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German Pages 217 [220] Year 1988
de Gruyter Studienbuch
Wolfgang H. Pleger
Schleiermachers Philosophie
W DE
G 1988 Walter de Gruyter · Berlin · New York
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Pleger, Wolfgang H.: Schleiermachers Philosophie / Wolfgang H. Pleger. - Berlin; New York: de Gruyter, 1988 (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-011706-1
© 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck: Rotaprint-Druck W. Hildebrand, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany
Für Gabriele und Ines
Inhalt I.
Einleitung
l
II. Die Bildung einer „vernünftigen Natur" Das Verhältnis der Ethik zu Religion 1.
2.
3.
4.
und Kunst
12
Ethik - Die Einigung von Natur und Vernunft . . . . 1.1 Begründung und Ziel der Ethik l .2 Organisieren und Erkennen (Symbolisieren) als praktische, bzw. theoretische Vernunfthandlungen l .3 Der Begriff des Gesetzes in der Ethik und in der Physik
12 14
Philosophie versus Religion 2.1 Das Verhältnis von Religion, Metaphysik und Moral in den ,Reden über die Religion' 2.2 Gefühl, Wissen und Tun in der , Glaubenslehre*
31
Kunst - Die freie, symbolische Produktion 3.1 Naturproduktion und Kunstproduktion 3.2 Die Freiheit der Kunst und die Notwendigkeit im Bereich von Praxis und Theorie 3.3 Das „Ideal" als das im Kunstwerk „symbolisch" antizipierte Ziel von Praxis und Theorie
38 38
Zum Begriff „Natur" 4.1 Natur als Widerstand 4.2 Natur als „Wesen" 4.3 Natur als das „Ganze"
47 48 50 51
18 25
31 33
42 45
VIII
Inhalt
III. Die „Dignität" der Praxis - Zur Theorie der Geselligkeit, Pädagogik und Politik
53
1.
Zur Theorie der Gesellschaft und der Geselligkeit . . 1.1 Aspekte zu einer Theorie der Gesellschaft . . . . l .2 Die Theorie der Geselligkeit
53 53 57
2.
Die Erziehungspraxis und die pädagogische Theorie 2.1 Die Synthese der historisch-empirischen und der spekulativen Methode in der pädagogischen Theorie 2.2 Reflexion auf die anthropologischen und ethischen Voraussetzungen der Erziehung und die Vorläufigkeit der pädagogischen Theorie 2.3 Das Verhältnis der Pädagogik zur Politik und die Beseitigung der klassenbedingten Ungleichheit als Forderung der pädagogischen Theorie 2.4 Reflexion auf die Mittel einer „besonnenen" Praxis und das Problem ihrer Anwendung 2.5 Die Funktion der pädagogischen Tätigkeiten für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft 2.6 Die „Organisation der Erziehungseinrichtungen" im Hinblick auf das Erziehungsziel Mündigkeit
62
3.
4.
62 66 70 78 82 89
Die Staatslehre' - Eine Theorie in praktischer Absicht 3.1 Reformzeit und Restauration als politischer Hintergrund der , Staatslehre* Schleiermachers 3.2 Die Begrenzung der Theorie des Staates 3.3 Die konsumtiven Merkmale des Staates und die Beschränkung seines Einflusses 3.4 Zur Theorie der Staatsbildung 3.5 Die Aufgaben der Staatsverwaltung 3.6 Innere und äußere Staatsverteidigung
110 117 124 127
Thesen zur Theorie der Geselligkeit, Pädagogik und Politik
130
104 104 108
Inhalt
4.1 Zur Theorie der Geselligkeit 4.2 Zur Pädagogik 4.3 Zur Politik
IV. Eine Theorie des Gesprächs Der Zusammenhang von Anthropologie, Dialektik und Hermeneutik 1.
2.
3.
4.
Die anthropologischen Voraussetzungen des Gesprächs l. l Die Entwicklung des Ichs im Zusammenhang des Spracherwerbs l .2 Rezeptivität und Spontaneität als erkenntnisbildende „geistige Thätigkeiten" 1.3 Subjektive und intersubjektive Wahrheit Dialektik - Die Bildung eines gemeinschaftlichen theoretischen und praktischen Wissens 2.1 Dialektik als Kunst der Gesprächsführung . . . . 2.2 Denken und Handeln 2.3 Denken und Sein - der transzendente Grund . . 2.4 Die anthropologische Wende 2.5 Die Konstruktion eines allgemeinverbindlichen Wissens 2.6 Logik und Dialektik 2.7 Geschichte und Dialektik Hermeneutik - Über Reden und Verstehen im Gespräch 3.1 Die Begründung der Hermeneutik als Wissenschaft 3.2 Hermeneutik und Rhetorik als komplementäre Disziplinen der Dialektik 3.3 Die Methode der Hermeneutik Thesen zur Theorie des Gesprächs 4.1 Zur Anthropologie 4.2 Zur Dialektik 4.3 Zur Hermeneutik
IX
130 131 132
134 135 136 139 141 144 144 149 152 156 159 163 167 172 172 175 179 186 187 187 188
X
Inhalt
Literaturverzeichnis
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Register
202
Namenregister Sachregister
202 203
I. Einleitung Der seit einigen Jahren unternommene Versuch einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie* - so der Titel eines zweibändigen, von M. Riedel1 herausgegebenen Werkes - geht von der Überlegung aus, daß diese ihren ihr angemessenen Platz in der Philosophie eingebüßt habe. Tatsächlich ist sie weder in ihrer aristotelischen Gestalt, noch in der ganz anders gearteten kantischen unangefochten geblieben.2 Der aristotelischen Auffassung der praktischen Philosophie schienen zwei Mängel anzuhaften, die seit der frühen Neuzeit nicht mehr hingenommen werden. Für Aristoteles ist die menschliche Praxis eingebettet in eine als selbstverständlich akzeptierte Polissittlichkeit, die sich um den Begriff „ethos" zentriert. Das „ethos" ist ein sittliches Sein, nicht aber ein davon unterschiedenes Sollen. Sein Grundsatz lautet: „Wir werden gerecht, indem wir gerecht handeln." Jeder Versuch aber, Sollenssätze aus einem vorgegebenen Sein abzuleiten, setzt sich seit Hume dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses aus. Der zweite Mangel wurde in der von Aristoteles selbst eingeräumten fehlenden Strenge der praktischen Philosophie gesehen. Die praktische Philosophie hat es weder mit dem Ewigen und Unwandelbaren des Kosmos zu tun, noch mit dem, das den Grund seiner Änderung in sich selbst hat, wie alles Natürliche, sondern mit dem, das sich so und anders verhalten kann. Die wechselnden Verhältnisse menschlicher Praxis entziehen sich der Strenge der theoretischen Philosophie. Im Feld der Praxis ist stets eine „phronesis" maßgeblich, die man als eine situationsbezogene praktische Urteilskraft bezeichnen könnte. Dazu kommt, daß 1
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M. Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Freiburg 1972 Bd. l, 1974 Bd. 2 H. G. Gadamer: Kleine Schriften I. Philosophie, Hermeneutik. Tübingen 1967. S. 179-191
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Einleitung
praktische Philosophie selbst aus der Perspektive der Praxis erfolgt. Sie ist praktisch interessiert.3 Diese beiden als Mängel angesehenen Aspekte der aristotelischen Philosophie bilden den Hintergrund für den in der Neuzeit einsetzenden Versuch, die praktische Philosophie der am naturwissenschaftlichen Methodenideal orientierten theoretischen Philosophie ein- und unterzuordnen. Prägnant zeigt sich dieser Versuch bei Hobbes, der die These vertritt, daß es vom gesellschaftlichen Körper eine ebenso strenge Wissenschaft geben könne wie von allen natürlichen. Von diesem Ansatz aus ist es im Schatten der Erfolge der experimentellen Physik kein weiter Weg, eine Art soziale Physik zu entwickeln, die schließlich einmündet in das Konzept einer Sozialtechnologie. Die Devise für den Umgang mit dem gesellschaftlichen Körper erfolgt unter dieser Perspektive am Gedanken der Zweckrationalität. Ausgeklammert bleibt dabei allerdings die Frage der Begründung und Rechtfertigung der Zwecke selbst.4 Die Verkürzung der Fragen der praktischen Philosophie auf solche der Technik des Handelns und die aporetische Situation hinsichtlich der Bestimmung von Zwecken bilden ein entscheidendes Motiv für den Versuch einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Die andere Linie der praktischen Philosophie, die sich an Kant anschließt, scheint der genannten Gefahr nicht zu unterliegen. Gleichwohl schien auch sein Ansatz m eine Aporie zu führen. Wurde Aristoteles gegenüber der Vorwurf einer unzulässigen Vermischung von Sein und Sollen erhoben, so gegenüber Kant der einer zu radikalen Trennung beider. Hat es die praktische Vernunft mit einer Idee zu tun, so ist Idee im Sinne Kants gerade dadurch ausgezeichnet, nicht natürlich gegeben und empirisch aufweisbar zu sein. Den Hiatus von Sein und Sollen hat Kant in seinen späten geschichtsphilosophischen Schriften dadurch zu
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4
J. Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt a. M. 1977 G. Bien: Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles. Freiburg/ München 19802 M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 19683
Einleitung
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überwinden gesucht, daß er von einer Natur sprach, die selbst vernünftige Absichten verfolgt.5 Zugespitzt wird dieser Gedanke in Hegels Theorie, daß Vernunft und Geschichte identisch seien. Die Philosophie hat es - so Hegel - mit einer Idee zu tun, die nicht so schwach ist, nur zu sollen und nicht auch zu sein.6 Vielmehr durchdringt und bildet die Idee die Wirklichkeit. Die Idee der Freiheit, auf deren Verwirklichung die Geschichte hinausläuft, ist zunächst nur Möglichkeit, aber eine solche, die als „dynarnis", als „Potenz", Anlagen hat, die sich verwirklichen.7 In dieser Weise ist menschliches Handeln in der Geschichte der sich verwirklichenden Idee aufgehoben. Die Idee verwirklicht ihr vernünftiges Ziel im Rücken der Menschen, trotz und sogar mit Hilfe ihrer egoistischen Handlungen. Das vernünftige Ziel ist daher auch nicht Gegenstand eines moralischen Appells. Hegels Philosophie ist theoretisch, sie sieht zu, wie sich die Sache selbst entwickelt, und tut sich die „Gewalt" an, nichts von dem eigenen „Meinen" oder „Wollen" hinzuzutun.8 Sie kann, ja sie muß theoretisch sein, insofern sie es mit der absoluten, d.h. alles bestimmenden Idee zu tun hat. Demgegenüber ist Schleiermachers Philosophie in allen ihren Teilen eine Philosophie der Praxis. Sie ist Philosophie aus der Perspektive und im Interesse der Praxis. Sie nimmt gegenüber Kant und Hegel eine eigenständige dritte Position ein. Dabei hält sie weder an dem Gedanken einer unüberwindlichen Trennung von Sein und Sollen fest, noch aber beruhigt sie sich im Vertrauen auf eine sich über die Köpfe der Menschen hinwegsetzende und sich durchsetzende Idee. Der Begriff Praxis bietet den Leitfaden, der sich durch alle philosophischen Schriften Schleiermachers zieht und von dem her sein eigener philosophischer Ansatz deutlich wird. Unter dieser Voraussetzung wird ein Zusammenhang sichtbar, der die scheinbar heterogenen Teile seines Werkes zu einer Einheit ver5
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I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Akademie-Ausgabe. Bd. 8. Berlin 1968 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1. Theorie-Werkausgabe. Bd. 8. S. 49 ders. Bd. 12, S. 78 ders. Bd. 7. S. 86
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Einleitung
bindet. Die vielfältigen Aspekte des Werkes Schleiermachers sind bislang in der Regel nur getrennt zur Kenntnis genommen und untersucht worden. Es sind vor allem folgende: Da ist zunächst der Theologe Schleiermacher, der mit seinen Reden ,Über die Religion* ,an die Gebildeten unter ihren Verächtern' ebenso Aufsehen erregte wie mit der für die protestantische Theologie grundlegenden ,Glaubenslehree. Daneben, und gegenüber der Theologie völlig unabhängig, ist Schleiermachers Ruf als klassischer Philologe zu erwähnen, dem vor allem die wichtige Übersetzung der platonischen Dialoge zu verdanken ist. Drittens aber hat er als Hauptbegründer der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik Beachtung gefunden. Ihm kommt das Verdienst zu, über die fachbezogenen Auslegungslehren hinaus eine allgemeine Hermeneutik entwickelt zu haben. An ihn knüpft Diltheys Versuch der hermeneutischen Begründung der Geisteswissenschaften an, und von dort führt eine direkte Linie zu Heideggers ,Sein und Zeit* und weiter zu Gadamers philosophischer Hermeneu-
tik" Schließlich ist Schleiermachers bedeutsame Stellung in der Geschichte der Pädagogik zu erwähnen, die um so wichtiger wird, je mehr sich Erziehungswissenschaft als Handlungswissenschaft zu begründen sucht. Wenig beachtet blieb jedoch Schleiermachers philosophisches Hauptwerk, die ,Dialektik', die im Anschluß an die platonische Philosophie von ihm als eine Theorie des Gesprächs9 entwickelt wurde. Sein Veständnis von Dialektik unterscheidet sich deutlich von dem Kants, Fichtes oder Hegels. Das Subjekt, das Schleiermachers Dialektik thematisiert, ist weder ein transzendentales Subjekt, noch ein reines Ich oder der absolute Geist, sondern es handelt sich um konkrete, natürlich und geschichtlich situierte Sprecher, wie sie z.B. auch in den platonischen Dialogen auftreten. Indem Schleiermacher sowohl die Ebene der transzendentalen wie der absoluten Subjektivität verläßt und die der endlichen, vielfältig bedingter individueller Personen betritt, gibt er einerseits 9
F. Kaulbach: Schleiermachers Idee der Dialektik. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. Bd. 10. H. 3. Berlin 1968. S. 225-260
Einleitung
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den Anspruch jeder absoluten Systemkonstruktion auf, zugleich aber eröffnet sich mit seinem Ansatz die Möglichkeit einer Geschichte des philosophischen Gesprächs, in die alle als endgültig auftretenden Theorien und Systeme argumentativ einbezogen werden können. Schleiermacher begründet sein Konzept der Dialektik mit der Überlegung, daß es angesichts der Existenz zahlreicher, miteinander konkurrierender Systeme nicht sinnvoll sei, diese Vielfalt durch die Konstruktion eines weiteren Systems zu vermehren oder gar überbieten zu wollen. Statt dessen sei es sinnvoller, eine „Kunstlehre des Streitens" zu entwickeln. Das Ziel des Gesprächs sei es, aus der Situation der Differenz herauszuführen und ein für alle verbindliches Wissen zu erreichen. Die Bildung eines allgemeinverbindlichen Wissens ist dann auch nicht mehr der nur monologisch vertretene Anspruch auf Allgemeinheit des einzelnen Denkers, sondern eine wirklich gemeinsam erzielte Allgemeinheit. Das Gespräch ist jedoch nicht nur der Ort der Überwindung theoretischer Differenzen, sondern ebenso der praktischer Fragen. Dialektik als Gesprächstheorie verbindet theoretische und praktische Fragen und erstrebt eine übergreifende Allgemeinverbindlichkeit in theoretischer und praktischer Hinsicht.10 Schleiermachers Philosophie der Praxis ist dadurch gekennzeichnet, daß er das geläufige Begriffspaar „Theorie und Praxis" umkehrt und den Primat der Praxis betont. Der Begriff Praxis bildet sowohl den Leitfaden für seine praktische Philosophie im engeren Sinne, zu der seine Überlegungen zu einer Theorie der Geselligkeit, der Pädagogik und Politik gehören, als auch seiner theoretischen Philosophie, d. h. Psychologie, Dialektik und Hermeneutik. Die Formel ,Praxis und Theorie' meint daher im folgenden stets den Themenbereich der Philosophie Schleiermachers. Praxis ist für Schleiermacher eine vor aller Theorie immer schon vorhandene selbstverständliche Wirklichkeit, die jedoch keineswegs völlig gedankenlos sich vollzieht. Vielmehr sind in ihr vortheoretische Elemente in der Form von „gnomen", „Senten10
J. Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1984. S. 127-183
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Einleitung
