, sich zu erweitern. Die Bedeutung der Familie in staatsbildender Hinsicht pathetisiert beispielhaft Dahlmann: »Der Staat ist uranfänglich. Die Urfamilie ist Urstaat; jede Familie, unabhängig dargestellt, ist Staat.«53 Als »natürliche« Größe stellt sich drittens das »Volk« dar, welches ein Gemeinwesen bildet, das auf gleicher Sprache, Kultur, Herkunft beruht. Der Gedanke individueller Freiheit spielt somit für solche Staatsbegründungskonzepte keine Rolle mehr.54 Damit intendierten die jeweiligen Denker explizit einen Gegenentwurf zur Vertragstheorie, deren staatszersetzende praktische Auswirkungen sie in der Französischen Revolution und deren Folgegeschichte ablehnten. Individuelle Freiheitsrechte begrenzen in diesen Theorieentwürfen nicht das staatliche Handeln bzw. seine Legitimität, sondern umgekehrt bemisst sich die Gewährung individueller Freiheitsrechte daran, wie sehr die Gewährung den sittlichen Zwecken des Staates dient. Als eine spezifische Weiterentwicklung von Theorien natürlicher Staatsentstehung sind nun organologische Theorien zu nennen. Die gedachte Nähe von staatlicher Entwicklung und von biologischen Prozessen drückte sich in der Begriffsbildung vom Staat als Organismus aus. Diese Beschreibungsperspektive erfüllte vor allem zwei Funktionen:55 Erstens konnte man damit verschiedene Institutionen des Staates in ihrer Wirkungsweise veranschaulichen und in ihrem Sinngehalt deuten (und damit legitimieren); zweitens konnte man daraus Handlungsregeln ableiten für die Gestaltung staatlichen Lebens. Was der Staat für Schleiermacher ist, drückt am prägnantesten eine Formulierung von 1814 aus: ein »in bewußtloser Nothwendigkeit gebildetes Werk des Menschen«,56 in dem »auch der Mensch selbst, dies höchste Werk der Natur, wieder als Bestandtheil verschwindet«.57 Der Staat ist ein Werk und Gebilde des Menschen; der Mensch ist aber bei diesem Werk nicht bewusst planend und intentional gestaltend beteiligt. Bei der Staatsbildung handelt es sich stattdes53
Dahlmann: Politik, 11. »So wurde etwa das liberale Modell der Garantie individueller Freiheit im Staat als bedrohlich für die Existenz des Staates aufgefasst«, Rolin: Der Ursprung des Staates, 183. 55 Vgl. Rolin: Der Ursprung des Staates, 227f. 56 KGA I/11, 98,9f. 57 KGA I/11, 98,10f. 54
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D. Thematische Fokussierungen
sen um ein bewusstloses Wirken der geistigen Natur. Der Staat entspringt der geistigen Natur, aber ohne ursächliche Beteiligung von Bewusstsein und Wille der Menschen, deren Werk er ist. Daher charakterisiert Schleiermacher Staaten als Naturgebilde, aber als »geschichtliche Naturgebilde«.58 Diese Begrifflichkeit setzt voraus, dass der Geist der Natur nicht nur als gegenüberstehend verstanden, sondern auch als in Kontinuität zu Natur aufzufassen ist, so dass eben von einer geistigen Natur gesprochen werden kann. Der Staat ist nun deshalb für die geistige Natur des Menschen bedeutsam, weil die Staatswerdung den Umschlag von Bewusstlosigkeit zu Bewusstheit bei den involvierten Menschen markiert und ausdrückt. Für die Ausbildung von Bewusstsein, für die menschliche Geistesgeschichte stellt die Staatswerdung den zentralen Schritt dar. Der Staat markiert den Umschlagspunkt, an dem die Entwicklung des menschlichen Geistes von einer Naturgeschichte des Geistes zu einer Bewusstseinsgeschichte des Geistes wird. Daher ist die Staatswerdung sowohl ein Naturphänomen als auch ein Geistesphänomen, genauer keines von beiden, denn durch den Staat tritt überhaupt erst die klare Differenz von Geist und Natur (für den Menschen) auf. Somit fungiert der Staat nicht etwa nur als Rahmenbedingung für die menschliche Kultur- und Geistesgeschichte; sondern ist die Bedingung der Möglichkeit für geistiges Bewusstsein, das als Subjekt in der Wechselwirkung mit anderen Subjekten erst Kultur im engeren Sinne schaffen kann. Staatlichkeit ist damit dem menschlichen Geist nichts Äußerliches, sondern gehört zum Innersten der Geschichte des menschlichen Geistes als Bewusstsein. Staatswerdung ist somit die Geburtsstunde des menschlichen Geistes als Bewusstsein. Bewusstsein bildet und vollzieht sich, indem das Bewusstsein von Gegensätzen sich ausbildet. Indem die Menschen durch den Staat zu dem bestimmten Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit gelangen, prägt sich mit dem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit auch das des Einzelseins aus, der Gegensatz von Allgemeinwohl und Eigeninteresse sowie der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten. Mit dem Staat prägen sich überhaupt erst die Gegensätze aus, welche im Staat zu vermitteln sind. Die Vermittlung findet folgerichtig exakt über die Instanzen statt, welche zugleich die Gegensätze ausdrücken und erzeugen: das ist das Gesetz und alles, was mit ihm zusammenhängt. Eine wichtige Funktion kommt dabei der »öffentlichen Meinung« zu. Dabei findet eine Theorieverschiebung bei Schleiermacher statt: zunächst denkt er die öffentliche Meinung als Vermittlungsinstanz, welche auf die Gesetzgebung der Regierenden informell einwirkt, ohne am Gesetzgebungsprozess teilzuhaben. In der weiteren Theorieausformung kann Schleiermacher der öffentlichen Meinung nur dann eine solche vermittelnde und damit staatliche Funktion zuerkennen, wenn sie selbst am Gesetzgebungsprozess teilnimmt, wenn es sich also um eine verfasste öffentliche Meinung handelt, die auf gesetzlich vorgesehenen Wegen an der Gesetzgebung 58
KGA I/11, 98,30f.
II. Das Wesen des Staates
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Anteil hat und daher eine Vermittlungsfunktion der im Staat auftretenden Gegensätze übernehmen kann. Zum Wesen des Staates gehören daher für Schleiermacher konstitutiv die Vermittlungen des Gegensatzes, welche sich mit dem Staat ausbilden. So sei ein eigenes Unterkapitel seiner Theorie der öffentlichen Meinung gewidmet. Mit der vorgetragenen Grundbestimmung des Staates als »in bewußtloser Nothwendigkeit gebildetes Werk des Menschen«59 verbindet Schleiermacher eine wissenschaftsgeschichtliche, eine politikgeschichtliche und eine methodische Einsicht. Er konstatiert, dass in Geschichte und Gegenwart eine falsche staatsphilosophische und politisch-praktische Ableitung vorgenommen werde: weil der Staat ein Werk des Menschen sei, sei der Staat auch durch menschlichen Willen zu perfektionieren und seiner Idealgestalt anzunähern. Wissenschaftsgeschichtlich und politikgeschichtlich habe diese falsche Ableitung zu einer irregeleiteten Konzentration auf die Frage nach dem vollkommenen Staat geführt. Politisch haben Menschen sich um die Schaffung eines solchen vollkommenen Staates bemüht – vergeblich bzw. mit negativen Folgen. Wenn Politik den idealen Staat schaffen wollte, sei das schon im Ansatz ein verfehltes Unterfangen. Ebenso sei das wissenschaftliche Nachdenken über den Staat vom falschen Fokus auf den Idealstaat bestimmt gewesen. Daher liege die wissenschaftliche Beschreibung des Staates im Argen. Eine wirkliche und wissenschaftlich angemessene Staatslehre sei überhaupt erst im Entstehen. Damit tritt Schleiermacher im Gestus der Verabschiedung von mehr als 2000 Jahren politischer Philosophie auf, er inszeniert sich als Begründer einer nun erstmals recht verstandenen und wahrhaft wissenschaftlichen Theoriebildung zum Staat. Methodisch zieht Schleiermacher den Schluss, dass eine wissenschaftliche Beschreibung des Staates erstens wie eine Naturbeschreibung anzugehen sei, dass daher zweitens die Bildung und Entwicklung des Staates zu erfassen sei und drittens, dass auf diese Weise zu einer Klassifikation von Gattungen und Arten des Staates fortzuschreiten sei. Damit ist das Proprium von Schleiermachers Staatslehre benannt: die Entwicklung von Staaten zu beschreiben und den Staat als dynamischen Prozess zu verstehen, zu dessen Begriff die Zeitlichkeit als Geschichtlichkeit konstitutiv dazugehört. Im Folgenden sei daher anhand der Staatslehrevorlesungen von 1817 bis 1833 dargestellt, wie Schleiermacher sich die Bildung und Entwicklung von Staaten vorstellt, wie er mit den üblichen Gattungsbestimmungen von Staaten umgeht und welche Rolle die öffentliche Meinung als Vermittlungsinstanz spielt. Daran anschließend sei Schleiermachers Politik-Begriff zusammenfassend erörtert.
59
KGA I/11, 98,9f.
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D. Thematische Fokussierungen
1. Bildung und Entwicklung von Staaten Der Staat bildet sich als bestimmtes Moment innerhalb des Naturbildungsprozesses. Der Naturbildungsprozess der Vernunft ist selbst eine Entwicklung vom Unbewussten zu immer mehr Bewusstheit. Der Staat ist dabei ein ganz bestimmter Bewusstwerdungsschritt: das Bewusstwerden des allgemeinen Willens einer menschlichen Gemeinschaft. Der bewusstwerdende allgemeine Wille drückt sich im Gesetz aus. Als Entwicklungsschritt im Naturbildungsprozess richtet sich das Gesetz auf den Naturbildungsprozess und hat dessen weiteres Fortschreiten zum Zweck.60 Mit dem Gesetz tritt gleichzeitig der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten auf. Auch dieser Gegensatz bezieht sich auf den Naturbildungsprozess; die Aufgabe der Regierung lautet daher, die naturgemäße Entwicklung des Volkes hinsichtlich des Naturbildungsprozesses vor »Irrthümern und Mißgriffen zu schützen«.61 Die Ausrichtung des Staats auf den Naturbildungsprozess nennt Schleiermacher die materielle Seite des Staats, den Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten seine formelle Seite. Anhand dieser zwei zusammengehörigen Staatsaspekte führt Schleiermacher eine Typologie von Staaten, genauer von Völkern mit ihren Staaten ein: solche, bei denen der formelle Aspekt überwiegt und die mehr im Erkennen leben, die anderen, bei denen der materielle Aspekt überwiegt und die sinnlicher orientiert sind. Eine viergeteilte Typologie ergibt sich laut Schleiermacher, wenn man das Nationaltemperament analog der Temperamente von Einzelpersonen unterteilt in phlegmatische, sanguinische, cholerische und melancholische.62 Diese Unterscheidung macht Schleiermacher geltend, um allgemeine staatsphilosophische Forderungen oder Maximen abzuweisen, wie z. B. die Forderung nach einer Verfassung. Er weist die Behauptung zurück, dass die Einführung einer Verfassung immer den Naturbildungsprozess befördern würde. Bei genauerer Analyse würde aber deutlich, dass die Forderung nach einer Verfassung nichts anderes will »als die politische Freiheit des Einzelnen, und das Bewußtsein zur Bildung des allgemeinen Willens beizutragen«.63 Den Wert der politischen Freiheit des Einzelnen macht Schleiermacher aber von Bedingungen abhängig. Nur dann sei diese Freiheit wertvoll, wenn der Einzelne wirklich fähig sei, einen Beitrag zur Bildung des allgemeinen Willens zu leisten und wenn er über entsprechende Einsicht in die Bedürfnisse des Ganzen verfüge. Politische Freiheit soll also laut Schleiermacher an Bildung und Allgemeinorientierung des Einzelnen hängen. Freiheit des Einzelnen konzipiert Schleiermacher in keiner Weise 60 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 222,24f. Dies ist eine der ganz seltenen Belegstellen, dass Schleiermacher beim Gesetz (oder beim Staat) von einem »Zweck« sprechen kann. 61 Staatslehre 1817 Varnhagen 228,39f. 62 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 228. Leider erwähnt Schleiermacher nicht, mit welchem Temperament er die Bevölkerung Preußens ausgestattet sieht. 63 Staatslehre 1817 Varnhagen 229,18f.
II. Das Wesen des Staates
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vom Recht des Einzelnen her, sondern vom Wohl der Allgemeinheit. Wenn und insofern es dem Wohl aller dient, wenn es den Naturbildungsprozess befördert, dann soll den Einzelnen politische Freiheit eingeräumt werden. Daher spricht Schleiermacher sich gegen eine Einführung solcher Freiheiten aus, bevor nicht in einem Staat die Fähigkeit in der Bevölkerung dazu erzeugt wurde. Um dieses Argument zu differenzieren, zeigt Schleiermacher auf, welche Wirkung die politische Freiheit auf Menschen hätte. Zunächst betrachtet Schleiermacher Menschen, die innerlich tot und stumpfsinnig seien. Für diese gelte, »daß die Freiheit in einem unfähigen Gemüthe ein Todtes sei, und nicht anders hervor gebracht werden könne, als durch ein Drittes hinzukommendes, nicht aber durch das zu erregende selbst«.64 Für solch »stumpfsinnige« Menschen wäre politische Freiheit geradezu schädlich, weil sie die Freiheit dazu nutzen würden, sich jeder belebenden Einwirkung von außen zu entziehen. Bei einer zweiten Gruppe von Menschen, die innerlich lebendig seien, dabei aber von einer Ausrichtung auf das Sinnliche sich bestimmen ließen, bewirke politische Freiheit wenig, da sie den Genuss suchen. Die dritte Gruppe an Menschen bezeichnet Schleiermacher als innerlich lebendig und intelligent, wobei er mit Intelligenz geistiges Streben im Gegensatz zu sinnlichem Streben meint – und nicht Ausstattung mit spezifisch hohen kognitiven Fähigkeiten. Bei einem solchermaßen geistorientierten Menschen gelte, dass »die intelligente Natur durch ihr innerstes Wesen an die politische Freiheit geknüpft ist«.65 Ob diese Formulierung von Schleiermacher selbst stammt, ist bei einer Nachschrift nicht zu entscheiden. In jedem Fall ist es eine auffallende Formulierung. Entsprechend dem Kontext des Gedankengangs hätte man als Verb eher erwartet: dass die intelligente Natur sich nach politischer Freiheit sehnt, oder zur politischen Freiheit tendiert. Die Wendung »geknüpft sein« stellt die Verbindung zwischen intelligenter Natur und politischer Freiheit als enger dar und vor allem als wechselseitige Verbindung. Die Formulierung impliziert, dass nur bei politischer Freiheit auch die intelligente Natur im Vollsinn auftritt. Jedenfalls will Schleiermacher hier einen denkbar engen Zusammenhang von intelligenter Natur und Freiheitsrechten aufzeigen. Dieser Zusammenhang gilt jedoch – und das ist entscheidend – nicht für jeden Menschen und daher auch nicht für jedes Volk. Aus der Wirkung der politischen Freiheit auf die drei von Schleiermacher unterschiedenen Menschengruppen folgt, dass eine Verfassung nur dann eingeführt werden darf, wenn dies dem Entwicklungsstand eines Volkes entspricht. Eine Verfassung muss »ganz genau mit der eigenthümlichen Tätigkeit des Volkes und dessen Wesen« übereinstimmen. Seine Schlussfolgerung daraus lautet: »Es läßt sich darum niemals mit der Verbesserung der Verfassung zu dem Zweck der politischen Freiheit des Einzelnen beginnen und unabhängig von der Ver64 65
Staatslehre 1817 Varnhagen 230,3–6. Staatslehre 1817 Varnhagen 230,22f.
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D. Thematische Fokussierungen
waltung damit schalten«.66 Schleiermacher nimmt also zur Verfassungsfrage, die er mit der Frage der politischen Freiheit des Einzelnen identifiziert, sehr abgewogen Stellung. Einerseits formuliert er die denkbar intensivste Verbindung von geistiger Orientierung des Einzelnen und seiner politischen Freiheit, andererseits knüpft er die politische Freiheit auch ganz an eine solche geistige Orientierung, an bestimmte Fähigkeiten und an Allgemeinwohlorientierung. Die Hauptlinie seiner Argumentation sieht nur einen einlinigen Zusammenhang: dass also erst geistige Orientierung in der Lebensführung eine politische Freiheit sinnvoll und möglich macht – während er keinen positiven Einfluss von der Gewährung politischer Freiheit hin auf die geistige Entwicklung sieht. Damit wehrt Schleiermacher allgemeine Forderungen nach einer Verfassung ab; zunächst müsse ein Volk eine entsprechende Entwicklungsstufe aufweisen. Für die Förderung einer solchen Entwicklung im Volk sieht Schleiermacher die Verwaltung in der Verantwortung. Sie solle und könne vorbereitend wirken und das richtige Bewusstsein hervorrufen. Wer also eine Verfassung mit politischer Freiheit wolle, muss alle Anstrengung in das richtige Wirken der Verwaltung setzen. Umgekehrt macht Schleiermacher dann aber auch deutlich, dass das gute Funktionieren der Verwaltung eine Verfassungsänderung nicht ersetzen kann. Wenn sich ein Volk weiterentwickelt, dann muss sich auch die Verfassungssituation mit entwickeln, dann muss eine Verfassung eingeführt oder die vorhandene Verfassung verändert werden. 2. Staatstypologie und ihre Kritik Als nächstes widmet Schleiermacher sich der üblichen Typologie der Staatsformen, in der zwischen Monarchie, Demokratie und Aristokratie unterschieden wird. Diese Unterscheidung hält er jedoch für ebenso unscharf wie diejenige zwischen den drei Gewalten. Vielmehr sieht er die drei Gewalten ineinander übergehen.67 Eine scharfe Trennung der Gewalten in der Realität würde die Einheit des Staates vernichten. Doch seine Kritik an diesen beiden üblich gewordenen Einteilungsschemata für Staaten fällt noch viel grundsätzlicher aus. Besonders klar hat Schleiermacher diese Kritik in seinem Akademievortrag »Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen«68 von 1814 ausgearbeitet. Daher sei die Argumentation dieses Textes nun nachgezeichnet. Schleiermachers These lautet, dass die Begriffe Monarchie, Demokratie und Aristokratie keine geeignete Grundlage für eine Gattungsbestimmung von Staatsformen darstellen, aber einen anderweitigen begrenzten wissenschaftlichen Erklärungswert haben. Das erste Argument ist gegenwartsbezogen. Dieses antike Dreier-Schema könnte die Eigenarten gegenwärtiger Staaten und ihrer Verfassungen nicht erfassen. Das 66
Staatslehre 1817 Varnhagen 231,7–9. Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 243. 68 In: KGA I/11, 95–124. 67
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zweite Argument weitet diese Kritik aus: auch bei antiken Staaten seien die einzelnen Staaten nicht trennscharf und eindeutig mit einem der drei Begriffe zu charakterisieren. Schleiermacher bezieht sich dabei insbesondere auf Differenzen zwischen geschriebenem Recht und tatsächlicher Struktur des politischen Lebens in den konkreten Staaten.69 Drittens – so die Kritik Schleiermachers – würde das Dreierschema die wirklich relevanten Unterschiede der Staaten nicht erfassen. Denn die für das Leben im Staat wirksamen Unterschiede wären zwischen einzelnen Staaten des gleichen Grundtyps zuweilen viel größer als zwischen konkreten Staaten, die verschiedenen Grundtypen angehören. Schließlich – und das ist sein stärkstes Argument – durchliefen die antiken Staaten meist alle oder zumindest zwei dieser Formen im Laufe ihrer Geschichte. Doch würde man da nicht von verschiedenen Staaten jeweils sprechen, sondern eben nur von der Entwicklung dieses einen Staates. Gemäß antiker Theorie von Art und Gattung sei ausgeschlossen, dass eine einzelne Entität nacheinander zu verschiedenen Arten (oder gar Gattungen) gehören kann. Wenn also ein Staat Monarchie, Demokratie und Aristokratie durchlaufen kann in seiner Entwicklung, können diese drei Begriffe keine Arten oder Gattungen beschreiben. Trotzdem aber kommt den drei Begriffen ein wissenschaftlicher Sinn zu: sie beschreiben nicht Arten von Staaten, sondern Entwicklungsstufen von Staaten. Wie die Reihung aussieht, ist vor Schleiermachers zeitgeschichtlichem Hintergrund wenig überraschend: die niedrigste Stufe ist die demokratische, die höchste Stufe ist monarchisch.70 Wenn also zur Typologie von Staaten nicht das antike Dreierschema von Demokratie, Aristokratie und Monarchie geeignet ist, dann besteht die Alternative darin, Staaten nach dem Kriterium einzuteilen, ob sie eine verfasste Gewaltenteilung haben oder nicht. Schleiermacher lehnt auch diese Typologie ab. Sein Haupteinwand besteht darin, dass die vorausgesetzte theoretische Möglichkeit, die drei Gewalten klar zu unterscheiden, gar nicht gegeben ist. Auch hier seien die einzelnen Schritte der Argumentation vorgestellt. Die theoretische Dreiteilung von Gewalten hält Schleiermacher für unangemessen. Die Judikative sei keine eigene Gewalt. Die Zivilgerichtsbarkeit gehöre zur gesetzgebenden Gewalt, während die Strafgerichtsbarkeit als »Kriegführung gegen den inneren Feind«71 Teil der vollziehenden Gewalt sei. Damit bleiben in der Theorie nur zwei unterschiedene Gewalten übrig. Der weitere Einwand Schleiermachers lautet, dass auch diese zwei unterschiedenen Gewalten sich im Staatsleben nicht präzise voneinander trennen lassen. Auch in Staaten, deren Verfassung das Prinzip der Gewaltenteilung umsetze, seien Verbindungen und Vermischungen zu beobachten. Überall würde man finden, »daß entweder das Organ welches die gesetzgebende Gewalt repräsentirt etwas von der vollziehen69
Vgl. KGA I/11, 101,33f. Vgl. KGA I/11, 124,8–10. 71 KGA I/11, 103,24. 70
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den, oder umgekehrt das die vollziehende Gewalt repräsentirende etwas von der gesetzgebenden an sich gezogen hat«.72 Schleiermacher stellt dann seine Auffassung vor, wie sich ganz prinzipiell Gesetzgebung und Gesetzesvollzug zueinander verhalten. Dies sei in jedem Staat gleich – in den organisatorischen Details aber gebe es höchst vielfältige Unterschiede, die sich in dieser Vielfalt auch nicht mehr für eine Typenbildung eignen. Schleiermacher setzt mit einer Grundüberlegung aus der Ethik an. Alles Leben sei durch die Form des Gegensatzes bedingt. Diese Gegensätze werden lebendig vermittelt durch zwei Reihen von Tätigkeiten: die eine Reihe von Tätigkeiten beginnt im ersten Pol des Gegensatz und endet im zweiten Pol; die andere Reihe von Tätigkeiten beginnt im zweiten Pol des Gegensatzes und endet im ersten Pol. Ohne diese vermittelnden Tätigkeiten würden die entgegengesetzten Pole auseinander fallen. Dieses Prinzip gilt auch für den Staat, der durch den Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten gekennzeichnet ist. »Wenden wir nun dies auf den Staat an: so wird auch sein Leben in zwei verschiedenen Arten von Thätigkeiten zu begreifen seyn, einer die in der Peripherie am Leibe das heißt bei den Unterthanen anfängt, und im Regenten endigt, und einer andern die im Regenten dem Geist und Mittelpunkt anfängt, und im Umkreise bei den Unterthanen endet«.73 Diese beiden gegenläufigen Bewegungen identifiziert Schleiermacher als gesetzgebende Tätigkeit und als vollziehende Tätigkeit. Die Gesetzgebung beginnt bei den Einzelnen, bei ihren Bedürfnissen und Erfahrungen. Aus diesen entstehen Vorschläge für Gesetze. Über Zwischeninstanzen (oder auch ohne) werden diese Vorschläge zu Gesetzen, welche die Regierung ausspricht. Das Aussprechen des Gesetzes vollendet damit das Gesetzgebungsverfahren und beginnt zugleich auch den Gesetzesvollzug. »Diesem Anfange wird sich die Thätigkeit der mit der Verwaltung beauftragten Beamten anschließen, deren System unstreitig die Organisation der vollziehenden Gewalt ist, aber vollendet ist die Vollziehung auch hier nur in der die Gesammtheit der Gesetze und nichts anderes darstellenden Gesammtthätigkeit der Bürger«.74 Unabhängig von der Staatsform und unabhängig von der sehr variablen organisatorischen Gestaltung gilt laut Schleiermacher dieser Zusammenhang ausnahmslos für jeden Staat: die Gesetzgebung beginnt bei den Bürgern und bei den Bürgern endet die Gesetzesvollziehung. In der Verlautbarung eines Gesetzes durch den Herrscher endet die Gesetzgebung und beginnt der Gesetzesvollzug. Es gibt also »nur Eine Art wie Beide vereinigt sind und getrennt«,75 daher kann anhand des Verhältnisses der Gewalten zueinander kein Kriterium für eine Staatstypologie gewonnen werden. 72
KGA I/11, 103,41–43. KGA I/11, 121,25–30. 74 KGA I/11, 123,7–11. 75 KGA I/11, 123,25. 73
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Wie die relative Verbindung und relative Trennung der Gewalten konkret zu organisieren ist, macht Schleiermacher von der eigentümlichen Wesensart eines Volkes abhängig. Es ist also nur vom jeweils bestimmten geschichtlichen Zustand her zu entscheiden. Wie Schleiermacher sich dies für die relativ höchste Entwicklungsstufe, für die Monarchie vorstellt, sei anhand der Vorlesung von 1817 weiter verfolgt. Die Monarchie ist vollkommen stabil, solange der Monarch nur nicht die Entwicklung des Volkes hemmt. In einer Monarchie kommt es zum Besten des Staates darauf an, dass die Mittelglieder zwischen Beherrschten und dem Monarchen gut organisiert und gestaltet sind. Diesen Mitgliedern weist Schleiermacher die Aufgabe zu, die Fehler des Volkes sowie des Monarchen »in Schranken zu halten«.76 Mit größerer Sicherheit gelingt diese Vermittlung und der Fehlerausgleich aber durch die öffentliche Meinung. Hört die monarchische Regierung »auf die öffentliche Meinung, so entsteht offenbar eine innige Übereinstimmung des Volks und des Regenten, und die Monarchie wird eine volksmässige«.77 Ausdrücklich markiert Schleiermacher Angst vor freier öffentlicher Meinung als kontraproduktiven Irrtum: »Von dieser Seite leuchtet es klar hervor, wie irrig die Ansicht von der Gefährlichkeit ist, die öffentliche Meinung frei zu lassen; gerade in dem Bewußtseyn der Kraft des Volks liegt das Streben gegen das Anarchische und die sicherste Unterordnung«.78 Wenn jedoch die Regierung durch entsprechende Maßnahmen dieses Vertrauen gefährdet, entsteht in der Bevölkerung die Forderung nach einer formell geregelten öffentlichen Meinung. Eine Möglichkeit dazu wäre ein Petitionsrecht an den Monarchen. Die andere Möglichkeit besteht in einer repräsentativen Versammlung, welche die Differenzen der Meinung in der Bevölkerung widerspiegelt. Dies kann nach der Differenz der Tätigkeiten oder nach lokalen Differenzen organisiert werden. Die Bedürfnisse der Bevölkerung sollen möglichst vollständig repräsentiert werden. Daher müssen sich die Kriterien für die Art der Repräsentation auch strikt an der Eigentümlichkeit des jeweiligen Volkes orientieren. Schleiermacher benennt einen möglichen Einwand gegen ein solches Repräsentationssystem, nämlich, dass dieses die Unterschiede in der Bevölkerung gerade festschreibe, statt auf ein gemeinschaftliches Bewusstsein positiv zu wirken. Diesen Einwand weist Schleiermacher zurück, indem er das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der »organischen Gesetzgebung« korreliert.79 Dabei sieht es Schleiermacher als essentiell an, dass die Repräsentanten »Männer von Einsicht seyn müssen«.80 76
Staatslehre 1817 Varnhagen 291,43. Staatslehre 1817 Varnhagen 293,13–15. 78 Staatslehre 1817 Varnhagen 293,20–24. 79 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 301. 80 Staatslehre 1817 Varnhagen 304. Obwohl die ersten Forderungen nach einem Frauenwahlrecht schon Ende des 18. Jahrhunderts erhoben wurden – z. B. in Frankreich von Olympe de Gouges – und der amerikanische Bundesstaat New Jersey 1776 zumindest vorübergehend das 77
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Der Denker harmonischer Geselligkeit befürchtet jedoch bei Wahlen, vor allem bei provinziellen Vertretungen, »tumultarisches«;81 je mehr Streit im Wahlprozess auftrete, umso weniger Vertrauen könne sich ausbilden zwischen Wählern und Gewählten. Schleiermacher begründet nun noch einmal, worin der Vorteil einer Verfassung für den Monarchen und für die Bevölkerung liegt. Eine Verfassung intensiviere das Gefühl der Zusammengehörigkeit hin zur gegenseitigen Liebe zwischen Monarchen und Bevölkerung. »Diese Liebe ist das reine Produkt der Verfassung«.82 Für die Bevölkerung bedeutet eine Verfassung, dass die Einzelnen ein höheres Gefühl von Würde verspüren: »In der Verfassung wird das frühere öffentliche Leben des Einzelnen wieder hervor gerufen und zwar auf eine höhere und schönere Weise; indem nun jeder Einzelne die ganze Dignität des Staats in sich ruhend fühlt«.83 Nachdem Schleiermacher ausführlich darlegt hat, dass eine Verfassung und eine gesetzgebende Versammlung den Monarchen in keiner Weise beeinträchtige und seine Macht nicht schwäche, widmet er sich noch der Umgebung des Monarchen: dem Hof. Hier sind zeitgenössische Anspielungen noch deutlicher als in den anderen Ausführungen: »Es ist das Zeichen eines würdigen Hofes, sich der Bildung der Verfassung nicht entgegen zu setzen, und keine Ansprüche auf politischen Einfluss machen zu wollen«.84 3. Theorie der öffentlichen Meinung Von der Theoriearchitektur her kommt der öffentlichen Meinung die Funktion zu, die mit dem Staat durch das Gesetz auftretenden Gegensätze zu vermitteln. Bei der materialen Durchführung der Staatslehre entwickelt Schleiermacher aber die Bedeutung der öffentlichen Meinung nicht vom Wesensbegriff des Staates aus, sondern speziell aus seiner Theorie der monarchischen Staatsform. Der Grundgedanke besteht darin, dass die Monarchie zur ihrem bestmöglichen Funktionieren, zu ihrer vollen Sinngestalt erst dann kommt, wenn in ihr die öffentliche Meinung sich frei artikulieren und ausprägen kann. Zur Argumentation im Einzelnen: Zunächst leitet Schleiermacher aus seinem Staatsbegriff ab, dass und warum die Monarchie die relativ vollkommenste Staatsform ist. Die (relativ) vollkommenste Staatsform ist diejenige, welche den Staatsbegriff am vollkommensten ausbildet und zur Geltung bringt. Insofern der Staat gekennzeichnet ist durch den Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten, ist der Staat da am vollkommensten, wo sich dieser GegenFrauenwahlrecht eingeführt hatte, erwähnt Schleiermacher diese Diskussion oder überhaupt die gedankliche Möglichkeit mit keinem Wort. 81 Staatslehre 1817 Varnhagen 304,35. 82 Staatslehre 1817 Varnhagen 309,24. 83 Staatslehre 1817 Varnhagen 310,6–9. 84 Staatslehre 1817 309,2–5.
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satz am klarsten zur Darstellung bringt. Dieser Gegensatz sei in der Monarchie »am stärksten gespannt, indem die eine Seite die ganze Masse des Volks, die andre allein der Monarch ist«.85 Ein solcher äußerst gespannter Gegensatz würde an sich zu einer Trennung, und damit zu einer Aufhebung des Gegensatzes führen. Inhaltlich würde die Trennung darin bestehen, dass der Monarch »die absolute Unfähigkeit den Gesichtspunkt der Unterthanen zu ergreifen«86 verkörperte, während die Untertanen ihrerseits absolut unfähig wären, sich dem Monarchen in ihren Bedürfnissen mitzuteilen. Es kommt jedoch nicht zu einer solchen Trennung, denn der vollkommene Gegensatz zwischen Herrscher und Beherrschten setzt die »größte Vermittlung«87 frei. Der größtmögliche Gegensatz ermöglicht so einen prinzipiell unendlichen Prozess von Vermittlung, Annäherung und Durchdringung. Einen zentralen Aspekt dieser Annäherung stellt sich Schleiermacher als Belebung und Steigerung des politischen Bewusstseins im Volk vor, womit ein Bewusstsein vom Ganzen des Staates und dem Gemeinwohl gemeint ist.88 Dieses politische Bewusstsein expliziert er an anderer Stelle auch als lebendige Freiheit des Volkes.89 Als Ergebnis seiner dialektischen Gedankenfigur beschreibt Schleiermacher den Vorzug der Monarchie, als deutlichster Ausprägung des herrschaftssoziologischen Gegensatzes, nun gerade durch die Annäherung und Vermittlung zwischen Herrscher und Beherrschten, welche sie am intensivsten ermöglichen würde. Es fällt auf, dass Schleiermacher seine grundsätzlich funktionale Beschreibung (Gegensatzbildung zwischen Obrigkeit und Untertanen) in personalen, emotionalen Kategorien konkretisiert und interpretiert. Das positive Verhältnis zwischen Monarch und Bevölkerung charakterisiert er in familialer Semantik: »Liebe«,90 »Vertrauen«91 und »innige Übereinstimmung«.92 Schleiermacher fasst seine Argumentation zusammen zu einer grundsätzlichen Wesensbestimmung der Monarchie: »Daher beruht die Natur der Monarchie in der Vermittelung und Durchdringung des Gegensatzes zwischen Volk und Regent; ihre Vollkommenheit in der Beschleunigung dieser Entwikkelung, ihre Unvollkommenheit in der Verzögerung derselben«.93 Der Prozess der Vermittlung bedarf der Mittelglieder. Deren vornehmste Aufgabe besteht darin, die 85
Staatslehre 1817 Varnhagen 288,14f. Staatslehre 1817 Varnhagen 288,17f. 87 Staatslehre 1817 Varnhagen 288,26. 88 Die Befürchtung, ein Wachstum des politischen Bewusstseins in der Bevölkerung würde zu Demokratie oder der Forderung nach Demokratie führen, weist Schleiermacher ausdrücklich zurück. Treue zum Ursprung eigne allen Wesen; daher auch dem Staatsvolk, dem die Ursprünge seines politischen Bewusstseins im Monarchen unvergesslich seien und das daher der Monarchie auch treu bliebe, vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 291. 89 Staatslehre 1817 Varnhagen 292,12. 90 Staatslehre 1817 Varnhagen 309,24. 91 Staatslehre 1817 Varnhagen 293,16. 92 Staatslehre 1817 Varnhagen 293,14. 93 Staatslehre 1817 Varnhagen 288,39–289,2. 86
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Handlungen von Bevölkerung und Monarchen zu »läutern«. Das primäre und wesentliche Medium der Vermittlung und Annäherung zwischen Monarch und Bevölkerung ist jedoch die öffentliche Meinung. Wenn der Monarch beständig und ersichtlich auf die öffentliche Meinung achtet, bildet sich eine »innige Übereinstimmung des Volks und des Regenten«.94 Nur, wenn der Monarch diesen Zustand gefährdet oder zerstört, wird die Bevölkerung die Forderung erheben, dass die öffentliche Meinung eine organisierte, feste Form erhalte. Das bedeutet, dass Schleiermacher eine solche Forderung eindeutig auf das Versagen der jeweiligen Monarchen zurückführt. Als feste Form öffentlicher Meinung fasst Schleiermacher das Petitionsrecht ins Auge. Als weitergehende Form nennt er eine gesetzgebende Versammlung. Diese bildet dann den »Durchgangspunkt aller vom Volk und vom König ausgehenden Gesetze«.95 Mit der verfassungsmäßig garantierten gesetzgebenden Versammlung sieht Schleiermacher die Vermittlung zwischen Volk und Monarch als gesichert an. Sie ist damit stabilisiert und auf Dauer angelegt. Damit eine gesetzgebende Versammlung wirklich die öffentliche Meinung in ihrer Vielfalt wiedergibt, kommt alles auf die Kriterien ihrer Besetzung an. Schleiermacher erwägt dafür das Kriterium der (beruflichen) Tätigkeiten oder das Kriterium der regionalen Differenz. Das müsse entsprechend der geschichtlichen Situation und entsprechend des Volkscharakters entschieden werden.96 Als hohes Ziel einer gesetzgebenden Versammlung sieht Schleiermacher »eine organische Gesetzgebung, gegründet auf dem Gefühle der Zusammengehörigkeit des Ganzen oder der Vaterlandsliebe«.97 Anschließend erwägt Schleiermacher mögliche Organe von öffentlicher Meinung. Für Schleiermacher soll die öffentliche Meinung durch eine gesetzmäßige Verfassung konstituiert werden.98 Die Bedeutung der öffentlichen Meinung führt Schleiermacher auch 1817/18 innerhalb seiner Monarchietheorie ein. Die öffentliche Meinung kommt ins Spiel, um eine Aporie der monarchischen Staatsordnung abzumildern oder aufzufangen. Die Monarchie ist dadurch ausgezeichnet, dass der Monarch rein und ausschließlich das gemeinschaftliche Interesse vertritt. Das ist ihm nur deshalb in völliger Reinheit möglich, weil er kein Privatinteresse haben kann – denn sein Amt ist erblich und er beteiligt sich nicht am Erwerbsleben. Weil er also keinerlei Privatinteressen, d. h. also keine ökonomischen oder damit verbundenen politischen Interessen hat – so Schleiermachers Theorie – kann er rein sachorientiert und unparteilich den ökonomischen Prozess leiten. Schleiermacher verwendet 94
Staatslehre 1817 Varnhagen 293,14. Staatslehre 1817 Varnhagen 294,36f. 96 »Die größte Weisheit in dem bildenden Prinzip der Repräsentation liegt wohl darin, die hervortretende Eigenthümlichkeit und Thätigkeit des Ganzen, seine Lage und Bedürfnisse zu begreifen, und in ihnen den Theilungs Grund zu erkennen« (Staatslehre 1817 Varnhagen 302,2–5). 97 Staatslehre 1817 Varnhagen 301,37–39. 98 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 297. 95
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hierfür die Begrifflichkeit »Nationaltätigkeit« oder auch »Staatswirtschaft«; damit bezieht er sich auf seinen Staatsbegriff, welcher die menschliche Gemeinschaft hinsichtlich des Naturbildungsprozesses bezeichnet. Nationaltätigkeit99 bezeichnet das, was unmittelbar zu diesem Naturbildungsprozess gehört. Um diesen also rein gemeinschaftsorientiert leiten zu können, ist der Monarch daran nicht beteiligt mit der Folge, dass er auch keine (auf Erfahrung beruhenden) Kenntnisse dessen hat, was er leiten soll. Zugespitzt formuliert: die moralische Befähigung des Monarchen impliziert zugleich die sachliche Unfähigkeit der Monarchen. Das hat zur realen Folge, dass »in der Monarchie der Act der National Thätigkeit ganz freygelassen ist«.100 Lakonisch kann man da mit Schleiermacher nur anmerken: »Dieses Uebel ist aber ein sehr großes«.101 Zur Rettung aus diesem Übel lässt Schleiermacher zwei Instanzen aufmarschieren: als erstes die Verwaltung mit einem Widerspruchsrecht gegen den Monarchen. Doch diese Instanz bedeutet keine dauerhafte Rettung, denn, »wenn die National Thätigkeiten verwikkelter werden, so stehen die Organe endlich eben so fremd dieser Thätigkeit gegenüber, als der Monarch selbst«.102 Die wahre Rettung muss also von anderwärts her kommen: die öffentliche Meinung bringt die Kenntnisse von der Nationaltätigkeit ein, worin die öffentliche Meinung dann auch von der Verwaltung zu berücksichtigen ist.103 Schleiermacher plädiert dann aber auch 1817/18 für eine organisierte Repräsentation der öffentlichen Meinung, allerdings mit ganz anderen Argumenten. Nicht kontraproduktives Regierungshandeln oder Achtlosigkeit des Monarchen, sondern die Verfasstheit der öffentlichen Meinung selbst verlangen nach einer organisierten Form derselben: die formlose öffentliche Meinung – so Schleiermacher 1817/18 – »die sich durch die Gespräche durch Schriften vielfach äußert, kann nur sehr verworren seyn«.104 Die Repräsentation der öffentlichen Meinung stellt sich Schleiermacher als ein Gremium vor. Nun macht Schleiermacher argumentativ eine Unterscheidung geltend, die sein Konzept von öffentlicher Meinung bestimmt: er unterscheidet herrschende Meinung von öffentlicher Meinung. Die Repräsentanten sollen demzufolge auch nicht die herrschende Meinung vortragen, sondern die »allgemeine Meinung«, also das aussprechen, was sie für das Beste halten.105 Dazu aber sind sie 99 Nationaltätigkeit definiert Schleiermacher wie folgt: »Die Nationalthätigkeit besteht darin, daß der Boden beherrscht und die Natur überhaupt dem Menschen dienstbar gemacht wird, daß die Homogenitaet der Menschen erhalten, und die Krafft dieser homogenen Menschen nicht nur erhalten, sondern immer weiter entwikkelt werde« (Staatslehre 1817/18 Goetsch 432,26–30). 100 Staatslehre 1817/18 Goetsch 411,37f. 101 Staatslehre 1817/18 Goetsch 411,38f. 102 Staatslehre 1817/18 Goetsch 412,29–31. 103 Des Weiteren sieht Schleiermacher auch eine weitgehende kommunale Selbstverwaltung vor, in der dann Kompetenz für die zu regelnden Angelegenheiten ausreichend vorhanden ist. 104 Staatslehre 1817/18 Goetsch 419,13–15. 105 Vgl. Staatslehre 1817/18 Goetsch 420.
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nur in der Lage, wenn Pressefreiheit herrscht, wenn also die formlose öffentliche Meinung sich ungehindert artikulieren und bilden kann. Nur dann können die Repräsentanten ihre einseitige und beschränkte Perspektive erweitern und sich auf das Ganze beziehen. Die repräsentierte öffentliche Meinung ist für ihr Funktionieren essentiell auf die formlose öffentliche Meinung angewiesen. Damit weist Schleiermacher der formlosen öffentlichen Meinung und der mit ihr verbundenen Pressefreiheit eine essentielle Funktion für die staatliche Ordnung zu. Die öffentliche Meinung ist eine eigene politische Größe. Sie ist zugleich das Medium, in dem sich die verschiedenen politischen Instanzen vermitteln. Indem Schleiermacher die positive Wirkung der Pressefreiheit aufzeigt, ist er zugleich um den Nachweis bemüht, dass aus der Pressefreiheit keinerlei negative Konsequenzen für den Staat erwachsen. Weder sei die Pressefreiheit schädlich für die Autorität des Monarchen, noch befördere sie revolutionäre Tendenzen. Entsprechend den Argumenten, die er für die Bedeutung öffentlicher Meinung ins Feld führt, formuliert er die Verbindlichkeit der öffentlichen Meinung für den Monarchen stärker als noch 1817. In Schleiermachers auch sonst geübter Sprechweise klingt das so: Wo »das Bewußtseyn in der Masse reif wird, so können wir nicht anders denken, als dass er sich nach der öffentlichen Meinung richten würde«.106 Diese rhetorische Strategie der Kritik durch Überaffirmation verwendet Schleiermacher sehr oft. So einfach und grundsätzlich Schleiermacher die Bedeutung der öffentlichen Meinung noch 1817 erörtert hatte, so sehr bemüht er sich 1817/18 auch die Problemdimensionen im politischen Wirken der (formlosen) öffentlichen Meinung auszuloten. Die erste Problemdimension besteht in ihrer empirischen Unfassbarkeit. Es ist nicht eindeutig auszumachen, was die öffentliche (oder auch die herrschende) Meinung ist,107 denn in der erfahrbaren Wirklichkeit begegnen nur jeweils individuelle, einzelne Meinungen, deren Subjekte immer Einzelpersonen sind. Als zweite Problemdimension benennt Schleiermacher, dass bei einem entwickelten politischen Bewusstsein Meinung auch gleichzeitig Wille wird, dass also die öffentliche Meinung auch einen bestimmten politischen Willen ausbildet. Öffentliche Meinung bleibt also nie nur »Meinung«. Öffentliche Meinung drängt auf politische Gestaltung. Schleiermacher ordnet seine monarchietheoretische Fassung des Begriffs der öffentlichen Meinung ein in die Entwicklung der monarchischen Staatsform. Die Monarchie entwickelt sich aus ihrer eigenen Struktur heraus zu einer konstitutionellen Monarchie. Die Freiheit der öffentlichen Meinung stellt dabei einen Entwicklungsschritt dar und fungiert dann als dynamische Kraft der weiteren Entwicklung hin zu einer Verfassung. Doch Schleiermacher sieht auch die Grenzen des Entwicklungsgedankens. So bemerkt er hinsichtlich der Verfassung: 106 107
Staatslehre 1817/18 Goetsch 415,26–28. Vgl. Staatslehre 1817/18 Goetsch 413.
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»Denken wir uns den Staat im ruhigen Zustande, so kann es im Uebrigen überall fortschreiten nur die Verfassung kann sich nicht bilden, sie muß gemacht werden«.108 Die Schlussfolgerung, die Schleiermacher zieht, ist von unnachahmlich lakonischer Nüchternheit: »Und hierin liegt, daß der erste Anfang Unannehmlichkeiten hat«.109 Die Erinnerung an die geschichtlichen Erfahrungen der Zeitgenossen dient Schleiermacher zur Mahnung, solche Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen. In der Realgeschichte habe diese Entwicklung meistens gewalttätige Züge angenommen. Verfassungen wurden durch Revolutionen eingeführt. Daher könne die politische Kunst »nicht anders wollen, als die Revolution zu verhüthen. Sie muß darnach trachten die Verwaltung liberal zu machen, ferner die Opposition in der Meinung so zu mäßigen, daß keine gewaltsame Explosion entstehen kann; sie muß die Opposition in allen Theilen der Volksbildung abzuschleifen suchen, damit eine monarchische Durchbildung statt finden könne«.110 Wenn man unterstellt, dass Schleiermacher damit eine eigene politische Stellungnahme vorträgt, dass er hier sein politisches Konzept für die preußischen Reformen andeutet, so fällt auf: hier als einer der ganz wenigen Belegstellen verwendet er den Begriff »liberal«.111 Er bezieht ihn hier auf die Verwaltung, diese ist zu liberalisieren. Dieses Stichwort hat hier eindeutig rein positive Bedeutung. Der Gedanke der Verwaltungsliberalisierung wird als (einzige) politische Alternative zur Revolution eingeführt. Das verleiht dieser Empfehlung die Dringlichkeit. Die Liberalisierung der Verwaltung verbindet Schleiermacher aber mit dem Ziel, in der Volksbildung eine monarchische Durchdringung zu erreichen. Was die Meinungsbildung betrifft, ist hier nicht von einer größeren Freiheit die Rede oder von einer intensivierten Auseinandersetzung. Sondern er schlägt eine einseitige Maßnahme vor, nämlich die Opposition zu mäßigen und abzuschleifen. Mit diesem Konzept setzt Schleiermacher alles auf die Reform der Verwaltung. Damit entspricht Schleiermacher auch hierin der vorgetragenen historischen Einordnung als Vertreter eines Verwaltungsliberalismus. Zusammengefasst lautet die Argumentation von 1817/18: Die Entwicklung der Monarchie erzeugt als einen ihrer Entwicklungsschritte die Freiheit der öffentlichen Meinung. Diese Entwicklung mündet – dynamisiert durch die öffentliche Meinung – in der organisierten öffentlichen Meinung, einer gesetzgebenden Versammlung, durch eine Verfassung. Die Monarchie bildet sich aus ihrer strukturellen Grundverfassung fort zu einer konstitutionellen Monarchie. Diese 108
Staatslehre 1817/18 Goetsch 421,4–6. Staatslehre 1817/18 Goetsch 421,6f. 110 Staatslehre 1817/18 Goetsch 417,34–39. 111 In diesem Kontext begegnet der Ausdruck auch in folgendem Satz: »Das Bedürfniß nach einem andern Zustande, nachdem der Staat schon einen liberalen Karakter angenommen hat und die allgemeine Anerkennung, die öffentliche Meinung, da ist, kann nur durch den Weltverkehr entstehen« (Staatslehre 1817/18 Goetsch 417,23–26). 109
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D. Thematische Fokussierungen
ist dadurch gekennzeichnet, dass in dieser »höchsten Bildung des Staats bey der Verfassung [. . . ] die öffentliche Meinung das Eigenthümliche« ist.112 Inbegriff staatlichen Lebens ist die freie öffentliche Meinung. 1829 begegnen wir einem noch wesentlich dezidierter eingestellten Schleiermacher. Aufbau und Ort der Argumentation haben sich leicht verschoben, mit bedeutenden Auswirkungen für das Thema selbst. Diesmal behandelt er das Verhältnis von Herrschen und Beherrschtwerden in den verschiedenen Staatsformen; zuerst in der Demokratie, dann in der Aristokratie bzw. Monarchie. Dieses Verhältnis gewinnt seine institutionelle Gestalt in der gesetzgebenden Versammlung. Daher also beschreibt Schleiermacher die gesetzgebende Versammlung in der Demokratie, dann in der Monarchie. Drei Aspekte sind daran bemerkenswert: Schleiermacher findet in der demokratischen Staatsform keinerlei Defizite – außer, dass sie nicht für einen großen Staat geeignet ist. Des Weiteren wird die Bedeutung der gesetzgebenden Versammlung nicht aus einer Theorie der Monarchie abgeleitet wie noch 1817/18, sondern daraus, dass einsichtigen, mündigen Bürgern nicht die Mitgestaltung verweigert werden kann, also aus dem Begriff des mündigen Bürgers. Und schließlich spricht Schleiermacher der formlosen öffentlichen Meinung den Status einer politischen Instanz ab; er ordnet sie der freien Geselligkeit zu. Im Folgenden sei Schleiermachers Argumentation im Einzelnen vorgestellt. In der Demokratie konzipiert Schleiermacher eine gesetzgebende Versammlung, der alle Bürger angehören113 sowie vorbereitende Versammlungen, in welche Repräsentanten geschickt werden. Mit dem Gedanken von vorbereitenden Versammlungen greift Schleiermacher die Grundidee von repräsentativer Demokratie auf. Die Grundanforderung für beide Versammlungen besteht darin, die Meinungsdifferenzen, die sich aufgrund der Arbeitsteilung und der mit ihr verbundenen Verschiedenartigkeit der Erfahrung notwendig ergeben, auszumitteln. Die Ausgleichung dieser Ansichten geschieht vor allem in den vorbereitenden Versammlungen, indem die Repräsentanten ihrer Gebiete oder ihrer Arbeitsbereiche von ihren Erfahrungen einander mitteilen und gemeinsam Vorschläge für neue Gesetze erarbeiten. In diesem ganzen Kontext verwendet Schleiermacher nicht ein einziges Mal das Stichwort ›öffentliche Meinung‹ – stattdessen spricht er von »Einheit der Ueberzeugung«,114 »wahre Vereinigung der Meinungen«,115 die zu einem allgemeinen Willen führen, der Gesetz wird. Schleiermacher schließt: »es kann diese Organisation für diesen Staat der kleinsten Ordnung beständig fortdauern außer sobald das Bedürfnis zu einer größeren Staatsform entsteht«.116 112
Staatslehre 1817/18 Goetsch 442,38–40. Schleiermacher denkt natürlich nur an männliche Bürger. 114 Staatslehre 1829 Willich 579,34f. 115 Staatslehre 1829 Willich 579,16f. 116 Staatslehre 1829 Willich 580,20–22. 113
II. Das Wesen des Staates
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In der Monarchie muss auch eine gesetzgebende Vertretung eingeführt werden, so Schleiermacher, weil ansonsten die Bevölkerung zu Recht immer unzufrieden sein wird. Als Erstes nennt Schleiermacher ein prinzipielles Argument: wenn die Bevölkerung nicht einbezogen wird in die Gesetzgebung, wird sie eine generelle »natürliche Opposition«117 empfinden gegenüber neuen Gesetzen, unabhängig von deren Qualität. Zweitens wird mit zunehmender politischer Einsicht in der Bevölkerung der Drang größer werden, diesen auch geltend zu machen – bis hin zu revolutionären Anwandlungen. Drittens kann die politische Einsicht der Bevölkerung über das Medium der öffentlichen Meinung vielleicht einen gewissen Einfluss gewinnen, aber dieser Einfluss bleibt informell und damit ungesichert. Außerdem ist die öffentliche Meinung nicht dem staatlichen Leben als solchem zuzuordnen, sondern dem »Privatverkehr«.118 »Wir denken uns nun aber, dass der Einsicht welche sich in den Beherrschten gebildet hat, ein Weg gebahnt wird um ihren Einfluß im Staat geltend zu machen – so werden wir auch hier neben der Gesetzgebung und Vollziehung als den beiden wesentlichen Functionen im Staat jene beiden Zwischenpunkte, die wir in der Democratie bemerkt haben, berüksichtigen«.119 Ausdrücklich bezieht Schleiermacher sein Modell für die konstitutionelle Monarchie auf demokratische Elemente zurück. Als wären seine Ausführungen noch immer nicht deutlich genug, merkt er auch noch eigens an, dass ein Staat seine vollkommene Form erst erreicht hat, wenn er eine solche eingesetzte gesetzgebende Versammlung hat. Auch an dieser Stelle erscheint nun die formlose öffentliche Meinung nur als Vorstufe und in politischer Hinsicht ungenügend. 1833 trägt Schleiermacher über weite Strecken nur Details zur Organisation einer gesetzgebenden Versammlung vor. Ingesamt fügen sich Schleiermachers Vorstellungen von Sinn und Funktion der öffentlichen Meinung ganz in die zeitgenössische Debatte ein. Nach 1813 wurde der Begriff »öffentliche Meinung« zu einem Schlagwort, das sich mit der Hoffnung und Vision einer von der öffentlichen Meinung getragenen konstitutionellen Monarchie verband.120 »Öffentlichkeit« wurde konzipiert als »das Medium, durch das und innerhalb dessen sich das Volk als politischer Körper konstituierte«.121 Wolfes hebt aber mit Recht hervor, dass sich bei Schleiermacher anders als bei den meisten seiner Zeitgenossen, keine explizite Einschränkung der Träger der öffentlichen Meinung auf das gebildete Bürgertum findet. Schleiermacher schließt niemanden aus, er übt keine soziale Exklusion. Öffentliche Meinung versteht er also als Prinzip der Teilhabe des gesamten Staatsvolkes an den staatlichen Gestaltungsfragen. Zum Begriff der öffentlichen Meinung gehört, dass sich durch sie und in 117
Staatslehre 1829 Willich 582,6. Staatslehre 1829 Willich 582,25f. 119 Staatslehre 1829 Willich 582,31–36. 120 Vgl. dazu Hölscher: Art. Öffentlichkeit, 454. 121 Hölscher: Art. Öffentlichkeit, 456. 118
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D. Thematische Fokussierungen
ihr die verschiedenen Ansichten und individuellen Erfahrungen ausmitteln und so der Gegensatz von einzelnem Dasein und gemeinschaftlichem Dasein sich kommunikativ vermittelt. 4. Politikbegriff Schleiermacher spricht selten von Politik, er definiert den Begriff auch nicht. In der Forschung wurde ein Vorschlag zu einer solchen Definition unterbreitet, der sich auf verschiedene Einzelstellen stützen kann und der sich gut in Schleiermachers Theorie einfügt: Politik »bezeichnet die lebendige ›Wechselwirkung‹ zwischen Regierung und Regierten zur Ermittlung eines gemeinsamen Willens, der die Form des Gesetzes erhält«.122 Schleiermacher legt dar, dass Inbegriff des Staates dessen Entwicklung ist, dass Staatlichkeit grundsätzlich als Prozess auftritt. Für die Gestaltung von Politik kommt es nun darauf an, das angemessene Gestaltungstempo zu finden; es darf weder zu schnell noch zu langsam sein. Das angemessene Gestaltungstempo richtet sich nach dem jeweiligen Staat und nach dessen Situation. Im Umkehrschluss heißt das, und so schreibt Schleiermacher auch explizit, dass auch ein zu langsames Wandlungstempo Staatlichkeit gefährdet oder gar aufhebt. Schleiermachers Staatstheorie kann daher als Legitimation der preußischen Reformen gelesen werden. Schleiermachers derart rekonstruierter Politikbegriff zeichnet sich also durch folgende Merkmale aus: Subjekte von Politik sind nicht allein die Regierenden oder staatliche Entscheidungsträger, sondern alle Bürger.123 Thema und Gegenstand der Politik bildet das Verhältnis zum Boden, d. h. zu den materiellen Lebensgrundlagen. Damit begrenzt Schleiermacher den Bereich des politischen Wirkens und seinen Gestaltungsauftrag. Ziel und Wirkung von Politik sind Gesetze. Ihren Maßstab bildet die Sitte, welche sich im und durch das Zusammenleben eines Volkes, gegebenenfalls auch durch erlassene Gesetze, ständig weiter verändert. Damit vertritt Schleiermacher einen empirisch-analytischen Politikbegriff.
So von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 321. Er bezieht sich dabei auf eine Stelle aus der Philosophischen Ethik, 99: »Innerhalb des Staatszweckes kann der Unterthan als solcher nur streben nach lebendiger Wechselwirkung mit der Obrigkeit, welches gleich ist mit der Selbsterhaltung des Staates.« Die zweite Bezugsstelle findet sich im Akademievortrag »Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen« (KGA I/11, 95–124, hier 108,26f ): »Denn nur in der Vermittlung dieses Gegensatzes ist das wirklich bewusste Leben des Staates.« 123 In dieser allgemeinen Hinsicht müsste auch Schleiermacher die Bürgerinnen als Subjekt von Politik verstehen; es gibt dazu aber keinerlei explizite Äußerung. 122
III. Die Freiheit des Einzelnen
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III. Die Freiheit des Einzelnen. Risikofaktor staatlicher Gemeinschaft Hochpathetische Reden auf die Freiheit, begründet mit der Selbstzwecklichkeit des Menschen, waren seit der Französischen Revolution, dem Zeitalter der Aufklärung und der Epoche des Sturm und Drang an der Tagesordnung. Auch 220 Jahre später, nach den Erfahrungen totalitärer Regime im 20. Jahrhundert lautet eine uns selbstverständliche Gedankenfigur: menschliche Freiheit geht staatlicher Herrschaft voraus. Staatliche Herrschaft dient menschlicher Freiheit und ihrer Sicherung, hat an der Freiheit des Einzelnen seine Grenze und bringt diese auf ihren institutionellen Begriff. Irritierend sticht dagegen Friedrich Schleiermachers Staatslehre hervor: selten fällt das Stichwort Freiheit des Einzelnen oder menschliche Freiheit;124 keine Argumentation zu Gestalt und Legitimation des Staates beginnt beim Gedanken der menschlichen Freiheit; die Grenzen des Staates werden nicht unmittelbar durch eine Theorie menschlicher Freiheit bestimmt. Hat Schleiermacher einen zentralen, ja den zentralen Problemkern neuzeitlichen Staatsdenkens übersehen? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden: Welche argumentative Funktion hat die Freiheit des Einzelnen in der Staatstheorie Schleiermachers? Und noch umfassender gefragt: Wie wird überhaupt der Einzelne Thema in seiner Staatslehre? Zur Erinnerung ist ein kurzer Blick auf seine Staatsbestimmung nötig. Den Staat in seinem Wesen bestimmt er durch den Übergang von Nichtstaatlichkeit zu Staatlichkeit. Dabei entsteht der Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen. Wie bildet sich dieser Gegensatz aus? Indem die Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeit der Menschen diesen bewusst wird. Mit dem Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit im Handeln entsteht im Einzelnen zugleich auch das Bewusstsein seiner davon abweichenden Eigentümlichkeit. Durch das Unterordnen dieser persönlichen Eigentümlichkeit unter das Ganze und Gemeinschaftliche, wird der Mensch Teil des Staates. Das Gemeinschaftliche, die gemeinsame Sitte, wird im Gesetz ausgesprochen. So geschieht die Unterordnung unter das Gemeinschaftliche als Unterordnung unter das Gesetz. Der Gegensatz bildet sich also aus, indem durch das Bewusstsein der Gemeinsamkeit ineins das Bewusstsein der Differenz des Gemeinsamen und Individuellen entsteht und diese Differenz handlungspraktisch zugunsten der Unterordnung des Individuellen unter das Gemeinsame aufgelöst wird. Das Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit bezieht sich seinem Gehalt nach auf das gemeinsame Verhältnis zum Boden, also auf die gemeinsame Naturbeherrschung. Damit sind nun alle Elemente der Wesensbestimmung des Staates vollständig: das Bewusstsein von Gemeinschaftlichkeit hinsichtlich des Bodens, ein Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten 124 »Einfluß dessen was die Bürger als Einzelne thun, also außerhalb des Staates liegend. Eigentlich nur das Gebiet der persönlichen Reibungen.« (Staatslehre 1829 79,29–31).