zen" und „Maximen" enthalten. Sie wird auch nicht durch Theorie konstruiert oder initiiert, sondern bewußt gemacht. Praxis hat vor aller Theorie ihre eigene „Dignität", wie er in seiner ,Pädagogik* ausführt. In dem Maße nun, in dem die Praxis bewußt gemacht wird und die vortheoretischen Elemente sich zu einem theoretisch begründeten Zusammenhang von Aussagen fortentwickeln, ändert sich, der gewachsenen theoretischen Einsicht entsprechend, die Praxis. Appelle, moralische Vorschriften, Gesetze, die diesen Weg nicht beschreiten, sondern gewissermaßen von außen die Praxis zu ändern trachten, erreichen nicht ihr Ziel, sondern führen zu Widerstand und im politischen Bereich zur Mißachtung der Gesetze oder gar zur Revolution. Betrachtet man dieses Verständnis von Praxis unter dem Gesichtspunkt der Ethik, so läßt sich sagen, daß Schleiermacher nicht das Konzept einer Imperativischen Ethik vertritt, d. h. einer solchen, in deren Zentrum Sollenssätze stehen, sondern das einer bildenden. Seine Überlegung ist, daß Ethik, wenn sie den Menschen erreichen soll, von einem in jedem Menschen vorauszusetzenden vernünftigen „Minimum" auszugehen habe. Dieses vernünftige „Minimum" gelte es weiterzuentwickeln und fortzubilden. Mit diesem Gedanken ist zugleich etwas über Schleiermachers Methode ausgesagt. Sie ist dadurch charakterisiert, daß sie, ausgehend von dem Interesse an einer vollkommenen Identität von Natur und Vernunft, die sich in der Wirklichkeit zeigenden Gegensätze beschreibt. Dabei wird deutlich, daß die Gegensätze niemals rein vorkommen. Stets ist ein „Minimum" der einen Seite bereits in der anderen enthalten. Die Verwirklichung der Identität läßt sich unter dieser Voraussetzung als eine fortschreitende „Durchdringung" beider Seiten verstehen. Wie also z. B. in jeder wirklichen Praxis bereits theoretische Elemente enthalten sind, ist jede theoretische Aussage Teil einer wirklichen Gesprächspraxis. Selbst das Denken hat nur Wirklichkeit, wenn es als Tätigkeit eines natürlich und geschichtlich situierten Menschen verstanden wird. Als Denktätigkeit ist es ein „inneres Sprechen", das sich in der geäußenen Rede vollendet. Für die Darstellung der Philosophie Schleiermachers ergibt sich, der skizzierten Problemstellung entsprechend, folgende Gliederung:
Einleitung
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In dem der Einleitung folgenden zweiten Teil soll Schleiermachers Philosophie zunächst im Kontext der frühen Entwürfe zur Ethik begründet und gegen die von ihm unterschiedenen Bereiche Religion und Kunst abgegrenzt werden. Die Ethik steht, der antiken besonders der stoischen Einteilung der Philosophie folgend, der Physik gegenüber. Schleiermacher greift dieses Verhältnis auf und betont, seinem Ansatz folgend, daß es auch die Ethik mit Natur zu tun habe und nicht nur mit Sätzen der reinen praktischen Vernunft. Die Aufgabe der Ethik sei die Fortbildung einer immer schon minimal vernünftigen Natur. Daher bilden auch Ethik und Physik keinen unüberwindbaren Gegensatz. Ethik im Sinne Schleiermachers ist die Theorie der Bildung einer „vernünftigen Natur". Diesem Ziel entsprechend umfaßt sie den Bereich der theoretischen und der praktischen Vernunft. Gegen dieses Feld grenzt Schleiermacher nun jedoch Religion und Kunst ab. Das Kriterium der Abgrenzung liegt in der unterschiedlichen Bedeutung der Freiheit, die sie in ihnen spielt. Im Bereich der Ethik ist Freiheit nicht uneingeschränkt vorhanden, aber auch nicht völlig negiert. Anderes gilt für die Religion. Religion ist „das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit".11 Als Gefühl ist sie etwas Passives und unterscheidet sich schon deshalb von theoretischer und praktischer Aktivität. Gleichwohl bildet das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit den niemals völlig auszublendenden Hintergrund für Praxis und Theorie. Das religiöse Gefühl selbst entzieht sich umgekehrt der theoretischen Durchdringung und der moralischen Normierung. In Praxis und Theorie gibt es nicht ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, sondern ein „geteiltes", d. h. ein Gefühl der Abhängigkeit und der Freiheit. Ist Religion der Bereich, in dem die Freiheit völlig negiert ist, so ist sie in dem der Kunst in höchstem Maße zu Hause. Produkte der Kunst sind Werke der Freiheit. Gleichwohl hat die Kunst eine wichtige Bedeutung für Praxis und Theorie. Sie kann nämlich das Ziel von beiden, die Identität von Natur und Vernunft, symbolisch antizipieren. 11
F. D. E. Schleiermacher: Glaubenslehre. Berlin 1960. S. 27-30
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Einleitung
Religion und Kunst bilden so die äußersten Extreme, innerhalb derer sich Schleiermachers Philosophie bewegt. Sie sind repräsentiert durch „das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit" einerseits und die völlig freie, die Identität von Natur und Vernunft allerdings nur symbolisch antizipierende, künstlerische Produktivität andererseits. Der dritte Teil thematisiert Fragen der praktischen Vernunft in den Bereichen Geselligkeit', Pädagogik und Politik. ,Geselligkeit' ist für Schleiermacher der Bereich in der Gesellschaft, in dem ohne äußeres Reglement sich sowohl Individualität als auch Gemeinschaft darstellen und bilden kann. Seine Theorie der ,Geselligkeit' verkörpert, allerdings in einem von äußeren Einwirkungen geschützten Freiraum, am deutlichsten die konkrete Utopie der von ihm angestrebten Gesellschaft. Bei seinen Überlegungen zur Pädagogik fällt besonders ihr durchgängiger Bezug zu politischen Fragen auf. Das entscheidende Ziel der Erziehung ist die „Mündigkeit" der nachwachsenden Generation. Sie beginnt mit dem Spracherwerb, der Wekkung und Entwicklung einer kommunikativen Kompetenz und endet in der politischen Mündigkeit des erwachsenen Bürgers. Die Regierungsform, in der die politische Mündigkeit ihren angemessenen Ausdruck finden kann, ist für Schleiermacher die Demokratie. In dieser Perspektive behandelt er auch seine ,Staatslehre'. Das Ziel ist es, den im Bereich der Politik sich zeigenden Gegensatz von Regierenden und Regierten aufzuheben. Schleiermachers Denken ist geschichtlich situiert zwischen der Französischen Revolution12 mit ihren Ausstrahlungen auf ganz Europa, den Reformen13, die ab 1807 in Preußen unternommen wurden, und der spätestens ab 1819 einsetzenden Restauration. Politisch gesehen ist Schleiermacher ein Denker der Reform und des „demokratischen Prinzips". Sein öffentliches Eintreten für politische Reformen führten zu einem Konflikt mit der Zensurbehörde, und er
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E. Weis: Frankreich von 1661 bis 1789. In: Handbuch der Europäischen Geschichte. Hrsg. von Th. Schieder. Bd. 4. Stuttgart 1968 R. Koselleck: Preußen zwischen Revolution und Reform. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart 1967
Einleitung
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entging nur knapp einer Dienstentlassung und einer Verweisung des Landes. In den Bereichen ,Geselligkeit', Pädagogik und Politik läßt sich durchgängig der Grundgedanke seiner praktischen Philosophie nachweisen. Überall geht es darum, von der gegebenen Praxis auszugehen und in ihrem Interesse eine Theorie zu entwickeln, die zu einer Vervollkommnung der Praxis führt. Zugleich wird durch die theoretische Reflexion der innere Zusammenhang der unterschiedlichen Felder der Praxis deutlich. In dem vierten Teil geht es um das Problem der Theoriebildung oder, in den Worten Schleiermachers, um die Frage der Bildung eines allgemeinverbindlichen Wissens. Dabei zeigt es sich, daß das Verhältnis von Praxis und Theorie sich hier keineswegs umkehrt, sondern in modifizierter Weise sich fortsetzt. Die Bildung eines allgemeinverbindlichen Wissens erfolgt in der Praxis des Gesprächs, und daher kommt es darauf an, die immer schon bestehende Gesprächspraxis bewußt zu machen, für sie eine Theorie zu entwickeln, so daß sie auf diese Weise über sich selbst belehrt ihre Aufgabe besser erfüllen kann. Um eine Kunstlehre des Gesprächs zu entwickeln, ist es sinnvoll, sich über die Eigenart der Subjekte des Gesprächs zu verständigen. Teilnehmer des Gesprächs sind natürliche Sprecher, Personen. Schleiermacher spricht über sie in seiner ,Psychologie', die zugleich seine Anthropologie ist. Er begreift den Menschen aus dem Miteinander organischer und geistiger Tätigkeiten. Das Miteinander läßt sich angemessen nur in der Perspektive der Entwicklung des Menschen deuten. In ihr stellt die Stufe, auf der das Individuum „Ich" sagen kann, einen bedeutsamen Einschnitt dar. Mit ihr erwacht das Selbstbewußtsein. Dieses eröffnet die Möglichkeit des Verhältnisses des Menschen zu sich und zu anderen Personen. Das Ich-Sagen ist ein wesentliches Moment des Spracherwerbs und zugleich die entscheidende Voraussetzung für die Teilnahme am Gespräch. Damit sind also zugleich die anthropologischen Voraussetzungen der Dialektik angesprochen. Es wäre aber falsch anzunehmen, die Psychologie bzw. Anthropologie bildete die systematische Grundlage der Dialektik. Einer solchen Interpretation läge die Annahme zugrunde, daß Schleiermacher nun doch ein philosophisches System entwickelt hätte, das in der Anthro-
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Einleitung
pologie sein Fundament hätte. Das Zentrum der Philosophie Schleiermachers liegt in seiner Dialektik, die selbst aber nicht als System, sondern als „Kunstlehre des Streitens" auftritt. Alle Aussagen, also auch die anthropologischen, müssen ins Gespräch einbezogen werden. Sie können und bleiben daher bis auf weiteres dem Streit ausgesetzt. Die Dialektik umfaßt zwei ihr zugehörige und ihr untergeordnete Disziplinen: die Rhetorik und die Hermeneutik. Das mittelalterliche Trivium der septem artes liberales ,Grammatik, Rhetorik, Dialektik' erfährt bei Schleiermacher am Leitfaden der Dialektik eine Modifikation, zugleich aber einen begründeten Zusammenhang. Jedes Gespräch konstituiert sich im Wechsel von Reden und Verstehen. Ihnen sind die Disziplinen Rhetorik und Hermeneutik zugeordnet. Der Gedanke, daß die Hermeneutik ihren Ausgangspunkt in dem Verstehen einer in einem Gespräch geäußerten Rede hat, betont Schleiermacher mit besonderer Deutlichkeit. Das Verstehen von Texten ist demgegenüber sekundär. Ja, die ursprüngliche hermeneutische Situation innerhalb eines Gesprächs bestimmt auch noch die Art des Verstehens von Texten. Schleiermacher macht nämlich darauf aufmerksam, daß es darauf ankomme, mit dem Autor des zu verstehenden Textes in einen fiktiven Dialog einzutreten und an ihn ebenso Fragen zu richten, wie sich von ihm in Frage stellen zu lassen. Dieser dialogische Ansatz zeigt, daß sich Schleiermacher mit seiner Hermeneutik keineswegs nur in einem psychologischen Rahmen bewegt. Schleiermachers Philosophie der Praxis zentriert sich um zwei Gedanken, die miteinander verbunden sind. Der Grundgedanke ist, daß die Praxis eine immer schon mit vortheoretischen Elementen durchzogene Wirklichkeit ist. Für sie, d. h. zu ihrer Vervollkommnung, ist eine Theorie zu entwickeln. Der zweite, daran anschließende Gedanke ist, daß alle Aussagen theoretischer oder praktischer Art, einschließlich solcher über das Verhältnis von Theorie und Praxis, sich auf dem Forum des Gesprächs darzustellen haben. Das Gespräch ist selbst eine besondere Form der Praxis, für die ebenfalls eine Theorie, die Dialektik zu entwickeln ist. Aus dieser Überlegung scheint sich nun jedoch unter systematischem Aspekt ein Dilemma zu ergeben. Entweder nämlich werden die von Schleiermacher entwickelten Grundsätze der
Einleitung
11
Dialektik als dogmatische, unhintergehbare Letztbegründungen angenommen, und das hieße, daß an dieser Stelle das Gespräch abgebrochen wird, oder aber es entsteht das Problem der iterativen Reflexion, d.h. der immer neuen Bildung von Metatheonen.14 Schleiermacher wählt einen dritten Weg. Die Grundsätze der Dialektik sind nämlich selbst zurückzubeziehen in die Praxis des Gesprächs. Das Gespräch erfüllt also zweierlei Aufgaben. Zum einen bildet sich durch es ein allgemeinverbindliches theoretisches und praktisches Wissen, zum anderen aber stellt es den Ort seiner Selbstthematisierung, d.h. auch seiner eigenen Grundsätze dar. Die Dialektik hat also, da ihre Grundsätze ebenfalls im Gespräch zur Disposition gestellt werden können, einen vorläufigen Charakter. Die dem Gespräch selbst zukommende Reflexivität ist es also, die vor den Aporien des genannten Dilemmas bewahrt. Bei der Darstellung der Philosophie Schleiermachers wird der Versuch gemacht, möglichst textnah der zum Teil weit verzweigten Argumentation zu folgen, ihn selbst durch Zitate ausreichend zu Wort kommen zu lassen und alle eigenen Behauptungen nach Möglichkeit zu belegen. Am Ende der Teile II, III und IV werden die Ergebnisse thesenartig zusammengefaßt.
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K. O. Apel: Transformation der Philosophie II. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M. 1973. S. 358-436 H. Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 19804. S. 8-28
II. Die Bildung einer „vernünftigen Natur" Das Verhältnis der Ethik zu Religion und Kunst Die Begründung der Ethik erfolgt bei Schleiermacher nicht durch den Hinweis auf ein unveränderliches Fundament, sondern durch die Verdeutlichung eines Geschehens. Die zur Bezeichnung dieses Geschehens gebrauchten Begriffe „Natur" und „Vernunft" verwendet er zunächst hypothetisch; sie haben den Charakter einer „Meinung", die sich im fortschreitenden geschichtlichen und wissenschaftlichen Prozeß bewähren muß. Die Methode zur Überwindung des genannten Gegensatzes läßt sich mit Hilfe des Begriffspaars „Organisation - Symbolisierung" näher bestimmen. Es repräsentiert das Verhältnis von praktischen und theoretischen Vernunfthandlungen. Dieses Verhältnis wird anschließend gegen andere Aspekte und Erfahrungen der Wirklichkeit abgegrenzt. Weder sind Praxis und Theorie mit dem vornehmlich in der Religion beheimateten „Gefühl" identisch, noch mit der „Kunsttätigkeit". Von beiden unterscheiden sie sich durch ihr grundsätzlich anderes Verhältnis zur Zeit und zur Geschichte. Unter Berücksichtigung dieser Differenz wird daher schließlich das Verhältnis von Praxis und Theorie in den Zusammenhang von Natur und Vernunft gestellt.
l. Ethik - Die Einigung von Natur und Vernunft Schleiermacher behandelt die Frage nach dem Verhältnis der praktischen zur theoretischen Vernunft in seinen frühen philosophischen Schriften am Leitfaden der Ethik. Seit seinen „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" von 1803 hat Schleiermacher bis zu seinem Tode eine Vielzahl verschiedener, immer wieder modifizierter, aber unabgeschlossen gebliebener Entwürfe zu einer eigenen Ethik gemacht. Was sich bei diesen verschiede-
Ethik - Die Einigung von Natur und Vernunft
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nen Entwürfen durchhält, ist ein dreigliedriger Aufbau der Ethik in ,Güterlehre', ,Tugendlehre' und ,Pflichtenlehre'. Ihm liegt der Versuch zugrunde, die antiken ethischen Konzeptionen mit der Kants zu verbinden.1 Die jGüterlehre* behandelt die elementaren ethischen Funktionen der „Organisation" und der „Symbolisierung" und eine Lehre der „vollkommenen ethischen Formen", zu denen Schleiermacher „Familie", „freie Geselligkeit", „Staat", „Wissenschaft" und „Kirche" rechnet. Die ,Tugendlehre' enthält nach dem Entwurf von 1812/13 die „Weisheit" und die „Liebe" als Tugenden der „Gesinnung" und die „Besonnenheit" und die „Beharrlichkeit" als Tugenden der „Fertigkeit". Die jPflichtenlehre' verzeichnet nach dem Entwurf von 1814/16 die „Rechts-", „Berufs-", „Gewissens-" und „Liebespflicht". Für das Verhältnis von Praxis und Theorie sind die allgemeine Begründung der Ethik als Wissenschaft und ihre Abgrenzung gegenüber Physik und der übergeordneten Dialektik sowie die elementaren ethischen Funktionen von besonderem Interesse. In diesem Zusammenhang ist auch der in der Ethik und in der Physik gebrauchte Gesetzesbegriff zu erörtern.