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D. Thematische Fokussierungen
in dieser Gemeinschaft, in dem die gemeinschaftliche Sitte als Gesetz ausgesprochen wird. Alles, was außerhalb dieses Relationsgefüges liegt, liegt außerhalb der staatlichen Sphäre. Der Einzelne wird bei Schleiermacher nun dreifach zum Thema: insofern er Untertan ist, also als Teil der Gemeinschaftlichkeit bezogen auf den Boden innerhalb des Gegensatzes von Obrigkeit und Untertan. Zweitens durch all diejenigen seiner Lebensvollzüge, die nicht zum Verhältnis auf den Boden gehören, die also außerhalb des Staates liegen, zu denen der Staat sich aber in ein Verhältnis setzen muss, da es dieselben Personen betrifft, die auch seine Untertanen sind. Der Einzelne kommt also in Betracht, insofern er als Untertan zugleich auch Nichtuntertan ist. Drittens wird der Einzelne dadurch thematisiert, dass er in sich die Differenz von Untertan und Nichtuntertan bewältigen muss. Das ist die formale Beschreibung, die meine Ausführungen gliedern wird. Konkreter beschäftigen Schleiermacher dabei Arbeitsteilung, Korruption, das Verhältnis vom Staat zur Kirche, Wissenschaft und freier Geselligkeit, dann die politische Gesinnung, und nebenbei entwickelt er auch noch eine Theorie des Volksfestes. 1. Der Einzelne als Untertan Das identische Organisieren ist die Sphäre des Staates. Das Gesetz drückt das aus, indem es das für alle gleichermaßen geltende Gebot ist, das sich auf die Einzelnen bezieht, insofern sie gleich sind und die gleiche Vernunft in ihnen wirkt. Trotzdem ist auch der Staat damit konfrontiert, dass die Einzelnen als Untertanen nicht gleich sind. Die Problemanzeige lautet: Das Untertanenverhältnis bezieht sich auf die menschliche Herrschaft über den Boden. Im Laufe der Zeit differenziert sich diese Herrschaft zu einer arbeitsteiligen Herrschaft aus. Die Arbeitsteilung bedeutet ein je verschiedenes Anteilhaben an der Herrschaft über den Boden. Diese je verschiedenen Arbeitstätigkeiten bringen mit sich jeweils spezifische und einseitige Erfahrungen. Durch solche unterschiedlichen Erfahrungen, die sich Schleiermacher als regional und berufsspezifisch, also nicht individuell differenziert denkt, setzen sich die Einzelnen in ein je verschiedenes Verhältnis zum Ganzen. Erfahrungsdifferenzen haben wiederum je verschiedene Ansichten über diese Herrschaft über den Boden und das Staatswesen und seine förderliche Entwicklung zur Folge. Auch differenziert sich die Sitte aus. Da kann auch die Gesetzgebung »nicht mehr dieselbige Simplicität haben als vorher«, die Gesetzgebung ist nicht mehr das schlichte Aussprechen von geteilter Sitte.125 Insofern die Staatsbürger an der Gesetzgebung beteiligt sind – in einer konstitutionellen Monarchie oder in einer Demokratie – treten diese erfahrungsbegründeten Meinungs-Differenzen als das grundlegende Problem im Gesetzgebungsverfahren auf. Wie soll dieses Problem der arbeitsteilungsbasierten Differenzen der Untertanen in der Gesetzgebung gelöst werden? 125
Staatslehre 1829 Willich 579,4f.
III. Die Freiheit des Einzelnen
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Werden die Meinungsdifferenzen nur durch Mehrheitsbeschlüsse behandelt, dann stellt das für Schleiermacher eine mangelhafte, weil instabile Lösung dar. Die überstimmte Minorität oder Minoritäten würden dann erstens nur auf die Gelegenheit warten, ihre Ansicht zum Gesetz zu machen. Zweitens würde die Minorität dann zwar die Gesetze ausführen, aber nicht mit derselben »Lust und Liebe« wie diejenigen, die von der Richtigkeit des Gesetzesinhalts überzeugt sind.126 Vielmehr muss es das Ziel im Gesetzgebungsverfahren sein, eine »wahre Vereinigung der Meinungen« zu bewirken.127 Eine solche Vereinigung von Meinungen stellt Schleiermacher sich als »Ausgleichung von Erfahrungen« vor.128 Eine wesentliche Aufgabe für den Staat ist es also, die differenten Erfahrungen zu vermitteln. Für diesen Ausgleich der Erfahrungen sieht Schleiermacher folgendes konkretes Mittel: Es müssen vorbereitende Versammlungen vor der eigentlichen gesetzgebenden Versammlung stattfinden. Verschiedene Vorschläge für Gesetze werden gesammelt und die verschiedenen Ansichten vorgebracht. In diesen kleinen Versammlungen bereitet sich die Vereinigung der Ansichten vor. Solche Versammlungen können nun jeweils auch sinnvoll nach einem der beiden Modifikationsgesichtspunkte der Erfahrungen organisiert werden: entweder nach dem Beruflichen, d. h. also von den Ständen her, oder nach den regionalen Differenzen, also lokal organisiert. Schleiermacher äußert keinerlei Überlegungen dazu, wie die Ausgleichung der Erfahrungen sich vollziehen soll, welche Strukturen dafür eine Rolle spielen. Hinweise gibt er jedoch zu diesem Problem für den Fall, dass die Bevölkerung nicht an der Gesetzgebung beteiligt wird, dass also keine gesetzgebenden Versammlungen stattfinden können – ein von Schleiermacher als gefährlich eingestufter Zustand. In diesem Fall jedoch gewinnen die politischen Einsichten und Meinungen einen formlosen Einfluss: nämlich als öffentliche Meinung. Diese hat damit aber keinen Ort im Staat, sondern im Privatverkehr, also in der freien Geselligkeit. Um eine solche Art der politischen Einflussnahme zu steigern, muss man dann die freie Geselligkeit intensivieren. Hier bietet Schleiermachers Theorie große Potentiale, die er freilich selbst nicht ausgeschöpft hat. Nach der Differenz der Einzelnen als Untertanen ist nun noch der einzelne Untertan in einer weiteren Hinsicht problematisch: bezüglich seiner Gemeinwohlorientierung im Verhältnis zu seinem Einzelinteresse. Der Staat ist darauf angewiesen, dass der Einzelne im Staatlichen und was das Staatliche betrifft primär gemeinwohlorientiert handelt und nicht primär von seinen Einzelinteressen ausgeht. Diese »Duplicität des Gemeingeistes und der Persönlichkeit« in jedem Einzelnen129 und des möglichen Konfliktes und falscher Prioritätensetzung sei 126
Staatslehre 1829 Willich 580,1. Staatslehre 1829 Willich 579,16f. 128 Staatslehre 1829 Willich 579,15. 129 Staatslehre 1833 186,12f. 127
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D. Thematische Fokussierungen
nun wieder bei der Gesetzgebung betrachtet. In einer gesetzgebenden Versammlung wechseln die Beteiligten ihre funktionale Rolle: von Untertan zu Obrigkeit. Verbunden mit diesem funktionalen Wechsel ist für Schleiermacher per se ein Perspektivenwechsel: »In der VolksVersammlung ist ihnen die Zusammengehörigkeit das unmittelbar gegenwärtige, und das Einzelleben tritt zurük. In der Geschäftsführung, wenn wir auch den Gemeinsinn als durchaus herrschend annehmen [. . . ] ist ihnen das Einzelleben das unmittelbar gegenwärtige und sie sind in der Wahrnehmung des Einflusses den die Gesezgebung auf das Bestehn der Familien ausübt, d. h. sie sind in der Sammlung politischer Erfahrungen begriffen«.130 Der Perspektivenwechsel durch Funktionswechsel vollzieht sich aber nicht so notwendig, dass er nicht auch unterbleiben könnte. Da können unter dem Schein des öffentlichen Nutzens Privatinteressen geltend gemacht werden; Auswirkungen hat das dann, wenn die Rhetorik als die Kunst der Überredung in diesen Dienst gestellt wird, wie im Falle der Demagogen.131 »Das Uebergewicht des PrivatInteresses über den Gemeingeist ist in der That die wesentliche Formel für alle Corruption im Staat«.132 Das Staatswesen ist also beständig dadurch bedroht, dass im Staatlichen der Einzelne nicht oder nur scheinbar als Untertan handelt, oder die Obrigkeit nicht als Obrigkeit. Daher konstatiert Schleiermacher in allen Staatsformen ein Misstrauen der Beherrschten gegen die Herrschenden und ein Misstrauen der Herrschenden gegenüber der Masse. Dieses Misstrauen hat seinen Grund in der Furcht, dass die Obrigkeit und die Untertanen jeweils nicht aus dem Gemeingeist handeln, sondern aus »dem Impuls des Einzellebens«.133 Zwar kann erst im Staat diese Differenz von Gemeinsamem und Einzelleben ins Bewusstsein treten, genauer: Staatswerdung ist die Bewusstwerdung dieser Differenz und zugleich die Trennung des Differenten. Aber im Staat gefährdet sie zugleich permanent das Staatliche. Im staatlichen Zustand gibt es den Staat und das außerhalb des Staates liegende Einzelleben als Einzelleben. Alles Misstrauen im Staat zwischen Obrigkeit und Untertanen entsteht also aus Angst vor einer Vermischung der Orientierung am Gemeinsamen und der Orientierung an Impulsen aus dem Einzelleben. Diese von Schleiermacher sogenannten Impulse aus dem Einzelleben umfassen alle nur möglichen Ausrichtungen des Einzellebens: also nicht nur das Interesse an persönlicher Vorteilsmaximierung, sondern auch alle menschlichen Handlungsformen außerhalb des Staatlichen: individuelles Symbolisieren, individuelles Organisieren sowie das identische Symbolisieren. Insofern dies sich organisiert, richtet sich das Misstrauen der Herrschenden gegen Kirche, Wissenschaft 130
Staatslehre 1829 90,25–32. Vgl. Staatslehre 1829 Willich 617. 132 Staatslehre 1829 Willich 616,12–14. 133 Staatslehre 1829 Willich 613,15f 131
III. Die Freiheit des Einzelnen
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und freie Geselligkeit. Schleiermacher spitzt nun seine Diagnose daher noch zu: Alle inneren Störungen des Staatslebens, alle Krankheitserscheinungen stammen vom Misstrauen, vom gestörten Verhältnis zu Kirche, Wissenschaft und freier Geselligkeit ab. Störend ist nun wohlgemerkt bereits das Misstrauen, nicht etwa erst staatsgefährdende Handlungen oder Handlungen gegen Kirche und Wissenschaft. Das Misstrauen als solches ist die Krankheit im Staate, weil es das Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit, also den Gemeingeist schwächt, und damit die Gemeinwohlorientierung der Staatsbürger überhaupt, bis hin zur partiellen Auflösung des Staates oder seine Umwandlung zu einer anderen Staatsform. Das Misstrauen bedeutet eine permanente Gefährdung der Anerkennungsakte, durch die der Staat besteht und sich vollzieht. Der staatskonstitutive Gegensatz zwischen Regierenden und Regierten bildet und erneuert sich nur durch die dauernde Anerkennung dieses Gegensatzes durch alle Beteiligten; ebenso gehört zum Gesetz konstitutiv die Anerkennung als Gesetz, welche die Bürgerinnen und Bürger durch die Gesetzesbefolgung zum Ausdruck bringen. Daher stellen Vertrauen bzw. Misstrauen eine wesentliche politische Dimension dar; sie betreffen nicht nur das »bene esse« des Staates, sondern sein »esse«. Was also soll der Staat gegen das Misstrauen tun? Die anderen Bereiche des menschlichen Einzellebens entspringen den Grundbedürfnissen des Menschen; daher sind sie weder zu unterdrücken noch auszurotten. Die nahe liegende Option also, dass der Staat diese anderen Bereiche des Einzellebens kontrolliert und gestaltet, damit sie ihm nicht gefährlich werden können, scheidet für Schleiermacher aus. Denn für die Einzelnen würde es bedeuten, dass diese ihre Grundbedürfnisse nicht voll oder nicht richtig befriedigen könnten. Aus diesem Mangel an Befriedigung gingen aber erst recht Furcht und Misstrauen seitens der Untertanen hervor. Will der Staat wirklich das Misstrauen der Untertanen aufheben, dann bleibt ihm nur, diese Interessen sich frei entwickeln zu lassen. Aus dem ureigenen Interesse des Staates am Gemeingeist, an der guten Entwicklung des Staates muss also der Staat die Kirche, die Wissenschaft und die freie Geselligkeit freigeben und sich selbst überlassen. Das sei nun im Einzelnen betrachtet. 2. Der Einzelne als Nicht-Untertan Als Beispiel für staatsgefährdendes Misstrauen im religiösen Bereich nennt Schleiermacher die religiöse Verfolgung in den Niederlanden durch Philipp II., um den Katholizismus wieder durchzusetzen. Dies habe die Freiheit der Niederlande bewirkt. Als Beispiel für religiöses Misstrauen, das vom Volke ausgeht, führt er die englische Revolution von 1688 an. Demgegenüber stellt Schleiermacher den Grundsatz auf: »Jeder Staat der zur Ruhe kommen will muß eine Tendenz haben zur völligen GlaubensFreiheit«.134 Diese Glaubensfreiheit meint für Schleiermacher ausdrücklich die Freiheit, das Religiöse gesellig zu leben, 134
Staatslehre 1829 104,33f.
180
D. Thematische Fokussierungen
also öffentlich. Ihre Grenze findet die Glaubensfreiheit an der Haltung zum Staat und zu seiner gegenwärtigen Staatsform. Richtet sich eine religiöse Gemeinschaft gegen den Staat oder gegen die herrschende Staatsform, dann hat der Staat das Recht, diese religiöse Gemeinschaftsbildung zu verbieten, so dass die entsprechenden Anhänger auswandern müssen. Der Staat muss ein nachdrückliches Interesse an der bestehenden Staatsform haben und sich schützen gegen die Einführung einer anderen Staatsform. Ausnahmen sollten dann gewährt werden, wenn die religiöse Gruppierung, welche eine antipolitische Position vertritt, klein ist und mit ihrer weiteren Verbreitung nicht zu rechnen ist. Da ist eher Duldung als Beschränkung zu empfehlen. Als Beispiele nennt Schleiermacher die Quäker und die Mennoniten. Ausführlich diskutiert Schleiermacher die römisch-katholische Religionsgemeinschaft, bei welcher für den Staat das Problem besteht, dass sie einer anderen staatlichen Macht entscheidende Vorrechte einräumen kann. Er lässt das Ergebnis bewusst offen. Für den Verlauf und die Zukunft der europäischen Geschichte konstatiert er, dass die Reibungen zwischen dem Religiösen und dem Politischen immer mehr abnehmen werden. Für das Christentum gelte im Besonderen, dass es diese beiden Elemente von Anfang an streng unterschieden habe.135 Der Staat habe also ein Aufsichtsrecht, aber nur hinsichtlich der politischen Haltung der Religionsgemeinschaften. Abzulehnen und zu begrenzen seien alle Ansichten und Haltungen, die auf eine Änderung der bestehenden Staatsform dringen. Nicht tolerierbar ist dann auch eine religiöse Auffassung, welche die prinzipielle Trennung von Religion und Staat ablehnt. Daher votiert Schleiermacher gegen die Judenemanzipation, weil das Judentum strukturell für eine Theokratie eintrete. Ansonsten sei Glaubensfreiheit zu gewähren und auf die »gänzliche Sonderung des Politischen und des Religiösen« hinzustreben.136 Das Verhältnis des Staates zur Wissenschaft sei nun ausführlicher betrachtet. Schleiermacher setzt damit ein, dass vom Staatsbegriff her eigentlich ein Konflikt gar nicht denkbar sei. Der Staat als Übergang ins Bewusste und das Wissen als »größere Entwiklung des Bewußtseins«137 seien nur als völlige Übereinstimmung zu denken. Daher sei es nachvollziehbar, dass Platon gefordert habe, dass die Wissenden auch die Herrschenden sein sollen. Dennoch kann man faktisch ein Misstrauen gegenüber dem Wissen feststellen. Zu erklären ist das erstens daraus, dass es sich um ein Misstrauen gegenüber dem Missbrauch von Wissen handelt. Was an sich gut oder sogar das Beste sei, könne durch Missbrauch zum Schlechtesten werden. Die Sophisten in der Antike seien dafür ein Beispiel; sie hätten das Wissen zu eigennützigen Zwecken missbraucht. Ferner ist ein Misstrauen nun wirklich gegen das Wissen selbst im aristokratischen Staatswesen nachvoll135
Vgl. Staatslehre 1829 Willich 621. Staatslehre 1829 621,28. 137 Staatslehre 1829 Willich 622,2. 136
III. Die Freiheit des Einzelnen
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ziehbar. Denn diese Staatsform setzt voraus, dass eine bestehende Ungleichheit bewahrt werde. Wenn aber die Verbreitung des Wissens die innere Ungleichheit minimiere, dann höhlt das die politische Ungleichheit aus, die auf der inneren basiert. Auch aus diesem Grund erscheint für Schleiermacher die Aristokratie als Durchgangspunkt und das letzte Ziel die Wiederherstellung der Gleichheit. Dagegen wird in den Staaten großer Ordnung kaum Misstrauen anzutreffen sein, es sei denn als Misstrauen gegen den Missbrauch von Wissen im Falle der Rhetorik. Das aber betrifft nicht die Organisation des Wissens, sondern nur den Einzelnen. Im zusammengesetzten Staat hat dieses berechtigte Misstrauen schon dazu geführt, dass für die Legislative ein Zwei-Kammern-System eingeführt wurde. Im Besonderen aber ist das Gebiet der Ethik potentiell staatsgefährdend. Hier wird der Staat selbst Gegenstand der Betrachtung, und zwar insofern er an einem Ideal des Staates gemessen wird. Das Ergebnis dieses Vergleichs wiederum beeinflusst das Interesse an dem jeweils gegenwärtigen Staat. Was das spekulative Wissen betrifft: sofern hier der Staat selbst Gegenstand der Wissenschaft wird, sollte dann nicht der Staat den freien Lauf der Wissenschaft hindern, damit nicht durch ein aufgestelltes Ideal des Staates das Interesse an dem real-gegenwärtigen geschwächt werde? Dazu muss man betrachten, welchen Einfluss das auf die Masse der Bevölkerung ausüben kann. Zu unterscheiden ist hier eine Masse, die sich noch nicht organisiert hat und eine Masse, die sich bereits hinsichtlich ihres Einflusses auf den Staat organisiert hat. Zu erwarten wäre nun, dass der verderbliche Einfluss auf eine organisierte Masse viel größer sei als auf eine unorganisierte und daher einwirkungsbeschränkte Masse. Geschichtlich findet man aber gerade staatliche Aufsicht über das Wissen vor, in politischen Zuständen von noch unorganisierten Massen. Wenn es aber doch geschieht, dann daher, weil in bestimmten Staaten eine »schwankende Bewegung«138 in der Staatsentwicklung zu beobachten ist; so dass sich die Entwicklung hin zu einem Verschwinden der staatlichen Aufsicht über das Wissen »verspätet«.139 Schleiermacher fügt noch an, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen nicht immer in der rein wissenschaftlichen Öffentlichkeit bleiben, sondern auch von anderen Kreisen gelesen werden, und dass insofern das Privatleben dem politischen Leben zu schaden vermag. An dieser Stelle verweist Schleiermacher auf die Ansicht, dass die freie wissenschaftliche Meinungsäußerung eine unheilvolle Rolle bei der Französischen Revolution gespielt hätte. Bei den realen geschichtlichen Zwischenstadien braucht der Staat jedoch keine besonderen Maßnahmen gegen staatsordnungsfeindliche Wissenschaft zu ergreifen, sofern die Legislative nur so gestaltet ist, dass keine Übereilung stattfinden kann, also in einem Zweikammer-System.
138 139
Staatslehre 1829 Willich 627,17. Staatslehre 1829 Willich 627,18.
182
D. Thematische Fokussierungen
Was die professionellen Träger des realen Wissens angeht, sind für Schleiermacher die Wissenschaftler als solche unpolitisch. Dies kann jedoch geduldet werden vom Staat, da der Einfluss dieser Wissenschaftler auf die Masse der Bevölkerung sehr gering sein wird, der Ertrag des Wissens aber für den Staat sehr groß. Daraus folgt für Schleiermacher: Die vollständige Kontrolle des Staates über alle Weisen wissenschaftlicher Kommunikation bewirke eine Versteinerung der Wissenschaft. Es ist ein unnatürlicher Zustand, der nur als Ausdruck der Befürchtung zu verstehen ist, »daß eine freie wissenschaftliche Entwicklung die Masse sogleich würde in Widerspruch setzen mit dem was innerhalb des Staates vorgeht«.140 Schleiermacher verweist explizit darauf, dass dieser Zustand sich noch »heute« in Staaten des Europäischen Staatensystems finden würde. »Wir glauben aber, daß die Reinheit des Staats ja die Keuschheit desselben eigentlich das erfordre daß der Staat sich gänzlich lossage von jeder Identification mit dem religiösen und mit dem wissenschaftlichen; wodurch unsrer Ansicht nach beides und seine freie Entwiklung keinesweges leiden wird, wie es denn auch nicht in der Identität mit dem Staat entstanden ist«.141 Neben dem Gesetz, welches die ausgesprochene Sitte ist, gibt es auch im Staat immer noch Sitte. Auch in dieser Hinsicht gibt es nun Spannungen zwischen Staat und Einzelleben. Der vorhandene Staat greift vielleicht durch seine Geheimpolizei ins Privatleben ein, ohne dass es einen Bezug zum Naturbildungsprozess gäbe. Das Einzelleben wird für den Staat zum Gegenstand über das Familienleben und das Geschäftsleben. In das Familienleben greift der Staat ein durch Gesetze zur Ehe, als Prohibitivgesetze oder Erlaubnisgesetze. Diese Gesetze haben zur Voraussetzung, dass die Anhänglichkeit an den Staat an der Abstammung hängt, noch mehr allerdings an der Erziehung durch die Eltern und schließlich am Wohlbefinden. Je mehr Zutrauen der Staat zu sich selbst hat, umso weniger wird er restriktive Gesetze in dieser Hinsicht erlassen. Als Fazit läßt sich festhalten: Das Einzelleben kommt hier in seinem Störungspotential für den Staat in den Blick, und zwar indirekt, mittels des Verhältnisses zwischen Staat und den anderen ethischen Organisationen. »Dieses Mistrauen, was sich überall auf das Einzelleben gründet, ist das, was dem was wir den Gemeingeist genannt haben, grade entgegengesetzt ist. Die ganze ruhige Entwiklung des Staats beruht auf dem Herrschen des Gemeingeists«.142 Wie ist nun dem Misstrauen vorzubeugen? Das Misstrauen erwächst aus der Furcht, welche wiederum aus dem Mangel an Befriedigung der entsprechenden Interessen entsteht. Da aber diese Interessen und Vollzüge genauso sehr in der menschlichen Natur begründet sind wie das politische Interesse, können diese auch nicht beseitigt oder verwandelt werden. So bleibt nur übrig, dass prinzipiell alles, »was 140
Staatslehre 1829 Willich 628,22–24. Staatslehre 1829 Willich 629,24–29. 142 Staatslehre 1829 Willich 615,16–19. 141
III. Die Freiheit des Einzelnen
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zur Constitution des außer dem Staate liegenden gehört«143 im Wesentlichen befriedigt werden muss. Schleiermacher argumentiert dafür, dass aus den ureigenen Interessen des Staates die anderen ethischen Organisationen möglichst frei zu geben seien – sofern sie den Staat nicht gefährden. Um das zu überprüfen hat der Staat ein gewisses Aufsichtsrecht. Der anzustrebende Zustand sieht also so aus, dass der Staat in Harmonie lebt mit den freigegebenen anderen ethischen Organisationen. Weil aber alle diese als äußere Organisationen unter die Abhängigkeit vom Staat fallen, bedürfen sie zu ihrer Freiheit der expliziten Anerkennung des Staates als freier Organisationen. Dieses Freilassen durch den Staat bei gleichzeitiger bejahender Anerkennung führt nach Schleiermacher zu wirklicher Harmonie, also zum Gegenteil von Misstrauen und Konflikt. Das könnte man ein Harmoniemodell der Freiheit nennen, oder in Schleiermachers Worten: »befreundetes Auseinanderhalten«. Schleiermacher plädiert entschieden für das unabhängige freie Sichvollziehen der vier ethischen Organisationen. Für das Harmoniemodell der Freiheit formuliert er allerdings noch die Bedingung: Religion und Wissenschaft müssen selbst so verfasst sein, dass sie eine Selbstunterscheidung vom Staat vollziehen und dass sie die grundsätzliche Differenz von sich und dem Staat bejahen. Zurückgewendet auf unsere Ausgangsfrage nach dem Ort der Freiheit des Einzelnen in der Staatslehre Schleiermachers heißt das: Das Einzelleben wirkt störend mit seinen vielfältigen nicht-staatlichen Interessen. Diese Störung ist nur durch möglichst umfassende Freiheitsrechte zu besänftigen. Schleiermacher setzt an beim Interesse des Staates an seinem Bestehen und seiner förderlichen Entwicklung. Diese wird durch das Misstrauen gefährdet. Dieses Misstrauen rührt daher, dass die außerpolitischen Bedürfnisse des Menschen sich nicht in geselliger Weise entfalten können und so zur Befriedigung kommen. Daher ist den ethischen Organisationen Kirche, Wissenschaft und freier Geselligkeit Freiheit zu gewähren. Im Ergebnis bedeutet das Glaubensfreiheit für den Einzelnen, wissenschaftliche Freiheit, Versammlungsfreiheit u. a. Die Freiheitsrechte des Einzelnen werden also allein mit Staatsinteresse und dem Staatswohl begründet. Den eigentlich interessanten Fall für das Handeln des Einzelnen, nämlich dass der Staat gegen sein wohlverstandenes Eigeninteresse handelt und in Kirche, Wissenschaft eingreift: diesen Fall behandelt Schleiermacher ebenfalls, allerdings unter der Rubrik »Staatsverbrechen« innerhalb der Staatsverteidigung. Bei den revolutionären Staatsverbrechen unterscheidet er verschiedene Typen. Eines davon sind »defensive politische Verbrechen die es eigentlich nur scheinbar sind nämlich kräftige Opposition gegen eine ihre Befugniß überschreitende Regierung sei es nun daß sie eingreife in häusliches religiöses wissenschaftliches oder daß sie ihre politische Befugniß überschreite«.144 Das ist eine nun wirklich 143 144
Staatslehre 1829 Willich 617,36f. Staatslehre 1829 169,2–6.
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D. Thematische Fokussierungen
schwebende Argumentation: Staatsverbrechen die es eigentlich nur scheinbar sind. Damit wird die Legitimität einer solchen Opposition weder verneint noch affirmiert. Im Folgenden diskutiert Schleiermacher lediglich die Art der Strafen. Er plädiert dafür, keine Todesstrafe anzuwenden. Als Zusammenfassung mag ein Zitat Schleiermachers dienen: »Das Streben nach Freiheit im Unterthan als solchem kann sich nur beziehen auf das außerhalb des Staatszweckes Gelegene, wissenschaftliche Freiheit, religiöse Freiheit, häusliche Freiheit. Aber keine ist absolut, weil kein absolutes Außereinander des Staates und der anderen Sphären stattfindet«.145 3. Der Einzelne als Untertan und Nicht-Untertan Bisher wurden die verschiedenen Interessen des Menschen in seinem Einzelleben, die sich aus der Struktur seines Vernunfthandelns bilden, betrachtet, insofern sie als organisierte, gemeinschaftlich miteinander oder gegeneinander wirken. Wie aber verhält sich im Einzelnen selbst seine politische Ausrichtung zu seiner religiösen, wissenschaftlichen und geselligen Einstellung? Hier nun konstatiert Schleiermacher einen strukturellen Konflikt. Dieser ist – jedenfalls einstweilen – nicht in Harmonie auflösbar, sondern nur balancierbar. Bevor dieser Konflikt näher erläutert werden kann, muss geklärt werden, was eigentlich politische Gesinnung ist und welche Funktion sie für die Staatlichkeit des Staates hat. Politische Gesinnung bedeutet: »das Wollen eines Jeden mit den Übrigen ein Staat zu sein«.146 Oder in einer Formulierung von 1817: »ein Eingewurzeltseyn des Einzelnen im Ganzen, und das Bewußtseyn daß der Einzelne in seinem eigentümlichen Leben nicht bestehen kann als nur im lebendigen Zusammenhang mit diesem und keinem andern Ganzen«.147 Das genannte Wollen eines Jeden, mit den Übrigen ein Staat zu sein, ist nach Schleiermacher keine Zusatzbestimmung zu einem gegebenen Staat, sondern konstitutiv für das Staatsein des Staates und für seinen lebendigen Vollzug. Der Staat ist das Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit bezogen auf einen bestimmten Boden, das als Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten mittels des Gesetzes auftritt. Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit impliziert nach Schleiermacher zugleich Bewusstsein der Differenz von Gemeinschaftlichem und Einzelnem zusammen mit der Zustimmung, das Einzelne dem Gemeinschaftlichen (hinsichtlich des Gemeinschaftlichen, also der Bodenbeherrschung) unterzuordnen. Daher meint Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit zugleich immer auch Zustimmung und Anerkennung des Gemeinschaftlichen und der eigenen Zugehörigkeit dazu. Jeder bekommt nach Schleiermacher eine Beziehung auf den Staat, indem er diese Beziehung 145
Schleiermacher: Philosophische Ethik, 99. Staatslehre 1829 146,33f. 147 Staatslehre 1817/18 Goetsch 444,2–5. 146
III. Die Freiheit des Einzelnen
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zugleich anerkennt und darstellt.148 Das gilt generell, weswegen die Staatsbildung identisch ist mit dem Entstehen von politischer Gesinnung, insofern sie von Menschen geteilt wird149 – was schon Implikat des Bewusstseins von Gemeinschaftlichkeit ist, dass es ein gemeinschaftliches Bewusstsein ist. Da aber das Fortbestehen des Staates eine »beständige Reproduction des StaatsbildungsProcesses« ist, kann von der konstitutiven Bedeutung der politischen Gesinnung für Vollzug und Weiterentwicklung des Staates gesprochen werden. Wie man sich das näher vorstellen kann, das erläutert Schleiermacher am Vollzug von Gesetzen – und zwar unabhängig von der Frage, wieviel der Gesamttätigkeit durch Gesetze geregelt werden soll. Durch die Ausführung des Gesetzes stimmen die Ausführenden sowohl dem Gesetz selbst zu, dass es nämlich Ausdruck der gemeinsamen Sitte sei, als auch dem spezifisch gestalteten Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten. Kann ein einzelnes Gesetz nicht als Ausdruck der gemeinsamen Sitte und Einsicht verstanden werden, wird es solange unter Spannung trotzdem vollzogen, wie die grundsätzliche Zustimmung zum spezifischen Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen vorhanden ist, also solange die politische Gesinnung lebendig ist. Somit beruht auch die Wirksamkeit von Gesetzen auf der politischen Gesinnung. Umgekehrt bedeutet fehlende Zustimmung zum spezifischen Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen, also fehlende politische Gesinnung, dann Revolution als Änderung der Staatsform oder teilweiser Abtrennung von Staatsgebieten.150 Die politische Gesinnung im Schleiermacherschen Sinne konstituiert die Staatlichkeit des Staates sowohl in seinem Werden als auch in seinem Bestehen. Daher ist es auch eine eigene Aufgabe staatlichen Handelns, auf die politische Gesinnung zu wirken bzw. für diese Sorge zu tragen. Diese Aufgabe wird in der Staatsverwaltung wahrgenommen, die definiert ist als die »richtige Leitung des gesezlichen Zustandes um die vollständigste Bildung der Natur zum Organismus der Intelligenz zu entwikkeln«.151 Sie richtet sich zum Teil auf den Naturbildungsprozess als solchen, zum Teil auf dessen geistige Dimension. Das meint vor allem die politische Gesinnung, welche staatskonstitutiv ist. Daher wirkt es umso bedrohlicher, wenn die anderen Handlungsformen des Menschen, also seine religiöse, seine wissenschaftliche und seine gesellige Ausrichtung der politischen Gesinnung grundsätzlich entgegenstehen. Alle drei orientieren den Menschen auf die gesamte Menschheit, streben auf umfassende menschliche Gemeinschaft, zielen auf die Einheit des ganzen menschlichen Geschlechts. Sie bilden gegen die politische Gesinnung ein »Gegengewicht«, stellen ein »antipolitisches Prinzip« dar. 148
Vgl. Staatslehre 1829 116. Vgl. Staatslehre 1829 Willich 702,5. 150 Vgl. auch Staatslehre 1829 Willich 635. 151 Staatslehre 1829 114,30–32. 149
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D. Thematische Fokussierungen
Was kann die Staatsverwaltung gegen diese Gefährdung der politischen Gesinnung tun? Drei mögliche Lösungen seien diskutiert. Erstens: Der Gegensatz lässt sich auflösen, indem auch die politische Gesinnung eine Ausrichtung auf die ganze Menschheit bekommt, also durch den Universalstaat. Die Möglichkeit eines solchen betrachtet Schleiermacher außerordentlich skeptisch, weil ein Universalstaat voraussetzt, dass die Eigentümlichkeit der Völker, die sich durch den Bezug zum Boden an Sprache und Kultur vermittelt, erlischt. Das kann Schleiermacher sich nicht als ein erreichbares Ziel vorstellen. Zweitens: Denkbar ist ein Verbot und die Unterdrückung allen menschlichen Tuns, das auf allgemein-menschliche Gemeinschaft aus ist. Das verbietet sich deswegen, weil der Staat zu seiner lebendigen Entwicklung gerade des allgemeinen Austausches über die Staatsgrenzen hinaus bedarf, vor allem aber, weil die Unterdrückung von menschlichen Grundbedürfnissen nur Angst und Unfrieden erzeugt. Mit der antipolitischen Ausrichtung von Religion, Wissenschaft und freier Geselligkeit bzw. Handel ist zugleich eine indirekte Wirkung zu fürchten: nämlich die Liebe zum Fremden, die Liebe zu fremder Kultur. In Deutschland lebte eine starke Vorliebe für die französische Kultur, welche die politische Gesinnung sehr schwächte. Insofern aber in Europa sich »höhere geistige Bildung« so verbreitet,152 dass die zurückstehenden Völker sich diese Bildung durch die Liebe zum Fremden aneignen, ist die Liebe zum Fremden zu bejahen. Den »Zusammenhang mit dem Fremden aufzuheben und zu beschränken kann nicht der rechte Weg sein, die politische Gesinnung aufrecht zu erhalten [. . . ] weil man nicht wissen kann, welche Hilfsquellen und Elemente die man zu seiner Entwicklung braucht, dadurch versperrt werden«.153 Um der innerstaatlichen Entwicklung willen darf also die Liebe zum Fremden nicht gehindert werden, auch da, wo dadurch die politische Gesinnung geschwächt wird. Drittens. Also bleibt noch die Förderung der politischen Gesinnung, so dass diese das Übergewicht hält über die anderen entgegengesetzten Bestrebungen. Befördert wird die politische Gesinnung durch ihre Darstellung und die Wahrnehmung dieser Darstellung. Dies geschieht im öffentlichen Leben, dessen herausragende Manifestation die Volksfeste sind. »Hier ist das wahre Element das Hervortreten der bewußten Zusammengehörigkeit wobei jeder den Gemeinsinn und Gemeingeist Anderer zur Wahrnehmung bekommt und also in sich aufnimmt.« Bei einem solchen hervorgehobenen Begängnis kommt nicht nur die tatsächliche Zusammengehörigkeit jenseits des persönlich-sozialen Begegnens zum Ausdruck, sondern auch das Bewusstsein dieser Zusammengehörigkeit. Sich selbst als von den anderen inkludiert wahrzunehmen, setzt ein eigenes Bewusstsein dieser Zusammengehörigkeit frei, bzw verstärkt es. Voraussetzung 152 153
Staatslehre 1829 Willich 705,24f. Staatslehre 1829 Willich 705,35–39.
III. Die Freiheit des Einzelnen
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freilich ist eine möglichst große gesellschaftliche Gleichheit, ansonsten gilt dieses Bewusstsein der Zusammengehörigkeit nur für jeweils eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder Schicht. Darin besteht nun weiter die Förderung der politischen Gesinnung: in der möglichst großen Gleichheit im Staat, wir würden sagen in der Partizipationsgerechtigkeit. Schleiermacher stellt hier eine direkte Proportionalität her. So also befördert der Staat die ihn konstituierende politische Gesinnung: in der möglichst großen Gleichheit der Beteiligung an der zur Darstellung kommenden Gemeinschaftlichkeit. »Alles politische Leben im Volk ist nichts als ein Ausdruck der ins Bewusstsein gekommenen Zusammengehörigkeit – wo ein Staat im öffentlichen Leben ist, da ist auch das schon gegeben woran sich die politische Gesinnung immer erhalten wird«.154 Ingesamt kann nach Schleiermacher der Staat auch ruhig darauf vertrauen, dass sich die politische Gesinnung im Übergewicht über die grundsätzlichen antipolitischen Bestrebungen von Religion, Wissenschaft und freier Geselligkeit hält. Das zeige auch die Geschichte. Sind diese Rahmenbedingungen gegeben, dann erweisen sich Religion, Wissenschaft und freie Geselligkeit von ihren Inhalten, von ihren konkreten Vollzügen gerade auch als förderlich für die politische Gesinnung. In der Wissenschaft dienen die Erforschung der Geschichte eines Staates und seines jetzigen Zustandes sowie die Verbreitung dieses Wissens unmittelbar der Bildung von politischer Gesinnung. Die Kenntnis des Gesamtzustandes des Staates ermöglicht es dem Einzelnen zu beurteilen, wie seine Tätigkeit in den Zusammenhang des Ganzen eingreift.155 Das trägt zur Identifikation mit dem Gesamtzustand bei. Die Religion befördert die Motivation, sich in die Gemeinschaftlichkeit des Staates »hineinzuleben«: »denn so wie sich der Mensch eines Verhältnisses seiner selbst als Intelligenz zum höchsten Wesen bewusst wird: so faßt er sein Verhältnis zu der Erde auch aus diesem Gesichtspunkt, und das wird ein Motiv für ihn, sich in Alles das um so fester hineinzuleben, was zu diesem Verhältniß gehörte«.156 Die freie Geselligkeit schließlich dient der politischen Meinungsbildung; in ihr treten die verschiedenen Erfahrungen und Meinungen der Einzelnen in den Austausch und werden ausgeglichen. Die freie Geselligkeit befördert die Gemeinschaftsbildung und das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das heißt also: Die politische Gesinnung wird gerade nicht in der staatlichen Sphäre, sondern durch Wissenschaft, Religion und freie Geselligkeit gestärkt, geprägt, befördert und gebildet.157 Dies geschieht durch das konkrete Leben in den 154
Staatslehre 1829 Willich 706,10–14. Vgl. Staatslehre 1829 Willich 712. 156 Staatslehre 1829 Heß 522,38–42. 157 Freilich gibt es auch noch andere Gefährdungen der politischen Gesinnung: mangelnde Verbundenheit mit dem Boden, d. h. mit der konkreten Landschaftsgestalt in ihrem kulturellen Kontext. »Diese Zusammengehörigkeit von Menschen und Boden muß aber wie alles im Staat, Thätigkeit sein, sonst ist sie nicht mehr ein solches den Staat constituierendes Element« (Staats155
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D. Thematische Fokussierungen
anderen Sphären. Während sie in abstrakter Hinsicht, durch ihre Grundtendenz, gerade der politischen Gesinnung entgegengesetzt sind. Also lässt sich das Verhältnis der anderen ethischen Organisationen zum Staat beschreiben als Einheit von prinzipiellem Gegensatz und konkreter Förderung. 4. Freiheitsrechte für den Einzelnen aus staatlichem Selbsterhaltungsinteresse Die Freiheit des Einzelnen ist nicht Ausgangspunkt der staatstheoretischen Argumentation, sondern alle zu gewährenden Freiheitsrechte sind lediglich Ableitungen aus der Staatstheorie. Die Selbstbegrenzung des Staates zugunsten der Freiheitsrechte des Einzelnen wird ausschließlich mit dem staatlichen Eigeninteresse begründet. Der Staat, der sich selbst in Gestalt seiner Obrigkeit richtig versteht, gewährt aus reinem Eigeninteresse verschiedene Freiheitsrechte und begrenzt seine Zuständigkeiten. Dieses Spezifikum der Schleiermacherschen Theorie hängt zusammen sowohl mit der Methode der Staatsbestimmung als auch mit dem Zweck der Staatstheorie. Die Schleiermachersche Staatstheorie will als Wesensbestimmung des Staates eine verstehende Theorie für alle geschichtlichen Phänomene von Staatlichkeit sein. Bei einem gegebenen Grundansatz verfeinert sie ihre Kategorien im Durchgang durch die Betrachtung verschiedener konkreter geschichtlicher Phänomene. Als Wesensbestimmung liefert sie zugleich normative Gesichtspunkte für zukünftige Gestaltungen. Primär ist Schleiermachers Staatstheorie eine geschichtlich-verstehende Theorie, die erst als solche auch normative Gesichtspunkte entfaltet. Der Einzelne tritt in der Staatslehre zunächst als Problem und Störpotential auf: insofern die Einzelnen different sind durch die Arbeitsteilung, insofern die Einzelnen auch Privatinteressen haben, insofern durch die übrigen ethischen Handlungsformen des Einzelnen Misstrauen entstehen kann und insofern beim Einzelnen die politische Gesinnung gefährdet ist. Eingehend und grundsätzlich wird der Einzelne Thema in der Staatslehre durch seine nicht-staatlichen Gemeinschaftsformen: nämlich durch Kirche, Wissenschaft und freie Geselligkeit. Das Verhältnis der vier ethischen Organisationen soll ein »befreundetes Auseinanderhalten« sein: Durch ihre Freiheit harmonieren sie. Im Strukturellen bilden sie einen Gegensatz. Im konkreten Vollzug fördern Kirche, Wissenschaft und freie Geselligkeit das Staatliche. Schleiermacher kann daher im Rahmen seiner Theoriearchitektur keinen grundsätzlichen und radikalen Konflikt zwischen lehre 1829 Willich 667,42–668,2). Am meisten wird dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zum Boden gefährdet durch den Geldhandel, weil dem Menschen »gleichgültig ist, wo sich sein Besitz befindet« (Staatslehre 1829 Willich 668,20f ). Daraus kann sich eine Schwächung des Gemeingeistes ergeben. Einerseits die politische Durchgebildetheit eines Staates. Je mehr der Einzelne schon Anteil am politischen Leben eines Staates hat, umso weniger bedarf es für die Vaterlandsliebe des Bezuges zum Boden. Andererseits muss der Staat dafür sorgen, dass es immer genügend solche gebe »welche vermittelst eines starken Interesse am Boden auch Sicherheit geben für ein starkes Interesse an der Gesellschaft« (Staatslehre 1829 133,34–134,2).
IV. Staat und Kirche
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Einzelnem und Staat denken. Erstens, weil jeder Einzelne durch seine politische Gesinnung (und die Gesetzesvollziehung) am Bestehen und Fortdauern des Staates beteiligt ist. Zweitens, weil Schleiermacher voraussetzt, dass die Einzelnen in ihrem Vernunfthandeln immer sowohl durch die individuelle als auch die identische Vernunft bestimmt werden. Der Einzelne wird im Wesentlichen in seiner Gemeinschaftlichkeit zum Thema der Staatslehre. Der Staat hat es zu tun mit Gemeinschaftsformen jeder Art; nicht mit Einzelnen als Individuen. Schleiermacher zielt auf eine freiheitliche Gesellschaft, aber um des Staates willen, und nicht um der Einzelnen willen.158 Er zielt auf eine freiheitliche Gesellschaft, in der Freiheit für die anderen ethischen Institutionen gewährt wird, nicht für die Einzelnen als solche. Als einen vollkommenen Zustand begreift es Schleiermacher »wenn die religiöse Gemeinschaft und die wissenschaftliche Tendenz den Staat auf alle Weise unterstützt ohne ihre Selbstständigkeit zu verlieren. Eine solche Freiheit dieser ethischen Organisationen müssen wir durchaus für vortheilhaft ansehn und also den Zustand, worin wir uns befinden, nur als einen Durchgangspunkt«.159 Daher sei nun im Folgenden untersucht, wie Schleiermacher das Verhältnis bestimmt zwischen Staat und den anderen drei Sphären.
IV. Staat und Kirche. Notwendigkeit wechselseitiger Selbstunterscheidung Zur Wesensbestimmung des Staats gehört für Schleiermacher auch die Bestimmung seiner Grenzen und seines Verhältnisses zu dem Abgegrenzten. Daher sei nun Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche160 betrachtet. Kirche wie auch die Wissenschaftsorganisation zeichnet es aus, dass sie einerseits 158 Inwiefern hat Schleiermacher also eine freiheitliche Gesellschaft vor Augen? Wolfes deutet die politische Konzeption Schleiermachers als zielend auf eine freiheitliche Staatsbürgergesellschaft. Inwiefern ist das zutreffend? »Der Freiheitsgedanke als politisches Prinzip ist das verbindende Element zwischen den Ideen von 1789 und der politischen Ideenwelt des jungen Schleiermacher. Am Freiheitsgedanken als einem weltanschaulichen Leitprinzip hat Schleiermacher zeitlebens festgehalten. Ohne lebendige Freiheit kann es für ihn auch eine politische Kultur nicht geben. Sein Ideal einer freiheitlichen Staatsbürgergesellschaft war inspiriert vom revolutionären Geschehen« (Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 1, 127). Eigentlich will Schleiermacher kein Staats- oder Gesellschaftsideal aufstellen. Er liefert eine Theorie von Staatsveränderung, von staatlicher Entwicklung, nicht von einem Zustand. Für die »gesunde« Staatsentwicklung ist für ihn aber Freiheit eine Schlüsselqualität, eine Grundvoraussetzung. Freiheit meint dabei: Freiheit der Meinungsäußerung, also Freiheit der öffentlichen Diskussion einerseits und Freiheit der anderen drei Sphären andererseits. Freiheit der anderen drei Sphären zielt dabei auf Abwesenheit von staatlicher Bevormundung im inhaltlichen Sinne. 159 Staatslehre 1829 Willich 713,32–37. 160 Am Ende des Kapitels wird gezeigt, wie Schleiermacher das Verhältnis von Religion und Politik mit dem Verhältnis von Kirche und Staat verbindet und zugleich beides klar voneinander unterscheidet.
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D. Thematische Fokussierungen
im Staat sind, aber andererseits auch neben ihm und außerhalb seiner Sphäre. Im Staat sind beide, insofern die Mitglieder der Kirche und der Wissenschaftsgemeinschaft zugleich auch Mitglieder des Staats sind. Die Staatszugehörigkeit von Kirche und Wissenschaft versteht Schleiermacher aber nicht nur von einer Personalidentität, sondern auch von äußeren Bedingungen her, welche der Staat für Wissenschaft und Kirche schafft, gestaltet und reguliert. Ins innere Funktionieren beider darf der Staat aber niemals hineinwirken, da dies die je eigene Funktionsweise von Wissenschaft oder Religion aufheben würde. Auffällig ist, dass Schleiermacher hier seinen abwägenden, beschreibenden Sprachduktus verlässt und unbedingte Forderungen erhebt. Diese Forderungen nach Freiheit von Religion und Wissenschaft sind darin unbedingt, dass sie erstens nicht mit dem Wohl des Staats begründet werden, sondern mit dem Eigenwohl von Religion161 und Wissenschaft. Zweitens sind sie unbedingt, insofern sie nicht an geschichtliche Entwicklungsvoraussetzungen geknüpft werden,162 wie sonst alle politischen Fragen. Folgender Satz belegt die Unbedingtheit der Forderung in Schleiermachers Sprachduktus; er zeigt auch, welche Folgen die Dialektik von Staatsinternität und Staatsexternität hat, mit welcher Schleiermacher das Verhältnis von Staat zu Kirche und Wissenschaft charakterisiert: »Auch hier gilt es, dass der Staat die Lehre immer frey geben muss, auf die Elemente der That aber lebendig wachen und sie im Zaum halten«.163 Als Kommunikation ereignen sich Wissenschaft und Religion außerhalb der staatlichen Sphäre; nur insofern sie äußeres Handeln sind oder zur Konsequenz haben, unterstehen sie dem Staat. Als Bereich der Überschneidung der Funktionsbereiche Regierung, Kirche und Wirtschaft versteht Schleiermacher die schulische Bildung. Diese hat ihren Ursprung in den Sphären, denen jeweils ein spezifisches Interesse an der schulischen Bildung anhaftet: die Regierung hat ein Interesse an gebildeten Beamten, die Kirche ein Interesse an religionskompetenten Kirchenmitgliedern und die Wirtschaft interessiert sich für fachkompetente Arbeitskräfte.164 Diese Dreiursprünglichkeit der Schulbildung affirmiert Schleiermacher. Jede Vereinseitigung riefe gravierende Mängel hervor. Pedanterie sieht Schleiermacher z. B. als Folge einer einseitig in kirchlicher Verantwortung liegenden Bildung. Im »Gegeneinanderwirken« dieser drei Interessen sieht er erst ein Ganzes entstehen bei der Bildung. Insgesamt bezieht Schleiermacher die Bildung auf die Sitte inklusive 161 Als Beispiel für eine solche Formulierung: »Nur dann kann sich die Religion gestalten in reinem Verhältniss, wenn sie neben dem Staat steht. Diese Stellung gebührt ihr« (Staatslehre 1817 Varnhagen 370,6–8). 162 Das gilt in jedem Fall für die Vorlesung von 1817, bei den weiteren lässt er Einschränkungen gelten. 163 Staatslehre 1817 Varnhagen 369,28–30. 164 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 330.
IV. Staat und Kirche
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der Sprache; an der Sitte habe Bildung ihren Maßstab und ihre Aufgabe165 – nicht jedoch ohne das Eigene auch auf andere kulturelle Horizonte zu beziehen. Das Thema Staat und Kirche ist für Schleiermacher von besonderer Bedeutung. Ihm widmet er sich schon in seinen frühesten Schriften, er engagiert sich politisch und kirchenpolitisch in dieser Grundsatzfrage und differenziert seine entsprechende Auffassung immer weiter aus. Hier seien drei ausgesuchte Theoriestationen Schleiermachers rekonstruiert, die sich mit drei verschiedenen Texten und Textgattungen verbinden. Zuerst sollen die »Reden« zur Sprache kommen. In ihr zeigt sich Schleiermachers Grundintention. Danach dann seien die theoretischen Kategorien vorgestellt, die Schleiermacher für die fragliche Verhältnisbestimmung in der Philosophischen Ethik entwickelt. Schließlich soll untersucht werden, wie Schleiermacher in der Staatslehre ein komplexes Modell dieses Verhältnisses entwirft, das seine Grundintention aufnimmt und die entwickelten Theoriekategorien zur Geltung bringt, woraus er dann eine geschichtlich-hermeneutische Theorie und eine orientierend-politische Theorie bildet. 1. Pathetisches Dringen auf Trennung von Staat und Kirche in den »Reden« »Möchte doch allen Häuptern des Staats, allen Virtuosen und Künstlern der Politik auf immer fremd geblieben sein auch die entfernteste Ahndung von Religion! möchte doch nie einer ergriffen worden sein von der Gewalt jenes epidemischen Enthusiasmus, wenn sie doch ihre Individualität nicht zu scheiden wußten von ihrem Beruf und ihrem öffentlichen Charakter! Denn das ist uns die Quelle alles Verderbens geworden«.166 Das Pathos lässt nichts zu wünschen übrig an rhetorischer Intensität. Noch ausdrücklicher formuliert er an einer anderen Stelle sein Anliegen: »Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat! – das bleibt mein Catonischer Rathsspruch bis ans Ende, oder bis ich es erlebe sie wirklich zertrümmert zu sehen«.167 Mit dieser Emphase bringt Schleiermacher 1799 seine Grundüberzeugung vom Verhältnis von Staat und Kirche zum Ausdruck: es sollte das einer radikalen Trennung sein. Seine Argumentation ist schlicht und klar: Indem der Staat sich für die Kirche interessiert hat, hat er der Kirche eine institutionelle Gestalt verliehen. Diese institutionelle Gestalt hat das Wesen der Religion verdunkelt, weil es dem Wesen der Religion widerspricht, solchermaßen institutionalisiert zu werden. Religion ist Anschauung und Gefühl, ist Sinn und Geschmack für das Unendliche und somit immer individuelle Anschauung, individueller Sinn. Dieser richtet sich nun auf Wechselwirkung mit anderen individuellen Anschauungen des Universums. Sich zwischen Individuen ereignend, sollen diese Wech165
Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 329. Über die Religion 209f; KGA I/2, 281. 167 Über die Religion 224; KGA I/2, 287. 166
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D. Thematische Fokussierungen
selwirkungen jeweils individuelle, neu und frei gewählte sein, je nach religiöser Entwicklungsstufe. Schleiermachers Grundimpuls, sein rhetorisch brillant vorgetragenes Anliegen besteht also in der möglichst strikten Trennung von Staat und Kirche, und zwar um beider willen. Mit seiner Einschätzung bildet Schleiermacher keine Theorie, die erklären kann, warum der Staat ein Interesse nimmt an der Kirche, warum zur Kirche ihr institutioneller Charakter gehört. Vor allem kann er nichts dazu sagen, wie innerhalb der bestehenden Verhältnisse auf eine Verbesserung hin zu handeln sei. Dass Schleiermacher dies in den folgenden Jahren versucht, macht ihn zu einem interessanten Denker des Verhältnisses von Staat und Kirche. Erfordert ist eine Theorie, die einerseits das Bestehende beschreiben kann und trotzdem normative Gesichtspunkte zur Verfügung stellt. Er geht dabei so vor, dass er aus einem Einheitsgesichtspunkt die Differenz von Staat und Kirche entfaltet, also bei beiden Größen gleichermaßen deren Gegebensein und deren Gewordensein berücksichtigt. Seiner Theorie eignet in Folge eine analytische Dimension: sie erlaubt, historisch sehr verschiedene Konstellationen von Staat und Kirche genau zu beschreiben. Dadurch aber leistet sie es, normative Gesichtspunkte zu geben. Das gelingt, indem Schleiermacher eine Wesensbestimmung vornimmt. Die Leistung Schleiermachers besteht darin, eine begriffliche Bestimmung aus der Einheit ausdifferenziert, darin wirklich differenziert, dann aber wiederum auf letzte Einheit angelegt zu haben. Die Perspektivendifferenz und die jeweilige Ganzheitsperspektive sind in einer einzigen Theorie erfassbar. Dafür braucht Schleiermacher klare Kategorien; diese stellt er in seiner Philosophischen Ethik dar. 2. Kirche und Staat als getrennte Sphären in der Philosophischen Ethik Kirche und Staat thematisiert Schleiermacher in der Güterethik. Alles in der sozialen Wirklichkeit entsteht durch menschliches Handeln. Auch Staat und Kirche (verstanden als Religionsgemeinschaft) entstehen durch menschliches Handeln und vollziehen sich in menschlichem Handeln, also in dem Handeln der Vernunft auf die Natur. Der gesamte kulturelle Prozess des Vernunfthandelns auf die Natur zielt auf die Einigung der Vernunft mit der Natur. Das geschieht, indem die Natur zum Organ der Vernunft wird, mit dem wiederum die Vernunft auf die übrige Natur handelt. Das ereignet sich weiterhin, indem die Natur zum Symbol der Vernunft wird. Insofern kann beim menschlichen Handeln das organisierende Handeln vom symbolisierenden Handeln unterschieden werden. Was die Vernunft betrifft, können an ihr ebenfalls zwei Aspekte differenziert werden: zum einen ist die Vernunft in jedem Menschen eine je eigentümliche, individuelle. Zum anderen ist die Vernunft in jedem Menschen auf die Vernunft als eine in allen Menschen gleiche und verbindende bezogen. Daher kann auch beim Handeln der Vernunft unterschieden werden zwischen einem Handeln, das die
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Eigentümlichkeit zum Ausdruck bringt und einem Handeln, das die Allgemeinheit der Vernunft, das Gemeinsame ausdrückt. Diese beiden Grundunterscheidungen führen nun zu vier Handlungsformen: dem organisierenden Handeln, als identisches oder individuelles, und dem symbolisierenden Handeln, ebenfalls als identisches oder individuelles. Menschliches Handeln bringt Güter hervor. Güter sind dadurch bestimmt, dass sie durch menschliches Handeln entstehen und neues menschliches Handeln freisetzen. Entsprechend den vier Grundhandlungsarten kann man nun vier Güter bestimmen: Diese sind Staat, Kirche (als Religionsgemeinschaft), freie Geselligkeit und Wissenschaft. Aus der philosophischen Ethik ergibt sich nun also, dass Kirche und Staat zwei der vier Güter oder Sphären sind, die sich jeweils auf ein bestimmtes Handeln der Vernunft auf die Natur beziehen und dieses freisetzen. Es handelt sich um relativ unabhängige Sphären. Beide haben gleichermaßen ein Eigenrecht und gehören notwendig zum Menschsein des Menschen und zur menschlichen Gemeinschaft. Diese beiden Sphären stehen nicht einfach einander gegenüber, sondern in Relationen zwischen vier Sphären. Ihre Relation kann nicht sachentsprechend untersucht werden ohne die Relation zu den anderen beiden Sphären zu berücksichtigen, nämlich Wissenschaft und freie Geselligkeit. Daher wird man das Verhältnis als ein »institutionentheoretisches Balance-Modell«168 auffassen können, das genauer durch eine »wechselseitige Fundierung« beschrieben werden kann. Jede Sphäre hat in einem spezifischen Sinne die anderen drei jeweils in sich bzw. fundiert diese. Der Staat hat alle anderen in sich, »inwiefern sie ein äußeres Dasein haben, die Kirche, inwiefern sie auf Gesinnung ruhen, die Wissenschaft, inwiefern sie ein identisches Medium haben müssen, die freie Geselligkeit als allgemeines Bindungsmittel«.169 Der Staat darf die Kirche (als Religionsgemeinschaft) in ihrem spezifischen Tun nicht stören, erst recht nicht versuchen, dieses selbst auszuüben. Genauso wenig darf die Kirche staatliche Aufgaben übernehmen. In der Realität, so wird das auch von Schleiermacher gesehen, gibt es jedoch vielfache und komplexe Verflechtungen zwischen Staat und Kirche. Mit diesen kann man nur konstruktiv umgehen, wenn verstanden ist, warum es sich so verhält und warum das einer bestimmten Entwicklungslogik entspricht. Das sei untersucht anhand der staatstheoretischen Vorlesungen. In diesen entwickelt Schleiermacher zunächst eine ursprungsorientierte Erklärung der andauernden Vermischung, um schließlich zusätzlich eine funktionale Erklärung zu entfalten, mit der er die geschichtliche Entwicklung bis zur Gegenwart verstehen und orientierende Empfehlungen für die zukünftige Gestaltung plausibilisieren kann.
168 169
Barth: Kongreßeröffnung, 16. Ethik 1812/13, 33, §74.
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3. Politische Ambivalenz der Religion in den Vorlesungen zur Staatslehre Im Unterschied zur Ethik setzt Schleiermacher in der Staatslehre nicht bei der Unterscheidung des Handelns der Vernunft auf die Natur an und dementsprechend auch nicht bei der Abgrenzung der vier Gemeinschaftsformen, sondern bei der Staatsgenese. So ist nun zunächst die Gemeinschaftlichkeit, deren Bewusstwerdung die Staatswerdung hervorruft, noch genauer zu erfassen. Gemeinschaftlichkeit von Menschen, die über das Familiäre hinausgeht, bildet sich über das gemeinsame Verhältnis zum Boden. Durch dieses gemeinsame Verhältnis zum Boden entwickelt sich eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Form in der Tätigkeit. Aufgrund dieser Gemeinschaftlichkeit, insofern sie sich in familiären Verbindungen niederschlägt, entsteht auch eine gemeinsame Physiognomie. Die gemeinsame Form in der Tätigkeit nennt Schleiermacher Sitte. Beim Übergang zum Staat wird bewusst und ausgesprochen, was vorher unbewusst die Sitte war. Die ausgesprochene und dann auch sanktionierte Sitte ist das Gesetz. Zunächst liegt es in der Entwicklungslogik, dass alles, was zur Sitte gehört auch Gesetz wird bzw. in den Bereich des Staates fällt. Davon ist auch die Religion betroffen, da diese mit zur Sitte gehört. Erst im Fortschreiten staatlicher Entwicklung differenziert sich aus, was von der Sitte wirklich ins Gesetz gehört und was von der Sitte aus dem rechtlichen Bereich auszuschließen ist. Von der Sitte gehört dasjenige ins Gesetz, was das Verhältnis des Menschen zum Boden betrifft, weil dieses die Gemeinschaftlichkeit konstituiert, die im Staat Form gewinnt. So ist also zu unterscheiden, was jeweils zum gemeinschaftlichen Verhältnis des Menschen zum Boden gehört und was nicht. Auf diese Weise kommt Schleiermacher in der Staatslehre zur Differenzierung der vier Institutionen Kirche, freie Geselligkeit, Wissenschaft und Staat. Schleiermacher argumentiert über die ausgeschlossenen Extreme: weder Naturkräfte noch das Tätigsein des Menschen als reiner »Intelligenz« fallen darunter.170 Wegen des Letzteren sind Religion und Spekulation aus dem Verantwortungsbereich des Staates auszuschließen. Ebenso aber auch die freie Geselligkeit, weil diese sich auf die Individualität bezieht; damit gehört sie zur »persönlichen Differenz«, und nicht zur Sitte.171 Mit der Zeit muss der Staat die Gebiete von Religion, Wissen und freier Geselligkeit frei geben. Das geschieht laut Schleiermacher aus »einer inneren Indication, dass das Eine nicht dieselbe Art von Gemeinschaft ist wie das Andere«.172 Die präzise Abgrenzung des Staates von 170
Staatslehre 1829 74,18. Staatslehre 1829 72,24. – Zugleich gebe es bei Religion, die auf Vergemeinschaftung drängt, und beim Wissen, das Traditionsbildung anzielt, »Mittelglieder« zum Staat, weil das reine Wissen Verbindungen aufweist zum Wissen, das für die Herrschaft über den Boden gebraucht wird. Das religiöse Verhältnis motiviert den Menschen, sich in das Verhältnis zum Boden »fester hineinzuleben« (Staatslehre 1829 Heß 522,41f ). 172 Staatslehre 1829 Heß 514,20f 171
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den anderen Gemeinschaften bildet sich aber erst allmählich in der Geschichte heraus. Vorher handelt es sich um ein verworrenes Verhältnis, das laut Schleiermacher noch bis in seine Gegenwart andauert.173 Mit dieser Theorie vom gemeinsamen Ursprung der vier Sphären aus der Sitte kann Schleiermacher die geschichtliche Vermischung der Sphären wie auch die geschichtliche Tendenz der fortschreitenden Ausdifferenzierung erklären. Damit plausibilisiert er zugleich, warum es in der Natur der Sache liegt, dass Kirche und Staat trotz ihrer Verschiedenheit so vermischt und verbunden auftreten. Der reine Verweis auf den gemeinsamen Ursprung kann aber noch nicht erklären, warum die Vermischung so lange anhält und welche Interessen der Staat an dieser Vermischung haben kann. Weil Schleiermacher 1829 dieses Interesse noch nicht präzise geklärt hat, fällt auch sein Appell hin zu einer Aufhebung der Vermischung denkbar allgemein und kraftlos aus. Weil nämlich diese drei Gemeinschaften auch zum Bodenverhältnis des Menschen in Beziehung stehen, sind sie in genau dieser Beziehung abhängig vom Staat und seiner Anerkennung. Der Staat nun soll diese Gemeinschaften frei lassen und sie anerkennen. Als Grund nennt Schleiermacher, dass der Staat Glückseligkeit ermöglichen soll, indem er die dazu nötigen Elemente ermöglicht. Noch bei der Vorlesung von 1829 bleiben Schleiermachers Überlegungen, insbesondere seine geschichtlichen Analysen und seine Zeitdiagnose merkwürdig vage, so klar auch seine Intentionen sind. Erst in der Vorlesung von 1833 zeichnet Schleiermacher ein scharfes, präzises und hochdifferenziertes Bild vom Verhältnis von Staat und Kirche. Schleiermacher arbeitet sich an dem Problem ab, dass Staat und Kirche (oder allgemeiner: Religionsgemeinschaften) getrennte Sphären darstellen und daher auch realgeschichtlich getrennt sein sollten zu ihrem Besten, gleichzeitig aber bis zur Gegenwart denkbar enge Bindungen herrschen zwischen beiden Sphären, was Schleiermacher nicht einfach als Fehlentwicklung abqualifizieren kann. Es gilt also zu verstehen, welchen positiven Sinn eine so enge Beziehung zwischen Staat und Kirche (bzw. Religion) haben kann bei gleichzeitiger Geltung ihrer völligen Unabhängigkeit als ethische Sphären. Dazu sei nun ausführlich seine Argumentation von 1833174 vorgestellt. Schleiermacher setzt ein mit einer geschichtlichen Untersuchung. Er stellt den vorstaatlichen Zustand dem staatlichen Zustand gegenüber. Vor der Staatsbildung lebt Religion als Familienangelegenheit und als Angelegenheit einer größeren Gemeinschaft, die sich zu gemeinsamen Kulthandlungen trifft. Die Staatswerdung als solche ändert daran nichts, weil sich die Staatsbildung auf das gemeinsame Verhältnis zum Boden und zu den Lebensgrundlagen bezieht. Und doch zeigen alle frühen Staaten theokratische Strukturen. Kultus und Politik bilden darin eine Einheit, so dass auch das religiöse Personal als solches zur 173 174
Vgl. Staatslehre 1829 Heß 525,1f. Dazu nun im Folgenden Staatslehre 1833 Waitz 911–920.