Bei dem im folgenden zitierten 2. Band der von O. Braun und J. Bauer hrsg. ,Auswahl in vier Bänden' handelt es sich um eine „kritische Originalausgabe", während die drei übrigen Bände Wiederabdrucke aus den ,Sämdichen Werken' darstellen. Vgl. ,Ethik . S. VII. Vgl. auch F. D. E. Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06). Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun. Hrsg. u. eingel. von H. J. Birkner. Hamburg 1981 (Brouillon) und F. D. E. Schleiermacher: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun. Hrsg. u. eingel. von H. J. Birkner. Hamburg 1981. Eine Darstellung ,Kritik der Sittenlehre' in ihrem philosophiegeschichtlichen Kontext liegt vor bei E. Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher. Gütersloh 1974. Ferner H. Beintker: Die ,Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre' als Quelle für Schleiermachers Ansatz des ethischen Universalsysterns. In: Schleiermacher-Archiv. Hrsg. von H. Fischer (u.a.) Bd. 1. Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hrsg. von K. V. Selge. Berlin/New York. Teilbd. 1. 1985. S. 313-332 (Schleiermacher-Archiv. Bd. 1,1)
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
l. l Begründung und Ziel der Ethik Die Wissenschaft von der Bildung einer „vernünftigen Natur" ist die Ethik. In seinen Aufzeichnungen zur Ethik von 1812/13 weist Schleiermacher auf die Schwierigkeiten der Begründung einer wissenschaftlichen Ethik hin. Die Prinzipien der Ethik müssen, wie die aller anderen Wissenschaften, aus einer obersten Wissenschaft abgeleitet werden. Als oberste Wissenschaft bezeichnet Schleiermacher die „Dialektik". Bei dem Versuch der Ableitung taucht jedoch das Problem auf, daß die Dialektik selbst noch unvollendet ist.2 Diese Erkenntnis führt nun nicht zu dem Verzicht einer Ableitung, sondern zu der Einsicht, daß jede Ableitung bis zur Vollendung der Dialektik einen vorläufigen Charakter hat. Ethik und Dialektik befinden sich in einem voneinander abhängigen Prozeß der Vollendung. Die Ethik muß daher auch darauf verzichten, „einen unmittelbar gewissen Saz an ihre Spize" zu stellen, d. h. kein der Dialektik entlehnter Satz kann den Anspruch absoluter Gültigkeit erheben.3 Schleiermacher bedenkt noch eine zweite Möglichkeit, einen Anfangspunkt für die Ethik zu finden. Er liegt in dem Rückgriff auf die Geschichte der Ethik als Wissenschaft. In seinem ethischen Erstlingswerk ,Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre' hatte Schleiermacher diesen Ansatz gewählt. Das Unbefriedigende dieses Versuchs sieht er jedoch selbst darin, daß es gar nicht möglich ist, ohne jede Kenntnis des Begriffs der betreffenden Wissenschaft ihre Geschichte schreiben zu wollen.4 Daher kommt es zunächst darauf an, sich bewußt zu machen, was man bereits über die jeweilige Wissenschaft weiß. Dieses Wissen ist weniger als die vollendete Wissenschaft, die ja erst erstellt werden soll, aber mehr als ein absolutes Nichtwissen. Dabei handelt es sich um das Wissen, wie es „durch das gemeine Leben und die gemeine Kritik" gegeben ist.5 Die Prinzipien dieses Wissens lassen sich durch das Gegensatzpaar „Natur und Vernunft" wiedergeben, denen die Wissenschaften Physik und Ethik 2 3 4 5
Ethik II, S. 245 a.a.O., S. 245 a.a.O., S. 246 a.a.O., S. 246
Ethik - Die Einigung von Natur und Vernunft
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zugeordnet werden können. Unter Ethik versteht Schleiermacher die Wissenschaft vom „Handeln der Vernunft auf die Natur", wie es dem allgemeinen Verständnis entspricht. Doch setzt er auch das Wissen des „allgemeinen Lebens" nicht absolut; denn dieses Wissen muß ebenfalls durch die Dialektik im Zuge ihrer fortschreitenden Vollendung gerechtfertigt werden. Solange das nicht geschehen ist, kann auch die Aufstellung des Gegensatzes von Natur und Vernunft nur als „Meinung" auftreten.6 Physik und Ethik und die beide übergreifende Dialektik bleiben aufeinander bezogen und können daher nur in paralleler Fortschreitung vollendet werden. Die in der Ethik vorgängig zu behandelnde Frage lautet: Läßt sich ein Handeln der Vernunft auf die Natur denken, wenn beide Aspekte der Wirklichkeit in einem ausschließenden Gegensatz zueinander stehen? Diese Frage muß verneint werden. Die Natur enthält, um überhaupt gedacht werden zu können, immer schon ein „Minimum" an Vernunft, wie umgekehrt die Vernunft, um mit dem Anspruch von Wirklichkeit auftreten zu können, ein „Minimum" an Natur.7 „Reine Natur" und „reine Vernunft" stellen daher Abstraktionen dar, die es in der Wirklichkeit nicht gibt und die deshalb auch nicht Gegenstand der Ethik werden können.8 Der geschichtlich-ethische Prozeß besteht nun darin, daß sich Natur und Vernunft in immer stärkerem Maße gegenseitig „durchdringen".9 Die handelnde Vernunft hat die Aufgabe, den Prozeß der Einigung von „vernünftiger Natur" und „natürlicher Vernunft" voranzutreiben. Will die Vernunft die Wirklichkeit verändern, so kann sie das nur, wenn sie selbst Teil der Wirklichkeit ist. Doch welche in der 6
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a.a.O., S. 245. Schleiermachers Beziehung zu Aristoteles läßt sich auch am Begriff der „Meinung" zeigen. Vgl. G. Bien: Die menschlichen Meinungen und das Gute. Die Lösung des Normproblems in der Aristotelischen Ethik. In: Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Hrsg. von M. Riedel. Freiburg 1972. S. 345-375 Ethik , S. 638f. a.a.O., S. 253. Vgl. F.Jacob: Geschichte und Welt in Schleiermachers Theologie. Berlin 1967. S. 20 Zu dem Begriff „durchdringen" s. F. Kaulbach: Art. Durchdringung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter. Basel 1972. Bd. 2
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
Wirklichkeit anzutreffende „natürliche Vernunft" ist in der Lage, den ethischen Prozeß voranzutreiben? Es ist die Vernunft der „menschlichen Einzelwesen".10 Angefangen von der „Organisation" des menschlichen Leibes bis zur „vollkommenen" geistigen Bildung stellt der einzelne Mensch den höchsten Punkt der Einigung von Natur und Vernunft dar. Alle weitere „Bildung" der Natur muß von ihm ihren Ausgang nehmen. Der ethische Prozeß läßt sich unter dieser Voraussetzung auch so darstellen: „Die Vernunft wird in der Natur gefunden und die Ethik stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprünglich hineinkäme. Die Ethik stellt also nur dar ein potenzirtes Hineinbilden und ein extensives Verbreiten der Einigung der Vernunft mit der Natur, beginnend von dem menschlichen Organismus als einem Theil der allgemeinen Natur, in welchem aber eine Einigung mit der Vernunft schon gegeben ist."11 Da das Handeln des einzelnen Menschen aber im Zusammenhang mit dem „gemeinschaftlichen Handeln" aller Menschen gesehen werden muß, kann auch nicht der einzelne Mensch den Maßstab des Handelns aufstellen.12 Der ethische Prozeß muß daher aus der Perspektive der Einheit der Vernunft gesehen werden. Daher sagt Schleiermacher: „Bei der Zerspaltung der menschlichen Natur in die Mehrheit von Einzelwesen ist das Sein der Vernunft in der menschlichen Natur nur vollständig durch die sittliche Gerneinschaft der Einzelwesen."13 Mit dieser Bestimmung entgeht Schleiermacher zwei Gefahren: Er liefert erstens das ethische Handeln nicht der subjektiven Willkür des einzelnen Menschen aus und zieht sich andererseits nicht auf ein ideales Subjekt zurück. Die Gemeinschaft der Menschen ist eine empirische Wirklichkeit, die sich als sittliche erst noch im geschichtlichen Prozeß verwirklichen muß. Das Ziel der Bildung einer vernünftigen Natur durch die menschliche Gemeinschaft besteht darin, daß die Natur zu einem Werkzeug der menschlichen Vernunft geworden ist. Nach der 10 11 12 13
Ethik II, S. 254 a.a.O., S. 249f. a.a.O., S. 247 a.a.O., S. 577
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vollkommenen Durchdringung von Natur und Vernunft ist „Ethik Physik und Physik Ethik".14 Läßt sich im Hinblick auf den Gesamtprozeß der Anfangspunkt als ein „Minimum" der Identität von Natur und Vernunft darstellen, so ist der Endpunkt ein „Maximum".15 Die gesamte irdische Natur wäre „Organ" der Vernunft geworden, ohne dann eigentlich noch als „Organ" angesprochen werden zu können, denn jedes Organ ist ja nur Mittel zu einem darüber hinausgehenden Zweck.16 Unter naturphilosophischem Aspekt läßt sich dieser fortschreitende Prozeß als „Evolutionsprozeß der Natur" beschreiben, geschichtsphilosophisch betrachtet „begleitet der sittliche Verlauf das ganze Dasein des menschlichen Geschlechtes auf der Erde und bildet dessen Geschichte".17 Obwohl das Ziel der Ethik in unendlich weiter Zukunft liegt, enthält der Gedanke eine wichtige kritische Funktion. Indem man die „speculative Construction" einer vollkommen vernünftigen Natur mit dem „empirisch Gegebenen" vergleicht, erkennt man, wieviel von dem Prozeß der Naturbildung geleistet worden ist und wieviel noch dazu fehlt. Auf das noch Fehlende und die Frage nach den Mitteln einer weiter fortschreitenden Bildung bezieht sich die technische Funktion der Ethik.18 Kritische und technische Funktion der Ethik bedingen sich gegenseitig, da einerseits erst auf der Basis einer kritischen Trennung des bereits vernünftig Gewordenen von dem noch nicht vernünftig Gewordenen die technischen Mittel zur Überwindung des verbleibenden Gegensatzes bereitgestellt werden können und andererseits die bereits vernünftig gewordene Wirklichkeit von der Kritik in ihrem „ construct!ven" Charakter anerkannt werden muß. Mit den Begriffen des traditionellen ethischen Sprachgebrauchs ausgedrückt heißt das: Als „gut" ist im ethischen Prozeß die bereits vernünftig gewordene Natur zu bezeichnen, während
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a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,
S. 248 S. 253 S. 425 S. 423 S. 505
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
„böse" das „Nichtgewordene" meint.19 In diesem Zusammenhang gesteht Schleiermacher der Imperativischen Ethik Kants ihre relative Berechtigung zu. In ihr wird nämlich „das Ethische als ein zu Construirendes unter der Form des Gebotes ausgedrückt".20 Schleiermachers Meinung nach muß die Imperativische Ethik Kants durch eine „consultative Ethik" ergänzt werden, die in der Form eines „guten Rates" die bereits in einem Menschen vorhandene vernünftige Natur anspricht. 1.2 Organisieren und Erkennen (Symbolisieren) als praktische, bzw. theoretische Vernunfthandlungen Die kritische Funktion der Ethik vollzieht sich im Modus der Erkenntnis. Die handelnde Vernunft kommt dabei als theoretische Tätigkeit in den Blick. Bei der technischen Funktion geht es um ein Handeln der Vernunft, das im Gebiet der Praxis etwas konstruiert. Den Zusammenhang beider Funktionen stellt Schleiermacher deutlich heraus: „Wie die gesammte ethische Entwicklung nicht nur in der praktischen Seite besteht, so ist auch in der Ethik nicht nur von dem Handeln im engern Sinne die Rede, sondern auch vom Wissen als Handeln."21 Das ethische Handeln im engeren Sinne nennt Schleiermacher „Organisiren", das Handeln als Wissen „Erkennen" oder „Symbolisiren". Der gemeinsame Ursprung beider in der handelnden Vernunft wird in den verschiedensten Wendungen hervorgehoben. So heißt es in der Einleitung zu dem ethischen Entwurf von 1812/13: „Die beiden Hauptfunctionen der Vernunft, die organisirende und die erkennende, sind in der Realität nicht getrennt, ... denn mit dem Organbilden wird das Erkennen, und durch jedes Erkennen ist ein neues Organ gesezt."22 Die Realität ist also in der Weise konkret, als in ihr in verschiedener Mischung stets zwei Seiten eines Gegensatzes enthalten sind, die voneinander zu trennen 19 20
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a.a.O., S. 502 a.a.O., S. 502. Zur Kritik der Sollensethik vgl. H. Krämer: Neue Wege der philosophischen Ethik. In: Salzburger Jahrbuch für Philosophie. Bd. 30. Salzburg 1985. S. 87-96 Ethik II, S. 251 a.a.O., S. 259, Nr. 6
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lediglich der gedanklichen Klarheit dient. Unter diesem Vorbehalt sollen nun beide Funktionen getrennt betrachtet werden. a) Die organisierende Vemunfthandlung Schleiermacher beginnt bei seinen verschiedenen Entwürfen stets mit der „organisirenden" Funktion, die zwar selbst ein „Minimum" an Einigung von Natur und Vernunft zur Voraussetzung hat, aber doch „relativ das Eintreten der Vernunft in die Natur repräsentirt".23 Der Begriff „organisiren" wird synonym zu dem Begriff „bilden" gebraucht. Schleiermacher geht bei dem Begriff „organisiren" auf die Bedeutung des griechischen Wortes „organon" zurück und versteht dementsprechend unter „organisiren", etwas zu einem Werkzeug machen. Die Natur „organisiren" heißt, sie zu einem Werkzeug der Vernunft zu machen. Entsprechendes gilt für den Begriff „bilden". Die handelnde Vernunft der menschlichen Gemeinschaft „bildet" sich die Natur „an", um sie in ihren Dienst zu stellen. Das gilt für die „Bildung" der „äußeren" Natur ebenso wie für die „Bildung" des menschlichen Individuums. Da aber das menschliche Individuum immer schon ein Teil der menschlichen Gemeinschaft ist, wird bei seiner Bildung kein außer ihm liegender Zweck verfolgt. Die „Organisation" der „äußeren" Natur geschieht unter der Voraussetzung der „Bildung" des Menschen. Bei seiner „Bildung" handelt es sich immer nur um Weiterbildung, denn der „menschliche Leib" muß als eine „schon gegebene organisirte Natur" angesehen werden.24 Während also die „Organisation" der menschlichen Natur der immer schon vorauszusetzende Ausgangspunkt ist, ist der „nie vollständig zu organisirende ... Erdkörper" das Endziel.25 Auf der Ebene der erkennenden Funktion ergibt sich eine genau umgekehrte Reihenfolge. Hier ist es die „äußere", irdische Natur, die zuerst erkannt wird, während die „nie ganz zu verstehende die innere menschliche" ist.26 23 24 25 26
a.a.O., S. 263, § l a.a.O., S. 572 a.a.O., S. 572 a.a.O., S. 575, Nr. 32
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
Der On der Bildung des Menschen ist die Gemeinschaft, und der erste „Lebensbereich" der Gemeinschaftsbildung ist die Familie. Von ihr aus gelangt der Mensch in die vier anderen Lebensbereiche: freie Geselligkeit, Staat, Wissenschaft und Kirche.27 Sofern der Mensch Objekt der Bildung ist, soll er an allen genannten Lebensbereichen teilnehmen. Davon wird später noch die Rede sein. Als „Subject der Bildung" wird er vornehmlich in einem Bereich seinen Beruf finden. Davon soll hier zunächst die Rede sein. Da es die Aufgabe der menschlichen Vernunft ist, die Natur zu organisieren und der Beruf für Schleiermacher der individuelle Ort ist, wo dieses geschieht, kann er in seiner ethischen Pflichtenlehre von einer „Berufspflicht" sprechen. Die Berufstätigkeit als Handeln der Vernunft wird folgendermaßen charakterisiert: „Object derselben ist alles Handeln der Vernunft auf die Natur, inwiefern es ein Bilden derselben für die Persönlichkeit und in der Persönlichkeit ist mit dem Charakter der Identität, also sowol das Bilden des Erkenntnißvermögens als alles eigentlich bildende Vermögen und das Anbilden der äußeren Natur selbst."28 Diese etwas komplizierte Formulierung enthält vier Momente, die sich am Leitfaden des Begriffs „bilden" darstellen lassen: l. die Persönlichkeit bildet etwas, 2. die Persönlichkeit bildet sich, 3. dabei bildet sich eine Erkenntnis für die menschliche Gemeinschaft und schließlich 4. es wird für die menschliche Gemeinschaft die äußere Natur gebildet. Hier, wie auch sonst, gebraucht Schleiermacher den Begriff „identisch" im Gegensatz zu „eigenthümlich". Das Eigentümliche gehört der Person an, das Identische der Gemeinschaft. Überwunden wird der Gegensatz dadurch, daß der Mensch in die Gemeinschaft tritt, d.h. im „in-GemeinschafiTreten ist hier die Indifferenz des identischen und eigenthümlichen Charakters gesetzt".29 Gerade das findet im Beruf statt, und in ihm wird sich der Mensch bewußt, „daß er immer im Arbeiten für die Gemeinschaft begriffen ist".30 Die berufliche Tätigkeit ist
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a.a.O., S. 274, § 75 a.a.O., S. 416, Nr. 17 a.a.O., S. 417 a.a.O., S. 268
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daher eine auf die Totalität der handelnden Vernunft bezogene, aber durch die Eigentümlichkeit der Person natürlich bedingte Bildung der Natur. In dem Zusammenhang von persönlicher Eigentümlichkeit und identischer Vernunft liegt auch „das Fundament der Theilung der Arbeiten".31 Die Teilung der Arbeit erstreckt sich auf alle Berufe.32 Sie ist auch im wissenschaftlichen Bereich anzutreffen.33 Da aber einerseits die „Bedürfnisse der Person in allen Gebieten gleichförmig zerstreut sind", die berufliche Fertigkeit sich aufgrund der Teilung der Arbeit nur in einzelnen Gebieten bildet, wird „durch die Theilung der Arbeiten das Gleichgewicht zwischen Bedürmiß und Geschick aufgehoben".34 Das Gleichgewicht kann durch den Tausch wiederhergestellt werden. Das Geld liefert dabei das Maß für einen äquivalenten Tausch.35 Als Garant der so aufgebauten Tauschordnung gilt der Staat. Näheres hierzu findet sich in dem dem Staat gewidmeten Kapitel. Die Teilung der Arbeit schafft die Möglichkeit einer universellen Bildung der äußeren Natur. Diese tritt zunächst unter dem Begriff des „Anorganischen" in den Blick.36 Schleiermacher nennt die Organisation der anorganischen Natur „Mechanik".37 Die mechanische Organisation, die es mit jenem Bereich der Natur zu tun hat, in dem am wenigsten Vernunft vorhanden ist, steht nun selbst in Gefahr, zu einem toten „Mechanismus" zu werden. Schleiermacher denkt dabei vor allem an solche Tätigkeiten, die im Stile von Fabrikarbeit in seiner Zeit zunehmend an Bedeutung gewannen. Während er schon in den „Reden" von 1799 von den Wissenschaften und Künsten eine Hilfe zur Überwindung aller 31 32
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a.a.O., S. 280 a.a.O., S. 612. Für Hegel konstituiert sich auf der Basis der Arbeitsteilung die bürgerliche Gesellschaft als „System der Bedürfnisse", demgegenüber dem Staat eine übergeordnete Bedeutung zukommt. Vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt a.M. 1970. § 188 Ethik II, S. 349, Anm. a.a.O., S. 281 a.a.O., S. 282 a.a.O., S. 276, § 5 a.a.O., S. 276, Nr. 10
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