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D. Thematische Fokussierungen
Obrigkeit gehört oder sogar die gleiche Person sowohl der Religionsgemeinschaft als auch dem Staate vorsteht. Das sei jedoch meist nicht stabil, sondern die staatliche Gewalt löst sich von der religiösen, indem sich ein Träger weltlicher Gewalt gegen den Träger der höchsten priesterlichen Autorität setzt. Damit wird die anfängliche Vermischung von Staat und Religion zumindest teilweise wieder gelöst. Die entscheidende Frage aber lautet: warum kommt es überhaupt zu dieser Vermischung, die aus dem Begriff des Staates nicht direkt zu erklären ist. Nur indirekt lässt sich diese Vermischung der Sphären aus dem Begriff des Staatlichen plausibilisieren. Zur Staatsbildung gehört die Bewusstwerdung des Gegensatzes von Gemeinwohl und Eigenwohl, von Gemeinschaftsinteresse und Privatinteresse. Und indem die Einzelnen ihr Privatinteresse dem Gemeinschaftsinteresse unterordnen, besteht und vollzieht sich Staatlichkeit. Exakt für diese Unterordnung des Privatinteresses zugunsten der Gemeinschaft kommt der Religion eine wichtige Funktion zu. Religion ist hier »ein Nothwendiges zur Stärkung des Gemeingeistes gegen das Privatinteresse«.175 Religion trägt so substantiell zur Staatsstabilisierung bei. Hier ist nicht eine staatsaffirmierende inhaltliche Ausrichtung der Religion gemeint, sondern ihre formale Eigenschaft, Gemeinschaft zu bilden und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und zu intensivieren. Trotz inhaltlich völliger Verschiedenheit von Staat und Religion bedingt ein formales Charakteristikum der Religion deren staatliche Nützlichkeit und Funktionalisierbarkeit. Daher nimmt der Staat ein Interesse an der religiösen Orientierung seiner Bürger oder verbindet ganz direkt die Religion mit der staatlichen Herrschaft. Die Auffassung von der staatlichen Funktion der Religion sieht Schleiermacher bis in seine eigene Gegenwart verbreitet: »Dies Bewußtsein wirkt noch immer, und stets findet sich ein Interesse der Regierung an der religiösen Gemeinschaft, so daß es ein wichtiger Gegenstand ist, daß jeder einer religiösen Gemeinschaft angehört, damit die Prinzipien dieser seinen Gemeingeist gegen das Privatinteresse unterstützen können«.176 Darin drückt sich implizit auch die Wahrnehmung aus, dass das Staatliche beständig erneuert werden muss oder umgekehrt, dass das Staatliche auch eine gefährdete, eine fragile Institution darstellt. Die äußeren Mittel wie Gesetz und gesetzlich gebundene Gewalt vermögen nicht das herbeizuführen, worauf der Staat beruht: dass die Bürgerinnen und Bürger, indem sie den Staat anerkennen, auch die Vorordnung des Gemeinwohls vor den Privatinteressen anerkennen. Die Religion stellt für diese stets fragile, nicht äußerlich kontrollierbare Anerkennung eine entscheidende Motivation dar. Gerade also weil die Religion selbst nicht politisch ist, ist sie politisch von wesentlicher Bedeutung. Daher überlässt der Staat die Religion auch nicht sich selbst, sondern er versucht, diese politische Funktion der Religion zu befördern und zu kontrollieren, indem er die Religion mitkontrolliert. 175 176
Staatslehre 1833 Waitz 912,13f. Staatslehre 1833 Waitz 912,14–18.
IV. Staat und Kirche
197
Schleiermacher genügt jedoch diese funktional-abstrakte Erklärung nicht. Im Falle des Christentums stellt sich das Problem, dass es einerseits das Prinzip radikaler Trennung von Staat und Kirche vertritt, dass andererseits aber alle christlich-europäischen Staaten von einer besonders weitreichenden Vermischung von Politik und Religion geprägt sind. Hier muss Schleiermacher auf eine konkret-geschichtliche Begründung rekurrieren. Sämtliche europäische Staaten verdanken ihre Staatsbildungsprozesse ihrer Bekehrung zum Christentum. In dieser Zeit der Völkerwanderung wurden aber Bildung und Wissenschaft fast ausschließlich von kirchlich-monastischen Trägergruppen überliefert. Durch diese Verbindung von Religion und Wissenschaft/Bildung ergab sich notwendig, »daß das Geistliche unter der Form des Weltlichen seinen Einfluß auf die Staatsverfassung ausübte«.177 Dem folgten dann die bekannten mittelalterlichen Auseinandersetzungen zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Mit diesen Theorieelementen kann Schleiermacher darlegen, warum Staat und Religion, näherhin die europäischen Staaten und das Christentum, sich so eng verbunden haben, obwohl es sowohl den Prinzipien des Christentums widerspricht als auch der Wesensbestimmung des Staates nicht gemäß ist. Diese genetisch-plausibilisierende Theorie lässt aber zukünftige Gestaltungsfragen noch völlig offen. Diesen wendet sich Schleiermacher als nächstes zu. Wie also soll in Zukunft das Verhältnis von Staat und Religion geregelt werden? Hier argumentiert Schleiermacher sehr behutsam, abwägend, in großen Bögen. Obwohl er sich letztlich klar positioniert, liefert er möglichen Vorlesungsspitzeln keine Provokation, keine einzelnen plakativen Sätze. Vielmehr besteht seine Argumentationsstrategie in der Präsentation von zwei berechtigten Prinzipien, die einander widersprechen, und für deren konstruktive Vermittlung er am Ende einen Vorschlag macht, nachdem er die Problematik anderer Lösungsvorschläge vorgeführt hat. Er setzt ein mit dem Prinzip, dass der Staat daran ein Interesse hat, dass die Bürgerinnen und Bürger einer religiösen Gemeinschaft angehören, dass also Religion bei den Bürgerinnen und Bürgern den Gemeingeist stärkt und stabilisiert. Schleiermacher schärft ein, dass dies ein Interesse des Staates, nicht nur der Regierung178 darstellt, dass es sich darin nicht gegen die »Untertanen« richtet, sondern von allen Bürgerinnen und Bürgern getragen wird, wie es sich auch in der öffentlichen Meinung als deren Artikulationsorgan ausdrückt. Für diese öffentliche Meinung gilt im Negativen, dass ein Mensch ohne Religion »als bedenklichster Gegenstand des Mißtrauens«179 anzusehen ist. Als zweites Prinzip benennt Schleiermacher die Trennung von Staat und Religion, die sich aus der Sachlogik von Staat und Religion ableitet: dass nichts in der 177
Staatslehre 1833 Waitz 912,26f. Das ist eine der wenigen Stellen in der Staatslehre, an welcher Schleiermacher Staat und Regierung so deutlich voneinander unterscheidet. 179 Staatslehre 1833 Waitz 913,26f. 178
198
D. Thematische Fokussierungen
Religion von sich aus unter die herrschaftssoziologische Differenz fällt, welche den Staat auszeichnet. Diese sachangemessene Trennung von Staat und Kirche impliziere auf den Einzelnen gewendet Gewissensfreiheit. Ausdrücklich leitet Schleiermacher also Gewissensfreiheit rein aus der Funktionslogik von Staat und Religion ab, nicht jedoch vom Einzelnen als Träger bestimmter Freiheitsrechte. Gewissensfreiheit für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger ist für Schleiermacher schlicht eine notwendige Folge der Funktionsdifferenz der Bereiche Staat und Religion. Die Schwierigkeit besteht nun darin, diese einander widersprechenden Prinzipien zu vermitteln. Wie kann der Staat sein Interesse an der religiösen Orientierung der Bürger befriedigen und gleichzeitig Gewissensfreiheit gewähren? Die Lösung lautet in Schleiermachers Worten: »daß der Staat seine Hülfe von dem religiösen Prinzip selbst erwartet, daß dies selbst wirkt, religiöse Gesinnung denen mitzutheilen, die keine haben, so daß er nicht nöthig hat, in die Gewissensfreiheit einzugreifen, wenn ihm auch als Regel gültig bleibt, daß die religiöse Gesinnung den Gemeingeist gegen das Privatinteresse unterstütze«.180 Schleiermacher empfiehlt also, auf die Eigendynamik des Religiösen selbst zu vertrauen, die umso besser wirken könne, wenn die Religion freigelassen und nicht vom Staat kontrolliert wird. Der Staat solle also Gewissensfreiheit gewähren und darauf vertrauen, dass die Religion selbst für die religiöse Ausrichtung der Bürger sorgt, welche dann von selbst dem Staat zugute kommt. Gerade also durch die gewährte Freiheit könne die Religion politische Funktionen erfüllen. Der Gewissensfreiheit ordnet Schleiermacher auch die positive Religionsfreiheit zu. Wenn in einem Staat mehrere Religionsgemeinschaften vertreten sind, so solle der Staat alle Religionsgemeinschaften in völliger Freiheit gewähren lassen.181 Diese Religionsfreiheit knüpft Schleiermacher aber an eine Bedingung. Damit der Staat die Selbstunterscheidung von Staat und Religion zugunsten der Religionsfreiheit ausüben könne, müssen Religionsgemeinschaften auch von sich aus die Selbstunterscheidung von Religion und Staat vollziehen. Diejenigen Religionsgemeinschaften, die als Religion auch nach staatlicher Macht streben, die also kurz gesagt eine Theokratie als Ideal lehren, sind von der Religionsfreiheit auszuschließen. Damit zielt Schleiermacher auf das zeitgenössische Judentum. Hier nimmt er explizit und ablehnend Stellung zur Frage der Judenemanzipation. Der Passus sei wörtlich wiedergegeben: »So ist das Judenthum stets eine solche Form [i. e. von theokratischer Orientierung, MR] gewesen und kann nur durch völlige Änderung aufhören es zu sein. Wenn nun die Frage aufgeworfen wird, wies mit diesen zu halten, da sie unter sich ein hinderndes Prinzip politischer Art haben, so liegt es nicht in der Sache, als 180 181
Staatslehre 1833 Waitz 914,25–30. Vgl. Staatslehre 1833 Waitz 919.
IV. Staat und Kirche
199
könnten diese gleich mit den anderen Einwohnen für den Staat mitwirken«.182 Solche eklatanten Fehlurteile schmerzen besonders bei ansonsten hochdifferenzierten Geistern, bei Schleiermacher nun ganz besonders. Dass er sich damit in vorherrschenden Traditionslinien von Aufklärungsdenkern befand, machte der Internationale Schleiermacher-Kongress von 2009 in Halle deutlich, der sich mit dem Verhältnis von Judentum und Christentum auseinandersetzte. Die konkrete Fehlanwendung ändert jedoch nichts an der Leistungskraft des von ihm formulierten Prinzips für die Gewährung von Religionsfreiheit, das hochaktuelle Bedeutung besitzt. Selbstunterscheidungen können also aus seiner Sicht nicht einseitig vorgenommen werden, sondern bedürfen der Wechselseitigkeit, um dem Gemeinwohl zu dienen. Die Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche steigert sich nun aber noch in der Komplexität. War bisher ausschließlich von der positiven politischen Funktion der Religion für den Staat die Rede – von theokratischen Religionsgemeinschaften einmal abgesehen –, so muss auch die potentiell staatsgefährdende Rolle der Religion in den Blick genommen werden. Diese staatsgefährdende Rolle der Religion gründet sich auf exakt die gleiche Eigenschaft der Religion, die auch ihre positive Funktion für den Staat begründet: auf ihre Gemeinschaftsorientierung. Religion richtet den Menschen auf Gemeinschaft aus; Religion macht dabei jedoch nicht an den Grenzen des Staatsvolkes halt, sondern bezieht sich auf die gesamte Menschheit. Ihr eignet eine grundsätzlich universale Dimension. Im Wissenschaftlichen und im Religiösen »liegt aber eine unmittelbare Beziehung auf die Gesammtheit und Einheit des ganzen menschlichen Geschlechts, ohne welche man sich die Vollendung dieser Gebiete nicht denken kann«.183 Daher gilt für Schleiermacher: »strebt man also von diesen Richtungen aus nach der Gemeinschaft mit allen, so liegt darin ja ein Gegengewicht gegen die politische Gesinnung«,184 die sich auf den Staat und die staatliche Gemeinschaft richtet. Ist aber die politische Gesinnung genügend ausgeprägt, stellt die religiöse Ausrichtung mit ihrer Menschheitsorientierung keine konkrete Gefahr für den Staat dar. Die Religion fungiert also gerade in ihrer staatsstabilisierenden Gemeinschaftsausrichtung auch als mögliches Korrektiv gegen eine zu staatsfixierte Gemeinschaftsbegrenzung. Die eine Funktion der Religion ist ohne die andere nicht zu haben. Indem die Religion den Staat stützt und befördert, kritisiert und relativiert sie ihn auch. Diese politische Doppelgesichtigkeit von Religion gilt grundsätzlich für jede Religion, sofern sie nur eine universale Ausrichtung hat – und nicht etwa ein Stammesgott oder eine lokal gebundene Gottheit verehrt wird.
182
Staatslehre 1833 Waitz 916,2–7. Staatslehre 1829 Willich 702,18–20. 184 Staatslehre 1829 Willich 702,21–23. 183
200
D. Thematische Fokussierungen
Die einzelnen Religionen und Konfessionen bilden aber darüber hinaus noch ein je spezifisches Verhältnis zum Staat aus. Dieses spezifische Verhältnis hat ebenso sehr mit ihrer Geschichte wie mit ihrer Organisationsstruktur und ihren inhaltlichen Lehren zu tun. Konkret führt Schleiermacher das für die römischkatholische Kirche und für die protestantischen Kirchen vor. Bei beiden Kirchentümern wirken gewisse staatsgefährdende Tendenzen – jedenfalls kann es von außen so wahrgenommen werden. Bei der römisch-katholischen Kirche drückt sich im Papsttum ein theokratisches Streben aus, das darauf aus ist, »die politische Leitung in die Hände der Lenker der religiösen Gemeinschaft zu legen«.185 Das argwöhnen Protestanten, weshalb sie es »für gefährlich halten, in die Organisation solche aufzunehmen, die nicht ihr eignes Urtheil sondern das des geistlichen Obern repräsentieren, der einen ganz andern Gesichtspunkt als das gemeine Wohl hat«.186 Umgekehrt erkennen Katholiken eine staatsgefährdende Haltung bei Protestanten. Weil der Protestantismus »durch eine anarchische Richtung gegen die höhere Kirchengewalt entstanden«187 sei, so sei auch zukünftig anarchisches Verhalten zu erwarten. Diese Ansicht setzt voraus, dass Entstehungsprinzip und Erhaltungsprinzip dasselbe seien. Wegen dieses anarchischen Potentials sei es gefährlich, Protestanten in die staatliche Organisation mit aufzunehmen, denn »sie haben in ihrer bürgerlichen Stellung noch die anarchische Richtung mit dem Vermögen der Organisation und sind dadurch also gefährlich«.188 Bei diesem gegenseitigen Misstrauen von Katholiken und Protestanten in ihrem Verhältnis zum Staat wird ein gemeinsames staatliches Leben schwer. Schleiermacher sieht als Lösung nur, dass »das Zusammensein in einem Staatskörper aufhört«189 oder »die Ansicht beider Theile von einander sich ändert«.190 Ähnliches ließe sich dann von anderen Religionen oder Konfessionen sagen. Damit verbindet Schleiermacher eine allgemeine Verhältnisbestimmung von Staat und Religion mit einer konkreten Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche, bzw. Kirchen. Die Leistung des Schleiermacherschen Staatsbegriffs für die Verhältnisbestimmung von Staat und Religion besteht darin zu zeigen, dass gerade durch die wechselseitige Selbstunterscheidung von Staat und Religionsgemeinschaften die Religion eine positive politische Funktion erfüllt. Schleiermacher kann zeigen, dass Religion und Staat funktionslogisch völlig verschiedene und unabhängige Größen darstellen. Ebenso kann er plausibilisieren, inwiefern die Religion – jenseits ihrer konkreten Inhalte – politische Funktionen erfüllt und die staatliche Ordnung als solche stabilisiert, aber auch relativiert. 185
Staatslehre 1833 Waitz 916,21f. Staatslehre 1833 Waitz 916,28–31. 187 Staatslehre 1833 Waitz 916,32f. 188 Staatslehre 1833 Waitz 916,40–42. 189 Staatslehre 1833 Waitz 917,10f. 190 Staatslehre 1833 Waitz 917,11. 186
V. Krieg und Frieden
201
Diese allgemeine Funktionsbestimmung wendet Schleiermacher aufs Christentum an. So gelingt es ihm auch, die geschichtlich auftretende und bis in seine Gegenwart andauernde Vermischung von Staat und Kirche in ihrem bedingten Sinn zu erklären, für die Zukunft aber gleichwohl auf eine strikte Trennung von Staat und Kirche argumentativ hinzuwirken. Es wird deutlich, dass die politische Funktion von Religion zugleich immer mit einem spezifischen Verhältnis der konkreten Religionsgemeinschaften zum Staat verbunden ist. Nur in der Würdigung beider Aspekte – der allgemein religiösen Funktion jeder konkreten Religion wie auch ihrer spezifisch-geschichtlichen Beziehung zum Staat – kann eine empirisch orientierte politische Theorie vom Verhältnis Religion und Staat angemessen sein. Diese nüchtern-analytische Theoriebildung verband sich aber bei Schleiermacher durchaus mit einer emphatischen Hoffnung auf eine künftige Neugestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat. So soll zum Schluss der noch jüngere Schleiermacher als verlobter Mann zu Wort kommen, wenn er an seine Braut schreibt: »Und dabei sind die Gegenstände so herrlich! den jungen Männern jetzt das Christenthum klar machen und den Staat, das heißt eigentlich ihnen alles geben, was sie brauchen, um die Zukunft besser zu machen als die Vergangenheit war«.191
V. Krieg und Frieden. Geschichtsphilosophisches Konzept einer Annäherung von Politik und Moral 1. Krieg als anerkanntes Mittel für politische Ziele Mit kriegerischer Staatsverteidigung beschäftigt Schleiermacher sich 1820 in einer Akademierede. Schleiermacher fragt dabei weder nach der Legitimität bzw. Illegitimität von Kriegen noch nach kriegsverhindernden Maßnahmen. Er definiert den Krieg, klassifiziert Kriegstypen und stellt zwei Extremformen von Kriegsorganisation dar. Weil die Akademierede Schleiermachers ausführlichste und argumentativ dichteste Ausführung zum Thema Krieg ist, wird sich die Rekonstruktion von Schleiermachers Theorie des Krieges vorwiegend an diesem Text orientieren. Wesentlich zum Verständnis ist, was Schleiermacher unter »militärischem Geist« sich vorstellt. Er nimmt ausdrücklich Bezug auf öffentliche Debatten über die Eigenart und Funktion eines solchen militärischen Geistes. Zwei Aspekten gilt sein besonderes Anliegen: (1) der militärische Geist ist eine spezifische Ausprägung von Vaterlandsliebe und (2) wie auch die Vaterlandsliebe ist der militärische Geist jeweils eigengeprägt, abhängig von verschiedenen 191 Brief Schleiermachers an Henriette von Willich vom 4. Dezember 1808, Br 2,176, so auch von Jaeschke in der Einleitung zitiert (Jaeschke: Historische Einführung, XXII).
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D. Thematische Fokussierungen
geschichtlichen Variablen, und also nicht aus einem wie auch immer zu bestimmenden allgemeinen Wesen des Militärischen ableitbar. Zum ersten: Was der militärische Geist sei, definiert Schleiermacher über einen vermittelnden Begriff, dem des Widerstandstriebes eines Volkes. Dieser liege dem militärischen Geist zu Grunde. Der Widerstandstrieb seinerseits sei »nichts anderes als die zum Streit aufgerufene Vaterlandsliebe«.192 Damit führt Schleiermacher eine selbstbegrenzende Dynamik in den Begriff des Widerstandstriebes und somit in den des militärischen Geistes ein. Insofern das Grundlegende die Vaterlandsliebe ist und der grundlegende Zustand der Frieden, muss der Widerstandstrieb ein begrenzter sein und sich immer auf die Vaterlandsliebe und deren Friedensorientierung zurückbeziehen. Er darf sich weder zu einer allgemeinen Feindseligkeit noch gar zu Hassgefühlen gegen bestimmte andere Nationen verfestigen oder steigern. Auch der Widerstandstrieb bleibt also auf den Frieden bezogen und muss ihm dienen. Das äußert sich darin, dass auch im Kriegszustand die Kriegshandlungen auf einen künftigen Frieden und auf einen künftigen friedlichen Umgang mit dem zeitweiligen Feind abgestellt werden. Dazu gehört dann z. B. die Schonung des Eigentums im feindlichen Gebiet. Zum zweiten: Den militärischen Geist gibt es nur im Plural, entsprechend dem Plural der Heere. Jedes Heer bildet einen eigenen spezifischen militärischen Geist aus. Dieser »kann nichts anderes sein als das, was den geistigen Thätigkeiten der Mitglieder eines Heeres als solchen gemein ist und also das geistige Leben des Heeres ausdrükt«.193 Als individuierende Momente des militärischen Geistes nennt Schleiermacher dann den Volkscharakter, die Entwicklungsstufe des Volkes und die äußere Lage des Landes.194 Die einheitsstiftende Grundsignatur ist dagegen der oben genannte Widerstandstrieb. Mit diesen Bestimmungselementen kann Schleiermacher das Militärische würdigen, welches nicht nur eine Funktion für den Staat erfüllt, sondern in dieser Funktion auch einen eigenen Geist ausbildet. Zugleich aber integriert Schleiermacher mit dieser Konzeption das Militärische in das geistige Gesamtleben des Staates und begrenzt den militärischen Geist durch den Rückbezug auf die Vaterlandsliebe, welche sich auf den Frieden richtet und richten muss. Was aber ist Krieg? Er ist dadurch charakterisiert, dass »die Kräfte des Staats sich umbilden zu einer gegen die Kräfte eines anderen Staats wirksamen Gewalt«.195 Das hat zwei Grunddimensionen: »Es wird dadurch nach innen aufgehoben die Gewerbsthätigkeit der Staatsbürger, und es entsteht nach außen statt des freundlichen Verkehrs mit dem bekriegten Staate selbst eine ihn hemmen192
Schleiermacher: Über die verschiedene Gestaltung der Staatsverteidigung, KGA I/11, 377, 19f. 193 AaO. 376,32–34. 194 AaO. 377. 195 AaO. 363,24–364,1.
V. Krieg und Frieden
203
de und aufhaltende Thätigkeit«.196 Die verschiedenen Gestalten von Krieg und Kriegsführung ordnet Schleiermacher im Folgenden, indem er hinsichtlich der genannten zwei Dimensionen jeweils die abstrakten Extremformen untersucht. Ein bestimmter geschichtlicher Krieg lässt sich dann durch die je spezifische Einordnung zwischen den Extremformen systematisch genau erfassen. Bei der ersten Dimension von Kriegsführung differenziert er die beiden Extreme folgendermaßen aus: ein Minimum von Aufhebung der Gewerbstätigkeit im Kriegsfalle und ein Maximum derselben. Im ersten Falle bedeutet das Kriegsführung durch ein Söldnerheer, im zweiten Falle die Beteiligung aller Staatsbürger am Krieg. Hinsichtlich der zweiten Dimension von Krieg – die gewaltsame Wendung gegen einen anderen Staat – orientiert Schleiermacher die Einteilung an den Kriterien vom Verhältnis der Kräfte und der Art des Gegensatzes zwischen den kriegführenden Staaten. Aus letzterem entwickelt er eine Typologie von Kriegsarten, welche u. a. umfasst: Geschäftskrieg, Demonstrationskrieg, Grenzkrieg und Ideenkrieg. Von einem solchermaßen beschreibend-ordnenden Gedankenduktus geht Schleiermacher dann über in orientierend-normierende Überlegungen. Diese konzentrieren sich um wiederum auf zwei Fragen, einerseits auf die technische Kriegsbereitschaft, andererseits auf die Steuerung des Heeres zwischen Gesinnung und Strategiekunst. Mit beiden Fragen geht Schleiermacher so um, dass er die reinen Extreme als unmöglich in der Handhabung verwirft und die Probleme der relativen Extreme aufzeigt. Die vollkommene Verbindung der Extreme bringt die bestmögliche Lösung in Schleiermachers Augen: »Besteht aber auch die stetige Rüstung aus nach der Idee des Aufstandes Ausgehobenen, dann wird sich am leichtesten die höhere Kunst mit der Gesinnung aussöhnen, und eben so leicht von der kleineren Masse auf die größere das Vertrauen auf die von jener schon erprobte Kunstleitung übergehen«.197 Auch an diesem Zitat fallen wieder folgende Charakteristika des Schleiermacherschen Staatsdenkens auf: Politische Entscheidungen kommen nicht vor. Schleiermacher charakterisiert Zustände, Strukturen und Entwicklungen. Deren Zusammenhang mit Entscheidungen politischer oder militärischer Akteure wird weder explizit bedacht noch bestritten. Ebensowenig ist die Rede überhaupt von politischen Akteuren. Im vorliegenden Text ist kein einziges Mal vom König oder sonstigen Staatsoberhäuptern die Rede, keinerlei zivile Elite wird thematisiert. Militärisches Führungspersonal erwähnt er nur gelegentlich: »glükliche[r] Feldherr«198 , »verständiger Befehlshaber«199 oder als »Befehlshaber wie andere Künstler«.200 Menschen kommen nur im Kollektiv vor: das Volk, 196
AaO. 364,1–4. AaO. 375, 34–38. 198 AaO. 374,5. 199 AaO. 374,8. 200 AaO. 375,7. 197
204
D. Thematische Fokussierungen
die Masse, das Heer, Söldner. Die Ausnahme bilden die Redeweisen von abstrakt »den einzelnen« oder »jeder einzelne«.201 Der Schlüsselbegriff für staatliche Entwicklungsprozesse ist die »politische Gesinnung« und deren Grad an Ausgeprägtheit. Eventuelle Gegenkräfte bezeichnet Schleiermacher mit »Neigung zu Vereinzelung«202 und »politische Nichtigkeit«.203 Schleiermacher ordnet sich mit dieser Auffassung in die Anschauungen seiner Zeit ein, doch auch beim Thema Krieg bleibt Schleiermacher programmatisch nüchtern. Es findet keinerlei Überhöhung des Krieges statt, er wird lediglich als manchmal notwendiges Mittel der Politik für bestimmte wichtige Staatsziele anerkannt. Zur kirchlichen Kriegsdeutung in der Zeit nach 1800 fasst Planert ihre Untersuchung so zusammen: »Der traditionellen christlichen Interpretation hatte der Krieg als Mittel zur Züchtigung gegolten, als Ultima ratio, deren eigentlicher Sinn in der Besserung des Menschen und damit in der Überwindung des Kriegszustandes lag. Im Mittelpunkt der neuen Kriegstheologie stand jedoch nicht die Läuterung, sondern die Legitimation. Sie zielte nicht auf Transzendenz, sondern auf Immanenz. Es ging nicht darum, einen defizitären Ist-Zustand zu überwinden, sondern die Opfer zu rechtfertigen, die der Krieg forderte. Aus dem Deutungsmuster vom Krieg als Strafe war die christliche Überhöhung des Kriegstodes geworden«.204 In den einzelnen Vorlesungen zur Staatslehre behandelt Schleiermacher vornehmlich Fragen militärischer Organisation. Er diskutiert ausführlich die Alternativen Stehendes Heer, Söldnerheer und Allgemeiner Kriegsdienst mit ihren jeweiligen Vorzügen und Nachteilen. Weil dieses Thema auch im Fokus damaliger politischer Diskussionen stand, greift Schleiermacher damit schlicht aktuelle Fragen auf. Im Folgenden seien überblicksweise seine kausale Erklärung von Krieg sowie seine Bewertung des Krieges vorgestellt. Bei der Analyse von möglichen Kriegsgründen stellt er ins Zentrum die ungleiche Entwicklungsgeschwindigkeit von Staaten. »Jeder Staat in schneller Entwicklung hat das Bewußtsein starker Lebenskraft, wenn er sie auch nicht nothwendig zu haben braucht, und damit entsteht ein Reiz, dasjenige mit geringerem Leben in sein Leben hineinzuziehen und daher die Eroberungssucht«.205 Das könne zwar durch Intensivierung der guten gegenseitigen Beziehungen im Zaum gehalten werden, doch ein »Keim zu feindlichen Verhältnissen«206 bleibe bzw. entstehe immer wieder aufs Neue. Insgesamt wendet sich Schleiermacher gegen eine Theorie des Gleichgewichtes bzw. umgekehrt eine Theorie des Ungleichgewichtes als Kriegserklärung. 201
Über die verschiedene Gestaltung der Staatsverteidigung, KGA I/11, 371,9; 373,22. AaO. 369,8. 203 AaO. 366,12. 204 Planert: Der Mythos vom Befreiungskrieg, 520. 205 Staatslehre 1833 Waitz 952,15–19. 206 Staatslehre 1833 Waitz 952,21. 202
V. Krieg und Frieden
205
1829 nennt er diese Theorie sogar eine »Träumerei«.207 Seine eigene Analyse von Kriegsursachen trägt er daran anschließend vor: Die Ursachen für Kriege seien immer in den inneren Zuständen von Staaten bzw. in der Verschiedenheit dieser inneren Zustände zu suchen, aber nicht in mangelndem Gleichgewicht zwischen Staaten. Eine Bewertung des Krieges im Allgemeinen nimmt Schleiermacher gar nicht bzw. nur sehr zurückhaltend vor. Er betrachtet den Krieg als Teil der Politik und stattfindende Kriege als Teil der staatlichen Entwicklungsgeschichte. Insofern aber die menschliche Entwicklung zu einem friedlichen Zustand von Freundschaft und menschheitsweitem Zusammenleben führen wird, stellt Schleiermacher den Krieg als defizitär und überwindbar dar. Doch auf dem Wege zu diesem zukünftigen Friedenszustand zwischen Staaten bewertet Schleiermacher Krieg als in bestimmten Situationen »unvermeidlich und auch vortheilhaft«.208 Also kann es auch Konstellationen geben, »wo es im Interesse des Staats ist die feindseligen Verhältnisse lieber zu beschleunigen als zurükzuhalten«.209 In dieser geschichtlichen Zeit untersteht – so stellt Schleiermacher es dar – die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden nur zweckrationalen Kriterien und Kosten-NutzenAbwägungen. Politik besteht darin, diese Abwägungen möglichst klug und nüchtern zu leisten. Das eigentliche Problem bestehe nur darin, dass die Entscheidungsträger in dieser Hinsicht oft nicht in klarer Interessenkalkulation sich verhalten, sondern »daß politische Vorurtheile, Antipathien, Leidenschaft«210 in diesem Gebiet so oft den Ausschlag herbeiführen. Das Politische als solches versteht Schleiermacher als »instrumentelle Vernunft«, als zweckmittelorientiert, als von Selbsterhaltungsinteressen geleitet. Den entscheidenden zukünftigen Fortschritt in der Geschichte sieht Schleiermacher darin, dass sich politische und ethische Perspektiven verbinden. Wenn das politische Interesse nicht mehr isoliert als solches wahrgenommen wird, sondern sich mit wissenschaftlichen, geselligen, religiösen Interessen verbindet, dann wird dadurch auch der Krieg nicht nur unnötig, sondern Kriege werden dann tatsächlich einfach nicht mehr stattfinden. Während nämlich der Krieg ein mögliches Mittel ist, um politische Interessen durchzusetzen,211 ist Krieg für wissenschaftliche, 207
Staatslehre 1829 Willich 745,13. Staatslehre 1829 Willich 741,38. 209 Staatslehre 1829 Willich 741,22–24. 210 Staatslehre 1829 Willich 742,18. 211 An dieser Stelle sei auf die einschlägige Kriegsdefinition von Schleiermachers Zeitgenossen General Carl von Clausewitz hingewiesen. Zwar hatte Schleiermacher dessen Hauptwerk »Vom Kriege« vermutlich nicht in seiner Bibliothek, aber dessen Thesen dürften ob ihrer Popularität ihm wohlvertraut gewesen sein. Clausewitz legt dar, »daß der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit andern Mitteln« (Clausewitz: Vom Kriege, 32). Dabei – so Clausewitz – muss immer klar bleiben: »die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel, und niemals kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden« (ebd.). Eine weitere wichtige 208
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D. Thematische Fokussierungen
gesellige und religiöse Interessen »immer etwas Unangenehmes«.212 Dieser verharmlosende Zug in Schleiermachers Kriegswahrnehmung kehrt ebenso wieder in seiner Christlichen Sitte. Dort wehrt sich Schleiermacher gegen die Auffassung, dass zum Wesen des Krieges das Töten gehöre. Schleiermacher unterscheidet also zwei Vollzugsweisen von Politik, die sich mit einem Fortschrittsmodell verbinden: in der einen Geschichtsphase vollzieht sich Politik als isoliert von anderen Interessen und Sphären der Gesellschaft; in der zukünftigen Gesellschaft gestaltet Politik den staatlichen Bereich in Verbindung mit ethischen Gesichtspunkten und unter Berücksichtigung anderer kultureller Interessen. Einen solchen Übergang von Politik zu einer stärker integrativen Wahrnehmung politischer Aufgaben aber fordert Schleiermacher nicht ein. Er sieht das als Entwicklung, die er nur beschreibt bzw. prognostiziert. Ein wichtiges Movens dieser Entwicklung erkennt er darin, dass die politischen Entscheidungsträger immer mehr »von diesen Interessen durchdrungen sind, an denen sie doch auch Theil haben«.213 Noch also gibt es Kriege und auch sinnvolle Kriege, aber in Zukunft werden Kriege überflüssig und als Übel anzusehen sein.214 Diese Entwicklung hin zu weniger Kriegen stellt den Staat aber vor ein anderes Problem. Es wird dadurch schwierig, genügend hauptamtliches Personal für das Heer zu finden, also genügend männliche Menschen dafür zu gewinnen, sich dem Heer als Beruf zu widmen. Die Schwierigkeit sieht er darin, dass der »Reiz hiezu«215 abnimmt, eben weil Kriege immer seltener werden. Das kann nur kompensiert werden, indem der Staat aufs Neue solche »Reize« entstehen lässt. Solch neuer Reiz liegt in der militärischen Ehre. Diese müsse gefördert werden. Doch solche Probleme seien lösbar. Wie Schleiermacher sich die Entwicklung der Staatenverhältnisse hin zu Frieden nun näher vorstellt, sei im folgenden Abschnitt erläutert.
Überlegung von Clausewitz beschäftigt sich mit folgender Ansicht, die er weitgehend affirmiert: Denn »wenn der Krieg ein Akt der Gewalt ist, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen, so müsste es immer und ganz allein darauf ankommen, den Gegner niederzuwerfen, d. h. ihn wehrlos zu machen« (aaO. 35). Grundsätzlich stimmt Schleiermacher mit dieser Position überein. Ein ausführlicher Vergleich würde an dieser Stelle zu weit führen. 212 Staatslehre 1829 Willich 741,36f. 213 Staatslehre 1829 Willich 742,4f. 214 Dass Kriege wirklich einst überflüssig sein werden, bekräftigt Schleiermacher auch durch einen Argumentationsgang zum Krieg als einem gesellschaftlichen Beförderungsort von Tapferkeit. Dass in einer Gesellschaft Tapferkeit geübt und gefördert werde, sei dringend zu wünschen. Jedoch brauche es dafür nicht Kriege; es seien genügend sonstige Gewerbe und Berufe in der Gesellschaft vorhanden, in denen Mut und Tapferkeit sich ausbilde (vgl. Staatslehre 1829 Willich 746). 215 Staatslehre 1833 Waitz 948,14.
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2. Auf dem Weg zum ewigen Frieden Schleiermacher entwirft ein Bild der zukünftigen Entwicklung des Staatenverhältnisses, das seiner Geschichtsphilosophie geschuldet ist. Die Staaten seien auf dem Weg zu einem »Zustand des ewigen Friedens«.216 Bisher haben die Staaten ihre Politik nach dem Nutzenprinzip gestaltet, ohne Bindung der Politik an Moral. Politik wendet List oder Gewalt gegen andere Staaten an, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Daraus entsteht immer nur ein gegenseitiges Misstrauen. Ein solches gegenseitiges Misstrauen aber verhindert eine wahre Freiheit der Staaten bzw. Völker für ihre innere Entwicklung. Es stellt eine »geistige Beschränkung«217 dar. Daraus nun bilde sich »natürlich das Streben auf dem Grunde der gemeinschaftlichen sittlichen Natur sich freundschaftlich zu gestalten«.218 Die Wortwahl »natürlich« soll dabei hervorheben, dass dieser Prozess von sich aus stattfindet, dass er nicht politisch erzwungen oder sonst wie kunstvoll befördert zu werden braucht. Schleiermacher konstatiert die Tendenz, diesen Friedenszustand durch ein Völkerrecht erreichen zu wollen. Dies schätzt er jedoch nicht als möglich ein. Ein wirkliches, d. h. durchsetzbares Recht kann es zwischen den Völkern nicht geben. Entsprechend betont er an anderer Stelle auch, dass dieser Friedenszustand nicht durch Vertrag gesichert werden könne.219 Er entsteht allein durch die innere Entwicklung der Staaten und durch die Entwicklung ihrer kulturellen und kommunikativen Vernetzung. Schleiermacher setzt auf Folgendes: Erstens: Die ungleiche Entwicklung der Staaten, welche er als Hauptursache von Kriegen analysierte, sieht er durch Öffentlichkeit und öffentliche Meinungsbildung sich ausgleichen. Die Staaten mit zu hoher Entwicklungsgeschwindigkeit erfahren Mäßigung, während sie umgekehrt die »langsameren« Staaten in ihrer Entwicklung beschleunigen. Dies geschieht durch lebhaften Austausch in wissenschaftlicher, persönlich-geselliger und religiöser Hinsicht. Dies jedoch braucht Öffentlichkeit, eine freie Presse und Freizügigkeit des Reisens. Kommunikation und Öffentlichkeit gelten für Schleiermacher somit als die entscheidenden Bedingungen von Frieden sowie als universale Mittel zur Konfliktvermeidung und Konfliktbewältigung. Zweitens sieht er eine allgemeine Kriegsscheu eintreten, schon um der Beförderung des allgemeinen Wohlstands willen und der Abneigung, gewonnenen Wohlstand durch einen Krieg zu verlieren. Ökonomische Interessen wirken von sich aus auf Frieden hin; sie befördern auch die internationale Vernetzung. Drittens nimmt Schleiermacher an, dass sich daraus eine freiwillige gegenseitige Festlegung von Staaten ergibt, sich an schiedsrichterliche Institutionen zu binden, welche auftretende Konflikte regeln. Er betont, dass dies nicht nur anfänglich auf Frei216
Staatslehre 1829 Willich 742,42. Staatslehre 1833 Waitz 953,24f. 218 Staatslehre 1833 Waitz 953,26f. 219 Vgl. Staatslehre 1829 Willich 742,43. 217
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willigkeit basiert, sondern dass zwischenstaatlich kein Vertrag, keine Festlegung als solche bindende Kraft hat, da keine Instanz für ihre Durchsetzung sorgen kann. Daher beruht die Stabilität solcher freiwilliger Festlegungen vor allem auf der kulturellen, kommunikativen Verbundenheit der Staaten untereinander, die durch nicht-politische Prozesse befördert wird. Damit nun sieht er viertens eine Entwicklung dahingehend, dass Politik und Moral sich verbinden, auf dass kein Gegensatz mehr auftritt zwischen ethischen und politischen Überlegungen.220 Politische Interessen werden dann nur in Verbindung mit kulturellen Interessen wahrgenommen. Die Isolation politischer Zweck-Mittel-Rationalität in staatlichem Selbsterhaltungsinteresse weicht einem integrativen Ansatz, in dem sich das Politische zwar noch unterscheiden lässt von den anderen Perspektiven und Sachinteressen, aber nicht mehr von ihnen getrennt vollzogen wird. Diese Konzeption Schleiermachers ist nur als Auseinandersetzung mit Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« angemessen zu würdigen. Daher zunächst eine kurze Erinnerung an die kantische Argumentation. Die Schrift »Vom ewigen Frieden« erscheint 1795, in der Zeit der Koalitionskriege gegen Frankreich. Sie konnte verstanden werden als eine »Theorie der Politik nach Freiheitsprinzipien«.221 Traditionsgeschichtlich ist diese Schrift in zwei Stränge einzuordnen: In die Friedenspläne seit der Renaissance, welche vorsehen, im Konfliktfall statt Krieg eine Schiedsgerichtsbarkeit etwa durch einen europäischen Fürstenkongress einzuführen. Der andere Strang ist allein auf den innerstaatlichen Frieden gerichtet, der mit Hobbes durch das Recht geschaffen wird, welches der Staat garantiert und durchsetzt. Auf beide Traditionen bezieht sich Kant konstruktiv und kritisch. Als Beweggründe, eine eigene politische Theorie zu verfassen, kann man bei Kant mehreres ausfindig machen: Er interpretierte die Französische Revolution als »geschichtliche Verwirklichung seiner Freiheitsideen«.222 Daran hatte er auch erfahren, dass die Politik der Prüfstein der Freiheit ist. Sodann motivierte ihn die persönliche Bekanntschaft mit der preußischen Zensur angesichts seiner Religionsschrift von 1793, sich öffentlicher Äußerungen zur Religionsfrage zu enthalten und dafür umso mehr direkt politisch zu artikulieren. Die Grundidee Kants besteht im »Zusammenhang von innerstaatlicher Gerechtigkeit und zwischenstaatlicher Friedlichkeit«.223 Kant gestaltete seine Schrift 220 Eine ähnliche Entwicklungstendenz sieht Schleiermacher schon in der Vorlesung von 1829, allerdings deutet er diese nur an und fasst nur ihren Anfangs- und Endpunkt ins Auge. Er erläutert: »In dem ersten Zustand der Staaten ist jeder Fremde feind, aus dem Principe des Argwohns – wenn man in dieser Hinsicht den Lauf der Geschichte betrachtet, so muß man doch gestehn daß die Fortschritte hier sehr groß sind und daß daher wohl ein Zustand eintreten wird, wo alle Differenzen durch diplomatische Verhandlungen werden ausgeglichen werden und der Kriegszustand gar nicht mehr eintreten« (Staatslehre 1829 Willich 742,20–26). 221 Dicke: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, 373. 222 AaO. 376. – Für Kants Verhältnis zur Französischen Revolution insgesamt siehe Burg: Kant und die Französische Revolution. 223 Kersting: Kant über Recht, 155. Kersting sieht als Implikat, dass Kants Konzept des Frie-
V. Krieg und Frieden
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in der Form eines völkerrechtlichen Friedensvertrages.224 Das Werk gliederte Kant in sechs Präliminarartikel sowie drei Definitivartikel zum Staatsrecht, zum Völkerrecht und zum Weltbürgerrecht. Der erste Definitivartikel besagt, dass jeder Staat republikanisch225 verfasst sein müsse. Kant hält einzig die Idee eines ursprünglichen Vertragsschlusses für eine vernünftige Grundlage von rechtlicher Gesetzgebung. Aus dieser Grundannahme folgen für ihn dann drei Prinzipien dieser rechtlichen Gesetzgebung: die Freiheit der einzelnen Bürger als Menschen, die Abhängigkeit aller Bürger von ein und derselben Gesetzgebung als Untertanen und schließlich die Gleichheit aller als Staatsbürger. Eine nach diesen Prinzipien gestaltete Verfassung ist republikanisch, enthält also den Verfassungsgrundsatz der personellen Teilung zwischen legislativer und exekutiver Gewalt. Relativ unabhängig davon ist die Form der Beherrschung. Die republikanische Verfassung ist nun aber nicht allein wegen der »Lauterkeit ihres Ursprungs«,226 sondern nun vor allem auch wegen ihrer Beförderung des Friedens allen anderen Verfassungsformen vorzuziehen. Einzig die republikanische Verfassung sei »friedensfunktional«.227 Weil nämlich in der republikanischen Verfassung die Staatsbürger über Krieg und Frieden entscheiden, entscheiden sie zugleich, ob sie auch alle Kriegsfolgen und Kriegsleiden auf sich nehmen wollen. Wahrscheinlich werden die Staatsbürger sich also gegen einen Krieg entscheiden. Hier bezieht Kant Stellung in der zeitgenössischen Kontroverse228 um die Deutung der Französischen Revolution: Kritiker sehen gerade Revolution und Republik als kriegstreibend an – und nicht als friedensförderlich.229 Der zweite Definitivartikel enthält die Forderung, dass das Völkerrecht sich auf einen Föderalismus freier Staaten gründen solle. Dieser ist für unseren Zusammenhang nun einschlägig. Argumentationsgrundlage bei Kant bildet die Parallelisierung von einzelnen Staaten mit einzelnen Menschen im vorstaatlichen Zustand. Beide seien durch die Weigerung ausgezeichnet, sich freiwillig einem verbindlichen Gesetze zu unterwerfen. Darin zeige sich die Bosheit der menschlichen Natur. Kant greift zu drastischen Worten und Bildern: »Gleichwie wir dens »der traditionsreichen Lehre vom gerechten Krieg allen Halt« nimmt (Kersting: Kant über Recht, 158). 224 Kant übernimmt dabei die Form von völkerrechtlichen Vertragswerken, wie sie im 18. Jahrhundert üblich waren. Diese waren oft als Doppelvertrag aufgebaut, mit einem Präliminarvertrag und einem Definitivvertrag. Dazu siehe Kleiner: Norm und Wirklichkeit, 148f. 225 Höffe macht auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die Kants Definition von Republik enthält (vgl. Höffe: »Königliche Völker«, 209–213). 226 Kant: Zum ewigen Frieden, 61 (B23). 227 Kersting: Kant über Recht, 153. 228 Zur äußerst lebhaften zeitgenössischen Rezeption der Schrift Kants siehe Kleiner: Norm und Wirklichkeit, 166–170. Die Dokumentation der Rezensionen zu Kants Schrift finden sich bei Dietze: Ewiger Friede. 229 Belege bei Kersting: Kant über Recht, 153–155.
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D. Thematische Fokussierungen
nun die Anhänglichkeit der Wilden an ihre gesetzlose Freiheit, sich lieber unaufhörlich zu balgen, als sich einem gesetzlichen, von ihnen selbst zu konstituierenden Zwange zu unterwerfen, mithin die tolle Freiheit der vernünftigen vorzuziehen, mit tiefer Verachtung ansehen und als Rohigkeit, Ungeschliffenheit und viehische Abwürdigung der Menschheit betrachten, so, sollte man denken, müßten gesittete Völker (jedes für sich zu einem Staat vereinigt) eilen, aus einem so verworfenen Zustand je eher desto lieber herauszukommen«.230 Stattdessen aber sind die Staaten stolz darauf, keinem gesetzlichen Zwang von außen unterworfen zu sein. Trotzdem müsse der Krieg von der Vernunft schlechterdings verdammt werden. Also sei der Weg nur, einen Friedensbund zu schließen. Dieser ziele auf Erhalt und Sicherung der Freiheit jedes daran beteiligten Staates – ohne dass sich die beteiligten Staaten äußeren Gesetzen unterwerfen müssten. Kant hält also eine Weltrepublik, in der sich alle Staaten einem äußeren gemeinsamen Gesetz unterwerfen für wünschenswert. Aber da die Einzelstaaten dazu nicht bereit sind und bereit sein werden – aufgrund der Bosheit der menschlichen Natur – kann als Ersatz ein Friedensbund dienen. Dieser beinhaltet nur das ständige Risiko, dass dennoch ein Krieg ausbricht. Im dritten Definitivartikel wird das Weltbürgerrecht näher bestimmt. Es bezeichnet den Zustand, dass »Menschen und Staaten, in äußerem aufeinander einfließendem Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind«.231 Die Vernunftidee des ewigen Friedens verbindet Kant im ersten Zusatzartikel mit seiner Geschichtsphilosophie. Darin geht es ihm darum zu zeigen, dass Frieden nicht nur ein Gebot der Vernunft ist, sondern auch von der menschlichen Natur her möglich. Der Mensch tut von sich aus nicht das, was ihm die Freiheitsgesetze vorschreiben. Aber die Natur bringt die Menschen gerade mittels ihrer Zwietracht zu friedlicher Eintracht und mittels ihren Eigennutzes zur Verwirklichung dessen, was die Freiheitsgesetze besagen. Für den Frieden im Zwischenstaatlichen, den die Staaten durch Selbstunterwerfung unter äußere Gesetze nicht hervorbringen, stellt Kant sich das so vor: Die Natur vereinigt Völker, »die der Begriff des Weltbürgerrechts gegen Gewalttätigkeit und Krieg nicht würde gesichert haben, durch den wechselseitigen Eigennutz. Es ist der Handelsgeist, der mit dem Krieg nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich die Staaten (freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittlungen abzuwehren«.232 Kant
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Kant: Zum ewigen Frieden, 65 (B31). AaO. 59 (B19). 232 AaO. 81 (B65). 231
V. Krieg und Frieden
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verbindet dabei einen apriorischen Rechtsbegriff 233 mit einem teleologischen Naturbegriff.234 Wie verhält sich dazu Schleiermachers Position? Anders als Kant bewertet Schleiermacher den Krieg nicht als Übel schlechthin, der deshalb unbedingt abzulehnen sei. Krieg im wohlverstandenen und präzise kalkulierten Eigeninteresse ist ein legitimes Mittel von Politik für Schleiermacher – für Kant ist Krieg immer verwerflich. Mit Kant stimmt Schleiermacher aber darin überein, dass er die Staatenwelt sich einem Zustand ewigen Friedens annähern sieht. Die Geschichte stellt einen Fortschrittsprozess hin zu diesem Zustand dar, in dem es keinen Krieg mehr geben wird und die Völker kommunikativ zusammenleben. Ebenso gehen beide Denker davon aus, dass es sich um eine natürliche Entwicklung handelt. Diese Entwicklung braucht nicht und kann nicht durch Appelle oder durch spezifisch politische Maßnahmen herbeigeführt werden. Innerhalb dieses Prozesses spielen für beide die nicht-politischen Motive der Menschen die entscheidende Rolle. Bei Kant sind es rein ökonomische Motive, also egoistische Motive, welche die Menschen dazu bringen das zu tun, was auch moralisch geboten ist. Bei Schleiermacher sind es umfassend menschliche Interessen, wie eben wissenschaftliche, gesellige, religiöse und auch ökonomische Interessen, die sich mit den politischen Interessen verbinden und daher das politische Handeln bestimmen. Bei Kant setzt sich die Moral (als praktische Vernunft) durch, indem sie durch die sinnlichen Antriebe der Menschen, also auf unmoralische Weise, zu eben dem Handeln bewegt, das aus Moral geboten ist. Indem die Menschen ihre ökonomischen Interessen verfolgen, also nach Kant aus Eigennutz handeln, schaffen sie als Mittel zum Zweck diesen Friedenszustand. Bei Schleiermacher führt die Verbindung der verschiedenen Interessen und Perspektiven bei den handelnden Personen dazu, dass sie den Frieden auch als Zweck in sich wollen. Der Frieden entsteht bei Kant gegen die eigentlichen Handlungsintentionen der Subjekte als Mittel zu einem ganz anderen Zweck; bei Schleiermacher führt gerade die Verbindung verschiedener Interessen zur Intention, den Frieden schaffen zu wollen. Ganz grundsätzlich wirkt sich dabei eine unterschiedliche Verhältnisbestimmung von Politik und Moral aus. Kant vertritt die Forderung einer völligen Bindung der Politik an die Moral, konstatiert aber, dass die reale Politik gerade nicht nach moralischen Prinzipien verfährt, sondern die Moral nur zur nachträglichen Rechtfertigung von getroffenen Entscheidungen missbraucht. Daher sei für die menschliche Geschichte nur deshalb Gutes zu hoffen, weil die Natur des Menschen gegen die Intentionen des Menschen ihn dazu bringe, aus unmoralischen Beweggründen doch das handelnd zu schaffen, was der Moral entspricht. Schleiermacher dagegen hofft für die menschliche Geschichte, weil er die ver233 Zur Verbindung von Kants Rechts- und Staatstheorie siehe Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. 234 Vgl, dazu Klemme: Einleitung, XXXVI.
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D. Thematische Fokussierungen
schiedenen Interessen und Antriebe des Menschen einander immer mehr durchdringen sieht und weil er auf die zunehmende Verbindung von Moral und Politik setzt. Schleiermachers moralfreier Politikbegriff ermöglicht es also, eine Verbindung von Moral und Politik zu denken, welche das politische Handeln im Sinne der Moral verändert. Kants moralnormierter Politikbegriff kann dagegen immer nur das Defizit realer Politik wahrnehmen. Die Moral setzt sich geschichtlich durch, gerade indem die Politik ihrer eigenen Unmoral folgt. Während Kant die Idee des ewigen Friedens als Rechtszustand zur Darstellung bringt, sieht Schleiermacher davon ab und setzt auf eine innere Konvergenz von Politik und Moral. Auch an der für die Neuzeit so wichtigen Einhegung des Krieges mittels des Rechts scheint er kein eigentliches Interesse zu haben, mehr noch: dem Recht traut er diese Leistung grundsätzlich nicht zu. Daher ist es nun zwingend erforderlich, sich einmal genauer seinen Umgang mit dem Gedanken des Rechts in der Staatslehre anzusehen. Diesem Thema widmet sich der nächste Abschnitt.
VI. Rechtstheorie. Sittenexplikativer Rechtsbegriff aus dem Geist der Nüchternheit Innerhalb der Theoriearchitektur der Staatslehre Schleiermachers kommt der Rechtstheorie eine fundamentale Funktion zu, denn Staatsgenese ist für Schleiermacher identisch mit Rechtsgenese. Der Staat entsteht, indem das Recht entsteht. Daher soll nun die Rechtstheorie im Einzelnen untersucht werden. Dabei wird sich herausstellen, dass im Kontrast zur fundamentalen Bedeutung des Rechts für die Theoriearchitektur die materialen Ausführungen Schleiermachers zur Rechtstheorie denkbar knapp ausfallen. Probleme der Rechtstheorie und ihre mannigfachen Einzelthemen spielen kaum eine Rolle bei Schleiermacher. Zum Schluss des folgenden Kapitels sei zu diesem Sachverhalt eine Erklärung in drei Thesen versucht. 1. Historischer Hintergrund Als realgeschichtlicher Hintergrund der Rechtstheorie Schleiermachers darf die Einführung des »Allgemeinen Preußischen Landrechts für die Preußischen Staaten« 1794 gelten. Dieses »geht von den Vorstellungen des späteren Naturrechts aus, läßt vor allem Einflüsse Thomasius, Pufendorfs und Wolffs erkennen und beabsichtigt, für ein bestimmtes Land in einer bestimmten geschichtlichen Lage ein den Forderungen der Vernunft entsprechendes, umfassendes Idealrecht zu kodifizieren«.235 Damit war bereits der erste Grund gelegt für eine künftige freie Staatsbürgergesellschaft.236 Doch war dieser Ansatz im Landrecht noch 235 236
Loos / Schreiber: Art. Recht, Gerechtigkeit, 278f. So Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, 143.
VI. Rechtstheorie
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verbunden mit altständischen Gesellschaftsvorstellungen. Die Stände sollten alle staatsunmittelbar werden. Indem die Stände durch das Gesetz bestimmt und dem Gesetz unterworfen wurden, wurden sie zugleich auch darin vom Staat abhängig und seiner Gestaltungsmacht unterstellt. Da die Stände als Stände nun primär vom Recht, und nicht mehr primär von Tradition und Geschichte, mit ihren Privilegien legitimiert wurden, konnten sie in ihrer Abhängigkeit vom Gesetz auch genau diese Privilegien verlieren, wenn und falls das Gesetz sie ihnen absprach.237 Nach der Niederlage 1806 begann in Preußen ein weitreichendes Reformwerk unter Stein und Hardenberg. »Ihr Grundgedanke war es, den Staat nicht nur neu zu organisieren, sondern aus Untertanen Staatsbürger zu machen, deren Energien durch Teilhabe am öffentlichen Leben zu wecken und ihnen die Chance selbstverantwortlich gestalteter Freiheit zu geben«.238 Im Gefolge dessen ergingen eine neue Städteordnung, eine Agrarreform, ein Edikt zur Bauernbefreiung, Maßnahmen zur Judenemanzipation, eine Finanz- und Heeresreform sowie eine Bildungsreform. Unter Staat verstand man vornehmlich die Verwaltung, so wurden unter dem Anliegen der Staatserneuerung vor allem Verwaltungsfragen diskutiert. »Preußen setzte seine lange Verwaltungstradition fort, kompensierte politische Mitbestimmungswünsche des Bürgertums in gewisser Weise durch Verwaltungsleistungen und Rechtsschutz«.239 Trotz großer Hoffnungen und königlichem Verfassungsversprechen wurde Preußen kein Verfassungsstaat. Alle Konzentration der Überlegungen und der Gestaltung wurde daher auf die Verwaltung240 gelegt. Auch in der Rechtsliteratur lag der deutliche Schwerpunkt auf dem Verwaltungsrecht anstatt auf dem Verfassungsrecht. Zwischen 1806 und 1830 richteten sich die literarischen Überlegungen auf die Reformen bis ins Detail; diese Schriften und Werke hatten die Beamten als Adressaten, nicht jedoch Studenten oder gar die allgemeine Öffentlichkeit.241 »Für eine frei diskutierende wissenschaftliche Literatur fehlte der geistige und verfassungsrechtliche Hintergrund« – so urteilt Michael Stolleis über die Defizite der preußischen Staatsrechtsliteratur gegenüber den wissenschaftlichen Leistungen in Gebieten des süddeutschen Konstitutionalismus.242 War die Beam237
Vgl. Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, 144–147. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts, II, 60. 239 AaO. II, 62. 240 Wie intensiv die Verwaltung dabei Einzelfragen bedachte und in diesen Einzelfragen sich eigentlich politische Fragen verbargen, zeigt sehr anschaulich Haas: Im Kleid der Macht. Er thematisiert die Einführung von Ziviluniformen in Preußen. die damit verbundenen Debatten in der Verwaltung und die politische Funktion solcher Ziviluniformen: »so scheinen die Uniformen das äußere Instrument gewesen zu sein, mit dem der Zentralstaat seine Präsenz und Machtkompetenz im Alltag demonstrierte« (aaO. 140). 241 Vgl. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts, II, 221. 242 AaO. II, 224. Er fügt hinzu: »Die staatsrechtliche Literatur konnte nicht besser oder freiheitlicher sein als die Zustände selbst«. 238
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tenschaft zunächst mehrheitlich reformorientiert, so änderte sich das spätestens nach Hardenbergs Tod 1822. Ein konservativer Grundzug wurde durchgesetzt, die liberalen Beamten isoliert. In diese Zeit fallen die Anfänge der Historischen Rechtsschule, die sich vor allem mit dem Namen Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) verbindet. Savignys Rechtsauffassung weist inhaltlich viele Parallelen zu Schleiermachers Rechtsverständnis auf, sie bildet den geistesgeschichtlichen Kontext von Schleiermachers Theorieentwicklung. Savigny wendet sich gegen naturrechtliche Konzeptionen, indem er die Geschichtlichkeit und Volksgebundenheit des Rechts gegen abstrakte Rechtsbegründungen stellt. Das Recht sei Ausdruck des jeweils eigentümlichen Volksgeistes auf einer bestimmten kulturellen Entwicklungsstufe. Wie sich der Volksgeist weiterentwickelt, so müsse auch das Recht sich mit fortbilden. Dies geschieht als organisch-geschichtliches Wachsen.243 Für die eigentliche Form des Rechts hielt Savigny daher das Gewohnheitsrecht. Der Volksgeist fungiert bei Savigny dabei gleichermaßen als Legitimationsinstanz des Rechts wie auch als genetischer Erklärungsgrund. Geltung und Genese fallen zusammen. Savignys Rechtsauffassung hat Konsequenzen für den Staatsbegriff. Der Staat erscheint bei ihm als organisches Gebilde und Erzeugnis des Rechts. »Nicht die Bewegung der Gesellschaft ist hier geschichtsbestimmendes Subjekt und das Recht ihr Mittel, sondern das Recht als überindividuelle geistige Lebensmacht bestimmt seinerseits den Gang der Gesellschaft mit«.244 2. Staat und Recht Recht ist ein äußerst komplexes Gebilde. In Anlehnung an Hart lässt Recht sich definieren als das in einem sozialen System tatsächlich geltende Regelsystem, dessen Normen gegebenenfalls auch zwangsweise in einem geregelten Verfahren durchgesetzt werden können.245 Die Auffassung, dass der Staatszweck im Recht besteht oder der Staat eine Rechtsanstalt sei, wehrt Schleiermacher in allen verfügbaren Texten zur Staatslehre entschieden ab. Die von ihm abgelehnte Position umschreibt Schleiermacher wie folgt: Der »Staat sey eine ›Sicherungs-Anstalt gegen Unrecht von aussen und von innen; also die Hervorbringung und Erhaltung des blos rechtlichen Zustandes‹«.246 Diese Auffassung widerlegt Schleiermacher durch den Gedanken der Vernunftwerdung in der Geschichte mittels zweier Schritte: Wenn der Staat nur zur Sicherung gegen Unrecht bestünde, würde er 243 Vgl. Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit, 9–41. Böckenförde beschreibt die zeitgenössischen Motive von Savignys Denkens als »Gegenbewegung gegen den Individualismus der Aufklärung und den revolutionären Neugestaltungswillen der Französischen Revolution« (aaO. 14). 244 AaO. 16. – Böckenförde kritisiert daran, dass dem ein abstraktes, darin ungeschichtliches Verständnis von Geschichte zugrunde liege, dass die Funktionalität des Rechts übersehen werde und dass sein Charakter als Ordnungsmacht übersehen werde (vgl. aaO. 27–29). 245 So Loos / Schreiber: Art. Recht, Gerechtigkeit, 231. 246 Staatslehre 1817 Varnhagen 210,24–26.
VI. Rechtstheorie
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überflüssig, sobald das Unrecht aufhören würde. Mit zunehmender Verbreitung der Vernunft würde aber Unrecht verschwinden. Im dann staatenlosen Zustand aber gäbe es kein Ganzes mehr, keine wirklich enge Verbindung zwischen den Einzelnen, daher könnten Einzelne nicht mehr auf das Ganze wirken, und das hieße, »alles Grosse wäre ausgeschlossen«.247 Diesen Zustand – als Folge der Auffassung vom Staat als Rechtsanstalt – könne niemand für vollkommen halten. Wenn man also diese Folge nicht wollen könne, dann könne man auch nicht diese Staatsauffassung vertreten. Von den realen Folgen dieser Auffassung her auf die Praxis urteilt Schleiermacher milder und sieht durchaus eine Übereinstimmung mit seiner eigenen Position: »Demungeachtet ist jene Theorie oder Definition für die Praxis nicht so schlimm, da sie doch immer von der absoluten Herrschaft der Vernunft über die menschliche Natur ausgeht, und man fragen könnte, ob das Wesen des Staats denn nicht eben in dieser Unterordnung der Natur bestehe«.248 Wenn Schleiermacher diese referierte Verhältnisbestimmung von Staat und Recht ablehnt, wie bestimmt er alternativ ihren Zusammenhang? Staat und Recht entstehen miteinander; die Staatsentstehung ist identisch mit der Rechtsentstehung. Aber der Staat entsteht laut Schleiermacher nicht um des Rechtes willen. Staat und Recht bilden sich nicht um eines Zweckes willen, sondern sind Ausdruck und Folge einer Entwicklung. Das sei nun im Einzelnen argumentativ rekonstruiert. Schleiermacher rekurriert auf den Begriff Volk. »Volk« bezeichnet eine Gemeinschaft von Menschen, die durch angeborene und kulturelle Gemeinsamkeiten verbunden sind. Diese Gemeinsamkeiten bilden sich im Verhältnis zu einem je bestimmten Klima und einer eigengeprägten Landschaft zu einer konkreten geschichtlichen Zeit. Diese Gemeinsamkeit zeigt sich als ähnliche körperliche Konstitution und als kulturelle Identität in Sprache, Denkweise, Begriffsbildung.249 Wenn aus dieser Gemeinsamkeit ein bewusster allgemeiner Wille wird, entstehen Staat und Gesetz. Das Gesetz ist exakt der bewusst gewordene Wille, der bewusst wurde, indem er ausgesprochen wurde. Bewusstwerdung und Sprachwerdung versteht Schleiermacher hier als ein und denselben Prozess. Der Inhalt dieses allgemeinen Willens bezieht sich auf die Vereinigung der gemeinsamen Kräfte, damit also auf das Bestehen des allgemeinen Willens selbst. Der bewusst gewordene allgemeine Wille ist derjenige, der sich als allgemeiner Wille selbst will. Indem dieser allgemeine Wille sich seiner selbst bewusst wird, will er aber, indem er sich selbst will, auch die bestimmte Form seiner selbst: das ist für Schleiermacher der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten. Die bestimmte Form des allgemeinen Willens besteht daher darin, dass dieser Wille von den Herrschenden ausgesprochen und an die Beherrschten gerichtet wird. 247
Staatslehre 1817 Varnhagen 210,37. Staatslehre 1817 Varnhagen 211,6–9. 249 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 213f. 248
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D. Thematische Fokussierungen
Weil der Wille, um bewusst zu werden, Sprache werden muss, muss er sich in einer Situation artikulieren, welche als Redesituation zwischen Redenden und Angeredeten sich bestimmt. Zur Bewusstwerdung des allgemeinen Willens als Sprachwerdung gehört also notwendig die Differenz zwischen Redenden und Angeredeten. Trotzdem darf nach Schleiermacher die Rede der Redenden nie als deren nur eigener Wille, sondern muss als allgemeiner Wille aller verstanden werden, also als gemeinsamer Wille von Redenden und Angeredeten, von Herrschenden und Beherrschten. Der ausgesprochene allgemeine Wille ist das Gesetz, oder noch genauer: »der zum erkannten Begriff erhobene allgemeine Wille«250 ist das Gesetz. Das Gesetz impliziert als solches den Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten und hebt ihn zugleich als Inbegriff des allgemeinen, darin gemeinsamen Willens auch wieder auf.251 Das Bewusstwerden des allgemeinen Willens führt einerseits zum Gegensatz zwischen Beherrschten und Herrschenden; andererseits führt das Bewusstwerden des allgemeinen Willens zu einer noch innigeren, weil bewussten Gemeinsamkeit aller untereinander. Insofern dient für Schleiermacher die Bildung des herrschaftssoziologischen Gegensatzes gerade der Vertiefung der Gemeinschaft aller. Das Gleiche gilt auch für einen anderen sich bildenden Gegensatz: indem der allgemeine Wille bewusst wird, wird auch die Differenz von einzelnem, persönlichem Willen einerseits und allgemeinem Willen andererseits bewusst. Diese Differenz sieht Schleiermacher auch vorher schon als gegeben, aber eben nicht als bewusst geworden an. Die im Bewusstsein eines möglichen Widerstreites zwischen Einzelinteresse und Allgemeinwohl erfolgende, nun bewusst vollzogene Identifikation des Einzelnen mit dem allgemeinen Willen vertieft aber die Gemeinschaftlichkeit. Aus diesem jederzeit möglichen Widerstreit entsteht laut Schleiermacher beim Einzelnen ein »Schwanken« zwischen Identifikation mit dem Einzelinteresse und Identifikation mit dem allgemeinen Willen. Anhand aber genau dieses Identifikationsaktes in seiner Ambivalenz definiert Schleiermacher die Differenz zwischen Obrigkeit und Untertanen. Zur Regierung wird derjenige, »in welchem dies Schwankende sich überwiegend endigt mit der Überzeugung von der nothwendigen Identität des einzelnen mit dem allgemeinen Willen«.252 Untertan dagegen muss der sein, »in dem sich das Schwankende mit der Überzeugung endigt, daß er den allgemeinen Willen nicht ergreifen kann, sondern bei dem der einzelne Willen dominirt«.253 Der Status, Beherrschter zu sein, erscheint somit zunächst als eine Defizitbestimmung, weil Beherrschter zu sein ein Defizit an Identifikation mit dem Allgemeinen bedeutet. Demjenigen, der sich selbst nicht intern ausreichend mit dem Allgemeinen identifiziert, muss das Allgemeine extern, durch Gesetz 250
Staatslehre 1817 Varnhagen 217,34. Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 218,33f. 252 Staatslehre 1817 Varnhagen 219,9–11. 253 Staatslehre 1817 Varnhagen 219,13–15. 251
VI. Rechtstheorie
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und Herrschaft, präsent gemacht werden. Doch Schleiermacher versteht das Schwanken zwischen Privat- und Gemeininteresse, darin auch zwischen Individualität und Allgemeinheit als entscheidend für die staatliche Entwicklung, konkret auch für den Nationalreichtum.254 Nationalreichtum bedeutet bei Schleiermacher nicht das Bruttosozialprodukt oder ähnliches, sondern die materiellen Produkte in ihrem Zusammenhang mit den geistigen Kulturkräften. Erst diese Verbindung von materieller Produktion und geistiger Entwicklung bildet den Nationalreichtum. Für diesen ist nun erforderlich, dass die Einzelnen ihre Individualität entfalten; beharren die Einzelnen in einem allgemein-Gemeinsamen, so verfällt auch das Ganze. Folgen die Einzelnen dagegen ausschließlich ihrem Streben nach Individualität, dann zerstört dies die Zusammengehörigkeit aller, welche den Staat konstituiert. Nur die Verbindung von Universalität und Individualität befördert den Nationalreichtum, jedoch unter der Dominanz des Universalen, wie es sich in der Allgemeinheit des Gesetzes ausdrückt und für alle verbindlich ist. Dieses Allgemeine bestimmt aber Schleiermacher als das wirklich allen Gemeinsame, weshalb das Beherrschtwerden immer nur auf freiwilliger Unterwerfung beruhen kann. »Sowohl das Gewalthaben als das Unterwerfen beruht wieder auf den übereinstimmenden Willen«.255 Schleiermacher führt in der Konsequenz dessen den Staat auf Anerkennungsakte aller Beteiligten zurück sowie die Beteiligung jedes Einzelnen im Staat auf dessen Anerkennung des allgemeinen Willens als des allgemeinen Willens, an dem er teilhat.256 Die Anerkennung des allgemeinen Willens vollzieht sich im Falle der Obrigkeit als Bereitschaft, diesen allgemeinen Willen als Gesetz auszusprechen und im Falle der Untertanen, den allgemeinen Willen als Gesetz zu akzeptieren und sich ihm zu unterwerfen. Dass dies immer »Beschränkungen der persönlichen Freyheit« bedeutet, dass also Gesetze als Gesetze zwar das Bewusstsein des Einzelseins erst hervorrufen und zugleich die Freiheit dieses Einzelseins immer beschränken, reflektiert Schleiermacher nur 1817/18 ausdrücklich – gemäß der Tendenz dieser Vorlesung, besonders auf die Rolle des Einzelnen alle Analysen auszurichten. Indem der Staat als Bewusstwerdung Gegensätze auftreten lässt, vertieft sich in ihm die Gemeinschaftlichkeit – weil es nun eine bewusste Gemeinschaftlichkeit in und über Gegensätze hinweg ist. Daher kann sich Schleiermacher Staatsbildung auch nicht als Gewalt vorstellen; denn da könnte sich gerade kein gemeinsamer Wille bilden. Ebenso schließt er den Vertrag als Staatsgründungsinstanz aus, denn ein Vertrag würde soviel Bewusstwerdung voraussetzen, wie sie erst im und durch den Staat gegeben sei, ihn daher nicht schon begründen 254
Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 314f. Staatslehre 1817 Varnhagen 219,18–20. 256 »Kein anderes Fundament hat das StaatsVerhältniß als die Pietät in der Anerkennung des gemeinsamen Willens, und jeder wird nur dann ein Mitglied desselben, in so fern der allgemeine Wille sich in ihm darstellt und ihn belebt« (Staatslehre 1817 Varnhagen 220,5–9). 255
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D. Thematische Fokussierungen
könne.257 Staatswerdung und Rechtsentstehung stellen Bewusstwerdungsprozesse dar. Als solche sind sie ein Moment im umfassenden und beständig weitergehenden Naturbildungsprozess der Vernunft. Bewusstwerdung ist Ausdruck und Vollzug des Naturbildungsprozesses. Dementsprechend bestimmt Schleiermacher den Übergang zum Staat als »ein Analogon von Absicht und reiner Naturentwikkelung«;258 der Übergang ist weder bewusstlos noch ganz bewusst, da er ja ein Übergang von Bewusstlosigkeit zu Bewusstheit ist. Ein solcher Übergang kann selbst nur als unbestimmbarer, aber sich selbst zunehmend bestimmender Übergang zwischen bewusstlos und bewusst gedacht werden. In der Vorlesung von 1817/18 rückt die Bewusstwerdung als staatskonstitutiv in den Vordergrund, und das Gesetz tritt in seiner Bedeutung für die Staatswerdung zurück. Alle einzelnen Überlegungen entwickelt Schleiermacher daraus, dass der Staat mit dem »Bewußtseyn der geselligen Verhältniße«259 beginnt. Das Gesetz hat »keinen andern Zwek, als die Thätigkeit zu entwikkeln«.260 Mit der Vorlesung von 1817 aber stimmt Schleiermacher 1817/18 ganz überein darin, dass Staat und Naturbildungsprozess aufs Engste zusammenhängen: Der Staat entsteht als Entwicklungsschritt im Naturbildungsprozess und zur weiteren Entwicklung des Naturbildungsprozesses. Die Entwicklung der Vernunft bedingt somit den Staat und bildet zugleich den Zweck261 des Staates. 1817 insistiert Schleiermacher auch an dieser Stelle der Argumentation darauf, dass der Staat somit kein notwendiges Übel oder eine Zwischenbestimmung menschlicher Entwicklung sei, sondern ein Element des höchsten Gutes. Nur im Staat könne der Gegensatz zwischen dem einzelnen und dem allgemeinen Willen aufgehoben werden, indem der Gegensatz zwischen einzelnem Willen und allgemeinem Willen dem Einzelnen bewusst wird und in seinem Bewusstsein selbst zum Austrag kommt. Aus dieser Wesensbestimmung des Staates heraus bildet Schleiermacher zwei Gegensätze, durch die er einen Maßstab zur Beurteilung des sittlichen Zustandes eines konkreten Staates gewinnt. Die eine Seite des Gegensatzes bildet die Anarchie; ein Staat neigt zu ihr und damit zur Selbstauflösung, wenn die einzelnen Willen zuungunsten des allgemeinen Willens geltend gemacht werden und sich gegen den allgemeinen Willen durchsetzen. Die andere Seite des Gegensatzes bildet der vollkommene Zustand des Staates, also die vollkommene Herausbildung des allgemeinen Willens auch im und für das Bewusstsein der Einzelnen. Alle realen Staaten befinden sich zwi257 Dass Schleiermachers Staatstheorie bei aller strikten Abgrenzung gegen die Vertragstheorie strukturell viele Ähnlichkeiten mit ihr aufweist, wurde im Kapitel zur Vertragstheorie gezeigt. 258 Staatslehre 1817 Varnhagen 221,8f. 259 Staatslehre 1817/18 Goetsch 390,28. 260 Staatslehre 1817/18 Goetsch 391,30f. 261 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 218,16. Schleiermacher verwendet den Begriff »Zweck« im Allgemeinen recht zurückhaltend in Bezug auf den Staat; denn der Staat soll nie als reines Mittel zu einem ihm externen Zweck verstanden werden.
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schen diesen Gegensätzen; bewegen sie sich auf den vollkommenen Zustand zu, so vervollkommnen sie sich; die Bewegung in die andere Richtung bedeutet Verfall. Schleiermacher rechnet dabei damit, dass es »periodisch Verfall und periodisch Vervollkommnung«262 gibt. Die Entgegensetzung beider Zustände im Staat macht Schleiermacher auch revolutionstheoretisch fruchtbar, indem er Revolution bestimmt als »nichts anders als der Kampf zwischen diesen beiden Zuständen«.263 Genauere Erläuterungen hierzu gibt er nicht und läßt so mehrere Deutungen zu. Zunächst liegt es nahe, die Revolution als Versuch der Durchsetzung von Einzelwillen gegen den Allgemeinwillen und damit als Annäherung an die Anarchie zu begreifen. Aber ebenso könnte man die Revolution auffassen als Versuch, den Allgemeinwillen gegen die bestimmten Privatinteressen Einzelner, v. a. aus dem Funktionsbereich »Regierung«, zur Geltung zu bringen. Die bisherige Analyse richtete sich darauf, wie Staat und Gesetz zusammenhängen, indem deren gemeinsame Genese gezeigt wurde. Im Folgenden sollen der Inhalt und Bezug des Gesetzes näher beleuchtet werden. Grundsätzlich ist das Gesetz der auf den Begriff gebrachte allgemeine Wille, der sich selbst als allgemeiner Wille will, und zwar im Bezug auf den Naturbildungsprozess, als deren Entwicklungsmoment das Gesetz überhaupt erst auftritt. Am Gesetz tritt die Differenz von Privatinteresse und gemeinsamem Interesse auseinander. Deren Vermittlung kann nur gelingen, wenn die Herrschenden im Gesetz das gemeinsame Interesse so aussprechen, dass sie dabei zugleich auch das Privatinteresse der Beherrschten berücksichtigen, und wenn die Beherrschten gemäß dem gemeinsamen Interesse, wie es sich im Gesetz ausdrückt, handeln.264 Aus diesem Verhältnis entfaltet Schleiermacher die Begriffe gesetzgebende und vollziehende Gewalt. »Das Volk steht am Anfang der gesetzgebenden, am Ende der vollziehenden, die Regierung aber am Ende der gesetzgebenden und am Anfang der vollziehenden Gewalt«.265 Die gesetzgebende Gewalt beginnt mit den Beherrschten, mit deren Wünschen und Bedürfnissen, welche die Regierenden wahrnehmen und dann berücksichtigen bei der Gesetzgebung. Die Verlautbarung des Gesetzes stellt zugleich Ende des gesetzgebenden Aktes und Anfang des vollziehenden Aktes dar, welcher im gehorchenden und ausführenden Willen der Beherrschten sich erst vollendet. Diesen Zusammenhang bezeichnet Schleiermacher auch als Wechselwirkungen,266 ohne welche der Staat aufhört Staat zu 262
Staatslehre 1817 Varnhagen 221,39. Staatslehre 1817 Varnhagen 222,1f. 264 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 246. 265 Staatslehre 1817 Varnhagen 247,13–15. 266 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 247,16. Aus historisch-soziologischer Perspektive beschreibt Löffler: Kommunikation zwischen Obrigkeit und Untertanen, wie Herrschaft im frühneuzeitlichen Staat sich als »Interaktionsmodell« verstehen lässt. Diese historische Skizze kann als Konkretisierung und Veranschaulichung von Schleiermachers Konzeption gelesen werden. 263
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D. Thematische Fokussierungen
sein. Schleiermacher nennt dafür als Beispiel, wenn der Anteil der Beherrschten an der Gesetzgebung gegen Null tendierte, dann würde es sich nicht mehr um einen Staat, sondern um ein großes Hauswesen handeln. 1829 bestimmt er dieses Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Gesetzesvollzug nicht als Wechselwirkung, sondern als Duplizität, welche die Einheit des Staatslebens ausmacht.267 Diese Duplizität versteht er zugleich als Dialektik: der Gesetzesvollzug bedeutet auch erst die Anerkennung der gegebenen Gesetze als Gesetze, also als gemäßer Ausdruck der gemeinsamen Sitte. Erst durch den Gesetzesvollzug ist das Gesetzgebungsverfahren vollendet. Umgekehrt ist auch der Gesetzesvollzug erst dadurch vollendet, dass die gesetzgebende Instanz (stillschweigend) anerkennt, dass es der Vollzug wirklich des Gesetzes war. Somit vertritt Schleiermacher hier eine milde Variante einer juristischen Anerkennungstheorie, wie sie klassisch von Carl Theodor Welcker in seinem Werk »Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe« aus dem Jahr 1813 entwickelt wurde. Welcker bindet die Geltung einer Verfassung an die freie Anerkennung der Bürger, denen reale Möglichkeiten gegeben sein müssen, ihre Nicht-Anerkennung auszudrücken – und sei es durch Auswanderung. Der Grundgedanke besteht darin, dass erst die Anerkennung Rechtssätze zu wahren, zu geltenden Rechtssätzen mache.268 Den Inhalt von Gesetzgebung (und Gesetzesvollzug) bilden also Normen, »wie die allgemeine Thätigkeit gehandhabt wird, und wie der gesammte Naturbildungsprozess zwischen die Einzelnen zu vertheilen oder auf eine angemessene Weise in dem Gegensatz zwischen Obrigkeit und Unterthanen aufzunehmen ist«.269 In der Vorlesung von 1829 verwendet Schleiermacher die gleichen Theorieelemente, aber er fokussiert sie anders in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Das Wesen des Staates führt er allein über die Gegensatzbildung von Herrschenden und Beherrschten ein. Das Gesetz wird dabei argumentativ noch gar nicht ins Spiel gebracht. Erst als Schleiermacher den Staat durch Abgrenzungen bestimmt, entwickelt er dafür die Theorie des Gesetzes. Die erste Abgrenzung des Staates, in welcher er das Gesetz als solches einführt, nimmt Schleiermacher vor gegenüber der Familie, in welcher ein Hausvater für seine Kinder verantwortlich ist und diese leitet. Während der Hausvater jedes Kind gemäß dessen Individualität behandelt, muss umgekehrt der Staat alle Bürger gleich behandeln und muss der Gesetz gewordene Wille für alle derselbe sein.270 Schleiermacher führt das Gesetz über dessen Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit ein. Die zweite Abgrenzung macht Schleiermacher geltend gegen eine Minimal- und gegen eine Maximalbestimmung der Reichweite staatlicher Ordnung in Hinsicht auf das menschliche Leben. Der Staat soll weder alle Gebiete des menschlichen Lebens 267
Vgl. Staatslehre 1829 Heß 537. Vgl. dazu Hofmann: Einführung, 49–52. 269 Staatslehre 1817 Varnhagen 241,21–25. Schleiermacher differenziert dabei die Gesetzgebung in einem Staat mit einer Verfassung und in einem Staat ohne Verfassung. 270 Vgl. Staatslehre 1829 Heß 510. 268
VI. Rechtstheorie
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umfassen, noch soll er nur für einiges Wenige zuständig sein. Für die positive Definition der Reichweite staatlicher Ordnung legt Schleiermacher seine Gesetzestheorie dar. Das Gesetz ist die durch die Regierung ausgesprochene und sanktionierte Sitte. Durch das Gesetz wird die bewusstlose Zusammengehörigkeit im vorstaatlichen Zustand eine bewusste Zusammengehörigkeit im Staat. Was also vorher zur Sitte gehörte, wird dann im Gesetz ausgesprochen und geregelt. Aufgrund dieses Zusammenhanges muss also näher geklärt werden, was zur Sitte gehört. »Sitte« verwendet Schleiermacher auf vielfältige Weise. Erstens charakterisiert er die Sitte als Willensphänomen: »Sitte ist nur die Äußerung der freien Willensthätigkeit«,271 »Sitte ist eine gemeinsame Willensrichtung«.272 Sitte definiert Schleiermacher zweitens als »die einer Masse angehörige Art und Weise, gewisse Thätigkeiten zu verrichten«.273 Daraus ist nur der Schluss zu ziehen, dass Schleiermachers Begriff der Sitte eine gemeinsame Form der Tätigkeit meint, die aus gemeinsamer freier Willensbestimmung hervorgeht, wobei Schleiermacher mit dieser Bestimmung lediglich Zwang oder ein rein externes Bestimmtwerden negiert, aber gerade nicht Freiheit oder Selbstbestimmung in einem qualifizierten Sinne behauptet. Die Sitte selbst nämlich ist noch diesseits der Differenz von Selbst- und Fremdbestimmung, von Einzelsein und Gemeinschaft. Das gemeinsam-gleichförmige Tätigsein wäre dann Ausdruck eines gemeinsamen Daseins und einer gemeinsamen Einsicht – wie sich beides durch gemeinsame Physiologie, Klima und Landschaftsprägung sowie Sprache und Geschichte bildet. Bei der Sitte, bevor sie Gesetz wird, tritt – so Schleiermacher – die Differenz von Innen- und Außenbestimmtheit, von Individuum und Gemeinschaft noch gar nicht hervor – und genau diese Struktur macht die Sitte als Sitte aus. Wenn dieses Ineinander von Individuum und Gemeinschaft aber konstitutiv zur Sitte gehört, das Gesetz aber die Differenz von Individuum und Gemeinschaft bewusst macht und als Gegensatz erfahren lässt: verändert dann das Gesetz, welches die Sitte ausspricht, nicht die Verfasstheit der Sitte selbst? Schleiermacher selbst reflektiert dieses Problem nicht, aber es stellt sich in die Konsequenz seiner Gesetzeskonzeption. Aufgrund des von ihm definierten Verhältnisses von Gesetz und Sitte müsste sich innerhalb der staatlichen Gemeinschaft die Struktur der Sitte verändern. Denn wenn sich Sitte und Gesetz auf die gleichen Inhalte des Gemeinschaftlichen beziehen, die Sitte ohne Bewusstsein, das Gesetz aber die Inhalte der Sitte bewusst macht und ausspricht, dann kann das die Sitte nicht unverändert lassen. Eine andere Interpretationsmöglichkeit wäre, dass die Sitte im Staat das ist, was als prägender Gemeinschaftscharakter noch nicht bewusst wäre. Das aber implizierte, dass die Inhalte der Sitte, die zum Gesetz werden, 271
Staatslehre 1829 Heß 512,6f. Staatslehre 1829 Heß 512,25f. 273 Staatslehre 1829 Heß 511,17f. 272
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D. Thematische Fokussierungen
aufhören, Sitte zu sein. Dann wären Gesetz und Sitte von ihrem Inhalt immer verschieden; das was Gesetz ist, wäre nicht mehr Sitte; und das was Sitte ist, wäre noch nicht Gesetz. Da aber Schleiermacher von der einen sich zwar weiterentwickelnden, aber doch prinzipiell gleich bleibenden inhaltlichen Identität von Recht und Sitte ausgeht, scheidet diese zweite Interpretation aus. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Sitte auch innerhalb des Staates erhalten bleibt und das Gesetz sich weiterhin auf sie bezieht. Aber das Verhältnis des Einzelnen zur Sitte ändert sich:274 die Sitte ist für ihn nicht mehr ein bewusstlos Gemeinsames, sondern aufgrund des Gesetzes bezieht der Einzelne sich im Bewusstsein seines Einzelseins auf die Gemeinschaftlichkeit, die ihm damit bewusst ist. Die Sitte innerhalb des Staates ist damit nicht mehr durch ihre Bewusstlosigkeit gekennzeichnet, sondern durch eine Formlosigkeit, durch die sie sich weiterhin vom Gesetz unterscheidet. Die Pointe der Verhältnisbestimmung von Sitte und Gesetz liegt in der Eingrenzung und Orientierung staatlicher Gesetzgebung. Das Gesetz soll die Sitte ausdrücken – und nichts anders. Und das Gesetz soll nur die Sitte ausdrücken – und nicht mehr. Damit entlastet Schleiermacher den Staat von weitergehenden Gestaltungsaufgaben. Der Gesetzgeber soll nur die (sich weiterentwickelnde) Sitte in gesetzliche Form bringen. Schleiermachers Konzept richtet sich hiermit gegen eine Überregulierung und gegen eine Steuerungsfunktion des Gesetzes für die gesellschaftliche Entwicklung.275 Umso wichtiger erscheint in Folge, zu bestimmen, welche Lebensvollzüge und Lebensgebiete zur Sitte gehören und daher vom Gesetz geregelt werden sollen. Seine Antwort entfaltet Schleiermacher wie folgt: Die in der Sitte ausgedrückte Gleichmäßigkeit verbindet sich immer mit persönlicher, individueller Eigenart in der Ausführung dieser Tätigkeiten, ohne dass dies einen Gegensatz oder auch nur eine bewusste Differenz erzeugen würde. Die Abgrenzung zwischen dem allen Gemeinsamen und dem, was zum individuellen Lebensvollzug gehört, ändert sich im Laufe der Geschichte. So ändert sich der Umfang dessen, was die Sitte enthält, worin also die Gemeinsamkeit eines Volkes besteht. Das Gesetz muss dieser Entwicklung entsprechen, und darf nur das enthalten, was in einem jeweiligen geschichtlich-kulturellen Zustand auch wirklich zur Sitte gehört.276 Die Entwicklungsrichtung bestimmt Schleiermacher als immer weiter274 Darauf könnte sich der in seinem Bezug ansonsten recht unklare Satz in Schleiermachers eigenem Manuskript richten: »Aber eine Veränderung in dem Verhältniß zwischen Sitte und persönlicher Bestimmung findet ohnstreitig statt« (Staatslehre 1829 73,1–3). 275 Auch wenn er diesen Punkt an anderer Stelle etwas einschränkt. Da kann Schleiermacher sehr wohl das Gesetz als Entwicklungsförderung für die Sitte denken. 276 »Alles, was Sitte ist, kann auch Gesetz werden; doch kann sich der Unterschied des Differenten und der Sitte mit der Zeit ändern, und dann müssen sich auch die Gesetze in dieser Beziehung ändern« (Staatslehre 1829 Heß 513,22–25). Diese Unterscheidung zwischen dem, was zur Sitte gehört und was nicht mehr, erachtet Schleiermacher vor allem hinsichtlich der Religion als relevant. Bei Staaten, die eine gesetzlich geregelte Staatsreligion haben, gehört eben
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gehende Ausdifferenzierung von Lebensvollzügen aus der gemeinsamen Sitte.277 Was aber immer und konstitutiv zum Staat gehört ist all das, »was unmittelbar mit der Beherrschung des Erdbodens zusammenhängt«.278 Mit dieser Verhältnisbestimmung von Gesetz und Sitte eröffnet Schleiermacher die Möglichkeit, auch eine Nicht-Entsprechung von Gesetz und Sitte zu denken. Was sieht er für den Konfliktfall vor, wenn Gesetze nicht die gemeinsam geteilte Sitte ausdrücken? Diesen Konfliktfall betrachtet Schleiermacher als instabilen Zustand; es kann nur ein Durchgangspunkt sein, in ihm ist keine Ruhe und Stabilität möglich.279 Das, was ursprünglich eins ist, tritt in einem bestimmten Fall dabei auseinander: die bewusste Anerkennung dieses Staates und die bewusste Anerkennung des Gesetzes. Die Einzelnen können damit nur so umgehen, dass sie aufgrund ihrer Anerkennung des Staates auch das konkrete Gesetz befolgen, obwohl sie es nicht als Ausdruck der bzw. ihrer Sitte anerkennen können. Dann aber rechnet Schleiermacher damit, dass der Konflikt sich so löst, dass aufgrund von Erfahrung sich die Sitte, die gemeinsame Einsicht der Beherrschten so weiterentwickelt, dass das fragliche Gesetz für sie mit der Sitte übereinstimmt. Damit impliziert Schleiermacher auch Folgendes: Die Herrschenden scheinen dann zumindest partiell nicht die Sitte der Beherrschten zu teilen. Die Sitte der Herrschenden scheint – so legt es die entsprechende Textstelle nahe – der Sitte der Beherrschten voranzugehen und weiter entwickelt zu sein. Schleiermacher interpretiert das als Differenz in der Einsicht.280 Eine solche Differenz der Einsicht, und damit dann der Sitte, müsste dann eine Gefährdung des Staates überhaupt immer bedeuten, da der Staat bei Schleiermacher ganz auf der gemeinschaftlichen Anerkenntnis der herrschaftssoziologischen Differenz sowie des Gesetzes als Ausdruck des Gemeinsamen, also der gemeinsamen Sitte, beruht. Wo diese Gemeinsamkeit der Sitte verloren geht oder minimiert wird, berührt das die Fundamente des Staates. Hier vertraut aber Schleiermacher darauf, dass durch den Vollzug des zunächst Sitte-fremden Gesetzes der Gesetzesinhalt zur Sitte wird, zur allen gemeinsamen Sitte. Damit erhält das Gesetz eine sittengenerierende Funktion. Daraus folgt, dass die staatliche Entwicklung immer die Religion noch zur Sitte – während in anderen Staaten die Religion nicht mehr Teil der Sitte ist und daher auch nicht in die Zuständigkeit des Staates mehr fällt. 277 Ein einziger Textbeleg spricht dagegen; »daß hierin nach beiden Seiten Veränderungen vorgehn, daß etwas könne in das Dominium des Staats fallen, was früher dem Einzelnen angehörte, und so umgekehrt« (Staatslehre 1829 Heß 521,35–37). Im Kontext dessen geht er jedoch nur auf Emanzipationsbestrebungen ein, vor allem auf das Bestreben des Religiösen und des Wissenschaftlichen, sich frei zu jeweils eigenen Gemeinschaften zu entwickeln. Im Zuge der Argumentation verweist Schleiermacher auf sein Vierer–Schema in der philosophischen Ethik, wonach Staat, Kirche, Wissenschaft und freie Geselligkeit jeweils eigene Sphären und Gemeinschaftsformen ausbilden, die nebeneinander bestehen. 278 Staatslehre 1829 Heß 516,31f. 279 Vgl. Staatslehre 1829 Heß 512. 280 Vgl. Staatslehre 1829 Heß 512,14f.
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D. Thematische Fokussierungen
auf eine Entsprechung von Sitte und Gesetz zielt durch Weiterentwicklung von Sitte und Gesetz: das Gesetz muss sich ändernden Sitten angepasst werden, und die Sitte wird durch das Gesetz fortentwickelt. Im Konfliktfall zwischen Gesetz und Sitte ergibt sich also für Schleiermacher ein Ausgleich durch die geschichtliche Erfahrung und Weiterentwicklung, ohne dass formalisierte Verfahren für die Behebung dieses Konfliktes nötig oder vorgesehen wären. Schleiermacher reflektiert, dass für die »Realität« des Gesetzes es notwendig ist, dieses auch mit Gewalt durchsetzen zu können.281 Diese Aufgabe ordnet er der vollziehenden Gewalt zu. 1829 besteht die argumentative Funktion des Gesetzesbegriffes darin, den Staat von anderen Gemeinschaftsformen zu unterscheiden, ihn damit zu begrenzen, aber auch sein Proprium präzise zu benennen. Gesetz ist dabei das NichtIndividuelle, daher das Allgemeine, und es ist das Allgemeine, insofern es die Sitte und nur die Sitte ausdrückt. Somit zentriert Schleiermacher den Gesetzesbegriff ganz auf das Moment der Allgemeinheit; die Momente der Bewusstheit, der Sprachlichkeit und des Zwangscharakters erwähnt Schleiermacher, aber sie haben für seine Argumentation keine tragende Funktion. Eine weitere neue Akzentsetzung nimmt Schleiermacher in der Vorlesung von 1833 vor. Dominierte 1817 und 1817/18 hinsichtlich des Gesetzes die Vorstellung des allgemeinen und gemeinschaftlichen Willens, der sich im Gesetz ausspricht, so identifizierte Schleiermacher 1829 das Gesetz vor allem als ausgesprochene Sitte. 1833 nun entwickelt er den Begriff des Staates aus der Semantik des Befehlens und Gehorchens. Aus dieser Funktionsunterscheidung gewinnt er die Begriffe Obrigkeit und Untertan.282 Das Gesetz fasst er dementsprechend als ein Befehlen der Obrigkeit, für das die Form der Allgemeinheit gelten muss, insofern dieses Befehlen sich nicht nur auf bestimmte Individuen beziehen darf. Schleiermacher leitet hier an dieser Stelle das Gesetz aus dem Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten ab, es ist Ausdruck und Vollzug dieses Gegensatzes. Entscheidend ist aber nun, dass Schleiermacher für die Bildung des Gegensatzes zwischen Befehlen und Gehorchen, also zwischen Obrigkeit und Untertanen es als notwendig ansieht, dass die Obrigkeit mit physischer »Obermacht« und Gewalt ausgestattet ist.283 Damit präzisiert Schleiermacher seinen Begriff des Staates »als eines Verhältnisses zwischen Obrigkeit und Unterthan in der Form der Gewalt und des Gesetzes«.284 Das ist ein neuer Gedanke, der in den vorhergehenden Vorlesungen keine Rolle spielte, dass zum Wesen von 281
Vgl. Staatslehre 1829 Heß 534. Vgl. Staatslehre 1833 Waitz 762,17–19. Dabei äußert er sich auch zur Konnotation des Begriffs Untertan. Ihm sei sehr wohl bewusst, wie »übelberüchtigt« dieses Wort für seine Zeitgenossen sei. Das aber beruhe nur auf Irrtum und Verwechslung. Eine nähere Erläuterung aber unterschlägt er (oder Herr Waitz). 283 Vgl. Staatslehre 1833 Waitz 768,28–38. 284 Staatslehre 1833 Waitz 769,38–40. 282
VI. Rechtstheorie
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Gesetz und Obrigkeit die Gewalt gehört, die tatsächliche Möglichkeit, Gesetze durchzusetzen und ihre Erfüllung zu erzwingen. Den Begriff der Sitte führt Schleiermacher aber auch 1833 ein. Das geschieht in dem argumentativen Zusammenhang der Abgrenzung des staatlichen Bereichs von anderen Lebensbereichen. »Sitte« bezeichnet dabei eine Gleichheit der Menschen und ihrer Lebensverhältnisse, die sich u. a. in einer gewissen »Übereinstimmung in Wohnung, Kleidung, Nahrung« ausdrückt. Das, was »früher als Sitte sich selbst realisirte, wird jetzt als Gesetz ausgesprochen«.285 Worin der Unterschied von Sitte und Gesetz liegt, stellt Schleiermacher 1833 so dar: »Der einzige [Unterschied, MR] ist der, was ausgesprochen wird, ist auch gedacht worden und hat sich zum bestimmten Bewusstsein entwickelt, was ohne ausgesprochen zu werden bloß gehandelt worden ist, ist freilich nicht bewusstlos aber nur instinctartig geschehen«.286 An dieser Stelle verwöhnt Schleiermacher ein einziges Mal seine Leser mit einem diesbezüglichen Beispiel. Das Beispiel entnimmt er dem landwirtschaftlichen Bereich: der Zeitpunkt der Weinlese ist vorstaatlich der gleiche gewesen wie der dann im Gesetz vorgeschriebene Zeitpunkt. Aber vorstaatlich hat man diesen Zeitpunkt nicht ausgesprochen und festgesetzt, sondern nur kollektiv eingehalten. Das Beispiel macht deutlich, wie sehr Schleiermacher beim Recht an die Regelung des menschlichen Verhältnisses zum Boden,287 d. h. zur materiellen Lebensgrundlage denkt. Darin erscheint dann das Recht auch bestimmt durch seine Explikationsfunktion. Das Recht fügt der gemeinschaftlichen Sitte und den kulturellen Lebensgewohnheiten eines Volkes nichts hinzu: außer der Bewusstheit dieser Sitten und Lebensgewohnheiten. Für die Bürger bedeutet das, dass das Gesetz zunächst und vor allem dazu dient, bewusst zu machen, worin das Gemeinsame liegt, das sie tatsächlich miteinander leben. 3. Funktion des Gesetzes Worin liegt also die Funktion des Gesetzes? Insofern Recht und Sitte inhaltlich übereinstimmen, kommt dem Gesetz zunächst die gleiche Funktion zu wie der Sitte. Sitte und Gesetz regeln die gemeinsame Tätigkeit einer menschlichen Gemeinschaft; sie sorgen für ein bestimmtes Maß an Gleichmäßigkeit in den Lebensvollzügen, welche die Gemeinschaft betreffen. Dadurch enthalten und bewahren sie die kulturelle Eigenheit einer menschlichen Gemeinschaft. Indem der Einzelne sich an die Sitte hält, bleibt er Teil der je bestimmten menschlichen Gemeinschaft. Das Recht hat hiermit vor allem eine Erhaltungs- und Schutzfunktion für die geschichtlich-konkrete Gemeinschaft. Nicht der Einzelne in seiner Individualität wird vom Recht geschützt, sondern die Gemeinschaft in ih285
Staatslehre 1833 Waitz 773,29f. Staatslehre 1833 Waitz 773,31–35. 287 An anderer Stelle führt Schleiermacher aus, dass das Verhältnis zum Boden die »Art und Weise des Erwerbs zur Existenz« umfasst (Staatslehre 1833 Waitz 772,38). 286
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D. Thematische Fokussierungen
rer konkreten Bestimmtheit, welche Schleiermacher auch Individualität oder gar Persönlichkeit nennen kann. Insofern dann aber das Recht die ausgesprochene und sanktionierte Sitte ist, eignen ihm weitere Funktionen. Das Recht erzeugt erstens ein Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit, zugleich ist es das auf den Begriff gebrachte Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit. Dadurch generiert das Recht zweitens ein Bewusstsein der Differenz von Gemeinschaftlichem und Individuellen, von gemeinsamem Interesse und Privatinteresse.288 Drittens vermittelt das Gesetz die Differenz zwischen Gemeinschaftlichem und Individuellem, indem es zu Bewusstsein bringt, dass das einzelne Individuum Teil des Gemeinschaftlichen ist und dass insofern das Gemeinschaftliche auch Ausdruck des Eigenen ist. Viertens bewirkt das Gesetz, dass durch einen Gesetzesbruch eines Einzelnen die Gemeinschaft und ihr gemeinsamer Wille, wie er sich im Gesetz ausdrückt, tangiert werden. Wenn ein Staatsbürger einen anderen Staatsbürger gesetzeswidrig verletzt oder beraubt, so hat er damit in Schleiermachers Perspektive den gemeinschaftlichen Willen, den Staat infrage gestellt und verletzt – aber nicht das Recht eines anderen auf Unversehrtheit, Leben und Eigentum. Entsprechend wird das Strafrecht auf den Gedanken gegründet, dass aufgrund einer antipolitischen Gesinnung sich jemand gegen die staatliche Ordnung im Allgemeinen richtet. Die Rechtsidee Schleiermachers leitet sich also ganz von der je bestimmten Gemeinschaftlichkeit einer Menschengemeinschaft ab – der Einzelne ist nicht als Träger von Rechten gedacht. Mit der Rückbindung des Rechtes an die Sitte konzipiert Schleiermacher eine vorrechtliche Korrektur- und Legitimationsinstanz des (positiven) Rechtes. Diese Legitimationsinstanz des Rechtes kann laut Schleiermacher aber gerade nicht auf eine rechtliche Weise geltend gemacht werden. Dem Recht ist sein Verwiesensein auf eine vorrechtliche Instanz nicht rechtlich eingeschrieben. Eine entscheidende Besonderheit dieser normierenden Bezugsinstanz Sitte liegt in deren Geschichtlichkeit und fortwährenden Weiterentwicklung. Insofern das Recht auf die Sitte bezogen ist, muss sich auch das Recht immer weiterentwickeln und verändern. Wie der Staatsbegriff eignet auch dem Rechtsbegriff Schleiermachers konstitutiv ein dynamisches Moment. Wenn Staat und Recht sich nicht weiterentwickeln, hören sie mit der Zeit auf, wirklich Staat und wirklich Recht zu sein. Wie das Recht nicht aus sich selbst Geltung hat, sondern seine Geltung aus der von den Bürgern anerkannten Entsprechung zur Sitte empfängt, so hat es sein Ziel in der Rechtsbefolgung, aber vor allem auch darin, das Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit hervorzurufen und zu befördern. Es erfüllt sich darin, die individuelle Identität eines Gemeinwesens zu bewahren und das Bewusstsein 288
Auf diese Weise entsteht freilich auch erst die Möglichkeit, das Eigene bewusst gegen das Gemeinsame zu setzen. Die Möglichkeit des Gesetzesbruchs, oder in Schleiermachers Worten: der Sünde, kommt erst mit dem Gesetz. Vgl. Staatslehre 1817/18 Goetsch 387,40f.
VI. Rechtstheorie
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dafür zu fördern; es zielt auf das Gefühl der Vaterlandsliebe und auf das Innesein der eigenen Würde bei den Einzelnen. Verbunden werden die Staatsbürger durch die im Gesetz ausgedrückte gemeinsame Sitte, nicht durch das Gesetz als solches. Das Recht (und mit ihm der Staat) ist laut Schleiermacher angewiesen auf große kulturelle Gemeinsamkeiten im Staatsvolk, auf denen das Recht basiert und die es bewahrt und fördert. Damit schreibt Schleiermacher dem Recht eine klar begrenzte Funktion zu. Die Bedeutung des Rechts relativiert er und entlastet somit auch das Recht vor zu hohen Erwartungen an seine gesellschaftliche Leistungsfähigkeit. Recht ist bewusst gewordene, ausgedrückte und sanktionierte Sitte: mit dieser Rechtstheorie gelingt es Schleiermacher, der Pathetisierung des Rechts bei Kant und erst recht bei Hegel ernüchternd entgegenzuwirken.289 Genau das soll die Staatslehrer laut seinem Verfasser auch leisten: zur Ernüchterung beizutragen und die durch Leidenschaft verwirrten Begriffe zum Staat zu klären. Schleiermachers sittenexplikative Rechtstheorie hält, was die Staatstheorie verspricht: ernüchternd zu sein. Zur Profilierung von Schleiermachers Rechtstheorie sei diese einmal mit den Kategorien heutiger rechtsphilosophischer Diskussion beschrieben, wie sie beispielsweise Robert Alexy vorschlägt. In seinem Standardwerk zur Rechtstheorie »Begriff und Geltung des Rechts« (1992) stellt er als Ordnungskriterien für Rechtstheorien drei bzw. sechs Gesichtspunkte vor.290 Impliziert der Rechtsbegriff, dass das Recht in Geltung stehe oder nicht (geltungsfreie oder nicht geltungsfreie Rechtsbegriffe)? Ist das Recht als Normensystem oder als System von Prozeduren vorgestellt? Ist es positivistisch oder nicht-positivistisch verstanden, d. h. eignet dem Recht eine konstitutive Verbindung mit Moral oder nicht? In Hinblick auf die letzte Unterscheidung kann dann weiter nach Beobachterund Teilnehmerperspektive differenziert werden. Schließlich ist entscheidend, ob der Zusammenhang von Recht und Moral so geltend gemacht wird, dass eine extrem unmoralische Rechtsnorm ihren Charakter als Rechtsnorm verliert291 oder die Rechtsnorm dadurch nur rechtlich fehlerhaft wird (klassifizie289
Welch eklatanten Fehldeutungen Schleiermachers Rechtstheorie finden konnte, ist bei Bogdandy: Hegels Theorie des Gesetzes, 223–227 nachzulesen. Ein Beispiel: »Hegel stimmt daher mit Schleiermacher insofern überein, als auch für ihn die Religion für die gesetzliche Ordnung von entscheidender Bedeutung ist. Er wendet sich jedoch mit aller Schärfe gegen die Bestrebungen, die Religion zur allein herrschenden zu machen, die Sphäre des Staates und der Gesetze ihr ganz unterzuordnen« (aaO. 226). 290 Siehe Alexy: Begriff und Geltung des Rechts, 44–49. 291 Damit rekurriert Robert Alexy auf die sogenannte Radbruchsche Formel, welche besagt: »Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat« (Radbruch: Rechtsphilosophie, 345).
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D. Thematische Fokussierungen
rendes oder qualifizierendes Verständnis). Schleiermacher soll nicht diesen heutigen Kriterien unterworfen und somit dekontextualisiert werden. Diese Kriterien aber einmal auf Schleiermacher anzuwenden kann dazu hilfreich sein, den historischen Abstand ebenso zu würdigen wie Problemkontinuitäten aufzuzeigen. Ob zum Begriff des Rechts dessen Geltung hinzugehört, reflektiert Schleiermacher nicht in dieser Abstraktion. Jedoch vollendet sich für Schleiermacher die Gesetzgebung erst im tatsächlichen Vollzug des Gesetzes durch die Bürgerinnen und Bürger. Schleiermacher vertritt also einen nicht-geltungsfreien Rechtsbegriff. Ebenso klar ersichtlich ist, dass er Recht als Normensystem versteht. Wie aber verhält es sich mit der Frage des Rechtspositivismus? Recht bezieht sich für Schleiermacher auf die Sitte, welche das Recht ausspricht und sanktioniert. Recht wird nur durch seinen Bezug auf die Sitte legitimiert und nur dadurch weiterentwickelt – so die Rechtstheorie Schleiermachers. Die Nichtübereinstimmung des Rechts mit der Sitte hebt jedoch den Rechtscharakter der entsprechenden Normen nicht auf. Insofern vertritt Schleiermacher eine nicht-positivistische Rechtstheorie, mit einem lediglich qualifizierenden Zusammenhang von Sitte und Recht. Die Nichtübereinstimmung ist ein instabiler Zustand; für Schleiermacher ist aber charakteristisch, dass er sich zur Stabilisierung weniger eine Korrektur des Rechts vorstellt, als vielmehr eine Weiterentwicklung der Sitte. Die Sitte versteht er als geschichtlich und sich wandelnd, während die Moral bei Alexy zwar nicht statisch, aber doch stabil vorgestellt wird, weil sie als Inbegriff eines Vernunft- und Naturrechtes zentriert ist um den Gedanken der Menschenwürde. Eine mögliche Differenz von Recht und Sitte begreift Schleiermacher als Ausdruck unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten derselben; eine fundamentale Abweichung voneinander hin zu »Richtungs«-Unterschieden in der Entwicklung sieht Schleiermacher nicht vor. Sein Problemhintergrund sind die politischen Alternativen von Revolution, Reform und Restauration bei denen es in bestimmter Hinsicht um die vorwärts oder rückwärts gewandte Entwicklung geht. Den Problemhintergrund seit 1949 bildet die Erfahrung von Recht in einem totalitären Unrechtsstaat, und ein Grundgesetz, das die Wiederkehr eines solchen Staates ausschließen will. Darin liegt die geschichtliche Unvergleichbarkeit bei allem formal möglichen Theorienvergleich. Die Unterscheidung für Beobachter- und Teilnehmerperspektive führt Schleiermacher nicht ein; man kann sie aber mühelos in sein Konzept integrieren. Beobachter und Teilnehmer an einem Rechtssystem unterscheiden sich dadurch, dass nur die Teilnehmer entscheiden können, ob das Recht der Sitte entspricht oder nicht. Der Beobachter kann allein das Recht als ausgesprochene Normen zur Kenntnis nehmen, es aber nicht auf seine Entsprechung zur Sitte und damit auf seine Legitimität überprüfen, da ihm die Sitte als unbewusst gemeinschaftliche Lebensart eines Volkes nicht bzw. nur in einzelnen Punkten zugänglich ist. Insofern ist die Schleiermachersche Rechtstheorie jeweils für die Teilnehmerperspektive formu-
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liert und fügt sich ihrem formalen Zuschnitt nach zunächst recht unsperrig in die heutige Debattenlage. Diese Betrachtung hin auf die formale Theoriearchitektur verdeckt aber den fundamentalen Unterschied, der dadurch entsteht, dass Schleiermacher die Korrelation Recht – Sitte denkt und nicht die Korrelation Recht – Moral. 4. Gesetzesbruch und die mit ihm befassten Instanzen Welche Folgen hat die Schleiermachersche Rechtskonzeption für seine Auffassung von Justiz und Polizei? Im Folgenden soll dazu nun der Schleiermachersche Argumentationsgang von 1817 weiter verfolgt werden. Zur inneren Staatserhaltung gehören die beiden Institutionen Justiz und Polizei. Beide ordnet er hier der vollziehenden Gewalt zu – während er 1829 die richterliche Gewalt als eine eigene Staatsfunktion neben der gesetzgebenden und vollziehenden benennt.292 Die Aufgabenaufteilung zwischen Polizei und Justiz differenziert Schleiermacher hinsichtlich des Verhältnisses zum Gesetzesbruch: die Polizei kommt dem Gesetzesbruch zuvor und verhütet so »den Ursprung und das Hervortreten des Verderbens im Staat«293 und die Justiz bestraft den geschehenen Gesetzesbruch und hebt ihn auf diese Weise auf.294 Diese beiden staatlichen Funktionen zur Bekämpfung von Gesetzesbrüchen ergänzen einander in der Weise, dass ein effektiveres Funktionieren der einen Institution die jeweils andere entlastet oder tendenziell entbehrlich macht. Für das möglichst vollkommene Funktionieren der Justiz formuliert Schleiermacher das so: »Könnte man die Polizei entbehren und die Vollkommenheit der Justiz allein genügen, so erschiene dies wiederum sehr wünschenswerth, da man sich lieber die strengste Strafgerichtsbarkeit gefallen lassen würde, als die peinliche, jedes Leben hemmende Beobachtung der Polizei«.295 Warum kann dann die Polizei doch nicht entbehrt werden? Schleiermacher entwickelt eine Theorie des Polizeiwesens,296 die weiterführende Aufschlüsse über seine Auffassung des politischen Lebens gibt und daher kurz referiert werden soll. Zunächst führt Schleiermacher die Unterscheidung ein zwischen antipolitischen Elementen, die sich gegen den Rechtszustand im Allgemeinen und solchen, die sich gegen eine jeweils bestimmte Form des Rechtszustandes richten. Im ersten Fall ist die Polizei nur dazu nötig, begangenes Unrecht aufzuklären und vor Gericht zu bringen. Dabei setzt Schleiermacher hier eine polizeiliche Aufgabe voraus, die er in seiner Grundbestimmung des Polizeiwesens gar nicht 292
Vgl. Staatslehre 1829 Heß 534. Staatslehre 1817 Varnhagen 370,22. 294 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 370,27. 295 Staatslehre 1817 Varnhagen 371,3–7. Diese ungewöhnlich dezidierte Formulierung – wie sie die Nachschrift überliefert – lässt eine hohe persönliche Betroffenheit und emotionale Bewegtheit Schleiermachers in dieser Sache vermuten. 296 Vgl. Staatslehre 1817 Varnhagen 371–374. 293
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D. Thematische Fokussierungen
aufgenommen hatte. Eine wirkliche Notwendigkeit zur Unrechts-Prävention schreibt Schleiermacher aber der Polizei hinsichtlich revolutionärer Tendenzen, also antipolitischer Strömungen gegen eine je bestimmte staatliche Ordnung zu. In der argumentativen Durchführung allerdings zeigt er auf, wie nutzlos oder sogar schädlich polizeiliches Wirken bei revolutionären Bestrebungen ist. Gehen die revolutionären Bestrebungen »aus dem Verderben der Masse«297 hervor, dann werden die regierungstreuen Bürger dafür sorgen, dass keine Revolution ausbricht. Gründen die revolutionären Bestrebungen jedoch darin, dass die »Regierung nicht gleichen Schritt mit dem volksmässigen Fortschreiten hält«,298 dann kann die Polizeitätigkeit nur negative Folgen haben, indem sie das Revolutionäre noch weiter provoziert. In Staaten, in denen schon eine öffentliche Meinung hervortritt, da wird die öffentliche Meinung vorhandene antipolitische Tendenzen in den Einzelnen auslöschen. Schleiermachers Stellungnahme gegen zuvorkommende polizeiliche Maßnahmen fallen 1817/18 noch viel eindeutiger und prägnanter aus, bis hin zur uneingeschränkten Schlussfolgerung: »Also wird das zuvorkommende Verfahren, immer hemmend erscheinen müßen«.299 Diese Ausführungen Schleiermachers lesen sich als umfassende Kritik des zeitgenössischen Polizeiwesens, insbesondere seine Erwägungen zum Zensurwesen, welches als »besonderer Zweig der beobachtenden Polizei«300 erscheint. Die Zensur erscheine unnötig in einem Staat, der sich einer Verfassung annähere und in dem die öffentliche Meinung herrsche; die staatliche Angst vor der Wirkung von Druckschriften rühre von der Erfahrung der Französischen Revolution her. Mit allen Überlegungen im Einzelnen zielt Schleiermacher auf Pressefreiheit. Schleiermacher unterscheidet Zivil- und Strafgerichtsbarkeit. Hier konzentriert er sich ganz auf die Frage, ob Gerichtsprozesse öffentlichen Charakter tragen sollen. In einem Staat mit einer Verfassung muss die Verhandlung öffentlich sein. Die Öffentlichkeit der Verhandlung verbindet Schleiermacher umstandslos mit der Vorstellung eines Geschworenengerichts. Die Aufgabenverteilung zwischen Richter und Geschworenen bestimmt er dabei so: die Geschworenen haben die Tatsachen korrekt zu ermitteln und auf die Absicht des Täters bzw. der Täterin zu schließen, während der Richter dann die geltenden Gesetze korrekt anzuwenden habe. Für das gute Wirken von Geschworenengerichten sollte das Gesetz »einen volksmässigen Charakter«301 tragen. 1817/18 weist er den Gerichten noch eine weitere Funktion zu: diese sollen vermitteln zwischen der Konstanz der Gesetze und der moralisch-politischen Entwicklung der Gesellschaft. Während die Gesellschaft hin zu mehr moralischer 297
Staatslehre 1817 Varnhagen 371,38. Staatslehre 1817 Varnhagen 371,40–372,1. 299 Staatslehre 1817/18 Goetsch 480,12f. 300 Staatslehre 1817 Varnhagen 373,18. 301 Staatslehre 1817 Varnhagen 375,20. 298
VI. Rechtstheorie
231
Bildung und Kultiviertheit fortschreitet und die rohe Leidenschaftlichkeit302 hinter sich lässt, müssen Gesetze über längere Zeiträume gleich und stabil bleiben. Die Anpassung der Gesetze an die moralische Entwicklung geschieht durch die Gesetzesauslegung in den Gerichtsverfahren, was freilich eine gewisse Freiheit in der Auslegung der Gesetze voraussetzt. Weil der Richter als »BücherMann«303 angesehen werden kann, der das unmittelbare Leben nicht kennt, sollen Geschworene das sittliche Bewusstsein der Gesellschaft verkörpern und die Auslegungsfreiheit der Gesetze gemäß dieses sittlichen Bewusstseins ausschöpfen. Die Maßstäbe für Gerichtsverfahren können sich entweder am politischen oder an einem technischen Interesse orientieren. Das technische Interesse richtet sich auf Genauigkeit, Ausgewogenheit und formale Korrektheit; es würde ein schriftliches, nicht-öffentliches Gerichtsverfahren vorziehen. Da aber das politische Interesse überwiegen soll, plädiert Schleiermacher für öffentliche Gerichtsverfahren. Das politische Interesse hängt mit der Anteilnahme jedes einzelnen Bürgers an Verbrechen zusammen. Jeder Bürger sieht sich potentiell betroffen und gefährdet durch ein Verbrechen, zum anderen sieht er auch in sich selbst einen potentiellen Gegensatz gegen das allgemeine Gesetz. Diese potentielle Identifikation mit Täter und Opfer eines Verbrechens führt zu einem solch prinzipiellen Interesse am Schicksal des Verbrechers, um dann auch sehen zu wollen, wie an ihm das Gesetz vollstreckt wird. Von 1532 bis 1806 galt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation als reichseinheitliches Straf- und Strafprozessrecht die Constitutio Criminalis Carolina.304 Als Strafen sah die Carolina vor allem Lebens- und Leibesstrafen vor sowie Ehrenstrafen wie z. B. den Pranger. Nicht geregelt waren in der Carolina die Sanktionierung geringfügiger Straftaten, die in der Praxis meist mit einer befristeten Gefängnisstrafe geahndet wurde. In einigen Territorien wurde ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts auch Zwangsarbeit als Strafe eingeführt. Die Motive für die Einführung dieser Art von Strafe waren wohl vielschichtig, und reichten von humanitären Gesichtspunkten bis zu ökonomischen. Nach 1806 obliegt den einzelnen Territorien nun ganz eigenverantwortlich die Strafrechtsgestaltung und Strafrechtspflege. Häufig wurden daher neue, eigene Strafgesetzbücher erlassen. Die Freiheitsstrafe rückte dabei ins Zentrum der verhängten Strafen. In der wissenschaftlichen Debatte um das Strafrecht und den Strafzweck dominierten in der Spätaufklärung Konzepte der positiven Spezialprävention, die also eine Besserung des Täters vorsahen. Mit diesem Konzept musste die Gestaltung des Strafvollzugs selbst in den Blickpunkt rücken und mit ihr Reformvorschläge. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Hallenser Gefängnisseelsorger Heinrich 302 An verschiedenen Stellen bestimmt Schleiermacher als eine wesentliche Funktion von Bildung, der (schädlichen) Leidenschaftlichkeit und eruptiver Spontaneität entgegenzuwirken (vgl. z. B. Staatslehre 1817/18 Goetsch 478,35–37). 303 Staatslehre 1817/18 Goetsch 481,11. 304 Zum Folgenden Krause: Geschichte des Strafvollzugs, 21–29; 45–78.