mechanischen, und d. h. menschenunwürdigen Arbeiten erwartete, weist er in seinen Randnotizen zur Ethik von 1832 daraufhin, daß der Mechanismus der Arbeit in dem Maße aufgehoben werden kann, „als Maschinen an die Stelle der menschlichen Leibesanstrengung treten, worauf die organisirende Thätigkeit von Anfang an ausgeht".38 Zwischen die Bildung der anorganischen Natur und die Bildung des Menschen tritt die Bildung „der niedren organischen Natur", die mit dem Begriff „Agrikultur" bezeichnet wird.39 Bildung des einzelnen Menschen und der menschlichen Gemeinschaft, Bildung der anorganischen und der niederen organischen Natur stellen das Gebiet der organisierenden Tätigkeit der menschlichen Vernunft dar. Besonders hat sich Schleiermacher mit der Frage der Bildung des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft beschäftigt und für die dort anzutreffende Praxis eine Theorie zu entwickeln versucht. Diese Praxis wird im Teil III ,Die „Dignität" der Praxis' thematisiert. Jedoch wird schon hier deutlich, daß die organisierende Vernunfthandlung, deren Ziel die Bildung einer vernünftigen Natur ist, nur im Zusammenhang einer Begründung der Praxis der Vernunft selbst beurteilt werden kann. Da die ,Dialektik* bereits als übergeordnete Disziplin von Schleiermacher in der ,Ethik' genannt wird, ist dort die Begründung zu suchen. Nach der organisierenden Tätigkeit ist nun die erkennende zu besprechen. b) Die erkennende (symbolisierende) Vemunfthandlung Es scheint angebracht, sich zunächst die Frage zu stellen, warum Schleiermacher die Begriffe „erkennen" und „symbolisiren" synonym gebraucht. Die Antwort ist darin zu suchen, daß bei dem Erkennen die Reflexivität betont wird. Die Vernunft erkennt in demjenigen, „worin ein anderes erkannt wird", sich selbst als tätige. Durch die Tätigkeit des Erkennens erhält das Erkannte
38
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a.a.O., S. 657. Zu dem Verhältnis von Arbeitsteilung und Maschinenarbeit bei Hegel vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a.M. 1970. § 198 Ethik II, S.276
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bereits den Charakter von Vernunft und wird so zu einem Symbol der vollständigen Einigung der Natur mit der Vernunft.40 Analog zur parallel fortschreitenden Überwindung des Gegensatzes durch die organisierende Tätigkeit heißt es in bezug auf das Erkennen: „Das sittliche Verfahren wäre vollendet, wenn die gesammte irdische Natur Symbol der Vernunft geworden wäre, in welchem Falle sie aber dann nicht mehr Natur wäre im Gegensaz gegen die Vernunft."41 Theoretische und praktische Tätigkeit bedingen sich gegenseitig, da jedes Erkannte selbst wieder Organ des fortschreitenden Einigungsprozesses wird und heben sich als relativ entgegengesetzte Tätigkeiten zum Zeitpunkt der vollendeten Einigung von Natur und Vernunft auf; denn da „die Vernunft durch alle mit ihr geeinigte Natur handelt, so ist alles, was ihr Symbol ist, zugleich auch ihr Organ; und da sie nur durch geeinigte Natur handeln kann, so kann nichts Organ sein, was nicht auch Symbol ist."42 Symbolisch bleibt jeder einzelne Erkenntnisakt, weil das Erkannte wie der Erkennende sich „auf das Besondere seines Daseins bezieht, und also die Ändern von derselben ausschließt".43 Aus diesem Grund kann kein Mensch für sich eine absolute Erkenntnis in Anspruch nehmen, denn die „Identität der Vernunft im Bildungsgeschäft und die Gemeinschaftlichkeit des Geschäftes selbst sind wesentlich dasselbe".44 Das Einzelne und der Einzelne sind als Erkanntes bzw. als Erkennender nur Symbole der absoluten Einigung. Im Rahmen der ,Ästhetik' wird die Funktion des Symbols noch einmal zur Sprache kommen. Die erkennende Tätigkeit, die bei der äußeren Natur beginnt, setzt einen Gegensatz zwischen dem „Objectiven und Subjectiven" voraus.45 Das Tier kann nicht erkennen, denn bei ihm gibt es „keinen Gegensaz zwischen Selbstbewußtsein und gegenständlichem Bewußtsein, sondern ein verworren zwischen beiden
40 41 42 43 44 45
a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,
S. 425, Nr. 6 S. 425 f. S. 426 S. 440 S. 441 S. 293, Zus. 2
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Schwebendes".46 Es ist die Vernunft, die „im Bewußtsein Einheit und Mannigfaltigkeit aus einander hält und bindet".47 Bei dem Objektiven als Gegenstand der äußeren Natur handelt es sich zunächst um „Undurchdrungenes und Unbewußtes".48 Das Erkennen stellt eine Aufhebung dieses Gegensatzes dar und bildet Vernunfteinheiten; denn „ohne intellectuelles Element keine Einheit, und ohne sensuelles keine Wirklichkeit der Action".49 Die vernünftige Einheit hat jedoch nicht den Charakter von Totalität, sondern von Partialität. „Der erkennende Prozeß ist eine fortlaufende Reihe in extensiver Richtung, insofern die ... Totalität nur dargestellt wird im Durchführen durch die Unendlichkeit des Mannigfaltigen. "50 Die erkennende Vernunft ist an das Bewußtsein der einzelnen Individuen gebunden. Es entsteht so die Frage, wie das nach dem eben beschriebenen Schematismus Erkannte „aus dem Bezirk der Persönlichkeit in den Gemeinbesiz aller" gelangt.51 Dies geschieht in der Weise, daß der Gegenstand der Erfahrung zu einem Gegenstand der Mitteilung wird. Die „Identität von Erfahrung und Mittheilung" basiert auf der „Tradition", wobei die Tradition „auf der Möglichkeit der Über-tragung aus einem Bewußtsein auf das andere" beruht.52 Das Mittel der Übertragung ist ein System von Zeichen, wie es durch die Sprache bereitgestellt wird.53 Schleiermacher betont jedoch gleichzeitig, daß die Sprache sich nicht als ein zweiter Akt an den des Erkennens anschließt, sondern er geht von einer vorgängigen Identität von Erfahrung und Mitteilung aus, d.h. die Sprache ist selbst Ausdruck einer „wahren Gemeinschaft des Erkennens".54 Deshalb ist auch die erkennende Tätigkeit solange nicht abgeschlossen, als der erkannten Sache in 46 47 48 49
50 51 52 53 54
a.a.O., S. 624 a.a.O., S. 625 a.a.O., S. 296, § 130 a.a.O., S. 298. Schleiermacher entwickelt sein Erkenntnismodell in Anlehnung an Kants Bestimmung des Verhältnisses von Anschauung und Begriff. Ethik , S. 298, §142 a.a.O., S. 304 a.a.O., S. 305 a.a.O., S. 305 a.a.O., S. 305
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der Gemeinschaft kein Zeichen entspricht. Die Sprache ist so einerseits Mittel der Verständigung, andererseits aber auch Voraussetzung der Verständigung und der Erkenntnis. Die in der frühen Kindheit anzutreffende „Geberde-Sprache" stellt etwas Unvollkommenes dar, weil ihr zu sehr die persönliche Eigentümlichkeit anhaftet. Der identische Gebrauch der sprachlichen Zeichen garantiert erst die Erkenntnis. Das Handeln der Vernunft als Erkennen muß also wie das der Organisation als ein gemeinschaftlicher Akt interpretiert werden. Als Klammer fungiert wieder der Begriff „bilden". Erkenntnis bildet sich in der Person über die durch Sprache verbundene Gemeinschaft. Die Frage, warum die Erkenntnis bei der äußeren Natur beginnt, läßt sich im Hinblick auf die Gemeinschaftlichkeit der Erkenntnis erklären. Die äußere Natur ist das, was durch die Vernunft noch am wenigsten zu einem Eigentümlichen gebildet wurde, das, wozu die erkennenden Subjekte einen relativ gleichen Abstand haben. Daraus ergibt sich umgekehrt, daß alles eigentümlich Gebildete, d.h. Individuelle, sich der Erkenntnis am stärksten entzieht. Der Teil IV thematisiert die Frage nach der Bildung eines gemeinschaftlichen theoretischen Wissens. Doch wird schon jetzt deutlich, daß dieser Bildung eine gemeinschaftliche Praxis zugrunde liegt. Die Bildung des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft im Teil III, ,Die „Dignität" der Praxis', und die Bildung eines gemeinschaftlichen theoretischen Wissens im Teil IV, ,Eine Theorie des Gesprächs', sind als Praxis zu verstehen, für die es eine Theorie zu entwickeln gilt. Das Verhältnis von Theorie und Praxis findet sich also in beiden Teilen. Die Bildung eines theoretischen Wissens steht nicht über der Praxis, sondern bleibt als menschliche Tätigkeit selbst Praxis. Es ist nicht möglich, dieses dialektische Verhältnis durch den Rückzug auf einen absoluten Standpunkt zu verlassen. l .3 Der Begriff des Gesetzes in der Ethik und in der Physik Die Art der Vernunfthandlungen, einmal im Sinne der ethischen Organisation der Natur, zum anderen im Sinne der physikalischen Erkenntnis der Natur, kann am Beispiel des in beiden Bereichen verwendeten Gesetzesbegriffs gut erläutert werden.
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
Dabei wird deutlich, wie sehr Schleiermacher bemüht ist, Identität und Differenz im Einzelnen aufzuweisen. In Fortführung des Gedankens, daß die Imperativische Ethik durch eine consultative ergänzt werden müsse, kommt Schleiermacher zu der Überlegung, daß der Leitbegriff der Ethik nicht „Gebot" sein darf, da dieser nur das „Nichtgewordene" berücksichtigt, aber nicht die in der Wirklichkeit vorhandene vernünftige Natur. Schleiermacher sagt daher: „Die Säze der Sittenlehre dürfen also nicht Gebote sein, weder bedingte noch unbedingte, sondern sofern sie Geseze sind, müssen sie das wirkliche Handeln der Vernunft auf die Natur ausdrücken."55 Es ergibt sich die Frage: In welcher Weise ist der Begriff Gesetz in der Lage, das bereits vernünftig Gewordene zu beschreiben und das „Noch-nicht-Gewordene" zu gebieten? Eine Antwort auf diese Frage gibt Schleiermacher in seiner Akademieabhandlung ,Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz' von 1825. Dieser Unterschied geht auf den von Natur und Vernunft zurück; denn die Sitte wird ausdrücklich der „praktischen Vernunft" zugerechnet. Die geläufige Unterscheidung beider Gesetzesbegriffe besteht nach Schleiermacher darin, daß das Naturgesetz eine allgemeine Aussage enthält über das, was in der Natur wirklich geschieht, während das Sittengesetz im „Gebiet der Vernunft" Aussagen macht über das, was geschehen soll. Das Sollen im sittlichen Bereich läßt sich zurückführen auf die Situation der Rede, in der ein „Gebietender" einem „Gehorchenden" etwas zu tun „anmutet". In einer frühen geschichtlichen Epoche, etwa im jüdischen Volk zur Zeit des Alten Testaments, hatte das Sollen als Befehl im göttlichen Willen seinen Ursprung, in der neueren Zeit dagegen wird die „menschliche Vernunft selbst als gesetzgebend gedacht".56 Verlegt man dementsprechend den Dualismus von Rede und Angeredetsein in den Bereich der menschlichen Vernunft, so läßt sich fragen, was hier als das Befehlende und was als das Gehorchende zu betrachten sei. Gemäß dem kategorischen Imperativ im Sinne Kants ergibt sich folgendes Modell: „Die praktische Vernunft oder das obere Be55 56
a.a.O., S. 545 a.a.O., S. 403
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gehrungsvermögen redet an; dann aber muß angeredet werden das untere Begehrungsvermögen oder die Sinnlichkeit, aber dann auch ihr nichts zugemutet, was sie nicht wirklich vollziehen kann."57 Daraus ergibt sich folgendes, unlösbare Problem: „Kann aber wohl die Sinnlichkeit darauf angeredet weden zu vollziehen, was z. B. in dem Kantischen kategorischen Imperativ enthalten ist? Unmöglich."58 Bleibt die Sinnlichkeit für die Forderung der Vernunft unansprechbar, so verbleibt die Differenz von befehlen und gehorchen auf der Ebene der menschlichen Vernunft. Hier muß nun eine Unterscheidung getroffen werden. Offenbar ist es „die Vernunft überhaupt und an sich, welche anmutet der Vernunft des einzelnen".59 Dadurch verschiebt sich jedoch das ganze ethische Modell, denn es „spricht doch der einzelne die Pflicht aus in sich selbst für sich selbst, und das Begehren, selbst etwas zu tun, ist nur ein Wollen, kein Sollen, so wie das Anerkennen des Begehrens, sich selbst etwas anzumuten, nur ein Selbstanerkennen ist, nicht ein Anerkennen eines anderen; so daß auf beiden Seiten das Sollen ganz seine Bedeutung verliert."60 Zwar wird die Vernunft des Einzelnen durch die Vernunft überhaupt angeredet, aber indem die Vernunft des Einzelnen das Gebot der Vernunft an sich anerkennt und damit ein sittliches Handeln überhaupt erst ermöglicht, verwandelt sich das Sollen in ein Wollen der menschlichen Einzelvernunft. Bei der Übertragung dieses Modells auf das „Gebiet des häuslichen und bürgerlichen Lebens" vollzieht sich die Verbindung von Sollen und Wollen folgendermaßen: „Der Gehorchende erkennt aber an dem Soll den Willen des Gebietenden, und was also allerdings vorausgesetzt wird in dem Angeredeten, das ist sein allgemeiner Wille zu gehorchen."61
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Ethik I, S. 400 a.a.O., S. 400. Schleiermachers Akademieabhandlung läßt sich durchgängig als eine Auseinandersetzung mit Kants ,Kritik der praktischen Vernunft' interpretieren. Ethik I, S. 401 a.a.O., S. 401 a.a.O., S. 402
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So wiederholt sich unter verändertem Aspekt Schleiermachers Theorie, daß in jedem Begriff eines Gegensatzpaares ein „Minimum" des jeweils anderen enthalten sein muß. Das Sollen, das die praktische Vernunft ausspricht, müßte wirkungslos bleiben, wenn nicht der Wille zu vernünftigem Handeln vorausgesetzt werden könnte. Die Rede von einem Sollen in einer bürgerlichen Verfassung z. B. hat nur Sinn unter Voraussetzung eines allgemeinen Willens zur Verfassung. Die Verfassung eines Landes hat daher den Charakter einer Synthese von natürlichem Wollen und vernünftigem Sollen. Sie läßt sich folgendermaßen darstellen: „Sofern ich also etwas will und mir dabei bewußt bin, daß dieser Wille ein allgemeiner Akt der menschlichen Vernunft ist, unter deren anmutendem Ansehen alle stehen, so drücke ich ihn durch Soll aus, weil alle anderen mir dasselbe anmuten können, so gut als ich ihnen."62 Muß man also den Willen zu vernünftigem Handeln als Basis jedes Imperativs der Vernunft voraussetzen, so verwandelt sich der kategorische Imperativ in einen hypothetischen mit dem Wortlaut: „Wenn du vernünftig sein willst, so handle so." Das Sittengesetz, das von dem vernünftigen Willen in jedem Menschen ausgeht, führt zu der assertorischen Formel: „Weil du vernünftig sein willst, so handle also."63 Die Problematik einer nur am Sollen orientierten Ethik erläutert Schleiermacher an einem weiteren Beispiel aus der Rechtsphilosophie. Er stellt die Frage: Wie ist ein Gesetz zu beurteilen, das von niemandem befolgt wird? Zwar wird durch das abweichende Verhalten Einzelner seine Gültigkeit noch nicht beeinträchtigt, doch verliert es diese, wenn es von keinem Menschen weder geachtet noch beachtet wird. Das Gesetz verliert durch allgemeine Nichtachtung seine Wirklichkeit. Die Achtung vor dem Gesetz als „unendlich kleiner Anfang des Gehorchens" ist das unabdingbare „Minimum", ohne das man weder von Geltung noch von Gültigkeit sprechen kann. Bei einem Gesetz, das geachtet wird, handelt es sich nicht um einen theoretischen Satz, der ohne Konsequenzen für das Handeln bleibt, sondern um die praktische 62 63
a.a.O., S. 403 f. a.a.O., S. 406
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Vernunft, der ein ihr gemäßes Handeln entspricht. Die von Kant gebrauchte Formel „Achtung vor dem Gesetz" ist nach Schleiermacher ein „sehr wohl gewählter Ausdruck", wenn er deutlich machen soll, wie sich durch die Achtung „die Wirklichkeit des Gesetzes" „konstituiert". Zu tadeln wäre der Ausdruck, wenn er etwas trennen wollte, was der Sache nach zusammengehört. Theorie und Praxis sind im Sittengesetz unlösbar verbunden. „Denn nicht existiert das Sittengesetz zuerst als Gedanke, und hernach bringt die Vernunft die Achtung dafür hervor; sondern es ist nur ein und dasselbe oder ein und derselbe transzendentale Akt, wodurch die Vernunft praktisch wird, das heißt als Impuls besteht, und wodurch es ein Sittengesetz gibt."64 Der Wille, vernünftig zu handeln, die Achtung vor dem Gesetz, stellen ein sittliches Sein dar, ohne das ein Sollen ohne Wirksamkeit bliebe.65 Der letzte Teil der Abhandlung beschäftigt sich, wenn auch nicht mehr so ausführlich, mit der Frage, ob dem Naturgesetz nicht vielleicht umgekehrt auch ein Sollen entspreche und nicht nur ein Sein. Gelingt es nachzuweisen, „daß Naturgesetze auch eine Anmutung enthalten, wenngleich freilich an ein willenloses Sein, ... dann wäre das Verhältnis zwischen Sollen und Seinbestimmung in beiderlei Gesetzen so sehr dasselbe, als es bei der Verschiedenheit von Natur und Vernunft nur möglich ist".66 Schleiermacher wendet die Frage nach der Gültigkeit der Naturgesetze zunächst auf den astronomischen Bereich an und stellt fest, daß es hier bisweilen „Perturbationen" und „Abweichungen" gebe, d. h. daß die beobachteten Naturvorgänge nicht so exakt ablaufen, wie sie es dem Naturgesetz gemäß sollen. Eine völlige Entsprechung von Gesetz und Wirklichkeit wäre erst dann erreicht, wenn es gelänge, „das ganze Universum auf eine Formel" zu bringen. Im mineralogischen Bereich lassen sich ebenfalls abweichende Formen der Kristallisation feststellen, die der naturgesetzlichen Struktur gemäß nicht sein sollten. Im Bereich der vegetabilischen und animalischen Natur sind es Mißgeburten und Krankheiten, die eine Abweichung gegenüber 64 65 66
a.a.O., S. 407 vgl. F. Kaulbach: Das sittliche Sein und das Sollen. Braunschweig 1948 Ethik I, S. 409
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dem naturgesetzlichen Verlauf der Lebensfunktionen darstellen. Schleiermacher folgert nun, diese Abweichungen verhielten sich zu dem Naturgesetz in derselben Weise wie das „Unsittliche und Gesetzwidrige" zum Sittengesetz. In dem geistigen Bereich erscheint die Abweichung der menschlichen Vernunft einerseits als Wahnsinn, andererseits als „böse". Analysiert man das menschliche Verhalten aus der Perspektive des Naturgesetzes, so läßt sich zwischen beiden Interpretationen kein Unterschied feststellen, denn in beiden Fällen handelt es sich darum, „daß die Intelligenz als Wille zu ohnmächtig sei, um den Angriff einer untergeordneten Potenz auf ihren unmittelbaren Organismus abzuweisen".67 Geht man von der analogen Struktur beider Gesetzesbegriffe aus, die ihren gemeinsamen Ursprung in der handelnden Vernunft haben, so wird man nicht länger die Naturgesetze der theoretischen Vernunft und die Sittengesetze der praktischen Vernunft in einem ausschließenden Sinne zuordnen können. In beiden Fällen geht man von einem gegebenen Sein aus, einem natürlichen Verhalten, dem das Gesetz eine „Regel" vorschreibt, ohne doch zu erreichen, daß sich das natürliche Verhalten vollständig nach dieser Regel richtet. Die Frage, „wo denn nun der Unterschied bleibe zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft", muß unter Hinweis auf den übergreifenden Charakter der handelnden Vernunft beantwortet werden. Auch im theoretischen Bereich kann die „Vernunft hier nur betrachtet werden als praktisch, das heißt als tätig, und der ganze theoretische Vernunftgebrauch gehe doch als Handlung immer vom Willen aus."68 Der Wille der Vernunft zu einem gesetzmäßigen Verhalten, d.h. der Primat der praktischen Vernunft, ist die Grundlage für beide Gesetzesarten.