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D. Thematische Fokussierungen
Balthasar Wagnitz (1755–1838). Er setzte sich für Reformen des Strafvollzugs ein, die alle auf die moralisch-religiöse Besserung der Gefangenen abzielten. Um das zu erreichen verfasste er 1792 eine Bestandsaufnahme der bestehenden Strafanstalten unter dem Titel: »Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland«. Ab 1800 dominierten dann aber in der strafwissenschaftlichen Diskussion Wiedervergeltung und negative Prävention als Strafzwecktheorien, womit ein nachlassendes Interesse am Strafvollzug verbunden war. Zur Theorie des Strafzweckes äußert sich Schleiermacher vor allem in der Vorlesung von 1833. Er verwirft darin die Besserungstheorie. Eine Strafe könne nicht sittlich bessern, da sie selbst nur sinnliche Motive wachruft oder verstärkt. Die sittliche Ebene werde dadurch aber noch gar nicht berührt. Daher vertritt Schleiermacher die Präventionstheorie von Strafe. Nur dazu sei die Strafe da: eine erneute Straftat zu verhindern. Schleiermacher äußert sich nicht näher dazu, aber seine Formulierung305 lässt eher die Theorie einer negativen Spezialprävention als einer Generalprävention vermuten. Einen weiteren Strafgesichtspunkt bringt er über die Genese des Strafrechts ins Spiel:306 die Strafgerichtsbarkeit entstand, damit die Einzelnen auf Privatrache verzichteten. Indem der Staat strafte, sollte die Privatrache und persönliche Wiedervergeltung ersetzt werden. Was die weitere Entwicklung des Strafmaßes betrifft, so rechnet Schleiermacher mit einer zunehmenden Milderung. Noch bestehende grausame Strafen seien abzuschaffen.307 5. Fazit: Funktionale Zentralbedeutung und inhaltliche Randbedeutung der Rechtstheorie Schleiermacher zeigt für das Recht nur einen höchst gebremsten Enthusiasmus. Es ergibt sich ein zunächst paradox erscheinender Befund: Schleiermacher identifiziert Staats- und Rechtsentstehung als ein- und denselben geschichtlichen Entwicklungsschritt und legt dar, wie zum Staat konstitutiv das Recht gehört. Damit kommt dem Recht eine fundamentale Funktion für den Staat zu. Trotzdem fallen Schleiermachers inhaltliche Ausführungen zum Recht in der Staatslehre äußerst knapp aus,308 rechtsphilosophische Probleme spielen kaum eine Rolle und gemessen an so hochstufigen Rechtstheorien wie denjenigen von
305
»Was hat der Staat also für eine Richtung bei der Strafgerichtsbarkeit: es kann nur das Präventive sein, durch die Strafe der neuen Ausübung zuvorzukommen« (Staatslehre 1833 Waitz 937,29–31). 306 Vgl. Staatslehre 1833 Waitz 937. 307 Vgl. Staatslehre 1833 Waitz 939. 308 Das Thema Recht wird jeweils immer äußerst knapp behandelt, im Gegensatz zu Problemen der Staatsform, der Verteidigung, der Geldtheorie etwa.
VI. Rechtstheorie
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Kant und Hegel309 mutet Schleiermachers Rechtstheorie zwar klar und prägnant, aber doch verhältnismäßig schlicht an. Es sei einmal ausschnittweise aufgelistet, welche rechtsphilosophischen Probleme oder Topoi Schleiermacher nicht behandelt, ja nicht einmal erwähnt: 1. Es fehlt die Verhältnisbestimmung von Recht und Gerechtigkeit, und noch umfassender ein Bezug überhaupt des Rechtes zum Thema Gerechtigkeit. Das ist umso erstaunlicher, als Schleiermacher die Platonischen Dialoge übersetzt hat, und ihm daher zumindest die platonische Verhältnisbestimmung310 von Gerechtigkeit und Gesetzen präsent gewesen sein müsste. Platons verschiedene Perspektiven auf das Problem einmal in der ›Politeia‹ und im ›Politikos‹, zum anderen in den ›Nomoi‹ hätten bereits umfangreiches Material für die Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit, Recht und Herrschaft geboten. 2. Die Rede von angeborenen Rechten fehlt völlig, sowie der Gedanke, dass der Einzelne Träger von Rechten ist, welchen Ursprungs auch immer. Die subjektive Rechtsdimension kommt nicht vor, nicht einmal in der Ablehnung. 3. Eine prinzipielle Beziehung von Rechten und dem Freiheitsgedanken311 kommt nicht vor, auch wenn Schleiermacher das Recht der Pressefreiheit erwähnt. Aber die grundsätzliche Reflexion darüber fehlt, mit Ausnahme eines Nebensatzes in der Vorlesung von 1817/18. Kants Rechtsbestimmung von 1797 wird nirgends erwähnt oder thematisch aufgegriffen: »Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«.312 4. Ebenso fehlt explizit der Gedanke, dass das Recht die Beziehungen der Staatsbürger untereinander regelt. Schleiermacher fokussiert auf das gemeinsame Verhältnis zum Boden; darin impliziert er – so ist anzunehmen – auch die Verhältnisse zwischen den Einzelnen313 hinsichtlich des Verhältnisses zum Boden. Aber es 309 Ein Vergleich von Hegels und Schleiermachers Rechtstheorien ist ein dringendes Desiderat. Zu Hegels Rechtsphilosophie vgl. Schaber: Recht als Sittlichkeit; Riedel: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie; Petersen: Die Freiheit des Einzelnen; Wischke: Gesetz und Zwang; Fulda: Zum Theorietypus der Hegelschen Rechtsphilosophie und Henrich: Logische Form und reale Totalität. 310 Schleiermacher scheint sich in der Rechtslehre am ehesten Aristoteles anzuschließen, auch wenn er das nirgends als solches kennzeichnet. Schleiermacher und Aristoteles verbindet der Zusammenhang von Sitte und positivem Recht, sowie die Auffassung, dass nicht die Anordnung durch die Herrschenden als solche ein Gesetz zu einem »guten Gesetz« macht; trotzdem werden keine eindeutigen Kriterien genannt, um ein Gesetz als nicht-angemessen zu identifizieren. 311 Die komplexe Weise, wie Hegel den Freiheitsbegriff zum Ausgangspunkt seiner Rechtsphilosophie macht, scheint in keiner Weise von Schleiermacher wahrgenommen und reflektiert. Zur Bedeutung des Freiheitsbegriffs für Hegels Rechtsphilosophie siehe Jaeschke: Es ist nur ›ein‹ Begriff der Freiheit in Religion und Staat; Schaber: Recht als Sittlichkeit, v. a. 20–97; Petersen: Die Freiheit des Einzelnen. 312 Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 38 (230). 313 Wie ganz anders Hegel Recht und Intersubjektivität ins Verhältnis setzt, zeigt Siep: Intersubjektivität; kritisch Theunissen: Die verdrängte Intersubjektivität.
234
D. Thematische Fokussierungen
wird nirgends eigens reflektiert oder als prinzipielle Aufgabe des Rechts benannt. 5. Der Gedanke der Einklagbarkeit von Rechten findet keine eigene Erwähnung. Wie kann dieses auffallende Desinteresse an rechtsphilosophischen Problemen im Zusammenhang der fundamentalen Bedeutung des Rechts für die Definition des Staates erklärt werden? Drei Gründe für diesen Befund sind zu nennen: Es ist davon auszugehen, dass Schleiermacher eher geringfügige Kenntnisse von der Rechtsgeschichte und wenig Kenntnisse von den rechtsphilosophischen Debatten seiner Zeit hatte. Für diese Annahme spricht: Innerhalb der Rechtstheorie bringt Schleiermacher als einziges Beispiel den rechtlich geregelten Termin der Weinlese, während in anderen Themenfeldern Schleiermacher viele Beispiele vorträgt, von der Antike bis zur aktuellen Geschichte in Frankreich und England. Außerdem benennt Schleiermacher nur wenige gedankliche Probleme zum Recht, während er in anderen Gebieten oftmals anderslautende Auffassungen benennt, um sie differenziert zu entkräften. Innerhalb solcher Argumentation bezieht er dann ausführlich Stellung zu verschiedensten Sachproblemen im thematischen Kontext. Beim Recht argumentiert er nur gegen die Auffassung, dass der Staatszweck im Recht bestünde. Andere Theorie-Alternativen benennt er nicht. Die naheliegendste Erklärung ist, dass Schleiermacher sich nur wenige Kenntnisse in diesem Bereich angeeignet hatte. Eine andere Möglichkeit bestünde nur darin, dass er andere Positionen und die Geschichte von Rechtstheorie und Rechtspraxis für irrelevant hält hinsichtlich seiner eigenen Ausführungen zum Recht. Da er aber in den meisten anderen Themengebieten anderslautende Positionen darstellt oder benennt, um daran seine eigene zu profilieren und zu begründen, erscheint diese Erklärung als unwahrscheinlich. Die zweite Erklärung hinsichtlich der rechtsphilosophischen Zurückhaltung Schleiermachers findet sich im geschichtlichen Kontext seines Wirkens. Wie oben dargelegt, wurde in Preußen das Recht vor allem unter Verwaltungsgesichtspunkten und daher konkret diskutiert. Alles intellektuelle Schwergewicht, gerade bei reformorientierten Kräften, lag auf der Verwaltungsreform und ihrer Debatte – und nicht grundsätzlichen Fragen zu Verfassung und Recht mit den damit zusammenhängenden rechtsphilosophischen Problemen. Drittens sind vor allem Theoriestatus und Theorieintention Schleiermachers zu berücksichtigen. Schleiermacher will eine »Physiologie des Staates« konzipieren, er will grundsätzliche Funktionsweisen des Staates kategorial erfassen, auf dass damit geschichtlich-konkrete Staaten verstanden werden können. Daher müssen seine Grundkategorien wie z. B. Recht möglichst allgemein und voraussetzungsarm strukturiert sein, damit sehr verschiedene staatliche Gebilde damit erfasst werden können. Des Weiteren verdienen diese Grundkategorien damit kein eigenwertiges philosophisches Interesse, sondern Schleiermacher ordnet sie hin auf ihre Funktion, Geschichtliches damit zu erfassen. Daher also interessiert
VI. Rechtstheorie
235
ihn nicht das Wesen des Rechts als solches, sondern nur, wie das Recht allgemein so beschrieben werden kann, dass damit die Rechtsordnungen aller nur möglichen Staaten sich verstehen lassen. Da er weder den preußischen Staat auf den Begriff bringen noch die allgemeingültige Ordnung eines idealen Staates entwerfen will, sind eingehende Reflexionen auf Grundprobleme der Rechtsphilosophie für seine Staatslehre weder nötig noch angemessen. Nach diesen Einzeluntersuchungen zu den Staatslehrevorlesungen, die sich mit dem Theoriestatus und dem Staatsbegriff, mit der Freiheit des Einzelnen und mit dem Verhältnis von Staat und Kirche, mit Krieg und Frieden sowie mit dem Recht beschäftigen, stellt sich die Frage, ob der politische Philosoph Schleiermacher mit dem Theologen Schleiermacher übereinstimmt. Welches Bild vom Staat zeichnet Schleiermacher aus der Sicht des christlichen Theologen? Auf welche biblischen Traditionen bezieht sich Schleiermacher? Und wie sollen Christen das Verhältnis zum Staat gestalten? Kennt der Theologe Schleiermacher ein Recht zum Widerstand – wenn schon der Staatstheoretiker ein solches nicht konzipierte? Diesen Fragen soll nun nachgegangen werden durch eine ausführliche Analyse der Staatsauffassung Schleiermachers in der Christlichen Sitte.
E. Die christliche Sittenlehre. Theologische Theorie politischen Handelns I. Konzept, Aufbau und Methode der Christlichen Sitte In seinen Vorlesungen zur Christlichen Sitte stellt Schleiermacher sein System christlicher Ethik in Parallele zur christlichen Dogmatik in der Glaubenslehre dar. Ausgehend vom christlich-frommen Selbstbewusstsein beschreibt er das christliche Handeln. Sein Konzept lässt sich grundsätzlich so charakterisieren: Die christlich angestrebte Verbesserung von Welt und Menschen vollzieht sich als Kommunikationsverbesserung. Anknüpfend an das aufklärerische Prinzip der Weltverbesserung durch Menschenverbesserung entwickelt Schleiermacher ein Prinzip der Welt- und Menschenverbesserung durch Kommunikationsverbesserung. Kommunikation umfasst dabei sowohl argumentative Auseinandersetzung wie gegenseitige Darstellung von Individualität; die Kommunikation soll möglichst frei und öffentlich sich vollziehen. In romantisch inspirierter Weiterführung aufklärerischer Kommunikationstheorien verbindet Schleiermacher einen subjektzentrierten mit einem sachzentrierten Kommunikationsbegriff. Sittlich relevant sind für Schleiermacher alle Interaktionen zwischen Einzelnem und Ganzen sowie zwischen verschiedenen Gemeinschaftsganzheiten. Hinsichtlich des Staates bedeutsam erscheinen dann alle Handlungen des Staates auf die Einzelnen, auf andere Ganzheiten sowie die Handlungen der Einzelnen auf den Staat. Zu den materialen Inhalten der christlichen Sittenlehre gehören daher das Strafrecht, das Völkerrecht, das Kriegsrecht sowie zentral die Frage, wie der Einzelne zu einer Verbesserung des Staates beitragen kann und darf. Zunächst aber sollen Ansatz, Methode und Aufbau von Schleiermachers Christlicher Sitte näher vorgestellt werden.1 Schleiermacher trug sich lange mit dem Plan, eine Christliche Sittenlehre analog zu seiner Glaubenslehre zu veröffentlichen; leider kam er nicht dazu, so dass nur Kollegmanuskripte, Notizen und Nachschriften vorliegen, welche Ludwig Jonas zusammengestellt und veröffentlicht hat.2 Wir verfügen also über keinen von Schleiermacher selbst gründlich 1 Zum Folgenden: Nowak: Schleiermacher, 253–260; Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 304–309. 2 Im Folgenden wird die Christliche Sitte nach dieser Edition von Jonas zitiert, welche seit 1999 in einem Nachdruck (herausgegeben von Wolfgang Erich Müller) vorliegt.
I. Konzept, Aufbau und Methode
237
durchgearbeiteten Text, was alle Interpretationen der Christlichen Sitte unter einen gewissen Vorbehalt stellt. Das Vorhaben einer christlichen Sittenlehre profiliert Schleiermacher durch eine Verhältnisbestimmung zur christlichen Glaubenslehre und zur philosophischen Sittenlehre.3 Als Gegenstück zur christlichen Glaubenslehre bildet die christliche Sittenlehre mit dieser zusammen die Systematische Theologie,4 welche mit der praktischen und der historischen Theologie die Wissenschaft der Theologie ausmacht. Auffällig ist, dass Schleiermacher hier eine andere enzyklopädische Einteilung vornimmt als in seiner theologischen Enzyklopädie, in welcher die Glaubens- und Sittenlehre als Teil der historischen Theologie auftritt. Auch in der Christlichen Sitte betont er freilich den zeitrelativen, damit den geschichtlichen und geschichtlich sich wandelnden Charakter der Systematischen Theologie. Die Methode der Systematischen Theologie kennzeichnet er dementsprechend als »geschichtlich systematisch«.5 Als christlich bestimmt sich jede Lehre nach Schleiermacher, insofern sie sich auf die »christliche Kirche gründet und bezieht«.6 Mit Kirche meint Schleiermacher zunächst in einem weiten Sinne »religiöse Gemeinschaft«, in einem engeren Sinne die christliche Gemeinschaft der Glaubenden. Diese engere ekklesiologische Definition christlicher Lehre impliziert jedoch eine Ekklesiologie, die selbst wiederum ganz vom christlichen Glauben abgeleitet ist, so dass Schleiermacher auch synonym zu dieser ekklesiologischen Charakterisierung von christlicher Lehre schlicht das Kriterium einführt: »daß wer sie anerkennen soll, nothwendig zuvor ein Christ sein muß«.7 Was ein Christ ist und was das Christliche ausmacht, kann jedoch nicht nur von den individuellen Persönlichkeiten definiert werden, weil das die Auflösung der christlichen Kirche bedeuten würde. Daher bezieht sich Schleiermacher auch hier auf die christliche Frömmigkeit als das, was allen Christen gemeinsam sei. Sein theoretisches Interesse richtet sich darauf, schon in der Struktur der christlichen Frömmigkeit als einer Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins eine Differenz zweier Momente zu identifizieren, welche dann die Differenz von Glaubens- und Sittenlehre 3
Für die Einordnung wichtig erweist sich insbesondere die »Kurze Darstellung« sowie die Glaubenslehre (vgl. CG2 §26). 4 Schleiermacher verwendet diesen Begriff aber nur zusammen mit dessen Problematisierung. Das Problem dieser Bezeichnung sieht er darin, dass der Begriff »systematisch« nahelegt, es handele sich um ein Teilgebiet des allgemeinen Systems des menschlichen Wissens und sei demzufolge genauso herzuleiten und zu beweisen wie die anderen Teilsysteme des menschlichen Wissens. Diese falsche Einordnung in das System des Wissens sei nun aber nicht nur ein zu hoher Anspruch an die »Systematische Theologie«, sondern es verfälsche und verleugne das Wesen des Christlichen, zu dem es konstitutiv gehört, menschlich nicht ableitbar und beweisbar zu sein (vgl. Christliche Sitte, 8). 5 Christliche Sitte, 9. 6 Christliche Sitte, 4. 7 Christliche Sitte, 5.
238
E. Die Christliche Sitte
hervorruft, ohne deren Einheit zu gefährden.8 Diese Differenzmomente in der christlichen Frömmigkeit erkennt er als Interesse am religiösen Gegenstand und als Handlungsantrieb. Zur Frömmigkeit gehört, dass diese beiden Momente nicht nur vorhanden, sondern auch wesentlich verbunden sind. Deren Verbindung leistet der eine und gemeinsame Gegenstand9 , an dem das Interesse des Frommen sich entzündet und das ihn zum Handeln bewegt. »Gott ist es, das höchste Wesen«,10 von dem solches ausgeht. Das Interesse am religiösen Gegenstand, an Gott, bildet sich auf individuell-geschichtlich verschiedene Weise zum Begriff des religiösen Gegenstandes fort, ebenso wie der Handlungsimpuls individuellgeschichtlich verschieden entsprechende Handlungen freisetzt. Die Begriffe thematisiert die christliche Glaubenslehre, die Handlungen die christliche Sittenlehre. Doch nicht die Begriffe und nicht die Handlungen sind das Wesen der Frömmigkeit, sondern das zugrundeliegende Interesse und die ursprünglichen Handlungsimpulse. Frömmigkeit11 ist also gerade nicht mit begrifflich verfassten Inhalten oder mit moralischem Handeln identisch, aber das in der Frömmigkeit gegebene Interesse tendiert zu Theoriebildung, wie die Handlungsimpulse der Frömmigkeit zu moralischem Handeln führen. Das Interesse kann Schleiermacher mit dem Moment der Ruhe, den Handlungsimpuls mit dem Moment der Bewegung der Frömmigkeit ausdrücken. Die Differenz von christlicher Glaubenslehre und christlicher Sittenlehre ist dann identisch mit der Differenz von Interesse und Handlungsimpuls, von Ruhe und Bewegung des christlich frommen Selbstbewusstseins, von Begriff und Handlung.12 Damit lautet die defi8 In der Glaubenslehre (CG2 §26) fasst Schleiermacher das wie folgt: »Auch die Sätze der christlichen Sittenlehre sind in dem obigen Sinn Glaubenssätze; denn die Handlungsweisen, welche sie unter der Form von Lehrsätzen oder Vorschriften [. . . ] beschreiben, sind ebenfalls Aussagen über christlich fromme Gemütszustände. Nämlich jede fromme Erregung ist wesentlich eine Modifikation des menschlichen Daseins, und wird sie so als ruhender Zustand aufgefasst, so entsteht ein Satz, der in die christliche Glaubenslehre gehört. Aber jede solche Erregung geht auch [. . . ] ebenso wesentlich in Tätigkeit aus«. 9 Wenn Schleiermacher hier von Gott als »Gegenstand« spricht, ist damit selbstverständlich kein gegenständlich verfasster Gottesbegriff gemeint. »Gott« wird thematisch als das im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit mitgesetzte Woher dieser schlechthinnigen Abhängigkeit, wie es ausführlich die §§ 3–5 von CG2 entwickeln. 10 Christliche Sitte, 23. 11 Hier sei auch wieder auf die ›Glaubenslehre‹ verwiesen: »Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins« (CG2 §3). 12 Schröder betont, dass die Unterscheidung zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Zuständen und Tätigkeiten selbst eine sekundäre Abstraktion sei. Daher sieht er die Trennung von Glaubenslehre und Sittenlehre bei Schleiermacher lediglich »durch Zweckmäßigkeitserwägungen begründet« (Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 88). M. E. sind jedoch begriffliche Unterscheidungen gegenüber den in ihnen begriffenen Phänomenen stets sekundär und abstrakt, weil nur so Begriffe als Begriffe fungieren können. Ob die Begriffsunterscheidungen sachgerecht sind oder nicht, entscheidet sich auf andere Weise.
I. Konzept, Aufbau und Methode
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nierende Frage christlicher Sittenlehre: »Was muß werden aus dem religiösen Selbstbewußtsein und durch dasselbe, weil das religiöse Selbstbewußtsein ist«?13 Auf diese Weise also hat Schleiermacher Einheit und Differenz von christlicher Sitten- und Glaubenslehre bestimmt. In einem zweiten Argumentationsgang analysiert er Einheit und Differenz von christlicher und von philosophischer Sittenlehre.14 Die Sittenlehre enthält Lebensregeln; die allgemeine philosophische Sittenlehre Lebensregeln für jeden Menschen; die christliche Sittenlehre Lebensregeln für jeden Christen. Über den wissenschaftlichen Status beider Formen von Sittenlehren entscheidet der Nachweis, dass beide einander weder widersprechen noch einander überflüssig machen. Dieser Nachweis wird erschwert durch die jeweilige Pluralität an christlichen und an philosophischen Entwürfen zur Sittenlehre. Das Problem der Pluralität löst Schleiermacher mit dem Hinweis auf eine künftige Vollendung sowohl der christlichen als auch der philosophischen Sittenlehre, durch welche die einander widersprechenden Fassungen in eine höchste wissenschaftliche Fassung jeweils aufgehoben würden. Das Problem von notwendiger Verschiedenheit und Nicht-Widersprüchlichkeit im Verhältnis philosophischer und christlicher Sittenlehre bewältigt Schleiermacher mit dem Kategorienpaar Form/Inhalt. Der gleiche Inhalt würde durch eine notwendig verschiedene Form und in einem notwendig verschiedenen Kontext dargestellt. Das bedeutet, dass sie »in einer Hinsicht vollkommen gleich und in der anderen vollkommen ungleich«15 sind. Daraus folgt die Aufgabe, eine christliche Sittenlehre systematisch-wissenschaftlich darzustellen, ohne sich einer philosophischen Sittenlehre der Form nach anzunähern. Zunächst definiert Schleiermacher die christliche Sittenlehre als »Darstellung der durch die Gemeinschaft mit Christo, dem Erlöser, bedingten Gemeinschaft mit Gott [. . . ], sofern dieselbe das Motiv aller Handlungen des Christen ist«.16 In jedem Christen aber ist dieser Impuls noch nicht vollständig handlungsbestimmend, sondern immer erst noch im Werden. Lediglich in Jesus Christus selbst ist dieser Impuls ganz und vollständig handlungsbestimmend. Die christliche Sittenlehre ist damit Beschreibung des Handelns Christi und ist Gebot für das Handeln aller Christen, insofern bei ihnen zwischen Gebot und Ausführung eine Differenz besteht.17 13
Christliche Sitte, 23. Schleiermacher meint damit nicht im Besonderen seine eigene philosophische Ethik, sondern ganz allgemein philosophische Ethik, auch in ihren sehr verschiedenen Ausprägungen und Fassungen. 15 Christliche Sitte, 28. 16 Christliche Sitte, 32. 17 Daher betont Arnulf von Scheliha zu Recht den Charakter der Christlichen Sitte als Teil der positiven Wissenschaft der Theologie, die laut Schleiermacher eine praktische Zielsetzung verfolge. Im Falle der christlichen Sitte bestehe das praktische Ziel darin, »to standardize acts within a Christian denomination« (von Scheliha: Sources of Normativity, 291). In einem grund14
240
E. Die Christliche Sitte
Das Verhältnis von Christi vollkommenem Handeln und dem noch defizitären Handeln der Christen besteht dann darin, dass die werdende Annäherung an die vollkommene Gottesgemeinschaft und damit das vollkommene Handeln von Christi Gottesgemeinschaft abgeleitet und durch ihn vermittelt ist. Die Konstruktionsprinzipien der christlichen Sittenlehre bildet Schleiermacher aus einer handlungstheoretischen Differenzierung, welche er mit der Idee des Reiches Gottes verbindet. Das Reich Gottes auf Erden und das Handeln der Christen bestimmt Schleiermacher als einander wechselseitig auslegende Vorstellungen: »Das Reich Gottes auf Erden aber ist nichts anderes als die Art und Weise des Christen zu sein, die sich immer durch Handeln muß zu erkennen geben, die Darstellung der Idee des Reiches Gottes auf Erden also nichts anderes als Darstellung der Art und Weise des Christen zu leben und zu handeln«.18 Die für die christliche Sittenlehre relevante Differenzierung von Handlungsarten unterscheidet sich von der handlungstheoretischen Differenzierung, welche Schleiermacher der Philosophischen Ethik zu Grunde legt. Er entwickelt sie aus dem christlich frommen Selbstbewusstsein, das unter dem Selbstanspruch steht, eine möglichst vollkommene Gemeinschaft mit Gott zu sein. Diese Gemeinschaft mit Gott ist aber eine nur immer erst werdende, noch keine vollendete. Als Bewusstsein des erst Werdenden setzt das christliche Selbstbewusstsein Handlungsimpulse frei, die auf die vollkommenere Gottesgemeinschaft zielen, die also Veränderung erstreben. Eine solche Handlungsform nennt er wirksames Handeln, das sich nun nochmals differenziert anhand der Lust-/Unlustempfindung, welche sich mit dem Handeln verbindet. Aus der Unterscheidung von Lust und Unlust entfaltet Schleiermacher die Unterscheidung von wiederherstellendem und von verbreitendem Handeln, insofern aus der Widerständigkeit der niederen Lebenspotenzen gegen die höheren Unlust, aus der Neigung der niederen Lebenspotenzen, den höheren zu folgen, Lust erwächst. Das entspricht der Entfaltung des Gegensatzes von Sünden- und Gnadenbewusstsein im christlichfrommen Selbstbewusstsein, wie es allein für das christlich-fromme Selbstbewusstsein bestimmend ist. Daher kann diese handlungstheoretische Differenz, die in der christlichen Sitte eine so große Rolle spielt, keine Entsprechung in der philosophischen Sitte finden. Das verbreitende Handeln besteht im Erziehen, im Bilden und Fortbilden.19 Dem auf Veränderung zielenden Handeln entgegengesetzt ist für Schleiermacher das darstellende Handeln, welches darauf zielt, »das eigene Dasein für andere aufnehmbar zu machen«20 und welches »die innere Besätzlicheren Sinne macht Michael Moxter darauf aufmerksam, dass Schleiermachers Ethik im Allgemeinen »rejects the purported complete disjunction between facts and norms« (Moxter: Schleiermacher, 303). 18 Christliche Sitte, 13. Auffällig ist hier die Singularformulierung, da die Vorstellung des Reiches Gottes gerade notwendig die Gemeinschaft der Christen impliziert. 19 Vgl. Christliche Sitte, 291. 20 Christliche Sitte, 50.
I. Konzept, Aufbau und Methode
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stimmtheit des Selbstbewußtseins äußerlich fixiren will«.21 Dieses vollzieht sich in der Kirche und in der Geselligkeit. Die christliche Sitte behandelt zunächst das wirksame Handeln und in einem zweiten Teil das darstellende Handeln.22 Beim wirksamen Handeln analysiert Schleiermacher zunächst das reinigende und dann das verbreitende Handeln. Der Staat wird Thema sowohl innerhalb des reinigenden als auch des verbreitenden Handelns. Nach der Erörterung der Konstruktionsprinzipien ist nun nach der Methode der christlichen Sittenlehre zu fragen. Deskriptiv verfährt Schleiermacher in seiner philosophischen wie auch in seiner christlichen Ethik. Diese beschreibt die Handlungsweise, die aus dem christlich-frommen Selbstbewusstsein entspringt. Weil daher die Analyse des christlich-frommen Selbstbewusstseins die Grundlage bildet, verfährt die christliche Sittenlehre »als Analyse des Selbstbewußtseins reflectiv und wegen des Rükkganges auf Bibel und auf Thatsachen in der Kirche historisch«.23 Den wesentlichen Bezugspunkt bildet aber die gelebte christliche Sitte; in diesem Sinne gilt, dass die Praxis »überall in diesen Dingen der Theorie voran [geht], und wir haben sie nicht zu ignoriren, sondern zu rechtfertigen«.24 Trotz des bedenklichen Begriffes »rechtfertigen« zielt Schleiermacher nicht auf eine bloße Affirmation der gelebten Sitte, sondern kann die tatsächlichen Verhaltensweisen im Vollzug seiner Theorie durchaus auch an einzelnen Stellen vom christlich-frommen Selbstbewusstsein her kritisieren, sogar verurteilen.25 Dieser Bezug auf die jeweils gegenwärtige christliche Lebenspraxis impliziert die Zeitgebundenheit jeder Theorie von christlicher Sitte im Schleiermacherschen Sinne. Für ihn unterliegen christliche Lebenspraxis und entsprechend die Theoriebildung dazu einem geschichtlichen Wandel. Dieser Wandel der christlichen Lebenspraxis lässt sich aber nur so verstehen, »daß jede Fortschreitung nichts sein kann, als ein richtigeres Verstehen und vollkommeneres Aneigenen [sic] des in Christo gesezten«.26 21
Christliche Sitte, 51. Herms interpretiert diese Differenz als eine solche, die am symbolisierenden Handeln auftritt (vgl. Herms: Menschsein im Werden, 117f ). Daher habe das organisierende Handeln keinen Ort in der christlichen Ethik. Inhaltlich begründet Herms das damit, dass die Aufgabe christlichen Lebens die »Gesinnungsbildung« (ebd.) sei. Die Differenz von Wirken/Darstellen entspreche also gerade nicht der Differenz von Organisieren/Symbolisieren. 22 In früheren Fassungen begann Schleiermacher umgekehrt; er thematisierte zunächst das darstellende, dann das verbreitende und als letztes das reinigende Handeln. Ab 1822/23 findet sich die oben erläuterte Reihenfolge. 23 Christliche Sitte, Beilage C, 166. 24 Christliche Sitte, 546. 25 Auffallend harsch geschieht das hinsichtlich der Kolonialpolitik und ihrer Mittel – wobei eben Preußen keine Kolonialmacht war. 26 Christliche Sitte, 72. – An dieser Stelle wie an vielen anderen macht Schleiermacher auch die konfessionelle Bezogenheit jeder christlichen Sittenlehre deutlich. Eine katholische Sittenlehre würde nicht von einer Fortentwicklung der christlichen Lebensregeln sprechen können, sondern nur von einem »Fortschreiten in der Darstellung ihrer Regeln im Leben« (Christliche Sitte, 72).
242
E. Die Christliche Sitte
Der Aufbau ergibt sich wie erläutert aus der Unterscheidung von reinigendem, verbreitendem und darstellendem Handeln, wobei jeweils nach der Sphäre unterschieden wird, in der dieses Handeln stattfindet, also innere Sphäre (Kirche) oder äußere Sphäre (Familie, Staat).27 Alle sittlichen Sphären kommen also immer nur aus der Perspektive der Kirche bzw. der religiösen Kommunikationsgemeinschaft in den Blick. Das Bild von innerer und äußerer Sphäre impliziert keine Zwei-Welten-Theorie, keine Bereichsethik und ebenso wenig ein hierarchisches Modell oder ein entdifferenzierendes Modell. Es ist eine einheitliche Perspektive auf zwei (bzw. mit der Familie drei) in sich unterschiedene Bereiche, welche durch die einheitliche Perspektive verbunden, aber nicht in ihrer Differenz aufgehoben werden.
II. Der Staat in der Christlichen Sitte Den Staat bestimmt Schleiermacher als grundsätzlich unabhängig von Christentum und Kirche.28 Der Staat sowohl als allgemeine Institution als auch in seinem konkreten Dasein hat sich unabhängig von kirchlichem Handeln gebildet. Das Christentum findet den Staat also immer schon als gegeben und funktionierend vor.29 Das gilt auch für die Familie; aber diese wird durch das Christentum ganz angeeignet und neu hervorgebracht, während der Staat durch das Christentum weder angeeignet noch christliche Staaten als solche hervorgebracht würden. Die Gründe dafür sieht Schleiermacher sowohl im Wesen des Staates als auch im Christentum, welches »unmittelbar keine Tendenz [hat], am Staate, wie es ihn vorfindet, zu ändern, auch giebt die Schrift keine Anleitung dazu«.30 Begriff und Dasein des Staates gilt Schleiermacher als strikt unabhängig von der Kirche und liegt ihrem Handeln immer schon voraus. Die Frage einer christlichen Sitte kann daher nur lauten, wie sich das Christentum zum bestehenden Staat stellt und wie sich der einzelne Christ in seinem Handeln zum staatlichen Handeln verhält. Das legt nahe, dass Schleiermacher zwar keinen christlichen Begriff vom Staat entwickelt, wohl aber einen christlichen Begriff vom Handeln im Staat, also (in heutiger Terminologie) einen christlichen Begriff von Politik. Diese These soll den Leitgesichtspunkt bei der nun folgenden Analyse der materialen Aussagen der Christlichen Sitte zum Staat bilden, um am Ende 27
Eine klare Übersicht bietet Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 108. Vgl. Christliche Sitte, 217; 241. 29 Für den Fall, dass das Christentum zu Menschen vordringt, die noch kein staatliches Leben ausgebildet haben, differenziert Schleiermacher seine These wie folgt: »Käme es in eine Gegend, wo der bürgerliche Verein noch gar nicht bestände: so würde es ihn sicher hervorbringen, seine Form aber würde es nie bestimmen; denn diese wurzelt immer in einem anderen Principe, als in dem des Christenthums« (Christliche Sitte, 242). 30 Christliche Sitte, 241. 28
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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in die abschließende Diskussion zu führen, ob es Schleiermacher tatsächlich gelingt, einen Begriff von christlicher Politik zu entwickeln, ohne einen spezifisch christlichen Staatsbegriff zumindest implizit vorauszusetzen.31 Da Schleiermacher also keinen christlichen Begriff vom Staate entfalten will oder als möglich ansieht, ist zu fragen, welchen Begriff vom Staat er voraussetzt in seinen Ausführungen zum christlichen Verhältnis gegenüber dem Staat. Eine solche Staatsauffassung skizziert Schleiermacher in seinem einleitenden Teil zum reinigenden Handeln: der »Staat ist seinem Wesen nach ein Rechtszustand, eine Vereinigung von Menschen unter Gesezen, wozu immer auch das gehört, daß es für den Staat eine bestimmte Art und Weise giebt, wie Geseze in ihm zu Stande kommen und verändert werden; und dieses alles umfaßt sein inneres Verhältniß, das also in dem Gegensaze von Obrigkeit und Unterthan abgeschlossen ist«.32 Die wesentlichen Elemente des philosophischen Staatsbegriffs, wie er ihn in den Staatslehrevorlesungen entwickelt, nennt Schleiermacher auch hier: den Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen, das Recht, die Gemeinschaft. Was nicht erwähnt wird: das gemeinsame Verhältnis zum Boden, bzw. die Aufgabe der Vernunftwerdung der Natur durch identisch-organisierendes Handeln sowie die Volksbestimmtheit des Staates. Diese beiden hier fehlenden Aspekte trägt Schleiermacher jedoch an anderer Stelle nach.33 Daher leitet sich aus diesem Befund die Bestätigung der Eingangsthese ab, dass Schleiermacher in der Christlichen Sitte keinen spezifisch christlichen Staatsbegriff einführt oder begrifflich entfaltet. Ob Schleiermacher das auch durchhält und wie er sich zu bestimmten christlichen Staatsauffassungen der Tradition verhält, soll der Durchgang durch seine Ausführungen zeigen. 1. Das reinigende Handeln im Staat Zunächst sei das reinigende Handeln bezüglich des Staates untersucht. Schleiermacher unterscheidet nach Subjekt und Objekt des reinigenden Handelns, indem er danach fragt, ob das Ganze auf den Einzelnen (innerhalb oder außerhalb des Staates), der Einzelne auf das Ganze oder das Ganze auf ein anderes Ganzes handelt. Die Strafgerichtsbarkeit34 bildet das vorrangige Thema, wenn das reinigende Handeln des Ganzen auf den Einzelnen zu reflektieren ist. Das Strafrecht stellt Schleiermacher in seinen Deutungsalternativen vor – Strafe als Besserung 31 Von einer Metaebene aus betrachtet würde jedoch auch die These einer christlichen Sittenlehre, dass das Christentum keinen spezifischen Staatsbegriff ausbilden kann, einen spezifisch christlichen Staatsbegriff bedeuten. 32 Christliche Sitte, 243. 33 Die Volksbestimmtheit des Staates nennt er in Christliche Sitte, 450f und öfter; die Aufgabe der Naturbildung thematisiert er in Christliche Sitte, 442ff. 34 Vgl. dazu Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 312, der vor allem hervorhebt, dass Schleiermacher die Strafen mildern und begrenzen will.
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E. Die Christliche Sitte
oder als Wiedervergeltung oder als Buße –, aber schließt die Frage nach dem Ziel von staatlicher Strafe aus der eigentlichen christlichen Sittenlehre aus.35 Er trägt dann aber doch die These vor, dass Gesetzesübertretungen – sofern sie nicht aus Unwissenheit geschehen und dann mit Belehrung beantwortet werden sollen – mit Strafen deshalb geahndet werden müssen, damit den selbstsüchtigen Motiven des Gesetzes-Ungehorsams selbstsüchtige Motive des Gehorsams gegenübergestellt werden. Bei der Begründung rekurriert Schleiermacher auf einen allgemeinen Staatsbegriff, demzufolge zum Begriff des Staates gehört, dass seinen Gesetzen gehorcht wird36 – Ungehorsam dagegen löst an diesem einen Punkt, also punktuell, den Staat auf. Ungehorsam zeigt ein Überwiegen von sinnlichen Motiven, welche auf sinnliche Weise durch die Strafe bekämpft werden. Die geistige Überwindung des Ungehorsams durch Festigung der Staatsidee im Einzelnen geschieht auf andere Weise; der Ort dafür sind einerseits die »politischen Bildungsanstalten«,37 andererseits die christliche Gemeinschaft. Hiermit bestimmt also Schleiermacher schon eine der politischen Funktionen der religiösen Gemeinschaften. Die eigentliche Frage für die christliche Sittenlehre aber lautet, ob sich Christen an dieser obrigkeitlichen Aufgabe beteiligen dürfen oder nicht.38 Schleiermacher argumentiert mit Hilfe bibelhermeneutischer Prinzipien in Anlehnung an Röm 13 dafür, dass Christen Obrigkeit sein dürfen und dass sie als solche auch die Strafgerichtsbarkeit ausüben dürfen. Ihnen aber ist nicht gestattet, die Todesstrafe zu verhängen und zu vollziehen. Schleiermacher macht dafür zwei Argumente geltend, eines aus der Strafzwecktheorie und eines aus dem ethischen Grundsatz der prinzipiellen Möglichkeit der Selbstanwendung allen Handelns auf andere. Ein Christ darf nur solche Strafen auferlegen, die er auch sich selbst auferlegen könnte und dürfte. Sich selbst aber darf man nicht töten; daher also auch nicht gegenüber jemand anderem die Todesstrafe verhängen. Der zweite Grund liegt darin, dass die Strafe den Gehorsam gegen das Gesetz bewirken oder wiederherstellen soll. Eine Todesstrafe verunmöglicht aber genau dieses für denjenigen, welcher mit der Todesstrafe belegt wird. In christlichen Staaten sollte daher die Todesstrafe nicht vorgesehen sein. Die Todesstrafe beurteilt er als überflüssig, nutzlos und unsittlich. Christen müssen beharrlich auf ihre Abschaffung hinarbeiten. Als Untertan ist der Christ verpflichtet, sich jeder über ihn verhängten Strafe zu unterwerfen, auch wenn er sie als ungerecht empfindet. Ist aber der christliche Untertan auch verpflichtet, jedes Verbrechen, von dem er weiß, dem Staat anzuzeigen? Schleiermacher legt dar, wie trotz gegenteiliger öffentlicher Meinung 35
Vgl. Christliche Sitte, 98. Vgl. Christliche Sitte, 245. 37 Christliche Sitte, 246. 38 Bei dem Verhältnis von reinigendem Handeln der Kirche und reinigendem Handeln des Staates sieht Schleiermacher aber beständig die Möglichkeit von Konflikt und Kollision gegeben, wie auch bezüglich der Kindererziehung (vgl. Christliche Sitte, 99). 36
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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es doch die Pflicht jeder Person ist, Verbrechen, die sich gegen den Staat richten, der Obrigkeit anzuzeigen. Doch hier lässt Schleiermacher abwägende, relativierende Urteilsbildung zu: »Aber freilich, in dem Maaße als die Handlungsweise des Staates so fehlerhaft ist, daß sie die öffentliche Meinung und das sittliche Princip entzweit, ist unsere allgemeine Formel nicht ohne weiteres anzuwenden, sondern man kann nur sagen, das richtige Verfahren ist das, in welchem die Differenz zwischen der öffentlichen Meinung und dem sittlichen Principe so viel als möglich aufgehoben wird und so wenig als möglich hervortritt«.39 Anders scheint es sich zunächst aufgrund des biblischen Zeugnisses bei Strafanzeige hinsichtlich von Verbrechen gegen andere Staatsbürger bzw. gegen Privatpersonen zu verhalten. Den Fehler dieser Betrachtung findet Schleiermacher in der vorausgesetzten Differenzierung von Staat und Privatperson. Zum Staat und seiner Vollkommenheit gehört, dass er sich mit jedem seiner Untertanen so identifiziert, dass er Verbrechen gegen einen der Untertanen als Verbrechen gegen sich selbst erkennt. Erkennt er Verbrechen gegen Einzelne zugleich als Verbrechen gegen den Staat, dann muss er auch beim Eingreifen und bei der Bestrafung gleichermaßen verfahren. Das bedeutet dann umgekehrt für die Untertanenperspektive, dass Verbrechen gegen die eigene Person oder die gegen andere Personen zu identifizieren sind als Verbrechen gegen den Staat und dann genauso zur Anzeige gebracht werden müssen wie sonstige Verbrechen gegen den Staat. Der Staat handelt dann in seiner Strafgerichtsbarkeit auch nicht als Stellvertreter von Privatgenugtuung, sondern zur Sicherung der staatlichen Gesetze und der staatlichen Ordnung. Hier gerät Schleiermacher in Spannung zu möglichen Auslegungen der Bergpredigt, auf welche er eigens eingeht. Die Aufforderung in Mt 5,39–41, dass man dem Übel nicht widerstreben soll, relativiert Schleiermacher mit einer Folgenabwägung. Wenn die Menschen im Staat Übel und Unrecht bereitwillig erleiden würden, dann würde das den Staat bzw. die bürgerliche Gesellschaft aufheben.40 Dies aber könne Christus unmöglich intendiert haben: »Wenn also die Aussprüche Christi und der Apostel überall das Dasein der bürgerlichen Gesellschaft voraussezen: so darf nicht angenommen werden, jene Stelle in der Bergpredigt enthalte Anweisungen, deren Befolgung den Staat auflösen würde«.41 Schleiermacher untersucht die entsprechende Stelle der Bergpredigt philologisch und historisch und kommt dabei zu der Auslegung, dass Jesus dabei ausschließlich das meinte, was die damalige Obrigkeit seinen Jüngern für bedrückende und schwer erträgliche Lasten auferlegt: diese sollten die Jünger auf sich nehmen und widerstandslos erleiden. Da aber die damalige geschichtliche Situation von der gegenwärtigen unvergleichbar verschieden sei, finde dieser Ausspruch Jesu 39
Christliche Sitte, 255. Vgl. Christliche Sitte, 259. 41 Christliche Sitte, 259. 40
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keine heutige Anwendung. Die Bergpredigt enthält aufgrund der verschiedenen geschichtlichen Kontexte keine Regelungen für das Politische, welche für Schleiermachers Gegenwart noch bindende Bedeutung hätten. Damit schließt Schleiermacher die Bergpredigt als Quelle politischer Normen des Christentums aus. Als nächstes behandelt Schleiermacher das reinigende Wirken des Einzelnen auf das Ganze. »Hat die bürgerliche Gesellschaft Rükkschritte gemacht: so bedarf sie der Reform, die aber nur in dem Maaße von einzelnen ausgehen kann, als das ganze das bedürftige ist«.42 Dieses reformierende Handeln aber kommt dem Einzelnen nur zu entsprechend »der Form seiner politischen Stellung«.43 Eine Überschreitung dieser ihm gegebenen Spielräume wäre ein Akt von Gewalttätigkeit und darin unsittlich. Außerdem wäre ein solches Handeln auch letztlich fruchtlos, weil dauerhafte Veränderung nur geschieht mit und durch die »lebendige Ueberzeugung des ganzen«.44 Schleiermacher zieht daraus die Schlussfolgerung: »Und darum können denn ferner auch diejenigen, denen alle politische Wirksamkeit in einem Staate verfassungsmäßig versagt ist, zur Wiederherstellung eines besseren Zustandes nicht anders beitragen, als daß sie auf die Ueberzeugung derer wirken, welche Veränderungen zu machen die Befugniß haben«.45 Schleiermacher entfaltet hierzu eine ausführliche staatstheoretische Begründung: Alles, was im Staat sich ereignet, ereignet sich in der Form des allgemeinen Willens. Alle einzelnen Willensakte basieren entweder auf Leidenschaft, auf Begeisterung oder auf Beratung. Gemeinschaftlich aber wirken nur Leidenschaft und Beratung. Leidenschaft hinsichtlich von Staatsangelegenheiten aber ist unsittlich. Daher entstehen Staatsverbesserung und überhaupt die guten Staatsbewegungen aus Beratungen. Jeder Staatsbürger also wirkt durch Beratung und Überzeugung auf andere; der Unterschied besteht nur darin, wie schnell und vielfältig die Überzeugung auf andere wirken kann. Das hängt von der politischen Stellung ab. Die Anwendung von physischer Gewalt erklärt Schleiermacher selbst im Fall einer rückwärts gewandten Regierung für illegitim. Für die Frage nach dem Staatsbegriff in der Christlichen Sitte erweist sich das Thema des reinigenden Handelns des Einzelnen als besonders relevant. An dieser Stelle zeigt sich, dass Schleiermacher einen vormodernen, voraufklärerischen Revolutionsgedanken mit einem aufklärerischen Staatsgedanken kombiniert und dadurch in argumentative Spannung gerät. Das sei im Folgenden erläutert. Sein Staatsgedanke in diesem Argumentationsgang besagt, dass der Staat in beständiger Bewegung begriffen ist hin zu Verbesserungen. Der Staat ist damit nicht als Zustand, sondern als Bewegung verstanden, die sich als Fortschritt ereig42
Christliche Sitte, 264. Christliche Sitte, 265. 44 Christliche Sitte, 265. 45 Christliche Sitte, 265. 43
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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nen sollte, die aber auch als Rückschritt gestaltet werden kann. Denn der Staat kann, damit meint Schleiermacher nun die Regierung, »rükkgängige Bewegungen«46 machen, womit sich für die Untertanen, die auf Verbesserung zielen, die Frage nach der Legitimität von Gewalt stellt. Genau dieses Vorhaben aber diskutiert Schleiermacher unter der Perspektive der »Wiederherstellung«; genau das ist Begriffsinhalt des vormodernen Revolutionsbegriffs.47 Das Problem von Widerstand und Tyrannenmord thematisiert Schleiermacher allein unter der Leitperspektive von Wiederherstellung eines früheren Zustandes: »den besseren Zustand durch Gewalt wiederherzustellen« ist das gedankliche Problem. Ein weiterer prägnanter Beleg für seine Verwendung der Wiederherstellungssemantik sei genannt: »Oder, Abgesehen von der Genesis der Verschlimmerung des Staates, aber einfach zugegeben das Vorhandensein der rükkschreitenden Bewegung: so müßten doch diejenigen, welche den früheren besseren Zustand herstellen wollen durch etwas, wozu gar keine Befugniß im Staate ist, erst die gegebene Staatsorganisation zerstören«.48 Die Wiederherstellungssemantik impliziert eine staatlich-gesellschaftliche Ordnung, die als Zustand aufgefasst wird. Gegen Abweichungen und Verschlechterungen dieses Zustandes ist auf seine Wiederherstellung zu dringen – eben nur nicht mit gewaltsamen Mitteln. Veränderndes Handeln wird hier als Orientierung am bisher Bestehenden und Beständigen verstanden und nicht als Schaffung von Neuem. Dass gewaltsames Handeln als Beschleunigung von Fortschritt eingesetzt werden könnte, gerät bei Schleiermacher hier überhaupt nicht in den Blick. Im Aufeinandertreffen von Schleiermachers Staatskonzeption mit seinem Revolutionsverständnis kollidieren also ein dynamischer und ein statischer Staatsgedanke. Ebenso kollidieren zwei normative Begriffe von politischem Handeln: eines, das als Bewahrung und Wiederherstellung von bewährter Ordnung und eines, das als Schaffung von Neuem und fortschrittlicher Veränderung verstanden ist. Wie verhalten sich die beiden Begriffe von Staat sowie von politischem Handeln zueinander? Diese beiden Begriffe von politischem Handeln könnte man zunächst der Grundunterscheidung von reinigendem und verbreitendem Handeln zuordnen, welche den Aufbau der Christlichen Sitte strukturiert. Zwar rechnet Schleiermacher ausdrücklich damit, dass in jedem Handeln alle drei Handlungsarten (reinigend, verbreitend, darstellend) enthalten sind, und daher die Darstellung einer Handlungsart auch immer zugleich Aspekte der anderen Handlungsarten mit berücksichtigen muss. So kann man vermuten, dass die Darstellung von reinigendem politischen Handeln auch immer Aspekte von verbreitendem politischem Handeln mit thematisiert. 46
Christliche Sitte, 266. An keiner Stelle spricht Schleiermacher im gegebenen Kontext von »Revolution«, sondern immer nur von Wiederherstellung durch Gewalt oder von Staatszerstörung. 48 Christliche Sitte, 267. 47
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E. Die Christliche Sitte
Dazu sei seine Argumentation gegen die Legitimität gewaltsamen politischen Handelns genauer untersucht. Er beginnt einleitend mit der Bemerkung, die Illegitimität aus christlicher Sicht sei leicht klar zu machen, um dann doch eine sehr ausführliche und differenzierte Argumentation aufzubauen. Das Schema seiner Argumentation sieht so aus: als erstes und dann als letztes setzt er sich mit staatstheoretischen Argumenten von Befürwortern von gewaltsamen Revolutionen auseinander; in der Mitte entfaltet er zwei christlich-biblische Argumente gegen ein gewaltsames revolutionäres Handeln. Zunächst zu Schleiermachers biblisch-christlichen Argumenten. Das Christentum verbiete es grundsätzlich, Gewalt anzuwenden, um auf den moralischen Zustand eines anderen (verbessernd) einzuwirken. Also sei es auch verboten, zur Wiederherstellung des besseren Staatszustandes Gewalt anzuwenden. Mit diesem Argument setzt Schleiermacher voraus, dass staatliche Ordnung mit dem Lebensvollzug von Personen parallelisiert werden kann, dass das Einwirken auf den Staat zu vergleichen ist mit dem Einwirken auf andere Personen. Untergründig schimmert hier also ein personales Staatsverständnis durch, welches den Staat auch in einem moralischen Sinne als Person auffasst. Das zweite Argument besagt, dass jede Form von Gewalt zerstörend auf die Staatsorganisation einwirken müsste. Die Staatsorganisation sei aber von Gott eingesetzt, weil die Obrigkeit überhaupt und mit ihr alle im Staat geltende Befugnis von Gott eingesetzt sei. Das von Gott Eingesetzte aber dürfe niemals zerstört werden. Daher sei Tyrannenmord in jedem Fall aus christlicher Perspektive verboten. Schleiermacher vertritt hier also eine strikte theologische Orientierung an Röm 13 und der diesbezüglichen Auslegungstradition. Ausführlich aber setzt sich Schleiermacher mit staatstheoretischen Argumenten von Gewaltbefürwortern auseinander. Dabei verbleibt er ganz zunächst auch im staatsphilosophischen Bereich und verzichtet auf eine explizit christliche Argumentation. Ein erstes Argument von Befürwortern von gewaltsamem Widerstand besagt: Wenn eine Regierung rückwärts gewandte Maßnahmen vollzieht, so mache sie sich damit zum Feind des Staates vergleichbar einem äußeren Feind. Wie die Gewaltanwendung gegen äußere Staatsfeinde gestattet sei, so auch die Gewaltanwendung gegen innere Staatsfeinde. Dagegen wendet Schleiermacher ein, dass das behauptete Recht, dass ein Teil des Staates einen anderen Teil als Feind definieren könnte unter bestimmten Umständen, von vornherein den Staatsbegriff auflöse. Ein solches Recht sei also nicht mit dem Begriff des Staates vereinbar. Eine zweite Argumentation von Befürwortern eines Rechtes auf gewaltsamen Widerstand rekurriert auf den Staat als Vertrag. Wenn der Vertrag durch die Regierung gebrochen sei, dann bestehe das Recht auf gewaltsamen Widerstand. Schleiermacher bestreitet zunächst die Möglichkeit einer vertragstheoretischen Staatsauffassung. Jeder Staat muss schon deshalb ohne Vertrag entstanden sein, weil ein Vertrag überhaupt
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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erst in einem Staat möglich sei.49 Nach dieser allgemeinen Kritik aber lässt sich Schleiermacher argumentativ auf den hypothetischen Ausnahmefall ein, dass der bestehende Zustand des Staates auf einem wirklichen Vertrag beruht. Bei einem solchen Staat bewirke ein Vertragsbruch von Seiten der Regierung die Aufhebung des Vertragszustandes, also des Staates. Die Regierung selbst hat dann laut der Interpretation Schleiermachers durch ihre Vertragsverletzung den Vertrag und damit sich selbst als Regierung aufgehoben. In diesem Fall haben die Untertanen, die dann keine Untertanen mehr sind, die sittliche Pflicht, »eine ganz neue Ordnung zu erzeugen«50 und »den gesellschaftlichen Zustand auf eine möglichst ruhige Weise wiederherzustellen«.51 Mit diesen Formulierungen greift Schleiermacher die oben herausgearbeitete Spannung zwischen zwei Begriffen von politischem Handeln, einmal als Neuschaffen, einmal als Wiederherstellen, auf. An dieser Stelle lässt sich die Spannung dahingehend auflösen, dass einmal Staatlichkeit überhaupt als Ziel von politischem Handeln, bei der anderen Verwendung eine bestimmte, eben andere, eben neue staatliche Ordnung begriffen wird. Die Handelnden sollen den Zustand von Staatlichkeit wiederherstellen, indem sie nach der Zerstörung der alten eine neue staatliche Ordnung schaffen. Diese Situation von Unbestimmtheit ist vom Einzelnen in Orientierung an sittlichen Grundsätzen und an seinem Gewissen zu gestalten. Zu dieser allgemein staatstheoretischen Argumentation ergänzt Schleiermacher noch speziell christliche Gesichtspunkte. Zunächst ist aus christlicher Sicht dafür Sorge zu tragen, dass der Fall gar nicht eintreten kann, dass die Vertragsverletzung durch Regierungshandeln eine Vertragsaufhebung und damit eine Auflösung des Staates nach sich zieht. Dem ist nur dadurch zu entgehen, dass innerhalb der Obrigkeit eine Aufteilung vorgenommen wird in Unverletzlichkeit des Monarchen und Verantwortlichkeit der obersten Staatsbehörden. Bei Vertragsbruch werden die verantwortlichen Personen bestraft, aber die Obrigkeit als solche und damit der Vertrag als Ganzer bleibt erhalten. Die zweite christliche Perspektive führt Schleiermacher für den Fall ein, dass also tatsächlich ein Staat als aufgelöst zu betrachten ist durch den Vertragsbruch der Obrigkeit. In diesem Fall darf der Christ prinzipiell sich nur gegen rohe Gewalt zur Wehr setzen, aber nicht erlittenes Unrecht mit Gewalt erwidern. Die Sachlage differenziert Schleiermacher noch weiter: der Vertragsbruch durch die Obrigkeit und damit die Staatsauflösung sei solch ein Zustand roher Gewalt. Dagegen darf der Christ sich aber nur wehren, wenn ihm wirklich gewiss ist, dass die Obrigkeit den Vertrag gebrochen habe. Diese Gewissheit kann ihm ausschließlich in dem Fall zuteil werden, dass er in der Erfüllung seiner Pflich49 Damit wiederholt Schleiermacher genau das Argument, das er auch in seinen Staatslehrevorlesungen gegen die Vertragstheorie geltend macht. 50 Christliche Sitte, 268. 51 Christliche Sitte, 268.
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E. Die Christliche Sitte
ten gehindert werde. Das Bestreben, in der Erfüllung eigener Pflichten nicht gehindert zu werden, legitimiert »ruhiges« Bemühen, aber keine Gewalt. Den daraus folgenden Schluss zieht Schleiermacher nicht ausdrücklich, doch müsste er lauten: also ist für Christen grundsätzlich kein gewaltsames politisches Handeln legitimiert, in welcher Situation auch immer. Angesichts dieses argumentativen Schlusses hält Schleiermacher es für erklärungsbedürftig, warum gewaltsame Staatsumwälzungen von Christen ausgegangen sind oder mit christlicher Beteiligung stattgefunden haben. Dafür bietet Schleiermacher zwei Erklärungen: (1) Die christliche Theorie des Politischen enthalte immer noch »heidnische Reste«,52 weil das Christliche zunächst nur in den unteren Gesellschaftsschichten verbreitet war und erst spät in die gebildeten und herrschenden Schichten sich ausgebreitet und von daher auch die politische Theorie bestimmt habe. (2) Eine klare politische Theorie setze einen klaren politischen Zustand voraus, den es im christlichen Mittelalter nicht gab. Wirkliche Klarheit christlicher Theoriebildung zur Politik sei erst bei den Reformatoren ausgeprägt worden. Deren Ächtung aller »rechtswidrige[n] Gewalt« sei vorbildhaft.53 Was besagt diese dezidierte Argumentation gegen gewaltsames politisches Handeln für Schleiermachers Staatsgedanken, der wie oben geschildert von einer polaren Spannung zwischen dynamischer und statischer Ausrichtung bestimmt ist? Schleiermacher löst die latente Spannung durch eine Hierarchisierung. Der statische Staatsbegriff dominiert, die Dynamik ist nur eine untergeordnete Bestimmung des Staates. Das Bestehen von Staatlichkeit hat unbedingten Vorrang vor der Art ihrer Gestalt. Keine einzige Staatsgestalt legitimiert dazu, für ihre (gewaltsame) Aufhebung zu kämpfen. Die Qualität des staatlichen Lebens ist stets von untergeordneter Bedeutung demgegenüber, dass überhaupt eine staatliche Ordnung besteht. Diese statische Fassung des Staatsbegriff hängt eng zusammen mit seiner theologischen Begründung. Schleiermacher schließt sich einer traditionell lutherischen Interpretation von Röm 13 an.54 Die göttliche Einsetzung von Obrigkeit impliziere, dass auch alle von ihr ausgehenden Gestaltungsmaßnahmen mit dieser göttlichen Einsetzung mitgesetzt seien und dementsprechend Schutz genießen. Der einzelne Christ ist zwar zu reformerischem und staatsverbesserndem Handeln verpflichtet; dieses aber darf ausschließlich durch Überzeugung und die Kraft des Wortes geschehen. Im Kontrast zu dieser Position dominiert in Schleiermachers philosophischer Staatslehre der dynamische Staatsbegriff über die statischen Momente. Der Staat ist überhaupt nur Staat, indem er sich verändert und entwickelt. Wenn er sich 52
Christliche Sitte, 269. Christliche Sitte, 270. 54 Zu den neuesten Ergebnissen der neutestamentlichen Exegese siehe Krauter: Studien zu Röm 13,1–7. 53
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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zu langsam entwickelt, hört der Staat auf Staat zu sein. Das Wesen des Staates und seine Existenz werden durch Entwicklung konstituiert. Demzufolge gibt es Qualitäten des Staates, welche die Selbstaufhebung des Staates bedeuten. Die Gestalt und Qualität des Staates entscheidet über seine Staatlichkeit. Dieser dynamische Staatsbegriff ist in den Staatslehre-Vorlesungen implizit aus Schleiermachers ethischer Konzeption der vier sittlichen Güter entwickelt, die sich aus menschlichen Handlungen bilden und menschliche Handlungen freisetzen. Die Differenz des Staatsbegriffs – nur in dieser Hinsicht – zwischen Christlicher Sitte und philosophischer Staatslehre hängt aber nicht nur mit der philosophischen bzw. theologischen Begründung zusammen, sondern könnte sich ebenso durch die Pragmatik und die Adressaten der Argumentation erklären. In beiden Fällen zielt seine Argumentation auf friedliche Reform des Staates, aber je nach Adressaten müssen verschiedene Alternativen abgewehrt werden. In der christlichen Sitte reflektiert er den Staat hinsichtlich eines Rechts auf Widerstand für die Perspektive der Beherrschten. Seine ganze Argumentation zielt darauf, dass alle Kraft der Staatsbürger in friedliche Reformen durch Überzeugung fließen müssen – und Veränderung nicht durch Gewalt geschehen darf. Zur Grundlegung dieser Argumentation braucht er einen statischen Staatsbegriff. Die Alternative aus Sicht der Beherrschten lautet: Veränderung nur durch friedliches Wirken auf die öffentliche Meinung oder Veränderung durch Gewalt. Die Alternative aus Sicht der Herrschenden lautet: Beharren auf dem Status quo oder von oben gesteuerte Reformen. Um also bezüglich dieser Adressaten auf Reformen zu dringen, muss Schleiermacher die theoretische und praktische Möglichkeit argumentativ abwehren, dass alles beim Alten bleibt. Dafür muss er mit einem dynamischen Staatsbegriff argumentieren. Die Staatslehre-Vorlesungen richten sich – wie oben dargelegt – an zukünftige Staatsbeamte, Verantwortungsträger, Regierungsmitglieder. Das reinigende Handeln bezieht Schleiermacher auch auf das staatliche Handeln gegenüber anderen Staaten. In diesem Abschnitt führt Schleiermacher den Gedanken des Völkerrechts als christliche Idee ein und entfaltet sie. Die Ausgangsfrage seiner Ausführungen lautet, ob bei rückwärtsgewandten Bestrebungen eines Staates ein anderer Staat in dessen innere Angelegenheiten eingreifen darf. Schleiermacher unterscheidet ein friedliches Eingreifen von einem Eingreifen mit Gewaltmitteln. Ein friedliches Eingreifen sei erlaubt und gefordert. Es ereignet sich durch den freien Verkehr der Völker untereinander, da wirke Geist auf Geist. Neben diesem Handeln von Völkern aufeinander thematisiert Schleiermacher auch das friedliche Handeln von Staaten aufeinander. Eine Regierung müsse einer anderen einen guten Rat geben, wenn Gelegenheit dazu besteht und wenn auf Empfänglichkeit für diesen Rat zu hoffen ist. Bei der Frage nach einem Handeln mit Gewaltmitteln zwischen Staaten definiert Schleiermacher die Ausgangsfrage anders; nicht mehr ein rückwärtsgewandtes Handeln eines anderen
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E. Die Christliche Sitte
Staates steht zur Debatte, sondern nur eine Störung eines zwischenstaatlichen Verhältnisses durch einen Staat, so dass dem anderen Staat dadurch Nachteile entstehen. Darf in diesem Fall der frühere gute Zustand mit Waffengewalt wiederhergestellt werden? Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob das Verhältnis der Staaten als Naturzustand oder als durch Völkerrecht geordnet zu definieren ist. Laut Schleiermacher ist es »die rein christliche Ansicht, aus der auch das Völkerrecht hervorgeht, daß die christlichen Staaten sich in ihrem Verhältnisse zu einander nicht als im Naturzustande, sondern als im Rechtszustande anzusehen haben«.55 Schleiermacher begründet das damit, dass die christlichen Staaten in geistiger Gemeinschaft stehen und daher auch einen gemeinsamen Rechtszustand anerkennen müssten. Aus diesem gemeinsamen Rechtszustand, dem Völkerrecht, folge dann notwendig, dass Rechtsbrüche ähnlich wie im innerstaatlichen Rechtszustand zu behandeln sind: mit Strafe und Zwang zum Schadenersatz. Daraus folgt die Legitimität von Verteidigungs-Kriegen. Somit beruht für Schleiermacher das Recht zum Krieg auf dem Völkerrecht, während dieses Recht im Naturzustand nicht besteht. Die unübersehbare Absurdität dieser Konstruktion hebt Schleiermacher selbst hervor, und bemüht sich um deren Einhegung: Im Naturzustand beruhen Kriege nicht auf Recht oder Unrecht, sondern seien Naturereignisse. Kennzeichnend für diesen Naturzustand sei gerade, dass Kriege erstens die Regel seien (und nicht die Ausnahme) und dass zweitens Kriege gar nicht unter einer sittlichen Beurteilung stünden, sondern eben reines Naturprodukt seien. Beim Völkerrecht erkennt Schleiermacher dessen noch unvollkommene Realisierung in der politischen Wirklichkeit seiner Zeit, dass ein Staat nicht die Gesamtheit der anderen Staaten zu seinem Schutz anrufen kann, dass es also keine übergeordnete Instanz gibt, welche Recht spricht und Recht durchsetzt. Die Idee des Völkerrechts dient jedoch als Kriterium für die Wirklichkeit des Sittlichen bei einem Verteidigungskrieg insofern, als der kriegführende Staat nicht aus Eigennutz agieren darf, sondern ausschließlich im Sinne der völkerrechtlichen Idee zu handeln hat. Aus diesem Kriterium entwickelt Schleiermacher die Unterscheidung von Angriffs- und Verteidigungskrieg: »Nur der Krieg ist ein wahrer Vertheidigungskrieg, welcher so im Namen der völkerrechtlichen Idee geführt wird; jeder andere ist ein Angriffskrieg, weil er, mag er immerhin durch eine Verlezung veranlaßt sein, in seiner Tendenz nicht in Verhältniß steht mit dieser Verlezung und auf etwas anderem ruht, als auf der Idee der Wiederherstellung des völkerrechtlichen Zustandes«.56 In einem neuen Gedankengang bedenkt Schleiermacher, was das Wesen des Krieges ist und was er für das Leben der Einzelnen bedeutet. Zunächst fragt er nach der Bedeutung für das Leben der Einzelnen auf der gegnerischen Seite. Ein sittlich geführter Krieg darf niemals die Absicht haben, gegnerische Personen zu 55 56
Christliche Sitte, 276. Christliche Sitte, 278.
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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töten.57 Als Argument verweist Schleiermacher nur auf die Ablehnung der Todesstrafe für Staatsbürger mit dem Hinweis, dass es umso weniger sittlich gestattet sei, fremde Staatsbürger zu töten. Zum Tod gegnerischer Personen aber kommt es nur zufällig und als Nebenfolge, nämlich wenn die gegnerischen Soldaten Widerstand leisten. Das Hauptziel im Krieg definiert Schleiermacher als »Schadenersatz und Sicherheit für die Zukunft«;58 dies erreicht man, indem man »Land und Leute«59 unter seine Kontrolle bringt. Widersetzt sich die Bevölkerung, so kann dies den Tod einiger zur Folge haben. Es ist aber kein Kriegsziel und es gehört nicht zum Wesen des Krieges, dass getötet wird. So bedeutet ein Krieg für die eigenen Soldaten auch nicht, dass diese dem Tod ausgesetzt, sondern nur, dass sie einer größeren Todesgefahr ausgesetzt werden. Wollte man dagegen aus christlichen Gründen den Kriegsdienst verbieten, dann müsste man auch alle Berufe verbieten, zu denen ein höheres Risiko für Leib und Leben gehört wie die Seefahrt und das Bauwesen. Mit diesem Argument wendet sich Schleiermacher auch scharf gegen ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Seiner Auffassung nach muss eine allgemeine Wehrpflicht, wenn und wo sie denn besteht, ausnahmslos gelten. Ausnahmeforderungen, wie sie von bestimmten religiösen Gruppen wie den Quäkern und Mennoniten erhoben würden, stellen diese Gruppen dadurch außerhalb des Staates. Ihre Duldung im Staat bewertet er als zu große Nachgiebigkeit der gegenwärtigen Regierung. Das entscheidende Argument, so wiederholt Schleiermacher ausdrücklich, sei nicht die christliche Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit, sondern das Wesen des Krieges, der ja gar nicht verlangt, »wissentlich und mit [. . . ] Willen Menschenblut zu vergießen«.60 Diese Argumentation impliziert für Schleiermacher, dass es sich immer um einen gerechten Krieg handelt, also um einen Verteidigungskrieg. Diese Annahme aber eröffnet die Frage nach dem Handeln des christlichen Untertanen, wenn diese Annahme nicht erfüllt ist, also wenn dem Untertanen ein Krieg des eigenen Staates als nicht gerecht erscheint. Zunächst stellt Schleiermacher allen Personen, die nicht der Regierung angehören, das nötige Wissen und die Kompetenz in Abrede, ein zutreffendes Urteil über die Gerechtigkeit eines Krieges überhaupt fällen zu können. Die eigentliche ethische Antwort Schleiermachers aber lautet, dass einem Befehl der Regierung zum Kriegsdienst in keinem Fall Widerstand geleistet werden dürfe, weil das an diesem Punkt den Staat auflösen würde. Umgekehrt folgert Schleiermacher aus 57 Schleiermacher unterscheidet in seiner Argumentation nicht zwischen Zivilbevölkerung und Angehörigen des Militärs. Überlegungen zum ius in bello sind seit dem Mittelalter nachweisbar. Das erste rechtlich bindende Dokument zum humanitären Völkerrecht wurde jedoch erst 1864 unterschrieben: die Genfer Konvention. Sie beinhaltet die strikte Unterscheidung von Kombattanten und Zivilbevölkerung. 58 Christliche Sitte, 281. 59 Christliche Sitte, 281. 60 Christliche Sitte, 283.
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diesem Grundsatz, »dass der Unterthan keine Verschuldung auf sich zieht, wenn er auf Befehl der Obrigkeit die Waffen ergreift«,61 auch wenn der Krieg ein ungerechter Krieg ist. Verantwortung, auch in einem ethischen Sinne, spricht Schleiermacher ausschließlich jeweils denen zu, welche als Befehlsberechtigte die entsprechenden Befehle aussprechen – die Befehlsausführenden sind frei von Verantwortung. Ihr eigenes Urteil sollen und dürfen die Befehlsausführenden nur insofern zur Geltung bringen, als sie versuchen, auf die Regierung durch Überzeugung einzuwirken und deren Entscheidung zu beeinflussen. Zusammenfassend zeigt sich an der Frage der Kriegsbeteiligung, dass Schleiermacher keinen Raum für individuelle Gewissensentscheidungen öffnet. Seine Argumentation zeigt, dass er die sittliche Notwendigkeit der Existenz eines Staates, zu welchem der Gegensatz zwischen Regierung und Regierten konstitutiv gehört, über sittliche Einzelerwägungen bzw. über die mögliche Unsittlichkeit einzelner staatlicher Entscheidungen stellt. Innerhalb des Staates anerkennt Schleiermacher weder rechtlich noch ethisch eine Instanz, welche Widerstand legitimieren oder staatliche Gewalt begrenzen würde. Als letztes Thema innerhalb des Abschnittes über das reinigende Handeln erörtert Schleiermacher das reinigende Handeln des Staates auf Einzelne außerhalb des Staatsverbandes. Auch hier trägt Schleiermacher eine sehr dezidierte Position vor. Er unterscheidet die beiden Fälle, dass einer außerstaatlichen Person Unrecht geschieht durch einen eigenen Staatsbürger und dass umgekehrt einem eigenen Staatsbürger ein Schaden durch eine außerstaatliche Person entsteht. Im ersten Fall hat der Staat die außerstaatliche Person zu schützen und ihr Recht zu verschaffen. In der Forschung wurde das gedeutet als »Anwendungsfall der Idee allgemeiner Menschenrechte«.62 Da Schleiermacher keine eigentliche Begründung liefert, ist diese These weder zu belegen noch eindeutig zu widerlegen. Zwei Details der Schleiermacherschen Formulierung rufen eher Skepsis hervor, ob Schleiermacher diese Maxime implizit als Anwendungsfall von Menschenrechten dachte. Zunächst hebt Schleiermacher ganz darauf ab, dass es eine spezifisch christliche Auffassung sei, im Unterschied zu einer heidnischen, dass es ein Recht gebe zwischen Bürgern und anderen. Dann fällt auf, dass Schleiermacher nicht aus der Perspektive der außerstaatlichen Person argumentiert, also nicht von ihrem Recht ausgeht, sondern dass Schleiermacher sagt, was eine christliche Regierung tun soll, wozu sie verpflichtet ist. Woher dieser Pflichtcharakter sich begründet, lässt Schleiermacher offen. Diese Art von argumentativer Leerstelle ist charakteristisch für Schleiermachers politische Theoriebildung. Wolfes füllt diese Leerstellen in seiner Interpretation konsequent im Sinne von demokratischen, rechtsstaatlichen Prinzipien. Das führt zu einem sehr sympathischen Schleiermacherbild und zu einer innovativen, zukunftsweisen61 62
Christliche Sitte, 284. Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 318.
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
255
den Politiktheorie. Dabei bleibt aber die Frage, warum Schleiermacher selbst diese Leerstellen nicht im genannten Sinne füllt. Solche Leerstellen finden sich immer dann, wenn genau eine solche entscheidende programmatische (oder auch anti-programmatische) Aussage argumentativ erforderlich wäre. Schleiermacher schweigt konsequent, wenn die Argumentation darauf zulaufen würde, Freiheits-Rechte oder politische Rechte des Einzelnen zu behaupten oder noch allgemeiner Menschenrechte, die als solche gegen die Regierung geltend gemacht werden könnten. Das mag man der Zensur bzw. der Angst vor Zensur zuschreiben, doch das überzeugt deshalb nicht, weil er zu bestimmten konkreten politischen Problemen durchaus kritisch Stellung nimmt ohne allzu viel Rücksicht auf mögliche Zensur zu nehmen. Deshalb sei hier die These vertreten, dass Schleiermacher den Rechtsgedanken nicht für geeignet hält, dasjenige im Staat zu schaffen oder durchzusetzen, worin seiner Auffassung nach das Wesentliche des Staatslebens besteht: die freie, öffentliche, vertrauensvolle Kommunikation zwischen Bürgern und der Regierung. Die Herrschenden können und sollen – mit Bezug auf die Sitte – das Staatsleben durch Rechtssetzungsakte gestalten, für die Beherrschten dagegen sieht Schleiermacher an keiner Stelle vor, dass sie ein Recht und sei es ein »moralisches Recht« gegen die Regierung geltend machen. Schleiermacher erwartet, erhofft und wirkt darauf hin, dass die Herrschenden von sich aus entsprechende Rechtsakte setzen und z. B. freie öffentliche Kommunikation gewähren. Dass aber Rechte gegenüber dem Staat und seinen Organen geltend gemacht werden können, ist ein zentrales Merkmal einer rechtsstaatlichen Konzeption. Schleiermacher sieht Rechte gegenüber dem Staat nicht vor; daher kann ihm bei allen sonstigen inhaltlichen Übereinstimmungen keine rechtsstaatliche Konzeption, auch nicht in einer Vorform unterstellt werden. Die jeweils signifikanten Leerstellen in seiner Argumentation sollten daher als solche benannt werden – und nicht auf sympathisierende Weise aufgefüllt werden. Nun sei Schleiermachers Gedankengang hinsichtlich des Verhältnisses zu außerstaatlichen Personen weiter verfolgt. Wenn den eigenen Bürgern von einer außerstaatlichen Person Unrecht geschehen ist, ist der Staat zu keiner Gewaltanwendung berechtigt; der Staat darf seinem eigenen Bürger nicht mit Gewalt Recht schaffen. Er kann und soll aber die Handelsbeziehungen zu der außerstaatlichen Person und ihrer Gruppe einstellen. Ausführlich wendet sich Schleiermacher gegen jede Form von Zwangszivilisierung oder gewaltsamer Einführung von staatlicher Ordnung bei nichtstaatlich organisierten Menschengruppen. Diese müssten immer von selbst bzw. durch gutes Beispiel zu einer staatlichen Organisation kommen. Gegen das in der Geschichte bis zu seiner Gegenwart geübte Verfahren in überseeischen Kolonien betont Schleiermacher: »das Christentum weiß nichts von einem Rechte uncivilisirte Völker mit Gewalt zu civilisiren«. Im Gegenteil gilt sogar: »Es fordert, alles
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E. Die Christliche Sitte
zu vermeiden, wodurch der christliche Name könnte gelästert werden unter den Völkern, und durch nichts wird er mehr gelästert, als durch Unterdrükkung«.63 2. Das verbreitende Handeln im Staat Das verbreitende Handeln im Staat bildet den zweiten und letzten Teil von Schleiermachers Ausführungen zum verbreitenden Handeln, deren erster Teil dem verbreitenden Handeln, wie es von der Kirche selbst ausgeht, gewidmet ist. Da der sittliche Verbreitungsprozess auch unabhängig vom Christentum sich vollzieht, ist hinsichtlich des Christentums nur die Frage zu stellen, wie dieser Verbreitungsprozess sich durch das Christentum verändert und wie das Christentum sich dazu stellt. Schleiermacher setzt die zuvor gemachten Bestimmungen des verbreitenden Handelns voraus: Die Vernunft des Menschen soll nicht nur auf den Menschen selbst, sondern auch auf die äußere Natur wirken; beide Wirkweisen sind dabei als ein einziger Prozess zu betrachten. Dieser Prozess ist nicht nur von seinem Gegenstand als ein einziger zu betrachten, sondern auch von seinen Akteuren her. Alle Menschen sind gemeinschaftlich an diesem Prozess beteiligt. Schleiermacher fasst das so zusammen: »Bildung aller Talente und Bildung der Natur für den Geist, beides als Eins gesezt, ist wesentlich ein gemeinschaftlicher Act aller der menschlichen Gattung angehörigen Einzelwesen«.64 Für diesen gemeinschaftlichen Akt gilt aber genauso, dass er nur von den jeweiligen Individuen vollzogen werden kann. Dies widerspricht nicht der Idee der Gemeinschaftlichkeit, wenn die Individuen als jeweils eigentümliche Darstellung der Menschheit handeln. Dieses Ineinander von Gemeinschaftlichkeit und individueller Subjektivität im sittlichen Handeln bringt Schleiermacher auf die Formel, »unter dieser Form der Gemeinschaftlichkeit in der Form der Persönlichkeit«65 zu handeln. Dieser Menschheits-Gemeinschaftlichkeit, welche Schleiermacher als eine sukzessive (die Menschheitsgeschichte) und als eine koextensive (die Bevölkerung der ganzen Erde) versteht, kontrastiert er die Existenz von jeweils separaten Staaten und von unterschiedenen Völkern. Muss daher die Pluralität von Staaten und Völkern als sittliches Übel oder als zumindest notwendiges Übel gedeutet werden? Schleiermacher entwickelt eine allgemein-philosophische und dann ausführlich eine christliche Antwort, indem er seinen Staatsbegriff vorträgt. Die philosophische Antwort operiert ganz mit dem Begriff des Volkes, genauer mit dem Begriff der Völker. Zwischen der individuellen Persönlichkeit als der jeweils eigentümlichen Darstellung der Menschheitsidee und der menschheitlichen Gemeinschaft muss es noch vermittelnde Größen geben, welche den »Raum [. . . ]
63
Christliche Sitte, 289. Christliche Sitte, 446. 65 Christliche Sitte, 448. 64
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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auf eine construible und systematische Weise ausfüllen«.66 Diese Zwischengröße konzipiert Schleiermacher als eine Gemeinschaftlichkeit im Eigentümlichen. Geteilte Eigentümlichkeiten wie Sitte, Sprache, Körperbau machen ein Volk aus. Schleiermacher präzisiert dieses Argument noch subjektivitätstheoretisch. Da das sittliche Handeln seinem Impuls nach im Gefühl verankert ist, muss auch die Gemeinschaftlichkeit, die sich im verbreitenden Handeln ausdrücken und vollziehen soll, im Gefühl präsent sein. Die Menschheit als Ganze kann aber im Gefühl selbst nicht präsent sein, sondern ist nur als Idee gegeben. Nur eine konkrete Gemeinschaft kann im Gefühl präsent sein; das ist für Schleiermacher die Volksgemeinschaft. Das Gemeingefühl bildet sich im Verhältnis zur Gemeinschaft des Volkes aus.67 Dies stellt also die gefühlstheoretische Begründung der sittlichen Notwendigkeit einer Pluralität von Völkern dar. In einem zweiten Begründungsgang leitet Schleiermacher diese Gemeinschaften des Eigentümlichen aus dem Verhältnis des Menschen zur Natur ab, zum Planeten Erde. Weil die Differenz der Lebensformen entsprechend der Differenz der klimatischen Zonen zur Erde gehört, hat auch die Menschheit aufgrund ihres engen Verhältnisses zur Erde an dieser Differenz der Lebensformen Anteil. Daher leben also die Menschen als Pluralität von Völkern. Schleiermacher setzt sich dann einem gewichtigen Einwand selbst aus. So sehr die Entstehung von Völkern als mit dem Sittlichen kompatibel verstanden werden kann, so sehr scheint aber doch die faktische Existenz der verschiedenen Völker die Gemeinschaftlichkeit des menschheitlichen Handelns zu stören. Denn Völker führen Kriege gegeneinander. Es kommt also alles auf die Beurteilung des Krieges an. Schleiermacher führt die Existenz von Kriegen auf einen Mangel an Erkenntnis oder auf einen pathematischen Zustand zurück; Kriege verdanken sich kontingenten, defizitären Zuständen, sie sind keine Folge von Pluralität und Verschiedenheit der Völker. Kriege lassen sich daher überwinden. Sie sind sittlich niemals als solche zu rechtfertigen; lediglich Verteidigungskriege kann philosophische Moral und erst recht christliche Moral für zulässig erklären. Diese philosophische Argumentation für die Kompatibilität der allumfassenden Gemeinschaftlichkeit des sittlichen Handelns mit der Existenz von unterschiedlichen Gemeinschaften zielte ganz auf Begriff und Vorstellung von Völkern. Den Bezug zur Pluralität von Staaten stellt er her, indem er Volk und Staat gleichsetzt, was die spezifische Menschengemeinschaft betrifft, und den Staat nur als besondere Form interpretiert, welchen sich das Volk für sein Zusammenleben gibt. Historische Abweichungen von der Identität zwischen Volk und Staat sieht er als defizitär 66
Christliche Sitte, 452. Die Ausbildung von Gemeingefühl, das sich als Prinzip von Gemeinnützigkeit im Handeln ausdrückt, korreliert Schleiermacher mit Bildung. Nur Bildung ermöglicht die Ausbildung und Vergegenwärtigung einer Ganzheitsvorstellung und damit einer Orientierung am Ganzen einer Gemeinschaft. Von »der ungebildeten Classe« sei daher keine »selbständige Gemeinnützigkeit« zu erwarten (Christliche Sitte, 459). 67
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E. Die Christliche Sitte
und »weniger natürlich«68 an; theoretisch kommen diese Fälle nicht eigens in Betracht. Die gleiche Frage beantwortet Schleiermacher dann noch aus christlicher Perspektive. Der Unterschied besteht zunächst darin, dass Schleiermacher sich ausdrücklich auf neutestamentliche Aussagen beruft und diese auslegt. Die zentrale paulinische Aussage sieht er in Röm 13 gegeben. Schleiermacher verwendet diese Stelle wie folgt: »Dennoch sagt der Apostel, jede Obrigkeit sei von Gott eingesezt, jede sei eine göttliche Institution; er lehrt also, da Staat und Obrigkeit durchaus dasselbe sind, nicht daß der Staat ein nothwendiges Uebel, sondern daß er immer etwas sei, dessen Aufhebung nie das Ziel eines christlichen Handelns sein dürfe«.69 Daran fällt nun Mehreres auf. Staat und Obrigkeit werden in eins gesetzt. An vielen Stellen in den Vorlesungen zur Staatslehre bezeichnet Schleiermacher Aufgaben und Merkmale von Regierung, wenn er vom »Staat« spricht. Hier nun erfolgt auch ausdrücklich eine Identifizierung, deren Anwendung auf den Römerbrief nun aber umgekehrt darauf zielt, die Rede von der Obrigkeit durch die Rede vom Staat zu ersetzen. Diese Identifikation widerspricht Schleiermachers Staatsdefinition, die den Staat als Gegebensein einer herrschaftssoziologischen Differenz definiert, wozu also immer beide Relate (Herrschende und Beherrschte) sowie die Relation (Herrschaft) gehören. Den Staat nun mit nur einem der beiden Relate (den Herrschenden und ihrer Funktion: Herrschaftsausübung) zu identifizieren, reduziert die von Schleiermacher selbst zur Geltung gebrachte komplexe Wechselseitigkeit der Anerkennung der Differenz, durch welche die Differenz zwischen Herrschenden und Beherrschten erst besteht und fortdauert. Diese Identifizierung von Staat und Obrigkeit steht im Kontrast zu einer anderen von Schleiermacher vorgenommen Identifizierung, der oben geschilderten Identifizierung von Volk und Staat (»materiell ist Staat und Volk dasselbe«70 ). Die Möglichkeit, solche einseitigen Identifizierungen vorzunehmen, liegt in der Komplexität von Schleiermachers Staatsbegriff. In diesem ist einerseits der Staat als eine spezifische Gemeinschaftsform ausgesagt, andererseits diese Form durch die Funktion Herrschaft als konstituiert gedacht, so dass eine bestimmte Form von Herrschaftsausübung mit Staat bezeichnet wird. Die Stärke dieses Staatsbegriffs liegt in der Verbindung beider Perspektiven; die Schwäche darin, dass die Verbindung begrifflich so unterbestimmt ist, dass Schleiermacher selbst diese beiden Perspektiven je nach Kontext isoliert und mit dem Ganzen identifiziert. In der dann jeweils einseitigen Verwendung – der Staatsbegriff als Bezeichnung einer Gemeinschaftsform und der Staatsbegriff als Bezeichnung der Funktion Herrschaft sowie der Herrschaftsinstanz – büßt der Begriff auch seine analytische Erschließungskraft ein. Das zeigt sich daran, dass 68
Christliche Sitte, 455. Christliche Sitte, 455. 70 Christliche Sitte, 455. 69
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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dann geschichtliche Phänomene, die eben nicht mit dem jeweils einseitig verwendeten Staatsbegriff zu erfassen sind, als »weniger natürlich« ausgegeben werden. Die jeweils einseitige Verwendung des Staatsbegriffs führt auch zu einem statischen Staatsverständnis: entweder als konstante Form des Gemeinschaftslebens eines Volkes oder als Vorhandensein einer Instanz der Herrschaftsausübung. Der Einseitigkeit scheint sich Schleiermacher bewusst zu sein, denn es folgt unmittelbar eine Passage im Text, welche die beiden Aspekte des Staatsbegriffs in ihrer notwendigen Verknüpfung aufzeigt. In einem längeren Abschnitt will er die gegenseitige Verwiesenheit von Volksgemeinschaft und (gesetzlicher) Herrschaft für den Naturbildungsprozess beleuchten. Menschen müssen im gemeinschaftlichen Naturbildungsprozess mit anderen Menschen durch eine gemeinsame Ansicht und Handlungsweise verbunden sein, die so tief reicht, dass sie als »instinctartige«71 Gemeinsamkeit wirkt. Dies sei Inbegriff der gemeinsamen Sitte. Als formlos aber bleibt die Sitte etwas Unsicheres, das nicht für die Klärung jeder einzelnen Entscheidung, auch nicht jedes Konfliktes hinreichende Bestimmtheit freisetzt. Daher braucht die Sitte die Form des Gesetzes, welches als allgemein anerkannter Wille Bestimmtheit für jeden Einzelfall erzeugt. Diese Leistung des Gesetzes, Bestimmtheit und Sicherheit zu erzeugen, konstituiert für Schleiermacher den Status und die Geltung des Gesetzes in der Weise, dass jedes Gesetz, unabhängig von seinem Inhalt, Wert und Geltung hat. Jedes Gesetz, und sei es noch so schlecht oder nachteilig, ist besser, als wenn es in der betreffenden Sache kein Gesetz gäbe. Daher müssen die Beherrschten jedes Gesetz anerkennen und befolgen, aus der Anerkennung heraus, dass jedes Gesetz besser ist als die Nichtexistenz desselben. Damit finden wir hier exakt dieselbe Argumentationsstruktur: Gesetze wie auch der Staat haben unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung unbedingte Geltung. Keine qualitative Ausgestaltung der Staatsform oder der Staatsgesetze ist denkbar, welche die Gültigkeit, genauer den Begriff des Staates oder des Gesetzes aufheben würden. Es bestätigt sich die Beobachtung, dass in der Christlichen Sitte ein rein formaler und statischer Staatsbegriff dominiert. Am oben zitierten Satz gibt ferner die ausgesagte Handlungsanleitung zu denken. Aus der paulinischen Bestimmung des Staates als göttliche Institution, folgt zunächst die Verneinung, dass der Staat also kein notwendiges Übel sei. Für das Handeln zieht Schleiermacher nur eine negative Konsequenz, dass christliches Handeln niemals auf die Aufhebung des Staates zielen dürfe. Positive Handlungskonsequenzen benennt er nicht. Seine ganze Argumentation zielt auf den Nachweis, dass auch aus christlicher Sicht der Staat als Institution berechtigt, geboten und gut sei.72 71
Christliche Sitte, 456. Da der Staat und die staatliche Verfassung der Völker gegeben sind, stellt sich für Schleiermacher nicht die Frage, ob Staaten zu bilden sind, sondern nur, wie man sich zu ihrer gegebenen Existenz aus christlicher Sicht zu stellen habe. 72
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E. Die Christliche Sitte
Im Anschluss an den Verweis auf Röm 13 bezieht sich Schleiermacher auf Apg 17,26: »Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen.« Daraus leitet er ab, dass die Verteilung der Menschen auf verschiedene Gegenden der ganzen Erde auch göttlich gewollt sei. Damit sei die daraus folgende Verschiedenheit der Menschen, die sich in der Pluralität von Völkern ausdrücke, göttlich gewollt und der göttlich gewollten Gemeinschaftlichkeit des ganzen Menschengeschlechtes nicht entgegengesetzt. Schleiermacher spitzt schließlich die referierten theologischen und philosophischen Überlegungen auf die Frage zu, worin der Unterschied bestünde zwischen der philosophischen Sittlichkeitslehre und den allgemeinen bürgerlichen Tugenden auf der einen und der christlichen Sittenlehre und den christlich-bürgerlichen Tugenden auf der anderen Seite. In der Forschung bildet die Frage der Eigenständigkeit der theologischen gegenüber der philosophischen Ethik bei Schleiermacher den Fokus der Diskussion seit 1947. Diese Frage fungiert zugleich oft als Kriterium zur Beurteilung der Schleiermacherschen Konzeption. Zwei entgegen gesetzte Positionen spannen das Deutungsfeld auf: Jørgensen deutet die theologische Ethik als nur graduell von der philosophischen Ethik verschieden, entgegen der Intention Schleiermachers. Bei Schleiermachers eigenen Ausführungen über das Verhältnis fallen ihm »die vielen logischen Ungenauigkeiten, ja sogar Widersprüche«73 auf. Daher orientiert er sich an der Intention von Schleiermachers Verhältnisbestimmung und charakterisiert sie damit, »daß kein und doch zugleich ein realer Gegensatz bestehen soll«74 zwischen philosophischer und christlicher Sittenlehre. Das hält Jørgensen für logisch unmöglich; er urteilt dann, dass faktisch »kein wirklicher Unterschied«75 auszumachen sei. Der »Prozeß, der in dem wiedergeborenen Menschen vor sich geht und den die christliche Ethik beschreibt, ist nicht nur völlig gleich mit dem kosmischen Prozeß, den die philosophische Ethik beschreibt, sondern ist derselbe wie dieser, weshalb es ganz folgerichtig ist, daß die Begriffe in der christlichen Sittenlehre dasselbe sagen wie diejenigen in der philosophischen«.76 Den Bezugspunkt der Diskussion bildet Hirschs Analyse: »Die philosophische Sittenlehre entwickelt mit dem Begriff der Religion den der Kirche als Vollzug einer der vier Grundweisen der Vernunfttätigkeit. [. . . ] Die nähere Durchführung und Entfaltung der ethischen Gemeinschaftsform der Kirche vom Boden der christlichen Religion als einer der Religionsindividualitäten aus ergibt die christliche Sittenlehre, welche somit völlige Selbständigkeit des Ausgangspunktes mit allgemeiner Einordnung in das Schema philosophischer Sitten73
Jørgensen: Die Ethik Schleiermachers, 187. AaO. 189. 75 AaO. 189. 76 AaO. 190. 74
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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lehre miteinander verbindet, kurz eine unableitbar individuell bestimmte Ausführung einer der in der philosophischen Sittenlehre angelegten vier Vollzugsweisen der Vernunft ist«.77 Bei Birkner schließt sich daran eine sehr differenzierte Analyse an, die folgende weiterführende Beobachtungen enthält: eine unmittelbare Parallelisierung beider Ethiken ist unangemessen, weil es sich um ganz unterschiedliche Disziplinen handelt. »Die philosophische Ethik ist in Schleiermachers Konzeption eine deduktiv verfahrende spekulative Wissenschaft. [. . . ] Die Christliche Sittenlehre dagegen gehört der empirischen Geschichtswissenschaft zu. Sie hat eine begrenzte konkret-historische Aufgabe«.78 Für ihre konkret-historische Aufgabe verwendet sie die in der philosophischen Ethik entwickelten Kategorien. So kann es gar nicht zu einer Konkurrenz der beiden ethischen Disziplinen kommen. Die philosophische Ethik »gibt ein abstrakt formales Gerüst. Sie beschreibt allgemeine Formen und Strukturen. Die Christliche Sittenlehre entfaltet ihre Eigenart unter Voraussetzung der philosophischen Ethik. Sie beschreibt eine konkrete geschichtliche Lebensgestalt: das christlich-fromme Selbstbewusstsein, wie es Gesinnung, konkretes Ethos wird«.79 Das Fundament dieser Verhältnisbestimmung bei Schleiermacher bildet die Annahme einer grundsätzlichen und vollständigen Kongruenz von Christentum und Humanität. Herms nimmt diese Differenzierung auf, wendet sie aber in eine bestimmte Richtung: Die philosophische Ethik sei der Form nach, in einem logischen Sinne, der Christlichen Sitte übergeordnet. »Aber der Sache nach ist die spekulative Theorie nur die abstrakte Darstellung eines konstitutiven Momentes der Schleiermacher konkret gegenwärtigen und ihn selbst einschließenden realen christlichen Sittlichkeit, deren Anschauung also das der Sache nach Frühere und Grundlegende ist«.80 Somit erklärt er sachlich und material die christliche Sitte als grundlegend, und die philosophische Ethik als deren abstrakte Reflexionsfassung. Geck hält ohne nähere Differenzierung die beiden Ethiken für verschieden voneinander, bestimmt
77
Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, IV, 555f, Hervorhebung MR. Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 84. Ähnlich von Scheliha: Sources of Normativity, 291f. 79 Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 87. 80 Herms: Reich Gottes und menschliches Handeln, 121. Herms entwickelt die Differenz zwischen der philosophischen und der christlichen Ethik Schleiermachers aus dessen Anschauungsbegriff. Der Anschauungsbegriff lasse sich in die drei Aspekte unterscheiden: »die allgemeinen, beharrlichen Züge von Angeschautem überhaupt (im begrifflichen, spekulativen Wissen) oder [. . . ] veränderliches Einzelnes (im empirischen Wissen) oder aber auch – durch die ›kritische‹ Korrelation von Empirie und Spekulation – [. . . ] das konkrete Wesen eines bestimmten Bereichs der anschaulich gegebenen Realität« (Herms: Menschsein im Werden, 102). Die philosophische Ethik stellt das begriffliche Wissen dar, während die christliche Ethik diese Schleiermacher »selbst anschaulich präsente, bestimmte Gestalt des ethischen Lebens« (aaO. 103) unter den Bedingungen des Christentums thematisiert. Die Differenz wäre damit die von Abstraktion einerseits und Verbindung von Abstraktion und Konkretion andererseits. 78
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E. Die Christliche Sitte
deren Verhältnis aber als eine »sich im Nachhinein ergebende Kompatibilität«,81 die ein heute nicht mehr mögliches Weltvertrauen ausdrücke. Zwei aktuelle Untersuchungen kommen zu einem ähnlichen Ergebnis und beschreiben das Verhältnis der beiden Ethiken als das einer Korrespondenz.82 Schleiermacher selbst reflektiert diese Verhältnisbestimmung, die er zunächst als ein Dilemma entfaltet, mit dem Kategorienpaar Form/Inhalt. Dem Inhalte nach seien die bürgerlichen und die christlich-bürgerlichen Tugenden gleich, der Form nach verschieden. Die Erläuterung hebt an von Röm 13,5: »Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen.« Den Unterschied markiert Schleiermacher beim Gewissensbegriff – nicht bei den Gründen für den Gehorsam. Das bürgerliche Gewissen bestehe in der Zusammenstimmung des individuellen Willens mit dem allgemeinen Willen, wie er sich in den staatlichen Gesetzen manifestiert; der allgemeine Willen, auf den sich das bürgerliche Gewissen bezieht, ist daher lediglich der Wille einer Volksgemeinschaft. Auf die Menschheit dagegen als Ganze bezieht das christliche Gewissen immer den Willen der Volksgemeinschaft; in seinem eigentlichen Sinn ist das christliche Gewissen die Übereinstimmung des individuellen Willens mit dem Willen Gottes. Diese Differenz im Gewissensbegriff generiert aber eine Differenz, die nicht formal bleibt, sondern die auch zu einer inhaltlichen Differenz hinsichtlich des sittlichen Handelns werden kann. Dass aus der Differenz ein Konflikt erwachsen kann, deutet Schleiermacher an, belässt das Problem aber anmutig in der Schwebe. Dazu zwei der einschlägigen Formulierungen: »Statuirt aber der religiöse Standpunkt, vom christlichen gar nicht einmal zu reden, keinen Patriotismus, der das Vaterland zu einer eigennüzigen moralischen Person macht, und sichert der bloß politische Standpunkt nicht gegen einen solchen Patriotismus: so ist auch eine Differenz im Gewissen nicht zu verkennen«.83 Noch deutlicher markiert die folgenden Stelle Konfliktpotential: »so folgt auch, daß der Christ die ganze bürgerliche Tugend nur auf diese Verbreitung des Reiches Gottes bezieht und sich von seinem Verhältnisse zum Staate nichts gebieten läßt, wodurch die Verbreitung des Reiches Gottes gehindert werden könnte«.84 Das Musterbeispiel eines solchen Konfliktes stellt ein Krieg dar. Wenn ein Krieg kein reiner Verteidigungskrieg ist, dann hindert er die Verbreitung des Reiches Gottes, indem er die Gemeinschaftlichkeit der ganzen Menschheit behindert und schädigt. Das religiöse Gewissen muss also gegen einen solchen Krieg sich wenden. Obiger Satz legt nahe, dass der Christ dann auch seinem Gewissen zu folgen hätte und sich diese Kriegsteilnahme nicht gebieten las81
Geck: Sozialethische und sozialpolitische Ansätze, 142. Dazu Brandt: All Things New, 77; Müller: Theologische Ethik, 58. 83 Christliche Sitte, 461. 84 Christliche Sitte, 462. 82
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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sen dürfte/würde. Die oben dargestellten Überlegungen Schleiermachers zum Krieg aber hatten ergeben, dass Schleiermacher keine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gelten lässt, dass vielmehr gilt, dass dem Befehl der Regierung auch zu einem ungerechten Krieg Folge zu leisten ist. Schleiermacher führt seine Überlegungen nur bis zur Möglichkeit eines Konfliktes, aber liefert keine Theorie, wie Konflikte aussehen und wie sie zu bewältigen seien. Jedoch kann man den Ansatz einer Theorie des Nicht-Konfliktes bei ihm erheben, also Ansätze einer Konzeption, warum ein realer Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft nicht auftritt. Implizit kann man hinsichtlich von Konflikten eine Unterscheidung bei Schleiermacher identifizieren zwischen Inhalt und Subjekten eines möglichen Konfliktes. Dass von der inhaltlichen Seite Konflikte möglich sind, führt Schleiermacher selbst immer wieder eigens vor – so auch an dieser Stelle hinsichtlich einer nationalen versus einer menschheitlichen Orientierung. Dass solche Konflikte aber nicht real auftreten, liegt an den Subjekten, die nach Schleiermachers Subjektbegriff eben grundsätzlich nicht in einen sittlichen Konflikt mit dem Ganzen kommen können. Das sittliche Handeln des Einzelnen ist Vollzug von Selbsttätigkeit. Diese Selbsttätigkeit stellt aber immer nur das Resultat des sittlichen Prozesses der ganzen Menschheit, geschichtlich und gleichzeitig, dar. Und umgekehrt ist dann diese Selbsttätigkeit des Einzelnen nur Organ des menschheitlichen Handelns. Das bestimmt durchgehend das Konzept des sittlichen Handelns des Einzelnen: »Die Thätigkeit des ganzen, die der einzelne zu repräsentiren hat, wird hier nur repräsentirt, wenn er sich frei dem ganzen unterordnet, d. h. der einzelne muß seine Freiheit in Rükksicht der eigenen Ausbildung und künftigen Bestimmung und Wirksamkeit vom ganzen empfangen; er muß in allem, was er hierin thut, sich als Organ des ganzen ansehen können, wenn seine ganze Entwikkelung wahrhaft frei und sittlich sein soll«.85 Weil der Einzelne seine Freiheit überhaupt erst vom Ganzen empfängt, kann er diese Freiheit nicht auf eine sittliche Weise gegen das Ganze stellen. Die Freiheit des Einzelnen ist sittlich also daran gebunden und davon bedingt, dass sie in den Dienst des Ganzen gestellt wird. Ein sittlicher Konflikt kann daher also für Schleiermacher nicht auftreten, weil das Ganze immer vorgeordnet ist. Das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaftsganzem ist so gedacht, dass schon strukturell ausgeschlossen ist, dass für den Einzelnen ein sittlicher Konflikt mit dem Ganzen auftritt. Der Einzelne wird also dezidiert nicht als sittlich autonom gedacht. Das bedeutet die Verabschiedung des kantischen Autonomiegedankens – unter der für Schleiermacher selbstverständlichen Voraussetzung, dass das Ganze selbst von hoher sittlicher Qualität ist. Mit dieser Subjekttheorie ist aber noch nicht ausgeschlossen, dass ein Konflikt zwischen den verschiedenen Ganzheiten, auf welches das Subjekt bezogen 85
Christliche Sitte, 463f.
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E. Die Christliche Sitte
ist, auftritt, also beispielsweise zwischen dem einzelnen Staat und der ganzen Menschheit. Genau das ist der Fall bei einem ungerechten Krieg. Das bedeutet, dass Schleiermacher im Letzten nicht theoretisch begründet, warum ein solcher Konflikt nicht auftritt oder auftreten könnte. An mehreren Stellen nähert er sich gedanklich der Möglichkeit eines Konfliktes, zögert aber dann doch, weicht zurück, wendet sich anderen Gedankengängen zu. Wie eine tiefe Scheu erscheint das, ein nicht mehr theoretisch zu erklärendes Hoffen, dass ein solcher sittlicher Konflikt nicht auftreten möge. Eine nicht mehr ausweisbare Überzeugung von der Harmonie des sittlichen Lebens scheint da auf. In dieser Hinsicht scheinen in Schleiermachers fein durchkonstruiertem Gedankensystem vage, unscharfe Stellen auf, die er jedoch selbst als vage und farblich schimmernd markiert. Sie sind keine blinden Flecken, sondern sind wie Ausblicke auf die gedankentragende Stimmung der Wirklichkeitsinterpretation, die selbst nicht Gedanke und Begriffszusammenhang wird und werden kann. Dies sei vorgeführt am Gewissensbegriff. Dient der Begriff des Gewissens traditionellerweise dazu, die unvertretbare Subjektivität und Autonomie des Einzelnen in sittlichen oder religiösen Fragen auszusagen, durch welche der Einzelne sich im Extremfall auch gegen die Gemeinschaft und gegen herrschende Normen wenden kann, so zielt bei Schleiermacher umgekehrt der Begriff des Gewissens darauf, das sittliche Bewusstsein des Einzelnen mit dem sittlichen Bewusstsein der Gemeinschaft als unlösbar verbunden auszuweisen. Schleiermacher verwendet dafür den Begriff »öffentliches Gewissen« oder synonym »das gemeinsame Bewußtsein«.86 Die Funktion des öffentlichen Gewissens für den Einzelnen sieht er angesichts eines doppelten Defizits des Einzelnen: in vielen Fällen ist der Einzelne hinsichtlich einer bestimmten Sache noch ohne Erfahrung und kann daher schwer urteilen. Das öffentliche Bewusstsein dagegen stellt das Resultat der Erfahrung aller Einzelnen dar, das somit dem Einzelnen Zugang zu Erfahrungen vermittelt, die ihm aus der eigenen Lebenserfahrung nicht zur Verfügung stehen. Dabei hat Schleiermacher aber nicht nur Erfahrungen selbst im Blick, sondern auch das »Resultat« daraus, also das Konzentrat dieser Erfahrungen, die sittliche Beurteilung und Schlussfolgerung daraus. Das ist für das Individuum umso nötiger als »der einzelne doch immer unsicher bleibt, so lange er nur auf dem persönlichen Bewusstsein und Gewissen ruht«.87 Handlungsgewissheit ist für Schleiermacher also nur durch Übereinstimmung mit dem öffentlichen Gewissen zu erreichen. Diese Verbindung zwischen einzelnem und öffentlichem Gewissen fasst Schleiermacher sowohl deskriptiv als auch normativ. Der Einzelne existiert auch in seinem sittlichen Urteil nie 86 Christliche Sitte, 699. Die Ausführungen zum öffentlichen Gewissen erfolgen im Kontext des darstellenden Handelns in der geselligen Sphäre, lassen sich aber auf das sittliche Handeln allgemein übertragen, da hier keine Spezifika geltend gemacht werden, die nur für das darstellende Handeln zutreffen. 87 Christliche Sitte, 701.
II. Der Staat in der Christlichen Sitte
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vereinzelt, sondern in und von einer Gemeinschaft her. Diese Verbundenheit aber stellt sich dem Einzelnen dann auch als Gestaltungsaufgabe: das gemeinsame Bewusstsein soll in jedem »in jedem Momente zusammensein mit seinem persönlichen Bewusstsein«.88 Daraus folgt, dass ein harter Konflikt zwischen sittlichem Urteil des Einzelnen und sittlichem Urteil der Gemeinschaft, in der er lebt, nicht denkbar ist. Implizit scheint bei Schleiermacher die Annahme oder die Hoffnung durchzuschimmern, dass das öffentliche Gewissen sich nicht irrt, dass die Gemeinschaft sich zumindest in den grundlegenden Fragen nicht völlig täuscht. Bei einzelnen Fragen jedoch konstatiert Schleiermacher, dass das öffentliche Gewissen gespalten sei, insofern es zu verschiedenen Auffassungen kommt. Differente Urteilsbildungen betreffen aber immer nur ein beschränktes thematisches Feld. Die Differenzen zu beseitigen und immer mehr einzugrenzen, ist eine eigene sittliche Aufgabe, weil eine größere Einigkeit des öffentlichen Bewusstseins auch die Sittlichkeit des Einzelnen und dessen Handlungsgewissheit befördert.89 In Fällen von Gespaltenheit des öffentlichen Bewusstseins oder dessen »Verworrenheit«90 obliegt es nun aber doch dem einzelnen Gewissen – mit Beistand des Geistes Gottes –, die angemessene Entscheidung zu treffen. Angesichts des immer erst noch werdenden sittlichen Zustandes des öffentlichen Bewusstseins sieht er diesen Fall als für jeden Menschen zu erleidenden an. Die Entscheidungsnot des einzelnen Gewissens konstatiert Schleiermacher aber nur für den Fall der Gespaltenheit oder Verworrenheit des öffentlichen Gewissens – nicht aber für den Fall, dass der Einzelne in seinem Gewissensurteil abweicht vom öffentlichen Bewusstsein in dessen Einheit.91 Also auch hier lässt Schleiermacher Konfliktpotential nur für den Widerspruch zwischen Ganzheiten zu, nicht aber für die Konstellation Einzelner versus Gemeinschaft. Diesen möglichen Widerspruch zwischen Ganzheiten thematisiert Schleiermacher für den Fall, dass eine evangelische Gemeinschaft von einem katholischen Staat mit Staatskirche als religiöse Gemeinschaft nicht mehr geduldet wird – nach einer anfänglichen Duldung. Für diesen Fall gelte, »was in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche im römischen Reiche galt und unter ähnlichen Umständen überall gegolten hat und gelten muß, nämlich Gott mehr 88
Christliche Sitte, 699. Vgl. Christliche Sitte, 699. 90 Christliche Sitte, 706. 91 Hinsichtlich der philosophischen Ethik bemerkt Hirsch, was ebenso aber für die Christliche Sitte gilt: »In negativer Hinsicht ist Schleiermachers Idee der Ethik dadurch auf den ersten Blick gekennzeichnet, daß der Begriff des Gewissens und ebenso alle Begriffe aus dem Gebiet der sittlichen Selbstbeurteilung nunmehr aus den tragenden ethischen Grundbegriffen entfernt worden sind. [. . . ] Es hat ja nur Sinn, vom Gewissen als einem Besonderen zu reden, wenn es noch etwas andres ist als das im Wechselspiel von Gedanke und Gefühl, oder von Vernunfttätigkeit und individuellem Selbstbewußtsein sich ausbildende allgemeine Bewußtsein von Umfang und Gehalt der sittlichen Idee« (Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, IV, 547). 89
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zu gehorchen als den Menschen, und zu leiden, was daraus folgt«.92 Ansonsten verneint er dezidiert die Möglichkeit eines radikalen Konfliktes zwischen dem Christentum als Kirche und dem Staat: »Aber giebt es nicht politische Formen, die dem Christenthume absolut widersprechen? [. . . ] solche Formen giebt es nicht«.93 Einen radikalen, strukturellen Gegensatz zwischen Kirche und Staat schließt Schleiermacher also kategorisch aus. Keine Staatsform, keine politische Ordnung als solche sei mit dem Christentum inkompatibel, so sehr auch graduelle Abstufungen zwischen guten und weniger guten Staatsformen aus christlicher Sicht möglich und wünschenswert sind. Eine nähere Begründung gibt Schleiermacher nicht, sondern er nimmt nur eine weitere Setzung vor, dass nämlich weder »absolute Demokratie« noch »absolute Monarchie« und damit auch keine der Zwischenformen mit dem Christentum inkompatibel seien. Für den hypothetischen Fall, dass doch eine solche Form aufträte, dann wäre die einzige Handlungsoption, sich aus diesem Staate zurückzuziehen, also auszuwandern, aber nicht, einen Staatsumsturz vorzubereiten. Schleiermacher verneint also jede Möglichkeit eines radikalen Konfliktes; wenn ein solcher sich aber abzeichnen würde, dann muss alles Handeln sich darauf ausrichten, dass dieser Konflikt nicht ausbrechen kann – indem man die Konfliktsituation verlässt. Schleiermachers Bemühen, in der Theorie einen radikalen Konflikt nicht auftreten zu lassen, entspricht seine Handlungsempfehlung, in der Praxis einen solchen Konflikt ebenfalls nicht auftreten zu lassen, indem man sich dem möglichen Konflikt entzieht. Und doch anerkennt er (wie oben zitiert) einen denkbaren und auch geschichtlich nachweisbaren Konfliktfall: wenn die tatsächliche Regierung – unabhängig von der Staatsform – die evangelische Kirche als Kirche nicht duldet. Dann und nur dann ist der Gehorsam gegenüber Jesu Geboten höher zu stellen als der Gehorsam der Regierung gegenüber. Das betrifft nach Schleiermacher aber immer eine Gruppe von Menschen, eben als einer evangelischen Gemeinschaft. Als einzelner Christ dagegen irgendwo ohne Kirche leben zu wollen, widerspricht schon als solches der christlichen Sittlichkeit. Die Depotenzierung von Konflikten in Schleiermachers ethischer Theoriebildung hängt ferner eng zusammen mit seiner Auffassung des Sittlichen als Prozess. Das Sittliche verwirklicht sich als Prozess, in dem das höchste Gut wird. Die einzelnen Entscheidungen der Individuen sind darin immer nur ein Moment, ebenso wie die Einzelnen nur als ein Durchgangspunkt des menschheitlichen Bewusstseins bestimmt sind. Damit sind im Wesentlichen die Ausführungen Schleiermachers zum wirksamen Handeln im Staat nachgezeichnet und in ihren Problemen vorgeführt. Aus all diesen Erörterungen lassen sich nun präzise Merkmale des Staatsbegriffs erheben, wie ihn Schleiermacher in der christlichen Sittenlehre versteht.94 92
Christliche Sitte, 472. Christliche Sitte, 472. 94 Brandt charakterisiert Schleiermachers Staatsbegriff in der christlichen Sittenlehre wie folgt: 93
III. Der Einzelne und das Ganze
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3. Zusammenfassung: Der Begriff des Staates in der christlichen Sittenlehre Die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen seien nun in Thesen zusammengefasst: (1) Der Staat ist eine göttlich eingesetzte Institution. Die staatliche Ordnung ist daher, unabhängig von ihrer Ausgestaltung, immer, ohne Ausnahme, dem staatslosen, ungeordneten Zustand vorzuziehen. Staatsumsturz ist immer unsittlich und unchristlich. (2) Alle Staatsformen sind prinzipiell mit dem Christentum kompatibel und vom Christentum akzeptierbar, so sehr das Christentum auch Bewertungen gradueller Art hinsichtlich der Staatsformen vornimmt und vornehmen sollte. (3) Der Staat darf keine Todesstrafe verhängen. (4) Christen haben als solche den politischen Auftrag, zur Verbesserung des Staates beizutragen. Weder Distanz zum Staat noch Gleichgültigkeit hinsichtlich des staatlichen Lebens wäre eine angemessene christliche Haltung. Auch der Staat aber soll dem Einzelnen für von der allgemeinen sittlichen Norm abweichende Entscheidungen keine Gewissensfreiheit einräumen, z. B. soll es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen geben. (5) Veränderungen des Staates sollen ausschließlich auf kommunikativem Wege, durch das Bilden von Überzeugungen befördert werden. Gewaltsame Staatsveränderungen sind grundsätzlich unchristlich. Alle haben die sittliche Pflicht, sich in den öffentlichen Kommunikationsprozess einzubringen und ihre Individualität darin zur Darstellung zu bringen. (6) Staat und Kirchen sollten getrennt sein. Strikte gegenseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche ist zu realisieren.
III. Der Einzelne und das Ganze Zum Verhältnis von Einzelnem und Ganzem95 wurde bisher gezeigt, dass ein sittlicher Konflikt des Einzelnen mit dem Ganzen strukturell ausgeschlossen ist. Mit relativen Differenzen hinsichtlich politischer Interessen und politischer Einsicht zwischen den verschiedenen Einzelnen sowie zwischen Einzelnen und der Regierung rechnet Schleiermacher aber durchaus. Wie sollen diese ausgetragen werden? Wie kann sich staatliches Leben gerade in und mit diesen Differenzen entfalten? Kann der christliche Staatstheoretiker Schleiermacher mit dem Individualitätstheoretiker Schleiermacher hier eine Verbindung eingehen? In der Forschung wird das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem bei Schleiermacher recht einseitig akzentuiert, so von Birkner: Schleiermachers Christliche Sitte »kennt keine eigentliche Ethik der Person, sondern sie ist ganz als Sozialethik »the state in Schleiermacher’s view ist he custodian oft he general human process of reason’s appropriation of nature« (Brandt: Interpretation of Culture, 319). 95 Einen guten Überblick über die Diskussion gibt Keil: Die Christliche Sittenlehre Friedrich Schleiermachers, 329–335. Seine abwägenden, nuancierten Überlegungen verdecken jedoch die eigentliche Pointe des Verhältnisses von Einzelnem und Gemeinschaft bei Schleiermacher.
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konzipiert«.96 Dem Thema sei daher auf dem Hintergrund der These Birkners nachgegangen, um diese These zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu präzisieren. Der Einzelne wird bei Schleiermacher so relativ gedacht, »daß wir uns in der christlichen Gemeinschaft den einzelnen gar nicht für sich denken können, sondern immer nur in der Identität mit dem Gesammtleben; denn der göttliche Geist, das die Christen beseelende Princip, hat ursprünglich nur im Gesammtleben seinen Siz, in den einzelnen nur auf abgeleitete Weise, nicht ist er ursprünglich in den einzelnen und geht dann von diesen auf das ganze über«.97 Diese pneumatologische Auffassung bestimmt Geist ganz als Gemeinschaftsgeist, an dem die Einzelnen nur durch ihre Beziehung zur Gemeinschaft Anteil haben. Wenn dieser Gemeinschaftsgeist eine objektive Repräsentation hätte, dann wäre für den Einzelnen schlicht die Unterordnung unter diese Repräsentation zu folgern. Schleiermacher aber denkt diesen Geist so strikt als Geist dieser lebendigen Gemeinschaft aus individuellen Einzelnen, dass gilt, dass im Einzelnen dann auch wirklich der Geist sprechen kann und auf diese Weise das Ganze im Einzelnen wirkt. Diese grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Ganzem und Einzelnem, die Schleiermacher hier pneumatologisch begründet, formuliert er an anderer Stelle ähnlich, nur mit kulturanthropologischer Begründung. Die Individualität des Einzelnen bilde sich aus dem Ganzen; das individuelle Leben entsteht in seiner Individualität erst aus dem Gesamtleben und wird auch nur bewahrt durch das Gesamtleben.98 Im Einzelnen individualisiert sich das Ganze und ist im Einzelnen auch nur auf individualisierte Weise präsent. Aus dieser Verhältnisbestimmung folgert Schleiermacher hinsichtlich des reinigenden Handelns drei Verpflichtungen: der Einzelne muss seine Impulse insbesondere zum reinigenden Handeln den anderen zugänglich machen, d. h. er muss sie mitteilen und öffentlich machen.99 Zweitens muss in der Gemeinschaft Öffentlichkeit herrschen und hergestellt werden, eine Kultur der freien Mitteilung muss sich ausprägen.100 Das Prinzip der Öffentlichkeit muss »stets 96 Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 93. Eine noch umfassendere These stellt Geck auf, für den »Schleiermacher im Zentrum seines Denkens Sozialethiker war« (Geck: Sozialethische und sozialpolitische Ansätze, 113). 97 Christliche Sitte, 185. 98 Vgl. Christliche Sitte, 117. 99 So »werden wir daraus diesen das bisherige zusammenfassenden allgemeinen Kanon aufstellen können, daß von jedem Punkte an der einzelne seiner Ueberzeugung von dem Zustande des ganzen und von seiner Wirksamkeit auf denselben die größtmögliche Oeffentlichkeit geben muß« (Christliche Sitte, 187). 100 Entsprechend interpretiert Schleiermacher die sich bildende Struktur der Kirche im 2. Jahrhundert als Organisation und Ausprägung von Öffentlichkeit (vgl. Christliche Sitte, 187f ). Den Erfolg der Reformation führt Schleiermacher dann auf die neuen Möglichkeiten von Öffentlichkeit zurück, welche die Druckerpresse geschaffen hatte.