67 68
a.a.O., S. 415 a.a.O., S. 414f.
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2. Philosophie versus Religion Die Beschränkung auf die philosophischen Schriften Schleiermachers in dieser Arbeit hat ihren Grund darin, daß Schleiermacher selbst zwischen Philosophie und Religion, bzw. Theologie unterscheidet. An dieser Unterscheidung hat er in seiner frühen Religionsschrift ebenso festgehalten wie in seiner ,Glaubenslehre' von 1830/31, wenngleich er zu sehr genauen Grenzbestimmungen kommt. Diese gilt es aufzuweisen. Während also das erste Kapitel dieses Teils die Funktion hatte, die handelnde Vernunft als das Gebiet der theoretischen und praktischen Philosophie aufzuzeigen, geht es bei den beiden nächsten Kapiteln um eine Abgrenzung gegen angrenzende Bereiche. Es sind dies Religion und Kunst. 2.1 Das Verhältnis von Religion, Metaphysik und Moral in den ,Reden über die Religion' Schon in seiner frühen Religionsschrift geht es Schleiermacher darum, die Eigenständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik und Moral zu behaupten, wobei die Metapysik hier für die theoretische Vernunft in Anspruch genommen wird und die Moral für die praktische. Während es der Metaphysik entspricht, „das Universum seiner Natur nach zu bestimmen" und es die Aufgabe der Moral ist, „kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen" das Universum „fortzubilden und fertig zu machen", ist das Wesen der Religion „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl".69 Stellen Denken und Handeln einen aktiven Zugriff des Menschen auf das Universum dar, so ist die Religion an den Zustand 69
F. D. E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, In: F. D. E. Schleirmacher: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von H. J. Birkner (u.a.) 1. Abt. Schriften und Entwürfe. Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Hrsg. von G. Meckenstock. Berlin 1984 (KGA 1,2) S. 211. Zur Abgrenzung der Religion gegenüber Metaphysik und Moral vgl. F. Beißner: Schleiermachers Lehre von Gott. Dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre. Göttingen 1970. S. 17
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der Passivität gebunden. Die „religiösen Gefühle lahmen ihrer Natur nach die Thatkraft des Menschen".70 In der Religion sieht sich der Mensch den Einwirkungen des Universums ausgeliefert, er befindet sich in einem Zustand des Ergriffenseins. Das Denken der Metaphysik hat seinen Ausgangspunkt in der „endlichen Natur des Menschen" und stellt vom Menschen aus die Frage, was das Universum ihm bedeuten kann. In der Religion kehrt sich die Perspektive um. Hier ist es das Universum oder, wie Schleiermacher auch sagt, die „unendliche Natur des Ganzen", die als auf den Menschen handelnd gefühlt wird. Ähnlich fällt der Vergleich mit der Moral aus. Sie geht von dem „Bewußtsein der Freiheit" aus und will das Reich der Freiheit ins „Unendliche erweitern". Die Religion geht dagegen von einem Standpunkt aus, wo diese Freiheit, gemäß der „Natur des Ganzen" selbst schon wieder Natur und damit Notwendigkeit in einem ausgezeichneten Sinne geworden ist. In der Religion wird sich der Mensch seiner „Beschränktheit" und der „Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen" bewußt.71 Die Religion behauptet ihr eigenes Gebiet, indem sie „aus der Spekulazion sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht."72 Schleiermacher gebraucht in den ,Reden' Spekulation synonym zu Wissenschaft und kommt zu folgender Abgrenzung: „Praxis ist Kunst, Spekulazion ist Wißenschaft, Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche."73 Obwohl Schleiermacher den aktiven Zugriff von Theorie und Praxis von dem passiven des religiösen Gefühls genau unterscheidet, beiben alle drei in der Wirklichkeit doch stets aufeinander bezogen: denn ohne Religion bleiben auch wissenschaftliche 70 71
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Über die Religion. S. 219 a.a.O., S. 212. Zu dem Gedanken, daß in der Religion das Universum als handelnd erfahren wird, vgl. J. Ringleben: Die Reden über die Religion. In: Friedrich Schleiermacher 1768-1834. Theologe - Philosoph - Pädagoge. Hrsg. von D. Lange. Göttingen 1985. S 236-258 Über die Religion, S. 212. Das durch das religiöse Gefühl bestimmte „Glaube als Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht". Vgl. P. Tillich: Wesen und Wandel des Glaubens. Berlin 1963 Über die Religion, S. 212
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Theorie und moralische Praxis „ein steifes und mageres Skelet". Das „Gefühl des Unendlichen" markiert aber zugleich die Grenze der Wirksamkeit von Theorie und Praxis. Die Religion bildet so einen Prüfstein, ob sich Denken und Handeln an ihre Grenzen gehalten haben. In der »Glaubenslehre' von 1830/31 hat Schleiermacher versucht, die Grenze noch genauer zu bestimmen. 2.2 Gefühl, Wissen und Tun in der ,Glaubenslehre' Auch in der ,Glaubenslehre' grenzt Schleiermacher Theorie und Praxis von der Religion unter Verwendung der Begriffe Wissen, Tun und Gefühl voneinander ab. In Fortführung seiner Gedanken in den ,Reden' betont er, die Frömmigkeit sei weder „ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins".74 Der Begriff „Gefühl", der der Sprache des „gemeinen Lebens" angehört, wird durch den Ausdruck „unmittelbares Selbstbewußtsein" näher präzisiert, so daß er auch einer wissenschaftlichen Sprache gerecht wird. Das Wesen des Gefühls wird dadurch insofern genauer bestimmt, als alle „bewußtlosen Zustände" von ihm ausgeschlossen werden. Die Bestimmung „unmittelbar" soll dagegen das religiöse Gefühl gegenüber jedem Gegenstandsbewußtsein abgrenzen. Schleiermacher erwähnt ausdrücklich die Definition des Gefühls als „unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins", die von seinem Freund H. Steffens stammt und die er als „sehr verwandt" mit seiner eigenen hält. Auf der Grundlage dieser genaueren Bestimmung des Gefühls werden nun Wissen und Tun davon unterschieden. Dabei sind zunächst zwei Möglichkeiten zu bedenken: In dem ersten Fall tritt 74
Glaubenslehre, S. 14. Hegels Kritik an Schleiermachers Begriff des Gefühls erscheint bei dieser Begriffsbestimmung ungerechtfertigt. Eher wäre an Kants „transzendentale Einheit der Apperzeption" zu denken. Vgl. auch die Formulierung in der ersten Auflage von 1821/22: „Die Frömmigkeit an sich ist weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls." KGA, 1,7,1. S. 26. Ferner M. Eckert: Gott - Glauben und Wissen. Friedrich Schleiermachers philosophische Theologie. Schleiermacher - Archiv. Bd. 3. Berlin/New York 1987
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Gefühl begleitend gegenüber Denken und Tun auf, im zweiten Fall tritt es relativ unabhängig davon auf. Um den ersten Fall zu erläutern, nennt Schleiermacher die „Gefühlszustände" „Freude und Leid" und zeigt, wie diese eine Handlung begleiten können. Jede Handlung stellt einen sich über einen gewissen Zeitraum erstreckenden Prozeß dar, dessen einzelne Momente sich durch den Antrieb der Handlung, den Zweck und den Verlauf bestimmen lassen. Je nach dem Grad des sich in der Handlung erfüllenden Zwecks stellt sich ein Gefühl der „Zufriedenheit und Sicherheit" ein und begleitet die Handlung bis zur Vollendung. Jedoch ist dieses Gefühl noch nicht von der Art, wie es in der Religion anzutreffen ist. In ähnlicher Weise kann ein Gefühl das Denken begleiten: „Denn als glücklich beendigte Operation der denkenden Tätigkeit spricht es sich im Selbstbewußtsein als eine zuversichtliche Gewißheit aus."75 Im Fall der relativen Unabhängigkeit des Gefühls von Denken und Tun ergibt sich folgende Überlegung: Für die Analyse des Gefühls ist das Begriffspaar „Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts" hilfreich. Während das Gefühl als ein reines „Insichbleiben" zu interpretieren ist, enthält das Wissen als ein Erkennen und ein Erkannthaben beide Momente, da durch das Erkannthaben das Insichbleiben und durch das Erkennen das Aussichheraustreten repräsentiert wird. Durch das Aussichheraustreten des Wissens in den Akten des Erkennens wird das Erkennen ein Tun, das als Tun selbst ganz auf der Seite des Aussichheraustretens steht. Wissen, Tun und Gefühl oder Insichbleiben und Aussichheraustreten haben ihren „gemeinschaftlichen Grund" im „Wesen des Subjekts", das durch diese Momente bestimmt ist. Schleiermachers These ist nun, daß in jedem „wirklichen Moment des Lebens" stets alle drei Momente vorhanden sind, selbst wenn ein Moment dominiert und die anderen nur als „Spuren oder Keime" anwesend sind. So stellt das Gefühl z.B. einen vermittelnden Übergang zwischen Wissen und Tun her. Das Gefühl als das „unmittelbare Selbstbewußtsein" ist der durchgängig vorhandene 75
Glaubenslehre, S. 22
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Hintergrund, auf dem sich die verschiedenen „Momente des Lebens" abspielen, wie etwa Denken und Tun. Trotz ihres gemeinsamen Auftretens in der Wirklichkeit müssen Wissen, Tun und Gefühl der Sache nach voneinander unterschieden werden. Schleiermacher macht die Differenz an zwei Beispielen deutlich. Die Ansicht etwa, das Gefühl der Frömmigkeit hänge von einem bestimmten Maß an dogmatischem Wissen ab, ist deshalb falsch, weil unter dieser Voraussetzung „der beste Inhaber der christlichen Glaubenslehre auch immer zugleich der frömmste Christ" sein müsse, was aber doch offensichtlich falsch ist. Ebensowenig können Handeln und Gefühl gegenseitig einen Maßstab bereitstellen; denn die Erfahrung lehrt, „daß neben dem Vortrefflichsten auch das Scheußlichste ... als fromm und aus Frömmigkeit getan wird". Die Maßstäbe der Moral lassen sich nicht aus dem Gefühl ableiten. Zwar ist es richtig, daß ein bestimmtes Gefühl zu einem Denken oder zu einem Handeln „aufregt", aber Denken und Handeln haben nicht im Gefühl das Kriterium ihrer Beurteilung. In dem Gebiet des Wissens gibt es z.B. „kein anderes Maß als die Klarheit und Vollständigkeit des Denkens selbst".76 Indem das Gefühl vielmehr umgekehrt zu einem Gegenstand des Nachdenkens und somit des Wissens wird, verliert es seine „Verworrenheit" und tritt in das Bewußtsein. Allerdings ist es nicht möglich, die Totalität des „unmittelbaren Selbstbewußtseins" in einem Akt des Bewußtseins zu vergegenständlichen. Auf den Charakter des religiösen Gefühls als „unmittelbarem Selbstbewußtsein" ist nun näher einzugehen. In dem religiösen Gefühl werden wir uns „unserer selbst aus schlechthin abhängig" bewußt. Das Bewußtwerden unserer selbst ist ein reflexiver Akt. Das jeweilige „Ich" als Subjekt unterscheidet sich dabei von sich als dem Gegenstand der Reflexion. Dadurch spaltet sich das Selbstbewußtsein in das „Sichselbstsetzen", wie es durch die Akte des reflektierenden Ich geschieht, und in das „Sichselbstnichtsogesetzthaben" oder das „Irgendwiegewordensein", das sich im reflektierten Ich manifestiert.77 Während das „Sichselbstsetzen" 76 77
a.a.O., S. 20 a.a.O., S. 24
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die „Selbsttätigkeit", „das Sein des Subjektes für sich" zum Ausdruck bringt, weist das „Irgendwiegewordensein" des Subjekts auf sein „Zusammensein mit anderen hin". Das „Sichselbstsetzen" hat seinen Grund in der Spontaneität des Subjekts, das durch das „Zusammensein mit anderen" bedingte „Irgendwiegewordensein" in der „Empfänglichkeit" des Subjekts. Die „Empfänglichkeit" als eine notwendige Bedingung der Konstituierung des „Irgendwiegewordenseins" durch das „Zusammensein mit anderen" markiert bereits die „Abhängigkeit" des Subjekts von außer ihm Bestehendem, doch darf diese Abhängigkeit noch nicht als „schlechthinnige" interpretiert werden. Bei der genaueren Analyse des Abhängigkeitsgefühls ergibt sich, daß ihm stets ein „Freiheitsgefühl" korrespondiert, das sich in der Spontaneität des Subjekts kundtut. Obwohl wir uns einerseits z. B. von der Natur abhängig fühlen, haben wir andererseits ihr gegenüber doch auch ein bestimmtes Maß an Freiheit, das durch die Möglichkeit einer Gegenwirkung auf die Naturprozesse verdeutlicht werden kann. Ebenso sind wir einerseits von der „Gesellschaft" abhängig, haben andererseits aber auch die Freiheit, auf die sie konstituierenden Prozesse einzuwirken. Das „Gesamtselbstbewußtsein" besteht so aus einer „Reihe von geteiltem Freiheitsgefühl und Abhängigkeitsgefühl". Das „Gesamtselbstbewußtsein" läßt sich genauer bestimmen als ein „Bewußtsein unseres Seins in der Welt oder unseres Zusammenseins mit der Welt".78 Da aber jedem „Freiheitsgefühl" ein „Abhängigkeitsgefühl" korrespondiert, kann es kein „schlechthinniges Freiheitsgefühl" geben. Dieses wäre nur denkbar unter der Voraussetzung, daß „der Gegenstand überhaupt durch unsere Tätigkeit erst würde".79 Da das aber nicht der Fall ist, vielmehr jedem vom Menschen produzierten Gegenstand ein von dieser Produktion unabhängiges Material zugrundeliegt, ist es einsichtig, daß es ein „schlechthinniges Freiheitsgefühl" nicht geben kann. Das ist auch die Erklä78
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a.a.O., S. 26. Heidegger bestimmt das „In-der- Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins". Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 196310. §§ 12/13 Glaubenslehre, S. 28
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rung dafür, daß z.B. im politischen Bereich „auch in der absolutesten Alleinherrschaft dem Gebieter ein leises Abhängigkeitsgefühl nicht fehlt".80 Ein „schlechthinniges Freiheitsgefühl" ist schließlich nicht möglich, „weil unser ganzes Dasein uns nicht als aus unserer Selbsttätigkeit hervorgegangen zum Bewußtsein kommt".81 Der Mensch kann niemals von seinem „Irgendwiegewordensein" abstrahieren und sich rein aus seiner Spontaneität begreifen. Diese Überlegung macht nun aber auch deutlich, daß es für Schleiermacher zwar kein „schlechthinniges Freiheitsgefühl", wohl aber ein „schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl" geben muß. „Freiheitsgefühl" und „Abhängigkeitsgefühl" sind Momente innerhalb des Daseins; das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl dagegen zeigt, daß das ganze „ungeteilte" Dasein „von anderwärts her" zu bestimmen ist. Das „Woher" der Identität „unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins" bestimmt Schleiermacher durch den „Ausdruck Gott" und betont zugleich, daß dieser „Ausdruck" keine andere als die so bezeichnete Bedeutung habe, man sich darunter also nicht ein „wahrnehmbares beharrliches Einzelwesen" vorstellen dürfe. Verzichtet man auf jede willkürliche „Symbolisierung" und versteht darunter nur das „Woher" unseres Daseins, dann läßt sich das „schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl" auch als ein „Sich-seiner-selbst-als-in-Beziehung-mit-Gott-bewußt-Sein" beschreiben.82 Die Ausgrenzung des Gefühls aus dem Verhältnis von Theorie und Praxis zeigt, daß sich Denken und Handeln stets auf die Korrespondenz von „Freiheitsgefühl" und „Abhängigkeitsgefühl" beziehen und hier ihren Tätigkeitsbereich haben. In welcher Weise das „Woher" unseres Daseins unter dem Begriff „transzendenter Grund" zu Theorie und Praxis in Beziehung tritt, wird bei der Interpretation der ,Dialektik' zu zeigen sein. Deutlich wird, daß die Abgrenzung des Gefühls von Theorie und Praxis die Funktion hat, die Eigenständigkeit von Philosophie 80 81 82
a.a.O., S. 27 a.a.O., S. 28 a.a.O., S. 30
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und Religion zu begründen und Absolutheitsansprüche beider zurückzuweisen.