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unangetastet bleiben«,101 alles andere beurteilt er als unsittlich.102 Drittens hat die Gemeinschaft die Pflicht, sich mit der Kritik, mit den Redebeiträgen der Einzelnen auseinanderzusetzen, also die Redebeiträge ernst zu nehmen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und in einen sachorientierten Dialog zu treten. Idealtypisch stellt sich Schleiermacher diesen Prozess kritischer Rede des Einzelnen in drei Phasen gegliedert vor.103 Dieser Prozess soll zunächst in seiner idealtypischen Form vorgestellt werden, und im Anschluss daran Schleiermachers Analyse, warum dieser Prozess in der geschichtlichen Wirklichkeit oft scheitert. Schleiermacher bezieht sich auf ein reinigendes Handeln innerhalb der kirchlichen Sphäre; das impliziert, dass es sich um eine pneumatologisch bestimmte, lebendige Gemeinschaft handelt, welche grundsätzlich fortschreitet, aber auch »rükkgängige Bewegungen«104 ausführt. Um diese rückgängigen Bewegungen wieder rückgängig zu machen und ein ungebremstes Voranschreiten zu ermöglichen, ist reinigendes Handeln von Einzelnen auf das Ganze erforderlich. Eigentlich aber sind das für Schleiermacher nur zwei Perspektiven auf dasselbe Tun; er setzt voraus, dass »in der Idee Christi die absolute Vollkommenheit der Kirche schon gesezt«105 gewesen sei. Insofern erscheint dann jede Annäherung an den vollkommenen Zustand als ein wiederherstellendes Handeln oder als ein Reinigen von Hindernissen. Das Reinigen bzw. das Fortschreiten in diesem Sinne kann laut Schleiermacher immer nur von Einzelnen ausgehen, »in welchen sich zuerst eine höhere Stufe geistigen Lebens gebildet hat«.106 So sehr der Geist des Ganzen alle verbindet, so unterschiedlich ist er laut Schleiermacher in den Einzelnen verteilt, mit der Folge, dass auch die Unvollkommenheit des Ganzen unterschiedlich verteilt ist, von einem Minimum bis zu einem Maximum derselben. Die Einzelnen, in welchen sich das Minimum an Unvollkommenheit findet bzw. eine schon höhere Stufe an Einsicht, sind verpflichtet, durch reinigendes Handeln auf das Ganze einzuwirken. Diese Verpflichtung fundiert Schleiermacher außerdem noch christologisch: so wie Christi erlösendes Handeln der Grund absoluter Erlösung geworden sei, so bilde das reinigende und damit kirchenstiftende Handeln Christi den Grund auch für das reinigende Handeln der einzelnen Christen.107 101
Christliche Sitte, 189. »Ist aber reformatorisches Handeln nur sittlich und zwekkmäßig, wenn es den Charakter der Oeffentlichkeit hat und ein gemeinsames wird, und ist kein Moment denkbar, in welchem es uns nicht aufgegeben wäre: so folgt auch, dass es unter allen Umständen unsittlich wäre und alle Sittlichkeit hindernd, wenn wir wie die römischen die Freiheit der religiösen Mittheilung irgendwie beschränken wollten« (Christliche Sitte, 216). 103 Vgl. dazu auch Keil: Die Christliche Sittenlehre Friedrich Schleiermachers, 332, welcher den Dreischritt sehr anschaulich darstellt. 104 Christliche Sitte, 182. 105 Christliche Sitte, 123. 106 Christliche Sitte, 121. 107 Vgl. Christliche Sitte, 121. 102
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Sittlich wird dieses Handeln nur, wenn es von der richtigen Zielausrichtung motiviert ist: auf ein selbst-reinigendes Handeln des Ganzes durch das Ganze selbst, also durch die kirchliche Organisation hinzuwirken. Am Ende des gelingenden Prozesses steht entweder die erfolgte Verbesserung des Ganzen durch das Ganze selbst oder die Einstimmung des Einzelnen in den gegebenen, zunächst für mangelhaft gehaltenen Zustand des Ganzen.108 Schleiermacher unterscheidet nun drei Konstellationen zwischen Einzelnem und Ganzem, die für die Sittlichkeit des Handelns jeweils verschiedene Konsequenzen zeitigen: (a) Der Einzelne findet sich in einer religiösen Gemeinschaft, die noch keine klare Leitungsstruktur ausgebildet hat, in Schleiermachers Begriffen: keine hinreichende Organisation. (b) Der Einzelne lebt in einer religiösen Gemeinschaft, die eine klare Leitungsstruktur hat und in welcher die Leitung sich durch relatives Minimum an Unvollkommenheit auszeichnet. (c) Eine religiöse Gemeinschaft verfügt zwar über eine klare Leitungsstruktur, aber die Leitung wird von Gliedern wahrgenommen, welche über ein Maximum an Unvollkommenheit verfügen. Im Fall (b) ist der Einzelne zu keinem reinigenden Handeln berechtigt, das über »Selbstdarstellung«109 hinausginge, welche die Darstellung des Eindrucks von der Mangelhaftigkeit des Zustands oder der Leitung beinhaltet. Das ›eigentlich‹ reinigende Handeln hat dann natürlich von der Leitung (der Repräsentation) auszugehen. Wenn der Fall (c) eintritt, muss der Einzelne versuchen, auf die Leitung bzw. die personale Besetzung der Leitung kommunikativ einzuwirken.110 Nur im Fall (a) ist der Einzelne zu einem reinigenden 108 Vgl. Christliche Sitte, 197. Schleiermacher spricht sogar davon, den Einzelnen wieder zu »assimilieren«. Auch wenn natürlich Assoziationen an das Vorgehen der Borg gegenüber allen biologischen Spezies (wie in Star Trek, Next Generation) fernzuhalten sind, so deutet Schleiermachers Wortwahl darauf hin, dass kritische Auseinandersetzung über den Zustand des Ganzen zwischen Einzelnen und Gemeinschaft immer nur zu überwindende Zwischenphasen des Gemeinschaftsleben sein sollten und dass sie eine latente Gefährdung des Gemeinschaftslebens bedeuten. 109 Christliche Sitte, 131. 110 In diesem Punkt unterscheiden sich die Vorlesungen zur Christlichen Sitte. Die Vorlesung von 1824/5 scheint ein weitergehendes Handeln für geboten zu halten, um dann auch das Handeln der Reformatoren im 16. Jahrhundert sittlich zu rechtfertigen: »Ist aber die Repräsentation unfähig zu reformirendem Handeln: so tritt, wie oben, die Aufgabe als eine zwiefache hervor, indem sie mit der Wegschaffung des dem Wesen des christlichen widersprechenden Kirchenactes auch die Reformation der Organisation selbst im Auge haben muß« (Christliche Sitte, 206). In diesem Abschnitt spricht Schleiermacher auch vom Spielraum und der Bedeutung der unableitbaren Gewissensentscheidung für den Einzelnen: »Ueberhaupt sind wir darüber einig, daß unsere Sittenlehre nicht ein Complexus allgemeiner mechanisch anzuwendender Formeln sein kann; denn der Geist unserer evangelischen Kirche fordert wesentlich, daß jeder einzelne die Anwendung ihrer Regeln selbst mache nach seiner innersten Ueberzeugung und nach seinem Gewissen« (Christliche Sitte, 208). Die Sittlichkeit der Reformation und der Reformatoren nachzuweisen, unternimmt Schleiermacher an mehreren Stellen. Er macht dann jeweils noch neue, andere Gesichtspunkte geltend, um seine eigene Theorie sittlichen Handelns mit der These von der Sittlichkeit der Reformatoren in Einklang zu bringen. So unterscheidet er
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Handeln als solchem verpflichtet und berechtigt. Als zusätzliche Bedingung für die Sittlichkeit macht Schleiermacher noch geltend, dass der Einzelne »wirklich nur in der Idee und im Namen derjenigen Repräsentation handelt, die zwar noch nicht da ist, aber die er bewirkt«.111 Mit diesen Unterscheidungen kann Schleiermacher also ausschließen, dass die sittliche Pflicht zu reinigendem Handeln als Legitimation für revolutionäres Handeln in Dienst genommen wird – und solches will er explizit ausschließen.112 Für das sittlich gebotene reinigende Handeln konzipiert Schleiermacher ein Drei-Phasen-Modell: Festigung der kritischen Auffassung vom Ganzen beim Einzelnen, Einwirkung auf die Überzeugung Einzelner, Wirken auf das Ganze mit anderen Einzelnen (bis das Ganze auf sich selbst wirkt). Zu allen drei Phasen, welche sich in ihrem Verlauf nicht strikt gegeneinander abgrenzen lassen, gehört jeweils auch ein bestimmtes Ausmaß an Öffentlichkeit. Schon die Festigung der eigenen Einschätzung lässt sich nach Schleiermacher nicht ohne Gespräch mit anderen Menschen, mit Freunden und nahe stehenden Personen erreichen.113 Damit vollzieht sich sogleich übergangslos die Einwirkung auf die Überzeugung anderer Einzelner. So nimmt der Öffentlichkeitscharakter stetig zu, bis er schließlich das Ganze als solches erreicht hat. Der Einzelne ist nach Schleibei Kirchenspaltungen zwischen solchen, die aus Verbesserungsversuchen resultieren (was unsittlich ist) und solchen, die aus Individualisierungsbestrebungen hervorgehen (was sittlich ist), vgl. Christliche Sitte, 137–139. 111 Christliche Sitte, 132. 112 Vgl. Christliche Sitte, 132. 113 Birkner erläutert, warum Schleiermacher keinen radikalen Konflikt zwischen Einzelnem und Gemeinschaft denken kann. Sein Hauptargument lautet, dass es keine absolute Überzeugung und keine absolute Gewissheit geben könne (Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 96). Der Einzelne kann nicht für sich, sondern nur im Gespräch und in zumindest partiellem Konsens mit anderen Überzeugungen und dann auch feste Überzeugungen ausbilden. Also können laut Schleiermacher grundsätzlich keine festen Überzeugungen sich ausbilden, die im völligen Gegensatz stehen zu Überzeugungen aller anderen in der betreffenden Gemeinschaft. Überzeugung meint hier die sittliche Einschätzung der gegenwärtigen Situation und der damit verbundenen Auffassung von den zu vollziehenden Maßnahmen – es geht nicht um Konsens oder Dissens zu Tugenden und Werten im Allgemeinen. Man kann Schleiermacher nicht vorwerfen, dass er gesellschaftliche Entwicklungen und sittliche Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht vorhergesehen oder deren Möglichkeit erkannt hätte. Aber diese seine optimistische Sicht des sittlichen Prozesses zwischen Einzelnem und Gemeinschaft lässt sich nach dem 20. Jahrhundert eben auch nicht mehr teilen. In der Debatte um den deutschen Widerstand und die Beurteilung Stauffenbergs definierte Karl Heinz Bohrer Zivilcourage (welche er Stauffenberg anerkennend zuspricht) als »Fähigkeit und Bereitschaft zur absoluten Isolation« (Bohrer: Entlarvung). Das Prädikat »absolut« ist vielleicht zu hoch gegriffen, weil es ja auch um Stauffenberg einen ganz kleinen Kreis Gleichgesinnter gab, mit denen jedenfalls ein teilweiser Austausch möglich war; man sollte also von einer radikalen Bereitschaft zu weitgehender Isolation sprechen. Aber die grundsätzliche Bestimmung, dass in spezifischen Situationen die Sittlichkeit einer Person sich gerade in der Einsamkeit und im Mut zu autonomer Meinungsbildung verwirklicht, scheint mir völlig zutreffend zu sein.
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ermacher verpflichtet, in diesen Prozess einzutreten, sobald ihm »eine Ansicht aufgegangen ist, nach welcher sich ihm der Zustand des ganzen als Rükkschritt darstellt«.114 Die öffentliche Auseinandersetzung zwischen der Auffassung des Einzelnen und dem Selbstbild des Ganzen fungiert dann als »ein Versuch, um auszumitteln, auf welcher Seite die überschüssige Kraft des wahren und rechten sei, und es soll kein anderer Wille sein, als daß diese hernach den Sieg davon trage«.115 Diesen Prozess deutet Schleiermacher dann als Handeln des Ganzen auf das Ganze. Die Begründung lautet: »weil ja der einzelne keine überwiegende Kraft des Geistes anders haben kann, als durch den Einfluß des ganzen auf ihn, also nur sofern er ein integrirender Bestandtheil des ganzen ist, nicht sofern er demselben gegenübersteht«.116 Gerade also als Teil des Ganzen erhält der Einzelne eine hohe Bedeutung für und gegenüber dem Ganzen, weil er auf seine individuelle Weise das Ganze verkörpert und das Ganze in ihm präsent ist. Aus einem starken Gemeinschaftskonzept entwickelt Schleiermacher hier also das Konzept eines starken Einzelnen – innerhalb der Gemeinschaft und bezogen auf die Gemeinschaft. Der starke Begriff von Gemeinschaft und ein so gefasster starker Begriff des Einzelnen bedingen einander. Beide denkt Schleiermacher so eng aufeinander bezogen, dass für ihn »die Differenz zwischen dem Handeln des ganzen auf den einzelnen und dem des einzelnen auf das ganze nur ein relativer Gegensaz«117 ist. Dieses Konzept setzt eine ideale Diskursgemeinschaft voraus, eine freie und sachorientierte Auseinandersetzung, eine ideale Öffentlichkeit.118 Schleiermacher selbst weiß um das häufige Scheitern eines solchen Prozesses. Folgende Gründe nennt er als Ursachen eines solchen Scheiterns, wenn also der Prozess nicht mit einer Zusammenstimmung von Einzelnem und Ganzem endet, sondern eine Differenz verbleibt. (1) Die Gemeinschaft ist noch nicht entwickelt genug in der Fähigkeit, die Wahrheit oder eine neue Einsicht aufzunehmen. In diesem Falle aber waren die Versuche des Einzelnen trotzdem nicht vergeblich, weil in der späteren Geschichte andere an diese Versuche wieder anknüpfen werden – dann mit größerem Erfolg. (2) Der Einzelne täuscht sich über den Zustand des Gesamtlebens: nicht die Gemeinschaft, sondern er selbst ist in Wirklichkeit in einer rückwärts gewandten Bewegung begriffen. Diese Täuschung ordnet Schleiermacher tugendethisch ein: die Täuschung entspringt geistlichem Hochmut, den Schleiermacher definiert als »Wahn, in welchem man sich in Beziehung auf das ganze 114
Christliche Sitte, 185. Christliche Sitte, 195. 116 Christliche Sitte, 195. 117 Christliche Sitte, 207. 118 Wolfes gewinnt der Idealität dieses Idealbildes eine konstruktiven Sinn ab: »Erst in ihrem bewusst kontrafaktischen Charakter aber kann die politische Theorie als Programm zur Ausbildung staatsbürgerlicher Handlungskompetenz auftreten« (Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 323). 115
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eine höhere Bedeutung beilegt, als man hat«.119 Dieser geistliche Hochmut konkretisiert sich nur dann als reinigendes Handeln, wenn er sich mit Unkenntnis oder falscher Interpretation der Geschichte verbindet.120 Dass aber eine solche geschichtsbezogene Unkenntnis, welche sich zugleich über sich selbst täuscht, bei bestimmten Einzelnen bestehen kann, ist Schuld und Mangel des Ganzen, weil die Wechselwirkung zwischen Einzelnem und Ganzem eine solche sich selbst täuschende Unkenntnis korrigiert haben müsste. In der Christlichen Sitte spitzt Schleiermacher diese Ursachenanalyse auf eine Gegenwartsdiagnose zu. Die eigentliche Schuld liegt gegenwärtig an »der fehlerhaften Organisation des ganzen und besonders des geistlichen Standes«.121 Mit dem Vorwurf der Organisationsmängel meint Schleiermacher vor allem Mängel der organisierten freien und öffentlichen Kommunikation. Dafür findet Schleiermacher noch drastischere, mahnende Worte: »Wo diese Freiheit durch die Geseze gehemmt wird: da sind Collisionen und Bedrängnisse unvermeidlich, Collisionen nämlich da angenommen, wo man zweierlei sieht, das man thun sollte, und doch nur eins thun kann, Bedrängnisse da, wo es unvermeidlich ist, etwas anderes zu thun, als ein oder das andere Unrecht; da ist also der Boden für das sittliche reformatorische Handeln getrübt und dem Scheine des revolutionären gar nicht zu entgehen, wenn man nicht gegen sein Gewissen handeln will. Es ist demnach die erste allgemeine Bedingung für die vollständige Entwikkelung der christlichen Sittlichkeit, daß sich niemand dazu hergebe zu Maaßregeln mitzuwirken, die jene Grundlage der sittlichen Verhältnisse trüben könnten«.122 So folgt für Schleiermacher – heißt es an der gleichen Stelle, »daß es unter allen Umständen unsittlich wäre und alle Sittlichkeit hindernd, wenn wir wie die römischen die Freiheit der religiösen Mittheilung irgendwie beschränken wollten«.123 Die entscheidende Frage, wie in der unsittlichen Situation von beeinträchtigter öffentlicher Kommunikation der Einzelne trotzdem sittlich handeln kann, beantwortet Schleiermacher nicht, stellt sie auch nicht.124 Was bedeutet das Vorgetragene aber für Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Einzelnem und Gemeinschaft, von Individuum und Allgemeinheit? Einen systeminternen Widerspruch zwischen Schleiermachers sittlicher Aufgabe der Individualisierung und der strikten Allgemeinheitsorientierung konsta119
Christliche Sitte, 201. Diese führt Schleiermacher wiederum auf eine mangelnde Ausbildung des Erkenntnisvermögens oder eine falsche Ausrichtung des Begehrungsvermögens zurück, genauer: auf eine leidenschaftliche Parteilichkeit. 121 Christliche Sitte, 205. Insbesondere klagt Schleiermacher, dass die kirchlichen Repräsentanten so wenig persönliche Ehrfurcht einflößen würden. 122 Christliche Sitte, 216f. 123 Christliche Sitte, 216. 124 Immer wieder arbeitet sich Schleiermacher mit seiner Konzeption ab an der Deutung der Reformation des 16. Jahrhunderts, welche eine Hochbewertung individuellen reinigenden Handelns nahe zu legen scheint. 120
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tiert Jørgensen. Er erklärt diesen damit, »daß wir in dem zuerst Referierten [i. e. die Individualisierungsaufgabe, MR] Schleiermachers Intention sehen, seinen Versuch, dem Empirischen gerecht zu werden, und im letzteren, das für Schleiermacher doch das Stärkste ist, das System sehen und dessen Sieg«.125 In diesem System – so Jørgensen – fehle im eigentlichen Sinne der sittliche Begriff der Persönlichkeit. Daher sei kritisch zu urteilen: »Dem einzelnen Individuum ist bei Schleiermacher nur eine Statistenrolle in dem großen Weltdrama zugeteilt; es ist nur ein kleines Rad in der Maschine, die zum Ziel des Weltprozesses führen soll und die nicht von sich selbst getrieben wird«.126 So sehr damit eine Grundtendenz Schleiermachers getroffen ist, so sehr übersieht dieses Urteil wichtige Differenzierungen Schleiermachers, die den von Jørgensen konstatierten Widerspruch aufheben. Die Verantwortung ordnet Schleiermacher tatsächlich immer dem Ganzen zu: im Falle gelingender Prozesse handelt letztlich das Ganze auf das Ganze. Im Falle misslingender Prozesse liegt ein strukturelles Versagen des Ganzen vor. Dass Schleiermacher mit Ganzem teils die Gesamtheit, teils die leitende Repräsentanten des Ganzen meint, spielt hier zunächst keine Rolle. Die Theorie sittlicher Prozesse (in der Kirche) ist somit keine Theorie der Person, aber auch keine Theorie des Gemeinschaftsganzen, sondern eine Theorie sozialer Interaktion und ihrer Rahmenbedingungen. Die Relation von Einzelnem und Ganzem vollzieht sich und konkretisiert sich als freie Wechselwirkung und öffentliche Kommunikation. Kommunikation ist das Medium, das zwischen Individualität und Allgemeinheit vermittelt, und zwar so, dass sich Individualität und Gemeinschaft erst im Vollzug der Kommunikation bilden. Das wirklich freie Funktionieren von öffentlicher Kommunikation bildet die notwendige und hinreichende Voraussetzung von einem wirklich fortschreitenden Ganzen und von der Zusammenstimmung der Einzelnen mit dem Ganzen. Die Theorie der Sittlichkeit ist damit eine Theorie von freier öffentlicher Kommunikation. Birkners These, dass Schleiermacher keine Ethik der Person vertrete, sondern eine Sozialethik, kann also dahingehend präzisiert werden, dass Schleiermacher eine Ethik sozialer Kommunikation vertrete. Dies gilt zunächst für das christliche Handeln in der kirchlichen Gemeinschaft. Inwiefern lässt sich dies auf Schleiermachers Konzept vom christlichen Handeln innerhalb des Staates übertragen? »Wir haben also mit den Principien für die religiöse Gemeinschaft zugleich auch die für die bürgerliche gefunden«.127 Die Forderung nach freier und öffentlicher Kommunikation, die Prinzipien des reformerischen Wirkens des Einzelnen gelten also auch für den 125 Jørgensen: Die Ethik Schleiermachers, 106. Er führt auf selber Seite weiter aus: »Ein heiteres Beispiel für die Haltbarkeit unserer These, daß nur auf dem Allgemeinen das Gewicht liegt, ist, daß Schleiermacher den Sport verwirft, weil er eine Ungleichheit zwischen den Individuen mit sich bringt« (mit Verweis auf Christliche Sitte, 693). 126 Jørgensen: Die Ethik Schleiermachers, 108. 127 Christliche Sitte, 133.
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staatlichen Bereich.128 Was diese gleichen Prinzipien in der Anwendung auf den Staat bedeuten, führt Schleiermacher noch eigens aus. Bei der Kirche als religiöser Gemeinschaft hatte Schleiermacher zwischen den Fällen unterschieden, dass eine Leitungsstruktur ausgeprägt sei und dass eine solche noch nicht ausgeprägt sei; nur im letzten Fall konnte es für Schleiermacher ein reinigendes Handeln des Einzelnen im eigentlichen Sinne geben. Da im Unterschied zur Kirche aber der Staat definiert ist durch eine herrschaftssoziologische Differenz, es also gar nicht mehr nötig ist, auf eine Organisation und Leitungsstruktur staatlicher Ordnung hinzuarbeiten, ist kein reinigendes Handeln des Einzelnen auf den Staat sittlich denkbar, welches über die Selbstdarstellung des Einzelnen hinausginge. Die staatliche Ordnung kann – was den Einzelnen betrifft – nur durch dessen kommunikative Selbstdarstellung verbessert werden.129 Ein Staat, welcher solche Selbstdarstellung des Einzelnen verhindern oder als gefährlich einstufen wollte, würde damit seine eigene Fortentwicklung und damit sich selbst als Staat negieren. Laut der dargestellten Argumentation basiert Schleiermachers Theorie des Sittlichen auf einer Theorie von freier Kommunikation. Nur freie und öffentliche Kommunikation ermöglicht dem Einzelnen wahrhaft sittliches Handeln und dem Ganzen eine wahrhaft sittliche Entwicklung. Damit wendet sich Schleiermacher gegen Zensur und Kommunikationsbeschränkung, gegen Geheimgesellschaften und bloß formelle Kommunikation. Ebenso klar artikuliert Schleiermacher seine Bedenken gegen revolutionäres Handeln, das er für grundsätzlich unchristlich hält. Trotz all dieser klaren Aussagen und Argumentationslinien besteht seine primäre Leistung bei der Theoriebildung nicht in entschieden-bestimmter Eindeutigkeit, sondern darin, hochdifferenzierte, vielschichtige Betrachtungen von Problemen aus denkbar vielen Perspektiven zu ermöglichen, um gerade vorschnelle und allzu offensichtliche sittliche Urteile zu vermeiden. Das geschieht durch die komplexe Verschränkung von einigen wenigen, aber sehr klaren ethischen Leitprinzipien. In diesem Sinne ist seine Theorie nicht Anleitung zu sitt128 Die Übertragbarkeit der Prinzipien sieht Keil in der »Verknüpfung von Kirche und Staat, die eng mit der Verwandtschaft von Vernunft und Geist bei Schleiermacher zusammenhängt« begründet (Keil: Die Christliche Sittenlehre Friedrich Schleiermachers, 339). Die Übertragbarkeit besteht darin, dass Schleiermacher die Prinzipien nicht aus der Funktionslogik der religiösen Sphäre, sondern allein aus dem abstrakten Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft sowie damit verbunden der Theorie des reinigenden Handelns entwickelt hat. Im abstrakten Sinne herrscht in Kirche und Staat das gleiche Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft, was die Übertragbarkeit bedingt. Schleiermacher schreibt: »Aber von der anderen Seite ist auch klar, daß der einzelne ganz dasselbe Recht haben muß in Beziehung auf den Staat, was wir ihm zugestanden haben in Beziehung auf die Kirche. Wer also überzeugt ist, unbeschadet jener Cautelen reinigend handeln zu können auf den Staat, der hat nicht nur das Recht dazu, sondern auch die Pflicht« (Christliche Sitte, 272). 129 Vgl. Christliche Sitte, 132. Zu überlegen wäre, welche Rolle da auch die Kunst spielen könnte.
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lichem Handeln, sondern Anleitung zu möglichst abgewogener und durchdachter sittlicher Urteilsbildung. Darüber hinaus relativiert seine Theorie in ihrer Geltung sich ausdrücklich selbst (wie auch jede andere sittliche Theorie) durch folgende drei Elemente: (1) die stets nur relative Gewissheit aller Überzeugungen,130 (2) die gewissensbezogene Individualisierung und subjektive Aneignungsaufgabe aller allgemeinen sittlichen Regeln131 und (3) die Zeit- und Kulturgebundenheit aller sittlichen Theoriebildung.132 Unter Beachtung dieses selbstrelativierenden Zuges von Schleiermachers Theoriebildung sollen nun aber doch profilierte Schlussfolgerungen benannt werden, die sich aus Schleiermachers Argumentation ergeben. Was also besagen die oben vorgetragenen Analysen für die Einschätzung von Schleiermachers Theorie des Sittlichen als Kommunikationstheorie?133 1. Die jeweiligen Kultursphären sind in ethischer Hinsicht dem Einzelnen vorgeordnet. Mit dieser Vorordnung meint Schleiermacher die Vorordnung jeweils bestimmter Kommunikations- und Interaktionsprozesse, welche die Gemeinschaft und die Individuen in ihrer Differenz wie in ihrer Bezogenheit aufeinander erst hervorbringen. Die Sittlichkeit der Gemeinschaft wie die sittlichen Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen hängen von freier, öffentlicher Kommunikation als ihrer Grundlage ab.134 Das hat mehrfache Implikationen: 2. Die Konstitution von Individuum und Gemeinschaft in ihrer Interdependenz findet durch Kommunikationsprozesse statt. Da sich das Individuum in seiner Individualität erst im und durch das Gemeinschaftsleben bildet, kann gar keine Individualität entstehen, die durch eine radikale Differenz zu dem spezifischen Gemeinschaftsleben bestimmt wäre. Ebenso kann das Individuum keine politische 130 Die »absolute Gewissheit kann nicht etwas in der Erscheinung heraustretendes sein; ja wer behauptet, er sei in irgend einer Beziehung absolut überzeugt, der wird entweder irgendwie beschränkt sein, oder den Gegenstand noch gar nicht von allen Seiten angeschaut haben« (Christliche Sitte, 190). 131 »Ueberhaupt sind wir darüber einig, dass unsere Sittenlehre nicht ein Complexus allgemeiner mechanisch anzuwendender Formeln sein kann; denn der Geist unserer evangelischen Kirche fordert wesentlich, daß jeder einzelne die Anwendung ihrer Regeln selbst mache nach seiner innersten Ueberzeugung und nach seinem Gewissen« (Christliche Sitte, 208). 132 »Allein auch die Sitte in der Kirche ist wandelbar in der Zeit, und auch zu derselben Zeit nicht überall dieselbe. Wir bescheiden uns also gleich, nicht nur keine allgemeine Sittenlehre zu Stande zu bringen, sondern auch eine protestantische nur in dem Bewusstsein, daß der Umfang der Geltung unserer Sätze viel fließender sein wird, als bei der Glaubenslehre, der auf etwas viel schärfer begränztes zurükkzugehen vergönnt ist, als uns« (Christliche Sitte, 95). 133 James Brandt versteht die christliche Sitte Schleiermachers dagegen vor allem als »empirical theology of culture« (Brandt: Interpretation of Culture, 313). Dabei betont er die Rolle der Eschatologie »as ground and goal for the theology of culture in the ›Christian Ethics‹« (aaO. 321). 134 »Gewiß, und wir werden auch nicht leugnen können, daß der Staat kein anderes Ziel haben kann, als daß seine Bürger mündig werden, also solche, die durch freies Verkehr unter einander das gemeinsame Bedürfniß richtig erkennen und durch den göttlichen Geist, in welchem Vaterlandsliebe und allgemein menschliches Interesse zusammenfallen, alle Antriebe haben, die der Staat voraussezen muß, wenn er ihnen vertrauen soll« (Christliche Sitte, 492).
III. Der Einzelne und das Ganze
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oder sonstige Auffassung herausbilden, welche zum Meinungsbildungsprozess der Gemeinschaft in einem umfassenden kontradiktorischen Gegensatz stünde, weil auch die jeweiligen Auffassungen des Individuums sich erst im Gespräch und in der Wechselwirkung klären. Dass Kommunikation faktisch auch zu Konflikteskalation führen kann und zu sich verhärtenden Fronten, bezieht Schleiermacher in der christlichen Sitte in seine Überlegungen nicht mit ein. Ebensowenig scheint er mit unaufhebbaren Interpretationsdifferenzen in der Einschätzung und Bewertung von geschichtlichen Prozessen zu rechnen. Auch dass aus der Zugehörigkeit des Einzelnen zu verschiedenen Ganzheiten und daher zu verschiedenen Kommunikationsgemeinschaften unaufhebbare Konflikte erwachsen können, reflektiert Schleiermacher nur am Rande. 3. Aus der Beteiligungspflicht folgen für das Individuum keine individuellen Freiheitsrechte (z. B. kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen). Das Individuum ist sittlich verpflichtet, sich als Individuum in den öffentlichen Kommunikationsprozess einzubringen und dadurch den Fortschritt des Ganzen zu fördern. Das Recht auf individuelle Freiheit berechtigt (sittlich!) gerade nicht zum Rückzug von der Gemeinschaft und ihren Kommunikationsprozessen. Dieses Individualitätskonzept trägt bildungselitäre Züge, insofern erfordert ist, dass jedes Individuum einerseits eine entsprechende öffentlich-kommunikative »Selbstdarstellung« leisten kann und andererseits die »Selbstdarstellungen« der anderen Individuen auch interpretieren und hinsichtlich der Darstellungsintention angemessen verstehen kann. Das stellt hohe Ansprüche an den Einzelnen, denen nicht unbedingt alle erwachsenen Mitglieder einer Gesellschaft genügen können.135 Die sittliche Möglichkeit und Pflicht136 kommunikativer Beteiligung der Individuen an staatlichen Reformprozessen wird in der Theorie begründungslogisch verbunden mit dem sittlichen Ausschluss von revolutionärem Handeln und von gewissensbegründeten Verweigerungs- und Widerstandsrechten der Einzelnen. Aus der Pflicht zur Individualität folgt bei Schleiermacher gerade kein Recht, individuelle Gewissensgründe im Staat geltend zu machen. Individualität wird als unverzichtbar also für den politischen Prozess angesehen, aber aus der Sphäre des Rechtes grundsätzlich ausgeschlossen. 135 Positiv ist daran mit Wolfes hervorzuheben, dass Schleiermacher diese hohen politischkommunikativen Fähigkeiten in keiner Weise an soziale oder wirtschaftliche Voraussetzungen bindet, wie es weite Teile des Liberalismus im Vormärz vorsahen. »Eine Sicherung des Emanzipationsprozesses durch die Beschränkung politischer Teilhaberechte auf die gebildeten und besitzenden Teile der Öffentlichkeit, also die bürgerlichen Schichten, konnte für ihn weder als aktuelle politische Aufgabenstellung in Frage kommen noch auch im Kontext seines Programmes einer liberalen Staatsbürgergesellschaft überhaupt als legitime Position erscheinen« (Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 322). 136 Schleiermacher versteht die freie Kommunikation nicht nur als sittliche, sondern auch als politische Pflicht: »Denn so wenig eine gute Regierung je aufhören kann, das freie Verkehr aller unter einander zur Ergründung des gemeinsamen Bedürfnisses allen zu gestatten, ja allen zur Pflicht zu machen« (Christliche Sitte, 492).
278
E. Die Christliche Sitte
4. Kommunikation erfüllt die Doppelfunktion von argumentativer, sachorientierter Auseinandersetzung und von subjektorientierter, individualitätsdarstellender Expression. Sowohl sachorientierte, argumentative Auseinandersetzung als auch Darstellung von Individualität soll Kommunikation leisten. 5. Freie Kommunikation führt zu Konsens und zur Ermittlung des »Rechten und Wahren«. Findet der Kommunikationsprozess nur hinreichend frei und öffentlich statt, dann ergibt sich in ihm laut Schleiermacher das Wahre und Rechte dergestalt, dass am Ende auch alle Kommunikationsteilnehmenden darin einstimmen. Nur bei einem erreichten Konsens kann Schleiermacher die je bestimmten Kommunikationsprozesse als erfolgreich ansehen. Ausbleibenden Konsens führt Schleiermacher auf sittliche Fehler bei den Beteiligten (z. B. Hochmut) zurück, wobei er diese Fehler wiederum als Produkt anderer gescheiterter Kommunikationsprozesse sieht. Die Grundursache dafür, daß Kommunikationsprozesse derart scheitern, sieht er in der mangelnden Freiheit und fehlenden Öffentlichkeit dieser Prozesse. Dagegen führt ein hinreichend freies und öffentliches Verfahren als solches zu einem richtigen Ergebnis im Konsens der Beteiligten. Die Funktion von Kommunikation für den Umgang mit Interessenkonflikten reflektiert er nicht eigens. Das Politikkonzept in der Christlichen Sitte sieht daher weder Kompromisse noch eine Interessenvermittlung vor. 6. Revolutionsfeindliche Reformfreundlichkeit wendet sich gegen revolutionsbefördernde Reformverweigerung. Schleiermacher entwickelt vor dem Hintergrund dieses Kommunikationsmodells von Veränderung einen politisch Begriff staatlicher Gemeinschaft, der Revolution ebenso strukturell und kategorisch ausschließt, wie er Reformen/Reformierbarkeit des Staates strukturell und konstitutiv erforderlich macht. An verschiedenen Stellen grenzt er sich engagiert gegen den Verdacht ab, dass ein Eintreten für Reformen und für reinigendes Handeln von Einzelnen zum Legitimieren von Revolution und gewaltsamer Staatsveränderung führen könnte. Umgekehrt schärft er ebenso deutlich ein, dass eine Verweigerung des Staates gegenüber Reformen zur Selbstnegation des Staates führen würde und Revolutionen befördern könnte. 7. Die Geschichte aller Gemeinschaftsformen stellt zwar eine Fortschrittsgeschichte dar, aber weder in stetiger noch in einliniger Weise. Schleiermacher rechnet mit einem grundsätzlichen Fortschreiten der sittlichen Gemeinschaftsformen; aber bei diesem Fortschreiten gibt es auch immer wieder ein Rückschreiten sowie unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Er stellt ein Oszillieren fest zwischen Fortschritten und Rückschritten, zwischen Vollkommenerem und weniger Vollkommenem. Das gilt für die Gemeinschaft als Ganze, aber auch für die Verteilung innerhalb der Gemeinschaft. Das Vollkommenere und das weniger Vollkommene prägen sich unterschiedlich in den einzelnen Gliedern des Ganzen aus. Die Impulse für Fortschritt und höhere Entwicklung geben immer nur Einzelne.
IV. Politisches Handeln und philosophischer Staatsbegriff
279
Damit wäre die Untersuchung zum Verhältnis von Einzelnem und Ganzem in der Christlichen Sitte abgeschlossen. Auf dem Hintergrund politischer Erfahrungen im Zeitalter nach der Französischen Revolution zielt Schleiermacher also auf Kommunikationsprozesse, mit denen und in denen sich Differenzen bearbeiten lassen und harte Konflikte nicht auftreten können.137 Politisches Handeln von christlichen Bürgern ist somit immer kommunikatives Handeln. Wie sich dieser christliche Begriff politischen Handelns mit dem philosophischen, von Schleiermacher in der Christlichen Sitte vorausgesetzten Staatsbegriff verhält, soll abschließend ein letztes Kapitel zeigen.
IV. Christlicher Begriff politischen Handelns und philosophischer Staatsbegriff Spezifisch für Schleiermachers explizit christliche Sicht auf den Themenbereich Staat ist die Rolle öffentlicher Kommunikation. Wie oben ausgeführt, gilt laut Schleiermacher: Für die Fortentwicklung des Staates ist die freie Selbstdarstellung und gegenseitige öffentliche Mitteilung der Staatsbürger unbedingt erforderlich. Die Sittlichkeit des Staates hängt an der Freiheit der öffentlichen Kommunikation. Entfaltet Schleiermachers christliche Sitte also einen eigenen christlichen Staatsbegriff? Für Schleiermacher kann es keinen christlichen Staatsbegriff geben, sondern nur einen christlichen Begriff politischen Handelns. Diese These sei nachfolgend begründet. Das Verhältnis von Christentum und Staat bestimmt Schleiermacher so, dass das Christentum immer schon auf bestehende Staaten trifft und die staatlichen Funktionen nicht erst bildet, sondern nur modifiziert und sich zu ihnen in ein Verhältnis setzt.138 Wie der Staat dem Christentum vorgegeben sei, so auch laut Schleiermacher der Begriff des Staates. Diesen vorausgesetzten allgemeinen Staatsbegriff umschreibt Schleiermacher folgendermaßen: Der »Staat ist seinem Wesen nach ein Rechtszustand, eine Vereinigung von Menschen unter Gesezen, wozu immer auch das gehört, daß es für den Staat eine bestimmte Art und Weise giebt, wie Geseze in ihm zu Stande kommen und verändert werden; und dieses alles umfaßt sein inneres Verhältniß, das also in dem Gegensaze von Ob137
Miller empfiehlt: »Der heutige Schleiermacher-Interpret darf sich durch die ruhige und harmonische Atmosphäre des Schleiermacherschen Denkens sich nicht irreführen lassen. Dieses System prägte sich in einer spannungsgeladenen Lage aus« (Miller: Der Übergang, 187). Wie sich beide Befunde in der Theorie-Analyse verbinden lassen, sollten die bisherigen Ausführungen aufzeigen. 138 Noch allgemeiner lässt sich feststellen, dass »das Christenthum sich alle sittlichen Gestaltungen anzueignen vermag, daß zugleich aber alles Handeln in der äußeren Sphäre durch den christlichen Geist auf bestimmte Weise modifiziert wird« (Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 89).
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E. Die Christliche Sitte
rigkeit und Unterthan abgeschlossen ist«.139 Dieser von Schleiermacher vorausgesetzte Staatsbegriff bildet dann auch bei den einzelnen Argumentationsgängen die Grundlage, wie zum Strafrecht, zum Kriegsrecht, zum Gewissensbegriff in staatsrechtlicher Hinsicht. Spezifisch für die Christliche Sitte ist die Fragestellung: wie soll der Christ im gegebenen Staat handeln bzw. sich zum gegebenen Staatshandeln stellen? Als Antwort entwickelt Schleiermacher eine christliche Theorie politischen Handelns – aber keine christliche Lehre vom Staat. Dennoch rekurriert auch Schleiermacher auf biblisch-christliche Staatsauffassungen. Was das für den Staatsbegriff der Christlichen Sitte bedeutet, wird nachfolgend erörtert. Spezifisch christlich, genauer religiös, ist der Gedanke der göttlichen Einsetzung des Staates, mit dem sich Schleiermacher auf Röm 13 beruft. Entwickelt Schleiermacher daraus einen eigenen christlichen Staatsbegriff? Welche argumentative Funktion weist Schleiermacher diesem zentralen biblischen Text in seiner Christlichen Sittenlehre zu? In den Kontexten, in denen Schleiermacher sich zentral auf Röm 13 stützt, nimmt der Staatsbegriff obrigkeitsorientierte und statische Züge an, d. h. der Staat wird mit der Regierung identifiziert und der Staat wird als bestimmter geordneter Zustand – anstatt als Entwicklungsprozess – vorgestellt. In diesen Textpassagen verbindet Schleiermacher einen traditionelltheologischen, obrigkeitsdefinierten Staatsbegriff mit dem philosophischen Begriff eines dynamischen, sich ständig vervollkommnenden Staates, dessen Sittlichkeit an der öffentlichen und freien Kommunikation der Bürger hängt. Dadurch entstehen argumentative Spannungen, die sich nicht vollständig auflösen lassen. Man gewinnt den Eindruck, dass an diesen Stellen die intensive christliche Rezeptionsgeschichte zu Röm 13 Vorstellungen in Schleiermachers Argumentation einträgt, die Schleiermacher nicht mehr eigens argumentativ einholt und kontrolliert.140 Wenn man jedoch die präzisen argumentativen Zusammenhänge, in denen Schleiermacher auf Röm 13 verweist, analysiert, zeigt sich, dass dieser Verweis auf den Römerbrief argumentativ gerade dazu dient, den philosophischen Staatsbegriff für Christen als akzeptabel und gültig auszuweisen – und nicht dazu, einen eigenen, spezifisch christlichen Staatsbegriff zu entfalten, so sehr ein solcher an diesen Stellen in Semantik und Bildlichkeit aufscheint. Der theologische Bezug auf Röm 13 erfüllt drei argumentative Funktionen in der christlichen Sittenlehre: erstens begründet er das Verbot gewaltsamer Handlungen zur Staatsverbesserung,141 zweitens weist er die volle Teilnahme 139
Christliche Sitte, 243. Wolfes beobachtet das ähnlich: »An dieser Stelle wird auch deutlich, wie stark, trotz des progressiven, auf Konstitutionalisierung und Demokratisierung drängenden Gehaltes seiner politischen Theorie, der Einfluß einer gouvernementalen, am altlutherischen Obrigkeitsverständnis orientierten staatstheoretischen Tradition im deutschen Protestantismus auf Schleiermacher noch ist« (Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 314). 141 Vgl. Christliche Sitte, 272. 140
IV. Politisches Handeln und philosophischer Staatsbegriff
281
von Christen an obrigkeitlichen Vollzügen (wie z. B. der Strafgerichtsbarkeit) als legitim aus142 und drittens dient er als hermeneutischer Schlüssel143 zur Deutung und damit zur argumentativen Depotenzierung anderer biblischer Traditionen (z. B. der Bergpredigt), welche staatskritisches Potential enthalten. Damit begründet Schleiermacher theologisch die Legitimität des vorausgesetzten philosophischen Staatsbegriffs. Er legt die Legitimität der staatlichen Ordnung auch für Christen und aus christlicher Perspektive dar. Die christliche Fassung des Staatsbegriffs dient damit der Legitimierung des philosophischen Staatsbegriffs. Diese theologische Legitimierung des philosophischen Staatsbegriffs hat jedoch auch Konsequenzen für den solcherart verstandenen Staat: die theologische Fassung des philosophischen Staatsbegriffs begrenzt das Wirken des Staates nach innen, erweitert das Wirken des Staates nach außen und orientiert ihn in seinem Wirken auf ein staatstranszendentes Ziel. Diese Bestimmungen modifizieren den philosophischen Staatsbegriff jedoch nicht auf eine ihm äußerliche Weise, denn allen drei Bestimmungen entspricht eine innere, geschichtliche Dynamik staatlicher Ordnung selbst. Somit forciert und katalysiert die theologische Fassung des Staatsbegriffs nur Entwicklungen, die laut Schleiermacher in der geschichtlichen Wirklichkeit des Staates und seiner philosophischen Auffassung selbst angelegt sind. Für diesen Abgleich von christlicher Perspektive und philosophischem Staatsbegriff soll Schleiermachers eigener Entwurf zur philosophischen Staatslehre zum Zuge kommen, da nur auf diese Weise die Schleiermachersche Anlage der Theorie-Differenzen und Theorie-Verbindungen sich zeigt.144 Im Folgenden seien die drei christlichen Bestimmungen am philosophischen Staatsbegriff kurz erläutert. Die christliche Fassung des Staatsbegriffs begrenzt das Handeln des Staates nach innen, insofern die Todesstrafe unvereinbar mit dem christlichen Glauben sei und das Christentum auf deren Abschaffung dringen müsse. Das begründet Schleiermacher aber nicht explizit biblisch, sondern allgemein mit der Strafzwecktheorie sowie mit dem Kriterium der prinzipiellen Selbstanwendbarkeit strafenden Handelns. Der christlichen Ablehnung der Todesstrafe entspricht aber auch die Tendenz geschichtlicher Staaten, die Strafen mit zunehmender sittlicher Durchbildung der Bevölkerung immer milder zu fassen. Außerdem gäbe es auch kein hinreichendes Argument für die Todesstrafe in einer philosophischen Staatslehre.145 142
Vgl. Christliche Sitte, 247. Vgl. Christliche Sitte, 264. 144 Daher braucht an dieser Stelle ausdrücklich nicht gefragt zu werden, inwiefern auch Schleiermachers philosophische Staatslehre christlich geprägt sei. Es genügt hier der Selbstausweis, dass Schleiermacher seine philosophische Staatslehre für eine philosophische hält. 145 »Es scheint also daß man die Todesstrafe nicht gehörig rechtfertigen kann – da sie aus dem Gesichtspunkt, daß keine Wiederholung stattfinde zu hart erscheint – doch wollen wir sie als das Maximum hier stehn lassen – jedoch lediglich aus diesem Gesichtspunkt« (Staatslehre 1829 143
282
E. Die Christliche Sitte
Nach außen erweitert die christliche Perspektive das staatliche Wirken. Sie verpflichtet den Staat auf das Völkerrecht, darauf, völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen und herzustellen. Aus allgemein staatsphilosophischer Sicht stellt sich das nicht so dar, insbesondere, da Schleiermacher in seiner philosophischen Staatstheorie nicht präskriptiv verfährt. In der geschichtlichen Entwicklung aber sieht Schleiermacher eine Annäherung an einen Zustand ewigen Friedens.146 Das berührt den dritten Punkt: die Zielorientierung des Staates. Aus christlicher Perspektive ist auch staatliches Handeln Teil desjenigen Prozesses, den man christlich Ausbreitung des Reiches Gottes nennt. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Staat für kirchliche Zwecke instrumentalisiert werden darf oder der Staat selbst für die Ausbreitung des Christentums zu sorgen hätte. Beides schließt Schleiermacher strikt aus. Aus christlicher Perspektive handelt es sich aber bei der Menschheitsgeschichte um einen sittlichen Gesamtprozess, an dem der Staat auf seine eigene Weise, die verschieden ist von der Weise der Kirche oder der Wissenschaft, Anteil hat. Aus christlich-religiöser Perspektive heißt das Ziel dieses Prozesses Reich Gottes. Aus philosophisch-staatlicher Perspektive umschreibt der Begriff »Ewiger Friede« dieses Ziel.147 Genau diesen Begriff verwendet Schleiermacher – wie oben zitiert – in seiner Staatslehrevorlesung, um eine Einordnung staatlichen Handelns in den Geschichtsprozess vorzunehmen. Auch in dieser Hinsicht entspricht eine christliche Bestimmung des Staatsbegriffs einer inneren Dynamik des philosophischen Staatsbegriffs. Die christliche Sitte setzt also den philosophischen Begriff des Staates voraus, legitimiert ihn theologisch, wodurch sie ihn zugleich weiterbestimmt, jedoch auf eine Weise, die der inneren Dynamik des philosophischen Staatsbegriffs Willich 733,23–26). Zur geschichtlichen Entwicklung der Strafen führt Schleiermacher aus: Betrachtet man »den seitherigen Verlauf so finden wir eine immer weiter gehende Milderung der Strafen, So daß die Frage entsteht ob nicht ein Zeitpunkt kommen kann wo sie ganz aufhören« (Staatslehre 1829, 166,34–37). 146 »Eine starke Annäherung an diesen Zustand des ewigen Friedens, der freilich nie durch einen Vertrag wird begründet werden, findet man besonders darin daß es schon viele Beispiele giebt, daß 2 Staaten ihre Differenzen der Entscheidung eines dritten überlassen haben« (Staatslehre 1829 Willich 742,42–743,2). Auch Birkner weist auf diese Entsprechung hin, dass also die friedliche Gemeinschaft der Völker auch das allgemeine Zielbild der Entwicklung der Staaten sei (vgl. Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 89). 147 In seinem ersten Akademievortrag über das höchste Gut erläutert Schleiermacher die Identität der Zielbestimmung aus den verschiedenen Perspektiven: »Alles dieses ist eins, und keines ohne das andere; aber je nachdem wir den einen Standpunkt nehmen oder den andern, erscheint das höchste Gut bald als das goldene Zeitalter in der ungetrübten und allgenügenden Mittheilung des eigenthümlichen Lebens, bald als der ewige Friede in der wohlvertheilten Herrschaft der Völker über die Erde, oder als die Vollständigkeit und Unveränderlichkeit des Wissens in der Gemeinschaft der Sprachen, und als das Himmelreich in der freien Gemeinschaft der Sprachen, und als das Himmelreich in der freien Gemeinschaft des frommen Glaubens, jedes von diesen in seiner Besonderheit dann die anderen in sich schließend und das Ganze darstellend« (Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung, in: KGA I/11, 552,15–24).
IV. Politisches Handeln und philosophischer Staatsbegriff
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selbst entspricht.148 Ein solcherart christlich legitimierter Staatsbegriff, welcher zugleich die Legitimation der jeweils geschichtlichen staatlichen Ordnung impliziert, zielt darauf, Christinnen und Christen zum Handeln im Staat – als Obrigkeit oder als Untertanen – zu legitimieren und aufzurufen. Der christlich gefasste philosophische Staatsbegriff enthält einen Auftrag zum politischen Handeln im Staat für alle Christinnen und Christen, die dazu beitragen sollen, den Staat in seiner konkreten Gestalt zu verbessern. Dies soll ausschließlich durch kommunikatives Wirken auf andere geschehen, um deren Überzeugung mit zu bilden und selbst in der eigenen Überzeugung weiter gebildet zu werden. Allein durch freie und öffentliche Selbstmitteilung sollen und dürfen Christen wirken – jenseits obrigkeitlicher Vollzüge. Auf diese Weise aber sollen sie auch wirken. Aus christlicher Sicht ist es sittliche Aufgabe, die eigene Auffassung vom Ganzen in die öffentliche Kommunikation einzubringen und so auf andere zu wirken sowie auf sich selbst wirken zu lassen. Dieses Konzept vom politischen Auftrag der Christen beinhaltet zugleich, wie der politische Auftrag nicht wahrgenommen werden darf. Erstens darf keinerlei Gewalt angewandt werden, um politische Veränderungen hervorzubringen. Gewaltsam wäre auch schon ein Überschreiten der mit der eigenen Stellung gegebenen Kompetenzen. Zweitens müssen die Differenzen zwischen Staat und Kirche gerade aufrechterhalten und nicht etwa unterlaufen werden. Eine gegenseitige Instrumentalisierung von Staat und Kirche im politischen Handeln von Christen darf nicht stattfinden. Subjekt des politischen Handelns sind die einzelnen Christen, aber nicht die Kirche als Institution. Drittens sind starke Konflikte mit einem Staat, der die Kirche als Institution nicht dulden will, möglichst durch Vermeidung zu lösen: indem die Christen diesen Staat verlassen. Zusammengefasst: Schleiermacher entwickelt nur insofern einen »christlichen Staatsbegriff«, als er die Legitimität des philosophischen Staatsbegriffs auch für Christen mit theologischen Argumenten nachweist. Daher enthält die Christliche Sitte keinen inhaltlich eigenen, darin christlichen Staatsbegriff.149 Sie entwickelt aber einen starken christlichen Begriff von politischem Handeln. Diese These sei abschließend noch zu der einschlägigen Forschung ins Verhältnis gesetzt. Staat und Reich Gottes (wie auch Napoleon und Christus) sieht
148
Birkner hat ausführlich aufgezeigt, wie sehr dieses Konzept auf Schleiermachers Grundannahme der »universalen Bedeutung des Christentums« beruht. Das Christentum sei für Schleiermacher keine »Sondergestalt religiös-sittlichen Lebens, sondern es ist ›die eigentliche Vollendung des religiösen Bewußtseins‹ und darin die Vollendung der Humanität« (Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 90). 149 Birkner vertritt die These, dass der Staatsbegriff in der philosophischen Ethik die Grundlage für den Staatsbegriff der christlichen Sitte bilde; seine Ausführungen implizieren, dass beide Staatsbegriffe einander entsprechen (vgl. Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 136–138).
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E. Die Christliche Sitte
Miller150 als konkurrierende Größen bei Schleiermacher. Er insistiert darauf, dass nicht die äußere politische Herrschaft, sondern nur die göttliche Herrschaft eine freiheitliche Kommunikation zwischen Einzelnen und Ganzem ermögliche.151 Bei aller gebotenen Unterscheidung von Staat und Kirche, oder auch von Staat und Reich Gottes gelte aber doch, »daß das christliche Handeln im Staat immer noch das Reich Gottes als eine universelle sittlich-fromme Gemeinschaft mittelbar bezweckt«.152 Die Zusammenhänge zwischen Christentum und philosophischem Staatsbegriff bei Schleiermacher thematisiert auch Arnulf von Scheliha. Er erkennt bei Schleiermacher die These, »dass sich das moderne Staatsverständnis unter dem ideellen Einfluss des Christentums verwandelt hat«.153 Der Staat würde nunmehr auch als Kulturstaat verstanden, der durch einen Ordnungsrahmen zivile Freiheit ermöglicht.154 Den Ausdruck Kulturstaat verwendet Schleiermacher aber selbst nicht; und Birkner, der ihn zur Kennzeichnung von Schleiermachers Auffassung einführt, erläutert seine Bedeutung wie folgt: »Schleiermachers Staat ist Kulturstaat – aber er ist es in dem engen Sinne, den der Begriff Kultur bei ihm hat. Der Staat ist auf die ökonomisch-zivilisatorische Seite der Kulturentwicklung begrenzt«.155 Der Staat ist gemäß der Philosophischen Ethik Kulturstaat, insofern er die Sphäre des identisch-organisierenden Handelns der Vernunft auf die Natur darstellt. Dass Schleiermacher156 dieses Staatsverständnis durch das Christentum hervorgebracht oder befördert sieht, belegt von Scheliha allerdings nicht durch einschlägige Textstellen, die es meines Wissens auch nicht gibt. Was Schleiermacher dagegen sehr wohl erkennbar behauptet, ist, dass das Christentum einen starken Einfluss auf den Staat, auf das Staatsleben hat157 – aber eben nicht auf den allgemeinen Staatsbegriff. Vier Aspekte seien benannt. Zum einen ändert sich bei den Christen das Subjekt des identisch-organisierenden Handelns, welches den Staat ausmacht: »Wo das Christenthum Wurzel faßt, da adoptiert es den Pro150
Vgl. Miller: Der Übergang, 189. Vgl. aaO. 189. 152 AaO. 206. 153 von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 330. 154 Vgl. aaO. 330. 155 Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 138. Von Scheliha verweist ausdrücklich auf diese Stelle bei Birkner (von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 330). 156 Christliche Sitte, 491. 157 Auch in der Philosophischen Ethik spricht Schleiermacher von einem Einfluss des Christentums auf den vorhandenen Staat: »Inwiefern die religiöse Sphäre weit ausgedehnter ist als der Staat, und dieser also in einer solchen größeren Sphäre eingetaucht ist, muß sich das Bewusstsein hievon freilich in ihm ausdrücken, aber nicht als Bestreben jene Sphäre zu beherrschen« (Philosophische Ethik, 100 (§113)). An anderer Stelle betont von Scheliha eher den christlichen Einfluss auf den Staat und das staatliche Leben: »Indeed, the Christian religion initiated a critical and innovative transformation of the state that took place through the inner conviction and disposition of Christian people, on the one hand, and through the institutional deeds oft he church, on the other« (von Scheliha: Sources of Normativity, 297). 151
IV. Politisches Handeln und philosophischer Staatsbegriff
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zeß der Talent- und Naturbildung, so daß er nun nicht mehr vom natürlichen Menschen, sondern vom göttlichen Geist ausgeht«.158 Zum zweiten beeinflusst das Christentum die zwischenstaatlichen, internationalen Beziehungen:159 »und so findet sich auch als Resultat der wachsenden Herrschaft des wirklich christlichen Bewußtseins, daß die Staaten ein friedliches Verkehr unter einander zu stiften und zu sichern suchen, und zwar nicht mehr aus einem eigennützigen Gesichtspunkte, [. . . ], sondern rein aus Liebe zur absoluten Gesammtheit«.160 Drittens161 übt die Kirche durch ihr auf Egalität beruhendes kirchliches Organisationsprinzip einen Einfluss auf die gesellschaftliche Gleichstellung von Adel und Bürgertum aus und wirkt hin auf mehr gesellschaftliche Gleichheit.162 »Kirche wird auf diese Weise zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen«163 – wie Geck etwas überpointiert formuliert. Die Kirche als Gemeinschaft wirkt als Vorbild, aber Veränderungen als solche gehen für Schleiermacher immer von Einzelnen aus. Viertens befördert die Kirche die Ausbildung von »politisch notwendigen Bürgertugenden«.164 In diesen Hinsichten also wirkt die Kirche auf das staatliche Leben ein.165
158
Christliche Sitte, 481. Vgl. auch von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 332, der aber mit anderen Texten diese Sicht Schleiermachers belegt. 160 Christliche Sitte, 491. 161 Vgl. von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 330. Er bezieht sich dabei auf den Akademievortrag Schleiermachers »Über den Beruf des Staates zur Erziehung« (KGA I/11, 127–146, hier 140), in welchem Schleiermacher an der genannten Stelle das Verhältnis von Adel und Bürgertum bzw. Adel und Volk reflektiert, und wie sich der Staat dazu stellt. Eine Gleichstellung von Adel und Bürgertum sieht Schleiermacher weniger von der staatlichen Erziehung als vielmehr von der Kirche und von der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgehen. 162 Vgl. Christliche Sitte, 155. Dazu auch Geck: Sozialethische und sozialpolitische Ansätze, 143. 163 Geck: Sozialethische und sozialpolitische Ansätze, 145. 164 von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 331. 165 Vgl. dazu auch Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 95f. 159
F. Schleiermachers Staatslehre in der Diskussion Im Folgenden soll an den aktuellen Forschungsstand explizit angeknüpft werden, um dann die Ergebnisse der Arbeit in zusammenfassenden Thesen vorzutragen. Dazu wird zunächst nochmals die Position der beiden führenden Forscher zum politischen Denken Schleiermachers referiert, um dann eine Gegenposition aus der französisch-sprachigen Forschung vorzuführen. Auf diesem Hintergrund sollen dann die eigenen Thesen die Untersuchung abschließen.
I. Die vorherrschende Deutungsperspektive: Schleiermacher als Denker der Zivilgesellschaft Als Ahnherr der freiheitlichen Demokratie möchte Matthias Wolfes Schleiermacher würdigen, gegen die lange vorherrschende Rezeption Schleiermachers als eines patriotischen Preußen. Diese bisherige Rezeptionsgeschichte beleuchtet er nuanciert nach ihren zentralen Motiven und Theoriekontexten. Wolfes zeigt auf, welche Art von Geschichtspolitik sich in dieser spezifischen SchleiermacherRezeption vollzieht. Sein großes Anliegen zielt erkennbar darauf, die verdeckten und übersehenen Theorieaspekte Schleiermachers zu Tage zu fördern und seine liberale Theoriekonzeption zur Geltung zu bringen. Als das zentrale Thema von Schleiermachers Staatstheorie bestimmt er den Gedanken der Teilhabe.1 Schleiermachers politische Grundidee bestehe im Konzept einer politisch handlungsfähigen Zivilgesellschaft. Die demokratischen Züge bei Schleiermacher sieht er vor allem in folgenden Theorieaspekten ausgeprägt: in Schleiermachers Abwehr von Zensur, in der Forderung der strikten, auch verwaltungsmäßigen Trennung von Kirche und Staat sowie in der internationalen Ausrichtung seines Denkens.2 Er ordnet ihn ein als »Theoretiker des Überganges von der sogenannten ›repräsentativen‹ zur ›bürgerlichen‹ Öffentlichkeit«.3 Arnulf von Scheliha würdigt Schleiermachers Politikverständnis »als Variante eines republikanisch-zivilgesellschaftlichen Ordnungsmodells [. . . ], in dem ausdrücklich von der nicht selbstverständlichen sittlichen Voraussetzung des Ge1
Vgl. Wolfes: Sichtweisen, 392. Vgl. aaO. 384. 3 AaO. 391. 2
II. Schleiermacher als nicht-liberaler Denker
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meinwesens ausgegangen wird, deren Regeneration und Stabilisierung gegenwärtig mit den Begriffen Subsidiarität, Zivilgesellschaft und Bürgertugend beschrieben werden«.4 Er schließt sich Grafs Einordnung von Schleiermachers Sozialtheorie als einen liberalen Kommunitarismus an;5 politiktheoretisch sieht er die Nähe zum Konzept einer Verhandlungsdemokratie. Ausdrücklich verwahrt er sich aber dagegen, Schleiermachers Theorie normativ am Ideal »einer sog. Westminster-Demokratie«6 zu messen. Er vertritt das nachvollziehbare Anliegen, die konstruktiven, zukunftsweisenden und gegenwartsrelevanten Elemente an Schleiermachers Theorie stark zu machen. Arnulf von Scheliha und Matthias Wolfes haben die Forschung zu Schleiermachers Staatslehre mit ihren eingehenden Analysen wesentlich vorangetrieben. Ihre jeweiligen thematischen Einzeluntersuchungen verdanken sich explizit einem politischen Gegenwartsinteresse. Insofern alle historische Forschung immer auch und unausweichlich gegenwärtigen Selbstverständigungsinteressen dient, ist dieses Ansatz vollkommen sachgemäß. Mit dem expliziten Fokus auf das Gegenwartsförderliche gelingt es Arnulf von Scheliha und Matthias Wolfes, die Innovationspotentiale von Schleiermachers Staatslehre freizulegen. Schleiermacher zeigt sich unter dieser Fragestellung als interessanter Denker für das politik-theoretische Gespräch der Gegenwart. Dabei wurde die Gesamtanlage der Staatslehre bewusst abgeblendet, welche in ihrer Struktur, wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, gerade nicht liberal konzipiert ist. Die Bewertung der Staatslehre Schleiermachers hängt nun ganz davon ab, ob man diese Grundstruktur fokussiert oder eben einzelne Aspekte. Je nachdem kommt man zu konträren Einschätzungen. Im Folgenden sei eine Position vorgeführt, welche sich ganz auf die Grundstruktur der Schleiermachers Staatslehre konzentriert, daher zu einem sehr kritischen Urteil kommt und infolgedessen auch gegen positive Anknüpfung gegenwärtiger Bestrebungen an Schleiermacher protestiert. Eine behutsame Berücksichtigung von Grundstruktur, Einzelaspekten und historischer Diskursanordnungen gleichermaßen versuchen zum Schluss dann die eigenen Thesen.
II. Gegenlesung: Schleiermacher als nicht-liberaler Denker Der von Wolfes und Scheliha vorgetragenen Einordnung Schleiermachers als eines liberalen Staatstheoretikers widerspricht Denis Thouard dezidiert.7 Er trägt eine Radikalkritik an Schleiermacher vor: es handele sich gar nicht wirklich um von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 334. Vgl. aaO. 334 sowie Graf: Lob der Differenz, 25. 6 von Scheliha: Religion, Gemeinschaft und Politik, 334. 7 Eine anders geartete Gegenlesung nimmt Walter Jaeschke vor, insofern er in Frage stellt, ob Schleiermacher überhaupt ein politischer Denker sei (Jaeschke: Schleiermacher als politischer Denker, 307ff ). 4 5
288
F. Schleiermachers Staatslehre in der Diskussion
eine politische Theorie und sie sei erst recht nicht liberal. Mit dieser Kritik stellt Thouards Schleiermacherrezeption eine Ausnahme dar, insofern die Geschichte der Schleiermacherrezeption von affirmativen und sympathisierenden Haltungen zu Schleiermacher bestimmt ist – worauf auch immer die Sympathie sich bezog. Den Zweifel an der politischen Dimension der Staatstheorie begründet Thouard zum einen mit der fehlenden rechtlichen Ausrichtung von dessen Theorie. Schleiermacher setze »wirklichkeitsentfernt«8 eine gegebene Sittlichkeit von Regierung und von Staatsbürgern voraus. Thouard formuliert: »Es handelt sich vielmehr um eine relative Unfähigkeit, politische Gedanken förmlich und wo nötig rechtlich zu denken. Stattdessen hat Schleiermacher meistens noch ein Kontinuum von Ethik und Politik vorausgesetzt, wobei seine Politik noch mit ethischen begrifflichen Mitteln ausgerüstet wurde, die aber nie reichten, seinen politischen Zielen eine konkrete Form zu verleihen«.9 Des Weiteren sei Schleiermacher unfähig, »die wirklichen Konflikte zu betrachten«,10 so wie er »die Harmonie von Obrigkeit und Unterthan, von Regierung und allgemeinem Willen voraussetzt«.11 Da aber die Rechte des Einzelnen nicht garantiert werden, die Freiheiten des Einzelnen nicht als Rechte gegenüber der Regierung bei Schleiermacher gedacht werden, handelt es sich laut Thouard nicht um eine liberale politische Theorie. Nicht an gegenwärtigen Vorstellungen von Liberalität wie etwa Rawls Theoriekonzept misst Thouard Schleiermacher, sondern an zeitgenössischen Entwürfen (Humboldt, Constant). Beide von Thouard erhobenen Vorwürfe hängen inhaltlich zusammen: Echte Konflikte lässt Schleiermacher in seiner Theorie nicht auftreten, daher konzipiere er auch keinen rechtlichen Schutz für die Einzelnen in solchen Konfliktfällen. Thouard stellt jedoch nicht nur diese Probleme fest, er bestimmt auch die Ursachen dieser Probleme. Die erste Ursache dieser Theorie-Mängel findet Thouard in einer mangelnden Wirklichkeitsnähe Schleiermachers bzw. einer mangelnden Fähigkeit, politische Wirklichkeit wahrzunehmen und theoretisch zu reflektieren. Für Schleiermacher bilde die Harmonie, nicht der Konflikt den Normalfall politischer Konstellationen. Dies könne angesichts von Schleiermachers historischer Situation nur Realitätsblindheit bedeuten. Auf der Theorieebene selbst sieht Thouard dann den zweiten Grundfehler, der darin besteht, ethische und politische Perspektiven zu vermischen. Thouard hat m. E. die Grundprobleme der Schleiermacherschen Theorieanlage punktgenau identifiziert – ohne damit in alte nationalorientierte Deutungsmuster zu Schleiermacher zurückzufallen. Jede aktualisierende Deutung, welche in Schleiermacher den Vordenker einer zivilgesellschaftlichen Demokratie sieht, 8
Thouard: Gefühl und Freiheit in politischer Hinsicht, 372. AaO. 373. 10 AaO. 369. 11 AaO. 369. 9
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wird sich mit diesem Problem auseinandersetzen müssen, um es nicht zu wiederholen. Die Ursachen-Analyse dagegen, die Thouard vornimmt, kann mit Gründen hinterfragt werden. Thouard, Wolfes und von Scheliha lesen je auf ihre Weise Schleiermachers Staatslehre als eine politische Theorie, zumindest als eine Theorie, welche den Selbstanspruch einer politischen Theorie erhebt. Demgegenüber aber ist geltend zu machen, dass Schleiermacher mit seiner Staatslehre diesen Theorieanspruch nicht nur nicht erhebt, sondern gerade negiert. Man kann Schleiermacher in Kritik und Würdigung nur gerecht werden, wenn man sich mit der Analyse seiner Theorie auf deren selbstbeanspruchten Theoriestatus einlässt. Der Selbstanspruch von Schleiermachers Theorie ist dann an seiner eigenen Durchführung zu überprüfen, aber zunächst als solcher ernst zu nehmen. Schleiermacher will eine Metatheorie des Staatlichen liefern, welche die Kategorien zur Verfügung stellt, um alle nur möglichen geschichtlichen Staaten und deren Entwicklung zu beschreiben. Dazu stellt er bei den verschiedenen Aspekten staatlicher Ordnung jeweils gegensätzliche Gestaltungsweisen vor, mit denen zugleich dann auch alle Misch- und Zwischenformen erfasst werden können. Die Thematisierung zeitgeschichtlicher Ereignisse oder preußischer Verhältnisse hat den theoretischen Status von Beispielen oder von Plausibilisierung der Metatheorie. Zugleich kommt dieser Thematisierung von Zeitgeschichte der pragmatische Sinn von Beratung politischer Entscheidungsträger und geschichtlicher Fundierung öffentlicher Debatten zu. Aber auch dabei verfährt Schleiermacher fast nie positionell-direktiv, sondern erwägt verschiedene Deutungsmöglichkeiten oder verschiedene politische Handlungsoptionen hinsichtlich ihrer möglichen Folgen und Implikationen. Dezidiert verwahrt Schleiermacher sich dagegen, eine Theorie des idealen Staates oder der wünschenswerten staatlichen Gestaltung aufzustellen, und sei es auch nur für den gegenwärtigen preußischen Staat. Deswegen stellt Schleiermachers Staatslehre keine politische Theorie im eigentlichen Sinne dar, sondern vom Anspruch her eher eine politikwissenschaftliche Meta-Theorie. Als eine solche politikwissenschaftliche Theorie zielt sie auf zweierlei: darauf, eine politikwissenschaftliche Beschreibung jedes geschichtlichen staatlichen Gebildes zu ermöglichen sowie Politikberatung zu bieten, die politisch Handelnde in der Abwägung von Optionen innerhalb der staatlichen Sphäre unterstützt. Schleiermachers Theorie ist weder deskriptiv noch präskriptiv: sie will eine Theorie sein, welche die Kategorien zur Verfügung stellt, sowohl um Geschichtliches erst im Konkreten zu beschreiben als auch um im Geschichtlichen sich für konkrete politische Handlungen zu entscheiden. Angesichts dessen trifft jedoch Thouards Vorwurf der Wirklichkeitsferne erst einmal umso gravierender: wenn Schleiermacher keine Kategorien zur Verfügung stellt, um politische Konflikte zu beschreiben/politisch zu bewältigen, während die politische Wirklichkeit gerade durch Konflikte bestimmt ist, dann scheint Schleiermachers Staatslehre
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schon im Ansatz widerlegt und hinsichtlich ihres eigenen Anspruches gescheitert. Weil es sich hier um die entscheidende Anfrage an Schleiermachers Theorie handelt, sei nun ausführlich ausgeholt und auf bereits in dieser Arbeit dargestellte Ergebnisse zurückverwiesen. Wie in dem Kapitel zur staatstheoretischen Debattenlage nach 1800 in Deutschland gezeigt wurde, bestimmte eine Grundannahme die Diskussion: Die Theorie von Freiheitsrechten der Einzelnen führe zu Konflikteskalation in der politischen Wirklichkeit. Bestimmten Theorie-Elementen – wie der Rede von konstitutiven Freiheitsrechten des Einzelnen – eigne eine revolutionäre, staatsgefährdende, damit hochgradig konfliktprovozierende realpolitische Wirkung: damit hätten sich diese Theorie-Elemente von selbst widerlegt. Die implizite Logik dieses Plausibilitätsmuster besagt, dass Theorie-Elemente, welche im Konfliktfall für den Einzelnen Schutz bedeuten sollen, hinfällig seien, wenn diese Theorie-Elemente erst eine Konfliktzuspitzung mit staatsdestabilisierender Tendenz hervorrufen, wie eben in Frankreich zu sehen sei. Diese Plausibilitätsmuster gehören zu Schleiermachers argumentativem Kontext. Durch die geschichtliche Einordnung soll aber nicht von dem eigentlich sachlichen Problem abgelenkt werden. Die Rede von Konflikten vollzieht eine konstruktive Zuschreibung; Konflikte sind keine Fakten als solche, sondern eine bestimmte Deutung. Von daher kann nicht umstandslos unterstellt werden, Schleiermacher hätte Konflikte schlicht nicht wahrgenommen oder theoretisch nicht verarbeitet. Bestimmte Phänomene, die Thouard oder überhaupt gegenwärtige politische Theorie als Konflikt deutet, identifiziert Schleiermacher nicht als Konflikt – ohne notwendig das entsprechende Phänomen zu übersehen. Schleiermacher ist daher nicht von vornherein Blindheit zu unterstellen, sondern zunächst erst einmal andere Deutungsleistungen. Diese hermeneutische Selbstrelativierung mag dann auch umgekehrt gegenwärtige Politikwahrnehmung ihrer spezifischen Konstruktivität eingedenk sein lassen. Zu prüfen ist daher nun, ob Schleiermacher bestimmte Phänomene, die man aus gegenwärtiger Sicht als politische Konflikte identifizieren würde, in seiner Theorie berücksichtigt und deutet – oder ob sie einfach fehlen. Die Rede von Konflikt aber findet sich bei ihm auf jeden Fall.12 Gegensätze und gegenläufige Interessen zwischen Staat und den anderen kulturellen Sphären kennt Schleiermacher. Die Analyse der Gründe für Konflikte, die Entwicklungsgeschichte der Konflikte und die Optionen für die Regelung dieser Konflikte interessieren Schleiermacher zutiefst. In der Staatslehre widmet er dem Verhältnis von Staat und Kirche, von Staat und Wissenschaft, aber auch dem Verhältnis des Staates zu freier Geselligkeit und internationalem Austausch einen hohen Textanteil. Dabei reflektiert er nicht nur die eher gelingenden Formen der realpolitischen Verhältnisbestimmungen, sondern auch die problembelasteten und problemerzeugenden. Dabei ist ihm sogar ein 12
Beispiele: Staatslehre 1829 Willich 570; Staatslehre 1833 Waitz 865.
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besonders waches und theoriedurchdrungenes Bewusstsein für die möglichen Reibungspunkte zwischen den Institutionen zu attestieren. Wie aber sieht es mit dem Verhältnis des Staates zum Einzelnen aus? Die Verstöße Einzelner gegen die staatliche Ordnung thematisiert Schleiermacher ausführlich im Kapitel zur Staatsverteidigung. Für solche Verstöße, ob nun in politischer oder in krimineller Absicht, ist das Strafrecht zuständig. Das stellt für Schleiermacher einen Konflikt dar, der immer zu lösen ist durch die rechte Einrichtung der Staatsverteidigung.13 Dass der Einzelne ansonsten in einen völligen Gegensatz zum Ganzen geraten kann, ist für Schleiermacher faktisch ausgeschlossen, da der Einzelne in seiner Individualität sich nur bilde durch das Gemeinschaftsleben, durch die Wechselwirkung mit den anderen der Gemeinschaft. In diesem Gemeinschaftsleben und in dieser Wechselwirkung finde beständig der Ausgleich zwischen Gemeinschaftsganzem und Einzelnem statt – so dass ein wirklicher Gegensatz inhaltlicher Art gar nicht auftreten kann. Was aber geschieht, wenn diese Wechselwirkung nicht wirksam stattfindet, das beantwortet Schleiermacher nicht. Immerhin aber stellt er die Kategorien bereit, diese nicht stattfindende Wechselwirkung oder die fehlende öffentlich-freie Kommunikation als äußerst alarmierendes Krisenphänomen überhaupt wahrzunehmen und als solches zu benennen. Aber auch die Gefährdung des Einzelnen und seiner Freiheit durch staatliches Handeln thematisiert Schleiermacher; auch da scheint er ein Problem wahrzunehmen, welches das Wesen des Staates tangiert: »Die Gesundheit des Staates hängt davon ab, dass dieses Gebiet des Einzellebens beständig abgesondert und getrennt vom Staatsleben fortbestehe«.14 Also auch hier stellt Schleiermacher Theoreme bereit, um staatsgefährdende Entwicklungen, auch wenn sie von der Regierung ausgehen, zu identifizieren und in ihrer staatsgefährdenden Dimension zu benennen. Was jedoch hier wie oben so irritiert, ist erstens der Umstand, dass Schleiermacher für den Fall solcher eingetretenen Konflikte oder Krisen keine Handlungsnormen bereitstellt, dass er kein Kriseninterventionsszenarium entwirft und einer staatlichen Ordnung keine dauerhaften Konfliktlösungsmechanismen empfiehlt. Genau dies aber ist mit dem Theoriestatus seiner Staatslehre erklärbar: sie will weder Theorie des idealen Staates noch eine präskriptive Theorie für politisches Handeln sein – sondern Kategorien zur Beschreibung des 13
In der Mitschrift zur Vorlesung von 1829 ist zu lesen: »es ist noch ein Conflict möglich, wenn wir an das Zusammenleben im Staat und an das Einzelleben, welches die Negation des Staats ist, denken, so kann auch ein Conflict zwischen diesen beiden Elementen stattfinden – die Unterthanen können in das Einzelleben ziehen wollen, was sie als Unterthanen thun sollen pp. – dies nicht als etwas Nothwendiges aber etwas beständig mögliches und daher auch ein Gegenstand für die Staatsvertheidigung – offenbar muß aber der Staat so organisirt sein daß jeden Augenblick wo ein solcher möglicher Conflict eintritt, auch die Staatsvertheidigung da ist, also doch ein constantes Verhältniß« (Staatslehre 1829 Willich 570,11–20). 14 Staatslehre 1829 Willich 569,23–25.
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Wesens des Staates zur Verfügung stellen. Die tiefere Irritation aber mag davon ausgehen, dass Schleiermacher seine gesamte Staatslehre nicht vom Individuum her entwirft und durchführt. Genau umgekehrt gilt für Schleiermacher, dass der Staat als sittliche Sphäre und als konkretes Gebilde dem Einzelnen immer vorgeordnet ist. Der Einzelne verdankt sich in seiner Existenz und seiner Individualität jeweils den verschiedenen Gemeinschaften, in denen er handelt. Er ist als Durchgangspunkt des sittlichen Prozesses gedacht. Entsprechend beschreibt Schleiermacher den Staat auch nicht ausgehend vom Einzelnen und dessen Freiheitsrechten, sondern als sittliche Sphäre, als Ganzheit und aus der Perspektive dieser Ganzheit, konkret meist aus Regierungsperspektive. Die Wahl dieser Beschreibungsperspektive behindert bei Schleiermacher also nicht die Wahrnehmung und Reflexion der möglichen Konflikte, aber bestimmt deren Wertung und Gewichtung. Schleiermachers Staatstheorie – auch als politikwissenschaftliche Theorie – basiert also auf seiner Ethik und seiner ethischen Sicht des Einzelnen. Schleiermacher kann deswegen nicht eine Vermischung von Politik und Ethik vorgeworfen werden. Seine Perspektive auf den Staat ist aber von seinen ethischen Vorentscheidungen bestimmt, die andere sind als die gegenwärtiger liberaler Theoretiker und auch anders als die ethischen Vorentscheidungen bestimmter Zeitgenossen Schleiermachers. Schleiermacher ist also letztlich nicht mangelnde Wirklichkeitswahrnehmung noch Unfähigkeit zu politischem Denken vorzuwerfen, aber seine ethische Theorie des Einzelnen und der Individualität ist zu kritisieren – jedenfalls wenn man die heutigen westlichen Demokratien mit ihrem Grundbekenntnis zur Menschenwürde und zum Wert des Individuums zum Maßstab nimmt. Die referierten Vorwürfe mangelnder Liberalität und mangelnder Politizität gegenüber der Theorie Schleiermachers trennt Thouard ausdrücklich von der Bewertung der persönlichen Haltung Schleiermachers, der er wahre Liberalität und politischen Mut respektvoll attestiert. Schleiermacher sei aber nicht in der Lage gewesen, seine liberale Haltung »theoretisch zu verarbeiten«.15 Schleiermacher wäre dann ein Liberaler ohne liberale Theorie, ein Demokrat ohne demokratische Theorie.
III. Schleiermachers Staatslehre in abschließenden Thesen Die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung entzündete sich an der irritierenden Beobachtung, dass in Schleiermachers Staatstheorie die Freiheit des Einzelnen keine Rolle spielt. Eine Klärung und Erhellung dieses Sachverhaltes erfolgte in drei Schritten: Es konnte erstens gezeigt werden, dass die zeitgenössischen staatstheoretischen Debatten zur Zeit Schleiermachers es nicht mehr plausibel erschienen lassen, beim Staat vom Einzelnen und dessen Rechten her 15
Thouard: Gefühl und Freiheit in politischer Hinsicht, 373.
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zu argumentieren. Das verdankt sich der verbreiteten Interpretation der Französischen Revolution, deren gewaltsame Folgegeschichte als unmittelbare Auswirkung vertragstheoretischer Argumentationsfiguren gedeutet wurde. Damit hatte sich in dieser Rezeptionslinie die Vertragstheorie durch ihre politischen Folgen selbst desavouiert. In diese Rezeptionslinie ist auch Schleiermacher einzuordnen. Dabei wurde aber herausgestellt, dass Schleiermacher bei aller harschen Ablehnung der Vertragstheorie doch wichtige vertragstheoretische Anliegen in seine Staatslehre integriert. Zweitens wurden die Staatslehrevorlesungen auf ihre Systemarchitektur hin untersucht. Thematische Fokussierungen erschlossen die Argumentsstruktur. Das Hauptergebnis für die Frage nach dem Einzelnen bestand darin, dass der Ansatz bei dem gemeinsamen Verhältnis einer Gemeinschaft zum Boden, wie es sich in der Sitte ausdrückt, grundsätzlich die Einzelnen nicht als Rechtsträger denken und ihnen keinen eigenen Status in der Theorie einräumen kann. Drittens trug die Analyse der Christlichen Sitte zum entscheidenden Verständnis dessen bei, warum Schleiermacher keinen sittlichen Konflikt und keine Grundverschiedenheit zwischen Einzelnen und Gemeinschaft denken kann. Er versteht den Einzelnen in seiner physischen, sozialen und geistig-moralischen Existenz so radikal von der Gemeinschaft abhängig, dass der Einzelne nicht wesentlich vom Gemeinschaftsganzen abweichen kann, auch nicht in seiner moralischen Urteilsbildung. Dementsprechend versteht Schleiermacher das Gewissen auch als den Ort der Zusammenstimmung mit der Gemeinschaft, und nicht als Ort subjektiver Autonomie und autonomer Moralentscheidung. Die Frage nach der Rolle der Einzelnen in der Staatslehre diente als heuristischer Zugang, um die Staatslehre als Gesamtes und in ihrer spezifischen Theorieform zu erschließen. Als Ergebnis lässt sich Folgendes festhalten. 1. Theoriekonstanz aufgrund von Theorieflexibilität: Nachdem Schleiermachers Staatslehre einmal formuliert ist – belegt durch die erste Mitschrift – sind kaum Entwicklungen der Theorie als ganzer festzustellen. Er setzt Akzente jeweils etwas anders; er stellt andere Fragen in den Mittelpunkt. An der TheorieArchitektur ändert sich aber nichts. Seine Theorie ist bei aller Bestimmtheit dazu geeignet, sich flexibel jeweils auf wechselnde Fragen und Probleme anwenden zu lassen. Er kann die Dominanz auf andere Theorie-Elemente legen – und es bleibt ein stimmiger Gesamtzusammenhang. Er kann den Fokus ganz anders setzen – es bleibt derselbe Theoriezusammenhang. 2. Dynamische Staatstheorie: Staaten bestehen aus den freien Handlungen aller Beteiligten; diese spezifischen staatsbezogenen Handlungen richten sich auf das allen gemeinsame Verhältnis zum ›Boden‹, d. h. zu den Lebensgrundlagen. Sie finden unter der Form des Gegensatzes von Herrschenden und Beherrschten statt, wie er sich im Gesetz ausdrückt. Weil Staaten durch und in Handlungen sich vollziehen, entwickeln Staaten sich beständig weiter und verändern sich. Staaten stellen also geschichtlich dynamische Gebilde dar, die auch nur in ihrer
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Entwicklung angemessen erfasst werden können. Dem Begriff eines dynamischen Staates entspricht also für Schleiermacher nur eine Theorie, welche den Staat in seiner Entwicklung erfasst. Schleiermacher vertritt also eine dynamische Staatstheorie in einem doppelten Sinne: der Staat wird als Entwicklungsprozess verstanden und die Theorie des Staates beschreibt, indem sie das Wesen des Staates beschreibt, die Entwicklung des Staates. 3. Staatstheorie als abstrakte Geschichte des Staates: Staaten sind also sich wandelnde, geschichtliche Gebilde. Darin sind sie einerseits Individuen vergleichbar (Volkscharakter), insofern sie jeweils einmalig in den Konstellationen ihrer sie konstituierenden Faktoren sind. Andererseits kann man Entwicklungsverläufe und ihre Faktoren beschreiben. Diese Verläufe und ihre Faktoren lassen sich aber nicht als Gesetze fassen oder als formale Regeln. Da Schleiermacher nicht konkrete Staaten beschreiben will, sondern das Wesen des Staates, schreibt er eine abstrakte Geschichte des Staates. Diese Geschichte ist prinzipiell unabgeschlossen, doch sind auf der Grundlage des bisherigen Verlaufs Prognosen möglich, die Schleiermacher auch immer wieder formuliert. Generell nimmt Schleiermacher eine Weiter- oder Höherentwicklung an, ohne eine lineare Fortschrittsthese zu vertreten. Der Gegenwart räumt Schleiermacher keinerlei privilegierten Status ein. Sie wird von der Theorie her nicht anders als bisherige geschichtliche Entwicklungszustände behandelt. 4. Politik als Gestaltung der Entwicklungsgeschwindigkeit eines Staates: Weil der Staat als seine Entwicklung zu verstehen ist, kommt dem Thema der Entwicklungsgeschwindigkeit eine zentrale Bedeutung zu. Dieser Geschwindigkeit und deren angemessenem Maß weist Schleiermacher eine normative Definitionsmacht zu, insofern die Über- oder Unterschreitung der angemessenen Entwicklungsgeschwindigkeit die Staatlichkeit des Staates aufhebt – völlig unabhängig davon, was das für das reale ›staatsähnliche Gebilde‹ bedeuten mag. Damit richtet sich Schleiermacher sowohl gegen restaurative als auch gegen revolutionäre Tendenzen. Die entscheidenden politischen Alternativen und Entscheidungsoptionen sieht er in der Bestimmung der Entwicklungsgeschwindigkeit, insbesondere in den Versuchen, diese drastisch zu reduzieren oder zu beschleunigen. Die inhaltliche Weiterentwicklung dagegen erscheint ihm klar aus dem bisherigen Entwicklungsverlauf bestimmbar. Dass sämtliche europäischen Staaten Verfassungen einführen werden, dass sie Religions- und Pressefreiheit gewähren werden, dass es ein gewähltes Gesetzgebungsorgan geben wird: all das ist ihm nicht zweifelhaft. Offen ist nur, wann und wie schnell das geschehen wird. 5. Staatstheorie als Überlegungsgleichgewicht zwischen Metatheorie und historischen Einzelanalysen: Schleiermachers Staatslehre enthält zwei unterschiedliche Theorien: Erstens eine Metatheorie, welche Kategorien entwickelt zur Beschreibung aller nur möglichen geschichtlichen Staaten und ihrer Entwicklungsprozesse. Darin ist sie eine Theorie, welche zwischen der philosophischen Ethik und ei-
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ner möglichen kritischen Disziplin zum Staatswesen vermittelt. Zweitens enthält die Staatslehre materiale Theorieelemente politischer Prozesse der Gegenwart von der Französischen Revolution bis zu den Preußischen Reformen mit impliziter handlungsorientierender Intention. Diese Theorie-Elemente fungieren einerseits als Anwendungsbeispiele für die Metatheorie und damit als Plausibilisierung der entfalteten Kategorien und ihrer Zusammenhänge. Andererseits zielt die Metatheorie auch darauf ab, die vorgetragene Deutung der Gegenwart zu begründen und zu fundieren. Die gegenwartsdiagnostischen TheorieElemente sind jedoch zu verstreut und vereinzelt, als dass sie zu einer vollständigen eigenen Theorie verbunden werden könnten. So liefert Schleiermacher keine umfassende Deutung des preußischen Staates, aber durchaus viele einzelne politisch gemeinte Einzeldiagnosen. In Anwendung einer Rawls’schen Gedankenfigur könnte man sagen, dass Schleiermacher zwischen der Metatheorie staatlicher Entwicklung und den geschichtlich-politischen Einzeldeutungen ein Überlegungsgleichgewicht herstellt. 6. Staatstheorie als Theorie der Beziehung des Staatlichen zum Nichtstaatlichen: Dem Staat stehen für Schleiermacher die anderen Sphären, die anderen Gemeinschaftsformen gegenüber. Die staatstheoretisch entscheidenden Relationen heißen daher nicht Staat und Individuum, sondern Staat und Kirche, Staat und Wissenschaft, Staat und freie Geselligkeit, sowie die gleichen Gemeinschaftsformen, also andere Staaten. Schleiermachers Differenzierungstheorie, welche die staatliche Sphäre strikt von drei anderen Sphären abgrenzt, ermöglicht damit gerade eine genaue Beschreibung der wechselseitigen, funktionalen Zusammenhänge. Die Bedeutung des Nicht-Politischen für das Politische stellt sich durch die präzise Differenzierung der Bereiche als besonders prägnant und fruchtbar heraus. Zugleich liefert Schleiermacher eine systematische Erklärung dafür, warum sich die relative Trennung der Bereiche erst allmählich im Laufe der Geschichte herausgebildet hat und noch weiter herausbildet. Somit erstellt er auch eine Theorie der geschichtlich engen Verbindung von Religion und Politik, die er aber zugleich als zu überwindende darstellt. Religion hat darin eine politische Funktion, dass sie die Subjekte auf die Gemeinschaft ausrichtet und den Gemeingeist stärkt. Die Dominanz des Gemeingeistes über die Privatinteressen aber ist für den Staat essentiell; er verdankt sein stabiles Bestehen gerade dem Umstand, dass die Einzelnen ihre Eigeninteressen nur unter der anerkannten Dominanz des Gemeinwohls wahrnehmen. Indem die Religion den Gemeingeist stärkt, affirmiert sie die staatliche Gemeinschaft; weil die Religion aber darin auf die Menschheitsgemeinschaft zielt, relativiert sie damit auch die konkrete Staatsloyalität (die ›politische Gesinnung‹) der Einzelnen. Darin bleibt die Religion aus staatlicher Sicht zunächst ambivalent. Doch Schleiermacher rechnet damit, dass sich im Laufe der staatlichen Entwicklung die politischen Interessen immer stärker mit den menschheitlichen, kulturellen Interessen verbinden. Die
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Staaten werden in freundschaftliche Verhältnisse zueinander treten und die Politik wird nicht mehr isoliert nur am staatlichen Eigeninteresse sich orientieren, sondern sich als moralisch-kulturelle Gestaltung zusammen mit Religion und Wissenschaft verstehen. Hierin kann man durchaus die Idee der UNO und der UNESCO vorgebildet sehen. Für diesen Prozess fungiert dann die Religion – ebenso wie die Wissenschaft – als Bewegungsmotor. Was aus staatlicher Sicht zunächst als staatsgefährdende Dimension der Religion wahrgenommen wird, ist in langfristiger Perspektive die Förderung staatlicher Entwicklung hin zur höheren Form des Staates. Die Religion kann diese beiden politischen Funktionen am besten dann wahrnehmen, wenn sie vom Staat sich unabhängig gestalten kann und freigelassen wird. Das Gleiche gilt für die Wissenschaft und für die freie Geselligkeit. 7. Staatstheorie als Differenztheorie: Schleiermacher beschreibt den Staat als Ausdifferenzierungserscheinung. Der Staat bildet sich durch Ausdifferenzierung, und er entwickelt sich weiter durch Ausdifferenzierung. Weil in allen Differenzierungen der Einheitsgrund – das gemeinsame Verhältnis der Menschen zu dem spezifisch geprägten Boden – präsent bleibt, kann Schleiermacher Mannigfaltiges in beliebig annähernder Konkretion erfassen, ohne die Einheit und Systematik der Theoriebildung zu mindern. Darin ist seine Theorie formal elegant und empirisch leistungsfähig. Der Fokus von Schleiermachers eigenem Interesse liegt auf der Beschreibung der Entwicklung von Monarchie oder Aristokratie hin zu konstitutioneller Monarchie. Dieses Interesse spiegelt die politischen Fragen in Schleiermachers Zeit wieder, hat aber keine Gegenwartsrelevanz für heutige Leserinnen. Gegenwartsrelevante Aneignungen von Schleiermachers Theorie müssten daher gegen dessen eigenen Fokus bestimmte Theorieelemente herausgreifen und diese dann unabhängig von Schleiermacher analytisch oder konstruktiv einsetzen.16 Ein solches Vorgehen ist wünschenswert, weil Theorien durch ihre kreative Vergegenwärtigung leben. Auch eine solche Vergegenwärtigung sollte jedoch auf fundierte historische Kontextualisierung nicht verzichten. 8. Staatstheorie als Normaltheorie, nicht als Konflikttheorie: Schleiermacher interessiert sich nicht für die Regelung möglicher Konflikte, sondern für die Beschreibung von Normalzuständen. Das Vorkommen von harten Konflikten diagnostiziert er als Fehlentwicklung und als mangelhaften Zustand. Seine Staatstheorie zeigt dagegen in orientierender Absicht auf, wie solche Zustände bei naturgemäßer Entwicklung des Staates gar nicht erst auftreten. Aus heutiger Perspektive irritiert diese erklärte Ignoranz gegenüber Konfliktsituationen; aus Schleiermachers Sicht drückt dagegen die Frage nach Konfliktregelungen bereits als Frage eine problematische Einstellung zum Staat aus. Den tiefsten Grund hat Schleiermachers konfliktausblendende Perspektive darin, dass der Einzelne 16 Arnulf von Scheliha und Matthias Wolfes führen einen solchen gegenwartsinteressierten Umgang mit Schleiermachers Staatslehre vor.
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in seiner physischen, geistigen und moralischen Existenz als dergestalt abhängig vom Gemeinschaftsganzen gedacht wird, dass harte Konflikte nicht wirklich auftreten können. Am ehesten denkt er Konflikte als möglich zwischen verschiedenen Gemeinschaftsformen, also z. B. zwischen Staat und Kirche. Er äußert ein gewisses Verständnis dafür, dass eine ihre Kompetenzen überschreitende Regierung durch eine Revolution abgelöst wird. Doch er liefert weder eine Handlungsempfehlung für solche Fälle, noch sieht er politische Mechanismen zur Konfliktregelung vor. Dem entspricht auch, dass er grundsätzlich dem Recht als Regelungsinstanz wenig zutraut. Das Recht wirkt, indem es die gelebte Sitte expliziert und als solche Explikation durch den Rechtsvollzug anerkannt wird. Es gründet auf Vorrechtlichem, auf der einem Volk eigentümlichen Sitte, und zielt auf Außerrechtliches, auf den Erhalt der gemeinsamen Sitte eines Volkes. Die Schutz- und Erhaltungsfunktion des Rechtes bezieht sich auf die konkrete Volksgemeinschaft mit ihrer eigentümlichen Sitte. Der Einzelne dagegen ist in keiner Weise als Träger von Rechten vorgestellt. 9. Staatstheorie als nüchterne und ernüchternde Theorie: Schleiermacher entwickelt eine nüchterne Sicht des Staates, die eine Mystifizierung ebenso vermeidet wie eine Abwertung des Staates. Dadurch erschließt sich gerade das Proprium des Politischen, weil es bei Schleiermacher nie mehr sein will als eben das Politische - aber auch nicht weniger. Politik hat zur Aufgabe, das gemeinsame Verhältnis der Menschen zum Boden, also zur Lebensgrundlage zu regeln, entsprechend der gemeinsamen Sitte. Politik soll nur mit diesem Bereich befasst sein und nur der sich entwickelnden Sitte rechtlichen und organisatorischen Ausdruck verleihen. Damit entlastet Schleiermacher die Politik von umfassend gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen, ebenso wie von hochgesteckten Erwartungen an Innovation und Weitsicht. Für die menschliche Gesellschaft konzipiert er die anderen drei Sphären als genauso wichtig. Diese weisen jeweils eigene Regulierungsmechanismen auf. Aufgabe des Staates ist es nur, diese anderen Sphären in ihrem Eigenwirken möglichst freizugeben, dabei aber deren potentiell staatsgefährdendes Wirken gegebenenfalls einzugrenzen. Welt und Menschheit werden bei Schleiermacher nicht durch Politik gerettet, aber auch nicht durch Politik gefährdet oder behindert. Der Staat ist eine wichtige Institution der menschlichen Kultur, aber eine Institution neben anderen. Damit wehrt Schleiermacher einer Totalisierung des Politischen. Zu Theorieentwürfen wie z. B. von Carl Schmitt stellt Schleiermacher eine dezidierte Alternative dar. 10. Staatstheorie als Politikberatung: Politik hat also nur eine begrenzte Funktion für die menschliche Gesellschaft. In dieser Funktion ist sie aber für Schleiermacher relativ eigenständig gegenüber kulturellen, wissenschaftlichen und pflichtenethischen Erwägungen. Die Politik regelt das Verhältnis der staatlichen Gemeinschaft zum Boden und verfolgt rein staatliche Selbsterhaltungsinteressen.
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Politik als solche ist nur diesem Selbsterhaltungsinteresse des Staates verpflichtet, aber nicht etwaigen moralischen Kriterien. Schleiermacher vertritt also einen moralfreien Politikbegriff. Doch ordnet er ihn in eine Entwicklungslinie ein, die er zukünftig in einer vollkommenen Harmonie von Moral und Politik, von Politik und Menschheitsinteressen kulminieren sieht. Bis dahin kommt es nur darauf an, dass politische Entscheidungen unter klarer Analyse von möglichen Konsequenzen getroffen werden, und keinesfalls leidenschafts- oder sympathiebestimmt. Eine solche Abwägung von Alternativen nimmt Schleiermacher vor, indem er mögliche Konsequenzen von Maßnahmen benennt – ohne sich für oder gegen solche auszusprechen. So wendet er sich nicht gegen Zensurmaßnahmen, aber gibt die Konsequenzen von Zensur zu bedenken. Seine Theorie schärft so den Blick für Möglichkeiten, für die Wahrnehmung verschiedener Optionen. Diese unterzieht er einem behutsamen Abwägen der Vor- und Nachteile, der möglichen Folgen und Implikationen. Nicht die ideale Handlung, nicht die ideale Staatsgestalt, sondern die in einer bestimmten geschichtlichen Situation möglichst angemessene Handlung bildet das Ziel politischer Erwägungen. Seine Staatslehre tritt als Politikberatung auf und nicht als die bessere Politik. 11. Normative, aber nicht präskriptive Staatstheorie: Schleiermacher entwirft keinen idealen Staat und stellt auch keine als verpflichtend intendierten Handlungsgrundsätze auf oder Kriterien eines guten Staates. Doch sein Staatsbegriff hat eine normative Dimension, insofern staatlichen Gebilden abgesprochen werden kann, ein Staat zu sein. Dies kann nur dann geschehen, wenn ein Gebilde sich nicht kontinuierlich entwickelt: wenn es also zum Stillstand kommt oder wenn es eine sprunghafte Bewegung, z. B. in Form einer Revolution, vollzieht. Schleiermacher vertritt – jedenfalls in den Vorlesungen zur Staatslehre – keinen rein formalen Staatsbegriff, sondern einen normativ-identifikatorischen. Zu unterscheiden ist diese normativ-identifikatorische Funktion des Staatsbegriffs – welche den Begriff Staat einem konkreten Gebilde zu- oder abspricht – von präskriptiven Vorgaben an staatliche Gestaltung. Letztere weist Schleiermacher zurück. Er will eine Theorie vorlegen, welche staatliche Entwicklung mit abstrakten Kategorien beschreibt; er will jedoch diese Entwicklung in keiner Weise normieren. 12. Staatslehre nach der Französischen Revolution: Eine jede Staatslehre nach der Französischen Revolution und der Aufklärung hat das grundsätzliche Problem, dass das Konzept von bürgerlicher Freiheit, Gleichheit und moralischer Autonomie der Person mit dem gegebenen obrigkeitlichen Staat vermittelt werden muss, der gerade keine konkreten Partizipationsmöglichkeiten und Mitbestimmungsrechte eröffnet, der Gleichheit und politische Selbstbestimmung nicht vorsieht. Dabei treffen nun aber nicht einfach nur Theorie bzw. Ideal auf der einen Seite und Realität aufeinander, sondern die erfahrene Wirklichkeit des
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obrigkeitlichen Staates prägt das Denken des Staatlichen so sehr, dass der Zusammenstoß auch und erst recht auf der Theorieebene sich ereignet. Alle großen Staatstheorien vom Anfang des 19. Jahrhunderts sind als solche theoretischen Vermittlungen zu lesen, ob nun Schleiermacher oder Fichte und Hegel. Schleiermachers Strategie ist eine doppelte: zum einen ordnet er dem Staat drei andere prinzipiell gleichberechtigte Sphären zu, in welchen den vollen und gleichen Partizipationsvollzügen aller Personen als einem Recht eine konstitutive Rolle zukommt. Diese drei Sphären bilden ein Gegengewicht, ein kritisches Korrektiv zum Staat, welches aber innerhalb des Staates nicht vorgesehen ist. Zum anderen konzipiert er einen Staatsbegriff, in dem die Anerkennungsakte der Beherrschten theoretisch genauso staatskonstitutiv sind wie die der Herrschenden. Der Staat besteht in und aus den Handlungen aller Einzelnen, und auf diese Weise entwickelt er sich ständig fort. Dass Schleiermacher selbst hinter diesen Staatsbegriff immer wieder zurück fällt und den Staat de facto mit der Obrigkeit identifiziert, spiegelt seine realen Erfahrungen. Ebenso verfällt er immer wieder in eine familiale Semantik, um die Relationen zwischen Herrschenden und Beherrschten auszudrücken. 13. Schleiermacher: ein liberaler Denker? In den politischen Konstellationen seiner Zeit stellt Schleiermachers Staatslehre eine liberale Konzeption dar. In ihr artikuliert sich eine an Freiheit orientierte liberale Haltung. Doch in einem systematischen Sinne ist Schleiermachers Staatstheorie nicht liberal: denn Schleiermacher geht nicht aus von Freiheitsrechten der Einzelnen. Ganz im Gegenteil leitet er die Rechte der Einzelnen aus Rechten von Gemeinschaftsformen ab. Er versteht den Einzelnen so sehr von der Gemeinschaft her, dass er nicht einmal einen harten Konflikt für möglich hält zwischen Einzelnem und Gemeinschaft. Somit ist der große Individualitätstheoretiker Schleiermacher kein Theoretiker der Freiheit des Einzelnen.
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Dierken, Jörg 9 Dietze, Anita 209 Dietze, Walter 209 Dilthey, Wilhelm 23, 32, 38, 49 Dittmer, Johannes Michael 40 Dohna-Schlobitten, Friedrich Alexander Graf zu 34 Dohrn-van Rossum, Gerhard 89 Dreier, Horst 3 Dunn, John 74 Duns Scotus 69f, 72 Ehrhardt, Christiane 140 Eke, Norbert Otto 43f, 46–48 Eppler, Erhard 8 Ernst August I. 95 Euchner, Walter 76 Falcke, Heino 25 Fichte, Johann Gottlieb 1, 9, 11, 23, 45f, 71, 89, 96, 105, 107, 116, 299 Filmer, Robert 74, 76 Friedrich I. 15 Friedrich II. 15, 20f Friedrich Wilhelm I. 15 Friedrich Wilhelm III. 17, 21 Frost, Ursula 140 Fulda, Hans-Friedrich 233 Gönner, Nikolaus Thaddäus von 89 Görres, Joseph 41f Geck, Albrecht 21, 261f, 268, 285 Gentz, Friedrich 42f Goethe, Johann Wolfgang von 40, 48 Goetsch 57, 110–112 Graf, Friedrich Wilhelm 6, 287 Höffe, Otfried 209 Hölscher, Lucian 173 Haas, Stefan 213
310
Namenregister
Habermas, Jürgen 7 Hardenberg, Karl August von 12, 17, 110, 213f Hart, Herbert Lionel Adolphus 214 Haugwitz, Christian von 17 Hauschild, Wolf-Dieter 20f Heß 113, 120 Heckel, Martin 70 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 5f, 9, 24, 46, 48, 71, 81, 96, 105, 107, 116, 152, 227, 233, 299 Henrich, Dieter 42f, 233 Herb, Karlfriedrich 73 Herder, Johann Gottfried 48 Herms, Eilert 241, 261 Herrmann, Ludger 19 Herz, Henriette 10 Hirsch, Emanuel 260f, 265 Hobbes, Thomas 5, 26, 70–74, 76, 83, 208 Hofmann, Hasso 220 Holstein, Günther 9, 24f Hoover, Jeffrey 107, 110, 152 Humboldt, Wilhelm von 1, 5, 9, 47, 288 Hume, David 81 Ilting, Karl Heinz 71f Jäger, Hans-Wolf 41 Jørgensen, Poul H. 260, 274 Jaeschke, Walter 27, 37, 108, 111, 141, 155, 201, 233, 287 Jesus Christus 48, 64, 100, 239–241, 245, 266, 269, 283 Jonas, Ludwig 236 Kant, Immanuel 1, 3, 5f, 9, 11, 18, 23, 26, 48, 66f, 71, 73, 84, 89, 96, 116, 126, 208– 212, 227, 233, 263 Karl II. 74 Kaschuba, Wolfgang 41 Kaulbach, Friedrich 25 Keil, Siegfried 25, 33, 49, 267, 269, 275 Kersting, Wolfgang 3, 8, 77, 81, 208f, 211 Kleiner, Andreas 209 Klemme, Heiner F. 211 Klopstock, Friedrich Gottlieb 39, 47 Koselleck, Reinhart 4, 21, 64f, 212f Kotzebue, August von 20 Krause, Thomas 231 Krauter, Stefan 250
Langewiesche, Dieter 90 Laslett, Peter 73f, 76 Lenz, Max 110 Leo, Heinrich 89 Leonhardt, Rochus 9, 26 Leppin, Volker 40 Lesnoff, Michael 81 Lichtenstein, Ernst 25 Locke, John 5, 31, 54, 70, 72–80, 82f, 85–87, 122 Lohmann, Friedrich 8 Loos, Fritz 212, 214 Losurdo, Domenico 45f, 48 Luther, Martin 9, 26, 70, 99f Müller, Adam 5, 89 Müller, Claus 262 Müller, Wolfgang Erich 236 Müsebeck, Ernst 24, 33 Macpherson, Crawford 72, 78–80 Manow, Philip 6 McIntyre, Alasdair 6 Meckenstock, Günter 33 Meisner, Heinrich 34 Meister, Ernst Hermann 24 Melanchthon, Philipp 100 Metternich, Klemens Lothar Graf von 46 Metz, Andreas 91 Miethke, Jürgen 4 Miller, Marlin 9, 279, 284 Moos, Thorsten 9, 22, 27f Moxter, Michael 240 Napoleon 11, 15, 17, 19, 65, 283 Nipperdey, Thomas 18, 92, 94, 135 Nolte, Paul 18 Novalis 11, 42 Nowak, Kurt 10f, 23–25, 32–34, 38, 40, 49, 236 Nussbaum, Martha 6 Oberdorfer, Bernd 25 Ockham, Wilhelm von 70, 72 Olympe de Gouges 165 Paulus 100, 258f Petersen, Thomas 233 Philipp II. 179 Planert, Ute 48, 204 Platon 10, 26, 51, 89, 107, 119, 180, 233 Price, Richard 42
Namenregister Pufendorf, Samuel von 71, 212 Radbruch, Gustav 71f, 227 Rawls, John 6f, 30, 74, 80, 288, 295 Reemtsma, Jan Philipp 7f Reetz, Dankfried 27 Rendtorff, Trutz 25 Reuter, Hans 24 Riedel, Manfred 13, 96, 98, 233 Riemer, Matthias 140 Rotteck, Carl von 91 Rousseau, Jean-Jacques 5, 9, 31, 55, 58, 65, 72f, 83 Sösemann, Bernd 18 Sand, Karl Ludwig 20 Savigny, Friedrich Carl von 71, 214 Schaber, Peter 233 Scheliha, Arnulf von 9, 141, 174, 239, 261, 284–287, 289, 296 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 89 Schiller, Friedrich 11, 40 Schlegel, August Wilhelm 11 Schlegel, Friedrich 10f, 46, 95 Schmalz, Theodor 91 Schmelzing, Julius 153 Schmitt, Carl 297 Schnabel, Franz 23 Schröder, Markus 152, 238 Schreiber, Hans-Ludwig 212, 214 Siep, Ludwig 233 Smith, Adam 18, 145 Specht, Rainer 76 Spiegel, Yorick 25 Stegmaier, Werner 116, 145 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 17, 213 Stein, Lorenz von 5 Stolleis, Michael 213 Strunk, Reiner 25, 33
311
Tanner, Klaus 6 Taylor, Charles 6 Thadden, Rudolf 25 Theunissen, Michael 233 Thomas von Aquin 69 Thomasius, Christian 212 Thouard, Denis 287–290, 292 Tieck, Ludwig 11 Treitschke, Heinrich von 23, 32, 102 Trillhaas, Wolfgang 25 Tully, James 66, 72 Vögele, Wolfgang 7 Varnhagen, Karl August von 108, 147 Vial, Theodore 28 Vierhaus, Rudolf 102 Voegelin, Eric 15 Vogel, Barbara 18 Wagnitz, Heinrich Balthasar 232 Wahl, Rainer 3 Waitz, Georg 114f Weber, Max 72 Wehler, Hans-Ulrich 17–19, 92–95 Welcker, Carl Theodor 91, 220 Welker, Michael 25f Wesel, Uwe 21 Wiegrefe, Klaus 18f Wieland, Christoph Martin 39 Willich, Ehrenfried von 113 Willich, Henriette von 201 Wischke, Mirko 233 Wittram, Reinhard 23 Woellner, Johann Christoph von 21 Wolfes, Matthias 12, 27f, 33f, 37f, 49f, 108, 110f, 152, 173, 189, 236, 243, 254, 272, 277, 280, 286f, 289, 296 Wolff, Christian 212 Zuckermann, Moshe 40
Sachregister Absolutismus 73f, 89 Adel 285 Allgemeines Preußisches Landrecht 212 Allgemeinheit, allgemein 150, 217, 224 – Allgemeinwohl, siehe Gemeinwohl Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 44, 74 – Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg 65 Anarchie, anarchisch 84, 122, 151, 200, 218f Anerkennung 87f, 106, 125, 150, 179, 196, 220, 223, 299 Anschauung 261 – Anschauung und Gefühl 191 Antijudaismus 28 Arbeitsteilung, arbeitsteilig 127f, 130f, 133, 137, 172, 176 Aristokratie 14, 102, 124f, 128, 162f, 172, 181, 296 Armut 133 Aufklärung, aufklärerisch 3, 10, 40, 47, 65, 92, 94, 96, 199, 246, 298 Auswanderung 220 Autonomie, autonom 263f Autorität 94 Bauernbefreiung 213 Befehl 224, 254 Befreiungskriege 32, 92, 108 Begnadigung 134 Begriff, Begriffe 238 Beratung 246 Bergpredigt 245, 281 Beruf 131 Besitz 130 – Besitzindividualismus 72 Bewusstsein 158, 167, 226 – Bewusstwerdung 218 Bildung 58, 96, 118, 132, 160, 190f, 197, 231 – Bildungsreform 213 Boden 123f, 131f, 151, 174, 194, 233, 296f
Bürger 172-174, 285 – Bürgerkrieg 53, 64, 138, Christentum 180, 197, 201, 242, 256, 261, 266f, 279, 284f – Christlich 236f, 239, 268 Demokratie, demokratisch 14, 37, 49, 68, 72, 91, 102, 124f, 127, 162f, 172f, 286 Der Einzelne, die Einzelnen 58, 75, 85, 87, 99, 103, 109, 111f, 114, 121, 130f, 135, 139f, 142f, 148f, 160-162, 166, 183, 188f, 222f, 225, 227, 233, 263f, 267-269, 271f, 275, 291, 297, 299 Deskriptiv 241, 289 Despotie 122, 151 Deutscher Idealismus 3, 89 Deutschland, deutsch 13, 71, 88-91, 127, 147 Dialog 269 Diplomatie 109 Ehe 182 Ehre 206 Eigentum 77-81, 87, 130, 135 Ekklesiologie 237 England, englisch 13, 42, 51, 61, 71, 94, 101f, 127 Entwicklung 13, 109f, 115, 117, 144-146, 207, 251, 275, 278, 294 Enzyklopädie 237 Erfahrung 176f, 187 Erziehung 118, 133 Ethik 141-145, 149, 164, 181, 193f, 292 Exil 60 Familie 66, 84, 97, 101, 150, 182 Feind 248 Finanzen 134 Föderalismus 209
Sachregister
313
Fortschritt 62, 92, 102, 115, 206, 211, 247, 277f Frankreich, französisch 12f, 38f, 41, 45, 51f, 61, 70f, 88, 91f, 94, 112, 127, 208 – Französische Revolution 4, 10, 15, 30-36, 39-48, 57f, 61-64, 67, 72, 92, 94, 104, 107f, 157, 181, 208f, 230, 279, 293, 295, 298 Freiheit 30, 47, 50, 71, 73, 76f, 85, 87f, 9092, 101, 105, 112, 121, 139f, 145, 150, 160-162, 167, 171, 175f, 183f, 188, 190, 207, 209f, 233, 263, 278, 284, 299 – Freie Geselligkeit 87, 151, 172, 177, 186f – Freiheit der Meinungsäußerung 55-57, 93 – Freiheitsrechte 65f, 70, 76, 88, 99, 105f, 157, 183, 188, 277, 299 Frieden 126, 138, 201-212, 282 – Friedensbund 210 Frömmigkeit 237f Frühromantik 10f, 33, 40, 49
– Gesetzgebende Versammlung 127, 168, 171f, 178 – Gesetzgebung 127f, 158, 164, 209, 219f, 222 Gewalt 7, 59, 63f, 75, 81, 83, 87, 101, 104, 207, 224, 247-230, 252, 255, 283 – Gewaltenteilung 118, 162f, 165, 209 – Gewaltentrennung siehe Gewaltenteilung Gewissen 249, 253, 262f, 264f, 267, 293 – Gewissensentscheidung 254 – Gewissensfreiheit 198 Gewohnheitsrecht 214 Glaubensfreiheit 179f, 183 Gleichberechtigung 132f Gleichheit 125, 132f, 181, 187, 209 Gnadenbewusstsein 240 Gott 47, 238, 248 – Gottesgemeinschaft 240 Grundgesetz 228 Güter 143f, 192f
Gedächtnis, soziales 77 Gefühl 257 Gegensatz, Gegensätze 158f, 164, 166f, 174, 179, 218, 220 Geheimpolizei 56-58, 109, 182 Gehorsam 244, 266 Geist 158, 268 Geld 131, 210 Gemeinschaft 116, 196f, 216, 221, 225, 257, 265, 268f, 276f, 299 – Gemeinschaftlichkeit 151, 216f, 226 – Gemeingeist 130, 132, 134, 178f, 182, 196198, 295 – Gemeingefühl 123 – Gemeinsamkeit 259 – Gemeinwohl 52, 116, 127, 131f, 161f, 177f, 196, 199, 295 Gerechtigkeit 30, 208, 233, 253 Gericht 75, 134, 229, – Gerichtsbarkeit 134, 163, 230 Geschichte 88, 294 – Geschichtsphilosophie 43, 46f, 65, 207, 210 Geschworene 231 – Geschworenengerichte 230 Gesellschaftsvertrag 72f Gesetz 76, 78, 86f, 106, 122-125, 127, 130, 134, 136, 148-151, 160, 164, 185, 194, 215-227, 231, 259 – Gesetzesbruch 229
Handel 131, 137, 210 Handeln, Handlung 106, 111, 120f, 123, 142149, 190, 192f, 211, 238, 240f, 247, 251, 270, 299 Hausherrn 122, 150 – Hausvater 122, 150, Heer 113, 138, 202-204, 206 Herrschaft 87 – Herrschaftsvertrag 70 Hinrichtung des französischen Königs 34f, 41, 62f Historische Rechtsschule 102, 214 Höchstes Gut 106, 218, 266 Hof 166 Identität 150 Individualität 49, 124, 217, 268, 277, 299 Individuell 149f, 191, 226, 256 Individuum 72, 82, 90, 92, 99, 221, 226, 274, 276f, 292 Industrie 129 Interaktion 236, 274 Jakobinerherrschaft 31 Judentum 180, 198f – Judenemanzipation 180, 198, 213 Justiz 55, 229 Kinder 133 Kirche 151, 189-201, 265-267, 284f
314
Sachregister
Koalitionskriege 208 Kolonien 255 – Kolonialisierung 126 Kommunikation 27, 182, 190, 207f, 236, 255, 273-279, 283 Konfessionen 200 Konflikt 52, 129, 138, 184, 207, 223f, 263, 265f, 279, 288, 290, 292f, 296f, 299 Konservatismus, konservativ 40, 82, 89, 91f, 94-96, 102, 105, 214 Konstitutionalismus 91 Korruption 176 Krieg 48, 52f, 86, 114, 116, 136-138, 201212, 252-254, 257, 262f – Kriegsdienst 204, 253 – Kriegsdienstverweigerung 253, 263, 267 Krise 55, 98, 101 Kult, Kultus 195 Kultur, kulturell 82, 186, 207f, 215, 225, 227, 297 – Kulturstaat 284 Kunstlehre 119f Lebensregeln 239 Legitimität 247f Lehrverbot 110 Leidenschaft 246 Liberalismus, liberal 28, 31, 42, 66, 72, 82, 89, 91-96, 101f, 105, 156, 171, 214, 287f, 292, 299 – Liberaler Kommunitarismus 287 Liebe 109, 166f, 186 Linkshegelianer 94 Lust 240 Machtmissbrauch 117 Markt 72 Masse 181 Mehrheitsbeschlüsse 177 Mennoniten 180, 253 Menschheit 98f, 185f, 199, 263, 282 – Menschenrechte 254f Militärischer Geist 201f Ministerverantwortlichkeit 93 Misstrauen 116, 127, 178-183, 188, 207 Mode 41 Modernisierung 93 Monarchie, monarchisch 14, 91, 93, 102, 109f, 118, 124, 126, 162, 165-169, 171173, 296
Moral 207f, 211f Nationalstaat 3 – Nationalismus 90 – Nationalreichtum 132, 217 Natur 130, 149, 157f, 209 – Naturbildungsprozess 116, 118, 130f, 160f, 169, 185, 218f – Naturrecht, naturrechtlich 10, 65, 68-72, 76f, 214, 228 – Naturzustand 72f, 75-78, 83, 97, 252 Niederlande, niederländisch 127, 179 Normen, normativ 220, 228, 298 Notrecht 43 Nüchternheit, nüchern 116, 227, 297 Obrigkeit 118f, 122f, 125, 129, 150, 178, 196, 217, 224f, 258 Öffentlichkeit, öffentlich 113, 115, 121, 207, 230f, 268, 272, 274, 278f, 283, 286 – Öffentliche Meinung 96, 113, 128, 158, 165-173, 177, 197, 207, 230, 245 Ökonomie, ökonomisch 118, 168, 207, 211 Opposition 59, 171, 173, 184 Ordnung 94 Organisation 89, 183 – Organismus 66-68, 89, 120f, 153f, 157 – Organologisch 89-91, 152-154, 157 Österreich, österreichisch 41, Papsttum 200 Partizipation 89, 93, 173, 187, 286 Pathos 116, 155 Persönlichkeit 274 Petitionsrecht 168, Philosophische Ethik 239, 260-262 Physignomie 194 Physiologie, physiologisch 115, 119f, 152-154 Politik – Politikberatung 155, 289, 298 – Politische Gesinnung 23, 131-133, 184-189, 199 – Politische Verbrechen 135 – Politische Wirksamkeit 27 Polizei 55, 229f Positives Recht 70f Präskriptiv 289, 291, 298 Prävention 135, 231f Predigt 24, 113 – Predigten, politische 12, 23f Pressefreiheit 57, 93, 170, 230, 233
Sachregister Preußen, preußisch 10, 12, 15-22, 36f, 41, 50-56, 60, 62, 64, 95, 104, 109, 112, 117, 120, 213, 234f, 295 – Preußische Reformen 33, 63, 105, 171, 174, 213, 295 Privatinteresse 52, 116, 188, 196, 198, 219, 226, 295 Privatrecht 71 Privilegien 213 Protestantisch 200 Quäker 180, 253 Rache 134, 232 Radbruch sche Formel 71f, 227 Recht 70-73, 75-77, 84f, 100, 139, 209-235, 252, 255, 297 – Rechte des Einzelnen 31, 73, 255 – Rechtsgeschichte 234 – Rechtsphilosophie 234 – Rechtspositivismus 228 – Rechtsstaat 3, 72, 89, 93 Reform, Reformen 48, 55, 60, 91-93, 171, 228, 251, 277f Reformation 44, 270 – Reformatoren 250, 270 Regierung 80, 99-101, 127f, 135, 216, 249, 258 Reich Gottes 240, 262, 282-284 Reinigendes Handeln 243-255, 268-270, 273, 275 Religion 7, 39, 44f, 49, 55, 57, 87, 123f, 138, 180, 183, 186f, 190-201, 208, 295f – Religionsfreiheit 198, 294 Renaissance 89 Repräsentation 128, 165, 169, 172, 268, 271 Republik 38, 73, 209 Restauration 49, 81, 228 Revolution, revolutionär 11, 52f, 54-66, 70, 80-82, 101, 106, 112, 116, 135f, 170f, 183, 185, 219, 228, 230, 247f, 271, 275, 278, 294, 297f – Glorious Revolution 42, 44, 61, 65, 73f, 179 – Julirevolution 91 – Totalrevolution 43 Rhetorik 178, 181 Richter 60, 231 Romantik, romantisch 81, 89, 95f
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Römerbrief 244, 248, 250, 258, 260, 262, 280 Römisch-katholisch 200 Russland 12 Rüstung 203 Schule, schulisch 133, 190 Selbstbestimmung, Selbstbestimmungsrecht 71, 73 Selbstbewusstsein – Selbstbewusstsein, christlich frommes 240f – Selbstbewusstsein, unmittelbares 237 Selbsttätigkeit 263, Selbstunterscheidung 183, 198-200 Sicherheit 77, 100 Sitte 86, 101, 103, 122, 125, 139, 149, 151, 174, 176, 182, 194f, 220-227, 241, 255, 259, 297 – Sittenlehre 236-242 – Sittlichkeit, sittlich 43, 99f, 115f, 157, 265, 267, 270, 275-277 Sklaven 122, 150 Söldner 203f – Söldnerheer 203f Sophisten 180 Souveränität 70, 90 Sozialstaat 6 Spionage 58 Staat – Staatenbund 126 – Staatsformen 54, 124 – Staatskirche 265 – Staatstypen 52, 160-162 – Staatsverbesserung 246 – Staatsverteidigung 14, 53, 60, 129, 291 – Staatszweck 28, 65, 68, 215, 234 Stände 90, 177, 213 Steuern 134 Strafe, Strafen 135, 184, 231f, 243f Strafanzeige 244f – Strafgerichtsbarkeit 243, 245 – Strafrecht 134, 226, 231f, 291 – Strafvollzug 232 – Strafzweck 231f, 281 Subjektivität 264 Sündenbewusstsein 240 Systematische Theologie 237 Tapferkeit 138 Teilhabe siehe Partizipation
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Sachregister
Theokratie, theokratisch 180, 195, 198, 200 Theologische Ethik 239, 260-262 Theorie und Praxis 147 Todesstrafe 114, 134, 184, 244, 253, 267, 281 Tugend 260, 262, 272 Tyrannenmord 247f Überbevölkerung 133 Übergang 125, 149, 151, 218 Überzeugung 246, 250, 267, 283 Ungehorsam 244 Ungleichheit 125, 132f, 181 Universalmonarchie 126 Universalstaat 126, 186 Unlust 240 Unrecht 229f Unrechtsstaat 228 Untertan, Untertanen 118f, 122f, 125, 129, 150, 167, 176f, 184, 209, 213, 216f, 224, 245, 249 USA 70 Utilitarismus, utilitaristisch 81 Vaterlandsliebe 112, 201f, 227 Verantwortung 274 Verbesserung, verbessern 236, 247, 267, 283 Verbrechen 114, 231, 244f Verbreitendes Handeln 256-267 Verfassung 14, 57, 59, 66, 91, 100f, 103, 109f, 112, 116, 127f, 160-163, 166, 170f, 209, 230, 294 – Verfassungsstaat 3 Verhandlungsdemokratie 287 Verkehr, freier 251 Vermittlung 91 Vernunft 71, 76, 85, 92, 97, 106, 129, 149, 189, 192, 210, 218, 256 Verteidigung 84, 117f, 134, 137 – Verteidigungskrieg 252 Verteilung 132 Vertrag, Vertragstheorie 31, 43, 65f, 68, 70, 72, 77f, 81-88, 90f, 95f, 103-106, 116, 156f, 207-209, 217, 248f, 293 – Vertragsbruch 248f
Vertretung 127f Verwaltung 14, 93, 95, 117f, 129-133, 162, 164, 169, 171, 185f, 213, 234 Volk 68, 90, 98, 102, 109f, 215, 219, 225, 257, 297 – Völker 210, 256f – Völkerrecht 207, 209, 251f, 282 – Völkerwanderung 51, 197 – Volksfest 186 – Volksgeist 214 – Volksgemeinschaft 262 Vormärz 68, 94f Vorsehung 109 Wahlen 166 Wechselwirkung 118, 174, 191, 219f, 273f, 291 Wehrpflicht 253 Weltbürgerrecht 209f Weltrepublik 210 Widerstand 247f, 253f – Widerstandsrecht 53, 62, 71, 76, 80, 93, 95, 99-101, 103-105, 135, 251 – Widerstandstrieb 202 Wiederherstellendes Handeln 269 Wiederherstellung 247f Wille Gottes 262 Willkür 233 Wissen 124, 133, 140, 181f Wissenschaft 55, 87, 138, 141, 151, 180-183, 186f, 190, 197, 199, 296 – Wissenschaftssystematik 141-143 Wohlstand 131, 207 Würde 58, 71, 111, 147f, 166, 227f Zeitlosigkeit 155f Zensur 41, 55, 57, 113, 208, 230, 255, 275, 286 Zivilgesellschaft, zivilgesellschaftlich 7, 286288 Zunftwesen 131 Zwangsarbeit 231 Zwangszivilisierung 255 Zwei-Regimenten-Lehre 70