3. Kunst - Die freie, symbolische Produktion Während sich das Gefühl, im Gegensatz zur Aktivität von Praxis und Theorie, durch seine Passivität auszeichnet, kommt es im Gebiet der Kunst darauf an, Unterschiede im Bereich der Tätigkeit selbst sichtbar zu machen. 3.1 Naturproduktion und Kunstproduktion Unter Ästhetik versteht Schleiermacher unter Rückgriff auf die griechische Bedeutung des Wortes die „Theorie der Empfindung".83 Dieser allgemeinen Ästhetik steht eine spezielle gegenüber, die sich auf solche Empfindungen bezieht, die ein „Wohlgefallen" am Schönen zum Inhalt haben. Das „Wohlgefallen" enthält keine „praktische Beziehung", und deshalb ist die ihm entsprechende Empfindung die „reinste". Die spezielle Ästhetik geht davon aus, daß sich das Schöne sowohl in der Natur als auch in der Kunst antreffen läßt. Durch die Kunst entsteht jedoch die „größte Masse schöner Gegenstände"; sie sind ein „Produkt der menschlichen Tätigkeit". Mit dieser Aussage verlagert sich das Interesse der Ästhetik von einer „Theorie der Empfindung" zu einer Theorie der Kunstproduktion. Dementsprechend hat es die Kunst auch nicht mit einem „päthema", sondern mit „Handlung" zu tun.84 Die sich hieran anschließende Frage lautet: Ist die das Schöne hervorbringende Handlung „freie menschliche Production" oder eine „Nachbildung" des in der Natur angetroffenen Schönen? 83
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Friedrich Schleiermachers Ästhetik. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften zum ersten Male hrsg. von R. Odebrecht. Berlin und Leipzig 1931 (Ästhetik) S. 1. Eine Textauswahl bietet F. D. E. Schleiermacher: Ästhetik. Über den Begriff der Kunst. Hrsg. von Th. Lehnerer. Hamburg 1984 (Ästhetik/Kunst) Ästhetik, S. 5
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Schleiermacher spricht sich für die erste Möglichkeit aus; denn alle angeblichen Nachbildungen der Natur erscheinen als „weit hergeholt". Es gibt für die Kunst kein „Urbild in der Natur". So hat etwa die Musik nicht die Laute von Tieren zu ihrem Vorbild; denn „der Mensch singt eben so ursprünglich als sie." Vielmehr muß man sagen: „Das Tönen der Natur in anderen Geschöpfen ist nur allmähliches Aufsteigen zu dem Kunstvermögen im Menschen." Da das „Unvollkommene" aber niemals Vorbild des Vollkommenen sein kann, kehrt sich das Verhältnis von Natur und Kunst um. „Es scheint, daß die Natur die Kunst nachahmen müsse."85 Daraus ergibt sich für die Ästhetik, daß die Kunst eine ursprüngliche Tätigkeit des Menschen darstellt. Diese anthropologische Wende darf aber nicht so verstanden werden, als sei die Idee des Kunstschönen etwas prinzipiell Anderes als die Idee des Naturschönen, sondern der Übergang ist fließend. Im Falle einer vollkommenen Trennung von Natur und Kunst „wäre die Welt ein Gespenst und der Mensch ein Gespenst für die Welt". Das Schöne in der Natur und in der Kunst sind Analogiebildungen, so „daß das, was in der Natur das Schöne werden will, im Menschen die Produktion von dem erweckt, was in ihm selbst das Schöne werden will".86 Daraus ergeben sich folgende Fragen: Wie ist eine Theorie der Kunst zu erstellen? Was ist der Grund der Analogiebildung von Naturschönem und Kunstschönem? Welchen Platz nimmt die Kunstproduktion im Rahmen wissenschaftlicher und ethischpraktischer Tätigkeiten ein?
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a.a.O., S. 6-8 a.a.O., S. 9. Schleiermacher stellt sich hier in einen bewußten Gegensatz zur Ästhetik Platons, nach der sich die Kunst einer doppelten Nachahmung schuldig macht, da sie das gegenüber der Idee auf einer untergeordneten Stufe stehende einzelne noch einmal reproduziert. Zu Schleiermachers Ästhetik vgl. Th. Lehnerer: Selbstmanifestation ist Kunst. Überlegungen zu den systematischen Grundlagen der Kunsttheorie Schleiermachers. In: Schleiermacher-Archiv. Bd. l, 1. S. 409-422, sowie ders.: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987, sowie H. Patsch: Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche. In: Schleiermacher- Archiv. Bd. 2. Berlin/ New York 1986.
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Schleiermacher bestimmt „Theorie" in der Ästhetik so: „Theorie setzt überall ein Gegebenes voraus, welches angeschaut wird. Sie ist also Besinnung darüber, wie es geworden."87 Es erscheint wichtig, daß Schleiermacher den mit „Theorie" implizierten Charakter des Schauens mit dem der Besinnung identifiziert und das der Theorie Gegebene als ein Gewordenes interpretiert. Das Gegebene im Bereich der Kunst ist die künstlerische „Handlung". Kommen der Theorie also die Synonyme „schauen" und „Besinnung" zu, so lauten die für die Kunst „freie Produktion" und „Handlung". Die Theorie der Kunst umfaßt zwei Richtungen: Die eine Richtung betrifft eine Differenzierung innerhalb der Kunsttätigkeit. Dazu gehören Überlegungen zu „technischen Vorschriften über Behandlung des Stoffes und der Instrumente". Der Künstler selbst handhabt diese technischen Vorschriften „ganz ohne speculative Principien". Eine Kritik der Kunst kommt aber ohne eine „Theorie, die ins einzelne geht", nicht aus. Die andere Richtung der Theorie stellt die künstlerische Tätigkeit in den Rahmen der menschlichen Tätigkeit überhaupt und zielt so auf die »ethische Seite der Theorie" ab.88 Der Zusammenhang von künstlerischer Tätigkeit und übriger menschlicher Tätigkeit ist dialektisch. Einerseits ist die künstlerische Tätigkeit Teil der allgemeinen menschlichen Tätigkeit, andererseits bekommt jede menschliche Tätigkeit in dem Maße, wie sie „vervollkommnet" wird, den Charakter von Kunst. Als Beispiele sind hier zu nennen „wissenschaftliche Werke, Staatsverfassungen, gesellige Feste". Das Künstlerische in einem wissenschaftlichen Werk betrifft nicht nur die rhetorische Behandlung des Stoffes, sondern die ganze „Composition". In der Wissenschaft ist ein „Kunstwerdenwollen" vorhanden, auch wenn es nicht wahrgenommen wird. Der Grund liegt darin, daß wir uns bei der Beschäftigung mit der Wissenschaft „durch die Unvollkommenheiten durchschlagen müssen" und deshalb nicht auf die äußere Form achten.
87 88
Ästhetik, S. 10 a.a.O., S. 12
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Ähnlich verhält es sich bei der verfassungsmäßigen Form des „bürgerlichen Lebens". Hat dieses noch keine bewußte Gestaltung erfahren, so werden wir sagen, „die Verfassung sei ein Naturprodukt. Sowie sie aber vervollkommnet und geschichtlich durchdrungen ist, sagen wir, die Verfassung sei ein Kunstwerk."89 Ebenso kann das „gesellige Leben" die Gestalt eines Kunstwerkes annehmen, wenn statt „Gewöhnung" „Sitten eintreten". Schließlich kommt Schleiermacher zu der Überlegung, „die ganze Welt" sei ein „Kunstwerk", wir seien nur noch nicht in der Lage, sie als solches zu betrachten. Könnte man es, so fiele der Unterschied von Naturschönem und Kunstschönem weg; denn beide lassen sich unter dem Begriff „Produktion" subsumieren, und die aus der künstlerischen Tätigkeit hervorgegangene „Kunstwelt" ist nur die „letzte Stufe von Produktionen". Als das Subjekt aller Produktionen wäre die „schaffende Natur" zu nennen. Damit hat man die „kosmische Seite" der Kunst erreicht, zugleich aber auch die „transzendente", auf der wir „am wenigsten einen festen Boden haben" und die daher jenseits der Grenze der Theorie der Kunst liegt.90 Innerhalb dieser Grenze ergibt sich die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung. Es ist die Unterscheidung der historischen und der spekulativen Seite der Kunst. Unter dem historischen Aspekt erscheint die Kunst als eine „Reihe" künstlerischer Produktionen in ihrem „zeitlichen Nacheinander". Die historische Betrachtung gelingt aber nicht, wenn sie nicht durch die auf den Gesamtzusammenhang der Kunst abzielende spekulative ergänzt wird. In ihr wird eine „Encyclopädie" der Künste im Hinblick auf die gegenwärtige Epoche erstellt, in der sich das Wesen der Kunst ausspricht. Historische und spekulative Betrachtung sind unlösbar miteinander verbunden, „weil das Wesen selbst in aller Differenz sich successiv entwickelt".91 Unter Wesen wird hier also das sich in einer geschichtlichen Entwicklung befindende Ganze einer Sache verstanden.
89 90 91
a.a.O., S. 16 a.a.O., S. 12 f. a.a.O., S. 13
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Es bleibt als Letztes die Frage nach dem Verhältnis der künstlerischen Tätigkeit zur wissenschaftlichen und ethisch-praktischen. In Anlehnung an seine Ethik geht Schleiermacher in der „Ästhetik" von dem grundlegenden Gegensatz von „Sein und Bewußtsein" aus und versteht das Verhältnis des Menschen zur Welt als erkennende und organisierende Tätigkeit. Durch das Erkennen wird das „Reale" in die „Idealität" aufgenommen, durch das Organisieren wird das „Ideale" in die „Realität" eingebildet. Der Prozeß der Überwindung des Gegensatzes von Sein und Bewußtsein beginnt beim Menschen, weil „der Mensch erst das vollständig heraustretende Bewußtsein" ist.92 Auch hier betont Schleiermacher, daß das Erkennen immer auch ein Organisieren sei, weil es keine Tätigkeit gebe, durch die der Mensch nicht etwas außer ihm Liegendes oder sich selbst bilde. Unter diesem Aspekt läßt sich auch die künstlerische Produktion als eine bildende Tätigkeit interpretieren, doch ergibt sich gegenüber wissenschaftlicher und ethischer Bildung eine wichtige Differenz, die im folgenden besprochen werden soll. 3.2 Die Freiheit der Kunst und die Notwendigkeit im Bereich von Praxis und Theorie Der Ausgangspunkt der Kunsttätigkeit liegt im „Gefühl". Dieses erlangt in der Kunst eine Bestimmtheit, da es nach „Maaß und Regel" gestaltet wird. Das „Kunstlose" enthält dieses „Maaß" nicht. Im Bereich des „Kunstlosen" äußert sich das Gefühl z. B. als „Sprung in der Freude, Umherwüthen im Zorn, Schrei im Schreck, usw.". Die künstlerische Tätigkeit läßt sich demgegenüber folgendermaßen beschreiben: „Wo aber Maaß und Wechsel ist, da ist ein innerer Typus, Urbild, der der Ausführung vorangeht und zwischen die Erregung und sie tritt."93 Das Künstlerische ist so einerseits „natürlicher Ausdruck", andererseits ein Bewußtes und Gewölkes. Nun muß nicht jede Erregung zu einem „vorschwebenden Typus" werden, und nicht jede Urbildung führt zu einer Darstellung. Es gibt die Möglichkeit, daß die Erregung zu „schwach" ist 92 93
a.a.O., S. 24 a.a.O., S. 30f.
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oder sich unmittelbar, d.h. kunstlos äußert. Ebenso können mehrere „Urbildungen" zu einem „größeren Ganzen" zusammengefaßt werden, so daß aus diesem dann ein Kunstwerk entsteht. Volksfeste etwa, die an bestimmte Jahreszeiten gebunden sind, stellen den „im voraus aufgesparten Entladungsort für die innerlich gesammelte Urbildlichkeit" dar. Deshalb sind die dort Singenden und Tanzenden auch keineswegs besonders erregt, denn die aufgesparte Erregung ist zu einer „Disposition" geworden, über die man „frei" verfügen kann. Die zur Erscheinung gekommene Darstellung ist eben nicht das „Produkt des Momentes", sondern das aller vorhergehenden.94 Zu der künstlerischen Produktion gehören drei Momente: a) Erregung auf der Basis des „Gefühls", b) „Urbildung", d.h. Typisierung und c) Darstellung des „Urbildes" im Kunstwerk. Erst wenn alle drei Momente zusammenkommen, entsteht ein Kunstwerk. Die Gefühle „Freude und Schmerz" z. B. empfindet jeder, aber solange sie sich „unmittelbar" äußern, gehört dazu „keine besondere Fähigkeit". Die natürlichen Voraussetzungen der künstlerischen Produktion sind in jedem Menschen vorhanden, ohne daß sie bei jedem zu künstlerischer Darstellung führten. Es ist daher genau darauf zu achten, wie die drei Momente der Kunsttätigkeit verbunden werden: Die „durch die Sinne" eingehenden Affektionen der Welt werden durch die „Fantasie" zu einem „System" von Bildern „belebt". Darin zeigt sich die Produktivität der menschlichen Vernunft. Da nämlich „alle diese Bilder die eigenthümliche Welt eines jeden bilden", kann „die eigentümliche Welt keine andere sein . . . als die wirkliche, wie sie sich in dem specifischen Interesse eines jeden bricht".95 Für die Darstellung kommt es schließlich auf die Beherrschung der technischen Mittel der Kunst an. Während sich im künstlerischen Prozeß die „Affection von außen" zu einem Ur-bild der Darstellung gestaltet, kommt es im Bereich des theoretischen Denkens auf die Bildung des Begriffs an. Gemeinsam ist beiden jedoch, daß es ihnen auf „Mitteilung" ankommt. Auch das Kunstwerk erfüllt seinen Sinn nur, wenn 94 95
a.a.O., S. 34 a.a.O., S. 49
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es rezipiert wird. Durch das Kunstwerk soll das, was in „der Seele des Urhebers war, in andre Seelen ... übertragen werden".96 Übertragen wird jedoch nicht das „Gefühl" des Künstlers, das zu einem bestimmten Werk „aufgeregt" hat, denn das „Gefühl" ist individuell und unübertragbar. Übertragbar ist dagegen das „Urbild", das wie jedes Bild nach Schleiermacher ein Allgemeines darstellt. Der Vergleich der künstlerischen Tätigkeit mit der ethischen Praxis zeigt folgenden Unterschied: „Der Mensch soll durch die Kunst nicht anders werden, es wird durch sie kein Gegensatz vermittelt, kein Zweck erreicht."97 Selbst bei der „bildenden" Kunst ist die Behandlung des Materials eine „Nebensache". Die zweckfreie Tätigkeit der Kunst läßt sich daher so charakterisieren: „Die Kunst ist also durchaus nur die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, und eben deshalb ist sie ein Spiel im Gegensatz gegen die Geschäfte des Menschen."98 Zwar kann es bei dieser spielerischen Beschäftigung kein Fortschreiten geben wie im Bereich der bildenden Praxis und der Wissenschaft, aber dafür ist der Bereich der Kunst „an sich unerschöpflich". Während nämlich durch eine „große That oder bedeutende Entdeckung ... das noch übrige Feld wirklich verringert" wird, geschieht das durch die Produktion eines Kunstwerkes nicht.99 Der entscheidende Unterschied zu Theorie und Praxis besteht schließlich in folgendem: Im „Erkennen und Bilden wird sich der Mensch solcher Geseze bewußt, denen er nothwendig folgen muß". 10° Die Kunst hat demgegenüber die „Freiheit", das, worauf die Menschheit zustrebt, zur freien Darstellung zu bringen. Während die Kunst also mit ihrem Stoff frei umgeht, bleiben Theorie und Praxis an Gesetze gebunden. Sie gehören dem Bereich der Notwendigkeit an, die Kunst dem Reich der Freiheit.
96 97 98 99 100
a.a.O., S. 64 a.a.O., S. 81 a.a.O., S. 81 a.a.O., S. 81 a.a.O., S. 81 f.
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Allerdings kann die künstlerische Freiheit Element der politisch-ethischen Praxis werden. Deshalb sagt Schleiermacher: „Kein Volk kommt zu einem wahren Bewußtsein seiner Freiheit als unter den Bedingungen der Kunst."101 Ist sich der Mensch im Erkennen und Handeln der Gesetze bewußt, nach denen er dies tut, so hat er doch durch die Kunst die Gewähr, „daß er wirklich die Freiheit in sich trägt". Und in dem Maße, in dem alles, was der Mensch macht, „in seiner höchsten Vollendung selbst Kunst wird", nimmmt es den Charakter der Freiheit an.102 3.3 Das „Ideal" als das im Kunstwerk „symbolisch" antizipierte Ziel von Praxis und Theorie Die freie künstlerische Produktion reproduziert nicht die Wirklichkeit, sondern vermittelt ein „Ideal". Unter „Ideal" versteht Schleiermacher das, was „ein Ding seiner Natur nach werden will, was aber in der Wirklichkeit nie werden kann."103 Während man in der Natur stets auf ein „mangelhaftes Sein" trifft, stellt das Kunstwerk ein „mangelloses Sein" dar. Die Natur kann daher immer nur „eine Annäherung an das hervorbringen, was die Kunst produziert". Schleiermacher sagt, „daß unter Ideal nur verstanden werde die Richtung auf den reinen, dem menschlichen Geiste einwohnenden Typus jedes einzelnen Seins".104 Unter dieser Voraussetzung lassen sich die Begriffe „ideal" und „schön" folgendermaßen unterscheiden: „ideal sei, was den reinen Typus unmittelbar zum Bewußtsein bringt. Schön sei, was in der Wirklichkeit mit dem Idealen übereinstimmt."105 An einem Beispiel soll die Funktion des Begriffes „ideal" in der Kunst gezeigt werden. Ein Porträt ist nur dann ein gelungenes Kunstwerk, „wenn der Mensch in keinem wirklichen Moment 101 102
103 104 105
a.a.O., S. 83 a.a.O., S. 83. Zur Bedeutung des Spiels für Schleiermachers Anthropologie vgl. W. Schultz: Die Idee des Spiels und die Idee der Menschheit in der Theologie Schleiermachers. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. Berlin 1962. S. 340-372 Ästhetik, S. 98 a.a.O., S. 100 a.a.O., S. 101
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dargestellt wird und wenn er in unserem Sinne idealisiert ist". D.h., „der Mensch soll in seinem inneren Wesen ergriffen sein, wie es zugrundeliegt, wenn es auch vielleicht nie so erscheint".106 Die Differenz von „schön" und „ideal" und die Orientierung am „Wesen" zeigen, daß in Schleiermachers Ästhetik das klassische Schönheitsideal überwunden worden ist in Richtung auf eine vermittelnde Darstellung von Idealem und Individuellem. Diesen Vermittlungsversuch greift Schleiermacher, wie zu zeigen sein wird, in seiner Staatslehre wieder auf. Das in der Kunst enthaltene ideologische Element macht eine Unterscheidung der künstlerischen Tätigkeit im Gegensatz zu Theorie und Praxis im Hinblick auf das angestrebte Ziel erforderlich. Wenn man davon ausgeht, daß die Kunst etwas zum Bewußtsein bringt, worauf die Menschheit zustrebt, so kann man sagen, die Kunst bringt das Ziel der ethischen Praxis bereits zur Darstellung. Schleiermacher behauptet dementsprechend, daß „die Kunst das ganze Gebiet der sittlichen Urbilder" in sich schließt. Und wenn „,gutc der Ausdruck für die Vollkommenheit aller bildenden Tätigkeit ist, so kann nichts in dieser vorkommen, was nicht auch Gegenstand der Kunst wäre."107 Es ergibt sich jedoch eine wichtige Differenz, die die Gleichsetzung der Bildung im sittlichen Bereich und im Bereich der Kunst verbietet. Die Vollkommenheit der sittlich bildenden Tätigkeit kann nämlich nur „in der Totalität der Geschichte" erreicht werden. „Anders bei einem Kunstwerk, wo alles sich in einen einzigen Augenblick konzentriert."108 Das Kunstwerk ist der Diskursivität der Zeit enthoben, es hat ein „ewiges Sein". Die praktische Bildung unterliegt dagegen der in der Zeit sich vollziehenden Aufhebung der Gegensätze. Das Verhältnis von Kunst und Praxis läßt sich daher so charakterisieren: „Wir werden also sagen müssen: das Schöne ist nicht das Gute, sondern der Schein des Guten."109 Ein „Schein" darum, weil es das, was in der Wirklichkeit erst noch „werden soll", bereits zur Darstellung bringt. Das 106 107 108 109
a.a.O., S. 107 a.a.O., S. 117 a.a.O., S. 117 a.a.O., S. 118
Zum Begriff „Natur"
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Schöne stellt daher eine „symbolische" Antizipation des Guten dar. Ein entsprechender Vergleich ist nun auch im Hinblick auf das Ziel der Erkenntnis anzustellen. Hier ist „ ,wahr* der Ausdruck für die Vollkommenheit der Erkenntniß." Daraus folgt: „Nichts kann in der Erkenntniß vorkommen, was nicht auch Gegenstand der Kunst wäre."110 Aber die Wahrheit ergibt sich ebenfalls erst im fortschreitenden Prozeß der Erkenntnis der „Welt". Das Kunstwerk stellt auch hier antizipierend das Symbol der „Vollkommenheit der Erkenntniß" dar und ist deshalb ein „Schein des Wahren". Der Charakter des Scheins ergibt sich in beiden Fällen dadurch, daß es sich bei einem Kunstwerk nur um ein Einzelnes handelt, nicht aber um den angestrebten Zusammenhang alles Einzelnen. „Wenn man also sagt, die Kunst sei die unmittelbare Production des Absoluten und sie dadurch über die Wissenschaft und die Tugend erheben will, so muß man einlenken und sagen, sie producirt immer nur Einzelnes, in sich nicht Zusammenhängendes als Symbol des Absoluten."111 Theoretische und praktische Tätigkeit stellen eine in sich zusammenhängende und ständig fortschreitende „Approximation" an das Absolute dar, während die Reihe von Kunstwerken in der Zeit Symbole des Absoluten in „unendlicher Wiederholung von Einzelnem" sind. Gegenüber den Naturdingen sind sie jedoch durch ihre besondere „urbildliche Kraft" ausgezeichnet, und deshalb stellt Schleiermacher die Kunst als eine „wesentliche" menschliche Tätigkeit neben Theorie und Praxis.
4. Zum Begriff „Natur" In den verschiedenen Interpretationszusammenhängen kam mehrfach der Begriff „Natur" zur Sprache. Seine verschiedenen Bedeutungen sollen nun geklärt und in einen Zusammenhang mit Praxis und Theorie gestellt werden. Der andere im Verhältnis zu Praxis und Theorie zu erörternde Begriff ist der der „Vernunft". 110 111
a.a.O., S. 118 a.a.O., S. 119
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
Praxis und Theorie stellen zwischen beiden ein Verhältnis dar. Die Interpretation soll am Leitfaden der unterschiedlichen Bedeutungen von „Natur" bei Schleiermacher erfolgen. Drei Bedeutungen sind zu unterscheiden: 1. die Natur als Widerstand, 2. die Natur als „Wesen" und 3. die Natur als das „Ganze". 4.1 Natur als Widerstand Im ethischen Prozeß hat die Natur den Charakter von Widerstand. Die Natur leistet zunächst und immer wieder Widerstand gegen die Einwirkungen der Vernunft. Die Vernunft ist an „individueller" Bildung interessiert, für die Natur sind aber „universelle Prozesse" maßgebend. Diese verhindern und zerstören die individuellen Bildungen. Die Natur zerstört die Werke der menschlichen Vernunft; der Mensch selbst kann sein eigenes individuelles Leben nicht gegenüber der Natur auf die Dauer behaupten. Im Tode gewinnen die Naturprozesse Oberhand über den menschlichen Organismus.112 In der Psychologievorlesung spricht Schleiermacher von der „Materie", die in dem „universellen Prozesse der räumlichen Veränderungen in dem mechanischen und chemischen" die Zerstörung alles Geistigen, soweit es um zu erscheinen selbst an die Natur gebunden ist, alles Lebendigen und Individuellen bewirkt. Diese „allgemeinen Naturprozesse" bedrohen den Menschen und deshalb sieht es Schleiermacher schon in den ,Reden' als das Ziel an, diese zu überwinden. Er sagt dort: „Das ist ja das große Ziel alles Fleißes, der auf die Bildung der Erde verwendet wird, daß die Herrschaft der Naturkräfte über den Menschen vernichtet werde, und alle Furcht vor ihnen aufhöre; wie können wir also in dem was wir zu bezwingen trachten, und zum Theil schon bezwungen haben, das Universum anschauen ?"113 Die Bezwingung der Natur erscheint nicht als aussichtslos. Zwar kann der einzelne Mensch auf die Dauer nicht seine Existenz gegenüber der Natur behaupten, doch wird es der Menschheit gelingen, zu einer vollkommenen Beherrschung der Natur-
112 113
Über die Religion, a.a.O., S. 212 a.a.O., S. 224
Zum Begriff „Natur"
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kräfte zu gelangen. Daran knüpft sich Schleiermachers Hoffnung: „Das hoffen wir von der Vollendung der Wißenschaften und Künste daß sie uns diese todten Kräfte werden dienstbar machen, daß sie die körperliche Welt, und alles von der geistigen was sich regieren läßt in einen Feenpallast verwandeln werde . . . Dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein, dann ist jedes Leben praktisch und beschaulich zugleich, über keinem hebt sich der Stekken des Treibers und Jeder hat Ruhe und Muße in sich die Welt zu betrachten."114 Immer wieder werden diese Naturkräfte als „todter Mechanismus" beschrieben, der vernichtet werden muß. Mit dem in der Ethik verwendeten Begriff „Organisieren" verbindet sich jedoch die Überlegung, daß die Überwindung toter Kräfte nur gelingt, wenn man sie dienstbar macht, d. h. sie „organisiert". Natur als Gegenbegriff zu Vernunft meint dann mehr als nur die anorganische Natur, sondern alles, was der Vernunft Widerstand leistet. So gelangt Schleiermacher in den ,Reden' zu dem Urteil: „Das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden. Nichts soll todte Maße sein, die nur durch den todten Stoß bewegt wird, und nur durch bewußtlose Friktion widersteht: alles soll eigenes zusammengeseztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein. Blinder Instinkt, gedankenlose Gewöhnung, todter Gehorsam, alles Träge und Paßive, alle diese traurigen Symptome der Asphyxie der Freiheit und Menschheit sollen vernichtet werden."115 Indem durch die „Organisation" die tote Natur mit lebendigem Geist durchdrungen wird, wird sie selbst lebendig und gerät in Bewegung. Die Natur wird durch die theoretische und praktische Tätigkeit lebendiges Glied eines organischen Zusammenhangs, der sich im geschichtlichen Prozeß vervollkommnet. 114
115
a.a.O., S. 290. Anhand einer begriffsgeschichtlichen Analyse weist R. Spaemann nach, daß in der griechischen Philosophie „physis" und „nomos", d. h. das, was von sich aus da ist und das, was vom Menschen gesetzt ist, als Begriffspaar gedacht wurde, das bis in die neuzeitliche Philosophie hinein (z.B. bei Marx) als relativer Gegensatz von Natur und Praxis in verschiedenen Brechungen und Umdeutungen erhalten blieb. Vgl. R. Spaemann: Art. Natur. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. München 1973. Bd. 4 Über die Religion, a.a.O., S. 234
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
4.2 Natur als „Wesen" Für die „organisierte Natur" wird nun die zweite Bedeutung wichtig. Nach ihr ist die Natur als „Wesen" zu interpretieren. In diesem Sinne spricht Schleiermacher von der „Natur" des Menschen, der „Natur" des Staates, der „Natur" der Dinge, usw. Hierbei handelt es sich um eine Natur, die in keinem Gegensatz zu der Vernunft steht, sondern bereits „vernünftig" gewordene Natur ist. Das Wesen umfaßt die geschichtliche Bewegung des Organisierten und läßt sich daher als Ergebnis und als Ausgangspunkt im Bildungsprozeß begreifen. Wenn Schleiermacher z. B. von der endlichen Natur des Menschen spricht, so meint er damit, daß das „Wesen" des Menschen so lange unabgeschlossen ist, als es sich in der geschichtlichen Entwicklung befindet.116 In diesem Sinne spricht er in der ,Ästhetikf davon, daß sich das „Wesen" einer Sache „successiv" entwickele. Die Porträtkunst macht ja z. B. den Versuch, das „Wesen" eines Menschen symbolisch darzustellen. Zu erwähnen ist auch noch folgende Stelle, in der verschiedene Momente der Natur in der Bedeutung von „Wesen" angesprochen werden: „Möchten sie doch einmal einsehn, daß man jedes Ding, um es als Element des Ganzen anzuschauen, nothwendig in seiner eigenthümlichen Natur und in seiner höchsten Vollendung muß betrachtet haben."117 Aus diesem Grunde ist es aber auch nicht möglich, das „Wesen" einer Sache vollkommen zu begreifen; denn es befindet sich ja in einer unabgeschlossenen geschichtlichen Entwicklung. Dazu kommt, daß es mit allem übrigen verbunden ist und ohne den Zusammenhang mit dem Übrigen unverständlich bleibt. Bezogen auf das „Wesen" eines Menschen muß dessen Beziehung zu den übrigen Menschen mitreflektiert werden; denn der Mensch ist „von Natur aus gesellig". Das „Wesen" des Menschen ändert sich also z.B. nicht nur durch individuelle Bildung, sondern mittelbar auch durch das Fortschreiten der „Menschheit" und den sich daraus ergebenden jeweils neuen Konstellationen. Ordnet man die verschiedenen Aspekte der Natur in ihrer Bedeutung von „Wesen", so ergeben sich vier Merkmale: 116 117
a.a.O., S. 212 a.a.O., S. 255
Zum Begriff „Natur"
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a) Das Wesen ist Repräsentant des Individuellen und als solches Mischung verschiedener Elemente. b) Das Wesen als Eigentümliches, Individuelles ist zugleich Teil eines größeren Ganzen. In jedem Individuellen vereinigt sich das Ganze in unterschiedlicher „Brechung". So ist z. B. der einzelne Mensch ein „Compendium der Menschheit", in dem die „ganze menschliche Natur" enthalten ist.118 c) Das Wesen ist ein unabgeschlossener und daher im voraus nicht zu definierender geschichtlicher Prozeß. d) Das Wesen beinhaltet das ideologische Moment geschichtlicher Vollendung.119 4.3 Natur als das „Ganze" Die dritte Bedeutung ergibt sich dadurch, daß Schleiermacher das „Ganze" selbst auch noch als Natur anspricht. Es enthält zwei Momente: a) Es hat den Sinn der alles hervorbringenden schöpferischen Natur, der „physis", oder, wie Schleiermacher in der »Dialektik* sagt, der „natura naturans". In den ,Reden£ übernimmt diese Funktion das „Universum". In der Gestalt der „Einheit" ist sie Voraussetzung und Bedingung für alle weitere Bildung „vernünftiger Einheiten". b) Das „Ganze" als organisches „System" alles Einzelnen ist das Ziel des theoretischen und praktischen Bildungsprozesses. Im „Ganzen" als „System" hängt jedes mit jedem zusammen, nichts ist isoliert. Es ist die totale Durchdringung von Natur und Vernunft, das Ziel der geschichtlichen Entwicklung. Anwesend ist die Natur als das „Ganze" im Gefühl, oder philosophisch ausgedrückt, das „unmittelbare Selbstbewußtsein" ist das „Bewußtsein von dem Zusammensein des Menschen mit der Welt", im Gegensatz zur vorigen Bedeutung von Natur ist die Natur als das „Ganze" ungeschichtlich und zeitlos. Es ist „ewig". Im Gefühl tritt in individueller und zeitlicher „Brechung" das 118 119
a.a.O., S. 232 Zum Begriff „Wesen" vgl. F. Kaulbach: Einführung m die Metaphysik. Darmstadt 1972. S. bes. Kap. IV
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Die Bildung einer „vernünftigen Natur"
zeitlose Ganze ins Bewußtsein. Als das Vollkommene ist es auch das „Absolute". Kunst und Religion thematisieren das „Absolute". Es tritt hier als Symbol bzw. als Gefühl auf. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, warum Praxis und Theorie als an die Zeit gebundene Tätigkeiten es vornehmlich mit der Natur in der ersten und zweiten Bedeutung zu tun haben. Der Widerstand der Natur bildet nämlich zugleich den „Gegenstand" der theoretischen und praktischen Tätigkeit. Das Wesen umfaßt die „Bildungsgeschichte" der „organisierten Natur". Die Natur als das „Ganze" bleibt dagegen die zeitlose, im Gefühl erfahrbare Voraussetzung der praktischen und theoretischen Tätigkeit bzw. das in der Zeit nie zu erreichende und daher auch nie als Gegenstand vorhandene Ziel. In der Weise jedoch, in der das Erkennen als „Symbolisieren" mehr als nur Einzelnes zum Gegenstand hat, sondern dabei immer auch einen Vorgriff auf das „Ganze" macht, tritt die Natur als das „Ganze" in das erkennende Bewußtsein.
III. Die „Dignität" der Praxis - Zur Theorie der Geselligkeit, Pädagogik und Politik In diesem Teil ist der Bereich, den Schleiermacher als „Organisieren" versteht, näher zu betrachten, während der folgende sich mit dem Bereich des „Erkennens" beschäftigt. Das „Organisieren" tritt hier als gesellschaftlich-ethische Praxis in den Blick. Die Gesellschaft ist für Schleiermacher durch eine Anzahl gegeneinander abgegrenzter „Lebensbereiche" bestimmt. In ihnen und zwischen ihnen tauchen Gegensätze auf, die es zu vermitteln gilt. Die dabei leitenden Prinzipien sind „Individualität", „Mündigkeit" und „Demokratie". Die Überlegungen ,Zur Theorie der Gesellschaft und der Geselligkeit' haben die Funktion, das von Schleiermacher berücksichtigte Feld der Praxis abzustecken. In ihm soll dann an den Beispielen ,Pädagogikc und »Staatslehre' seine Theorie der gesellschaftlichen Praxis erörtert werden.
l. Zur Theorie der Gesellschaft und der Geselligkeit Die Begriffe Gesellschaft, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Geselligkeit bilden bei Schleiermacher einen Komplex mit zum Teil fließenden Grenzen. Es soll der Versuch einer Differenzierung gemacht werden, wobei die Begriffe Gesellschaft und „freie Geselligkeit" gegenübergestellt werden. Es erweist sich, daß der Begriff Gesellschaft zum übergeordneten wird und die „freie Geselligkeit" darin eine bestimmte Stelle einnimmt. 1.1 Aspekte zu einer Theorie der Gesellschaft Der Begriff Gesellschaft taucht bei Schleiermacher mit unterschiedlicher Bedeutung auf und markiert eine Unbestimmtheit in der Sache selbst. So wird z.B. „bürgerliche Gesellschaft" oftmals
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Die „Dignität" der Praxis
synonym mit „Staat" gebraucht. Die Betonung liegt dann auf dem verfassungs- und gesetzmäßigen Zustand der Gesellschaft.1 Daneben aber wird sowohl Gesellschaft als auch „bürgerliche Gesellschaft" in einem Sinn gebraucht, der über die Bedeutung von „Staat" hinausgeht. Es wird ein Begriff von Gesellschaft in Anspruch genommen, bei dem der „Staat" als ein Teil der Gesellschaft neben anderen vorgestellt wird.2 Was beinhaltet dieser Begriff der Gesellschaft, und was sind die neben dem Staat auftretenden Teilbereiche? Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, eine Entwicklungslinie zu skizzieren, die von den frühen Entwürfen zur Ethik zu der relativ späten ,Pädagogik* verläuft. Die in der ,Ethik' genannten „vollkommenen ethischen Formen", wie „Geschlechter und Familie", „Nationaleinheit", „nationale Gemeinschaft des Wissens", „Kirche" und „freie Geselligkeit" nehmen in den späteren Schriften die Gestalt eines geschlossenen Kanons miteinander in Beziehung stehender „Lebensbereiche" an. Es sind: Familie, freie Geselligkeit, Staat, Wissenschaft und Kirche. Charakteristisch für alle Lebensbereiche ist, daß, gemäß Schleiermachers Interpretation der Wirklichkeit als durch Gegensätze bestimmt, es ihre Aufgabe ist, den in ihnen auftretenden Gegensatz zu überwinden. Da die hier darzustellende Theorie der Praxis nicht alle Lebensbereiche thematisiert, soll zunächst ein Überblick gegeben werden. a) Familie
Die Familie ist der grundlegende Lebensbereich, weil der Mensch von hier aus in alle übrigen gelangt. In der Ehe, als dem Ausgangspunkt der Familie, kommt es darauf an, den Gegensatz im Sinne Pädagogik I, S. 94. Einen geschichtlichen und begriffsgeschichtlichen Abriß zu „Bürger, Staatsbürger, Bürgertum" gibt M. Riedel in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Stuttgart 1972, Bd. 1. S. 672-725 Pädagogik I, S. 337. Zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft bei Schleiermacher vgl. Y. Spiegel: Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. Sozialphilosophie und Glaubenslehre bei F. Schleiermacher. München 1968, und H. Schuffenhauer: Der fortschrittliche Gehalt der Pädagogik Schleiermachers. Berlin 1956
Zur Theorie der Gesellschaft und der Geselligkeit
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der geschlechtsspezifischen Differenz von Mann und Frau aufzuheben. „Der Maaßstab der Vollkommenheit einer Ehe ist das Extinguiren der Einseitigkeit des Geschlechtscharakters und die Entwicklung des Sinnes für den entgegengesezten."3 Durch den „gemeinschaftlichen Besiz", die „Gemeinschaft der Geschwister", die „Gemeinschaft der Kinder mit den Eltern" werden die in der Familie auftauchenden Gegensätze überwunden. Es bildet sich als „gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit" der „Familiencharakter". Auf diese Weise stellt die Familie „als Einheit angesehen ... eine eigenthümliche Gestaltung des Seins der Vernunft in der Natur dar".4 Die Familie bereitet die Kinder durch Erziehung auf das gesellige, kirchliche, wissenschaftliche und politische Leben vor, indem sie bereits im familiären Rahmen verschiedene in den übrigen Lebensformen vorkommende Funktionen praktiziert. b) freie Geselligkeit Der in der freien Geselligkeit zu überwindende Gegensatz ist der von Individuum und frei gebildeter Gemeinschaft. Dieser Bereich wird im nächsten Punkt, ,Die Theorie der Geselligkeit', genauer besprochen. c) Staat Der politische Gegensatz ist der von „Regierenden" und „Regierten". Auch hier besteht die „Vollkommenheit" in der „Durchdringung beider Seiten".5 Überwunden wird der Gegensatz durch die Bildung einer „Repräsentation" des Volkes, durch die „öffentliche Meinung" und den „Gemeingeist". Das Ziel ist, daß das politische Leben sich auf der Basis „gemeinschaftlicher Acte" von „Regierenden" und „Regierten" gestaltet. d) Wissenschaft In der Wissenschaft taucht der Gegensatz von „Gelehrten" und „Publikum" auf. Die Möglichkeit zur Überwindung dieses Gegensatzes liegt in der Bildung einer gemeinsamen Sprache als „allgemeinem Communicationsmittel" und der Anwendung die3 4 5
Ethik II, S. 324 a.a.O., S. 327 a.a.O., S. 344
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Die „Dignität" der Praxis
ses Mittels im Gespräch. ,Dialektik' ist daher bei Schleiermacher zugleich Theorie des Gesprächs und Wissenschaftstheorie. Die „Erziehungseinrichtung" Schule stellt eine Organisationsform dar, in der pädagogisch-ethische und wissenschaftspropädeutische Aspekte verbunden sind und die den bezeichneten Gegensatz überwinden helfen soll. e) Kirche
Der in der Kirche auftretende Gegensatz ist der von „Klerus" und „Laien". „Das Wesen der Kirche besteht in der organischen Vereinigung" aller zu ihr gehörenden Mitglieder, „die unter dem Gegensaz von Klerus und Laien" stehen.6 Im „Cultus" überschreitet „jeder sein religiöses Gefühl" und faßt es nicht nur als „ein persönliches, sondern zugleich als ein gemeinsames" auf.7 In der Christlichen Sitte' und in der praktischen Theologie* hat Schleiermacher diesen Gedanken ausgeführt, aber aufgrund der Ausklammerung der Religion aus unserem Zusammenhang bleibt die Organisationsform Kirche unberücksichtigt. Der Charakter der verschiedenen Lebensbereiche bleibt ambivalent. Einerseits stellen sie den Rahmen gesellschaftlich-ethischen Handelns dar, andererseits unterliegen sie selbst der Kritik, da sie nicht den Anspruch erheben können, die Gegensätze der gesellschaftlichen Wirklichkeit überwunden zu haben. Darüberhinaus ist zu bedenken, daß es nicht nur innerhalb der Lebensbereiche Gegensätze zu überwinden gilt, sondern daß auch zwischen den Lebensbereichen Konflikte auftreten. Es kommt in der gesellschaftlichen Praxis hier darauf an, Grenzüberschreitungen zu verhindern. Daß der Staat nicht identisch mit der „ganzen Gesellschaft" ist8, sieht man auch daran, wie energisch sich Schleiermacher für eine „Begrenzung" der „Wirksamkeit" des Staates gegenüber den anderen Lebensbereichen einsetzt. Schon in den »Reden' wendet er sich dagegen, daß der Staat in die Organisation der Kirche eingreift. Ebenso müssen Schule, Universität, Familie und „freie Geselligkeit" von Übergriffen des Staates frei bleiben.
6 7 8
a.a.O., S. 361 a.a.O., S. 362 Pädagogik I, S. 105
Zur Theorie der Gesellschaft und der Geselligkeit
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Insgesamt geht es darum, die Lebensbereiche in ihren Grenzen zu bestätigen, ihr relatives Recht nachzuweisen und gleichzeitig die schwächeren Organisationsformen wie Familie, „freie Geselligkeit" und Wissenschaft vor den stärkeren wie Kirche und Staat zu schützen. Bei der Besprechung der ,Pädagogik', der ,Staatslehre' und der ,Dialektik' wird diese Abgrenzung im Einzelnen zu begründen sein. Schließlich ist noch auf eine Wendung im Gesellschaftsbegriff hinzuweisen, wie sie sich in den späten Schriften wie ,Pädagogik* und ,Staatslehre' ankündigt. Hier gewinnt ein gesellschaftlicher Gegensatz an Bedeutung, der unabhängig von denen ist, die in und zwischen den Lebensbereichen anzutreffen sind. Es handelt sich um die Erkenntnis, daß die Gesellschaft in zwei große „Klassen" zerfällt, deren eine man als die „führende", „aristokratische" bezeichnen kann, während der anderen die „breiten Volksschichten" angehören. Der Klassengegensatz bezieht sich nicht nur auf den politischen von „Regierenden" und „Regierten" in einem weiteren Sinn, sondern auch auf den ökonomischen. Die „großen Differenzen der gesellschaftlichen Klassen" werden zu dem alle anderen Gegensätze überlagernden Hauptgegensatz.9 Als das vorrangige Ziel der gesellschaftlichen Praxis rückt nun die Überwindung der „Trennung der Klassen der Gesellschaft" ins Bewußtsein. Darauf wird bei der Besprechung der ,Pädagogik' und der »Staatslehre' noch einzugehen sein. 1.2 Die Theorie der Geselligkeit Bei dem ,Versuch einer Theorie des geselligen Betragens* handelt es sich um eine Jugendschrift Schleiermachers, die 1799 anonym erschien. Schleiermacher setzt sich hier unter anderem mit Knigges ,Umgang mit Menschen' auseinander, wie Tagebuchaufzeichnungen belegen.10 Der Aufsatz gehört damit zu einer bestimmten literarischen Gattung. Von besonderem Interesse ist hier jedoch, wie das Verhältnis von Praxis und Theorie am Modell der „freien Geselligkeit" expliziert wird. Es enthält bestimmte utopische 9 10
a.a.O., S. 354 H. Nohl identifizierte Schleiermacher als Autor des »Versuchs einer Theorie des geselligen Betragens'. Vgl. seine Vorbemerkung in ,Ethik . S. XXIII f.
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Die „Dignität" der Praxis
Züge, die über den Bereich der Geselligkeit hinausweisen und eine Gesellschaft verzeichnen, die mit dem Anspruch auftreten könnte, frei zu sein. Schleiermacher weist in seiner Abhandlung der „freien Geselligkeit" einen Platz zwischen dem häuslichen Leben und der sich in der Öffentlichkeit vollziehenden Berufstätigkeit zu. Es handelt sich um einen Bereich, in dem der einzelne Teilnehmer selbst „Gesetzgeber" ist. Die Verbesserung und Vervollkommnung des „geselligen Betragens" kann jedoch nicht durch eine alle Gesetze a priori vorschreibende Theorie bewerkstelligt werden; und doch kommt der Theorie in diesem Prozeß eine wichtige, näher zu bestimmende Funktion zu. Allein durch die Theorie bekommt man nämlich die „Annäherungspunkte" in den Blick, die „durchlaufen" werden müssen, „und so giebt es auch keine Verbesserung ohne Theorie".11 Bei der Bestimmung der Aufgabe der Theorie ergeben sich folgende Extreme: Auf der einen Seite steht der „Theorist", der „aus Begriffen" und nach „allgemeingeltenden, in Formeln ausgedrückten Regeln" das gesellige Betragen vorzuschreiben sucht. Auf der anderen Seite finden wir den „Virtuosen", der es als ein zu „individuelles" Geschehen betrachtet, als daß man „allgemeinen Regeln ... trauen dürfe" und sich daher lieber auf die „Nachahmung" oder auf das eigene „Gefühl" verläßt. Die Beschränktheit der Virtuosen besteht darin, daß sie, „wenn sie der Welt etwas von ihren Kenntnissen mittheilen, es immer, ich weiß nicht ob mehr verschmähen oder versäumen, den Umriß des Ganzen zu ziehen, und jedem Einzelnen eine bestimmte Stelle anzuweisen".12 Indem aber der „Theorist" gerade vom Ganzen ausgeht und die Einzelheiten in der Wirklichkeit überspringt, verhalten sich beide Extreme komplementär. Im Unterschied zu beiden wird dem „Theoretiker" ein Platz zwischen beiden Extremen reserviert. Die Möglichkeit der Verbindung beider Extreme erscheint dadurch gewährleistet, daß das 11
12
F. D. E. Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: KGA, I, 2. S. 166 a.a.O., S. 166
Zur Theorie der Gesellschaft und der Geselligkeit
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„Gefühl", auf das sich der Virtuose beruft, bereits eine Richtung auf „Allgemeinheit" enthält. Indem man sich bei der Beurteilung geselligen Verhaltens auf das „Gefühl" beruft, wie vergleichsweise bei moralischen Angelegenheiten auf das „Gewissen", akzeptiert man es als „ein allgemeines, in dem Wesen der menschlichen Natur gegründetes". So ist es verständlich, daß das „Gefühl" „in jedem gebildeten Individuo - zum Richter über einzelne Urtheile oder besondere Regeln" erhoben wird.13 Die im „Gefühl" enthaltene Richtung auf allgemeine Verbindlichkeit macht es zu einem tauglichen Ausgangspunkt für die Theorie, ersetzt sie aber nicht, sondern das „Gefühl selbst ... beweiset nur auf eine andere Art die Nothwendigkeit einer Theorie".14 Ohne Theorie kann „jede Ausübung nur eine blinde unzusammenhängende Empirie seyn".15 Die Aufgabe des Theoretikers läßt sich folgendermaßen bestimmen: „Der Theoretiker ist es, der bei der ganzen Untersuchung auf dem höchsten Standpunkt steht; er allein sucht den Schlüssel des Räthsels und die letzten Gründe der Handlungen; er allein will das gesellige Leben als ein Kunstwerk construiren, da Virtuosen es oft nur als eine schöne Fantasie betrachten; er allein will dem, was diese schönes und treffendes sagen, dadurch die letzte Vollendung geben, daß er ihm seine Stelle im System anweist."16 Drei Momente sind es, die die Tätigkeit des Theoretikers bestimmen: a) das Suchen nach den letzten Gründen der Handlungen, b) der Wille, das gesellige Leben als ein Kunstwerk zu konstruieren, und c) die Vollendung des geselligen Betragens im System. Für das Verhältnis von Theorie und Praxis erscheint besonders wichtig, daß hier der Theoretiker selbst als ein im Bereich der Geselligkeit Handelnder vorgestellt wird.
13 14 15 16
a.a.O., S. a.a.O., S. a.a.O., S. a.a.O., S.
167 167 167 167
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Die „Dignität" der Praxis
Unter dem Aspekt der Konstruktion und der künstlerischen Produktion erscheint es notwendig, Voraussetzungen und Ziele der geselligen Handlungen anzugeben. Geselligkeit wird, und das ist die Voraussetzung, als „eine nicht zu umgehende natürliche Tendenz betrachtet; es wird nur von dem ersten in jedem Menschen von selbst vorhandenen Begriff derselben ausgegangen, in dessen ursprünglichen Merkmalen schon ein Zweck und eine Form, unter der es erreicht werden soll, verbunden sind".17 Das Ziel der Geselligkeit ist eine „durch alle Theilhaber sich hindurchschlingende, aber auch durch sie völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung".18 Dabei wird kein außerhalb der Gesellschaft liegendes Werk verrichtet; der Zweck liegt in ihr selbst. Die „vollendete Wechselwirkung" ist das formale Merkmal, inhaltlich geht es um ein „freies Gedankenspiel". Beide Merkmale sind Schleiermacher aber noch zu allgemein. Mit ihrer Hilfe kann man noch keine „reelle Theorie" erstellen. Die Theorie muß den Blick auf „bestimmte und wirkliche Gesellschaften" lenken. Gegenüber den mannigfaltigen Möglichkeiten der Geselligkeit stellt eine bestimmte Gesellschaft eine begrenzte Wirklichkeit dar, die als solche in der Theorie berücksichtigt werden muß. Das allgemeine Wesen der Geselligkeit zu bestimmen, reicht nicht aus. „Jede einzelne Gesellschaft nämlich muß von diesem Wesen ein bestimmtes Maas haben, und existirt nur, in so fern sie dieses hat, als ein Individuum."19 Die schwierige Aufgabe der Theorie besteht also darin, den Gedanken der Individualität in der notwendigerweise allgemeinen Theorie zu berücksichtigen. Die Theorie muß ein Gesetz enthalten, das dem Mitglied einer bestimmten Gesellschaft es ermöglicht, sich dieser angemessen zu verhalten. Schleiermacher formuliert dieses Gesetz folgendermaßen: „deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann.