Die Konstruktion des Endlichen: Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung 9783110918274, 3110183439, 9783110183436

Sarah Schmidt's systematic interpretation of Schleiermacher's philosophical work focuses on his concept of &qu

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German Pages 436 Year 2005

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Die Konstruktion des Endlichen: Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung
 9783110918274, 3110183439, 9783110183436

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Sarah Schmidt Die Konstruktion des Endlichen

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G

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler, Wolfgang Wieland

Band 67

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Konstruktion des Endlichen Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung von Sarah Schmidt

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018343-9 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek vcrzcichnct diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h t t p : / / d n b . d d b . d e abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die lunspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in G e r m a n y Rinbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin D r u c k und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

meinen Eltern

Vorwort Wie kann man sich denkend und handelnd in einer Welt orientieren, deren Geschichtlichkeit uns nicht mehr entlässt? Diese Frage tritt dann mit aller Radikalität auf den Plan, wo „Geschichtlichkeit" zum ersten Mal mit Emphase zum Gegenstand philosophischer Überlegungen wird - Ende des 18. Jahrhunderts. Das vorliegende Buch liest Friedrich Schleiermacher als Philosoph des Endlichen, der in seinen philosophischen Werken von einem radikal endlichen oder historischen Standpunkt ausgeht, jedoch immer der Suche nach einer Orientierung in dieser kontingenten Welt verpflichtet bleibt. Der Fokus der systematischen Rekonstruktion seines philosophischen Werkes liegt dabei auf dem Begriff der Wechselwirkung, der als Leitmotiv Schleiermachers Philosophie bestimmt, seinen Lösungsansatz auf philosophische Grundfragen darstellt und trotz des Baustellen- und Fragmentcharakters, den verschiedenen Teilstücken und Entwicklungsstufen, in denen das philosophische Werk Schleiermachers vorliegt, die Einheit seines Denkens zum Ausdruck bringt. Da die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit und dem Wie einer Orientierung in einer kontingenten Welt ihre Brisanz bis heute nicht eingebüßt hat, ist der Fokus der Wechselwirkung nicht nur fruchtbar, die Einheit des philosophischen Werkes Schleiermachers hervorzuheben, sondern macht auch seine Aktualität aus. Weniger aktuell erscheint hingegen Schleiermachers Anliegen, einen philosophischen Gesamtentwurf vorzulegen, d.h. eine Weltdeutung vorzunehmen, aus der kein theoretischer, künstlerischer und lebenspraktischer Bereich ausgeschlossen sein darf. Dieses Anliegen scheint aus heutiger Sicht vermessen und wird zugleich in einer Welt, die sich immer komplexer vernetzt und in der wir vor der mondialen Größe der Deutungszusammenhänge die Augen nicht mehr verschließen können, immer dringlicher. Hält Schleiermachers Philosophie an der Maxime fest, die ganze Welt und nicht nur einen Teil erkennen zu sollen, so ist sie doch von dem Vorwurf freizusprechen, Welt ein für alle Mal erklären zu wollen. Ihr ist, wenn auch nicht lückenlos, eine romantische Gelassenheit eigen, die damit rechnet, überholt zu werden, dies auch noch in dem eigenen Entwurf antizipiert und darin liegt gerade ihre Stärke. Diese romantische Gelassenheit ist es auch, die dem Gesprächspartner Raum lässt, sodass auch nach einer mehrjährigen Lektüre das Interesse an dem Gespräch mit Schleiermacher nicht nachgelassen hat. Für die aufmerksame und kritische Begleitung meiner fünfjährigen Auseinandersetzung mit Friedrich Schleiermacher, der ich entscheidende Hinweise verdanke und die mir manchen Umweg erspart hat, möchte ich in erster Linie Herrn Prof. Dr. Andreas Arndt und Herrn Prof. Dr. Christoph Hubig danken. Diskussionspartner an meinem Wohnort in Paris waren mir Prof. Dr. Christian Ber-

VIII

Vorwort

ner und Dr. phil. habil. Denis Thouard, deren Interesse und fachliche Ratschläge mir ebenfalls immer weitergeholfen haben. Für kritische Lektüre und Änderungsvorschläge bin ich darüber hinaus meinen beiden akademischen Lehrern Prof. Dr. Jürgen Engfer und Dr. phil. habil. Ulrich Johannes Schneider, sowie Dr. Claudia Gronemann und Dr. Judith Kasper zu Dank verpflichtet, für die unermüdliche Unterstützung bei der Schlussredaktion allen voran meinen Eltern sowie Alexandre Kostka, Esther Maurer, David Sanson und Ingrid Streble. Das diesem Buch zugrunde liegende Dissertationsprojekt wurde zwei Jahre mit einem Stipendium der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg unterstützt. Bern, im Februar 2005 Sarah Schmidt

Inhalt Vorwort

VII

Einleitung

1

1. 2.

1

Vom Nachteil und Nutzen der Geschichtlichkeit Bemerkungen zum Umgang mit der Textgrundlage und ihrer Edition

9

Kapitel 1: Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

15

1.1.

15

1.2. 1.2.1. 1.2.2.

1.3.

1.3.1. 1.3.2.

Wechselwirkung: Der Versuch einer ersten Annäherung Vom Gefangensein im Endlichen: Überlegungen zum Verhältnis von Spinoza und Schleiermacher Schleiermachers Spinozalektüre Die Knechtschaft des Menschen und die Macht der Vernunft in Spinozas „Ethik" - Der ethische Zirkel und das ewige „Anfangen-aus-der-Mitte" bei Schleiermacher Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz: Überlegungen zum Verhältnis von Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher Friedrich Schlegels Philosophie des „Wechselerweises" Die Symphilosophen Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher

26 26

28

39 39 52

Kapitel 2: Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung Berliner Schriften (1798-1801) 2.0.

Einleitung.

57

2.1.

Universalisierung durch Religion und die Mitteilbarkeit religiöser Anschauung — „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799)

59

χ

Inhalt

2.2.

2.3. 2.4.

2.5. 2.6.

3.

3.0.

Die Wechselwirkung von Weltbildung und Selbstbildung als Wechselwirkung von Darstellen und Erkennen „Monologen" (1800)

71

Freiheit als bildendes Erkennen - Freiheit als Erkenntnis Gottes: Schleiermacher und Spinoza

81

Vollkommene Wechselwirkung als Realisierung von Sittlichkeit oder die Wechselwirkung von Individuum und Gemeinschaft — „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" (1799); „Gedankenheft III "(1798-1801)

84

Die Wechselwirkung der Geschlechter — „Vertraute Briefe zu Friedrich Schlegels Lucinde" (1800)

94

Die Dialogführung im Gespräch „Über das Anständige" (1800) als Wechselwirkung von Theorie und Erfahrung

98

Die Wechselwirkung der Formen des Denkens oder die Begründung eines Wissens „ohne Anfang" Dialektik.

101

Einleitung

101

3.1. Das Projekt der Dialektik 3.1.1. Die Frage nach einer obersten Wissenschaft (1): Die Dialektik als Wissenschaftslehre 3.1.2. Dialektik als Kunst der Gesprächsführung. 3.1.3. Dialektik als Wissenschaft und Kunsdehre: Philosophie als Philosophieren 3.1.4. Wechselwirkung von transzendentalem und technischem Teil der „Dialektik" 3.1.5. Wissenwollen als „unbewußtes Agens"- ein „überhistorischer" Ausgangspunkt der Analyse der Idee des Wissens? 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.2.5.

Die „Analyse der Idee des Wissens" - zum transzendentalen Teil der Dialektik Die zwei Charaktere des Wissens - die Bedingungen der Möglichkeit des Streites Die zwei Funktionen des Denkens —das Anfangen des Denkens „aus der Mitte" Wahrnehmung, eigentliches Denken und Anschauung Das bildliche Denken: Büd und Schema Das eigentliche Denken: Urteil und Begriff.

106 106 110 113 116 119 123 124 130 132 135 141

Inhalt

3.2.6. Die „transzendentale Deduktion" des obersten Gegensatzes als Denkgrenze - die „transzendentale Deduktion" der beiden Funktionen des Denkens 3.2.7. Exkurs: Zur Bestimmung von Raum und Zeit und dem Gegensatz von Denken und Gedachtem 3.2.8. Der Grund der Differenz und der Grund der Gemeinschaftlichkeit des Wissens 3.2.9. Die ursprüngliche Einheit des absoluten Gegensatzes im transzendentalen Grund 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.3.5. 3.3.6. 3.3.7.

Wechselwirkung im Prozess des reinen Denkens — zum technischen Teil der „Dialektik" Der empirisch-sammelnde und der regelgebende Charakter des technischen Teils der „Dialektik" Zur formalen Struktur des technischen Teils — die Architektur von Wissenskonstruktion und -kombination Die „Theorie des Irrtums" oder die erste Streitregel: Das Wissen um das Noch-nicht-Wissen Exkurs: Die Wechselwirkung von Aktion und Ding. Die Wechselwirkung von Deduktion und Induktion Die problematische Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen Der Schluss als Probe im werdenden Denken und die Bedeutung der Mathematik

XI

144 147 150 156 169 169 173 178 182 184 188 190

3.4. Zum Verhältnis von Denken und Sein 3.4.1. Die drei Ebenen des Seins 3.4.2. Schleiermachers Position zwischen Idealismus und Realismus: Kohärenz, Korrespondenz und Konsensmodell des Wissens 3.4.3. Parallelität und Gegensatz des werdenden Seins und Denkens

198 200

Kapitel 4: Kritik als Kunst der Orientierung oder die Entfaltung des Wissens im kritischen Gespräch Hermeneutik und Kritik

205

4.0.

205

Einleitung

4.1. Die Beziehung zwischen Denken und Sprechen (1) 4.1.1. Das Denken in Sprachkreisen: Die eingeschränkte Gültigkeit der „Dialektik" 4.1.2. Die „Irrationalität" der Sprache als „Irrationalität" des Denkens: Sprachbildung und Schematisierung

195 195

210 210 212

XU

Inhalt

4.2. Schleiermachers Entwurf einer allgemeinen Hermeneutik 4.2.1. Die verfremdende Gewalt der Sprache: Vorarbeiten zur Hermeneutik in den „Monologen" 4.2.2. Vom Missverstehen ausgehen 4.2.3. Der hermeneutische Zirkel von Ganzem und Einzelnem und die Wechselwirkung der beiden Auslegungsmethoden Divination und Komparation 4.2.4. Die Verknüpfung der hermeneutischen Zirkel und die Wechselwirkung der grammatischen und psychologischen Interpretation 4.3. Verstehen als geschichtliches Erkennen 4.3.1. Die Entwicklung des technischen bzw. psychologischen Teils der „Hermeneutik" 4.3.2. Die Unterscheidung des technischen und rein psychologischen Teils in den Randnotizen zur Hermeneutik von 1832/33 4.3.3. Die technische Auslegung und die rein psychologische Auslegung: Die idealtypische Komposition der Gedanken und die das Denken beeinflussenden externen Faktoren

216 216 220

225

229 232 232 236

240

4.4.

Verstehen als bildende Rekonstruktion: Verstehen als „allmähliges Sichselbstfinden des denkenden Geistes" 4.4.1. Verstehen als Konstruktion eines endlichen Bestimmten aus dem unendlichen Unbestimmten 4.4.2. Die Formel: „Einen Text zunächst ebenso gut und dann besser verstehen als sein Autor"

249

4.5. Die Beziehung zwischen Denken und Sprechen (2) 4.5.1. Denken und Sprechen: Identität oder Differenz? 4.5.2. Zur Frage einer universellen (Fach)sprache

253 253 257

4.6. Kritik und Wissenschaftlichkeit - Kritik und Wissen 4.6.1. Der Kritikbegriff der „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" 4.6.2. Einmaliges oder unendliches kritisches Unternehmen? Kritik als Teil der Wissensproduktion — Kritik als Prolegomena jeder wissenschaftlichen Form 4.6.3. Das kritische Verfahren: Kritik als reflektierte Wechselwirkung 4.6.4. Schlegels Begriff der Kritik: Philosophie 2

260

4.7. Kritik und Hermeneutik 4.7.1. Metakritik der reinen Vernunft als Sprachkritik: Herder und Hamann 4.7.2. Hermeneutik als Methode der Kritik

245 245

260

263 267 274 280 280 283

Inhalt

4.8. Der erweiterte Kritikbegriff. 4.8.1. Kritik als Kunstkritik - Kritik als Kritikkunst 4.8.2. Kritik und Technik: kritische und technische Disziplinen

XIII 286 286 290

Kapitel 5: Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben oder die Entfaltung des Wissens im System der Wissenschaften Ethik 295 5.0.

Einleitung

5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3.

295

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (1) Die Ethik als Wissenschaft über das Handeln der Vernunft Die Wechselwirkung der Tätigkeiten Die Wechselwirkung der Wissenschaften als Streitgespräch um den Begriff der Welt 5.1.4. Die Wechselwirkung der Tätigkeiten und ihre Bedeutung für die Wechselwirkung der Wissenschaften

299 299 305

5.2. Das System der Wissenschaften als ewig vorläufiges System 5.2.1. Die Frage nach der obersten Wissenschaft (2): Das Verhältnis von Ethik und Dialektik und die Rolle der Psychologie im System der Wissenschaften 5.2.2. Die beiden Realwissenschaften Physik und Ethik und die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften 5.2.3. Die dialektisch-hermeneutische Methode und die soziokulturelle „Kontaminiertheit" naturwissenschaftlicher Erkenntnis

324

5.3. Die Wechselwirkung der Wissenschaften (2) 5.3.1. Schleiermachers geschichdiches Entwicklungsmodell in der Schrift „Kurze Darstellung des theologischen Studiums": Revolution, Fortschritt und Einheit im Prozess des Wissens 5.3.2. Der Gedanke der Wechselwirkung der Wissenschaften als philosophisches Modell wissenschaftlicher Interdisziplinarität und Schleiermachers universitätspolitische Umsetzung in der Reformschrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn"

343

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur 5.4.1. Schleiermachers Ansatz einer praktischen Philosophie zwischen Sein und Sollen, Sitte und Gesetz 5.4.2. Kultur als Organproduktion: Ausbau der Talente und Aneignung der Natur

308 312

324 333 339

343

451

5.4.

361 361 367

XIV

Inhalt

5.4.3. Die Idee einer Kritik und Hermeneutik der Kultur und ihr Platz im philosophischen System Schleiermachers 5.4.4. Pflichtenlehre und Tugendlehre: kritische oder technische Praxis? 5.4.5. Überlegungen zur Struktur einer Hermeneutik der Kultur

378 380

Schluss: Die Endlichkeit einer Philosophie der Endlichkeit

388

Abkürzungen

392

Literaturverzeichnis

395

Personenregister

419

371

Das Anfangen aus der Mitte ist unvermeidlich. (DialKGA II 10/1, 186, § 62)

Einleitung 1. Vom Nachteil und Nutzen der Geschichtlichkeit War in der Philosophie der Frühen Neuzeit der Baum die Metapher der Erkenntnis, der verwurzelt in festem Boden stand und dessen einzelne Zweige einig aus einem Stamm wuchsen, 1 so wird in Nietzsches Dionysos-Dithyramben „Zwischen Raubvögeln" 2 der Baum der Erkenntnis zur verwachsenen Tanne, die am Felsenrand wurzelt, über den Abgrund gebeugt aber doch verankert ist. Uber ihr schwebt ein Raubvogel, der für so viel Bodenhaftung nur noch Spott übrig hat. Steht die Tanne für die „verkrüppelte" Philosophie der Metaphysik, die, obwohl schon über den Abgrund gebeugt, doch nicht vom Boden lassen kann, so ist der Raubvogel der Künstlerphilosoph, der sich frei schwebend zur Interpretation bekennt. Die Geschichte der abendländischen Philosophie liest Friedrich Nietzsche als Krankengeschichte, in der die Vernunft ihrer eigenen Frage nach dem Warum? unterliegt und als dessen Gipfel die verschiedenen Spielarten des Nihilismus angesehen werden müssen. Indem die Vernunft mit der Frage nach dem letzten Grund nicht nur die Natur, sondern endlich sich selbst auf die Folter spannt, um sich über ihre Beschaffenheit zu verhören, entdeckt sie ihre „Grundlosigkeit" oder ihre bloß historische Gestalt. Entzieht man den Begriffen Einheit, Zweck und Sein ihre überhistorisch-überweltliche Garantie, so erscheint alles wertlos und dieses Wertevakuum ist der Glaube an das Nichts oder der Nihilismus. 3 Dem

2

Vgl. Descartes Prindpes, in: (Euves Bd. IX/2, hrsg. von C. Adam und P. Tannery, Paris 1904, ND Paris 1989: ,,Ains] toute la Philosophie est comme un arbre, dont les racines sont la Metaphvsique, le tronc est la Physique, & les branches qui sortent de ce tronc sont toutes les autres sciences, qui se reduisent a trois principales, ä savoir la Medecine, la Mechanique & la Morale, j'entends la plus haute & la plus parfaite Morale, qui, presupposant une entiere connaissance des autres sciences, est le dernier degre de la Sagesse." Vgl. NIETZSCHE, KSΑ Bd. 6, Dionysos-Dithyramben, 389ff. Vgl. NIETZSCHE, KS Α Bd. 13, Nachgelassene Fragmente, 48 : „Kurz: die Kategorien ,Zweck', ,Einheit', ,Sein', mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen - und nun sieht die Welt wertlos aus..." Vgl. auch NIETZSCHE, KS Α Bd. 12, Nachgelassene Fragmente, 351 f.: „Der Nihilismus stellt einen pathologischen Zwischenzustand dar (pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen Sinn) [...] Voraussetzung dieser Hypothese·. - Daß es keine Wahrheit gibt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge,

2

Einleitung

Nihilismus und dieser negativen Abhängigkeit von den aufgegebenen Werten begegnet Nietzsche mit dem euphorischen Bekenntnis zum Künstlerphilosophen, der sich der Macht der Interpretation bewusst ist und sie als Kunst beherrscht. 4 Nietzsches Philosophie lässt sich als Radikalisierung des historischen Denkens oder der Entwicklung des Gedankens der „Geschichtlichkeit" in die Philosophiegeschichte einschreiben. Historisches Denken setzt bereits dort an, wo der erste Paradigmenwechsel, der Epochenwechsel bewusst reflektiert wird, wo ein Weltbild „historisch" wird - d h. in der Neuzeit. 5 Es äußert sich als Emanzipation vom Glauben an eine göttliche Weltordnung, entwickelt sich als Geschichtsbewusstsein und entfaltet spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts seinen explosiven Gehalt, indem sich schließlich die Vernunft selbst Schritt für Schritt in ihrer Geschichtlichkeit entdeckt. 6 An diesem Gedanken der Geschichtlichkeit, dessen Sprengkraft sicherlich Nietzsche am poetischsten inszeniert hat, arbeitet die Philosophie des 20. Jahrhunderts und sucht einerseits auf der Höhe der erkenntnistheoretischen Reflexion zu bleiben, die hinter die Einsicht der Kontingenz unseres Denkens und Handelns nicht mehr zurück kann, und andererseits den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden, die gerade in Zeiten der Globalisierung und Hybridisierung der Kulturen und Gesellschaften mehr denn je nach Verbindlichkeiten verlangt. Nietzsches Entwurf des Künsderphilosophen, in dem der spielfreudige Intellektuelle auf seine Kosten kommt, weil er eben im Spiel selbst den Sinn erkennt, entzieht sich bewusst diesen Forderungen der Praxis nach Verbindlichkeit und gibt keine Anleitung, wie sich ein Miteinander gestalten könnte, in dem Differenzen ausgetragen werden können. Darin ist nach Nietzsche natürlich auch kein erstrebenswertes Ziel zu sehen. Es fragt sich jedoch, ob der Künsderphilosoph der negativen Abhängigkeit des Nihilismus tatsächlich entkommt, oder ob sich der Nihilismus und der Wille zur Interpretation zueinander nicht wie die depressive und manische Seite ein und derselben „Krankheit" verhalten. 7 An die Stelle des Nichts setzt der Künstlerphilosoph die „totale Interpretation". Soll es darum gehen, jenem Nichtgleichen oder Differenten zu seinem Recht zu verhelfen, so ist

4

5 6

7

kein ,Ding an sich' gibt. - Dies ist selbst ein Nihilismus, und %war der extremste. Er legt den Wert der Dinge gerade dahinein, daß diesem Werte keine Realität entspricht und entsprach, sondern nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der Wert Anset-^er, eine Simplifikation zum Zweck des Lebens." Vgl. ζ. B. NIETZSCHE, KSA Bd.3, Fröhliche Wissenschaft, 538, Nr. 299, Was man dem Künstler ablernen soll. Vgl. BUBNER 1990. Der Begriff der „Geschichtlichkeit" wird bei Dilthey und Jorck zu einem zentralen philosophischen Begriff, der dazu dient, absolute Geltungsansprüche philosophischer Systeme abzustreiten. Die Begriffsschöpfung „Geschichtlichkeit" wird in der Regel Hegel zugeschrieben, findet sich nach Scholtz jedoch zeitgleich bei Schleiermacher. Sowohl bei Hegel als auch bei Schleiermacher steht der Begriff „Geschichtlichkeit" im Kontext der Christologie (vgl. SCHOLTZ 1970). Heideggers Nietzsche-Interpretation geht bekanntlich in diese Richtung und sieht Nietzsches Antwort auf den Nihilismus als letzte Verstrickung des Nihilismus.

Vom Nachteil und Nutzen der Geschichtlichkeit

3

nicht viel gewonnen, wenn man sich dem Begriff der Einheit entzieht, denn ohne Bezug auf Einheit macht die Rede von Differenz keinen Sinn. Soll eine Philosophie des Werdens und nicht des Seins, des Individuellen und nicht des Allgemeinen, des Differenten und nicht der Einheit und schließlich des Endlichen und nicht des Unendlichen entworfen werden, so lässt sich dies eben nicht tun, indem man eine Seite dieser aufeinander bezogenen, einander bedingenden Begriffspaare einfach streicht. Will man weder den Anspruch auf Orientierung noch die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Menschen aufgeben, so scheint es vielversprechend, wieder hinter Nietzsche zurückzugehen und sich der philosophischen Romantik zuzuwenden. Denn sie markiert den Punkt, an dem der Gedanke der Geschichtlichkeit zum ersten Mal in seiner ganzen Radikalität in den Blick kommt, ohne dass sich die nihilistische „Falle" bereits aufgetan hätte. Und unter den Romantikern ist es Friedrich Schleiermacher, der am konsequentesten nach einer systematischen Form für sein Denken suchte und nicht nur eine äußerst anregende Gedankenfülle, sondern einen philosophischen Gesamtentwurf hinterließ. Allerdings ist es nicht die systematische Einheit seines philosophischen Werkes, die sich dem Leser als erstes erschließt. Die Würdigung der Philosophie Schleiermachers kam zunächst aus der Theologie und findet bis heute gemessen an der Anzahl der erscheinenden Schriften immer noch stärker Beachtung im theologischen denn im philosophischen Lager.® Das mag an der zum Teil noch unübersichtlichen Editionslage liegen, auch daran, dass die fragmentarische und privatsprachlich komprimierte Form der philosophischen Vorlesungen einen hermeneutisch trainierten Leser erfordert (ζ. B. einen Theologen), wohl aber hauptsächlich daran, dass die publizierten Werke Schleiermachers fast ausschließlich in den Bereich der Theologie fallen und Schleiermacher, mit dem Etikett des „Theologen" versehen oder aber mit dem des „Romantikers", immer noch vorschnell als philosophisches Randphänomen eingestuft wird. 9 Eine Darstellung zur Rezeptionsgeschichte Schleiermachers, die sich vor allem mit der älteren Sekundärliteratur beschäftigt, findet sich bei Gunter Scholtz (SCHOLTZ 1984, Die Philosophie Schkierrnachers, 9-44) in Form eines kurzen Überblicks jeweils in den entsprechenden Abschnitten der chronologisch organisierten Bibliographie von Tice (T1CE 1 9 6 6 , 1 9 8 5 , 1 9 8 9 , 1 9 9 1 , 1995). Zur Wirkungsgeschichte des philosophischen Werkes vgl. H Ü B N E R 204-209, speziell zur Wirkungsgeschichte der Dialektik vgl. H Ü B N E R 209-212. Einen Überblick über die in der SchleiermacherLiteratur behandelten Probleme bietet Birkner (BIRKNER 1974), eine Darstellung der Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gibt Barth (BARTH 2001), und Moxter ( M O X T E R 1994) bietet eine Darstellung über ausgewählte Aspekte der neuesten Schleiermacherliteratur. Das Gedankengut der philosophischen Frühromantik wird immer noch mehr von Germanisten denn von Philosophen gewürdigt, wobei dabei vor allem ästhetische und poetologische Fragestellungen im Zentrum stehen — dies betrifft auch die Dissertation von W. Benjamin. Nach Bohrer (BOHRER 1989) sei es Benjamin zu verdanken, dass andere Weichen in der Romantikforschung gesetzt wurden, die endlich das innovative Potential dieser literarisch-philosophischen Bewegung gegen die etablierte Kritik Hegels und die der Junghegelianer hervorhob. Walter Benjamins Dis-

4

Einleitung

Spätestens seit den 70er Jahren wird Schleiermacher im philosophischen Lager als Philosoph wiederentdeckt, wobei das Interesse gerade in den letzten Jahren stark gestiegen ist, und man kann sogar von einer Schleiermacher-Renaissance sprechen. Auffällig ist, dass viele Aufsätze, die zur Philosophie Schleiermachers in den letzten dreißig Jahren erschienen sind, ihre Überlegungen damit eröffnen, dass das von ihnen ins Auge gefasste Thema in der Sekundärliteratur bisher ein Desiderat darstelle. Dies ist nicht nur ein rhetorischer Kunstgriff, sondern entspricht der Forschungsrealität, in der das „überlieferte Erbe der Philosophie Schleiermachers [...] für die gegenwärtige philosophische Arbeit" zwar nicht mehr „völlig ungenutzt" ist, wie Heinz Kimmerle 1960 anprangert (KIMMERLE 1959/1960, Das Verhältnis ..., 410), aber bei weitem noch nicht erschöpft ist. Neben vielen noch unter- oder unbelichteten Aspekten und Themen in der Schleiermacher-Forschung wird vor allem der Gesamtcharakter der Philosophie Schleiermachers noch zu wenig beachtet. 10 Schleiermachers Philosophie, so fragmentarisch sie vorliegen mag, ist nicht nur ein äußerst ergiebiger „Steinbruch" für interessante philosophische Fragestellungen, sondern bietet einen in sich schlüssigen systematischen Ansatz, der sich als philosophischer Gesamtentwurf lesen lässt. Dieser Gesamtentwurf erschließt sich meines Erachtens besonders gut, wenn man die Aufmerksamkeit auf den Gedanken der „Wechselwirkung" richtet, der wie ein Leitmotiv das philosophische Werk bestimmt. 11 Er findet sich

sertation von 1917 über den Kritikbegriff der Romantik (BENJAMIN 1973) setzt sich jedoch vor allem mit der Kritik als literarisch-ästhetisches Phänomen auseinander, ihr fehlt die Rekonstruktion eines erkenntnistheoretischen Ansatzes der philosophischen Frühromantik, innerhalb dessen der romantische Kritikbegriff erst seine volle philosophische Spannkraft entwickeln kann. Für Arndt (ARNDT 1992, Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel, 257f.) ist dieses philosophische Desinteresse angesichts der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus und der in der Forschung betonten personellen Vernetzung von Frühromantikern und Philosophen des Idealismus um so auffälliger. Eine Aufzählung der Philosophiegeschichten, die Schleiermacher noch nicht einmal erwähnen und insofern die Marginalität, die dem Philosophen Schleiermacher zugesprochen wurde, belegen, findet sich bei SCHOLTZ 1984, Die Philosophie Schleiermachen·, 5 ff. 10

11

Ein werkübergreifender Aspekt, der seit den frühen Anfangen der Schleiermacher-Literatur immer wieder im Zentrum stand und mit dem die Schleiermachersche Philosophie immer wieder in Verbindung gebracht wurde, ist der Gedanke unhintergehbarer Individualität. Der Gedanke der Wechselwirkung ist unmittelbar mit der unhintergehbaren Individualität verbunden, setzt aber den Akzent auf die Frage nach der Möglichkeit einer das Denken und Handeln betreffenden Orientierung in einem kontingenten, historischen Wissen und einem sich permanent modifizierenden sittlichen Kontext. Aus der langen Reihe von Monographien und Artikeln zum Begriff der Indiviudaütät bei Schleiermacher seien hier nur einige angeführt: SIGWART 1857, NEUBAUER 1923, SCHULTZ 1924, WINKLER 1979, KREß 1984, FRANK 1986, ECKERT Identität... 1991, THOUARD 1993. Während sich zu Friedrich Schlegel einige Arbeiten finden, die den ähnlich angelegten Begriff des Wechselerweises in der Schlegelschen Philosophie ins Zentrum stellen (Vgl. u. a. FRANK „Wechselgrundsatz" 1996, NASCHERT 1996 u. 1997 sowie REHME-1FFERT 2001), findet der Begriff der Wechselwirkung bei Schleiermacher zwar überall Erwähnung (da man nicht umhin

Vom Nachteil und Nutzen der Geschichtlichkeit

5

bereits in Schleiermachers frühen Schriften der Berliner Zeit, wird im fortschreitenden Werk Schleiermachers immer differenzierter entfaltet und bestimmt den Prozess des Wissens ebenso wie die Organisation der einzelnen Lebensbereiche, das Verhältnis der Wissenschaften untereinander wie das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie. Nach Schleiermacher müssen unsere menschlichen Tätigkeiten, unser Denken, Handeln und Fühlen als ein Immer-schon-Begonnenes begriffen werden: jede Tätigkeit verweist in ihrer Bestimmtheit auf vorausgegangene Tätigkeiten, ohne allein aus diesen verstanden werden zu können. Jede Bedingung erweist sich selbst wieder als bedingt, aber an den Anfang dieser sich bedingenden menschlichen Tätigkeiten reichen wir ebenso wenig heran wie an ihr Ende. Gleichwohl hat sich für Schleiermacher mit diesem Bekenntnis zum Endlichen die Rede vom Unendlichen oder Absoluten alles andere als erledigt. Mit der Einsicht in und dem Bekenntnis zur Geschichtfichkeit lassen sich transzendente Fragestellungen nicht einfach ausklammern, sie stellen sich lediglich in anderer Weise. Denn jeder Orientierungsentwurf im Endlichen oder historisch Kontingenten geschieht natürlich - ob nun direkt oder implizit - vor dem Hintergrund einer bestimmten Definition des Endlichen, und dies heißt vor dem Hintergrund einer Bestimmung der Verhältnisse von Endlichem und Unendlichem, historischer Kontingenz und Absolutheit, Einzelnem und Totalität. Das Unendliche, Transzendente oder Absolute - auch wenn es als unerreichbar oder sogar als „undenkbar" klassifiziert wird - bildet sozusagen den Interpretationsrahmen, vor dem es überhaupt erst Sinn macht, von einem Endlichen zu sprechen. In Bildern gesprochen und noch einmal zu Nietzsche zurückgekehrt: Gott wird nicht getötet und die nihilistische Depression muss nicht durch Kunst „therapiert" werden, sondern Gott und die nihilistische Depression müssen neu interpretiert werden. Wie wir nach Schleiermacher auf das Absolute, Unendliche Bezug nehmen und wie sich unser Wissen zu diesem Bezug verhält, hat in der Schleiermacher-Literatur eine differenzierte und kontroverse Diskussion erfahren. Die Interpretation Schleiermachers als Philosoph der Wechselwirkung oder als radikaler Anwalt des Endlichen basiert, und dies sei hier gleich zu Beginn explizit formuliert, auf einer bestimmten Lesart seiner transzendentalphilosophischen Überlegungen. Dabei wird der subjekttheoretische Ansatz Schleiermachers hier nicht ausgeblendet, aber auf die Skizze einer Lesart reduziert, die, wie ich meine, eine systematische Aktualisierung Schleiermachers erleichtert. An die Stelle der „totalen Interpretation" tritt in Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung ein bewusster Umgang mit Geschichte. Denn sich als geschichtlich begreifen heißt nicht nur, seinen eigenen kontingenten Standpunkt einsehen, der sich substantiell nicht am Absoluten orientieren kann, sondern

kommt, ihn zu erwähnen), eine Untersuchung, die Schleiermachers Philosophie von diesem Begriff der Wechselwirkung aus entfaltet, findet sich jedoch nicht.

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Einleitung

zugleich auch seine Bedingtheit durch Geschichte einsehen. Sich als geschichtlich begreifen bedeutet nicht nur die Erschütterung oder sogar Auflösung alter Orientierungsmuster, sondern eröffnet zugleich neue. Das was war, ist nicht alles, aber auch nicht nichts. Die Interpretation von Welt ist nicht völlig beliebig, kein Unternehmen im luftigen Raum, sondern eben an die Geschichte der Erscheinungen gebunden. Was nicht heißt, dass sie selbst als ungeschichtlich zu betrachten wäre und sich die Geschichte in ungeschichtlicher Weise erzählen ließe. Von unserem endlichen Standpunkt aus können wir nach Schleiermacher versuchen, die einzelnen Erscheinungen oder Modifikationen zu beschreiben und hinter ihrem Wechsel das Prinzip der Bewegung zu erkennen. Die Geschichte der Erscheinungen muss nach Schleiermacher anders als bei Hegel nicht als eine immer höherstufigere Erfahrung interpretiert werden, sondern eher als ein immer komplexer werdendes Netz von Verweisungszusammenhängen. Die Dynamik des Endlichen folgt dabei keiner Dialektik von Entgegensetzung und Aufhebung, sondern besteht in den Worten Schleiermachers in der „Wechselwirkung" oder im „Oszillieren" so genannter „relativer Gegensätze". Aus der Analyse konkreter Wechselverhältnisse, die sich hinter den einzelnen Erscheinungen zeigen, gewinnen wir die Möglichkeit einer Orientierung. Sie versetzt uns in die Lage, die historischen Erscheinungsformen von Wissen und Handeln zu kritisieren. Da Kritik bei Schleiermacher nichts anderes ist als ein Aufdecken von (Sich-Aufklären über) bestehende Wechselwirkungen, um diese bewusst und gezielt voranzutreiben, nimmt sie eine Art Katalysatorfunktion in den Wechselwirkungszusammenhängen ein, die die Dynamik des Endlichen sozusagen „beschleunigt". Das Sich-geschichtlich-Werden des Denkens ist eng mit dem PhilosophischWerden der Hermeneutik verbunden. Denn wenn es nicht mehr um ein Sein, sondern um ein Werden, um keinen Zustand, sondern um einen Prozess geht, und wenn man sich auf das wandelnde Geflecht von menschlichen Werken und Handlungsweisen beruft, um in ihrer Analyse eine Orientierung im Werden zu finden, wählt man letztendlich einen hermeneutischen Weg. 1 2 Mit Blick auf die in Schleiermachers Philosophie im Keim angelegte Kulturhermeneutik kann die Philosophie der Wechselwirkung daher auch als philosophische Hermeneutik gelesen werden, eine Hermeneutik, die sich nicht auf eine textspezische Ausle12

Die wegweisende Bedeutung des philosophisch-hermeneutischen Ansatzes Schleiermachers unterstreicht Theunissen knapp und prägnant in seinen zehn Thesen über Schleiermacher. Schleiermacher habe mit Schopenhauer und Schelling gemeinsam durch die Anknüpfung an die Philosophie Piatons ein nachidealistisches Denken auf den Weg gebracht zu haben. Schopenhauer und Schelling habe er aber "eine Hermeneutik voraus, die mit Dialektik in der Sprache als Gespräch vereint ist. Alle sachliche Philosophie bewegt sich heute, bewußt oder bewußtlos, auf eine solche Hermeneutik hin. Ihr hat Schleiermacher das Ziel vorgegeben." (Vgl. THEUNISSEN, IV, These 10)

V o m Nachteil und Nutzen der Geschichtlichkeit

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gungsmethode reduzieren lässt, sondern die das historische Auftreten der Vernunft dechiffrieren hilft. Die Rekonstruktion des philosophischen Werkes Friedrich Schleiermachers unter dem Fokus der Wechselwirkung geht in vier Schritten vor, alle vier Schritte konzentrieren sich dabei jeweils auf einen anderen Textkorpus: 1. Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung - berliner Schriften (1798-1801) (Kapitel 2) In den frühen Berliner Schriften, den Reden über die Religion (1799), den Monologen (1800), dem Fragment Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), den Vertrauten Briefen zu Friedrich Schlegels Lucinde (1800) und dem Dialog Über das Anständige lässt sich der Gedanke der Wechselwirkung bereits in vielen unterschiedlichen philosophischen Problemfeldern aufweisen, auch wenn er sich vor allem im Bereich der Ethik als zwischenmenschliche Wechselwirkung zeigt. „Wechselwirkung" wird hier sozusagen in seiner Vielschichtigkeit vorgeführt, ohne dass Schleiermachers Philosophie in eine systematische Form gefunden hätte. 2. Die Wechselwirkung der Formen des Denkens oder die Begründung eines Wissens „ohne Anfang" - Dialektik (Kapitel 3) Im zweiten Schritt geht es um die Frage nach der Möglichkeit der Begründung einer Philosophie der Wechselwirkung. Was lässt sich, vom Endlichen ausgehend, über das Endliche sagen? oder Lässt sich vom Endlichen aus Endliches begründen und wenn ja, wie? sind Leitfragen, denen sich Schleiermacher nur in den Dialektikvorlesungen systematisch stellt. Der zweite Schritt setzt sich daher mit den Dialektikvorlesungen auseinander, ihrer Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und ihrer Analyse der Wechselwirkung der Formen des Denkens. 3. Kritik als Kunst der Orientierung oder die Entfaltung des Wissens im kritischen Gespräch — Hermeneutik und Kritik (Kapitel 4) Eine Antwort auf die Frage, wie wir uns im streitenden Wissen orientieren können, erschließt sich erst in der Zuwendung zu der realen Entfaltung des Wissens im Gespräch und dem Begriff der Kritik. Der orientierungsstiftenden Kritik kann die Funktion einer Technik oder Kunst zugeschrieben werden, sich über immer schon bestehende Wechselwirkungszusammenhänge aufzuklären, und die mit und durch dieses kritische Wissen den Streit des Wissens zu vermitteln hilft. Die Untersuchung wendet sich zunächst den Hermeneutikvorlesungen zu, um dann auf der Textbasis der Dialektik-, Ethik- und Kritikvorlesungen sowie der Grundlegung einer Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803 eine Rekonstruktion des in der Dialektik kaum ausgeführten Kritikbegriffs vorzunehmen. 4. Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und lieben oder die Entfaltung des Wissens im System der Wissenschaften — Ethik (Kapitel 5) Mit den Vorlesungen zur philosophischen Ethik, die im vierten und letzten Schritt als Textbasis zu Grunde liegen, wird die erkenntnistheoretische Perspekti-

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Einleitung

ve der Dialektik auf den gesamten Prozess sittlicher Weltbildung erweitert. Zentral für diesen letzten Schritt ist die Frage nach der Möglichkeit einer Orientierung in der sittlichen Praxis. Eine Antwort auf diese Frage liegt, wie zu zeigen sein wird, in der Kritik der Kultur, die sich, obwohl in Schleiermachers Ethik nicht angelegt, von Schleiermacher ausgehend skizzieren lässt. Indem die Frage der Begründung einer Philosophie des Endlichen und die einer Orientierung als Kritik im Kontext erkenntnistheoretischer Fragestellungen entwickelt werden, liegt ein besonderes Gewicht in dieser Untersuchung auf Schleiermachers Begriff des Wissens. Alle vier Schritte können daher auch in Bezug auf den Begriff des Wissens formuliert werden, d. h.: 1. seine erste Formulierung in den frühen Berliner Schriften, insbesondere dem Dialog Über das Anständige, 2. seine Grundlegung in der Dialektikvorlesung, die den Prozess der Wissensbildung als Wechselwirkung einander entgegengesetzter Formen des Denkens darstellt, 3. seine reale Entfaltung im Gespräch unter der Forderung der Streitschlichtung, 4. seine Bedeutung auf der Ebene des Wissenschafts- und Weltzusammenhanges oder seine Bedeutung und Funktion im System der Wissenschaften. Diesen vier Schritten vorangestellt ist eine erste Annäherung an den Begriff der Wechselwirkung sowie ein kurzer Vergleich mit zwei Philosophen, die für Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung von entscheidender Bedeutung sind: Baruch de Spinoza und Friedrich Schlegel. Der Spinozistische Substanzbegriff, die Idee einer sich im Endlichen unendlich modifizierenden Substanz, bildet sozusagen den Interpretationsrahmen des Verhältnisses Endliches-Unendliches, den Schleiermacher modifiziert übernimmt, wobei sich jedoch gerade mit dem Gedanken der Wechselwirkung eine Alternative zu Spinoza formuliert. 13 Seine Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik führt Schleiermacher zu ähnlichen Positionen wie die Romantiker Schlegel und Novalis, noch vor seiner so grundlegenden Begegnung mit Friedrich Schlegel. Friedrich Schlegel hingegen wird für ein paar Jahre Schleiermachers „symphilosophischer" Gesprächspartner, der für die Entfaltung der Gedanken sicherlich von fundamentaler Bedeutung war, zumal die philosophischen Gedanken beider Romantiker in vielen Punkten nahezu zur Deckung kommen und bei Friedrich Schlegel unter dem Schlagwort der „Wechselwirkung" bzw. des „Wechselerweis" ein ähnliches philosophisches Programm formuliert wird wie bei Schleiermacher.

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Das Verhältnis von Schleiermacher zu Spinoza kann trotz der bereits bestehenden Abhandlungen, die wichtige Aspekte hervorheben, noch nicht als hinreichend untersucht gelten. Neben den älteren Arbeiten von FISCHER 1848, SCHMIDT 1868, LACKNER 1897, CAMHRER 1903 und MULERT 1923 haben sich in den letzten Jahrzehnten DINSMORE 1988, MECKENSTOCK 1988, CRAMER 2000 und ARNDT 2001 mit dem Verhältnis Schleicrmacher-Spinoza beschäftigt.

Bemerkungen zum Umgang mit der Textgrundlage und ihrer Edition

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Die Philosophie Spinozas und die Schlegels bilden die einzigen philosophiehistorischen Referenzpunkte, auf die ich ausführlicher eingehen werde. Ohne die von Odebrecht aufgeworfene Frage nach Nähe und Gegnerschaft Schleiermachers zu Kant klären zu wollen, wird an einzelnen Stellen Kant immer wieder zum Vergleich herangezogen. 14 Der Vergleich dient in erster Linie nicht dazu, das Verhältnis Schleiermachers zu Kant zu beleuchten, oder die Kantische Philosophie als missverstandene, bessere oder überwundene Philosophie zu klassifizieren, sondern als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund der philosophische Ansatz Schleiermachers deutlicher hervortritt. Der differenzierten Argumentation Kants können diese Vergleiche im Detail nicht gerecht werden. 1 ^

2. Bemerkungen

Umgang mit der Textgrundlage und ihrer Edition

Wer sich zum ersten Mal Schleiermachers philosophischem Werk zuwendet, dem wird es sicherlich schwer fallen, gleich einen Überblick zu gewinnen. Schleiermacher hat den philosophischen Teil seiner Werke, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie selbst in Druck gegeben. Sie liegen uns weitgehend in der Form von Vorlesungsnotizen und Mitschriften vor, viele von den Manuskripten tragen „Baustellencharakter". Ab 1805 bis 1832 hielt Schleiermacher neunmal unter dem Titel „Hermeneutik" und ab 1811 bis 1831 sechsmal unter dem Titel „Dialektik" Vorlesungen in Halle und Berlin, insgesamt acht Mal trug er ab dem ^Wintersemester 1804/05, zuletzt 1832, seine philosophische Ethik vor. Relativ spät, erst 1818, begann er eine Psychologie als Pneumatologie auszuarbeiten, die er insgesamt viermal las

^

Für Odebrecht ist die Nähe zu Kant nur eine oberflächliche, und die Auseinandersetzung Schleiermachers mit Kants Kritik der reinen Vernunft führe nur scheinbar zur Aneignung der Kantischen Terminologie; in „allen grundsätzlichen Fragen steht Schleiermacher der Kantischen Lehre völlig ablehnend gegenüber" (Vgl. O D E B R E C H T XIV). Das Verhältnis von Schleiermacher und Kant findet der Quantität nach vor allem in den ersten Dezenien des letzten Jahrhunderts ein großes Interesse und konzentriert sich über die lahrhunderte hinweg vor allem auf die praktische Philosophie, zum Verhältnis Kant-Schleiermacher vgl. die älteren Arbeiten von E L S M A N N 1889; HASSEL 1931; HOYER 1905; VIETOR 1910; L O E W 1914; SCHULTE 1916; SCHOLZ 1919; F O E R S T E R 1931. In jüngerer Zeit vergleiche beispielsweise BEINTKER 1984, M E C K E N S T O C K 1988 und T H O U A R D 1997. Neben det mehr oder weniger beleuchteten Bedeutung des Herrnhuter Gedankenguts und der Philosophie Spinozas, Piatons, Kants, Fichtes, Schellings und Schlegels für Schleiermachers Denken, sind bis heute die Aristoteles-Rezeption Schleiermachers (vgl. dazu die Monographie von M O X T E R 1992, die die Nähe der Schleiermacherschen Ethik zu Aristoteles betont und HHRMS 1992), sein Verhältnis zu seinem Hallenser Lehrer Eberhard (vgl. hierzu H E R M S 1974, 37-117 und O B E R D O R F E R 2000) sowie sein Verhältnis zum Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi noch weitgehend vernachlässigt (Vgl. hierzu ebenso HERMS 1974, 119-163).

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Einleitung

(1821, 1830, 1833/34). 16 Die Vorlesungen dienten Schleiermacher zunächst zur Selbstverständigung und sollten mit der Wiederholung zu Schriften reifen, die in Druck gehen sollten. Die den verschiedenen Ausgaben der Dialektik, Ethik und Hermeneutik zugrunde gelegten Schriften sind Schleiermachers Vorlesungskonzepte, spätere Randbemerkungen sowie Vorlesungsmitschriften. Die Lesbarkeit der einzelnen Texte ist dabei sehr unterschiedlich. Während die Vorlesungsmitschriften einen flüssigen, den Inhalt entfaltenden Text bieten, komprimiert Schleiermacher in den Randbemerkungen und Vorlesungskonzepten den Stoff auf engstem sprachlichem Raum, die Formulierungen haben oft privatsprachlichen Charakter. „Seine Bücher sind mehr die Merkzettel eines Redners" 1 7 bemerkt Gadamer dazu in Wahrheit und Methode. Seine „Merkzettel" sind jedoch nicht nur aufgrund der äußerst dichten Formulierungen so schwer zugänglich, sondern auch wegen der heterogenen Begriffsverwendung: Schleiermacher sucht dasselbe immer wieder mit neuen Formulierungen einzukreisen und verwendet gleiche Formulierungen für Verschiedenes. Diese „Bewegung" der Begrifflichkeit kennzeichnet nicht nur die Unterschiede zwischen verschiedenen Vorlesungen, sondern findet sich auch innerhalb eines Vorlesungsjahrganges. Man kann hierin Unsystematik sehen oder aber - ähnlich wie bei Friedrich Schlegel - Konzept, insofern ein unvollendeter, sich entfaltender Inhalt auch nur in einem begrifflich offenen oder zumindest nicht geschlossenen Text adäquaten Ausdruck findet. Angesichts dieser schwierigen Textgrundlage, den konzentriert-hermetischen Formulierungen der Vorlesungsnotizen und Randbemerkungen, der Heterogenität und Variabilität der Begriffsverwendung, der Entwicklung und Veränderung, die die Vorlesungen erfahren haben, und angesichts des Umstandes, dass ein großer Teil der Textvorlagen nur aus Mitschriften besteht, werden sich immer Textstellen finden, die dunkel bleiben oder der hier angebotenen Interpretation offensichtlich widersprechen. Dort, wo ich trotz widersprechender Textstellen an meiner Interpretationslinie festhalte, werden diese, soweit mir bekannt, vermerkt. Wie bei fast allen Denkern, so lassen sich auch bei Schleiermacher einzelne Entwicklungsstufen im Werk unterscheiden, die schon allein dadurch vorgezeichnet werden, dass sich seine so genannten Jugendschriften bis 1801 vorrangig mit Fragen der praktischen Philosophie beschäftigen, während ab 1803 mit den Grundlinien erkenntnistheoretische Fragestellungen hinzukommen und Schleiermacher ab 1818 beginnt, eine Psychologie auszuarbeiten. Wollte man einzelne Entwicklungsstufen auszeichnen, so markiert sicherlich der Beginn der Vorlesungstätigkeit zunächst in Halle, dann in Berlin je einen 16

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Ein Überblick über Schleiermachers Vorlesungen findet sich bei A. ARNDT u. W. VIRMOND 1992, ein sehr hilfreicher tabellarischer Überblick über Schleiermachers Schriften und Vorlesungen findet sich am Ende des Sammelbandes Dialogische Wissenschaften. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hrsg. von Dieter Burdorf und Reinold Schmücker (267-289). Vgl. GADAMER 1960 (Bd. 2), 98.

Bemerkungen zum Umgang mit der Textgrundlage und ihrer Edition

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Einschnitt, insofern sich in den Vorlesungen über Ethik, Dialektik und Hermeneutik Schleiermachers philosophische Ethik, mithin Schleiermachers philosophisches System entfaltet. Die 1803 geschriebenen Grundlinien - nicht das einzige philosophische, wohl aber das einzige philosophische Werk im wissenschaftlichen Stil, das Schleiermacher zu Lebzeiten veröffentlichte - leiten diese Vorlesungen ein: Es ist dem Charakter nach eigentlich Sekundärliteratur, enthält aber bereits sowohl für die späteren Ethik- als auch für die Dialektikvorlesungen wesentliche Gedanken. Von der Interpretation der Psychologie, die als Pneumatologie oder Wissenschaft von der Entfaltung des Geistes inhaltlich einen ähnlich umfassenden Entwurf darstellt wie die Ethik und sich nicht selbstverständlich in das dual organisierte Wissenschaftssystem der Ethik integriert, hängt es ab, ob man eine weitere, dritte Entwicklungsstufe im Werk Schleiermachers ausmachen will oder nicht. Selbstverständlich lässt sich die Periodisierung im Werk Schleiermachers auch noch weiter bis hin in die Unterscheidung der einzelnen Ausgaben und Vorlesungsjahre betreiben1®, allerdings immer mit der Gefahr, die großen Linien aus dem Auge zu verlieren. Im Folgenden werde ich auf Unterschiede und Differenzen der Dialektik-, Hermeneutik-, Kritik-, und Ethikvorlesungen nicht systematisch eingehen, sondern sie nur dort hervorheben, wo sie den Gedankengang dieses Buches direkt betreffen. Dabei geht es mir nicht darum, die Brüche und verschiedenen Entwicklungsstufen zu bagatellisieren, ich möchte meine Aufmerksamkeit jedoch auf das Durchgehende richten und lese die einzelnen Vorlesungsjahrgänge als sich ergänzende Versionen eines Werkes. Zu der Frage, wie sich die Psychologie zum System der Ethik verhält, bzw. zur Frage, ob uns mit ihr eine Änderung oder eine Ausdifferenzierung des System vorliegt, werde ich hier lediglich einen Vorschlag, keine ausführliche Diskussion liefern. Wird die Psychologievorlesung in den folgenden Überlegungen also nicht ausführlich gewürdigt, so bedeutet dies nicht, dass sich diese spät begonnene Vorlesung nicht auch in eine Philosophie der Wechselwirkung einschreibt, auch dort ist der Gedanke der Wechselwirkung von zentraler Bedeutung. Allerdings bilden die Dialektik-, Hermeneutik-, Kritik- und Ethikvorlesungen in ihrem systematischen Bezug aufeinander eine Einheit, die hier in den Vordergrund gestellt wird. Da die kritische Gesamtausgabe noch nicht bis zu den Hermeneutik-, Ethikund Psychologievorlesungen vorgedrungen ist - eine Edition der Dialektik im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe ist 2002 erschienen - die Vorlesungen jedoch den Kern der Textgrundlage meiner Auseinandersetzung bilden, sei hier einiges zur Editionslage angemerkt.

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So liefern beispielsweise W. Dilthey (DILTHEY 1966), A. Blackwell (BLACKWELL 1982) und E. Herms (HERMS 1974) Periodisierungsvorschläge für die frühen Schriften bis zur Grundlegung.

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Einleitung

Schleiermacher begann seine Vorlesungen über Dialektik an der Berliner Universität 1811 und las im Anschluss daran noch insgesamt fünf Mal: 1814/15, 1818/19, 1822, 1828 und 1831. Eigenständige Vorlagen, aus denen der gesamte Vorlesungsverlauf hervorgeht, finden sich vor allem für die Vorlesungen 1811, 1814/15 und 1831. Während die Ausarbeitungen von 1811 nach Schleiermachers eigenen Angaben noch weitgehend der Selbstverständigung dienten 19 , dachte Schleiermacher mit der Niederschrift zur Dialektik von 1814/15 bereits an eine Veröffentlichung. 20 Für die nachfolgenden drei Vorlesungen bezog sich Schleiermacher in der Vorbereitung weitgehend auf die Darstellung von 1814/15 und ergänzte diese lediglich mit Randbemerkungen und Notizen. Auch die Vorlesung von 1831, die in sich einen eigenen Dialektikentwurf darstellt, geht indirekt auf die Aufzeichnung von 1814/15 zurück, indem sie sich auf die Vorlesung von 1822 bezieht. 21 Zitate aus der Dialektikvorlesung werden nach der von A. Arndt 2002 herausgegebenen Kritischen Gesamtausgabe belegt. Sie enthält alle Schleiermacher Manuskripte komplett (DialKGA II 10/1) sowie alle Vorlesungsnachschriften (Dial.KGA II 10/2) 2 2 Für die Hermeneutikvorlesungen gibt es im deutschsprachigen Raum mittlerweile keine umfassende Ausgabe, die den neusten Stand der Forschung berücksichtigt. Neben der 1838 von Friedrich Lücke herausgegebenen mangelhaften Erstausgabe (Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 7) sind zunächst die Ausgaben von Kimmerle (ΗέτΚ) (1959) und Frank (HerF) (1977) zu nennen, die sich ergänzen: Als Schleiermacher mit der Vorlesung anfing, waren ihm „erst die Hauptmassen klar", wie er in einem Brief vom 11. April 1811 an Gaß schreibt: „Und nun gar die Dialektik; diese kostet eine schmähliche Zeit. Der Entschluß hatt lange in mir gewurmt, ich bin aber doch froh, daß er zum Durchbruch gekommen ist. Als ich anfing waren mir erst die Hauptmassen klar, nun verarbeitet es sich allmählich mehr in's einzelne, und ich hoffe das ganze soll gut werden." (BK* 94) Wie u. a. ein Brief an Gaß vom 28.10.1814 dokumentiert (BrG 121), dachte Schleiermacher schon während der zweiten Vorlesung zur Dialektik (1814/15) an eine Veröffentlichung, die aber unter anderem durch seine Belastung an literarischen Projekten im Bereich der Theologie zurückgestellt wurde. 21

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Eine tatsächlich für den Druck vorgesehene Ausarbeitung stellt die 1833 vorgenommene neue Ausarbeitung der Einleitung in erläuterten Hauptparagraphen vor. Aufrund des Zeitdruckes, den Schleiermacher verspürte, teilte er Jonas 1834 das Vorhaben mit, die Dialektik in der Form der „Encyklopädie" auszuarbeiten, damit sie wenigstens noch fertig werde (vgl. A R N D T 1986, XVlf.). Neben Schleiermachers Manuskripten lagen eine Reihe von Vorlesungsnachschriften den Dialektik-Herausgebern vor, von denen sich jedoch nur einige im Schleiermachernachlass erhalten haben. Mit den neu aufgefundenen und den nur als Edition erhaltenen liegen zur Zeit insgesamt zwölf Nachschriften für die Jahre 1811 (1: Twesten), 1818/19 (3: Anonymus, Zander, Bernhardy), 1822 (6: Kropatscheck, Klamroth, Saunier, Szarbinowski, Bonneil, Hagenbach), 1828 (1: Schubring) und 1831 (1: Erbkam) vor. Vor der Herausgabe der Dialektik in der Kritischen Gesamtausgabe waren die Manuskripte und Vorlesungsnachschriften auf verschiedene Ausgaben verteilt. Eine ausführliche Darstellung der Editionslage und des Manuskriptbestandes findet sich in der Dialektikausgabe von M. Frank (FRANK, Einleitung,, 2001, 10-26) sowie in der Einleitung zur Kritischen Gesamtausgabe (ARNDT, Einleitung des Bandherausgebers, 2002, LII-LXXXVII).

Bemerkungen zum Umgang mit der Textgrundlage und ihrer Edition

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Ausschlaggebend für Kimmeries Herausgabe der Hermeneutik, die auch die frühen Texte ungekürzt wiedergibt, war die These, dass sich zwei Phasen der Hermeneutik unterscheiden lassen: eine frühe Fassung, in der die Auslegung aus der Sprache im Mittelpunkt steht, und eine späte, von der psychologischen Auslegung dominierte Fassung. Während Kimmerle lediglich Schleiermachers eigene Aufzeichnungen chronologisch gruppiert vorstellt, versuchen Frank wie Odebrecht für die Dialektik einen fortlaufenden Gesamttext zu bieten, in dem Schleiermachers Vorlesungsnotizen thematisch geordnet ineinandergeschoben und mit Vorlesungsnachschriften ergänzt werden, die Kimmerle nicht gibt. Wolfgang Virmonds Untersuchungen von 1984 legen eine Neudatierung der Manuskripte zur Hermeneutik nahe. 23 Ein neu aufgefundenes Manuskript der Vorlesung von 1909/10 wurde 1984 von Virmond herausgegeben (HerV), eine Ausgabe der Vorlesung von 1819, die keiner Revision durch Virmonds Untersuchungen bedarf, findet sich in den von Arndt 1996 herausgegebenen Schriften. Zitate aus der Hermeneutikvorlesung werden hier nach den Ausgaben von Kimmerle, Frank und Virmond belegt. Da sich Schleiermacher in seinen frühen Schriften vor allem ethischen Themen widmete, zählen zu seinen Schriften zur Ethik nicht nur die Vorlesungen zur Ethik. Die frühen Schriften aus der Berliner Zeit - das Fragment Versuch einer Theorie des geselligen Betragens 1799 (GBKGA I 2) und die Monologen 1801 (MoKGA I 3) — sowie die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803 {Grundl¥LGA I 4) sind Entwürfe, in denen sich wesentliche Gedanken der späteren Ethikvorlesungen bereits vorfinden. Alle frühen Schriften sind in der Kritischen Gesamtausgabe ediert und werden nach dieser zitiert. Alle Vorlesungen zur philosophischen Ethik gliedern sich in eine allgemeine Einleitung und in eine Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre, allerdings liefern nur die Manuskripte für die Jahrgänge 1805/04 und 1812/13 einen vollständigen Entwurf der Ethikvorlesung, für alle anderen Jahrgänge liegen nur einzelne Teile vor. 24 Der erste vollständige Entwurf von 1805/06, der mit „Brouillon zur Ethik" überschrieben wurde, wird nach der von Hans-Joachim Birkner herausgegebenen Ausgabe von 1981 zitiert (BrEthBl). Der zweite vollständige Entwurf von 1812/13 findet sich in einer 1990 ebenfalls von Birkner vorgenommenen Edition, die mit Schleiermacher-Manuskripten der Vorlesungen von 1816/17 und 1814/17 ergänzt ist (EthBT). Beide Ausgaben bilden hier die Textgrundlage für die Auseinandersetzung mit Schleiermachers Vorlesungen zur Ethik. Zur Ergänzung wird auf die erste, alle Schleiermacher Manuskripte vollständig lie23

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Sowohl die französische Übersetzung von 1987 (übersetzt und herausgegeben von Christian Berner, Paris, les Editions du Cerf/PUL, 1987) als auch die zweisprachige italienische Ausgabe (übersetzt und herausgegeben von M. Marassi, Milan, Rusconi, 1996) berücksichtigen die von Virmond begründete Revision der Datierungen. Eine zur Orientierung sehr hilfreiche Übersicht der aus den verschiedenen Jahren vorliegenden Ausarbeitungen findet sich bei BIRKNER 1990, XXII.

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Einleitung

fernde Ausgabe von Otto Braun von 1913 zurückgegriffen (EthW II), die auch Birkner als Vorlage diente und alle früheren weniger sorgfältigen (Schweizer, 1835) und weniger umfassenden (Twesten, 1841) Ausgaben der Ethikvorlesungen ersetzt. Die Psychologie liegt in drei Ausgaben vor: Eine erste 1862 im Rahmen der Sämtlichen Werke von Leopold George herausgegebe Ausgabe stellt die vorletzte Vorlesung von 1830 ins Zentrum, enthält jedoch alle Manuskripte Schleiermachers als Beilage und bezieht einzelne Hörernachschriften mit ein. Ein zweiter Abdruck erfolgt in der Werkausgabe von Otto Braun und Johannes Bauer von 1910-1913 auf der Grundlage der George-Ausgabe und gibt die Vorlesung von 1830 wieder. Andreas Arndt stützt sich ebenfalls in seiner Ausgabe ausgewählter Schriften auf die George-Ausgabe, wählt aber das Manuskript von 1818. In dieser Arbeit zitiere ich aus der umfangreichsten George-Ausgabe (PsySW III 6). Zu fast allen Vorlesungsthemen hat Schleiermacher im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere Vorträge vor der Akademie der Wissenschaften gehalten, die als komprimierte Fassungen seiner Vorlesungen gelten können. Alle Akademievorträge werden nach der Kritischen Gesamtausgabe (KGA I I I ) zitiert.

1. Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt 1.1. Wechselwirkung: Der Versuch einer ersten Annäherung Stellt man einen Begriff ins Zentrum der systematischen Rekonstruktion eines Philosophen, wie hier den der Wechselwirkung, so scheint es nahe liegend, zunächst diesen Begriff einleitend zu bestimmen und seine philosophiehistorischen Anleihen deutlich zu machen. Schleiermacher hat - von der frühen Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens abgesehen - Wechselwirkung selbst nie zum Gegenstand einer eigenen Reflexion erhoben, er klärt sich in seiner permanenten Anwendung. Der Versuch einer ersten formalen Bestimmung soll hier über den Begriff des relativen und des positiven Gegensatzes vorgenommen werden. Es wird sich allerdings zeigen, dass eine isolierte formale Bestimmung des Begriffs nur bedingt einlösbar ist und die Tragweite, die der Begriff in Schleiermachers Philosophie entfaltet, erst mit der Zuwendung zu konkreten Wechselwirkungszusammenhängen deutlich wird. Zunächst ein kurzer Blick auf die philosophisch-literarische Produktion der Zeit. Ausdrücke wie „Wechselwirkung", „wechselseitig", „Wechselverhältnis", „Wechselbegriffe" haben um die Jahrhundertwende Hochkonjunktur. Bei Kant findet sich in der Kritik, der reinen Vernunft die Kategorie der „Wechselwirkung", in der Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten (1786) geht es um Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens als „Wechselbegriffe", 1 in den Träumen eines Geistersehers taucht „Wechselwirkung" ebenfalls im Kontext der praktischen Philosophie auf. 2 Fichte verwendet den Begriff der Wechselwirkung u.a. in den Schriften Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1774), der ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre^ und spricht an verschiedenen Stellen von „ Wechselbegriff",^ „Wechselsätzen",^ von „Wechselbestimmung"'' und „Wechselgliedern"7 Novalis (in den Fichte-Studien 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. KANT, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 1961, 109 (Originalausgabe 1786,105f.). Vgl. KANT, Träume eines Geistersehers, 1976, 30f. (l.Teil, 2. Hauptstück). Vgl. FICHTE, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 1971, 131, 218, 239, 280, 289 u. 294; u. vgl. FICHTE, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, 1971, 437. FICHTE, Grundlagen des Naturrechts nach Pnncipien der Wissenschaftslehre, 1971, 17. Ebenda. Vgl. FICHTE, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 1971, 131ff., 149, 237, 250. Ebenda, 167, 180 u. 195.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

1795/96) und Schiller (in den Briefen Über die ästhetische Erhebung des Menschen) beziehen sich mit den Begriffen „Wechselbestimmungssatz" und „Wechselbestimmung" direkt auf Fichte, 8 und Schelling entwirft in der Vorlesung Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie (1796) die wechselseitige Begründung von Inhalt und Form als höchsten Grundsatzes der Philosophie. 9 Damit sind nur einige Beispiele gegeben. Ein Blick in das deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm vermittelt einen weiteren Eindruck, keinen vollständigen Uberblick, von der vielfältigen Verwendung dieses Wortstamms und vermerkt die Verwendungen von „Wechselbegriff bei Kant, Adelung und Fichte, „Wechselerweis" und „Wechselbeziehung" bei Schleiermacher und Schelling, „Wechseldurchdringung" bei Schelling, „Wechseleinfluß" bei Goethe, „Wechselgefühl" bei Hamann, „Wechselgeschenk" bei Herder und Schleiermacher, „Wechselsatz" bei Fichte. Der Begriff der „Wechselwirkung" wird bei Grimm ausgerechnet für Schleiermacher nicht belegt, dafür jedoch für Kant, Schiller, Goethe, A.W. Schlegel und Herbart. Eine Erklärung für die Popularität des Begriffs der Wechselwirkung und seiner Varianten in den Schriften der Zeit könnte man in der Bedeutung sehen, die Wechselwirkungsphänomene in der Physik gewinnen: Sowohl in der Gravitationslehre als auch in der Elektrizitätslehre stehen nicht mehr einseitige, sondern wechselseitige Kräfteverhältnisse im Zentrum des Interesses und werden Ende des 18. Jahrhunderts quantifizierbar. 10 Da ein Bezug auf wechselseitige physikalische Kräfteverhältnisse in der Philosophie nur im Modus der Analogie stattfinden kann, müssen diese physikalischen Entdeckungen als relativ frei bespielbare Inspirationquelle angesehen werden, die auf kein bestimmtes philosophisches Problem, keine spezifische Fragestellung fokussieren. So verweist Kant in den Träumen eines Geistersehers beispielsweise ausdrücklich auf Newtons Gravitationsgesetz, und zwar in Form einer Analogie für die Wechselwirkung zwischen einzelnem und allgemeinem Willen im Bereich des Sittlichen. 11 Ein weiterer Referenzpunkt für die Verwendung

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Vgl. NOVALIS, Philosophische Studien der Jahre 1795/96 (Fichte-Studien), 1981, 177, Nr. 234; vgl. SCHILLER, Über die ästhetische Erhebung, 1962, 347 (13. Brief). Vgl. dazu auch FRANK 1996, „Wechselgrundsatz"..45. „Alles Produciren beruht auf einer Begegnung oder Wechseldurchdringung des Allgemeinen und Besonderen" (Friedrich Schelling, SW hrsg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart/ Augsburg 1856-61, Abt. I, Bd. 5, 242) So wird Ende des achtzehnten Jahrhunderts von Henry Cavendish die Gravitationskonstante (1798) ermittelt. Die Gravitationskonstante baut die von Newton 1687 formulierten Grundgesetze der Gravitationstheorie aus und ermöglicht das quantitative Erfassen von Gravitationskräften. Gravitationskraft wird als die wechselseitige Anziehungskraft zweier Körper verstanden. In der Elektrizitätslehre bestimmt 1786 Charles Augustin Coulomb im so genannten Coulombischen Gesetz die elektrostatische Wechselwirkung, d. h. die Kraft zwischen zwei elektrisch geladenen Körpern (Anziehung und Abstoßung). Er baut damit auf die von Charles Dufay 1733 unternommene Unterscheidung zweier Arten elektrischer Ladung auf. KANT, Träume eines Geistersehers, 1976, 30f.

Wechselwirkung: Der Versuch einer ersten Annäherung

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des Begriffs der Wechselwirkung findet sich in dem logischen Terminus „Wechselbegriff'. Mit Wechselbegriffen werden in der traditionellen (nicht formalmathematischen) Logik umfangsgleiche bzw. äquipollente Begriffe bezeichnet, und eine Unterscheidung zwischen inhaltlicher und den Umgang betreffender Bestimmung von Begriffen findet sich erstmals in der Logik von Port Royal, die für das 18. Jahrhundert als Standardreferenz bezeichnet werden kann. Begriffe haben denselben Umfang, wenn jeder Gegenstand, der unter den einen fällt, auch unter den anderen fallen muss (ζ. B. gleichwinkliges Dreieck und gleichseitiges Dreieck), Urteile heißen äquipollent, wenn sie trotz äußerer ungleicher Form denselben Inhalt transportieren: „A ist Sohn von B" und „B ist Vater von A". Auf diesen logischen Terminus geht beispielsweise Fichte ein, wenn er Wechselbegriff folgendermaßen erläutert: „einer sagt, was der andere sagt" und „einer bedeutet, was der andere bedeutet" 12 , aber auch Kant nimmt hierauf Bezug, wenn er in der Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten (1786) Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens als „Wechselbegriffe" bezeichnet 1 ^. Wechselbegriffe als „auswechselbare Begriffe" und wechselseitige Kräfteverhältnisse beschreiben jedoch ganz unterschiedliche (Wechsel)Phänomene. Trotz oder gerade auch wegen der Popularität des Begriffs der Wechselwirkung in seinen verschiedenen Varianten (die sich offenbar nicht nur aus einer Quelle speisen) kann man nicht davon sprechen, dass bei den verschiedenen Autoren über und mit dem Begriff der Wechselwirkung eine allen gemeinsame philosophische Fragestellung verfolgt wird. „Wechselwirkung", „Wechselgrundsatz", „Wechselbegriff', etc. taucht bei den einzelnen Autoren in systematisch je anderer Funktion auf, sodass, auch wenn überall Wechselphänomene betrachtet werden, kein gemeinsamer philosophischer Ansatzpunkt der Wechselwirkung unterstellt werden kann. 14 Unter den Autoren, die mit dem Begriff der „Wechselwirkung" bzw. des „Wechselerweises" ein ähnliches philosophisches Problem, einen ähnlichen philosophischen Ansatzpunkt verbinden wie Schleiermacher, ist in erster Linie Friedrich Schlegel zu nennen.1-' Der Gedanken des „Wechselerweises", den Schlegel schon während seines Jenaer Aufenthaltes 1796/97 in seinem „Woldemar"-Aufsatz for12

1λ ^

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FICHTE, SW in 8 Bd., Hg. von H. Fichte, Berlin 1845/46, ND Berlin 1971, III, 17. siehe Fußnote 1. Eine Untersuchung zur philosophischen Bedeutung des Begriffs der „Wechselwirkung" bzw. des „Wechselerweises" oder des „Wechselgrundsatzes" für die Zeit 1790-1810 unternehmen Frank, Guido Naschert und Rehme-Iffert (FRANK 1996, „Wechselgnmdsatx"..., NASCHERT 1996 u. 1997, REHME-IFFERT 2001).Während sich Naschert und Rehme-Iffert vor allem mit Friedrich Schiegel auseinandersetzen, versucht Manfred Frank verschiedene „Fährten" aufzunehmen, um die Genese des Gedankens im philosophiehistorischen Kontext zu klären. Ich bezweifle jedoch, dass es sich hier um einen Gedanken der Wechselwirkung handelt, und angesichts der vielfachen und sehr variationsreichen Verwendung des Wortstammes erscheint mir das Unternehmen, eine genaue Genese der Begriffsanleihe und Begriffsmodifikation schreiben zu wollen - wer hat wen inspiriert und modifiziert - nur bedingt Erfolg versprechend. Dies unterstreicht auch Frank (FRANK, „Wechselgrundsatz"..., 1996).

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muliert, enthält eine alternative Begründungsstrategie zur Grundsatzphilosophie. Schlegel formuliert den Gedanken des Wechselerweises in Auseinandersetzung mit Fichte, indem er das wechselseitige Aufeinanderverweisen von Ich- und Nicht-Ich aufnimmt, entwirft mit dem „Wechselgrundsatz" jedoch eine Philosophie, die einen alternativen Begründungsentwurf zur Philosophie aus einem ersten Grundsatz darstellt, sich mithin gegen Fichte (auch gegen Reinhold und Jacobi) wendet. Seit einigen Jahren rückt der Gedanke des „Wechselerweises" oder „Wechselgrundsatzes" bei Schlegel ins Interesse der Sekundärliteratur, die diesen frühen, in Schlegels Jenaer Zeit entwickelten Gedanken eine große Bedeutung zuschreibt und zum Teil sogar als Grund- oder Kerngedanken der Schlegelschen Philosophie begreift. 16 Anders als in Schleiermachers Schriften, in denen der Begriff der „Wechselwirkung" durchgehend präsent ist, findet sich der Gedanke des „Wechselerweises" vor allem in den Philosophischen Ixhrjahren, und andere Begriffe, wie beispielsweise der der „Ironie", der „Bildung", der „Dialektik" oder „Kritik" beanspruchen im Werk Schlegels kontinuierlich einen weitaus größeren Raum. 1 7 Vergegenwärtigt man sich, dass eine wesentliche Textbasis, wichtige Hefte der Philosophischen "Lehrjahre, in denen es vermutlich um den Wechselerweis ging, gar nicht erhalten sind, 18 dass überlieferte Notate und Bemerkungen zum „Wechselerweis" zum Teil sehr dunkel sind und Schlegel darüber hinaus den Begriff in seinen verschiedenen Varianten durchdeklinieren und nicht nur von „Wechselerweis" sondern von „Wechselwirkung", „Wechselsättigung", „Wechselbegründung", „Wechselbestimmung", „Wechsel-bildung", „Wechseldurchdringung", "Wechselerzeugung", „Wechselvernichtung" u.a. spricht, 19 so kann man fragen, ob es sinnvoll ist, diesen frühen Begriff ins Zentrum der Schlegelschen Philosophie zu stellen. Der Gedanke des „Wechselerweises" markiert jedoch einen neuen Abschnitt im Denken Schlegels, den man auch als Anfang seiner eigenständigen Philosophie bezeichnen könnte. Als Kerngedanke, in dem sich die entscheidende Wende im Denken Schlegels formuliert, oder Gedankensamen, der sich in den späteren Schriften entfaltet und 16

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Vgl. FRANK, „ Wechsel grundsatz"...,1996, NASCHERT 1996 u. 1997, REHME-IFFERT 2001. Während M. Frank vor allem die Genese des Gedankens im philosophiehistorischen Kontext aufzuspüren sucht, geht es G. Naschert darum, die Struktur dieses Gedankens in den frühen Schriften Schlegels zu klären, was ihm jedoch nur teilweise gelingt. Eine ausführliche und zugleich klare Auseinandersetzung liefert Rehme-Ifferts Monographie, die auch die strukturelle Genese dieses Gedankens in späteren Schriften aufzeigt. Ernst Behler stellt vor allem die Begriffe Ironie und Bildung ins Zentrum seiner Schlegel Interpretation (vgl. BEHLER 1963, 1972, 1992). Es handelt sich hier um fünf philosophische Hefte aus den Jahren 1796/97 (vgl. NASCHERT 1996, 52). Schlegel verwendet auch andere Begriffe für den Gedanken des Wechselerweises, wie ζ. B. den der „Chemie", „chemischer Logik" (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahr*, 199, Nr. 30) oder eines „chemisch bildenden Princips" (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre, 394, Nr. 882). Schlegel spricht auch von „antithetischer Synthesis": „Bildung ist antithetische Synthesis, und Vollendung bis zur Ironie." (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre, 82, Nr. 637)

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in seiner strukturellen Genese verfolgt werden kann, auch wenn er als Begriff von anderen Begriffen überlagert und abgelöst wird, erlaubt der Gedanke des „Wechselerweises" eine einigende Lektüre der Schlegelschen Schriften und eröffnet auch eine tiefergehende philosophische Interpretation anderer Begriffe, wie dem der „Ironie" oder der „Kritik". 20 Die „Philosophie des Wechselerweises" bei Schlegel, die im Kapitel 1.3.1. vor allem auf der Textbasis der Philosophischen Lehrjahre, der Athenäums-Fragmente und der Philosophie der Philologie skizziert werden soll, entspricht in vielen Punkten der philosophischen Position, wie sie Schleiermacher in seinen Vorlesungen entwickelt. Allerdings entwickelt Schleiermacher den Gedanken der Wechselwirkung in den frühen Berliner Schriften — also gerade in der Zeit seiner intensiven Freundschaft und Diskussionseinheit mit Friedrich Schlegel - vor allem im Bereich der Ethik, darauf wird gleich noch einmal zurückzukommen sein. Uber seine philosophischen Bezüge oder Anleihen in Bezug auf den Gedanken der Wechselwirkung - so wie er sich beispielsweise in Bezug auf den Dialektikbegriff ausdrücklich auf Piaton bezieht - klärt Schleiermacher explizit nie auf. Eine erste Annäherung an den Begriff der Wechselwirkung bei Schleiermacher kann man über die immer wiederkehrende Formulierung suchen, Wechselwirkung finde zwischen „relativen Gegensätzen" statt. Schleiermacher übernimmt von Spinoza den Gedanken einer sich in endlichen Modifikationen unendlich realisierenden Substanz, begreift das Absolute jedoch als einen absoluten Gegensatz von Natur und Vernunft, der sich im Endlichen realisiert. Zeichnen sich die absoluten Gegensätze von Natur und Vernunft dadurch aus, dass wir sie in ihrer Ausschließlichkeit noch nicht einmal denken können und sie vollkommen inkommensurable Größen darstellen, haben „relative Gegensätze" etwas gemeinsam, sie sind eine je eigene „Mischung" der absoluten Gegensätze Vernunft und Natur. Wechselwirkung kann zunächst als das wechselseitige Sich-Modifizieren und Bilden der einander koordinierten und subordinierten Teile eines Ganzen oder eben das sich wechselseitige Bilden „relativer Gegensätze" charakterisiert werden. Mit dieser Bestimmung stimmt Schleiermacher ganz mit einer Definition überein, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft gibt: Wechselwirkung wird dort bestimmt als das sich wechselseitige Beeinflussen, eine wechselseitige Kausalität 21 einander koordinierter

20 Angesichts der Form, in der uns die Schlegelsche Philosophie vorliegt, hat dies jedoch den Charakter einer Entscheidung, und zwar der Entscheidung, einen roten Faden durch die heterogenen, nach allen Seiten hin assoziativ entwischenden Texte Schlegels zu fädeln, mit dem Gewinn einer größeren Einheit und dem Verlust einiger interessanter Gedanken. Schlegel hinterließ nach seinem Tod einen Nachlass von 150 Heften mit philosophisch-ästhetisch-literarischen Notizen und Ideen. Auch wenn uns heute nur noch die Hälfte dieses Nachlasses erhalten ist (f.üCHNER 1981 XI f.), bleibt eine fast unüberschaubare Menge meist ungeordneter Gedanken. Vgl. K A N T KrV, B i l l : „die Gemeinschaft ist die Κ a u s a 1 i t ä t einer Substanz in Bestimmung der anderen wechselseitig".

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Teile eines Ganzen, die einander ausschließen und doch, eben als Teile eines Ganzen, etwas gemeinsam haben. 22 Wendet man sich einer Unterscheidung zu, die Schleiermacher in der Theorie der Urteilsbildung der Dialektik anbietet, wird deutlich, dass es sich bei den in Wechselwirkung stehenden „relativen Gegensätzen" nicht um kontradiktorische Gegensätze handeln kann. Schleiermacher unterscheidet hier zwischen „positiven" und „negativen" Gegensätzen. Ein negativer Gegensatz besteht aus einer positiven Bestimmung (a) und ihrer bloßen Verneinung (-a): rund und nicht rund beispielsweise. Ein positiver Gegensatz operiert ohne Negation, er versucht, beide Glieder in ihrer Eigentümlichkeit zu bestimmen (nicht -a sondern b): wild und zahm beispielsweise. Ein negativer Gegensatz kann per deftnitionem nie falsch sein, aber er ist deswegen völlig uninteressant, weil wir erstens durch Negation keinerlei neue Erkenntnis erhalten, sie ist leer oder abstrakt, und weil er zweitens ein völlig statisches Gebilde darstellt. Der positive Gegensatz hingegen „schließt nicht" (DialKGA II 10/2, 645), hat aber gerade deswegen eine dynamische Kraft. Der negative [Gegensatz, S. S.] hemmt gänzlich die weitere Bearbeitung der anderen Seite; also ist auch die positive aus dem Zusammenhang mit der anderen ganz herausgesezt und die Bearbeitung derselben kann nie integrirendes Element des reinen Erkentnißprozesses werden sondern nur einem untergeordneten Zwek als bedingtes Den-

ken dienen. (Dia/KGA II 10/2, 184, § 60) Jede Bestimmung, die wir vornehmen, ist nach Schleiermacher ein „Herausnehmen eines Bestimmten aus dem Unendlichen" (Dia/KGA II 10/2, 644). Nur in der Negation kann diese Unendlichkeit eingeholt werden, sodass der Gegensatz tatsächlich „geschlossen" werden kann. Das negative Glied ist jedoch selbst ein Unendliches und passt sich dem positiven, man könnte sagen „widerstandslos", an, und

Vgl. K A N T KrV, Β l l l f . : „3te Anmerk. Von einer einzigen Kategorie, nämlich der der G e m e i n s c h a f t , die unter dem dritten Titel befindlich ist, ist die Übereinstimmung mit der in der Tafel der logischen Funktionen ihm korrespondierenden Form eines disjunktiven Urteils nicht so in die Augen fallend als bei den übrigen. Um sich dieser Übereinstimmung zu versichern, muß man bemerken: daß in allen disjunktiven Urteilen die Sphäre (die Menge alles dessen, was unter ihm enthalten ist) als ein Ganzes in Teile (die untergeordneten Begriffe) geteilt vorgestellt wird, und, weil einer nicht unter dem anderen enthalten sein kann, sie als einander k o o r d i n i e r t , nicht s u b o r d i n i e r t , so daß sie einander nicht e i n s e i t i g , wie in einer R e i h e , sondern w e c h s e l s e i t i g , als in einem A g g r e g a t , bestimmen (wenn ein Glied der Einteilung gesetzt wird, alle übrigen ausgeschlossen werden, und so umgekehrt), gedacht werden. Nun wird eine ähnliche Verknüpfung in einem G a n z e n d e r D i n g e gedacht, da nicht eines, als Wirkung, d e m anderen, als Ursache seines Daseins, u n t e r g e o r d n e t , sondern zugleich und wechselseitig als Ursache in Ansehung der Bestimmung der anderen b e i g e o r d n e t wird, (ζ. B. in einem Körper, dessen Teile einander wechselseitig ziehen, und auch widerstehen,) welches eine ganz andere Art der Verknüpfung ist, als die, so im bloßen Verhältnis der Ursache zur Wirkung (des Grundes zur Folge) angetroffen wird, in welchem die Folge nicht wechselseitig wiederum den Grund bestimmt, und darum mit diesem (wie der Weltschöpfer mit der Welt) nicht ein Ganzes ausmacht."

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damit wird es als Motor fur die Entfaltung des Wissens, in der sich die Gegensätze aneinander modifizieren, völlig uninteressant. Der einfache Gegensaz ist entweder falsch oder absolut das eine Glied schließt das andre völlig aus [...] Aber das Wissen ist nur im relativen Gegensaz denn nur in diesem ist die gleiche Einheit im Absoluten. (DialKGA II 10/1, 185, § 61.3) Bei den sich in Wechselwirkung aneinander modifizierenden relativen Gegensätzen kann es sich also nicht um negative oder, in logischen Termini, um kontradiktorische Gegensätze handeln, sondern um positive bzw. konträre Gegensätze. Allerdings lassen sich nicht alle Wechselwirkungspaare, die Schleiermacher bezeichnet, im streng logischen Sinn als konträre Gegensätze interpretieren. 2 3 Dass ein negativer Gegensatz keinerlei Dynamik enthält, dass aus einem negativen Gegensatz nichts entstehen kann, führt Schleiermacher auch als Argument gegen Fichte an, dessen Nicht-Ich Schleiermacher als bloße Negation angreift. Denn wie könnte es ein System von Einwirkungen geben wenn nicht feste Punkte im Sein gegen einander ständen? Ein bloß positives Ich und bloß negatives Nicht-Ich geben in keinem Sinn eine Welt. Und wie könnte es ein System von substantiellen Formen als wahres Ganzes geben wenn nicht jedes in seiner Production von dem außer ihm gesezten abhängig wäre, und diese Abhängigkeit als der eigentliche Grund der differenten Erzeugung müßte gesezt werden. Die Welt ist also offenbar nur in beidem zusammen gegeben, jedes für sich ist halb und unverständlich. (D/'a/KGA II 10/1, 132, § 196.2) Insofern Fichte gerade das gegenseitige Verwiesensein von Ich und Nicht-Ich als „Wechselbestimmung" bezeichnet, könnte Schleiermacher bei Fichte eine, wenn auch kritisch modifizierte, Anregung für den Begriff der Wechselwirkung gefunden haben. Diese Anregung nahm jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit ihren (Um)Weg über Friedrich Schlegel, der gerade in Auseinandersetzung mit und in Abkehr von Fichtes Grundsatzphilosophie seinen eigenen philosophischen Standpunkt entwickelte. Fichte gehört zu denjenigen Philosophen, mit denen sich Schleiermacher in kritischer Absicht intensiv beschäftigt hat, als Inspirationsquelle und Zündstein philosophischer Auseinandersetzung war er für Schleiermacher jedoch weniger fundamental als für die Romantiker Schlegel und Novalis. Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte, die während seiner Anstellung als reformierter Prediger an der Berliner Charite beginnt und durch seine Bekanntschaft mit Schlegel weiter angeregt wird, ist stark von der „romantischen Lesart" Schlegels

23 Da die Bezeichnung Gegensatz leicht irreführen kann, weil sie eben nicht streng logisch verstanden werden kann, nennt Rehme-Iffert die Wechselglieder in einem ähnlichen systematischen Kontext bei Schlegel „konträre Relate" (REHME-IFFERT 38). Ich zweifle, ob man damit mehr Klarheit erzielen kann und bleibe im Folgenden bei der Bezeichnung Gegensatz, da sie Schleiermacher sehr oft verwendet und die Verwendung des Begriffs Gegensatz in der Philosophiegeschichte bei weitem nicht nur logisch determiniert ist (vgl. B E I E R W A L T E R S ).

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geprägt, 24 so stark, dass, wie Herms bemerkt, 25 zwischen Schleiermachers und Schlegels Fichterezeption und -kritik eine bis ins Wortwörtliche reichende Parallelität besteht. Wendet man sich den verschiedenen Verwendungen des Begriffs der Wechselwirkung zu, so wird deutlich, dass Schleiermacher Wechselwirkung nicht nur in allen Lebensbereichen thematisiert, sondern auch auf sehr unterschiedlichen Ebenen verwendet: Es besteht Wechselwirkung auf einer anthropologischen Ebene zwischen Mann und Frau, Wechselwirkung im gesellschaftlichen Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft und zwischen den verschiedenen gesellschafdichen Sphären oder „ethischen Formen" der Kirche, der Akademie, dem Staat und der Familie. Wissen bildet sich in Wechselwirkung der Wissenschaften, zwischen Logik und Metaphysik, Empirie und Theorie, zwischen Induktion und Deduktion, zwischen Urteil und Begriff, bildlichem und diskursivem Denken. Wechselwirkung besteht aber auch im physikalischen Bereich zwischen Kraft und Erscheinung, zwischen den allerersten möglichen Differenzierungen des Wahrgenommenen in Aktion und Ding. Wechselwirkung besteht nicht nur innerhalb einer Wissenschaft und zwischen den Wissenschaften, sondern zwischen Kunst und Wissenschaft, Wissenschaft und Leben, Leben und Philosophie und mit Wechselwirkung antwortet Schleiermacher schließlich auf die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von praktischer und theoretischer Philosophie. Denn in Wechselwirkung stehen die vernünftigen Tätigkeiten des Menschen, Handeln und Denken, Wechselwirkung besteht zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Sein und Sollen, schließlich zwischen Natur und Vernunft und Realem und Idealem. Unter den unterschiedlichsten Wechselwirkungsverhältnissen, die Schleiermacher beschreibt, scheint es mir sinnvoll, zwei verschiedene Verwendungsweisen von „Wechselwirkung" zu unterscheiden: Eine breitere Verwendungsweise, die auf dem zirkelhaften Verhältnis von Ganzem und Einzelnem beruht, und eine Verwendungsweise, die ein exklusiveres duales Wechselverhältnis beschreibt. 2 ^ Wechselwirkung besteht zunächst zwischen „relativen Gegensätzen", die als Teile eines aufgegebenen, unendlichen Ganzen verstanden werden müssen sowie zwischen dem Teil und dem Ganzen; beispielsweise zwischen Staat und Bürger oder zwi-

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Vgl. MfiCKKNSTOCK 1992, Schkiermachers Auseinanderset^mgmit Fichte, 29ff. Vgl. HERMS 1974, Herkunft... 253. Zur Bedeutung Fichtes für die Entwicklung des Schleiermacherschen Denkens vgl. vor allem MECKENSTOCK 1992, Schleierr/iacbers Auseinandersetzung mit Fichte. Die Formulierung „Wechselverhältnis" wird von Odebrecht in Form einer Überschrift in seiner Dialektikausgabe auch in Bezug auf die beiden absoluten Gegensätze verwendet (vgl. DialO 149). Eigentlich kann man, bezogen auf die beiden absoluten Pole, nicht von einem Wechselverhältnis oder von einer Wechselwirkung sprechen, da sie eben in genau keinem Verhältnis zueinander stehen, eben weil sie vollkommen inkommensurabel sind. Um dieses Wechselverhältnis der beiden absoluten Gegensätze von den realen Wechselverhältnissen zu unterscheiden, könnte man hier von einer transzendent-transzendentalen Wechselwirkung sprechen.

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sehen der „Akademie" als forschungswissenschaftlicher Einheit und einzelnem Forschungsbeitrag. Unter diesen Wechselverhältnissen gibt es jedoch Wechselwirkungen, die ein exklusiveres Zweierverhältnis beschreiben, in dem die wechselseitige Abhängigkeit nicht nur in dem zirkelhaften Verhältnis von Ganzem und Einzelnem begründet ist, sondern darauf, dass die zwei konträren Glieder sich wechselseitig voraussetzen, auseinander hervorgehen, ineinander „umschlagen" können oder ihren Gegensatz „an sich" tragen. Das Aufeinander-Verweisen und Ineinander-Umschlagen der Wechselglieder 27 lässt sich gut an der Wechselwirkung von Ding und Aktion demonstrieren, die Schleiermacher innerhalb der Urteilsbildung im technischen Teil der Dialektik diskutiert. Eine Unterscheidung in Ding und Aktion ist eine minimale Differenzierung des Wahrgenommenen, die schon in der primitivsten Wahrnehmung stattfindet. Beide Unterscheidungen sind aufeinander angewiesen, insofern Aktionen, Tätigkeiten oder Bewegungen nur fixiert werden können vor dem Hintergrund bleibender Dinge. Die Fixierung eines Dinges als etwas Bleibendes macht ihrerseits nur Sinn, wenn etwas Bleibendes - ein Ding - sich zugleich über einen Wandel bzw. eine Bewegung oder Aktion hinweg als etwas Bleibendes auszeichnen kann. Da Dinge „in Aktion" treten und Aktionen Dinge ausmachen, kann man das eine je unter dem Aspekt des anderen betrachten: Der Gegensatz zwischen Ding und Action besteht, aber nur insofern verglichen wird, was auf einer Stufe steht; auf einem andern Standpunct kann man jedes Ding als Action ansehen und umgekehrt. Wäre dies nicht, so wäre schon auf dem lsten Puncte der Irrthum möglich; dieser Gegensatz ist also ein relativer [...]. ( D i a l K G A II10/2, 637)

Andere grundlegende „exklusive Wechselverhältnisse" lassen sich in Schleiermachers Philosophie zwischen Urteil und Begriff, zwischen Induktion und Deduktion, zwischen Theorie und Empirie oder Theorie und Historie und auch zwischen Handeln und Erkennen erkennen. Handeln und Erkennen oder, wie Schleiermacher formuliert, Organisieren und Symbolisieren lassen sich immer nur ihrer Tendenz nach unterscheiden. Jedes Erkennen ist zugleich immer auch ein Umgang mit dem Erkannten, ein Zum-Werkzeug- oder Zum-Eigentum-Machen, und im Handeln oder im Umgang mit den Dingen findet zugleich immer auch eine (Neu-) Bestimmung des Gegenstandes statt. Jedem Handeln geht ein Akt des Erkennens und jedem Erkennen ein Akt des Handelns voraus, oder anders formuliert: Wir wissen, was etwas ist, indem wir mit ihm umgehen, aber wir können nur mit etwas umgehen, wenn wir wissen, was es ist. Indem die exklusiven Wechselglieder aufeinander verweisen und ihren Gegensatz „an sich tragen" derart, dass jeder auch unter 27 Den Term „Wechselglieder'' verwendet Schleiermacher selbst nicht, ich führe ihn jedoch an dieser Stelle ein und bezeichne im Folgenden damit die in Wechselwirkung miteinander verbundenen Glieder oder, wie Schleiermacher formuliert, die „relativen Gegensätze".

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dem Aspekt des anderen betrachtet werden kann und die Frage, was zuerst war, keinen Sinn ergibt, zeichnen sie sich als Wechselglieder aus. Die einzige Stelle, an der Schleiermacher Wechselwirkung zum Gegenstand der Reflexion macht, findet sich in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von 1799. Die Schrift untersucht die philosophische und gesellschaftliche Bedeutung der „freien Geselligkeit", die der Form nach „vollendete Wechselwirkung" (GBKGA I 2, 169) sein soll. Leider bleibt in der Fragment gebliebenen Schrift genau jene Stelle, die ausfuhrlicher Auskunft über diese „Form" der freien Geselligkeit geben soll, unausgeführt. Was die wenigen Angaben hier dennoch interessant macht, ist, dass es sich bei der vollendeten Wechselwirkung um einen Zielbegriff handelt, also ein Ideal formuliert wird, das deutlich macht, wie sich das Verhältnis der beiden positiven Gegensätze gestalten soll. Das Ideal vollendeter Wechselwirkung wird in dieser frühen Schrift als zwischenmenschliche Wechselwirkung entwickelt. Es beschreibt eine zwei oder mehrere Personen umfassende Tätigkeit, in der sich Handelnde(r) und Leidende(r) nicht mehr voneinander unterscheiden lassen, da alle Partner gleichermaßen aktiv und passiv sind. Schleiermacher illustriert dies Ineinanderaufgehen zweier Handlungen im Verhältnis Redner-Hörer, wobei auch das Hören als aktiver Part aufgefasst werden muss, der auf den Redner ebenso wirkt wie die Rede auf den Hörenden. Der Akzent der vollendeten Wechselwirkung liegt dabei nicht auf dem Umstand, dass alle Partner in einer Hinsicht als aktiv und in einer anderen Hinsicht als passiv betrachtet werden müssen oder nicht nur handeln sondern auch leiden. Denn in jeder zwischenmenschlichen Tätigkeit liegt Wechselwirkung vor. Der Akzent liegt vielmehr auf dem ausgewogenen, reibungslosen Verhältnis dieses Handeln-Leidens oder Leiden-Handelns, auf einem vollkommenen Ineinandergreifen und Ineinanderaufgehen der freien Tätigkeit unterschiedlicher Personen. Alles Leiden ist zugleich Handeln, alles Handeln zugleich Leiden. Mit dem Ideal vollendeter Wechselwirkung formuliert Schleiermacher so ein Modell realisierter Freiheit, das real nur annäherungsweise und im Schutz der von jedem äußeren Zwang befreiten Gesellschaft, also in „freier Geselligkeit", erreicht werden kann. Außerhalb dieses ethischen „Gewächshauses" — das natürlich auch eine Fiktion bleibt — kann vollendete Wechselwirkung erst dann erreicht werden, wenn die Welt vollständig gebildet ist, wenn sie alle Differenzierung durchlaufen hat, und dies heißt im Unendlichen. Oder anders formuliert: vollendete Wechselwirkung des positiven Gegensatzes a und b ist dann erreicht, wenn wir um - a und —b wissen, wenn wir die ganze Welt durchlaufen haben, die Negation substantiell eingeholt haben und a und b wie Puzzelteile eines Puzzels mit unendlich vielen Teilen ihren Platz im Ganzen mithin ihren relativen Gegensatz erkannt haben. Indem Schleiermacher in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens Wechselwirkung als Gemeinschaft (im Gegensatz zur Gesellschaft) bestimmt, könnte man einen terminologischen Bezug auf Kants Kategorie der Gemeinschaft vermuten. Gemeinschaft als Wechselwirkung zwischen Handelndem und Leidendem ist

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in der Kritik der reinen Vernunft eine von drei Kategorien, die das Zeitverhältnis von Gegenständen der Wahrnehmung bestimmen und somit Erfahrung erst konstituieren. Gegenstände der Erfahrung können als dauernd, aufeinander folgend und gleichzeitig erfahren werden. Dass eine sukzessiv aufeinander folgende Wahrnehmung in eine Erfahrung der Gleichzeitigkeit der Erfahrungsobjekte münden kann, ist nur möglich unter Voraussetzung der Kategorie der Gemeinschaft bzw. Wechselwirkung. 28 Trotz einer sprachlichen Entsprechung erhält der Begriff der Wechselwirkung bei Kant und Schleiermacher einen völlig anderen systematischen Platz im philosophischen System. Geht man davon aus, dass hier eine Anlehnung stattfindet, so wird bei Schleiermacher die von Kant im Bereich der Erkenntnistheorie entwickelte Kategorie zunächst ethisch gewendet und auf den zwischenmenschlichen Bereich übertragen. Indem Wechselwirkung jedoch mit der Entfaltung und Systematisierung der Schleiermacherschen Philosophie zum Kerngedanken avanciert, ist sie nicht mehr eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung sondern beschreibt die Dynamik des Endlichen schlechthin. Mit der formalen Bestimmung dieser Dynamik als Wechselwirkung positiver Gegensätze ist jedoch noch keine ausreichende Präzision erreicht. Findet Wechselwirkung in dem weit gefassten Verständnis von Wechselwirkung zwischen Teil und Ganzem und den einander koordinierten Teilen eines Ganzen statt und macht man sich klar, dass das größte Ganze Welt ist, so steht in letzter Hinsicht alles Endliche mit allem Endlichen in Wechselwirkung. Präzision und Uberzeugungskraft entwickelt Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung jedoch in der Analyse der Struktur, Bedeutung und Konsequenz konkreter Wechselwirkungsverhältnisse. Zwar ist alles Endliche in letzter Hinsicht allem Endlichen ein relativer Gegensatz und in Wechselwirkung verbunden, so aber nicht mit allem in gleicher Weise. Ihre philosophische Begründung erfährt die Philosophie der Wechselwirkung in der Reflexion auf die Unhintergehbarkeit menschlicher Endlichkeit.

Also kann das Zugleichsein der Substanzen im Räume nicht anders in der Erfahrung erkannt werden, als unter Voraussetzung einer Wechselwirkung derselben untereinander; diese ist also auch die Bedingung der Möglichkeit der Dinge selbst als Gegenstände der Erfahrung.(KANT KrV, A 211/ Β 258) Vgl. auch K A N T KrV, A 213f./ Β 260f. u. K A N T KrV, A 211/ Β 256.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

1.2. Vom Gefangensein im Endlichen: Überlegungen %um Verhältnis von Spinoza und Schleiermacher 1.2.1. Schleiermachers Spinozalektüre Schleiermachers Auseinandersetzung mit Spinoza ist für den Beginn 90er Jahre des 17. Jahrhunderts dokumentiert und fällt in eine Zeit, in der sich, ausgelöst durch Jacobis Spinozabuch Ueber die Lehre des Spinoza in Βήφη an den Herrn Moses Mendelsohn von 1785, an Spinozas Philosophie ein passionierter Streit über religionsphilosophische und erkenntnistheoretische Grundlagen entzündet. Jacobi stellt dort Lessing als einen Vertreter der spinozistischen Philosophie vor und interpretiert Spinozas Ethik als „perfekt" rationalistische Philosophie, deren konsequente Ausführung notwendig in den Atheismus führe. 29 Schleiermachers Spinozalektüre, die zunächst eher durch ein Interesse an Jacobi als an Spinoza motiviert ist, 30 schlägt sich in der Kursen Darstellung des Spinozistischen Systems nieder, die wahrscheinlich 1793/94 während seines Berlinaufenthaltes als Schulamtskandidat entstand 31 und basiert zu diesem Zeitpunkt auf der zweiten, veränderten Auflage des Spinozabuches von Jacobi von 1789, das er zuvor gründlich exerpiert und zum Teil kopiert hatte. Über eine eigene Spinoza-Ausgabe konnte Schleiermacher erst ab 1799 verfügen. Der Polarisierung dieses Spinozismusstreites, die das Selbstverständnis einer ganzen Epoche prägte, 32 ist es zu verdanken, dass Schleiermacher mit dem Erscheinen der Reden über die Religion 1799 in der Öffentlichkeit sofort positioniert wird und den Titel „Spinozist" erhält. Mit dem „Spinozismusvorwurf, der sich vor allem an Schleiermachers Begriff des Universums und an dem pathetischeuphorischen Lob des Spinoza in der zweiten Rede entzündet, ist Schleiermachers Verhältnis zu Spinoza jedoch alles andere als geklärt. 33 Die Heftigkeit und Schärfe der Reaktion auf die Redend die auch von Seiten der aufgeklärten Theologie immer 29

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Eine Art dokumentarischen Uberblick - keine problematisierende Auseinandersetzung - der Spinozarezeption in Deutschland, mit deren Hilfe sich auch die Spinozadebatte in den Jahren 1785-1789 verfolgen lässt, bietet die 1897 erschienene Schrift von Max Grundwald Spinoza in Deutschland. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Spinozarezeption im 18. Jahrhundert findet sich bei OTTO 1994. Vgl. MECKENSTOCK 1988,181. Vgl. ARNDT Kommentar... 1996, 1126. Vgl. TIMM 6. Die Stellen in den Reden, in denen sich Schleiermacher direkt zu Spinoza äußert, sind, wie Meckenstock zu Recht bemerkt (MECKENSTOCK 1988, 2), so undeutlich, dass sich inhaltlich gar keine Positionsbestimmung zu Spinoza erkennen lässt. Schleiermachers Mentor Sack beispielsweise warf Schleiermacher Anfang des Jahres 1801 in aller Deutlichkeit vor, dass die Reden mit „allem dem, was mir bisher Religion geheißen hat, und gewesen ist, ein Ende zu machen scheint, und ich die dabei zum Grunde liegende Theorie für die trostloseste sowohl als verderblichste halte, und sie auf keine Art und Weise weder mit dem gesunden

Vom Gefangensein im Endlichen

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einen Atheismusvorwurf implizierte, traf Schleiermacher immerhin so hart, dass er seine weiteren Auflagen der Reden auf diese spinozistisch anmutenden Stellen hin bearbeitete. Allerdings ist es nicht der legitime oder illegitime Vorwurf des Atheismus, aufgrund dessen sich Schleiermacher in den darauf folgenden Jahren immer deutlicher gegen Spinoza absetzt (gegen den Vorwurf des Atheismus ist nach Schleiermacher auch Spinoza immun), 35 sondern die Entwicklung seines eigenen philosophischen Systems, in dem Schleiermacher zwar von Spinoza ausgeht, sich aber radikaler zum endlichen Standpunkt des handelnden und erkennenden Menschen bekennt. Den Plan einer Abhandlung über Spinoza hat Schleiermacher nie realisiert, allerdings strebte er die Veröffentlichung der Dialektik unter anderem auch deswegen an, um seinen philosophischen Standpunkt von Spinoza abzuheben, sodass sich „manches Geschrei von selbst geben" sollte. 36 Erfährt Spinoza in Schleiermachers Abhandlung Kur^e Darstellung des Spino^istischen Systems von 1793/94 anders als Leibniz eine anerkennende Rezeption, so charakterisiert Schleiermacher Spinozas Philosophie in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803 als ein Philosophieren vom Absoluten aus. Diese Charakterisierung Spinozas als Philosoph des Absoluten setzt sich in einzelnen Bemerkungen in den Dialektikvorlesungen fort. 37 Die Nähe Schleiermachers zu Spinoza ist in der Sekundärliteratur fast ein Allgemeinplatz, zugleich gibt es noch nicht sehr viele eingehende Untersuchungen zu diesem Thema, kaum welche aus den letzten Jahrzehnten. 3 ^ Die meisten Autoren konzentrieren sich dabei auf die Frühschriften Schleiermachers (vor allem die Reden und die Monologen), in denen sich die Nähe zu Spinoza im Gottesbegriff bzw. in dem Begriff des Universums sowie dem der Anschauung niederschlägt. Obgleich Spinoza als ein zentraler Ausgangspunkt für das Schlelermachersche Denken verstanden werden muss, wird es im folgenden Vergleich zwischen Spinoza und Schleiermacher weder um den Einfluss der spinozistischen Philosophie auf die Frühschriften, noch um die Entwicklung und Modifikation spinozistischer Gedanken im Denken Schleiermachers gehen, sondern es soll im Hinblick auf die Verstände noch mit den Bedürfnissen der moralischen Natur des Menschen in irgend eine Art von Vereinigung zu bringen weiß." (BrKGA V 5, 4, Brief Nr. 1005). Schleiermacher antwortete im |uni desselben Jahres Vgl. BrKGA V 5,129, Brief Nr. 1065. 35 36

Vgl. W i l l 1.4, 278. Fast dreißig Jahre nach dem ersten „Spinozismusvorwurf' betont Schleiermacher in einem Brief vom 2. Januar 1827 an Delbrück, dass er sich selbst nicht als Anhänger Spinozas sieht: „Ich habe den Spinoza seit ich zuerst gelesen, und das ist nun fünfunddreißig Jahre her, aufrichtig bewundert und geliebt, aber sein Anhänger bin ich auch nicht einen einzigen Augenblick gewesen." (BrR 4, 375)

37

Vgl. ζ. B. die Vorarbeiten zur letzten Einleitung zur Dialektik Dial.KGA II 10/1, 371 f. Zum Verhältnis Spinoza und Schleiermacher vgl. die älteren Arbeiten von FISCHER 1848, S C H M I D T 1868, L A C K N E R 1897, C A M E R E R 1903 und M U L E R T 1923. In den letzten Jahrzehnten haben sich D I N S M O R E 1988, M E C K E N S T O C K 1988, C R A M E R 2000 und A R N D T 2001 mit diesem Thema beschäftigt.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

Fragestellung: Wie ist eine Orientierung im Endlichen möglich? die spinozistische Ethik dem bereits entfalteten philosophischen Standpunkt Schleiermachers, wie er sich in den Vorlesungen darstellt, gegenübergestellt werden. In der Gegenüberstellung der beiden philosophischen Entwürfe liegt der Fokus auf dem „Gefangensein" des Menschen im Endlichen und seiner Möglichkeit, sich in und zu diesem zu verhalten.

1.2.2. Die Knechtschaft des Menschen und die Macht der Vernunft in Spinozas „Ethik" - Der ethische Zirkel und das ewige „Anfangen-aus-der-Mitte" bei Schleiermacher Hinter dem Titel Ethik verbirgt sich bei Spinoza nicht nur eine praktische Philosophie im engeren Sinne, sondern ein philosophischer Gesamtentwurf, der auf einer Ontologie und Metaphysik eine Erkenntnistheorie, eine Psychologie als Affektenlehre, eine Ethik im engeren Sinne, den Ansatz einer Staatstheorie und eine Theologie entwickelt. Der Substanzbegriff und mit ihm das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem, Schaffendem und Geschaffenem, „natura naturans" und „natura naturata" wird dabei im ersten Buch der Ethik Spinozas entfaltet. Als einzige „causa sui" umfasst Gott oder die Substanz alles Sein, sie bildet sozusagen den ontologischen Raum - alles was ist, hat seiner Existenz nach seine Ursache in Gott. Oder anders formuliert: Alles was ist, ist, weil es auf endliche oder unendliche Weise Gott ausdrückt. Zu den ewigen Dingen oder zur „natura naturans" gehören die Attribute, die auf je eigene und doch umfassende Art - man könnte sagen in einer je eigenen unübersetzbaren und doch in sich vollständigen Sprache - das unendliche Wesen Gottes ausdrücken. Obgleich die Attribute der Zahl nach unendlich sind (man könnte sagen, die Substanz zeichne sich durch eine „potenzierte Unendlichkeit" aus), sind dem Menschen nur zwei dieser unendlichen Darstellungsweisen zugänglich bzw. erkennbar: Ausdehnung und Denken. 3 9 „Natura naturata", die Welt des Endlichen oder die Welt der Erscheinungen ist in Spinozas Ethik die Welt der Modifikationen, in denen die Substanz auf unendliche Weise in Erscheinung tritt. Nur hier gibt es Bestimmtheit und Begrenzung, ein Vorher und Nachher, ein Drüber und Drunter, eine raum-zeitliche Ordnung. An die Stelle einer sich in zweifacher Weise in Ausdehnung und Denken parallel realisierenden Substanz tritt bei Schleiermacher ein ursprünglicher „absoluter Gegensatz", in dem die zwei Glieder des Gegensatzes nichts mehr miteinander gemein haben: Eine als „pure Materialität", „absolute Mannigfaltigkeit" oder Chaos vorgestellte Natur steht einer als „absolute Einheit" vorgestellten Vernunft gegenüber. Das In-Erscheinung-Treten des Absoluten stellt sich bei Schleiermacher also nicht in zwei einander streng parallel geordneten Attributen oder Sphären dar, 39

Vgl. SPINOZA, Ε, II, Axiom 5.

Vom Gefangensein im Endlichen

29

sondern als Realisierung oder Aufhebung eines absoluten Gegensatzes und kann in zweierlei Richtung formuliert werden: Es ist das In-Erscheinung-Treten der Vernunft als Gehaltwerden purer Identität und das In-Erscheinung-Treten der Natur als Gestaltwerden reiner Mannigfaltigkeit. Oder anders formuliert: Es ist das Handeln der Vernunft auf die Natur als Strukturierung einer absoluten Mannigfaltigkeit und das Handeln der Natur auf die Vernunft als Konkretwerden einer absoluten Einheit. In dieser Modifikation des spinozistischen Substanzbegriffs durch Schleiermacher sieht Camerer eine „Lösung" der in sich unstimmigen spinozistischen Substanzkonzeption, 40 denn die beiden Attribute würden bei Spinoza so eigenständig voneinander bestimmt, dass sie Substanzcharakter erhielten und nicht deutlich werde, wie sich die Attribute zur Substanz verhalten und wie sich ihre Einheit motivieren und erkennen ließe. 41 An die Stelle der unreflektierten und ungelösten Einheit der Attribute will Camerer mit Schleiermacher die Anerkennung des Gegensatzes und ihre transzendentale Einheit setzen, die nur in unendlicher Progressivität realisiert werden kann. In Spinozas Ethik folgt alles Endliche einem strengen Determinationszusammenhang, in dem eine Modifikation immer auf eine andere Modifikation verweist, und es entsteht eine endlose Kette einander bedingender endlicher Modifikationen, ein unendlicher komplexer Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Diese unendliche Kette oder man könnte auch sagen dieses unendlich verzweigte Netz von Ursache und Wirkung stellt sich jedem einzelnen Menschen immer nur als Ausschnitt dar. Indem wir Ursache sind und Wirkung erfahren, affizieren oder affiziert werden, machen wir Erfahrungen über uns und über andere. In jeder konkreten Erfahrung bildet sich ein einzelner Aspekt ab, und je mehr Erfahrungen wir machen, desto umfassender wird unsere Erkenntnis über uns und unser Eingebundensein in den Determinationszusammenhang des Endlichen, ohne dass wir je zu einer adäquaten Erkenntnis gelangen können. 4 2 So viele Erfahrungen wir auch machen, es bildet sich uns immer nur eine ausschnitthafte Wirklichkeit ab und unsere Erkenntnis, die wir auf diese Weise gewinnen, kann immer nur ein Vorstellen sein. „Irrtum" unterscheidet sich daher für Spinoza lediglich graduell von einem Vorstellen, er muss als Mangel an Erkenntnis verstanden werden und hat keine „positive Form", die es uns erlaubt, die wahre von der falschen Vorstellung zu trennen, denn jede Vorstellung ist in gewisser Weise ein Irrtum, insofern sie die Wirklichkeit nur ausschnitthaft erfasst. 43 40 41 42

43

Vgl. CAMERER 9. Vgl. CAMERER 91. Vgl. SPINOZA E, II, LS 25/27. Wir haben keine adäquate Erkenntnis der äußeren Körper (vgl. SPINOZA Ε, II, LS 24), noch der Teile unseres Körpers (vgl. SPINOZA Ε, II, LS 24). Nicht adäquat erkennen können wir die Dauer der Existenz unseres Körpers und der äußerer Körper (vgl. SPINOZA Ε, II, LS 26). Vgl. SPINOZA Ε, II, LS 33/35.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

In der Affektenlehre des dritten und vierten Buches führt Spinoza das Eingebundensein des Menschen in den Ursache-Wirkungszusammenhang des Endlichen und seine „Knechtschaft" unter der Eigendynamik der Affekte aus. Ein Affekt bezeichnet eine Veränderung des Denkvermögens des Geistes und des Tätigkeitsvermögens des Körpers. Steigert sich unser Denk- und Tätigkeitsvermögen, dann reden wir von Lust, vermindert es sich, dann reden wir von Unlust. Da wir permanent affiziert werden und affizieren und mit jeder Affektion unser Denk- und Tätigkeitsvermögen neu disponiert wird, haben wir permanent Affekte und können nicht verhindern, permanent Lust und Unlust zu empfinden. Aus diesen Grundaffekten Lust und Unlust entwickelt sich jedoch ein komplexes Netz von Folgeaffekten, die aufgrund unserer nur ausschnitthaften Einsicht in den UrsacheWirkungszusammenhang der endlichen Dinge entstehen, sich assoziativ miteinander verknüpfen und permanent wechselseitig hervorrufen. Da wir unser Eingebundensein in die Natur (und mithin auch in die menschliche Gemeinschaft) immer nur vorstellend begreifen, haben wir keine deutliche Einsicht in die wirklichen oder „adäquaten" Ursachen unserer Affekte, und indem wir uns vorstellend mit ihnen auseinandersetzen, entstehen neue Affekte, die wir wiederum nicht deutlich einsehen und die wiederum neue Affekte hervorrufen. Affekte werden beispielsweise häufig dadurch hervorgerufen, dass wir Vorstellungen assoziativ miteinander verknüpfen: Eine Person hat eine ähnliche Nase wie die Person, die wir lieben, also lieben wir diese auch. Eine Person, die wir nicht kennen, drückt sich mit ähnlichen Gesten aus, wie eine Person, die -wir hassen, also hassen wir sie auch. Indem unsere Affekte derartigen Assoziationsregeln folgen, lieben und hassen wir oft, so könnte man sagen, lediglich aus Sympathie oder Antipathie. 44 Dass der Mensch Teil eines Naturzusammenhanges ist, in dem er affiziert wird und affiziert, Affekte hat, die adäquaten Ursachen dieser Affekte nicht erkennt und einer Folge sich assoziativ generierender Affekte unterliegt, macht seine „Knechtschaft" in der Welt des Endlichen aus. Den Zustand der Knechtschaft können wir nicht aufheben, da wir unsere Endlichkeit und unser Eingebundensein in die Natur nicht aufheben können. 4 ^

Vgl. SPINOZA E, III, LS 14: „Wenn der Geist einmal von zwei Affekten zugleich affiziert gewesen ist, so wird er, wenn er später von einem der beiden wieder affiziert wird, auch von dem anderen wieder affiziert werden." Vgl. auch SPINOZA E, III, LS 15 Anm.: „Daraus ersehen wir, wie es kommen kann, daß wir etwas lieben oder hassen ohne eine uns bekannte Ursache, bloß aus Sympathie und Antipathie (wie man sagt)." Vgl. auch SPINOZA E, III, LS 16: „Allein schon deshalb, weil wir uns vorstellen, daß ein Ding irgendeine Ähnlichkeit mit einem Objekt hat, das den Geist mit Lust oder Unlust zu affizieren pflegt, werden wir es lieben oder hassen, wenn auch das, worin das Ding dem Objekt ähnlich ist, nicht die bewirkende Ursache dieser Affekte ist." 4"* Vgl. SPINOZA Ε, IV, LS 4: „Es ist unmöglich, daß der Mensch nicht Teil der Natur ist und daß er nur Veränderungen erleiden kann, die aus seiner Natur allein begriffen werden können und deren adäquate Ursache er ist." 44

Vom Gefangensein im Endlichen

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Unterliegen die endlichen Dinge bei Spinoza der Dynamik eines strengen Determinationszusammenhanges, so besteht die Dynamik der endlichen Dinge bei Schleiermacher nicht in einem strengen Ursache-Wirkungs- oder Grund-FolgeVerhältnis mit Gott als erster Ursache, sondern im partiellen Aufheben und Bilden so genannter „relativer Gegensätze". Eine unendliche Bewegung, in der sich ein absoluter Gegensatz realisiert. An den Anfang dieser Bewegung oder an die allererste „Handlung" der Vernunft auf die Natur, wie Schleiermacher formuliert, kommen wir ebenso wenig heran wie an die erste Ursache in der spinozistischen Kette des Endlichen. Obgleich in Spinozas Ethik Gott auch für alle Modifikationen Ursache ist - aus Gott muss Unendliches auf unendliche Weise folgen 4 6 - so kann er nicht als erste Ursache am Anfang einer unendlichen Kette aus Ursache und Wirkung verstanden werden. Er ist nicht übergehende, sondern immanente Ursache der Totalität des komplexen Ursachenzusammenhanges. Es gibt kein direktes Ableitungsverhältnis zwischen Gott und Welt, zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit. Ebenso wenig kann nach Schleiermacher ein erster Punkt oder Moment festgestellt werden, der das erste Zusammenwirken der beiden absoluten Gegensätze bezeichnet, wir finden das Einwirken auf die Vernunft durch die Natur und das Einwirken der Vernunft auf die Natur immer schon vor. 4 7 All unser Denken, Handeln und Fühlen hat immer schon begonnen und verweist in seiner Bestimmtheit auf vorausgegangene Tätigkeiten. Jede Tätigkeit ist bedingt durch vorangegangene Tätigkeiten, indem sie institutionalisierte Handlungsmuster bedient und diese zugleich mit jeder neuen Tätigkeit modifiziert. In der Reflexion auf unser Handeln, Denken und Fühlen können wir eine Geschichte sich verändernder Formen konstatieren, ohne dass wir an den Anfang oder das Ende dieser Geschichte heranreichen. Da wir aber immer nur Bedingtes produzieren und Bedingtes vorfinden, das auf Bedingtes verweist, charakterisiert Schleiermacher die menschliche Position auch als ewiges „Aus-der-Mitte-Anfangen" 4 ®. Auch die Position des Menschen im strengen Determinationszusammenhang der endlichen Dinge kann bei Spinoza als ein ewiges Aus-der-Mitte-Anfangen bezeichnet werden, denn jede Modifikation hat eine Wirkung und verweist auf eine Ursache, und die Wirkung hat wiederum eine Wirkung, und die Ursache verweist auf eine weiter zurückliegende und so fort ins Unendliche. Dem Eingebundensein in den endlichen Naturzusammenhang, in dem der Mensch immer nur als Teilursache auftritt, nicht frei handelt, sondern leidet, nicht 46 47

48

Vgl. SPINOZA, Ε, I, LS 16. Vgl. Ht/jBI 13 § 67: „Die Ethik beginnt mit einem Minimum des Gewordenen, d. h. mit einem Sezen der Natur, in welcher die Vernunft schon ist, und mit einem Sezen der Vernunft, weiche schon in der Natur ist, welches Ineinandersein unter jeder Gestalt auf ein früheres zurückgeführt wird." Vgl. auch Eihbl 9f. § 39: „Die Vernunft wird in der Natur gefunden und die Ethik stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprünglich hineinkäme."

Vgl. ζ. B. DialK.GA II 10/2, 642.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

erkennt, sondern nur mehr oder weniger irrtümliche Vorstellungen entwickelt, kann er nach Spinoza nicht entkommen, aber er kann ihm mit Vernunft begegnen, indem er sich über seine Funktionsweise aufklärt und auf diese Weise das Leiden mildern oder mäßigen kann.4® Denn neben dem Vorstellen als Erfassen der Dinge nach der „gewöhnlichen Ordnung der Natur", die nur eine verworrene Erkenntnis liefert, gibt es ein Erfassen, das „mehrere Dinge zugleich betrachtet". Diese Betrachtung hält fest, „was allen Dingen gemeinsam ist und was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist" (SPINOZA Ε, II, LS 40 Anm. 2). 50 Die auf diese Weise gewonnenen Ideen nennt Spinoza Gemeinbegriffe, sie machen die zweite Gattung der Erkenntnis, die „ratio" oder Vernunft aus. Neben der Vorstellung und der Vernunft benennt Spinoza mit der Intuition noch eine dritte Gattung der Erkenntnis, mit der nicht das allen Gemeinsame, sondern das individuelle Wesen der Dinge gegeben ist. 51 Spinoza erläutert dies mit einem Beispiel aus der Mathematik: Während das Ausrechnen von Proportionen nach gelernten, aber nicht eingesehenen Beweisen der ersten Gattung der Erkenntnis oder Vorstellung entspricht, das Einsehen oder Aufstellen von allgemeinen Regeln der zweiten Gattung oder Vernunft, gibt es ein Erfassen von Proportionen auf einen Blick, das die Art und Weise beschreiben soll, wie intuitives Wissen „geschieht", eben als ein Schauen ohne Erkenntnisw?*ga»g, das sich auf das „Wesen" richtet. Dieses Beispiel ist insofern missverständlich, als dass der Eindruck entsteht, der Gegenstand der vorstellenden, vernünftigen und intuitiven Erkenntnis sei derselbe. Dies ist natürlich in letzter Hinsicht der Fall, insofern alle Erkenntnis Erkenntnis Gottes ist. Gott drückt sich jedoch auf unendliche und endliche Weise aus, und dementsprechend kann der Gegenstand der Erkenntnisgattungen auch unterschieden werden. 5 2 49

51

52

Vgl. SPINOZA, Ε, V, Vorwort. Vgl. auch SPINOZA, Ε, II, LS 37: „Das, was allen Dingen gemeinsam ist [...] und was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, macht das Wesen keines Einzeldinges aus'', aber das Wesen des Menschen, „insofern es durch die Vernunft definiert wird" (SPINOZA, Ε, IV, LS 36 Anm.) Vgl. auch SPINOZA, Ε, II, LS 38: „Das, was allen Dingen gemeinsam ist [...] kann nicht anders begriffen werden als adäquat." Spinoza erläutert den Unterschied im Lehrsatz 40 des zweiten Buches mit folgendem Beispiel: „Das alles will ich an einem Beispiel erläutern. Es sind ζ. B. drei Zahlen gegeben, um eine vierte zu erhalten, die sich zur dritten verhält wie die zweite zur ersten. Ein Kaufmann wird ohne Bedenken die zweite mit der dritten multiplizieren und das Produkt durch die erste dividieren. Er hat nämlich noch nicht vergessen, was er vom Lehrer ohne irgendeinen Beweis gehört hat; oder er hat es an sehr einfachen Zahlen erprobt; oder er weiß es auf Grund des Beweises des Lehrsatzes 19 im 7. Buch Euklids, nämlich aus der allgemeinen Eigenschaft der Proportionen. Bei sehr einfachen Zahlen dagegen bedarf es dergleichen nicht. Wenn z.B. die Zahlen 1, 2, 3 gegeben sind, sieht jeder, daß die vierte Proportionszahl ό ist, und das viel deutlicher, weil wir aus dem Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten Zahl, das wir auf Anhieb wahrnehmen, die vierte erschließen." (SPINOZA F., II, LS 40, Anm. 2) Einige Stellen in der litlnk. legen nahe, dass es einen Ubergang von der einen Erkenntnisart zur anderen geben kann (vgl. ζ. B. SPINOZA Ε, II, LS 41 Anm. 2). Da jede der drei Erkenntnisgattun-

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Während sich die Vorstellungen den endlichen Dingen und ihrem konkreten Wirkungszusammenhang widmen, erkennt die Vernunft das allen Gemeinsame. Das allen Gemeinsame ist das In-einem-Attribut-Sein, das „formale Wesen der Attribute" 53 oder das „Attributhafte", d. h. ihre „Körperhaftigkeit" bzw. „Geisthafügkeit". Diese Erkenntnis des Attributhaften führt Spinoza in den Axiomen und Hilfssätzen des Lehrsatzes 13 im zweiten Buch für das Attribut Ausdehnung vor, die so etwas wie die Stoßgesetze von Körpern formulieren. Als ein Pendant zu diesen formalen Gesetzen des Attributes der Ausdehnung kann man für das Attribut des Denkens die Affektenlehre des dritten und vierten Buches ansehen, in der es darum geht, die allgemeine Funktionsweise von Vorstellungen und Affekten zu verstehen. 54 Mit der vernünftigen Einsicht in die allgemeine Funktionsweise der Affekte können wir uns nach Spinoza nun darüber aufklären, dass die Vorstellung immer nur einen unzureichenden Einblick in die komplexen Ursachen- und Wirkungszusammenhänge gibt und wir oft assoziative Verknüpfungen vornehmen. Mit dieser Aufklärung über die Natur der Affekte haben wir keine adäquate Erkenntnis der konkreten Ursache, aber wir erkennen die vorgestellte Ursache des Affektes als eine vermeintliche oder nur partielle Ursache und mildern so die Macht des Affektes. 55 Auf diese Weise kann die Vernunft die Vorstellung nicht vollständig ersetzen, denn die Vorstellung ist unser erster und einziger konkreter Zugang zur raumzeitlich begrenzten Welt. Wann, wo und wie wir in den konkreten Ursachegen einen je eigenen Gegenstandsbereich hat und eine Erkenntnisgattung nicht durch die andere ersetzt werden kann, ist ein solcher Übergang schlecht vorstellbar und muss daher meines Erachtens eher so verstanden werden, dass eine Erkenntnisgattung zu der anderen Anlass gibt: Vorstellungen geben der Vernunft Anlass, sich zu erproben, und die Vernunft löst das Bestreben aus, intuitiv zu erkennen. 53 54

55

Vgl. SPINOZA, Ε, II, I.S 40, Anm. 2. Die menschlichen Handlungen sollen so behandelt werden, „als handelte es sich um Linien, Flächen oder Körper" (SPINOZA E, III, Vorwort, 253). Vgl. SPINOZA R, III, Vorwort, 253: „Denn die Natur ist immer dieselbe, und ihre Kraft und ihr Vermögen zu wirken ist überall gleich. D. h., die Gesetze und Regeln der Natur, nach denen alles geschieht und aus einer Form in eine andere verwandelt wird, sind überall und immer die gleichen. Daher kann es auch nur eine Methode geben, nach der die Natur aller Dinge, um welche es sich auch immer handelt, erkannt wird, nämlich durch die allgemeinen Gesetze und Regeln der Natur. Es folgen daher die Affekte des Hasses, des Zorns, Neids, an sich betrachtet, aus derselben Notwendigkeit und Kraft der Natur wie alles andere." Vgl. auch SPINOZA E, III, Vorwort, 255. Die Ethik selbst muss als Demonstration dessen begriffen werden, was wir rational erkennen können. Vgl. SPINOZA Ε, V, LS 4, Anm.: „Es kann [...] gegen die Affekte kein vortrefflicheres, in unserer Macht stehendes Heilmittel erdacht werden als dieses, das in der wahren Erkenntnis der Affekte besteht." Vgl. auch SPINOZA Ε, V, LS 3 u. SPINOZA Ε, V, LS 6. Dass sich mit der Einsicht in die Ursachen der Affekte bzw. in ihre Notwendigkeit oder ihre allgemeine Funktion die Affekte verändern, erläutert Spinoza in der Anmerkung zum Lehrsatz sechs des fünften Buches in Bezug auf ein verlorenes Gut: „Denn wir sehen, daß die Unlust über ein verlorenes Gut gemildert wird, sobald der Mensch, der den Verlust dieses Gutes erlitten hat, bedenkt, daß es auf keine Weise erhalten werden konnte." (SPINOZA Ε, V, LS 6 Anm.)

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

Wirkungszusammenhang eingebunden sind, können wir immer nur versuchen vorstellend zu erfassen, nie jedoch vernünftig erkennen, sodass wir in Bezug auf unser konkretes, vereinzeltes Dasein auf die Vorstellung angewiesen bleiben. Adäquat oder rational erkennen können wir demnach beispielsweise, nach welchen Gesetzen sich die Körper bewegen, die konkrete Ursache aber, den Grund, warum dieser oder jener bestimmte Körper sich wohin bewegt, können wir uns nur vorstellend erschließen. Wie sich harte und weiche Körper grundsätzlich verhalten, wie sie sich aufgrund von Einwirkungen verändern, können wir vernünftig erkennen, aber ob dieser oder jener Gegenstand hart oder weich ist, und durch welche Affektion eines wie beschaffenen Körpers sich so oder so bewegt, Informationen dieser Art bleiben weiterhin der Vorstellung vorbehalten. Im Unterschied zu Spinoza lassen sich für Schleiermacher die beiden ersten Erkenntnisarten, Vorstellung und Vernunft - empirische und rationale Erkenntnis - nicht strikt voneinander trennen. Die Erkenntnis des allen Gemeinsamen, wie die rational erfassbare Gesetzmäßigkeit des Körper- und Geisthaften bei Spinoza, ist für Schleiermacher nur bedingt möglich, denn was das Körper- und Geisthafte ist, kann sich uns erst progressiv in der Erfahrung mit Körpern und „Geistern" erschließen. Interessant ist gerade in Bezug auf Schleiermachers philosophische Position Spinozas Unterscheidung zwischen Allgemeinbegriffen (auch Universalien oder Abstrakta) und Gemeinbegriffen, und zwar die Frage, wie Gemeinbegriffe gebildet werden können. Im zweiten Buch der Fjhik setzt Spinoza die durch die Vernunft erkannten Gemeinbegriffe gegen die Universalien oder Abstrakta ab, die durch Abstraktion entstehen. Da unser innerliches Auffassungsvermögen begrenzt ist und schnell an seine Grenzen gerät, wenn unser Geist mit zu viel Anschauungen konfrontiert wird, abstrahieren wir von der Vielfalt und bilden Allgemeinbegriffe, um die Flut von Vorstellungen zu bewältigen. In dieser Abstraktion erfassen wir einiges Gemeinsame, aber nicht „das allen Gemeinsame". So sind ζ. B. die Universalien „Mensch", „Tier", „Hund" individuelle Abstraktionen von (zu) vielen gleichzeitig betrachteten Menschen, Tieren oder Hunden. (Mensch könnte so ζ. B. als Lebewesen mit aufrechtem Gang, als federloses Lebewesen, als lachendes, als vernünftiges Lebewesen bestimmt werden, wie Spinoza anführt.) Wie, wenn nicht durch vergleichendes Abstrahieren, werden dann aber Gemeinbegriffe gebildet, und wie können sie von den nur vermeindich allgemeinen Universalia oder Abstrakta unterschieden werden? Auf die Frage, wie Gemeinbegriffe gebildet werden, geht Spinoza in seiner Ethik nicht näher ein, formuliert aber ein Unterscheidungskriterium: Um zwischen Gemeinbegriffen und Allgemeinbegriffen zu unterscheiden, haben wir die Gewissheit, die jede wahre Idee und mithin auch jeden Gemeinbegriff begleitet,56 sodass wir immer dann, wenn wir eine wahre Idee haben,

56

Vgl. SPINOZA Ε, II, LS 43.

Vom Gefangensein im Endlichen

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auch gewiss sind, dass wir eine wahre Idee haben. Im Gegensatz zum Irrtum ist die Gewissheit „etwas Positives" (SPINOZA Ε, II, LS 49 Anm.). 5 7 Auch Schleiermacher setzt sich in den Dialektikvorlesungen mit dem Wahrheitskriterium der Gewissheit auseinander, unterwirft dieses „Ueberzeugungsgefühl" oder „Wissen vom Wissen" einer Kritik und zeigt auf, inwiefern dieses Gefühl, „welches einen Act des Denkens für vollendet erklärt und abschließt" (DiätKGA II 10/1, 161, § 10.2), fehlleiten kann, indem es nicht nur ein Wissen, sondern auch den Anspruch des Denkens, ein Wissen zu sein, begleitet. Die Erkenntnis des allen Gemeinsamen kann nach Schleiermacher immer nur die Erkenntnis des Allgemeinen sein, denn die Erkenntnis des allen Gemeinsamen ist mit der Erfahrung oder mit der Erkenntnis des konkreten Einzelnen verschränkt (in Spinozas Terminologie: mit der Vorstellung oder ersten Gattung der Erkenntnis). Weder kann das allen Gemeinsame durch Absehung oder „Elimination" der konkreten Erscheinung erkannt werden (sonst bleibt es vollkommen inhaltsleer oder formal), noch kann die konkrete Erscheinung unter Ausblendung des Allgemeinen erkannt werden (sonst bleibt es vollkommen unfassbar oder formlos). Die vollkommene Erkenntnis des einzelnen Bestimmten (in Spinozas Terminologie: die adäquate Erkenntnis) oder die Erkenntnis der Individualität Individualität verstanden nicht als vereinzelte Erscheinung, sondern in seiner Einzigartigkeit erkannte Erscheinung, die mit keinem anderen identisch ist und mit allen anderen zugleich das Absolute darstellt - setzt bei Schleiermacher die Einsicht in die Totalität alles Bestimmten voraus und ist im Prozess des in Erscheinung tretenden absoluten Gegensatzes (in Spinozas Terminologie: der Substanz) daher genauso aufgegeben wie diese Totalität selbst. Unsere existentielle Situation des Aus-der-Mitte-Anfangens ist bei Schleiermacher daher durch eine grundlegende zirkelhafte Struktur gekennzeichnet. Die Totalität des sich unendlich entfaltenden absoluten Gegensatzes können wir erst aus den einzelnen Erscheinungen und die Individualität der einzelnen Erscheinung nur aus der entfalteten Totalität begreifen. Haben wir keine Einsicht in die Totalität aller Erscheinungen, so bleibt uns eine Erkenntnis des Einzelnen aus der Gemeinschaft oder dem Allgemeinen als der strukturierten Einheit dessen, was bereits in Erscheinung getretenen ist. Aber auch hier bleibt die zirkelhafte Struktur unserer Orientierungsversuche erhalten: Um zu wissen, worin unsere Individualität besteht, sind wir auf die Verortung in einer Gemeinschaft angewiesen, deren Bildung jedoch ihrerseits die Einsicht in die Individualität ihrer „Mitglieder" voraussetzt. 5 8

57

Vgl. auch SPINOZA Ε, II, LS 43 Anm.: „Was endlich das letzte betrifft, nämlich woher denn der Mensch wissen können, daß er eine Idee hat, die mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, so habe ich soeben aufs allerdeutlichste gezeigt, daß dies allein davon herrührt, daß er eine Idee hat, die mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, oder daß die Wahrheit die Norm ihrer selbst ist." Diese wechselseitig verschränkte Bildung von Absolutem (oder Universum im Vokabular der Monologen) und Individuellem (Gemeinschaft und Individuum) führt Schleiermacher zum ersten Mal

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

Diesen grundlegenden Zirkel zwischen Allgemeinem und Einzelnem, Gemeinschaft und Individuum oder in seiner radikalsten Form zwischen Totalität und Individualität möchte ich hier „ethischen Zirkel" nennen, insofern Schleiermachers Ethik als Wissenschaft der „Handlung der Vernunft" alle menschliche Tätigkeit umfasst.^' Neben der Vorstellung und der Vernunft bestimmt Spinoza in der Ethik, wie bereits erwähnt, eine dritte Erkenntnisgattung, die wie die Vernunft eine wahre Erkenntnis liefert. Diese dritte Art der Erkenntnis oder intuitive Erkenntnis wendet sich nicht dem Allgemeinen, sondern dem individuellen Wesen oder dem einzelnen Wesen zu.*'" Anders als die Vorstellung, die in einer konkreten Erfahrung einen einzelnen Aspekt jedes Körpers oder Geistes herausgreift, erkennen wir intuitiv das individuelle Wesen unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit („sub specie aeternitatis" wie Spinoza formuliert); d. h. wir erkennen seinen unverwechselbaren Platz in der Totalität aller möglichen Modifikationen als Erscheinung der Substanz und greifen (intuitiv) dem vor, was vorstellend nie erfasst werden kann, da sich die Totalität der Modifikationen nur im Unendlichen ereignet. Mit dem Begriff der Anschauung, wie ihn die Reden über die Religion (1799) entwerfen, formuliert Schleiermacher ein Konzept, das in vieler Hinsicht der intuitiven Erkenntnis bei Spinoza entspricht. 61 In dieser ähnlichen Struktur der intuitiven Erkenntnis bei Spinoza mit der religiösen Anschauung, insbesondere in den Reden Schleiermachers, sehen viele Interpreten, die sich dem Verhältnis von Spinoza und Schleiermacher widmen, den entscheidenden Vergleichpunkt. Der Begriff der Anschauung erfährt in der kurz nach den Reden erschienenen Schrift Monologen und in den Dialektikvorlesungen eine Veränderung. Auch in den Monologen ist Anschauung Wesenserkenntnis, wird jedoch dynamisch verstanden: Sie ist keine kontemplative Betrachtung eines unverändert vorliegenden inneren Wesens, sie erschließt

^

ausführlich in dem Fragment Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (siehe Kapitel 2.4.) und der Schrift Monologen aus (siehe Kapitel 2.2.). Dieser ethische Zirkel zeigt sich in der Hermeneutik Schleiermachers als hermeneutischer Zirkel. Die Zirkelhaftigkeit zwischen Einzelnem and Ganzem darf in Schleiermachers Philosophie jedoch nicht als spezifischer Charakter des Verstehens interpretiert werden, sondern ist Bedingung der Bildung des Endlichen schlechthin. Die Gemeinbegriffe, die das Gemeinsame aller Dinge benennen, drücken nicht das Wesen eines Einzeldinges aus (SPINOZA Ε, II, LS 37), denn das Wesen eines Dinges (SPINOZA H, Def. Einzelding 7 II) ist nach Def. 2 des zweiten Buches das, „ohne welches das Ding, und umgekehrt, was ohne das Ding weder sein noch begriffen werden kann", und kein Gemeinbegriff könnte so ohne jedes Einzelding sein noch begriffen werden. Die religiöse Anschauung widmet sich im Gegensatz zum Denken dem Wesen und nicht dem Zweck oder Grund, sie richtet sich auf das Was und Wie anstatt auf das Woher und Wo^u (vgl. RRKGA I 2, 254). Als Wahrnehmung mit den Organen des Geistes (vgl. RRKGA I 2, 219), die nicht vom Sonnenlicht, sondern von der „ununterbrochenen unendlichen Tätigkeit des Universums" affiziert wird, ist sie zugleich Anschauung des Individuellen wie des Absoluten und sie ist unmittelbar aus sich heraus wahr und bedarf - anders als das Zusammenhänge suchende Denken keiner Begründung (vgl. R R K G A I 2, 215).

Vom Gefangensein im Endlichen

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sich das innere Wesen progressiv und wirkt zugleich bildend. 62 Der Begriff der Anschauung, wie er in den Dialektikvorlesungen vorliegt, ist unter den verschiedenen Begriffen der Anschauung bei Schleiermacher am weitesten entfernt von der spinozistischen Intuition. In den Dialektikvorlesungen ist Anschauung eine Form des Denkens, die als reale Anschauung eine ausgewogene Mischung zwischen einem eher rezeptiv-bildlichen und einem eher spontan-diskursiven Denken als vollkommene Anschauung den nie zu erreichenden Zielbegriff des Wissens bezeichnet. Ebenso wenig wie wir das allen Gemeinsame oder Allgemeine adäquat erkennen können, kann es für den Schleiermacher der Dialektikvorlesungen einen unmittelbaren erkennenden Zugriff auf das individuelle Wesen der Einzeldinge geben, das sich für uns genauso bildet wie das Allgemeine.® Auch der unmittelbare Zugang zum Absoluten im unmittelbaren Selbstbewusstsein ist dem Gefühl vorbehalten und kann nicht in Erkenntnis übersetzt oder als Wissen gesichert werden. Das „ewige und unwandelbare Sein der Dinge" ist bei Schleiermacher jenseits der Grenze des Erkennbaren. Obgleich wir die Totalität des Zusammenhanges der endlichen Modifikationen nicht durchschauen und insofern in unserer Endlichkeit gefangen bleiben, erlaubt uns - so sagt Spinoza - die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Attribute eine rationale Erkenntnis des Allgemeinen und die intuitive Erkenntnis des individuellen Wesens eine Orientierung im Endlichen, die jenseits des Endlichen verankert ist. Beide philosophischen Systeme, das von Spinoza wie das von Schleiermacher, formulieren ein „Gefangensein" des Menschen im Endlichen, dem er nicht entkommen, sondern nur vernünftig begegnen kann. Dieses „Gefangensein" wird bei Spinoza wie bei Schleiermacher vor dem Hintergrund eines ähnlichen Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem erklärt. Die Bestimmung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem, die sich im Endlichen unendlich modifizierende Substanz, übernimmt Schleiermacher von Spinoza. Jede einzelne menschliche Tätigkeit wird so bei Spinoza wie bei Schleiermacher als je individuelle Modifikationen eines Absoluten verstanden, die die Geschichte der in Erscheinung tretenden Substanz fortschreibt. In der Antwort auf die Frage, wie wir diesem Gefangensein begegnen können oder wie wir uns im unendlichen Endlichen orientieren können, setzt sich Schleiermacher jedoch von Spinoza ab, indem auch das „Orientierungswerkzeug" Vernunft nur in endlicher, historischer oder kontingenter Form vorliegt, und bekennt sich auf diese Weise wesentlich radikaler zum endlichen Standpunkt des Menschen.

62

Zum Vergleich zwischen religiöser Anschauung und Anschauung des inneren Wesens siehe 2.2.2. Die Definition des Individuellen ist bei Spinoza wesentlich statischer als bei Schleiermacher, die Individuen bewahren trotz ihres Affizierens und Affiziert-Werdens ihre Natur. Vergleiche dazu beispielsweise S P I N O Z A Ε, II, LS 13 HS 7 Anm.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

Dieses radikalere Bekenntnis zum Endlichen bei Schleiermacher zeichnet sich auch in dem unterschiedlichen methodischen Vorgehen ab. Die nach der „geometrischen Methode" geschriebene Ethik Spinozas geht vom Absoluten, der Substanz oder Gott, aus, und entwickelt, von dieser ausgehend, Erkenntnistheorie und Affektenlehre. Diese Ableitung vom Absoluten steht im Zentrum der Kritik an Spinoza in Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803, in der er die ethischen Systeme Kants, Fichtes, Piatons und Spinozas auf ihren wissenschaftlichen Anspruch untersucht, d. h. den Anspruch, ein System zu sein. In dieser frühen Schrift, in der Schleiermacher lediglich eine Kritik wissenschaftlicher Form liefern will, zeichnet sich schon deutlich Schleiermachers erkenntnistheoretischer Standpunkt ab, der Wissen und Wahrheit als eine im Unendlichen einzulösende Aufgabe versteht. Bartuschat unterstreicht zu Recht, dass ein Verständnis der Ethik Spinozas nicht allein aus dem ersten Buch der Metaphysik entwickelt werden kann, sondern vielmehr aus der Theorie des Menschen. 64 Dass auch das erste Buch hin auf die Theorie menschlichen Handelns konzipiert ist, wird nach Bartuschat daran deutlich, dass der bestimmte Modus aus Gott nicht abgeleitet werden kann und das Folgen der endlichen Dinge aus Gott leer oder bloß formal sei. Allerdings verdeckt die von der Metaphysik, also vom Absoluten ausgehende Darstellungsmethode meines Erachtens die zentrale und explosive Frage, die Schleiermachers Philosophie bestimmt und die bei Spinoza in der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes von 1661/62 ebenfalls noch im Vordergrund stand: Wie repräsentiert sich das Absolute im Endlichen, und was kann man vom Endlichen aus über das Absolute (mithin auch über das Endliche) sagen? In der unvollendeten Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes wählt Spinoza den umgekehrten Weg, indem er nicht vom Absoluten, sondern vom gewöhnlichen Denken und Meinen ausgeht. Die Abhandlung muss sicherlich als Vorschrift der Ethik gelesen werden und enthält bereits zentrale Gedanken, nimmt jedoch in einigen wesentlichen Punkten eine von der Ethik abweichende Position ein, die über eine bloße Umkehrung der „Methode" hinausgeht. Dies betrifft unter anderem die vier Wahrnehmungsarten der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, die nur auf den ersten Blick mit den drei Erkenntnisarten der Ethik (bzw. vier, insofern Spinoza in der Ethik zwei Formen des Vorstellens unterscheidet) übereinstimmen. Vorstellung, Vernunft und Intuition treten hier nicht wie in der Ethik als voneinander zu trennende Formen der Erkenntnis auf. Während die dritte Wahrnehmungsart als Zusammenspiel von Vernunft und Vorstellung interpretiert werden kann, enthält die vierte Wahrnehmungsart auch rationale Elemente. Auch wenn Schleiermacher diese Schrift nicht zur Verfügung stand, steht er hier Spinoza wesentlich näher als in der FJhik.

64

Vgl. BARTUSCHAT 1993, 15.

Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz

39

Schleiermachers Antwort auf den existentiellen oder „ethischen Zirkel" liegt im Gedanken der Wechselwirkung. Anstelle einer vernünftigen Aufklärung über unser immer nur „Teilsein" in einem unendlichen Gesamtzusammenhang und die nie vollkommen aufzulösende „Macht der Affekte" entwirft Schleiermacher ein Modell der sich wechselseitig bildenden und stützenden Formen des Endlichen, dessen Bestätigung lediglich im gelungenen Zusammenhang gesucht werden kann. Der Gedanke der Wechselwirkung bei Schleiermacher wurzelt so im spinozistischen Substanzbegriff, auch wenn er gerade keine spinozistische Antwort auf die Frage nach einer Orientierung im Endlichen darstellt. Auch wenn sich Schleiermacher radikaler zum Endlichen bekennt als Spinoza, indem der Mensch seine Kontingenz weder handelnd noch erkennend überschreiten kann, so stellt Schleiermachers Modell der Wechselwirkung des Endlichen in gewisser Hinsicht das optimistischere „Modell" dar. Bei Spinoza ist zwar Erkenntnis möglich, die als Liebe zu Gott sogar Unsterblichkeit verspricht. Mit der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Attribute und die intuitive Einsicht in das Wesen der Dinge erkennen wir unser Teilhaben am ewigen Sein, wir können uns über unser In-der-Welt-Sein aufklären, ohne es aufzuheben, sodass die Dualität von Ewigem und Endlichem bei Spinoza letztendlich unversöhnt bleibt. 65 Schleiermacher hingegen stellt eine vollkommene Entfaltung des absoluten Gegensatzes, wenn auch nur im Unendlichen, in Aussicht, sodass sich unsere Geschichtlichkeit in einer unendlichen Progression zur Vollkommenheit bildet.

1.3. Gegen eine Philosophie aus obersten Grundsatz Überlegungen %um Verhältnis Fnednch Schlegel und Schleiermacher 1.3.1. Friedrich Schlegels Philosophie des „Wechselerweises" Einen Niederschlag findet der Gedanke des „Wechselerweises" vor allem in den Philosophischen Ijhtjahreti, Schlegels frühen philosophischen Aufzeichnungen, einer Art philosophischem Notizbuch, dessen Beginn er auf 1796 datiert, d. h. welches mit seinem Aufenthalt in Jena beginnt. Noch in Fichtebegeisterung in Jena eingetroffen, äußert sich Schlegel sehr schnell kritisch gegenüber Fichtes Philosophie. 66 Einen großen Einfluss auf diese Wende in Schlegels Denken nimmt sicherlich der neue Diskussionszusammenhang ein, in den Schlegel mit der Mitarbeit am Philoso65

66

Allerdings lässt sich aus einigen Lehrsätzen der Ethik auch bei Spinoza eine Art teleologische Bewegung hin zur Vervollkommnung des Menschen oder eine Vernunftwerdung feststellen, denn die Affekte der Vernunft sind auf die Dauer stärker als die unvernünftigen Affekte (vgl. SPINOZA K , V , L S 7 u . V, LS 11). Vgl. Brief F. Schlegels vom 30.9.1796 an C.G. Körner SCHLEGEL ΚΑ XXIII, Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel\ 333f., Brief Nr. 169 sowie Brief an Körner vom 30.1.1797 ebenda 343f„ Brief Nr. 181.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

phischen Journal eintritt. Das von Niethammer herausgegebene Philosophische Journal versammelte Autoren, die sich im Anschluss an Kant kritisch mit der Philosophie aus einem obersten Grundsatz auseinandersetzten, wie sie in unterschiedlicher Weise bei Reinhold, Fichte, aber auch Jacobi vorlag, und gab sozusagen die Richtung für Schlegels philosophische Neuorientierung vor. 67 Eine frühe prägnante Formulierung 68 findet der Gedanke des Wechselerweises in Schlegels vernichtender Kritik an Jacobis Woldemar von 1796, die nicht nur auf den Literaten Jacobi, sondern auch auf den Philosophen abzielte. 69 In der entscheidenden Stelle bezieht sich Schlegel auf ein Argument, das Jacobi im Zusammenhang mit Spinoza vorbringt. In seinem Spinozabuch formuliert Jacobi den unendlichen Regress, in den man sich verstrickt, wenn man letzte Begründungen fordert. Einen Ausweg aus diesem Begründungsregress sieht Jacobi nicht auf erkennendem Wege, sondern im Glauben bzw. im Gefühl. Für diese Lösung des Begründungsregresses findet Schlegel polemischen Spott: W O L D E M A R ist also eigentlich eine Einladungsschrift zur Bekanntschaft mit Gott (Ergieß. S. 34), und das theologische Kunstwerk endigt, wie alle moralischen Debauchen endigen, mit einem Salto mortale in den Abgrund der göttlichen Barmherzigkeit. (SCHLEGEL Κ Α II, Jacobis Woldemar, 77)

Zwar würde Schlegel zustimmen, dass jede Begründung selbst wieder eine Begründung erfordert, aber mit dieser Einsicht sind die Möglichkeiten der Vernunft nicht erschöpft und die Grenzen der Erkenntnis zu früh gezogen. An die Stelle einer

67

68

Zur Grundsatzkritik der Frühromantik vgl. Manfred Frank, ,Unendliche Annäherung'. Die Anfänge der philosophischen Frühromanük, Frankfurt am Main 1997. Die Bedeutung dieses Diskussionszirkels um das Philosophische Journal Niethammers wurde von Manfred Frank in verschiedenen Arbeiten untersucht. Zur Gruppe der Niethammermitarbeiter und Grundsatzphilosophiekritiker, die Schlegel kannte oder deren Schriften und Argumente Schlegel zumindest kannte, gehörten die Reinholdschüler und -kritiket Johann Benjamin Erhard, Herbert u. Forberg (beides waren auch Kommilitonen von Novalis), der Privatdozent und Fichtekritiker Carl Christian Ehrhard Schmidt, die Reinholdkritiker Κ. H. Heydenreich und A.W. Rehberg (vgl. dazu FRANK 1996 „Wechselgrundsatz"... 28 u. REHME-IFFERT 43ff.). Das Motiv der Wechselwirkung findet sich auch schon vor der Woldemar Rezension in Schlegels Schriften, beispielsweise ist schon in den altertumswissenschaftlichen Aufsätzen von 1794/95 häufig von „Wechselbestimmung" und „Wechselwirkung" (ζ. B. von Freiheit und Natur) die Rede, vgl. SCHLEGEL ΚΑ I, Vom Wert des Studiums der Griechen und der Kömer; 631). In seiner Woldemar Rezension in Reichardts „Deutschland" lässt Schlegel der Kritik an dem poetischen Gehalt des Romans, den er aus ästhetischer Sicht regelrecht „richtet", wenig Raum. In „Woldemar" sieht Schlegel eine Verkörperung der Jacobischen Tugendlehre, beschäftigt sich aber nur kurz mit der Ethik, um zu einer Gesamtbewertung der Philosophie und Persönlichkeit Jacobis zu kommen. Denn für Schlegel kann die Einheit des Romanes weder als Kunstwerk noch als Teil seiner Philosophie, sondern vor allem als Ausdruck der Persönlichkeit Jacobis verstanden werden (SCHLEGEL ΚΑ II Jacobis Waldemar, 68).

Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsat;;

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linearen einseitigen Begründungskette setzt Schlegel den wechselseitigen Erweis oder Wechselerweis. 7 0 (Die zweite Widersinnigkeit trifft eigentlich jede Elementarphilosophie, welche von einer Tatsache ausgeht. — Was Jacobi dafür anführt: ,daß jeder Erweis schon etwas Erwiesenes voraussetze' (Spin. S. 225); gilt nur wider diejenigen Denker, welche von einem einzigen Erweis ausgehen. Wie wenn nun aber ein von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie wäre?) (SCHLEGEL KA l l j u o b i s Waldemar, 72)

Die Aus formung dieses Gedankens geschieht im Philosophischen journal vor allem in der Auseinandersetzung mit Fichte. Da auch Fichte das Modell einer wechselseitigen Begründung kennt, wird er für Schlegel zur Inspirationsquelle, die er mit Fichte gegen Fichte wendet, indem er diesen Gedanken an einem anderen Platz in der Fichteschen Systematik einklagt und den Wechselerweis so zu einem grundsatzkritischen, alternativen Begründungsmodell macht. Das Motiv der „Wechselbestimmung" des gegenseitigen Verwiesenseins von Ich und Nicht-Ich, das Fichte im praktischen Teil seiner Wissenschaftslehre entwirft und das eine approximative Bewegung zwischen Ich und Nicht-Ich artikuliert, steht bei Fichte unter dem Vorzeichen eines mit sich einigen, absoluten Ich. Für Schlegel geht das Programm der Wissenschaftslehre nicht auf, weil die Identität eines empirischen, uns zugänglichen, von der Außenwelt oder dem Nicht-Ich bestimmten Ich und dem absoluten Ich immer nur als Aufgabe formuliert werden kann, die wir nicht anders als in unendlicher Approximation (und zwar im Wechselerweis von Ich und Nicht-Ich) einlösen können. 7 1 Die progressive Dynamik zwischen Ich und Nicht-Ich, die sich wechselseitig an- und miteinander bildet, kann jedoch für Schlegel nur dann freigesetzt werden, wenn man sie nicht mehr der Tathandlung eines sich selbst setzenden absoluten Ichs unterordnet. In der Woldemarrezension sowie in den Notaten zum Wechselerweis aus den Philosophischen ljehrjahren versteht Schlegel unter Wechselerweis zunächst eine Duali70

71

Vgl. dazu N A S C H E R T 1996, 61: „In einem Punkte scheint Schlegel Jacobi zuzustimmen. Jeder, der von einem einzigen Erweis ausgeht, gerät in seinem Erweisen in einen infiniten Regreß. [...] Der „Wechselerweis" deutet stattdessen auf eine Begründungsform hin, die den unendlichen Regreß der Bedingungen verhindern soll, indem sie die Vorstellung einer unendlichen, linearen Bedingungskette überwindet, an deren Anfang ein Unbedingtes stehen soll, und stattdessen die Unbedingtheit in die Relationalität eines zirkulären Begründungsgangs zwischen zwei oder mehreren Bedingungen verlegt." Vgl. R E H M E - I F F E R T 37: „Schlegel spricht hier das Problem an, welches die ganze Wissenschaftslehre über latent wirkt und das gesamte Unternehmen zu unterminieren droht: nämlich die Kluft zwischen einem streng systematischen Aufbau im Gewand einer absoluten Grundsatzphilosophie und der aber nicht wegzudenkenden Gebundenheit des Ichs an die Empirie, so daß das zugängliche Ich und das (erst werdende oder aber schon vorausgesetzte) Ich, welches am höchsten Punkt dieses Systems steht, nicht wirklich überein kommen können." Zur Fichteinspiration und Fichtekritik Schlegels in Bezug auf den Wechselerweis bzw. Wechselgrundsatz vgl. F R A N K „Wechselgrundsatz" 44, N A S C H E R T 1996, 49 und R E H M E - I F F E R T 31-40.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

tat, den Wechselerweis zweier (Grundsätze, der in der Wissenschaftslehre an die Stelle der Tathandlung tritt. Dieser Wechselerweis kann als Gleichursprünglichkeit von Ich und Nicht-Ich beschrieben werden, aber auch, wie Schlegel das in der Notatesammlung Geist der Fichteschen Wissenschafislehre der Philosophischen l ^htjahre tut, als Forderung der Gleichberechtigung von Sein und Sollen der Setzung des Ichs, das Ich ist zugleich Gesetztes und Aufgegebenes: Das Ich sets? sich selbst und das Ich soll sich setzen sind wohl mit nichten abgeleitete Sätze aus einem höhern; einer ist so hoch als der andre; auch sind es zwei Grundsätze, nicht einer. Wechselgrundsatz. — ( S C H L E G E L Κ Α XVIII, Philosophische Lehijahre, 36, 193) 7 2

Spricht Schlegel im Zusammenhang mit der transzendentalen Begründung von Wissen von einem W e c h s e l e r w e i s , s o verwendet er den Begriff Wechselerweis auch im Plural und bezeichnet damit ähnlich wie Schleiermacher mit Wechselwirkung das sich wechselseitige Stützen und Modifizieren der bedingten und kontingenten Formen des Endlichen. Diesen Plural des Wechselerweises formuliert Schlegel ganz explizit in der Notatensammlung Philosophische Ijehtjahre, indem er verschiedene Ebenen unterscheidet, auf denen Wechselerweis stattfindet: Die Logik und die Historie sind abgeleitete Wissenschaften eines Stammes. Zwischen ihnen findet also Bestätigung — Wechselerweis Statt. Sie dürfen Lehrsätze von einander borgen. — Bestimmung aller Wissenschaften, wo dieß erlaubt ist. — In der Wissenschaftslehre giebt es E I N E N Wechselerweis, weil das Ganze ein in s.fich] vollendeter Kreislauf ist in den abgeleiteten Wissenschaften \rielheit der Wechselerweise ; und im System Allheit der Wechselerweise. ( S C H L E G E L Κ Α XVIII, Philosophische Lehrjahre, 505, Nr. 2)

Hinter der Forderung der „Allheit der Wechselerweise" steht bei Schlegel eine ganz ähnliche Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Individuellem bzw. Absolutem und Endlichem wie bei Schleiermacher. Die Totalität der Individuen muss, wie Schlegel in der Jenaer Vorlesung %ur Trans^endentalphilosophie (1800-1801) formuliert, als ,Abbild der unendlichen Substanz" begriffen werden, und in diesem 72

Λ η einer anderen Stelle fordert Schlegel anstatt von „das ich setzt sich selbst" eher von „das Ich sucht sich selbst" zu sprechen (SCHLEGEL ΚΑ XIX, Zur Philosophie, 22, Nr. 197) Vgl. auch folgende Stelle aus den Philosophischen Lehrjahren: „In meinem System ist der letzte Grund wirklich ein W'echseleni'eis. In Fichte's ein Postulat und ein unbedingter Satz." (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre, 521, Nr. 22). In einem Fragment aus dem Jahr 1796 spricht Schlegel nicht nur von einem „Wechselerweis" bzw. „Wechselbeweis", sondern auch von einem „Wechselbegriff', der der Philosophie zugrunde liegen muss: „Es muß der Philosophie nicht bloß ein Wechselbeweis, sondern auch ein Wecbse/begrijf zum Grunde liegen. Man kann bei jedem Begriff wie bei jedem Erweis wieder nach einem Begriff und Erweis desselben fragen. Daher muß die Philosophie wie das epische Gedicht in der Mitte anfangen, und es ist unmöglich, dieselbe so vorzutragen und Stück für Stück hinzuzählen, daß gleich das Erste für sich vollkommen begründet und erklärt wäre. Es ist ein Ganzes und der Weg, es zu erkennen, ist also keine grade Linie, sondern ein Kreis. Das Ganze der Grundwissenschaft muß aus zwei Ideen, Sätzen, Begriffen Anschauung ohne allen weiteren Stoff abgeleitet seyn." (SCHLEGEL, ΚΑ XVIII, Philosophische Uhrjahre, 518)

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Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz

u n e n d l i c h e n D a r s t e l l u n g s v e r h ä l t n i s ist d a s I n d i v i d u u m als I n d i v i d u u m , als ein in seiner Einzigartigkeit aus d e r Totalität E r k a n n t e s , g e n a u s o a u f g e g e b e n w i e das Absolute, mithin unendlich. Wir haben nämlich die Begriffe eine, unendliche Substanz — und Individua. Wenn wir uns den Übergang von dem einen zu den anderen erklären wollen, so können wir dies nicht anders, als daß wir zwischen beyden noch einen Begriff einschieben, nämlich den Begriff des Bildes oder Oarstellung, Allegone ( ε ι χ ω ν ) . Das Individuum ist also ein Bild der einen unendlichen Substanΐζ. (Man könnte dies auch ausdrücken : Gott hat die Welt hervorgebracht, um sich selbst darzustellen.) [...] Die Individua sind da, das Ganze darzustellen. Das Individuum ist also unendlich, weil es das Unendliche darstellen soll. (SCHLEGEL ΚΑ XII Philosophische Vorlesungen (1800-1807), 39) Z u d i e s e m A b s o l u t e n h a b e n w i r k e i n e n d i r e k t e n e r k e n n e n d e n Z u g a n g , u n d das, w a s w i r e r k e n n e n k ö n n e n , ist prinzipiell ein i m m e r b e d i n g t e s W i s s e n : E r k e n n e n b e z e i c h n e t s c h o n ein bedingtes

W i s s e n . D i e N i c h t e r k e n n b a r k e i t des A b s o l u t e n ist

also eine i d e n t i s c h e Trivialität." ( S C H L E G E L , Philosophische

Lehrjahre

X V I I I , 511,

N r . 6 4 ) 7 4 Ist alles W i s s e n b e d i n g t , liegt u n s kein a b s o l u t w a h r e r Satz vor, v o n d e m aus w i r i n d u k t i v a u f s t e i g e n d o d e r d e d u k t i v ableitend W i s s e n e n t w i c k e l n k ö n n e n , so liegt der A n f a n g jedes E r k e n n t n i s p r o z e s s e s , jedes P h i l o s o p h i e r e n s in j e d e m Satz, sein E n d e in der v e r e i n t e n Totalität aller Sätze: „ D i e φ [Philosophie] m u ß mit u n e n d f l i c h ] vielen S ä t z e n a n f a n g e n , d[er] E n t s t e h u n g n a c h (nicht m i t E i n e m ) . " ( S C H L E G E L Philosophische

Lehqahre

K A X V I I I 26, N r . 93) W i e bei S c h l e i e r m a c h e r ,

so findet sich auch bei Schlegel für diese e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e

(existentielle)

G r u n d s i t u a t i o n des M e n s c h e n die F o r m u l i e r u n g des „ A u s - d e r - M i t t e - A n f a n g e n s " : Subjektiv betrachtet, fängt die Philosophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht. (SCHLEGEL Athenäum-Fragmente ΚΑ II 178, Nr. 84) Die φ [Philosophie] ein ε π ο ζ , fängt in d.[er] Mitte an. — (SCHLEGEL Philosophische Lehrjahre KA XVIII 82, Nr. 626) Unsere Philosophie fängt nicht wie andere mit einem ersten Grundsatze an, wo der erste Satz gleichsam der Kern oder erste Ring des Kometen, das übrige ein langer Schweif von Dunst zu sein pflegt, — wir gehen von einem zwar kleinen, aber lebendigen Keime aus, der Kern liegt bei uns in der Mitte. Aus dem unscheinbaren geringen Anfange, dem Zweifel an dem Ding, der sich doch zum Teil bei allen nachdenkenden Menschen äußert, — und der doch immer vorhandenen überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Ichs wird sich unsere Philosophie nach und nach entwickeln und in steter Progression sich selbst verstärken, bis sie zu dem höchsten Punkte menschlicher Erkenntnis durchdringt und den Umfang so wie die Grenzen alles Wissens zeigt. (SCHLEGEL ΚΑ XII, Philosophische Vorlesungen (1800-1807), 328) 7 5 74

Vgl. auch folgenden Aphorismus aus den Philosophischen Ijchijahrem „Das Absolute selbst ist indemonstrabel." (SCHLEGEL K A XVIII, Philosophische Lehrjahr?, 512, Nr. 71). Eine sehr polemisch-provokante Formulierung des Gedankens, dass auch die Philosophie immer nur aus der Mitte anfangen kann und dies unreflektiert bereits immer schon tut, findet sich in den Athenäums-Fragmenten von 1798: „Die Demonstrationen der Philosophie sind eben Demonstratio-

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

Diese Figur des Wechselerweises erkennt Rehme-Iffert in der Schlegelschen Philosophie auf subjekttheoretischer, intersubjektiv-dialogischer und lebenspraktischer Ebene: Die auf subjektheoretischer Ebene als Alternativansatz zur Grundsatzphilosophie entwickelte Gedanke des einen Wechselerweises erfährt in der Kölner Privatvorlesung von 1805 in einer Selbstbewusstseinstheorie einen systematischen Ausbau. 76 In den späteren Schriften Schlegels wird er auf intersubjektivdialogischer Ebene als dialogisches Wahrheitsmodell im Dialektikbegriff aufgenommen. 77 Der Modus des sich wechselseitigen Modifizierens und Bildens des Wissens ist das Gespräch, und in diesem Zusammenhang wird der Platonische Dialektikbegriff als „Kunst der Gesprächs fuhrung" von Schlegel aktualisiert. 78 Dass sich Erkenntnis vorzüglich intersubjektiv im Gespräch bildet, findet auch Ausdruck im Begriff der „Symphilosophie" 79 und dem der „Geselligkeit", als deren lebendige Realisierung Schlegel sicherlich die Gesprächskreise der Berliner Salons vor Augen hatte. Da dem im Gespräch sich entfaltenden Denken die Sprache alles andere als äußerlich ist, sie ist kein Mittel, sondern exklusive Form des Denkens, müssen nach Schlegel mit den Bedingungen des Denkens auch die Bedingungen des Sprechens und Verstehens reflektiert werden. Dies führt zu einer engen Wechselseitigkeit zwischen Dialektik und Hermeneutik oder zwischen Philosophie und Philologie oder Philosophie, Hermeneutik, Grammatik und Kritik, 80 die Schlegel vor allem in dem Notizheft „zur Philologie" von 1797 formuliert. Das von Körner als Philosophie der "Philologie veröffentlichte Notizheft gehört zu einem Projekt, das Schlegel als „Begriff der Philologie" Niethammer ankündigt und in dessen Philosophischen Journal zu veröffentlichen gedenkt. 81 Die noch vorhandenen Notizen sind Bemühungen zur Selbstverständigung über Art, Umfang und Systematik des geplanten Unter-

76 77

78 79

nen im Sinne der militärischen Kunstsprache. Mit den Deduktionen steht es auch nicht besser wie mit den politischen ; auch in den Wissenschaften besetzt man erst ein Terrain, und beweist dann hinterdrein sein Recht daran." (SCHI .F.GEL 11, Athenäums-Fragmente, 177, Nr. 82) vgl. auch „Einiges muß die Philosophie einstweilen auf ewig voraussetzen, und sie darf es, weil sie es muß." (SCHLEGEL 11, Athenäums-Fragmente, 179, Nr. 95) Vgl. REHME-IFFERT 49ff. Vgl. REHME-IFFERT 85ff. Zum Dialektikbegriff Schlegels vgl. vor allem ARNDT 1992, Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel. Vgl. SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Uhrjahn, 225, Nr. 368: „Eine σ υ σ τ σ υ μ φ [systematische Symphilosophie] wäre eine vollständige φ [Philosophie] für d.[en] Menschen. Entscheidung aller ursprünglichen] Streitfragen und Freundschaft, Einverständniß mit allen Menschen; ein φ σ [philosophischer] ewiger Friede." u. SCHLEGEL Philosophische Jjhrjahre ΚΑ XVIII 314, 1454: „Alle φ φ [Philosophie der Philosophie] = σ υ μ φ [Symphilosophie]." Der für die Schlegelsche Philosophie zentrale Kritikbegriff, der sich in vielen Punkten mit dem Schleiermacherschen Begriff der Kritik deckt, wird in Kapitel 4.6.4. ausführlicher betrachtet. Vgl. KORNER 2. Diese frühen unsystematischen Notizen, die letztendlich zu keiner separaten Veröffentlichung führten, finden Eingang in die Lyceums- und Athenäums-Fragmente.

Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz

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nehmens, entwerfen diese enge Wechselbeziehung zwischen Philosophie und Philologie jedoch nur als Programm, d. h. sie unterstreichen, dass es eine enge Beziehung gibt, das wie, die konkrete Struktur und Systematik dieser Wechselbeziehung, bleibt aber ohne Ausführung. 82 Jeder φ λ [Philolog] m u ß ein φ σ [Philosoph] seyn- dies gehört schon zu den Gesetzen der φ λ [Philologie], könnte also wegbleiben. In so fern es aber auch zum Ideal gehört, mags stehn. ( S C H L E G E L Κ Α XVI, Zur Philologie, 47, Nr. 153) Der Grammatiker m u ß φ λ [Philolog] seyn; der Kritiker ( κ α τ ' ε ξ ο χ ή ν d. h. der aesthetische) desgleichen; der Exeget. ( S C H L E G E L ΚΑ XVI, Zur Philologie, 47, Nr. 145) Die φ λ [Philologie] ist selbst jeder ihrer Bestandteile ganz, und umgekehrt (Hermeneutik und Kritik) — ( S C H L E G E L ΚΑ XVI, Zur Philologie, 50, Nr. 177) Hermeneutik und Kritik sind absolut unzertrennlich dem W e s e n nach; ob sie gleich in Ausübung, Darstellung getrennt werden können, und die Tendenz jeder φ λ [Philologie] auf einer Seite gewöhnlich überwiegt. ( S C H L E G E L Κ Α XVI, Zur Philologie, 50, Nr. 178) Ueber den Primat der Kritik oder der Hermeneutik findet (SCHLEGEL Κ Α XVI, Zur Philologie, 55, Nr. 236)

eine wahre Antinomie

Statt.

Der Gedanke des Wechselerweises zeigt sich auf lebenspraktischer Ebene vor allem im Liebes- und Freundschaftsbegriff, 83 den Schlegel in seinem „Skandalroman" Ijicinde (1799) und in Über die Philosophie. An Dorothea (1799) ausführt, der sich aber schon in den Iyceumsfragmenten (1797), Athenäums-Fragmenten (1798) und den Philosophischen Lehijahren findet. In Liebe und Freundschaft findet eine wechselseitige Bildung zweier verschiedener aber doch gleichgesinnter Menschen statt, die sich im Austragen ihrer Differenzen und dem Anstreben einer höheren Einheit wechselseitig erst zu dem bilden, was sie sein können. 84 Das revolutionäre oder emanzipatorische Moment dieses Liebesbegriffs besteht darin, dass die herrschenden Rollenmuster bewusst aufgebrochen und ihre Aufhebung zum progressiven Ziel erklärt wird. Diese Rollenmuster betreffen zum 82

83 84

Dass Schlegel um eine Systematik ringt und immer wieder Gliederungsversuche vornimmt, wird an vielen Notaten der Sammlung 'Zur Philologie deutlich (vgl. SCHLEGEL, ΚΑ XVI, 74, Nr. 144, u. Nr. 142, 73, Nr. 134, 66, Nr. 64 u. Nr. 63). Zum Liebes- und Freundschaftsbegriff vgl. REHME-IFFERT lOOff. Vgl. SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre, 270, Nr. 900: „Ist liebe etwa mous [musikalische] Gymna[stik]? — Harm.[onische] Bildung — Mitbildung, Wechselbildung; alle Liebe bezieht s.fich] auf Bildung." (1798) Freundschaft und Liebe sind dabei für Schlegel eng nebeneinander liegende Ideale. Vgl. dazu SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Uhrjahre, 126, Nr. 42: „Freundschaft ist abstracte Verbindung, π [poetisch] φ [philosophisch] ηΰ- [ethisch], Liebe ist universelle individuelle μ [mythische] φ υ [physische] Historische] Verbindung." u. SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre 126, Nr. 49: „Liebe ist universelle Freundschaft, und Freundschaft ist abstracte Liebe, partiale Ehe." In seiner Woldemarkritik attackierte Schlegel Jacobi auch wegen seines „egoistischen" Liebesbegriffs, der eben keine wechselseitige Bildung der Liebenden vertrat, nicht auf „Wechselbegeisterung", sondern auf einseitigem Egoismus des Mannes beruht (vgl. SCHLF:GEL ΚΑ II Jacobis Woldtmar, 63).

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

einen die Gegenüberstellung von „weiblich" und „männlich", der Bereich des „Weiblichen" als Bereich des Gefühls und Familiär-Privatem in Abgrenzung zu dem dem Mann reservierten Bereich des Geistigen und GesellschaftlichÖffentlichen, zum anderen jedoch auch die strenge Trennung der stereotypen Rollen „Heilige", „Mutter", „Ehefrau", „Geliebte" oder „Hure". [...] die Weiblichkeit soll wie die Männlichkeit zur höhern Menschlichkeit gereinigt werden [...]. Was ist häßlicher als die überladne Weiblichkeit, was ist ekelhafter als die übertriebne Männlichkeit, die in unsern Sitten, in unsern Meinungen, ja auch in unsern bessern Kunst, herrscht? (SCHLEGEL ΚΑ I, Über die Oiotima, 92)

Die Partialität des empirischen Ichs wird durch das Erlebnis eines „Du" des Geliebten oder Freundes zumindest für den Moment der gelebten Einheit aufgehoben: „Nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen." (SCHLEGEL ΚΑ V, Ijicinde, 61) Diese gelebte Einheit der Liebenden ist „in Bewegung", und wie im Wissen muss die Liebe ein ironisches Moment haben, d. h. mit dem Streben nach einem Ideal der Einheit zugleich immer ihres ScheiternKönnens und Unerfullt-Bleibens eingedenk bleiben. Die Eigenständigkeit und Anerkennung der Selbstständigkeit der individuellen sowie der geschlechtlichen Differenz ist jedoch ein Moment der Dynamik, denn nur, wenn die Zweiheit aufrechterhalten wird, kann eine höhere Einheit angestrebt werden. 8 5 Die Rollenmuster und oder Geschlechtercharaktere werden, obwohl sich Schlegel polemisch gegen diese verkrusteten Schemata ausspricht, eben als notwendige Momente der Dynamik nicht völlig aufgehoben. Als eine vierte Ebene, auf der der Gedanke des Wechselerweises bei Schlegel durchgeformt wird und die sich eng an die intersubjektiv-dialogische Ebene anschließt, möchte ich Schlegels wissenschaftstheoretische Überlegungen zum System und zum Wechselerweis der Wissenschaften hervorheben. Ist jede Erkenntnis nur bedingt, so fangen nicht nur die Philosophie, sondern alle Wissenschaften „aus der Mitte" an, sodass sich nicht nur einzelne Erkenntnisse, sondern auch ganze Erkenntnissysteme oder Wissenschaften wechselseitig stützen, beieinander Anleihen vornehmen und wechselseitig modifizieren. Im modernen wissenschaftstheoretischen Vokabular formuliert sich hier bereits der Gedanke der Interdisziplinarität. Mit der Wechselwirkung der Wissenschaften ist jedoch nur ein Ausschnitt der unendlichen progressiven Darstellung des Absoluten benannt - denn das Absolute zeigt sich ebenso in der Kunst und im Leben, und Wechselerweis findet nicht nur zwischen den Wissenschaften, sondern zwischen allen Bereichen des Lebens statt. Eine populäre Formulierung dieser wechselseitigen Durchdringung von Kunst, 85

Vgl. dazu eine Stelle aus SCHLEGEL Κ Α VIII, Über die Philosophie. An Dorothea. 45: „In der Tat sind die Männlichkeit und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen und getrieben werden, die gefährlichsten Hindernisse der Menschlichkeit, welche nach einer alten Sage in der Mitte einheimisch ist und doch nur ein harmonisches Ganzes sein kann, welches keine Absonderung leidet."

Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz

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Leben und Wissenschaft findet sich im bekannten „Universalpoesiefragment" des Athenäums,86 Das Wort „universal" kombiniert Schlegel (vor allem in den Philosophischen IJihijahrert) nicht nur zur „Universalpoesie", er spricht auch von „Universalphilosophie" (SCHLEGEL ΚΑ II, Athenäums-Fragmente 200, Nr. 220), von „Universalgeschichte" (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre, 265, Nr. 848), von „Universalmedizin" (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre, 491, Nr. 195), „Universalwissenschaft" (SCHLEGEL ΚΑ XIX, Philosophische I^ehrjahre, 33, Nr. 295), einem „Universalsystem" und einem „Universalsystematiker" (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Jjihrjahre 38, Nr. 214 u. 71, Nr. 506). Eine als „universal" charakterisierte Wissenschaft oder Kunst beschränkt sich nicht auf nur einen Gegenstandsbereich, sondern geht von ihren spezifischen Interessen und Anliegen auf die Totalität der Erscheinungen, 8 7 und indem sie alle Gegenstände behandelt, nimmt sie alle anderen Wissenschaften und Künste in sich auf, die sich wechselseitig austauschen, vermischen, in Frage stellen und bilden. Jeder der classificirten Wissenschaften — Logk, Ethik, Poetik, Politik, Historie — behauptet ihre Rechte (und Individualität]), wiewohl jede dieser Wissenschaften], p r o greßiv behandelt, universell ist und also alle übrigen umfaßt. (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Ijihijahre 81, Nr. 618) Einmischung in alle Fächer und Facultäten — nennt man Universalität.> (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Uhrjahn, 43, Nr. 244) ,Universalität' als das Ziel jeder universalen Wissenschaft oder Kunst ist Wechselsättigung aller Formen und aller Stoffe (SCHLEGEL ΚΑ II, Athenäums-Fragmente, 255, Nr. 451) Sie ist die Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften, eine logische Chemie (SCHLEGEL ΚΑ II, Athenäums-Fragmente, 200, Nr. 220). In dem bereits oben zitierten Notat aus den Philosophischen Lehrjahren unterscheidet Schlegel die Wissen begründende Wissenschaftslehre von den „abgeleiteten Wissenschaften" und beide von dem System aller Wissenschaften. In der Wissenschaftslehre, die das Denken oder Wissen schlechthin zum Gegenstand hat (inso-

86

V g l SCHLEGEL Κ Α II, Athenäums-Fmgmente, 182f, Nr. 116: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. [.. .1 Sie ist der höchsten und allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern von außen hinein. [...] Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann."

87

Vgl. S C H L E G E L K A XV11I, Philosophische

Uhrjahn:,

360, Nr. 481.

48

Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

fern leiten sich alle anderen Wissenschaften von ihr ab) findet nur ein Wechselerweis statt. Zwischen den „abgeleiteten" Wissenschaften bestehen Wechselerawe, insofern sie einander wechselseitig bestätigen und Lehrsätze endehnen. Im System der Wissenschaften hingegen findet „Allheit" der Wechselerweise statt. System ist eine durchgängig gegliederte Allheit von wissenschaft[lichem] Stoff, in durchgehender Wechselwirkung und organischem Zusammenhang. — Allheit eine in sich selbst vollendete und vereinigte Vielheit. — ( S C H L E G E L ΚΑ XVIII, Philosophische Uhrjahre, 12, Nr. 84)

Im Vergleich zum Systembegriff der vorangehenden Philosophengeneration stellt der Systembegriff der Frühromantik zugleich eine Abwertung sowie eine Aufwertung des Systembegiffs dar. 88 Die Forderung des Systems nach Vollständigkeit, Begründung und innerer Stringenz wird nicht abgelehnt, sondern so ernst genommen, dass die Unhaltbarkeit oder Unendlichkeit seiner Forderung aufleuchtet. 89 Die Ableitung des gesamten Wissenschaftssystems aus einem ersten Grundsatz, die Aufstellung eines ein für alle Mal als wahr erkannten wissenschaftlichen Kanons wird abgelehnt, nicht weil man gegen Begründungen ist, sondern weil sie einer strengeren Anforderung an Begründung nicht mehr genügen können. Ein System kann deshalb nur bestehen, wenn es die Reflexion auf die unendliche Realisierung integriert oder seine reale Systemlosigkeit anerkennt, indem es sich selbst als dynamische „Allheit des Wechselerweises" definiert. Für ein so verstandenes System (oder eine oberste, weil umfassende Wissenschaft, die, weil sie auch Kunst und Leben mit einschließt, schon mehr ist als nur Wissenschaft) verwendet Schlegel immer wieder die Bezeichnung „Enzyklopädie". 90 Sie ist der „Organismus aller Wissenschaften und Künste" (SCHLEGEL ΚΑ II, Abschluss des Irsing-Aufsatzes, 410 f.) und soll „die Einheit und Verschie88

89

90

Vgl. STADLER 59. Vor dem Hintergrund des neu definierten Systembegriffs spricht Schlegel in den Phihsophischen Lehrjahren sowohl der Kantischen (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, 22 Nr. 41) wie der Fichteschen Philosophie (SCHLEGEL ΚΑ XVIII, 32, Nr. 141) den Systemcharakter ab. Auch im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus" werden Kant und Fichte aufgrund ihrer Systemlosigkeit kritisiert. Dieser „Umschlag" der Forderung einer strengen Systematik in eine Philosophie der Wechselseitigkeit zeigt sich auch in Schleiermachers Grundlinien einer Kritik, der bisherigen Sittenlehre. Schlegels Terminologie ist immer im Fluss und es treten auch andere Begriffe auf, die eine ähnliche Position bezeichnen, wie die der Enzyklopädie: In der Jenaer Transzendentalphilosophievorlesung von 1804/1805 bezeichnet Schlegel beispielsweise diese umfassende Wissenschaft auch als „Philosophie der Philosophie", die als letzte oder höchste von drei Formen der Philosophie „die Probleme der Verbindung der Theorie und limpirie so wie die Verbindung aller Künste und Wissenschaften" zum Gegenstand hat (SCHLEGEL ΚΑ XII, Jenaer Vorlesungen %ur Transsgndentalpbihsophie (1800-1801), 91). In der Kölner Vorlesung zur Philosophie hingegen spricht er von „Magie": „Eine Wissenschaft, die, sowie die Politik die Religion und Moral verbindet, alle Künste und Wissenschaften in eine verbindet, die also die Kunst wäre, das Göttliche zu produziren, könnte mit keinem andern Namen bezeichnet werden als MAGIE." (SCHLEGEL ΚΑ XII, Jenaer Vorlesungen %ur Trans^endentalphilosophie (1800-1801), 105)

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denheit aller höhern Wissenschaften und Künste und alle gegenseitigen Verhältnisse derselben von Grund aus zu bestimmen" (SCHLEGEL KA III, Lesstngs Gedanken und Meinungen, 82) versuchen. 91 Inwiefern ein solches System offen und unvollendet bleiben muss, wird auch daran deutlich, dass die einzelnen Wissenschaften und das System der Wissenschaften wie Einzelnes und Ganzes zirkelhaft aufeinander verweisen. Diesen Zirkel formuliert Schlegel in Lessings Gedanken und Meinungen in Bezug auf das Verhältnis Literatur und Enzyklopädie: Will man nun nicht darauf warten, ob etwa eine wahre Literatur von selbst entstehen möchte; sondern ist es die Absicht, eine solche hervorzubringen, und zwar eine durchaus vollständige; so daß nicht etwa nur dies oder jene Gattung, wie es das Glück will, zu einiger Bildung gelangen, sondern daß vielmehr die Literatur selbst ein großes durchaus zusammenhängendes und gleich organisiertes, in ihrer Einheit viele Kunstwerke umfassendes Ganzes und einiges Kunstwerk sei; so ist die Vollführung jener unter dem Namen der Enzyklopädie bezeichneten, ganz neuen und noch nicht vorhandnen Wissenschaft das erste und wichtigste Erfordernis zur Erreichung dieses Endzweckes. (SCHLEGEL KA III, Lessings Gedanken und Meinungen, 83)

Die Enzyklopädie ihrerseits ist jedoch erst dann gegeben, wenn alle Wissenschaften und Künste vollständig gebildet sind. Die Forderung nach einem offenen Prozess der Wechselwirkung, einem System als „durchgängig gegliederte Allheit von wissenschaftflichem] Stoff, in durchgehender Wechselwirkung und organischem Zusammenhang", wird bei Schlegel mit einer Reflexion über die angemessene literarische Form und Darstellungsweise einer solchen Universalphilosophie, - poesie und -Wissenschaft begleitet. Die der Wissenschaft und Philosophie eigene diskursivsystematische Form der Darstellung nährt die Illusion eines in sich kohärenten abgeschlossenen Wissens und bringt die Dynamik des Erkenntnisprozesses zum Erliegen. Das Unabgeschlossene, Unerreichbare der Darstellung des Absoluten findet hingegen für Schlegel in der Ironie, dem Witz, dem Paradoxon und Widerspruch seinen Ausdruck, die so nicht nur philosophische, sondern auch literarische Konzepte darstellen. Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon lassen: so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden. (SCHLEGEL ΚΑ II Hlütenstaub-Fragmente, 164, Nr. 26)

91

Vgl. auch SCHLEGEL Κ Α II, Abschluss des Lessingaufsat^s, 410 f.: „Wollt Ihr zum Ganzen, seid Ihr auf dem W e g e dahin, so könnt Ihr zuversichtlich annehmen, Ihr werdet nirgends eine natürliche Grenze finden, nirgends einen objektiven Grund zum Stillstande, ehe Ihr nicht an den Mittelpunkt gekommen seid. Dieser Mittelpunkt ist der Organismus aller Künste und Wissenschaften, das Gesetz und die Geschichte dieses Organismus. Diese Bildungslehre, diese Physik der Fantasie und der Kunst dürfte wohl eine eigene Wissenschaft sein, ich möchte sie Hnyclopädie nennen: aber diese Wissenschaft ist noch nicht vorhanden."

50

Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt Wer Sinn fürs Unendliche hat, und weiß was er damit will, sieht in ihm das Produkt sich ewig scheidender und mischender Kräfte, denkt sich seine Ideale wenigstens chemisch, und sagt, w e n n er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche. (SCHLEG E L Κ Α II, Athenäums-Fragmente, 243, Nr. 4 1 2 )

Die angemessene literarische Form einer Philosophie, die sich für ein progressives, immer wieder neu in Frage stellendes Denken ausspricht, ist für Schlegel nicht die Abhandlung, sondern das Fragment. Der Zusammenhang der für sich bestehenden einzelnen Fragmente ist nicht in einem argumentativ entfalteten Gedankengang vorgegeben, sondern besteht in einem komplexen Netz aus Anspielungen und Entsprechungen, das sich mit jeder Lektüre neu und anders entfaltet. Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel. ( S C H L E G E L Κ Α II, Athenäums-Fragmente, 197, Nr. 206)

Fragmente sind die „eigentliche Form der Universalpoesie" (SCHLEGEL KA XVIII, Philosophischen 'Lehrjahre, 114, Nr. 1029), formuliert Schlegel in den Athenäums-Fragmenten - sie sind „Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis, vielleicht eine zynische laux satura im Styl des alten Lucilius oder Horaz, oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglossen zu dem Text des Zeitalters." (SCHLEGEL ΚΑ II, Athenäums-Fragmente, 209, Nr. 259) 92 Die Forderung nach einer Verbindung, Verschmelzung von Philosophie und Kunst bzw. Poesie, Schlegels Forderung nach einer „Universalpoesie", findet sich nicht nur bei Schlegel, sondern ebenso bei Novalis, Schelling, den/dem Verfasser(n) des ältesten Systemprogramms und auch bei Schleiermacher 93 und bei Hegel in der „romantischen Kunstform", aber Schlegel setzt diese Forderung in seiner eigenen philosophischen Schreibpraxis am konsequentesten um. Die Unabgeschlossenheit und Offenheit des Denkens wird in einer Schreibpraxis vorgeführt, die bewusst auf eine lineare Gedankenführung verzichtet, Widersprüche inszeniert, Ergebnisse ironisch in Frage stellt und die „zyclische Me-

92

93

Als literarisches Vorbild galt Schlegel Lessing, mit dem er sich seit 1796 intensiv beschäftigte. Interessant ist, dass gerade Lessing, der mit Mendelsohn die Vereinbarkeit von Poesie und Philosophie bestreitet (vgl. die 1755 erschienene Abhandlung Pope, ein Metaphjsikeri, in: LESSING, Gesammelte Werke Bd. 7, hrsg. von P. Rilla, Berlin 1968, 229-272) für Schlegel zum Vorbild eines Denkers wird, der beide Bereiche miteinander verbindet und in keinem der beiden Bereiche ganz zu Hause ist. Lessing sei Kritiker, seine Stärke Ironie, Witz und Polemik, die eigenste Form seiner Schriften des Fragments (vgl. SCHLEGEL ΚΑ II, Über Ussing 100-125). Seit 1799 plante Schlegel eine besondere Auswahl der Lessingschen Werke, die den „Lessingsche Geist" stärker hervortreten lassen sollte. In seinen begleitenden Aufsätzen zu diesem sich verzögernden Projekt (KA III 46103, Lessings Gedanken und Meinungen (1804)) finden sich nicht nur eine interessante, weil äußerst eigentümliche Lessing-Interpretation, sondern auch wichtige theoretische Reflexionen zum Begriff der Kritik, der Ironie, des Witzes und des Fragments. Vgl. STADLER 59f.

Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz

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thode", 94 die für Schlegel jedes wahre Philosophieren auszeichnet, vom Leser quasi „erzwingt". 95 Gerade in der Philosophie, in der es nicht um konkrete Dinge, sondern um das Denken selbst geht, kann man nicht allein über das Philosophieren sprechen, sondern muss den Leser zum Philosophieren selbst anregen, und dies gelingt mit den Mitteln der Kunst, die die Unabgeschlossenheit jeder systematischen Überlegung demonstriert und in eine unendliche Reflexion überführt. Sie kann den Mangel, der jedem philosophischen Denken anhaftet, poetisch inszenieren und im poetischen Ausdruck in gewisser Weise aufheben: In der höchsten aller Wissenschaften aber, die nicht irgend etwas einzelnes Bestimmtes lehren soll, sondern das Bestimmen selbst überhaupt zu bestimmen hat, ist es eben deswegen nicht hinreichend, das Gedachte schon fertig zu geben. Es will diese Wissenschaft nicht dieses oder jenes Gedachte, sondern das Denken selbst lehren; darum sind ihre Mitteilungen notwendigerweise auch Darstellungen, denn m a n kann das Denken nicht lehren, außer durch die Tat und das Beispiel, indem man vor jemandem denkt, nicht etwas Gedachtes mitteilt, sondern das Denken in seinem Werden und Entstehen ihm darstellt. Eben darum aber kann der Geist dieser Wissenschaft nur in einem W e r k e der Kunst vollständig deudich gemacht werden. ( S C H L E G E L K A III, Lessings Gedanken und Meinungen, 48)

Diesen Aspekt der Aufhebung oder Vollendung der Philosophie in und durch Kunst bzw. Poesie stellt Benjamin in seiner Dissertation ins Zentrum. 96 Durch die einseitige Betonung dieses Wechselwirkungsverhältnisses zwischen Philosophie und Poesie entsteht jedoch ein etwas verzerrtes Bild der Schlegelschen Philosophie, das die Bedeutung der Diskursivität unterschätzt und so der philosophischen Tiefe der Schlegelschen Schriften nicht gerecht wird: Weniger als um eine einseitige Erhöhung der Poesie geht es Schlegel, wie ich denke, um eine tatsächliche Wechselwirkung zwischen Philosophie und Poesie, Wissenschaft und Kunst, zwischen begrifflichen Bestimmungen und Symbolen des Unbedingten. Der Wechselerweis oder die Wechselwirkung einer „universal" verstandenen Philosophie, Wissenschaft oder Poesie kann nicht darin bestehen, dass sich Poesie vollkommen in Philosophie und Wissenschaft auflöst oder umgekehrt. Ihr vollkommenes Ineinanderaufgehen würde den Endpunkt eines vollständig zur Darstellung gelangten Absoluten markieren, der nur in einer unendlichen Progression zu erreichen ist. Wechselerweis oder Wechselwirkung als Dynamik des Endlichen besteht, das macht Schlegel auf allen Ebenen immer wieder deutlich, nicht nur in der progressiv fortschreitenden Vereinigung, sondern ebenso in der Eigenständigkeit der Wech94

96

SCHLEGEL ΚΑ II, Athenäums-Fragmente, 171, Nr. 43, u. 190, Nr. 161 sowie SCHLEGEL KA XVIII, Philosophische Lehrjahre, 131, Nr. 113. Anhand der „Beilage II", einer überlegt komponierten Notatesammlung aus dem Jahr 1796 zeigt Guido Naschert (vgl. NASCHERT 1996, 86ff.), wie Schlegel eine zirkelhafte Lektüre des Lesers inszeniert und so zum rhetorischen, didaktischen Nachvollzug seines philosophischen Programms führt. Vgl. BENJAMIN 1973.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

selglieder. 9 ^ Die Dynamik des Wechselerweises bzw. der Wechselwirkung verlangt zwei Operationen, die sich nicht voneinander trennen lassen und daher auch als zwei „Momente" ein und derselben Operation begriffen werden können: Einheitstiften und Trennen. Nicht nur die Philosophie kann sich nur mit Poesie vollenden, auch die Poesie vertieft sich erst in der Philosophie: Dass sie sich durch Kritik „potenziert", macht ja gerade die romantische Poesie aus.'® Aus vielen Notaten wird deutlich, dass Schlegel immer wieder versucht hat, die Wechselerweiszusammenhänge zwischen den einzelnen Wissenschaften untereinander genauer zu bestimmen. Die 1797 geschriebene Philosophie der Philologie stellt in dieser Hinsicht ein interessantes Dokument dar, weil hier besonders deutlich wird, wie Schlegel um eine Systematisierung ringt, über die Formulierung des Anliegens jedoch nicht hinauskommt. Natürlich kann man hinter dieser fehlenden Ausführung oder Strukturierung der „Allheit" und „Vielheit" der Wechselerweise wiederum „System" sehen, d. h. Strukturen ein für alle Male zu fixieren. Dass die „Vielheit der Wechselerweise" zwischen den einzelnen Wissenschaften genauer bestimmt werden kann und auch für Schlegel nicht völlig beliebig sind, wird beispielsweise an einem Einschub (in dem bereits zweimal zitierten Notat aus den Philosophischen Lehijahren) deutlich, in dem er sozusagen zur Selbsterinnerung festhält: „Bestimmung aller Wissenschaften, wo dieß [ein solcher Wechselerweis, S. S.] erlaubt ist". D. h. es muss noch geklärt werden, welche abgeleitete Wissenschaft mit welcher und in welcher Hinsicht in Wechselerweis steht und Lehrsätze voneinander entlehnt. Zu einer solchen Klärung kommt Schlegel jedoch nicht, Schleiermacher geht weiter.

1.3.2. Die Symphilosophen Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher Die Bedeutung der Freundschaft und Auseinandersetzung mit Schlegel kann für Schleiermacher sicherlich nicht überschätzt werden. Schleiermacher selbst bekennt in einem Brief an seine Schwester Charlotte Schleiermacher, 99 dass mit Schlegels Bekanntschaft „eine neue Periode" anbricht. Schleiermacher lernt Schlegel Ende 1796 über die Vermittlung von Alexander von Donau in der Freßlerschen „Mittwochsgesellschaft" kennen. Zwischen den beiden Männern entzündet sich sofort ein enger geistiger Austausch, dem sie besonders in den zwei Jahren ihrer „Wohngemeinschaft" (oder „Ehe", wie die Freunde witzeln) 1 0 0 besonders intensiv nachn-7

98 99

100 w

Vgl. dazu ein Fragment aus der Sammlung Zur Philologie (SCHLEGEL Κ Α XVI, Zur Philologie, 38, Nr. 44), in dem Schlegel die Wechselwirkung von Hermeneutik und Kritik feststellt, aber darauf dringt, dass ihre Grenzen nicht „verwirrt" werden sollen. Vgl. S C H L E G E L Κ Α XVI, Fragmente spr Literatur und Poesie, 153, Nr. 797 u. 168, Nr. 993. Vgl. BtKGA V 2, Nr. 402. Vgl. den Brief Schleiermachers vom 31.12.1797 an seine Schwester Charlotte ßrKGA V 2, 219, Brief 424: „Unsere Freunde haben sich das Vergnügen gemacht unser Zusammenleben eine Ehe

Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz

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gehen konnten. Schlegel ist Schleiermacher in den Jahren 1787-99 nicht nur wichtigster Gesprächspartner und somit zwangsläufig auch Ideenlieferant, sondern vor allem Motor, der ihn (neben Henriette Herz) immer wieder zum Schreiben antreibt. Schleiermacher bewundert und schätzt die Genialität und die ungeheure Bildung des vier Jahre jüngeren Schlegel, Schlegel fühlt sich berufen, den Freund, dem in der Darstellung seiner Gedanken ein „gewisser leiser Gang eigen ist" 1 0 1 und der kein Interesse habe „etwas zu machen, obgleich er kann", 1 0 2 immer wieder zum Schreiben aufzufordern. 103 Viele Gedanken und Ideen auch der späten Texte Schleiermachers finden sich meist formelartig auch in Schlegels Aphorismen und Notaten: Schleiermacher wie Schlegel begreifen menschliche Tätigkeit als kontingent-historisch, Erkenntnis als unendlich Aufgabe, die sich nicht an ersten oder einfachen Wahrheiten oder Prinzipien orientieren, sondern nur im Austausch mit Kunst und Leben allmählich vollenden kann. Beide thematisieren Philosophie nur in der Form des Philosophierens, unterstreichen die enge Verbindung zwischen Hermeneutik und Dialektik und entwerfen im Anschluss an Piaton einen ähnlichen Dialektikbegriff als „Kunst der Gesprächsführung". Beide wehren sich gegen eine Philosophie aus erstem Grundsatz, vertreten einen dynamischen Systembegriff, der die Wechselwirkung der Wissenschaften und Künste zum Grunde hat, und beide Denker formulieren ein Wechselverhältnis zwischen Theorie und Empirie, Historie und Theorie. Zugleich verfehlt man meines Erachtens die Schleiermachersche Philosophie gezielt, sieht man in ihr lediglich eine Ausbildung Schlegelscher „Gedankensamen" und schlägt die Originalität ganz auf die Seite Schlegels (freilich immer mit dem Zugeständnis theologischer Verdienste). Zum einen wurde Schleiermacher nicht durch Schlegel philosophisch initiiert. Schleiermachers philosophischer Weg, insbesondere seine Auseinandersetzung mit Spinoza führte ihn zu einer philosophischen Position, die sich mit den philosophischen Ideen der Romantiker traf, ohne sich mit ihnen in allen Themen zu decken. 1 0 4 Als Schlegel und Schleiermacher aufeinander trafen, siedelten sich Schle-

101

102

104

tiemieti\ und stimmen allgemein darin überein, daß ich die Frau seyn müßte, und Scherz und Ernst wird darüber genug gemacht." Vgl. Brief Friedrich Schlegels an August W. und Caroline Schlegel vom 28. November 1797, SCHLEGEL ΚΛ XXIV, 45, Brief Nr. 36. Vgl. ebenda. Vgl. dazu auch Brief Schleiermacher an Charlotte Schleiermacher vom 21.11.1797 ürKGA V 2, 213, Brief Nr. 424: „Schlegel spielte mir zwar einen kleinen Poßen indem er sie aufhezte im Chore in seinen alten Wunsch einzustimmen daß ich nemlich nun auch fleißig seyn d. h. Bücher schreiben solle. Neun und zwanzig Jahr, und noch nichts gemacht! damit konnte er gar nicht aufhören, und ich mußte ihm wirklich feierlich die Hand darauf geben, daß ich noch in diesem Jahr etwas eigenes schreiben wollte - ein Versprechen, was mich schwer drükt, weil ich zur Schriftstellerei gar keine Neigung habe." Vgl. auch ARNDT 1996, Kommentar..., 1060ff.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

gels Überlegungen eher im Bereich der Erkenntnistheorie und Ästhetik an, während sich Schleiermacher in den philosophischen Studien der vorausgehenden Jahre vor allem Fragen der praktischen Philosophie und Theologie gewidmet hatte. Der Gedanke der Wechselwirkung, das soll u.a. das folgende Kapitel zeigen, wird in den frühen Schriften aus der Berliner Zeit (1799-1801) bei Schleiermacher im Kontext ganz anderer Fragestellungen diskutiert als bei Schlegel. Wollte man ,literarische Vaterschaftsprozesse" führen, wie W. Jaeschke den Versuch nennt, in einer so hochgradig „dialogischen Situation", wie ihn die philosophische Landschaft um 1800 darstellt, Urheberrechte an Ideen festzuklopfen, 105 so beträfe dies im Verhältnis Schleiermacher - Schlegel vor allem Grundthesen der Erkenntnistheorie und Hermeneutik, denn in diesem Bereich hatte Schlegel sozusagen einen Reflexionsvorsprung. Aber auch wenn man viele Schlegelsche „Gedankensamen" vor allem in der Dialektik und Hermeneutik Schleiermachers ausmachen kann, so sind sie im Schleiermacherschen Denken doch ganz anders „aufgegangen". Dies betrifft zum einen die literarische Darstellung. Das Programm einer Gleichzeitigkeit von System und Systemlosigkeit setzt Schlegel in der Poetisierung der Philosophie um. Die enge Wechselbeziehung zwischen Kunst und Wissenschaft, Kunst und Philosophie findet seine Illustration im literarischen Spiel von Identität und Differenz, im beständigen Wechsel der Hierarchien und in den Abhängigkeitsverhältnissen bis hin zu beabsichtigten Widersprüchen. Schlegel führt das Aufeinanderverweisen, das Schwanken oder, wie Schleiermacher formulieren würde, das „Oszillieren" der wechselseitig einander bedingenden Glieder literarisch vor. Das macht sie für eine philosophische Auseinandersetzung spannend, aber zugleich auch sperrig und ungenießbar, denn sie muss das, was anschaulich vorliegt, in Diskursivität übersetzen. Schleiermacher hingegen wählt, von frühen poetischen Versuchen abgesehen, die Form der Abhandlung. 1 0 6

105

Vgl. HOLZHEY 1990, VII. Die Reden und Monologen sind in einem poetischen Stil verfasst, Schleiermacher beteiligt sich mit einigen Fragmenten am Athenäum, es gibt einige Hinweise auf Romanversuche in der ersten Berliner Zeit und auch die Auseinandersetzung mit Schlegels Briefroman Ludnde ist in Briefform abgefasst, die literarisch durchaus gelungen ist. 1806 schreibt Schleiermacher schließlich die Erzählung Die Weihnachtsfeier (1806). Diese literarischen Versuche und Schreibweisen führt Schleicrmacher jedoch nicht weiter fort. Auch wenn Schleiermacher literarische Formen der Ironie, des Fragments und des Paradoxons nicht zum Programm erhebt, so findet sich auch bei ihm ein „Oszillieren der Begriffe", das der Interpretation der Schleiermacherschen Texte einen so großen Interpretationsspielraum verschafft. Wenn man denn will, so kann man dahinter System erkennen. Auffällig ist dieses immer wieder Neuformulieren und Durcheinander-Ersetzen von Begriffen und Problemzusammenhängen bei den verschiedenen Formulierungen, die Schleiermacher für den absoluten Gegensatz anführt, aber auch bei den Wechselverhältnissen von Kunst und Wissenschaft, Leben und Wissenschaft, Empirie und Theorie, Geschichte und Theorie sowie Metaphysik und Logik. Sie beschreiben ähnliche, aber nicht ganz deckungsgleiche Wechselverhältnisse, werden jedoch im Verlauf der Argumentation immer wieder durcheinander ersetzt.

Gegen eine Philosophie aus oberstem Grundsatz

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Der Unterschied, der sich in der Schreibpraxis abzeichnet, ist jedoch nicht nur literarischer Natur, sondern der unterschiedliche literarische Ausdruck eröffnet auch einen anderen philosophischen Weg. Schleiermacher entwirft nicht nur programmatisch, er systematisiert die Philosophie der Wechselwirkung, indem er den Versuch unternimmt, die Wissenschaften unter dem Vorzeichen der Philosophie der Wechselwirkung neu zu schreiben,1®7 indem er einzelne Wechselwirkungsverhältnisse benennt und untersucht. In dieser Systematisierung geht Schleiermacher sowohl in der Begründung als auch in der konkreten Analyse der Wechselverhältnisse weiter als Schlegel. In der Dialektikvorlesung Schleiermachers wird die Frage nach der philosophischen Legitimation eines geschichtlichen Ausgangspunktes zum zentralen Problem. Die Dialektik ist „Kunst der Gesprächs führung", sie untersucht Philosophie in der Form des Philosophierens. Um „kunstvoll" zu philosophieren, muss sich das bedingte Denken seiner eigenen Interpretation als bedingtes Denken versichern. Die Dialektik Schleiermachers ist daher nicht nur Kunstlehre des Denkens, sondern fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Kunstlehre. In der Systematisierung liegt natürlich die Gefahr, die Dynamik des Philosophierens wieder anzubinden und Bedingtes zu Unbedingtem zu erklären. Dieser Gefahr entgeht Schleiermachers Dialektik nicht immer. In diesem Zusammenhang markiert vor allem die Bedeutung des Gefühls einen wesentlichen Unterschied zwischen Schleiermacher und Schlegel. In Schlegels Kritik an Jacobi wird deutlich, dass eine Philosophie der Wechselwirkung auf jegliche Vergewisserung des Absoluten auch in Form eines Gefühls verzichten muss. 108 Für Schleiermacher ist diese Versicherung der ursprünglichen Einheit des absoluten Gegensatzes im Gefühl der unmittelbaren Abhängigkeit wesentlich Bestandteil der Philosophie der Wechselwirkung. Allerdings bleibt diese Vergewisserung im Modus des Gefühls und kann in keine Reflexion „übersetzt" und somit auch nicht als Begründung des Absoluten im philosophischen Diskurs eingesetzt werden. 107

108 luo

Vgl. ARNDT 1996, Kommentar..., 1080. In seinem Spinozabuch formuliert Jacobi den Gedanken, dass jeder Erweis schon etwas Erwiesenes voraussetzt. Um der Gefahr eines infiniten Regresses zu entgehen (alle Begründung fordert selbst wieder Begründung), setzt Jacobi den Grund des Wissens im Gefühl (JACOBI 417f. u. 424ff.). Schlegel lehnt diesen über das Gefühl gebotenen Zugang zum Unbedingten ab und setzt dagegen auf ein immer dichter werdendes Netz sich selbst stützender Gedanken. Vgl. dazu FRANK 1996, „Wechselgrundsabp... 49: „Schlegel aber sieht keinen Bedarf für Konzepte mit einet so starken, ja mit einer Letzt-Begründung von .Wissen'. Wenn die Glieder der Begründungskette, so denkt er, nach Gesetzen der Kohärenz in einen immer besseren, nämlich durch immer mehr passende Zusatzglieder bereicherten Zusammenhang gebracht sind, dann haben wir ein berechtigtes Motiv, die Frage nach der ultimativen Fundierung der Kette offen zu lassen. Wir dürfen uns begnügen mit der Annahme, daß, je mehr Zusammenhang es uns gelingt zu sdften, das Bestehen eines ,Grundes' für die offene Kette immer .wahrscheinlicher' wird bzw. wir der .einen nie vollendeten Wahrheit' immer näher kommen." In seiner Kritik an Jacobis Woldemar polemisiert Schlegel gegen Jacobi, vgl.

SCHLEGEL ΚΑ II, Jacobis Woldemar, 77.

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Das Bekenntnis zum Endlichen: Schleiermachers philosophischer Ausgangspunkt

Auch in dieser Analyse und Systematisierung der einzelnen Wechselverhältnisse dringt Schleiermacher wesentlich tiefer vor als Schlegel. Die Forderung nach der Einheit von Leben und Philosophie beispielsweise, die sich schon sehr früh bei Schlegel findet, erhält in Schleiermachers Ethik eine ganz andere philosophische Dimension, wenn sie als Wechselverhältnis von Organisieren und Symbolisieren diskutiert wird. Auch hier liegt in der Systematisierung eine Gefahr, der sich Schleiermacher nicht immer entzieht: Der systematischen Kohärenz wegen entwirft Schleiermacher eine streng bipolare Architektur dieser Wechselwirkungen, die im Einzelnen jedoch erzwungen erscheint und nicht immer einsichtig ist. Nicht nur in der Begründung des philosophischen Programms einer Philosophie der Wechselwirkung, sondern vor allem auch mit der Analyse der konkreten Wechselwirkungszusammenhänge schlägt Schleiermacher einen eigenen Weg ein.

2. Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung Berliner Schriften (1798 - 1801) 2.0.

Umleitung

1796 wird Schleiermacher Prediger an der Berliner Charite, im darauf folgenden Jahr lernt er Friedrich Schlegel kennen, und diese frühe Zeit der Freundschaft mit Friedrich Schlegel ist für Schleiermacher nicht nur literarisch produktiv, sondern führt auch 2u ersten Veröffentlichungen: Gedanken aus dem seit 1796 geführten Notizheft münden 1798 in die kollektive Aphorismensammlung des Athenäums, 1798 beginnt Schleiermacher mit der Redaktion der Reden über die Religion, im Januar 1899 veröffentlicht er den ersten Teil der Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, im selben Jahr kommt die erste Auflage der Reden bei Unger in Berlin heraus und ein Jahr später die Monologen bei Spener sowie die I·''ertrauten Briefe über Friedrich Schlegels l^ucinde beim Hamburger Verleger Bohn. In diesen frühen Schriften liegt ein Schwerpunkt auf Fragestellungen der praktischen Philosophie, und dies gilt auch für den Gedanken der Wechselwirkung, der sich, anders als bei Friedrich Schlegel, vor allem im Bereich der Ethik als zwischenmenschliche Wechselwirkung zeigt und auf die Frage antwortet, wie der Gegensatz von Notwendigkeit (verstanden als Eingebundensein in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem jeder Einzelne fremden Zwängen und Handlungen ausgesetzt ist) und Freiheit (die Freiheit, so zu sein und zu handeln, wie es jedem Individuum entspricht) vermittelt werden kann. Unter diesen frühen Schriften haben in erster Linie die Reden über die Religion, aber auch die Monologen seit ihrer Veröffentlichung eine anhaltend vielseitige und ausführliche Reaktion erfahren. In der folgenden Auseinandersetzung mit den Schriften aus der frühen Berliner Zeit kann es nicht um eine angemessene Würdigung der (sich auch in der Forschung widerspiegelnden) Vielzahl der Problemkomplexe gehen, sondern darum, das Grundmotiv der Wechselwirkung aufzusuchen und Unterschiede zu Schleiermachers späterer philosophischer Position der Vorlesungen zu markieren. Unter dem Blickwinkel der Wechselwirkung steht in den Reden über die Religion das Verhältnis von Religion, Philosophie und Moral im Zentrum. Mit dem Anliegen, die Unabhängigkeit der Religion von Philosophie und Moral zu begründen, unterstreicht Schleiermacher zunächst den je eigenen Charakter und die strikte Trennung der ihnen zugrunde liegenden Tätigkeiten: Anschauen, Denken und

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Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung: Berliner Schriften (1798-1801)

Handeln. Mit fortlaufender Reflexion in den Reden lässt sich jedoch zeigen, dass Schleiermacher eigentlich eine Wechselwirkung der Tätigkeiten vor Augen hat. Die Wechselwirkung zwischen Anschauung, Denken und Handeln steht in den Reden zunächst nicht im Vordergrund, zeigt sich aber als philosophischer Ansatz, der sich im Verlauf der Reden mehr und mehr durchsetzt. Die Monologen stellen, wie Schleiermacher in der Selbstanzeige formuliert, den Versuch dar, Idealismus und Realismus zu vermitteln und enthalten bereits zwei grundlegende Gedanken der späteren Ethikvorlesungen: Selbstbildung als Bildung zur Individualität kann nur zugleich mit Weltbildung geschehen, und Selbstbildung ist eine „gedoppelte Tätigkeit", eine Wechselwirkung zwischen Erkennen und Darstellen, In-sich-Aufnehmen und Aus-sich-Herausgehen. Schleiermacher geht dabei von dem Modell zweier „Welten" aus: Einer „äußeren Welt" der Notwendigkeit steht eine „innere Welt" freier Selbstbildung bzw. Selbstanschauung gegenüber. In dieser Gegenüberstellung ist sowohl der spätere Gegensatz von Individuum und Gemeinschaft wie der von Ethik und Physik angelegt. Die „Lösung" der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit als Bildung zur Individualität, wie sie sich in den Monologen abzeichnet, trägt ganz eindeutig Spinozistische Züge und soll in einem kurzen Vergleich mit Spinozas Freiheitsbegriff am Ende des Kapitels noch einmal konturiert werden. Die Wechselwirkung von Welt- und Selbstbildung, Darstellen und Erkennen der Monologen findet in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens eine konkrete Ausführung, auch wenn der Versuch zeitgleich mit den Reden entsteht und den Monologen zeitlich vorangeht. Die freie Geselligkeit, in der sich die Menschen frei von beruflichen und familiären Verpflichtungen zum Gedankenaustausch treffen und dabei nichts anderes verfolgen als ein freies Spiel der Gedanken, kann als eine Art „Gewächshaus" für die Bildung zur Individualität verstanden werden. Indem die freie Geselligkeit der Form nach vollendete Wechselwirkung ist, ist der Versuch einer Theorie des geselligen Betragens zugleich eine Reflexion auf den zentralen Begriff der Wechselwirkung und nimmt als „Theoriestück der Wechselwirkung" eine besondere Rolle unter den Frühschriften ein. Schleiermachers literarische „Rezension" der Schlegelschen Tucinde, die Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Ijtände, sind für den Gedanken der Wechselwirkung nicht nur deswegen interessant, weil sie den Schlegelschen Liebesbegriff aufnehmen, mithin die Wechselwirkung zwischen den Geschlechtern formulieren, sondern vor allem, weil Schleiermacher mit dem Begriff der Schamhaftigkeit auf die unaufhebbare und fur die Dynamik der Wechselwirkung notwendige Differenz der Wechselglieder aufmerksam macht. Auch wenn in der frühen Berliner Zeit Schleiermacher erkenntnistheoretische Fragestellungen kaum beschäftigen, so findet die Wechselwirkung von Theorie und Empirie, die in den Dialektikvorlesungen ein zentrales Thema wird, eine Art literarische Demonstration im Dialog Über das Anständige, mit der die Betrachtung der Frühschriften abgeschlossen werden soll. Anders als in den späteren

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Vorlesungen, in denen das Sich-aneinander-Prüfen und Sich-aneinanderEntfalten von Spekulation und Empirie der Niederschrift vorangegangen ist und nur als Ergebnis präsentiert wird, wird im Dialog der Prozess der Vermittlung einer eher spekulativen und einer eher empirischen Ausgangsposition vorgeführt.

2.1. Universalisierung durch Religion und die Mitteilbarkeit religiöser Anschauung — „ Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799J1 Im Freundeskreis Schleiermachers, der den Ende 1799 anonym erschienenen Reden im Gegensatz zur breiteren Öffentlichkeit eine starke Beachtung schenkte, galt die Schrift als exemplarische Darstellung romantischer Religionsauffassung. 2 Kritik an den Reden kam Schleiermacher vor allem aus theologischen Kreisen entgegen, die in der vom Individuum ausgehenden Betrachtung und Schleiermachers kritischen Überlegungen zum Gottesbegriff einen Angriff auf die christliche Religion sahen und „Atheismus", „Pantheismus" oder „Spinozismus" witterten. 3 Mit den Reden Uber die Religion wendet sich Schleiermacher gegen die seit der Aufklärung immer lauter werdende religionsfeindliche Stimmung, jedoch in der Form einer vernünftigen Auseinandersetzung, an die „Gebildeten unter ihren Verächtern", an die er appelliert, in ihrer Verachtung „recht gebildet und vollkommen zu sein" (RRKGA I 2, 198). Die Reden richten sich gleichermaßen gegen eine unreflektierte Behauptung des vermeintlich religiösen Terrains wie gegen den Versuch, religiöse Inhalte zu legitimieren, insofern sie sich als vernünftig oder moralisch ausweisen lassen (wie beispielsweise in der so genannten „positiven Religion", gegen die sich Schleiermacher insbesondere in der vierten Rede wendet). Die Quelle der Religion soll ähnlich der Kantischen Argumentationsstruktur als ,Anlagen der Menschheit" (RRKGA I 2, 197) ausgewiesen, der Kompetenzbereich der Vernunft umrissen werden, um der Religion außerhalb von Moral und Philosophie 4 den ihr eigenen Bereich zuzusprechen. 5 Der eigentli-

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Die Reden werden bis zu vier Mal aufgelegt und erfahren bei jeder neuen Ausgabe eine Modifikation. Die hier zu Grunde gelegte Textbasis ist die erste Auflage, die auch für ihre Rezeption im 20. Jahrhundert entscheidend war (vgl. MECKENSTOCK 1984, Einleitung, LXXVIII). Vgl. MECKENSTOCK 1984, Einleitung, LXff. Vgl. Brief von F. S. G. Sack Ende 1800/ Anfang 1801, ΒήίΟΑ V 5, 3f., Brief Nr. 1005. Schleiermacher verwendet hier die Begriffe Philosophie, Metaphysik, Transzendentalphilosophie und Wissenschaft synonym für den Bereich der theoretischen Philosophie. Ich werde im Folgenden nur Philosophie im Sinne von theoretischer Philosophie verwenden. Die Trennung von Religion und Philosophie findet Ausdruck in Schleiermachers Beurteilung der Gottesvorstellung, der Unsterblichkeit und der Dogmen in der Religion. Die Trennung von Religion und Moral mündet u.a. in dem in der vierten Rede ausgeführten Plädoyer für eine Trennung von Staat und Kirche, die die Religionsgemeinschaft aller moralischen Erziehungsaufgaben und weldichen Interessenvertretungen enthebt. Diese Bestimmung, die - zumindest in den ersten vier

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chen Auseinandersetzung mit der Religion als „Anlage der Menschheit" stellt Schleiermacher in der Apologie, der ersten der fünf Reden über die Religion, ein Grundmotiv ursprünglicher Dualität oder Wechselwirkung voran. Jedes Dasein ist dem Wirken zweier an sich nicht vermittelbarer und entgegengesetzter Kräfte oder „Triebe" ausgesetzt, ein eher rezeptives In-sich-Aufnehmen und ein eher produktives oder spontanes Aus-sich-Herausgehen, die alle geistigen und körperlichen Dinge und Tätigkeiten bestimmen: Der eine ist das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen, in ihr eignes Leben zu verstriken, und wo möglich in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen. Der andere ist die Sehnsucht ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzutheilen, und selbst nie erschöpft zu werden. (RRKGA I 2, 191)

Diese ursprüngliche Dualität zweier „Triebe" findet sich als Dualität von „Organisieren" und „Erkennen" in einer ganz ähnlichen Formulierung der späteren Ethikvorlesungen. In der Einleitung zur Ethikvorlesung von 1812/13 heißt es: Jedes Leben ist in „der Identität des relativen Für-sich-Geseztseins und InGemeinschaft-Geseztseins" und als solches „ein Ineinander und Nacheinander von In-sich-Aufnehmen und Aus-sich-Hinstellen" {EthBI 19, § 5). Diese beiden „Hauptfunctionen der Vernunft" können „in der Realität nicht getrennt" werden, „sondern jeder Act wird nur a parte potiori unter Eine besondere subsumirt" (EthBI 19, § 6). Wie in den späteren Ausarbeitungen dieses Grundgedankens in der Ethik beschreibt Schleiermacher diese beiden Kräfte auch in der Apologie der Reden als zwei Kräfte, die in Realität nie voneinander getrennt auftreten. Da das Wirken beider Kräfte in der Regel in unausgewogener Gewichtung stattfindet, nehmen die „Mittler", die eine „zur Ruhe gekommene Mischung" der beiden Kräfte repräsentieren, eine besondere Rolle ein. Diese Mittler vermitteln nicht zwischen Gott und Mensch, sondern zwischen dem einzelnen Menschen und der Menschheit. Indem sie ein ideales Verhältnis beider Kräfte vorstellen, die in sich aufnehmende und die aktiv eingreifende, aus sich herausgehende, repräsentieren sie das Ziel alles Strebens und zeigen dem einzelnen, in welche Richtung sich sein einzelnes Streben richten muss.1^ Obgleich der philosophische Grundgedanke der Dualität ausdrücklich alles Leben, mithin auch Moral und Philosophie, bestimmt, bezieht ihn Schleiermacher im Verlauf der Reden lediglich auf die Religion (dort führt er ihn vor allem in der religiösen Geselligkeit aus) und nicht etwa auf das Verhältnis der drei Lebensbereiche Moral, Philosophie und Religion. Mit der Intention, Religion aus sich selbst

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Reden - an dem Selbstverständnis der Kirche rüttelt und die Religion als Gefühlsreligion neu bestimmt, brachte Schleiermacher unter anderem auch eine starke Kritik seines Mentors Samuel Gottfried Sack ein, vgl. fl/KGA V 5, 4 f , Brief Nr. 1005). Vgl. R R K G A 1 2, 193.

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und nicht über Moral und Philosophie zu legitimieren, stellt Schleiermacher in den Reden die Differenz und Eigenständigkeit der diesen Bereichen zugrunde liegenden Tätigkeiten Anschauen, Denken und Handeln in den Vordergrund.' Eine Kritik an dieser strikten Trennung von Religion, Moral und Philosophie formuliert der spätere Theologieprofessor Friedrich Heinrich Chrisdan Schwarz in seiner Rezension in der Allgemeinen Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur. [...] so liegt doch auch in diesem scharfen Abttennen wieder eine Einseitigkeit der Abstraction, [ . . . ] denn ist nicht in dem Menschen alles vereint? [ . . . ] Der Verf. sagt selbst: daß die Rel. aus dem Innern jeder bessern Seele von selbst entspringt, wenn das aber bey der besseren Seele gerade der Fall ist, so m u ß Religion und Sittlichkeit auch in der untrennbarsten Verbindung und wegen ihrer Selbstständigkeit in der unauflöslichsten Wechselwirkung stehen.®

Mit der „Universalisierung" der Moral und Wissenschaft durch die Religion und dem Streben der religiösen Anschauung nach Mitteilung und Gemeinschaft wird die zu Beginn geforderte strikte Trennung der Tätigkeiten und Bereiche jedoch unterlaufen. Insofern sind die Reden ein sehr offener Text, der bezogen auf den Gedanken der Wechselwirkung eine Art „Zwischenstellung" markiert: Er wird zwar als Grundmotiv in der Apologie den Reden vorangestellt, jedoch noch nicht konsequent verfolgt. Durchgebildet findet sich dieser Gedanke vor allem in der „religiösen Geselligkeit". Wie in den späteren Vorlesungen über Ethik, Ästhetik und Dialektik beginnt Schleiermacher die Argumentation an die „gebildeten Religionsverächter" gerichtet - mit der Bestimmung des „Wesens" bzw. des „Begriffs" der Religion, die ebenfalls wie in diesen späteren Vorlesungen - darin besteht, diejenige eigentümliche Tätigkeit zu bestimmen, die der Religion zu Grunde liegt: die religiöse Anschauung.^1 Die religiöse Anschauung bezeichnet Schleiermacher auch als Wahrnehmung, allerdings nicht als „reguläre" Wahrnehmung der Sinne, sondern Vgl. RRKGA I 2, 209: „Mengt aber und rührt wie Ihr wollt, dies geht nie zusammen, Ihr treibt ein leeres Spiel mit Materien, die sich einander nicht aneignen." Vgl. auch RRKGA I 2, 210: „Aber das ist es ja eben, was ich Buch gesagt habe, daß die Religion nie rein erscheint, das alles sind nur die fremden Theile, die ihr anhängen, und es soll ja unser Geschäft sein, sie von diesen zu befreien." Zitiert nach MECKENSTOCK 1984, Einleitung, LXXIf. Auch Sack kritisierte diese strikte Trennung von Religion, Moral und Philosophie, diese „trostlose" zugrunde liegende Theorie sei „auf keine Art und Weise weder mit dem gesunden Verstände noch mit den Bedürfnissen der moralischen Natur des Menschen in irgend eine Art von Vereinigung zu bringen" (Brief Sack an Schleiermacher Ende 1800/Anfang 1801, ßrKGA V 5, 4, Brief Nr. 1005). Zu Sacks Kritik an den Reden vgl. auch den Brief an Henriette Herz vom 20.3.1799, BrKGA V 3, 41 f., Brief Nr. 585. Dieser Begriffsbestimmung folgt in der vierten und fünften Rede eine Kritik kirchlicher Praxis und eine Charakterisierung der bestehenden Religionen, die man als empirischen Teil der Auseinandersetzung der Reden bezeichnen könnte. Obwohl die Reden sprachlich eher literarisch gehalten sind, entsprechen sie so der groben Struktur der späteren Vorlesungen.

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Wahrnehmung mit den „Organen des Geistes" (RRKGA I 2, 218£), der nicht vom Sonnenlicht, sondern von der unendlichen Tätigkeit des Universums affiziert wird. Jede religiöse Anschauung tritt als quasi doppelte Tätigkeit auf, ist gleicherweise rezeptiv wie auch spontan, 10 sie hat eine anschauende „äußere Seite" und eine fühlende „innere" Seite, denn sie ist notwendig immer mit einem Gefühl verbunden. Jede religiöse Anschauung ist Anschauung des Universums, jedoch auf individuelle Weise, sodass sie „Totalperspektive" und „Minimalperspektive" in sich vereint, Totalität und Individualität gleichermaßen beinhaltet. Im Gegensatz zum Denken ist jede Anschauung und mithin auch jedes Gefühl immer einzeln und findet seine Begründung nicht in einem anderen, sondern ist unmittelbar aus sich wahr. Jede Beziehung der einzelnen Anschauungen untereinander kann daher nur willkürlich sein und entspringt keiner inneren Systematik, sondern der Phantasie. Anschauung ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. ( R R K G A I 2, 215) 1 1

Jede Hierarchie, jedes System ist der Religion äußerlich und fremd. 12 Das „höchste Sinnbild der Religion" muss für Schleiermacher daher als ein Chaos unendlicher Anschauungen vorgestellt werden, in dem jeder Punkt - vergleichbar der Leibnizschen Monade - eine Welt vorstellt: Dieses unendliche Chaos, wo freilich jeder Punkt eine Welt vorstellt, ist eben als solches in der That das schiklichste und höchste Sinnbild der Religion; in ihr wie in ihm ist nur das Einzelne wahr und nothwendig, nichts kann oder darf aus dem andern bewiesen werden, und alles Allgemeine worunter das Einzelne befaßt werden soll, alle Zusammenstellung und Verbindung liegt entweder in einem fremden Gebiet, wenn sie auf das Innre und Wesentliche bezogen werden soll, oder ist nur ein Werk der spielenden Fantasie und der treiesten Willkür. ( R R K G A 1 2 , 2 1 6 )

Alle drei Bereiche Religion, Moral und Philosophie, haben „das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm" (RRKGA I 2, 207) zum Gegenstand, bearbeiten diesen Gegenstand doch auf je unterschiedliche Weise. Sowohl die Philosophie als auch die Moral thematisieren das Verhältnis von Mensch und Universum nur in eingeschränkter Weise, nämlich orientiert am Menschen und bieten nur einen Ausschnitt dieser Beziehung, dessen „Totalperspektive" erst in der

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Vgl. RRKGA I 2, 218; vgl. auch RRKGA I 2, 221: „ Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eines und ungetrennt sind." Zu einer solchen Konstruktion aus Phantasie gehört auch jede Gottesvorstellung (vgl. RRKGA I 2, 245ff.). Vgl. RRKGA 1 2, 200f.

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Anschauung gegeben ist. 13 Moral und Philosophie tendieren, wenn sie nur auf sich bezogen sind, zur „Virtuosität", die Schleiermacher als „zusammenziehendes Streben nach etwas Bestimmtem und Vollendetem" (RRKGA I 2, 239) bezeichnet. Sie suchen nach der vollendeten Form ihrer Tätigkeit und gestalten den einmal abgesteckten Kreis einzelner Erkenntnisse und Maximen immer perfekter durch, verteidigen ihn immer ausschließender gegen alles Fremde und bringen schließlich ihre eigene Dynamik zum Erliegen: Wer nur systematisch denken und nach Grundsaz und Absicht handeln, und dies und jenes ausrichten will in der Welt, der umgränzt unvermeidlich sich selbst und sezt immerfort dasjenige sich entgegen zum Gegenstande des Widerwillens was sein Thun und Treiben nicht fördert. Nur der Trieb anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, sezt das Gemüth in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Feßeln der Meinung und der Begierde. (RRKGA I 2, 218) Die Systemsucht stößt freilich das Fremde ab, sei es auch noch so denkbar und wahr, weil es die wohlgeschloßnen Reihen des Eigenen verderben, und den schönen Zusammenhang stören könnte, indem es seinen Plaz forderte; in ihr ist der Siz der Widersprüche, sie muß streiten und verfolgen; denn insofern das Binzeine wieder auf etwas Einzelnes und Endliches bezogen wird, kann freilich Eins das Andere zerstören durch sein Dasein. [...] (RRKGA I 2, 216)

Nur die Religion, deren religiöse Anschauung als Anschauung von Totalität und Individualität quasi nach zwei Seiten über Moral und Philosophie hinausreicht, bringt die Einsicht mit sich, dass das Fremde immer notwendiger Teil des Eigenen ist: Wie verwerflich auch etwas in andern Beziehungen oder an sich selbst sei, in dieser Rüksicht ist es immer werth zu sein und aufbewahrt und betrachtet zu werden. [...] sie [die Religion, S. S.] ist die einzige und geschworne Feindin aller Pedanterie und aller Einseitigkeit. (RRKGA I 2, 218)

Indem nur der Religion das Bewusstsein der eigenen Begrenztheit eigen ist und nur sie sich für das Fremde und Individuelle öffnet, kommt ihr eine wesendiche Funktion für Philosophie und Moral entgegen, nur in der „Universalisierung" mit oder durch Religion entsteht in Philosophie und Moral ein Gegenmoment zur Virtuosität, das eine „armselige Einförmigkeit" (RRKGA I 2, 213), ein Stagnieren verhindert. 14 Indem sie Pflichterfüllung und Wissen zum Ziel haben, sind sowohl 13

Vgl. R R K G A I 2, 211 f.: „Jene sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach alles Werdens; sie will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, dessen Abdruk, deßen Darstellung." IVie die Religion allerdings ihre Universalisierungsfunktion wahrnehmen kann, wie sie ihr „erweiterndes Schweben im Unbestimmten und Unerschöpflichen" (RRKGA I 2, 239) der nach Virtuosität strebenden Moral und Philosophie vermitteln kann, w o sie doch als punktuelle Anschauung vollkommen für sich besteht, wird in den Rftüti allerdings nicht weiter ausgeführt. Schleiermachers Formulierungen dazu fallen so ungenau aus, dass ihnen nicht viel zu entnehmen ist: Die

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Moral als auch Philosophie auf Allgemeinheit aus, verfehlen jedoch in diesem Streben ihren eigenen Gegenstand. Denn es gibt nichts Reales, was diesem strengen Anspruch genügen kann. [...] denn w a s von ihrem Punkt [von Moral und Philosophie, S. S.] aus gesehen und umfaßt werden kann, das heißt Alles, was sie gelten laßen wollen, ist ein kleiner und unfruchtbarer Kreis ohne Wißenschaft, ohne Sitten, ohne Kunst, ohne Liebe, ohne Geist, und warlich auch ohne Buchstaben; kur2, ohne Alles, von w o aus sich die Welt entdeken ließe, w e n n gleich mit viel hochmüthigen Ansprüchen auf alles dieses. Sie freilich meinen, sie hätten die wahre und wirkliche Welt, und sie wären es eigentlich, die Alles in seinem rechten Zusammenhange nähmen. Möchten sie doch einmal einsehen, daß man jedes Ding, um es als Element des Ganzen anzuschauen, nothwendig in seiner eigenthümlichen Natur und in seiner höchsten Vollendung m u ß betrachtet haben. ( R R K G A I 2, 255)

Der eigene Gegenstand der Moral und der Philosophie ist das konkrete Handeln und Denken der „unendlichen und lebendigen Natur", „deren Symbol Mannichfaltigkeit und Individualität ist. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen. Nur so kann es innerhalb dieser Gränzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs." (RRKGA I 2, 213) Erst durch die „Universalisierung" durch oder mit Religion wird Moral und Philosophie ein „höherer Realismus" (RRKGA I 2, 213) gegeben. Diese „Universalisierung", die für Schleiermacher in den Reden noch „in der Tat anderswoher nicht zu nehmen ist" als aus der Religion, wird in den späteren Vorlesungen als Moment in die Philosophie (Dialektik) und Moral (Ethik) integriert. 15 Die Individualität und Unendlichkeit des Denkens und Handelns muss nicht über eine der Wissenschaft „externe" religiöse Anschauung immer wieder vergegenwärtigt werden, sondern klagt sich gewissermaßen selbst in Form des Streites ein. Dort wo reales Denken und Handeln aufeinandertreffen, entsteht Streit, und die „Systemsucht" oder das Bemühen um Einheit ist unter der Bedingung des Streites nicht hemmend, sondern konstitutiv für die Dynamik. Denn das Denken und Handeln müssen solange weiter „bearbeitet" werden, bis „wohlgeschlossene Reihen" entstehen, bis alle Widersprüche geklärt sind, bis alles Fremde (an)erkannt ist.

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Anschauung sieht „Mit diesem weiten Blik / und diesem Gefühl des Unendlichen [ . . . ] aber auch das an was außer ihrem eigenen Gebiete liegt, und enthält in sich die Anlage zur unbeschränktesten Vielseitigkeit im Urtheil und in der Betrachtung, welche in der That anderswoher nicht zu nehmen ist." (RRKGA I 2, 217). Die Universalisierungsaufgabe der Religion, gegen die sich Theunissen in einer seiner zehn Thesen zu Schleiermacher so vehement ausspricht, ist vom Stand der Dialektik- und Ethikvorlesungen Schleiermachers bereits überholt (THEUNISSEN, These 5).

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Obgleich Schleiermacher das „höchste Sinnbild der Religion" als Chaos unendlicher Anschauungen vorstellt und jede Anschauung individuell und als solche unmittelbar fur sich und einzeln ist, vertritt Schleiermacher in den Reden keine solipsistische Religionsauffassung. Im Gegenteil: Jeder, der Religion „hat", strebt danach, sie anderen mitzuteilen und sie in Gemeinschaft zu leben. Geselligkeit ist sogar ein „religiöses Element", für dessen Bildung zu sorgen ist. 16 Indem sich Anschauung ursprünglich in Gemeinschaft mitzuteilen strebt, birgt das Konzept der Anschauung zwei scheinbar einander widerstrebende Bestimmungen. Sie ist zum einen individuell und kann in keinerlei logischer Verbindung zu anderen Anschauungen stehen - auf der anderen Seite soll sie jedoch in religiöser Gemeinschaft mitteilbar sein. Bedeuten Verstehen und Gemeinschaft für die Anschauung nicht etwas vollkommen anderes als in diskursiver Rede, so muss sie jedoch aus sich heraustreten und allgemein werden. Trägt sie aber etwas Allgemeines an sich, so wäre sie nicht mehr „reine" religiöse Anschauung, reines Gefühl, sondern eine „gemischte" Tätigkeit, in der das anschauende Moment lediglich überwiegt. Was heißt also, den Ausführungen der Reden nach eine religiöse Anschauung mitteilen und verstehen? In welcher „Sprache" kann sich religiöse Anschauung mitteilen, worin besteht eine religiöse Gemeinschaft und Geselligkeit? Zwei erste Fragen auf dem Weg dieser Untersuchung sind die nach der Möglichkeit, Religion zu bilden und diese in religiöser Geselligkeit zu „teilen" bzw. gemeinsam zu erleben. Nachdem in der ersten und zweiten Rede die Eigenständigkeit der Religion und ihre Bedeutung für die Moral und Wissenschaft ausgeführt wurde, wendet sich die dritte Rede der Frage zu, wie Religion im einzelnen Menschen gebildet werden kann. Eine Bildung im Sinne des Lernens oder „Anbildens" wie im abstrakten Denken kann es in der Religion nicht geben. Denn der religiöse Sinn eines jeden kann wie Urteilskraft, Beobachtungsgabe und Kunstgefühl oder Sittlichkeit nur geweckt, nicht gelehrt werden. An die Stelle eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses tritt in der Religion Meisterund Jüngerschaft. Der Meister belehrt nicht durch Kritik, er vermehrt nicht die religiösen Anschauungen des Jüngers wie der Lehrer die Erkenntnis des Schülers - er zeigt, er stellt dar, und seine religiöse Darstellung hat für den Jünger die Funktion einer Initialzündung, durch die er sich der in ihm angelegten individuellen Art, das Universum anzuschauen, bewusst wird. Diese Initialzündung durch

Das Bewusstsein, das Universum nur auf individuelle, d.h. eingeschränkte Art fassen zu können, treibt den Anschauenden aus sich heraus zur Mitteilung: „Wie sollte er grade die Einwirkungen des Universums für sich behalten, die ihm als das größte und unwiderstehlichste erscheinen? Wie sollte er gerade das in sich festhalten wollen, was ihn am stärksten aus sich heraustreibt, und ihm nichts so sehr einprägt als dieses, daß er sich selbst aus sich allein nicht erkennen kann?" (RRKGA I 2, 267)

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die Mitteilung religiöser Anschauung macht den Jünger nicht abhängig von der individuellen Anschauung seines Meisters, sondern führt ihn zu sich selbst. 17 Die Öffnung des religiösen Sinns zur Entfaltung eigener religiöser Anschauung wird in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Dominanz des abstrakten Denkens unterdrückt, hinter dessen Maxime „alles muß verständlich sein" sich ein ganz anderes Konzept von Verständlichkeit verbirgt. Die Verständlichkeit, „so wie jenes betrieben wird" (RRKGA I 2, 253f.), besteht in einem Verstehen von Ursache und Wirkung, zu dem ein Unterscheiden notwendig ist. Diese unterscheidende, bestimmende Zuwendung des rationalen Denkens zerstört die religiöse Anschauung, die auf die Erkenntnis des Wesens, des Was gerichtet ist, die ein Ganzes auf individuelle Weise begreift: 18 Der Sinn strebt den ungetheilten Eindruk von etwas Ganzem zu faßen; was und wie etwas für sich ist, will er erschauen, und jedes in seinem eigenthümlichen Charakter erkennen: daran ist ihrem Verstehen nichts gelegen; das Was und Wie liegt ihnen zu weit, denn sie meinen es besteht nur in dem Woher und Wozu, in welchem sie sich ewig herumdrehen. (RRKGA I 2, 254)

In welcher Form aber kann eine einzelne Anschauung, die das Was und Wie zum Gegenstand hat, mitgeteilt werden, d.h. allgemein werden, ohne das individuelle Ganze ihres Inhaltes zu zerstören? Schleiermacher beschreibt die Mitteilung bzw. das Verstehen religiöser Anschauung im Gegensatz zum rationalen Denken als Verstehen und Mitteilen eines Gefühls. Jede Anschauung ist notwendig mit einem Gefühl verbunden, sodass jedes Verstehen in der Übermittlung eines individuellen Gefühls besteht. 19 Mit dieser Unterscheidung in das Verstehen eines Gedankens und das Verstehen eines Gefühls ist die Problematik jedoch nur neu formuliert und gibt keinen Aufschluss darüber, wie diese Mitteilung stattfinden kann. Die Mitteilung religiöser Anschauung findet in der Regel zwischen predigendem Priester und hörender Gemeinde statt: ein Priester bringt seine religiöse Anschauung monologisierend zur Darstellung, und die Gemeinde antwortet in 17 Diese Initialzündung, in der sich der religiöse Sinn öffnet, muss nicht unbedingt durch den „Katalysator" des Meisters geschehen. Bei der Öffnung des religiösen Sinns spielen Erlebnisse wie Tod und Geburt, die Schleiermacher als „durchgehauene Aussichten" bezeichnet, eine große Rolle. Sie erzeugen Gefühle, die den religiösen Gefühlen sehr nahe kommen und eine Art „Schematismus" der religiösen Anschauung darstellen (RRKGA I 2, 256). Diese Unterscheidung von Anschauung und Erkenntnis, wie sie Schleiermacher hier aufmacht, kommt in die Nähe der Spinozistischen Unterscheidung der zwei Erkenntnisarten Ratio und Intuition. Die intuitive Erkenntnis ist eine „Schau" auf einen Blick, eine Erkenntnis des individuellen Wesens und zugleich Erkenntnis Gottes. Die rationale Erkenntnis ist diskursiv und Erkenntnis der „Gemeinbegriffe". Vgl. RRKGA I 2, 250: „Unsere Meinungen und Lehrsäze können wir Andern wohl mittheilen, dazu bedürfen wir nur Worte, und sie nur der auffassenden und nachbildenden Kraft des Geistes: aber wir wißen sehr wohl daß das nur die Schatten unserer Anschauungen und unserer Gefühle sind, und ohne diese mit uns zu thcilen würden sie nicht verstehen was sie sagen und was sie zu denken glauben." Vgl. auch R R K G A I 2, 268.

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ritualisierten symbolischen Handlungen. Obgleich diese Mitteilung nicht in der Wechselrede besteht, in der jeder Teilnehmer selbst seine Gedanken zur Darstellung bringt, sind die hörenden Gemeindemitglieder für Schleiermacher nicht nur rezeptiv, eine fremde Anschauung in sich aufnehmend, sondern ebenso aktiv wie der predigende Priester. 20 Denn ebenso ursprünglich wie das Mitteilenwollen ist dem Anschauenden das Bedürfnis, zu hören und andere religiöse Anschauungen aufzunehmen. Dieses Aufnehmen- und Hörenwollen ist für Schleiermacher daher keine bloße Reaktion, sondern eine freie Tätigkeit: Wenn also von seiner Natur gedrungen der Religiöse nothwendig spricht, so ist es eben diese Natur die ihm auch Hörer verschafft. [...] Darum intereßirt ihn jede Äußerung derselben, und seine Ergänzung suchend, lauscht er auf jeden Ton den er für den ihrigen erkennt. So organisirt sich gegenseitige Mittheilung, so ist Reden und Hören J e d e m gleich unentbehrlich. ( R R K G A I 2, 268)

In einer tatsächlichen Mitteilung religiöser Anschauung lassen sich aktiver und passiver Part nicht mehr voneinander unterscheiden. 21 Das Hören ist Wirkung der Rede und insofern Reaktion, zugleich aber eine Tätigkeit aus freiem Entschluss; das Reden ist zum einen ein freier Entschluss, zugleich aber auch Wirkung des Hörenden. Dieses Verhältnis von Redner und Hörer macht die „wahre religiöse Geselligkeit" aus: Ich hoffe Ihr seid aus dem vorigen mit mir einverstanden darüber daß in der wahren religiösen Geselligkeit alle Mittheilung gegenseitig ist, das Princip, welches uns zur Äußerung des eigenen antreibt, innig verwandt mit dem, was uns zum Anschließen an das Fremde geneigt macht und so Wirkung und Gegenwirkung aufs unzertrennlichste mit einander verbunden. ( R R K G A I 2, 274)

Bezogen auf den Inhalt der Darstellung religiöser Anschauung bedeutet dies, dass der Priester mit seiner Anschauung zugleich auch die der Gemeindemitglieder zur Darstellung bringt: er ist ihr Organ. Und die Gemeindemitglieder verstehen die Darstellung des Priesters im gleichen Maße, wie sie ihre religiöse Anschauung in dieser Darstellung erkennen. Priester und Gemeindemitglieder verschmelzen in der Mitteilung religiöser Anschauung zu einer Einheit:

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Ein einseitiges Redner-Hörer-Verhältnis, bei dem es nur einen aktiven Part gibt, der sich zur Darstellung bringt, kennzeichnet hingegen die „negativ Religiösen", die, die glauben wollen, selbst aber noch keine Religion besitzen und sich bereitwillig passiv verhalten in der Hoffnung, etwas zu erhalten: „Alle wollen empfangen und nur einer ist da der geben soll; völlig paßiv laßen sie auf einerlei Art in sich einwirken durch alle Organe, und helfen höchstens dabei selbst von innen nach soviel sie Gewalt über sich / haben, ohne an eine Gegenwirkung auf Andere auch nur zu denken." (RRKGA 1 2, 274) Diese Darstellung des Hörer-Redner-Verhältnisses in der religiösen Mitteilung als aktiv-passive Einheit entspricht dem, was Schleiermacher in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens als „vollendete Wechselwirkung" bezeichnet (siehe Kapitel 2.4.).

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Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung: berliner Schriften (1798-1801) [ . . d e r geübte Sinn der Gemeine begleitet überall den seinigen, und wenn er zurükkehrt von seinen Wanderungen durchs Universum in sich selbst, so ist sein Herz und das eines Jeden nur der gemeinschaftliche Schauplatz deßelben Gefühls. Dann entgegnet ihm das laute Bekenntniß von der Übereinstimmung seiner Ansicht mit dem was in ihnen ist [...]. ( R R K G A I 2, 2 6 9 ) 2 2

Die „Antwort" der Gemeindemitglieder findet in einer gemeinsamen symbolischen Handlung statt, und Schleiermacher beschreibt diese Form religiöser Geselligkeit wie einen Akt, bei dem die Form ihrem Inhalt gegenüber völlig äußerlich bleibt, denn sie benennt, aber sie bestimmt nicht. Die gegenseitige Mitteilung in der religiösen Geselligkeit der Predigt geschieht in Symbolen (nicht in Begriffen), die zur Form eines gemeinsamen Erlebens werden. Die Einsicht in die „Willkür" dieser äußeren Form ist Voraussetzung dafür, dass ihr Gehalt nicht missverstanden wird. Diese Art des „Missverstehens" ist für Schleiermacher in der kirchlichen Praxis an der Tagesordnung und kennzeichnet wiederum die bloß „negativ Religiösen", die sich am Äußeren festhalten: Verständen sie sich [die negativ Religiösen, S. S.] auf die Religion, so würden sie aus ihrem eigenen Gefühl wißen, daß jene symbolischen Handlungen, von denen ich gesagt habe, daß sie der wahren religiösen Geselligkeit wesentlich sind, ihrer Natur nach nichts sein können als Zeichen der Gleichheit des in Allen hervorgegangenen Resultats, Andeutung der Rükkehr zum gemeinschafüichen Mittelpunkt, nichts als das vollstimmigste Schlußchor nach allem was Einzelne rein und kunstreich mitgetheilt haben: davon aber wißen sie nichts, sondern sie sind ihnen etwas für sich bestehendes und nehmen bestimmte Zeiten ein. ( R R K G A I 2, 2 7 6 ) 2 3

Mitteilen und Verstehen als gemeinsames Erleben, wie es Schleiermacher hier darstellt, zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass es sich jeder „Kontrolle", jeder „Rückkopplung" entzieht. Die Frage, ob etwas verstanden oder missverstanden wurde, kann eigentlich weder vom einzelnen noch von einem äußeren Standpunkt beurteilt werden, da einziger Maßstab jedem einzelnen nur seine eigene religiöse Anschauung ist. Wesentlich problematischer als im gemeinsamen Erleben symbolisch vermittelter religiöser Anschauung wird die Unterscheidung von Denken und Anschau22

Diejenigen Menschen, die in der Darstellung ihrer religiösen Anschauung eine solche Wechselbeziehung mit anderen entstehen lassen können, bezeichnet Schleiermacher als Priester oder Mittler, deren besondere Qualität Schleiermacher in der Apologie als „zur Ruhe gebrachte Mischung" der beiden entgegengesetzten Kräfte hervorgehoben hat (RRKGA I 2, 192). Mittler können 23 Dichter, Redner oder Künstler sein (RRKGA I 2,194). Indem Darstellung und Verständnis religiöser Anschauung eine Einheit bilden sollen, und die Gefahr, den religiösen Text als Darstellung diskursiver Rede misszuverstehen im geschriebenen Text größer ist als in der gesprochenen Rede, stellt Schleiermacher die Bedeutung der Schrift hinter der des mündlichen Vortrags zurück. Die Schrift ist nicht mehr als „ein Mausoleum der Religion ein Denkmal [ . . . ] . Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte." (RRKGA I 2, 242)

Universalisierung durch Religion und die Mitteilbarkeit religiöser Anschauung

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ung dort, wo es um die Bildung von Religionsgemeinschaften geht, deren Gemeinschaft sich auch nach außen durch etwas auszeichnen muss. In einer Religion kommen nach Schleiermacher diejenigen Menschen zusammen, deren religiöse Anschauung oder deren religiöser Sinn einander ähnlich sind. Die Religion, die sie gemeinsam bilden, ist selbst ein Individuum, und aus der unendlichen Vielfalt der religiösen Anschauungen ergibt sich eine unendliche Vielfalt der verschiedenen Religionen, von denen keine die andere ersetzen oder vereinnahmen kann. 2 4 Die Einheit einer jeden Religion, die „allgemeine Idee", die das „Wesen einer bestimmten Form der Religion ausmacht" (RRKGA I 2, 298), besteht in einer zentralen Anschauung. Dem Menschen, der einer Religion angehört, ist diese religiöse Anschauung diejenige Initialzündung gewesen, mit der sich sein religiöser Sinn geöffnet hat. Dies bedeutet für Schleiermacher jedoch nicht, dass die religiösen Anschauungen der Religionsmitglieder „leere Dubletten" (RRKGA I 2, 307) ein und derselben Anschauung sind, denn jeder hat diese zentrale religiöse Anschauung auf seine individuelle Weise. Das auf je eigene Art angeschaute Zentrum jeder Religion bildet die „Fundamentalanschauung" eines jeden, sie bestimmt alle weitere Form, mit der er die religiöse Welt wahrnimmt. Die erste bestimmte religiöse Ansicht, die in sein Gemüth mit einer solchen Kraft eindringt, daß durch einen einzigen Reiz sein Organ fürs Universum zum Leben gebracht und von nun an auf immer in Thätigkeit gesezt wird, bestimmt freilich seine Religion; sie ist und bleibt seine Fundamental-Anschauung in Beziehung auf welche er Alles ansehen wird, und es ist im Voraus bestimmt, in welcher Gestalt ihm jedes Element der Religion sobald er es wahrnimmt, erscheinen muß. ( R R K G A I 2, 305)

Die Organisation religiöser Anschauungen „um" eine individuell-allgemeine Fundamentalanschauung, in der sich die Gemeinschaft einer Religion ausdrückt, ist jedoch nicht nur möglich, sondern sogar Bedingung der Möglichkeit dafür, überhaupt individuelle Anschauung zu haben. Das In-einer-Religion-Leben, insofern man eine Anschauung hat, vergleicht Schleiermacher mit dem In-einerbestimmten-Welt-Leben, sofern man existiert.^ Indem sich verschiedene reügiö-

25

Vgl. RRKGA I 2, 299: „Warum habe ich angenommen, daß die Religion nicht anders als in einer unendlichen Menge durchaus bestimmter Formen vollständig gegeben werden kann? Nur aus Gründen welche als ich vom Wesen der Religion sprach entwikelt worden sind. Weil nehmlich jede Anschauung des Unendlichen völlig für sich besteht, von keiner andern abhängig ist und auch keine andere nothwendig zur Folge hat. [...] so kann die ganze Religion unmöglich anders existiren als wenn alle diese verschiedne Ansichten jeder Anschauungen die auf solche Art entstehen können wirklich gegeben werden; und dies ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedner Formen, deren jede durch das verschiedene Princip der Beziehung in ihr durchaus bestimmt, und in deren Jeder derselbe Gegenstand ganz anders modiflciert ist, das heißt welche sämmtlich wahre Individuen sind." Vgl. RRKGA I 2, 308: „So wie kein Mensch als Individuum zur Existenz kommen kann ohne zugleich durch denselben Actus auch in eine Welt, in eine bestimmte Ordnung der Dinge und unter einzelne Gegenstände versezt zu werden; so kann auch ein religiöser Mensch zu seiner Individualität nicht gelangen, er wohne denn durch dieselbe Handlung sich auch ein in irgend eine be-

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se Anschauungen ähnlich sind und auf eine individuell-allgemeine Fundamentalanschauung beziehen, müssen sie selbst jedoch, wenn auch nur in geringem Maße, allgemein sein. Sind Moral und Philosophie auf die „Universalisierung" durch Religion angewiesen, um entgegen dem systematisierenden, nach Allgemeinheit strebenden Denken und Handeln immer wieder die Unvereinnahmbarkeit der Individualität und die Andersheit des anderen ins Feld zu fuhren, so zeigen Schleiermachers Ausführungen, dass auch die religiöse Anschauung, will sie sich mitteilen und in Gemeinschaft treten, sich veräußern und mithin auch allgemein werden muss. Die Wahl der äußeren Form der Darstellung religiöser Anschauung ist jedem prinzipiell offen, es gibt für Schleiermacher keine Sprache, in der sich religiöse Anschauung nicht ausdrücken kann. 2 6 Dennoch gibt es Formen, in der sich religiöse Anschauung besser mitteilen lässt, als in anderen. Neben der Form der lebendigen (Kanzel) Rede 2 7 hebt Schleiermacher vor allem den künstlerischen Ausdruck als besonders geeignet für die Darstellung religiöser Inhalte hervor. 28 Kunst und Religion sind „wie zwei befreundete Seelen" (RRKGA I 2, 263), denen ihre Verwandtschaft noch unbekannt ist. Die Verwandtschaft zwischen Kunst und Religion drückt sich in den Reden immer wieder in Analogien aus. So soll ζ. B. das Universum wie ein Künsder vorgestellt werden, der ununterbrochen Individuen schafft 2 9 , und die Antwort der Gemeindemitglieder ist wie Musik, „gleichsam ein höheres Chor" (RRKGA I 2, 269). Kunst und Religion kommen überein in ihrer Opposition zum begrifflichen und systematischen Denken und in Zuwendung zum Individuellen. Wie der religiöse Sinn kann der Kunstsinn nicht gelehrt, sondern nur geweckt werden, 3 0 und wie die religiöse Anschauung, so wird auch die künstlerische Äußerung missverstanden, wendet man sich ihr mit begrifflich analysierendem Verstand zu, der das unsystematische Ganze, das ein stimmte Form der Religion. Beides ist die Wirkung eines und deßelben Momentes, und kann also Eins vom Andern nicht getrennt werden." Vgl. auch RRKGA I 2, 311: „Wenn eine bestimmte Religion nicht mit einem Faktum anfangen soll, kann sie gar nicht anfangen: denn ein Grund muß doch da sein, und es kann nur ein subjektiver sein, warum irgend etwas hervorgezogen und in die Mitte gestellt wird; und wenn eine Religion nicht eine bestimmte sein soll, so ist sie gar keine, sondern nur loser unzusammenhängender Stoff." ^

27

Vgl. R R K G A I 2, 326: „Ihr fragt, welche Sprache geheim genug sei, die Rede, die Schrift, die Tat, die stille Mimik des Geistes? Jede, antworte ich, und Ihr seht, ich habe die lauteste nicht gescheut. In jeder bleibt das Heilige geheim, und vor den Profanen verborgen." Vgl. RRKGA I 2, 269. Die Rede, die Schleiermacher in der vierten Rede als einzige Form religiöser Mitteilung bezeichnet, meint nicht nur diskursive Rede, sondern umfaßt im weiten Verständnis von Rede auch jede künstlerische Äußerung: „Darum ist es unmöglich Religion anders auszusprechen und miuutheilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache, und willig dazu nehmend den Dienst aller Künste, welche der flüchtigen und beweglichen Rede beistehen können." (RRKGA 1 2, 269)

29 30

Vgl. RRKGA I 2, 228. Vgl. RRKGA 1 2 , 251.

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Kunstwerk darstellt, als Ganzes nicht fassen kann und zerstückelnd zerstört. 31 Der Zusammenhang, der zwischen den einzelnen religiösen Anschauungen entsteht, ist wie in der Kunst kein notwendiger, logischer, sondern ein kreativer und willkürlicher, der durch Phantasie gestiftet wird. 32 Trotz der großen Nähe von Religion und Kunst setzt Schleiermacher die „befreundeten Seelen" in den Reden nicht identisch. Weder findet die religiöse Anschauung allein in der Kunst Ausdruck, 33 noch ist alle Kunst zugleich auch Ausdruck einer religiösen Anschauung. Die Religion ist im Gegensatz zur Kunst nicht bloß „Phantasie und Dichtung" und unterscheidet sich von dieser, indem religiöse Anschauung „wahr" ist. Was Kunst allerdings jenseits der Religion zum Ausdruck bringt und in wiefern auch die Kunst der Religion bedarf, um nicht in Virtuosität zu stagnieren, bleibt im Kontext der Reden offen. 34

2.2. Die Wechselwirkung von Weltbildung und Selbstbildung als Wechselwirkung von Darstellen und Erkennen - „Monologen " (1800)35 Obwohl man einzelne Grundgedanken der Monologen in den Gedankenheften ab 1798 finden kann, sind die Monologen kein Werk, das Schleiermacher lange vor Niederschrift in literarischen Skizzen und Vorarbeiten vorbereitete. Schleiermacher beginnt sie 1799 und schreibt sie in relativ kurzer Zeit in einem Zug. 36 „Nichts ist mir so unvermuthet entstanden", kommentiert Schleiermacher in einem Brief an Henriette Herz 1802 die Entstehung der Monologen 3 7 Sie sind, wie die Reden der Form nach keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eher literarisch, „ein lyrischer Extract aus einem permanenten Tagebuch" (Brief an Brinckmann vom 19.4.1800 BR/4 64), das für ein breites Publikum gedacht war, 38 enthalten aber wesentliche Gedanken der späteren Ethikvorlesungen, indem sie eine „Lösung" der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit in der unendlichen Wechsel-wirkung von Selbst- und Weltbildung in Aussicht stellen. In verschiedenen Briefen charakterisiert Schleiermacher das Grundanliegen der Monologen als den Versuch, Philosophie und Leben miteinander zu verbinden:

Vgl. RRKGA 1 2, 254. Vgl. RRKGAI2, 216. 33 Vgl. RRKGA I 2, 261 f. 34 Ähnliche Verwandtschaft und Unterschiede zwischen Religion und Kunst entwirft Schleiermacher in den Vorlesungen zur Ästhetik (vor allem die von 1819 u. 1825). In der folgenden Auseinandersetzung beziehe ich mich auf die erste der vier (überarbeiteten) Auflagen der Monologen. Zu der inhaltlichen Genese der vier Auflagen vgl. MECKENSTOCK 1991, Die Wandlungen.... 36 Vgl. MECKENSTOCK 1988, Einleitung, XVII. 37 r 1802. •20 BtR 1, 356, Brief vom 16. Sept. JO Vgl. Brief an den Verleger Sack vom 8.11.1799, ßrfCGA V 3, 231, Brief Nr. 717. 31

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Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung: Berliner Schriften (1798-1801) Es ist ein V e r s u c h d e n p h i l o s o p h i s c h e n S t a n d p u n k t , w i e es die Idealisten n e n n e n ins L e b e n ü b e r z u t r a g e n u n d d e n C h a r a k t e r d a r z u s t e l l e n , d e r n a c h m e i n e r Idee dieser Phil o s o p h i e entspricht. (Brief an B r m c k m a n n v o m 2 3 . 1 2 . 1 7 9 9 - 1.4.1800, B r K G A V 5, 316, B r i e f N r . 7 5 8 ) 3 9

Mit diesem Anliegen set2t sich Schleiermacher zum einen gegen die Kantische Sollensethik ab, deren moralische Forderungen für Schleiermacher allgemein und abstrakt bleiben, zugleich jedoch auch gegen Fichte, dessen Idealismus ohne Rücksicht auf das Leben und seine individuellen Erscheinungen entwickelt werde. 40 Die „Lösung" der Spannung zwischen Leben und Philosophie, des Gegensatzes zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, Notwendigkeit und Freiheit, die Schleiermacher in den Monologen vorschlägt, trägt hingegen stark Spinozistische Züge, ohne in der Philosophie Spinozas aufzugehen. Das Gedankenmodell, von dem Schleiermacher ausgeht und an dem sich seine Überlegungen zur Freiheit und Sittlichkeit entfalten, ist die ursprüngliche Dualität zweier Welten: Einer äußeren Welt der Notwendigkeit, die einer blinden Mechanik gehorcht und in der ein beständiger Wechsel der Erscheinungen dem Menschen jede Selbstbestimmung verweigert, steht eine innere Welt der freien Selbstanschauung und Selbstbildung gegenüber. Die äußere Welt ist die einem ständigen Wandel unterliegende Welt der Körper, die vom Menschen im Auf und Ab seiner Gefühle und Vorstellungen, seiner Chancen, seinem Pech und seiner ständig wechselnden Begegnungen mit Menschen erlebt wird. In dieser äußeren Welt erfahrt der Mensch seine Eigentümlichkeit als Begrenzung, jede Tätigkeit begrenzt die Tätigkeit des anderen. „Es stößt die Freiheit an der Freiheit sich, und was geschieht, trägt der Beschränkung und Gemeinschaft Zeichen." (MoKGA I 3, 10). Die Gesetzmäßigkeit, die in diesem Wandel erschlossen werden kann, ist die von Ursache und Wirkung, alles folgt dem Gesetz strenger Notwendigkeit. 41 In dieser äußeren Welt, die keine Antwort auf die Frage nach dem Wesen oder dem Zweck geben kann, erscheint sich der Mensch als Folge heterogener Momente, deren Verschiedenheit er nur als Widerspruch begreifen kann. Sein Selbstbild ist

39 40

41

Eine ähnliche Stelle findet sich im Gedankenheft III vgl. GIIIKGAI 2,127, Nr. 35. In Bezug auf seine Selbstanzeige erläutert Schleiermacher dem Verleger Spener in einem Brief vom 25.12.1799, BrfCGA V 3, 321, Brief Nr. 762: „1) daß die Monologen etwas anderes enthalten als was etwa jeder Fichteaner vorzubringen pflegt 2.) daß sie gegen alle Parteien angehn und also etwas eigenthümliches sein müßetl 3.) daß sie sich auf ihre Art mit wichtigen praktischen Gegenständen beschäftigen [...]." Vgl. auch den Brief an Brinckmann zum Jahreswechsel 1799/1800, BiKGA V 3, 313f.: „Fichte - der nun auch nicht mehr hier ist - habe ich freilich kennen gelernt er hat mich aber nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm - wie er es auch als Theorie aufstellt - ganz getrennt, seine n a t ü r l i c h e D e n k a r t hat nichts Außerordentliches, und so fehlt ihm so lange er sich auf dem g e m e i n e n S t a n d - P u n k t befindet Alles was ihn für mich zu einem interessanten Gegenstand machen könnte." Vgl. auch den Brief an den Theologen Schwarz vom 28.3. 1801, BrKGA V 5, 75f., Brief 1033. Schleiermachers Monologen erscheinen im übrigen im selben Jahr wie Fichtes Bestimmungen des Menschen. Vgl. Λ-foKGA I 3, 7.

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eine willkürliche Selektion einzelner erinnerter Momente, das nur ein Konglomerat aber kein Ganzes ergeben kann. 4 2 Entgegen dieser äußeren Welt des Gegeneinanders, der Notwendigkeit und selektiver Selbstbilder ist die innere Welt die eines Miteinanders in Freiheit. Freiheit ist unmittelbar an die Einsicht in die eigene Individualität gebunden. Mit der Einsicht in den unverwechselbaren Platz, der dem Einzelnen im Ganzen der Menschheit zukommt, wird jeder andere Mensch zur „Ergänzung", und das vermeintliche Gegeneinander wird als Miteinander erkannt: „Im Innern ist alles Eins, ein jedes Handeln ist Ergänzung nur zum andern, in jedem ist das andere auch enthalten." (AioKGA I 3, 12). Freiheit ist keine Freiheit der Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern Freiheit des Individuums, insofern es Teil der sich in Freiheit verwirklichenden unendlichen Menschheit ist, im anderen als Repräsentant der Menschheit verwirklicht sich so auch meine Freiheit: Woher entspringt denn jener Wechsel des Menschlichen, den sie so drükend fühlen, als eben aus der Gemeinschaft solcher Freiheit? So ist es also der Freiheit Werk und meines. [...] Was aus der Menschen gemeinschaftlichem Handeln hervorgehen kann, soll alles an mir vorüber ziehn, mich regen und bewegen um von mir wieder bewegt zu werden, und in der Art wie ichs aufnehme und behandle will ich immer meine Freiheit finden, und äußernd bilden meine Eigenthümlichkeit. (MoKGA I 3, 43)

Könnte man die äußere Welt der Notwendigkeit mit Kants Reich der Erscheinungen vergleichen, so setzt Schleiermacher die innere Welt bewusst gegen Kants Reich der Freiheit ab, denn das Miteinander wird eben nicht durch eine in allen gleiche Vernunft garantiert. Lange genügte es auch mir nur die Vernunft gefunden zu haben, und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste anbetend, glaubte ich es gebe nur Bin Rechtes für jeden Fall, es müße das Handeln in Allen daßelbe sein, und nur weil Jedem seine eigne Lage, sein eigner Ort gegeben sei, unterscheide sich Einer vom Andern. Nur in der Mannigfaltigkeit der äußern Thaten offenbare sich verschieden die Menschheit; der Mensch, der Einzelne sei nicht ein eigenthümlich gebildet Wesen, sondern nur ein Element und überall derselbe. So treibts der Mensch! wenn er die unwürdige Einzelheit des sinnlichen thierischen Lebens verschmähend das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit gewinnt, und vor der Pflicht sich niederwirft, vermag er nicht sogleich auch zu der höhern Eigenheit der Bildung und der Sittlichkeit empor 42

Vgl. AfeKGA I 3, 8; vgl. auch AioKGA I 3, 12: „So sieht der Sinnliche mit seinem äußern Thun und äußern Denken auch Alles einzeln nur und endlich. Er kann sich selbst nicht anders faßen als einen Inbegrif von flüchtigen Erscheinungen, da immer eine die andere aufhebt und zerstört, die nicht zusammen zu begreifen sind; ein volles Bild von seinem Wesen zerfließt in tausend Widersprüchen ihm."

^

Vgl. auch AioKGA I 3, 10: „Ja, du bist überall das erste, heiige Freiheit! du wohnst in mir, in Allen; N o t w e n d i g k e i t ist außer uns gesezt, ist der bestimmte Ton vom schönen Zusammenstoß der Freiheit, der ihr Dasein verkündet. Mich kann ich nur als Freiheit anschaun; was nothwendig ist, ist nicht mein Thun, es ist sein Widerschein, es ist die Anschauung der Welt, die in der heiligen Gemeinschaft mit Allen ich erschaffen helfe."

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zu dringen, und die Natur, die sich die Freiheit selbst erwählt, zu schauen und zu verstehn. (MoKGA I 3, 17f.) Gegen Kants gesetzgebende praktische Vernunft, die Schleiermacher als Gleichsetzung des Nichtgleichen, als eine leere Abstraktion vom Eigentümlichen des Handelnden und Handelns kritisiert und ablehnt, kann für Schleiermacher der Weg zu einem (lebendigen) Allgemeinen oder Universellen nur in der Zuwendung zum Eigentümlichen oder Individuellen gehen. Ist die Erkenntnis, dass meine Individualität Teil eines unendlichen Ganzen ist, notwendig Voraussetzung meiner Freiheit, so kann sie erst mit der Einsicht, wie ich als Individuum Teil eines Ganzen bin, realisiert werden. Was ich aber für ein Individuum bin, das erschließt sich mir erst progressiv. Die äußere Welt mit ihren wechselnden Begebenheiten ist der inneren Welt „ S t o f f und Gegenstand, an dem das Individuum sich erfahrt. Dabei ist jede Lebenssituation hinsichtlich ihrer Funktion für die Ausbildung des inneren Wesens gleich wertvoll. Unabhängig davon, ob ich leide oder mich freue - drastischer formuliert: unabhängig davon, ob ich in Ketten liege oder nicht - jeder neue äußere Umstand offenbart mir einen neuen Aspekt meines Wesens und ein neues Gegenüber, von dem ich mich unterscheide: Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille [...]. Begegne denn, was da wolle! So lang ich alles auf diesen ganzen Zwek beziehe, und jedes äußere Vehältniß, jede äußere Gestalt des Lebens mich gleichgültig läßt, und alle mir gleich werth sind, wenn sie nur meines Wesens Natur ausdriiken, und zu seiner innern Bildung, seinem Wachsthum mir neuen Stoff aneignen; so lange des Geistes Auge auf dies Ganze allgegenwärtig gerichtet ist, ich jedes Einzelne nur in diesem Ganzen, und in diesem alles einzelne erblike, nie aus dem Bewußtsein verliere, was ich unterbreche, und immer auch das noch will was ich nicht thue, und was ich thue auf alles was ich will beziehe: so lange beherrscht mein Wille das Geschik, und wendet Alles, was es bringen mag zu seinen Zweken mit Freiheit an. Nie kann solchem Wollen sein Gegenstand entzogen werden, und es verschwindet beim Denken eines solchen Willens der Begrif des Schiksals. (MoKGA I 3, 42f.) 44 Der Einzelne ist frei, insofern er Teil einer sich verwirklichenden Menschheit ist und bei der sukzessiven Einsicht in dieses Teilhaben frei von äußeren Umständen.

^

Vgl. auch MoKGA I 3, 11: „Wie dem starken gesunden Geist der Schmerz die Herrschaft über seinen Leib nicht gleich entreißet: so fühl auch ich mich frei beseelend und regierend den rohen Stoff, gleichviel ob Schmerz ob Freude folge. Es zeigen beide das innere Leben an, und inneres Leben ist des Geistes Werk und freie That.' 4 Vgl. auch ΛίοΚΟΑ I 3, 44: „Wie sollt ich nicht des Neuen und Mannigfachen mich erfreun, wodurch sich neu und immer anders die Wahrheit meines Bewußtseins mir bestätigt. Bin ich meiner selbst so sicher, daß ich deßen nicht bedürfte? daß nicht Leid und Freude und was sonst die Welt als Wohl und Wehe bezeichnet mir gleich willkommen müßten sein, weil jedes auf eigne Weise diesen Zwek erfüllt und meines Wesens Verhältniße mir offenbart?"

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Viele Stellen der Monologen legen nahe, dass sich die innere Welt an der äußeren als ihrem Gegenstand bildet, aber „nur" Erkenntnis ist und auf die äußere Welt, so ungehindert sie sich von ihr entfalten kann, auch keinen Einfluss nehmen kann. Ein solcher Einfluss auf die äußere Welt wird mit fortlaufender Reflexion der Monologen nicht nur in Aussicht gestellt, die wechselseitige Durchdringung beider Welten stellt gerade mit Blick auf die späteren Ethikvorlesungen die „Pointe" der Schleiermacherschen „Lösung" der Freiheitsantinomie dar: „Es ist das höchste für ein Wesen wie meines, daß die innere Bildung auch übergeh in äußre Darstellung, denn durch Vollendung nähert jede Natur sich ihrem Gegensaz." (MoKGA I 3, 52) Der Theologe Christian Schwarz, der bereits in seiner Rezension der Reden die fehlende Wechselwirkung von Religion, Moral und Philosophie anmerkte, kritisiert an den Monologen den Mangel „die Wechselwirkung nämlich zu zeigen zwischen dem idealistischen und wirklichen Leben, zwischen dem bildenden Selbstanschauen des Gemüthes und dem thätigen Wirken auf der Welt, zwischen der inneren Würde und der äußeren Rechtschaffenheit, jene Wechselwirkung, worin das Wesen der Tugend besteht". 45 Tatsächlich fallen die Stellen, in denen Schleiermacher die Vermitdung von äußerer und innerer Welt beschreibt, sehr vage und eher erbaulich als aufschlussreich aus: Bewege Alles in der Welt, und richte aus was du vermagst; gieb dich hin dem Gefühl deiner angebohrnen Schranken, bearbeite jedes Mittel der geistigen Gemeinschaft; stelle dar dein Eigenthümliches, und zeichne mit deinem Geist alles was dich umgiebt; arbeite an den heiligen Werken der Menschheit, ziehe an die befreundeten Geister: aber immer schaue in dich selbst, wiße was du thust, und in welcher Gestalt dein Handeln einhergeht. (MoKGA I 3, 13) 4 6

Aus dem dritten Monolog - überschrieben mit „Weltansicht" - lässt sich allerdings erschließen, wie eine solche wechselseitige Bildung von innerer und äußerer Welt (mithin auch von Erkennen und Handeln) aussehen kann. Schleiermacher wendet sich in diesem dritten Monolog verschiedenen Begriffen der menschlichen Gemeinschaft zu, in denen sich eine Interpretation des Menschen niedergeschlagen hat, die auf der „äußeren" Weltsicht beruht. Diesen Begriffen wird eine Neubestimmung entgegengesetzt. Die Handlung der inneren Welt besteht zunächst „nur" in Erkenntnis, die aber das konkrete äußere Miteinander der Menschen betrifft und als „Umwertung" zentraler Begriffe auf die äußere Welt wirken, indem sie einen neuen Orientierungsrahmen anbieten und „Gegenstände" neu bestimmen. Die äußere Welt wirkt auf die innere, indem sie der Selbsterkenntnis den „ S t o f f bietet, Situationen und Gegenstände schafft, die innere Welt

45

^

Zitiert nach M E C K E N S T O C K 1988 Einleitung, XXXVII. Vgl. MoKGA I 3, 13: „Kann das heiligste innerste Denken des Weisen zugleich ein äußeres Handeln sein, hinaus in die Welt zur Mittheilung und Belehrung: warum soll denn nicht äußeres Handeln in der Welt, was es auch sei, zugleich sein können ein inneres Denken des Handelns?"

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wirkt auf die äußere, indem sie diesen Stoff, diese Gegenstände erkennt bzw. (neu) interpretiert. 47 Der Begriff der Selbstbildung, wie er in den Monologen entworfen wird, ist keine einfache Tätigkeit, sondern ein Wechselverhältnis von Erkennen und Handeln oder Erkennen und „Darstellen", und indem jede Selbstbildung nicht nur Erkennen, sondern auch „Darstellung" oder Handlung ist, wird jede Selbstbildung zur Weltbildung. 48 Freiheit ist so nicht nur progressive Einsicht in den individuellen Platz, der einem im Ganzen der Menschheit zukommt, eine Freiheit innerer Selbsterkennt-

^

Zu diesen Begriffen, deren „Umwertung" Schleiermacher im dritten Monolog vornimmt, gehören der des Staates, des Gemeinwesens und der der Freundschaft und liebe. So sollen beispielsweise die Staatsgebilde als Individuen betrachtet werden, die der Eigentümlichkeit ihrer Staatsbürger Rechnung tragen und deren Entfaltung Raum lassen. Stattdessen wird derjenige Staat als der beste betrachtet, dessen Dasein am wenigsten empfunden wird und der das „Gebrechen" menschlicher Individualität am besten verbergen und kompensieren kann: „[...] daß Alle glauben, der sei der beste Staat, den man am wenigsten empfindet, und der auch das Bedürfniß, daß er da sein müße, am wenigsten empfinden laße. Wer so das schönste Kunstwerk des Menschen, wodurch er auf die höchste Stufe sein Wesen stellen soll, nur als ein nothwendiges Uebel betrachtet, als ein unentbehrliches Maschinenwerk um seine Gebrechen zu verbergen, und unschädlicher zu machen, der muß ja das nur als Beschränkung fühlen, was ihm den höchsten Grad des Lebens zu gewähren bestimmt ist. Ο schnöde Quelle solcher großen Uebel, daß nur für äußere Gemeinschaft der Sinnenwelt Sinn bei den Menschen zu finden ist, und daß nach dieser sie Alles meßen und modeln wollen. In der Gemeinschaft der Sinnenwelt muß immer Beschränkung sein [···]·" (MoKGA 1 3, 33f.). Das oft praktizierte und rein äußerliche Verständnis von Freundschaft, gegen das sich Schleiermacher nicht nur im dritten Monolog wendet, versucht die innige Gemeinschaft zweier Menschen als Angleichung des einen an den anderen zu erreichen und gibt Selbstaufopferung, nicht Selbstbildung als Ideal aus: „So muß jeder von seiner Eigenheit dem Andern opfern, bis beide sich selber ungleich nur einander ähnlich sind, wenn nicht ein fester Wille das Verderben aufhält, und lange zwischen Streit und Eintracht die Freundschaft kränkelt, oder plözlich abreißt. [...] So gehn der Beßern Viele umher, kaum noch zu kennen der Grundriß des eignen Wesens, beschnitten von der Freunde Hand, und überklebt mit fremden Zusaz." (MoKGA 1 3, 32) Selbstbildung, sich im anderen als Teil der Menschheit und im anderen sich selbst erkennen, bedeutet keine Einebnung der Differenzen, sondern gerade eine Anerkennung der Andersheit des Anderen: „Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist. [...] Nur wenn der Mensch im gegenwärtgen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen." (MoKGA I 3, 21f.) In dieselbe Richtung geht die Kritik am Konzept der Liebe, in der, verstanden als Angleichung und Aufopferung, der Partner sich notwendig selbst nihiliert (vgl. MoKGA I 3, 33). Die liebende Gemeinschaft als Anerkennung der Freiheit und Andersheit des anderen thematisiert Schleiermacher unter dem Begriff der Schamhaftigkeit ausführlich in den Vertrauten Briefen. Vgl. MoKGA I 3, 11: „Und war mein Thun darauf gerichtet, die Menschheit in mir zu bestimmen, in irgend einer endlichen Gestalt und festen Zügen sie darzustellen, und so selbst werdend Welt zugleich zu bilden, indem ich der Gemeinschaft freier Geister ein eignes und freies Handeln darbot: es bleibt daßelbe dem darauf gewandten Blik, ob nun unmittelbar etwas daraus entstand, das gleich mir selbst als Welt begegnet, ob mein Handeln gleich dem Handeln eines Andern sich verband, ob nicht. Mein Thun war doch nicht leer, bin ich nur in mir selbst bestimmter und eigener geworden, so hab ich durch mein Werden auch Welt gebildet, ob nun früher oder spät das Handeln eines Andern anders und neu auf meines trift und sichtbare That vermählend stiftet."

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nis, frei von äußeren Zwängen, sondern Freiheit ist wesentlich Bildung zur Individualität bzw. Bildung der Menschheit, denn jedes Erkennen ist zugleich ein Handeln und in demselben Maß, wie ich mir meine Individualität erschließe, bilde ich mich erst zur Individualität. In diesem doppelten Wechselverhältnis von Erkennen und Darstellen, Selbstbildung und Weltbildung spricht sich bereits der zentrale Gedanke der Schleiermacherschen Ethik aus, obgleich er in den Monologen durch den pathetisch-poetisierenden Stil mehr verdeckt als systematisch entwickelt wird.4'^ In einem Brief an Brinckmann vom 4. Januar 1800 äußert Schleiermacher Bedenken, dass der „Versuch, den philosophischen Standpunkt, wie es die Idealisten nennen, ins Leben überzutragen" missverstanden werde, „weil weder der Idealismus noch die wirkliche Welt, die ich mir doch auch warlich nicht nehmen laßen will ausdriiklich und förmlich deducirt worden sind" (BrKGA V 5, 316, Brief Nr. 758). Drei Monate später wiederholt Schleiermacher diese Bedenken und bittet Brinckmann, „nicht sowol auf das zu sehen was darin steht als vielmehr auf das blanc de l'ouvrage, auf die Voraussezungen von denen dabei ausgegangen wird und die ich so Gott will, in ein Paar Jahren in einer Kritik der Moral und in einer Moral selbst auf andere Weise und schulgerecht darzulegen denke" (Brief vom 22.3.1800, BrKGA V 5, 434, Brief Nr. 817). Mit Blick auf die späteren Ethikvorlesungen fehlt in den Monologen vor allem die „schulgerechte" Rückführung dieses doppelten Wechselverhältnisses aus dem absoluten Gegensatz von Vernunft und Natur. In dem Gegensatz zwischen einer äußeren Welt der Notwendigkeit und einer inneren Welt der Selbstanschauung, der Schleiermacher in den Monologen als Gedankenmodell dient und mit dem und gegen den er seinen eigenen ethischen Ansatz entwirft, sind zwei voneinander zu unterscheidende Gegensätze bereits angelegt: zum einen der Gegensatz von Physik und Ethik, zum anderen der die Ethik bestimmende Gegensatz von Gemeinschaft und Individuum. In den Einleitungen der Ethikvorlesungen werden Vernunft und Natur als zwei absolute Gegensätze vorgestellt, deren Realisierung oder Aufhebung in zwei Fin ähnliches Wechselwirkungsverhältnis wie das zwischen Symbolisieren (Erkennen) und Organisieren (Darstellen) formuliert Schleiermacher allerdings im fünften und letzte Monolog „Jugend und Alter", ohne diesem Wechselverhältnis jedoch den zentralen systematischen Platz zuzuweisen, wie er ihm in den Ethikvorlesungen zukommt: Steht Jugend für das Bilden und Aufnehmen, Sich-Erweitern, so symbolisiert das Alter das Bestreben nach Form, Vollkommenheit und Virtuosität. Beide Bestrebungen sollen eben nicht als Abschnitte oder Stufen, sondern als Komponenten verstanden werden, die sich in jedem Lebensabschnitt komplementär durchdringen und ergänzen: „Es erniedrigt sich selbst wer zuerst jung sein will, und dann alt, wer zuerst allein herrschen läßt, was sie den Sinn der Jugend nennen, und dann allein folgen, was ihnen der Geist des Alters scheint; es verträgt nicht das Leben diese Trennung seiner Elemente. Ein doppeltes Handeln des Geistes ist es, das vereint sein soll zu jeder Zeit; und das ist die Bildung und die Volkommenheit, daß Beider sich immer inniger bewußt werde der Mensch in ihrer Verschiedenheit, und daß er in Klarheit sondere eines jeden eignes Geschäft." (AfoKGA I 3, 58f.)

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einander bedingenden Bewegungen beschrieben werden kann: Als Vernunftwerden der Natur (Gegenstand der Ethik) und Naturwerden der Vernunft (Gegenstand der Physik). Vernunft existiert im Menschen jedoch nur auf besondere Weise - jede Person ist ein „Ort" der ausschnitthaften Existenz der Vernunft, die sich nur in der organischen Gemeinschaft der Individuen zur Allgemeinheit bilden kann. Gemeinschaft als organisches Ganzes aller Individuen entsteht in der Wechselwirkung der zwei zentralen „Funktionen" des „Insichaufnehmens" und „Aussichhervorbringens" oder des Erkennens und des Darstellens, die einander unmittelbar bedingen: Im vernünftigen Leben ist das in sich Aufnehmen ein Erkennen, Einsehn, das aus sich Hervorbringen ein Darstellen [...]. Diese Wechselwirkung von Einsehen und Darstellen ist die Oscillation des sittlichen Lebens, und keins von beiden kann ohne das andere gedacht werden. (BrEthüI 12)5®

Der Gegensatz von äußerer und innerer Welt in den Monologen problematisiert zum einen die wechselseitige Bildung von Gemeinschaft und Individuum, in der Gegenüberstellung von äußerer Welt als Körperwelt (in ihr erscheint alles als Produkt, könnte man mit dem Brouillon %ur Ethik von 1805/06 auch formulieren)^1 und innerer Welt des Geistes (in ihr erscheint alles als Tätigkeit) wird aber auch die spätere Trennung von Physik und Ethik entworfen. 52 Das wechselseitige Durcheinande-Werden von Vernunft und Natur, mithin von Physik und Ethik wird in den Monologen jedoch einseitig als Vernunftwerden der Natur beschrieben: Der Geist ist das „erste und einzige" (AtfoKGA I 3, 9), und der Körper ist „nur, weil und wann der Geist ihn braucht und seiner sich bewußt ist" (MoKGA I 3, 10). Diese Dominanz des Geistes, die sich in den Monologen ausspricht und mit der sich Schleiermacher nicht gerade gegen Fichte profiliert, 53 entspricht in gewisser Weise auch den späteren Werken, denn die Naturphilosophie oder Physik wird von Schleiermacher nur programmatisch aufgestellt, jedoch nie ausgearbeitet.

50 51

52

53

Vgl. auch Etim 15 § 81, 82 oder EthBl 20f. § 15, 16. Vgl. BrEtmi 3: „Die Ethik ist also die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product." Die Selbstanschauung wird, ganz der Terminologie der Ethik entsprechend, bereits als „Organwerden" der Natur für den Geist beschrieben (Vgl. MoKGA I 3, 10 u. AioKGA I 3, 11). Vergleiche dazu BrEthUl 13f.: „Hieraus ergiebt sich folgende allgemeine Uebersicht. Die Functionen des Lebens sind Bilden der Natur zum Organ und Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft. Andere giebt es nicht als diese. [...] Denn Organe können nicht anders gebildet werden als durch den Gebrauch; es giebt nur Selbstbildung; und mit dem vermehrten Wissen im Gebrauch entstehen auch neue Aufgaben der Organbildung. Diese beiden Functionen stehen also in einer nothwendigen Wechselverbindung, in lebendigem organischen Zusammenhang." Diese Dominanz des Geistes findet vor allem Friedrich Richters Kritik, der, wie Schlegel an Schleiermacher berichtet, beim Lesen „überall" „verhüllten Fichteanismus" witterte, (vgl. M E C K E N S T O C K 1988, Einleitung, XXIX)

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Da sich die Monologen der Ethik, die Reden der Religion widmen, scheinen sich beide Schriften zunächst schlicht zu ergänzen, und indem die Monologen das in den Reden vorangestellte Grundmotiv der sich wechselseitig bedingenden Triebe in der Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen aufnimmt, schließen sie sogar unmittelbar an die Reden an. Interessant ist jedoch, dass sich Schleiermacher in den Monologen nie direkt auf die Reden bezieht. Dass beide Schriften sich noch nicht in ein gemeinsames System einfinden und aufeinander verweisen, zeigt sich beispielsweise an dem Begriff der Anschauung. Die „Anschauung des inneren Wesens" der Monologen ist der Konzeption der religiösen Anschauung in vielen Punkten ähnlich, in einigen wesentlichen Punkten weicht sie jedoch auch von ihr ab. In der Anschauung des inneren Wesens wird sich der einzelne Mensch als individueller Repräsentant einer unendlichen Menschheit bewusst, deren mannigfaltige Elemente er in ganz individueller Mischung in sich trägt und so auf unwiederholbare Weise die Menschheit darstellt. 54 Wie in den Reden umfasst die Anschauung des inneren Wesens zugleich Individualität und Totalität, die angeschaute Totalität ist jedoch die der Menschheit, nicht die des Universums und bestimmt so nur auf eingeschränkte Weise das Verhältnis von Universum und Individuum, das nach den Reden nicht als religiös gelten kann. Wie die religiöse Anschauung kann die Anschauung des inneren Wesens, ist sie einmal initiiert, nicht mehr verloren werden: Diese Initiierung geht jedoch nicht auf einen fremden Anstoß zurück, der das Vermögen anzuschauen „in Gang" setzt, sondern wird in den Monologen als freier Entschluss vorgestellt: Ein einziger freier Entschluß gehört dazu ein Mensch zu sein: wer den einmal gefaßt, wirds immer bleiben; wer aufhört es zu sein, ists nie gewesen. (MoKGA I 3, 16)

Die Anschauung des inneren Wesens als Erkenntnis des anderen in sich und sich im anderen ist nicht in einer für sich bestehenden Fundamentalanschauung gegeben, sondern wesentlich Bildung. Sie besteht in einem unendlichen Prozess, in dem sich der einzelne Mensch in der Konfrontation mit anderen erst sukzessive seiner Individualität oder dem Was und Wie seiner Identität bewusst wird. Die Gemeinschaft mit andern ist so auf eine andere Weise konstitutiv für die Anschauung des inneren Wesens als die religiöse Geselligkeit. Sie ist kein gemeinsames Erleben und Fühlen, sondern eine Voraussetzung, um Erfahrungen, gerade auch Differenzerfahrungen zu machen. Drum darf ich auch nicht, wie der Künstler, einsam bilden; es troknen mir in der Einsamkeit die Säfte des Gemüths, es stoket der Gedanken Lauf; ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern zu schauen, was es für Menschheit 54

Vgl. MoKGA I 3, 18.

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Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung: Berliner Schriften (1798-1801) giebt, und was davon mir fremde bleibt, was mein eigen werden kann, und immer fester durch Geben und Empfangen das eigne Wesen zu bestimmen. (AioKGA I 3, 21)

Anders als in den Reden wird Anschauung in den Monologen nicht gegen Denken und Handeln schlechthin abgesetzt; Anschauung ist ein Handeln und Denken höherer Art, ein „inneres" Handeln und Denken, dem ein „äußeres" Handeln und Denken, das sich an dem Gegeneinander der Gegenstände, an ihrem Nacheinander, ihrem Umfang, ihrer Messbarkeit orientiert, gegenübersteht. 51 ' In der Terminologie der Reden könnte man die Selbstanschauung der Monologen als „universalisierte Moral" oder „universalisiertes Erkennen" verstehen, insofern das Selbstbilden als inneres Denken und Handeln nicht auf Allgemeinheit und Virtualität aus ist, sondern ein Moment des Sich-Offnens bereits in sich trägt. Gebildet werden kann, so könnte man mit den Reden sagen, nur mit jedoch nicht aus Religion. Man kann aber ebenso gut die Monologen als eine Weiterentwicklung des philosophischen Standpunktes verstehen und von den Monologen aus gegen die Reden argumentieren, insofern hier ein ethisches Modell vorgestellt wird, dessen Dynamik nicht mehr auf die universalisierende Leistung der Religion angewiesen ist. 56 Denn die Anschauung des inneren Wesens besteht aus zwei Momenten, dem Aus-sich-Herausgehen und In-sich-Aufnehmen, dem Darstellen und Erken-

55

Vgl.MoKGAI 3, 12. In der Verwendung der Adjekive „religiös" und „heilig", die die Selbstanschauung charakterisieren, darf nicht mehr als eine Analogie zur religiösen Anschauung gelesen werden. Allerdings setzt sich Schleiermacher im vierten Monolog mit der Gottesvorstellung auseinander, und diese Passage ist deswegen interessant, weil sie die Gottesvorstellung aus dem Festhalten an einer äußeren Weltsicht erklärt und sich beinahe wie eine moderne Religionskritik lesen lässt: Für diejenigen, die der äußeren Welt und ihrem permanenten Wechsel anhängen, in der es nichts Bleibendes gibt, ist die Frage, ob es einen höchsten Willen gibt, von entscheidender Bedeutung: „[...] dann muß es freilich für ihn das Höchste sein zu wißen, ob jener Wechsel der ihn beherrscht von Einem Willen über alle Willen abhängt, oder vom Zusammentreffen vieler Kräfte die neigungslose Wirkung ist. Denn schreklich muß es den Menschen ergreifen, wenn er nimmer dazu gelangt sich selbst zu faßen; wenn jeder Lichtstral, der in die unendliche Verwirrung fällt, ihm klarer zeigt, er sei kein freies Wesen, sei eben nur ein Zahn in jenem großen Rade, das ewig kreisend sich, ihn und alles bewegt, und Hofnung, immer wieder aller Erfahrung allem Bewußtsein zum Troz erneute Hofnung auf höheres Erbarmen muß seine einzige Stüze sein." (MoKGA 1 3, 41 f.) In den späteren Dialektikvorlesungen findet sich eine weitere Bestimmung von „Anschauung": Sie wird als eine ausgewogene Mischung eines eher rezeptiv-bildlichen Wahrnehmens und eines eher spontan- diskursiven Denkens bezeichnet. Obgleich Anschauung in den Dialektikvorlesungen nur dem Bereich des Denkens zufällt, kommt sie der Anschauung des inneren Wesens als ursprünglich gedoppelte Tätigkeit näher als der religiösen Anschauung.

Freiheit als bildendes Erkennen - Freiheit als Erkenntnis Gottes

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2.3. Freiheit als bildendes Erkennen — Freiheit als Erkenntnis Gottes: Schleiermacher und Spinoza Die Analyse des Freiheitsproblems und seine „Lösung", wie sie Schleiermacher in den Monologen skizziert, gilt auch für die späteren Ethikvorlesungen. Schleiermacher begreift dort den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit (ebenso wie den von Gut und Böse) nicht als kontradiktorischen, sondern relativen Gegensatz. Freiheit und Notwendigkeit treten nur dort als einander entgegengesetzt auf, wo die Vermitdung von Allgemeinem und Besonderem, von Gemeinschaft und Individuum noch nicht vollendet ist. Denn der Einzelne wird durch seine Einbindung in einen Gesamtzusammenhang nur dann begrenzt und somit in seiner Freiheit gehemmt, wenn sich sein „Platz" in diesem Gesamtzusammenhang, mithin auch der Gesamtzusammenhang selbst, noch nicht vollständig gebildet hat. Da der Gegensaz zwischen Freiheit und moralischer Nothwendigkeit vorzüglich ν er sirt in der Differenz zwischen einem Einzelnen und einem Ganzen, dem es angehört, worin der persönliche Einigungsgrad des Einzelnen die Freiheit und der des Ganzen die Nothwendigkeit repräsentirt, kann er auch nur richtig aufgefaßt werden, in einer Darstellung, welche zeigt, wie Werden eines Einzelnen und eines Ganzen durch einander bedingt sind. (EtbBI 11, § 49)

Ganz ähnlich formuliert Schleiermacher in der Einleitung zur Ethikvorlesung von 1816/17: Betrachtet man also alles Sittliche als Eines, so ist der Gegensaz [von Freiheit und Notwendigkeit, S. S.] nicht; er entsteht erst im Vereinzeln, sofern jedes einzelne für sich Gesezte nur beziehungsweise ein solches ist. Sofern nun jedes für sich gesezt ist, hat es auch das Hervorbringende seiner Erscheinungen in sich, und diese sind frei; sofern nicht, sind sie nothwendig. Indem also die Sittenlehre das hervorbringende Handeln der Vernunft als ein Mannigfaltiges auseinanderlegt, so ist sie ein wechselndes Sezen und Aufheben des Gegensazes von Freiheit und Nothwendigkeit. [Zusatz am Rande von 1832, S. S.:] In der Construction in Bezug auf den Endpunkt ist er aufgehoben; in der für die Beurtheilung des Einzelnen ist er gesezt. (EthBl 216, § 104f.)

Freiheit und Notwendigkeit schließen sich nicht aus, sondern in jedem sittlichen Prozess ist immer unter einer bestimmten Hinsicht Freiheit, wie auch immer unter einer bestimmten Hinsicht Notwendigkeit herrscht. Das Urteil „frei" und „notwendig" ist immer an den einzelnen sittlichen Gegenstand gebunden und muss mit fortschreitendem sittiiehen Prozess immer wieder neu überprüft werden. Eine vollkommene Freiheit ist dort, wo aller Gegensatz von Natur und Vernunft aufgehoben ist.

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Die praktische Philosophie kann, so wenig sie den Menschen ohne Freiheit sezen kann, so wenig ihn auch ganz als Freiheit sezen, und sofern er es nicht ist, bleibt jene Unterworfenheit aber doch von Freiheit durchdrungen. (BrE/hBI 7 ) Das Konzept freier Selbstbildung in den Monologen und die Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit in den Ethikvorlesungen entspricht in vielen Punkten Spinozas philosophischem Entwurf der Ethik, kommt jedoch mit dem Spinozistischen Freiheitsbegriff nicht zur Deckung. In Spinozas Ethik müssen zwei Freiheitsbegriffe unterschieden werden: die göttliche Freiheit als „causa sui" und die menschliche Freiheit als Macht des Geistes oder Macht der Vernunft über die Macht der Affekte. 5 8 Während die Freiheit Gottes Freiheit und Notwendigkeit in sich vereint, ist der Mensch zugleich frei und unfrei oder Notwendigkeit unterwofen: Frei heißt ein Ding, das nur aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus existiert und nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird; notwendig oder vielmehr gelungen heißt ein Ding, das von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren und zu wirken. (SPINOZA Ε, I Def.7) Gott ist „causa sui", Ursache seiner selbst und als solcher frei nicht im Sinne eines vollkommenen freien göttlichen Willens dieses oder jenes aus sich folgen zu lassen, 5 9 sondern indem er seinen eigenen Gesetzen mit Notwendigkeit folgt und nur aus sich selbst begriffen werden kann und muss.® Der Mensch ist in den Naturzusammenhang (und die Gemeinschaft mit anderen Menschen) eingebunden, indem er auf andere wirkt und selbst Wirkung erfährt, affiziert und selbst affiziert wird. Diesen komplexen Naturzusammenhang, das Wo, Wann und Wie der Affektionen kann er nie vollständig erkennen, sondern nur vorstellen, und er tritt in diesem Geflecht von Affektionen immer nur als Teilursache oder partiale Ursache 6 1 auf. Selbst wenn er affiziert oder agiert, sind diese Aktionen immer auch fremdbestimmt. Spricht Spinoza von der Freiheit des Geistes 6 2 oder davon, dass wir durch die Vernunft etwas bewirken

In seiner Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff bei Spinoza und Schleiermacher fokussiert Partick D. Dinsmore vor allem den Gottesbegriff als causa sui und den in ihm enthaltenen Begriff der Freiheit als Freiheit aus Notwendigkeit (DINSMORE 372ff., 375), setzt sich jedoch nicht mit der menschlichen Freiheit und ihrer erkenntnistheoretischen Komponente auseinander, die mir gerade für den Vergleich mit Schleiermacher interessant erscheint, weil hier die Unterschiede besonders deutlich werden. 59

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Gegen die Vorstellung, der Mensch habe einen freien Willen, und gegen die antropomorphe Gottesvorstellung, Gott habe einen freien Willen, setzt sich Spinoza an mehreren Stellen der Ethik ab vgl. S P I N O Z A Ε, I LS 17 Anm. u. I Anhang. Vgl. SPINOZA Ε, I Def. 1. S P I N O Z A E, III Def. 1: Adäquate Ursache nenne ich eine Ursache, deren Wirkung klar und bestimmt durch diese Ursache erkannt werden kann. Inadäquate aber oder partiale Ursache nenne ich eine solche, deren Wirkung durch diese Ursache allein nicht erkannt werden kann." Vgl. SPINOZA Ε, V Vorwort.

Freiheit als bildendes Erkennen - Freiheit als Erkenntnis Gottes

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können 63 oder davon, dass der Verstand Macht über die Affekte hat, so ist keinerlei Entscheidungs- oder Willensfreiheit gemeint, wie der gewöhnliche Sprachgebrauch immer wieder suggerieren möchte. Im Gegenteil: Das stärkste Vorurteil, das der Aufklärung der Affekte durch die Vernunft im Weg steht, ist die Vorstellung der Willensfreiheit, denn ein Ding als frei im Sinne von „frei zu entscheiden" vorstellen heißt, alle Ursachen ausblenden (SPINOZA Ε, V LS 5 Bew.). Es gibt im Geiste keinen absoluten oder freien Willen; sondern der Geist wird dieses oder jenes zu wollen von einer Ursache bestimmt, die auch wieder von einer anderen bestimmt worden ist, und diese wieder von einer anderen, und so fort ins Unendliche. (SPINOZA Ε, II LS 48)

Mit der im dritten und vierten Buch der Ethik entfalteten „Affektenlehre" wird die Erkenntnistheorie zugleich zur Handlungstheorie bzw. zu einer Theorie des Handelns und Leidens, denn Erkennen und Handeln sind lediglich zwei Aspekte ein und desselben Geschehens. Entsprechend der Parallelität der beiden Attribute Ausdehnung und Denken, geht mit dem Erkennen des Geistes ein Handeln des Körpers und dem Leiden des Körpers ein bloßes Vorstellen des Geistes einher. 64 Dort, wo der Mensch nur eine ausschnitthafte Erkenntnis der Dinge hat, nur vorstellt oder wo er nur die „partiale Ursache" erkennt, leidet er (ist er unfrei oder notwendig), dort jedoch, wo er erkennt oder die „adäquate Ursache" einsehen kann, handelt er auch (ist er frei). 65 In den Monologen entwirft Schleiermacher eine Welt der Freiheit, die zugleich Erkenntnis ist, und eine Welt der Notwendigkeit als Eingebundensein in einen Naturzusammenhang. Die Unfreiheit oder das Leiden in dieser äußeren Welt der Notwendigkeit resultiert bei Schleiermacher ähnlich wie bei Spinoza aus der unangemessenen oder nur ausschnitthaften Erkenntnis dieses Eingebundenseins oder Teilseins der Natur. 66 Die „Macht der Vernunft" über diese „Knechtschaft" kann bei Spinoza wie bei Schleiermacher nicht darin bestehen, dieses Eingebundensein aufzuheben, sondern nur darin, dieses Eingebundensein zu erkennen. 63 64 65

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Vgl. SPINOZA Ε, II L S 10 Bew. Anm. Vgl. SPINOZA E, III LS 1 u. 3. Vgl. S P I N O Z A E, III Def. 2: „Ich sage, daß wir dann handeln, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d. h.(nach der vorigen Definition), wenn etwas in uns oder außer uns aus unserer Natur erfolgt, das durch sie allein klar und deutlich erkannt werden kann. Dagegen sage ich, daß wir leiden, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur die partiale Ursache sind." In der Einleitung zur Ethikvorlesung von 1812/13 formuliert Schleiermacher den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit ganz ähnlich als Gegensatz von Vernunft und Natut oder als Handeln nach seinen eigenen Gesetzen und als Handeln im Zusammensein mit anderen: „Da der Gegensaz zwischen Freiheit und physischer Nothwendigkeit im Product die beiden Factoren andeutet, welche überwiegend a) in der Vernunft und b) in der Natur gegründet sind und in der Action dasjenige, was a) dem inneren Charakter des Handelnden und b) sein Zusammensein mit einem Aeußern ausdrückt, so kann er auch nur klar eingesehen werden in der Betrachtung des Zusammenseins von Vernunft und Natur in der Totalität." (EthBl 10f., § 48)

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Jedes Erkennen ist aber bei Spinoza wie bei Schleiermacher zugleich immer auch ein Handeln, sodass diese Freiheit des Menschen keine bloße Freiheit zur Erkenntnis ist, während der Körper in „Knechtschaft" verbleibt. Anders als bei Spinoza kann bei Schleiermacher jedoch die (nur vorstellende) Erkenntnis des einzelnen Endlichen von der (rationalen) Erkenntnis des Allgemeinen und der (intuitiven) Erkenntnis des Individuellen nicht getrennt werden. Die Freiheit des Menschen besteht nicht in einer rein rationalen Erkenntnis eines Allgemeinen, die über das Eingebundensein in einen uns undurchsichtigen Naturzusammenhang aufklärt (nicht aufhebt), ebenso wenig in einer rein intuitiven Erkenntnis des individuellen Wesens, in der wir unser Teilsein Gottes als Liebe zu Gott erleben. Freiheit als Erkenntnis des Individuellen oder des unverwechselbaren Platzes, der dem Einzelnen im Ganzen der Menschheit (der Welt) zukommt, sodass das vermeintliche Gegeneinander des Endlichen in der Perspektive der Totalität der Welt als Miteinander erkannt werden kann, ist eine Aufgabe, der wir nur progressiv nachkommen können. Denn das Erkennbare als Allgemeines und Individuelles liegt uns nicht als Unveränderliches vor, sondern wird mit dem Akt der Erkenntnis und der Handlung erst gebildet.

2.4. Vollkommene Wechselwirkung als Realisierung von Sittlichkeit oder die Wechselwirkung von Individuum und Gemeinschafi - „ Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" (1799); „Gedankenheft III" (1798-1801) Im Februar 1799 veröffendicht Schleiermacher den ersten Teil einer Abhandlung mit dem Titel Versuch einer Theorie des geselligen Betragens in der Zeitschrift Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. Ihr Mitherausgeber, Ignatius Aurelius Freßler, war zugleich Begründer der „Mittwochsgesellschaft", deren Form des gesellschaftlichen Gesprächs sicherlich den lebensweltlichen Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen abgibt. Die im berlinischen Archiv veröffentlichten Seiten kündigen eine Fortsetzung der Abhandlung an, die jedoch ausblieb, und die Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens muss als ein Fragment angesehen werden, in dem nur ein Drittel des anvisierten Programms umgesetzt wurde. Die geplante Fortsetzung dieser Abhandlung wurde zugunsten anderer literarischer Projekte, allen voran die Arbeit an den Reden, fallen gelassen. 67 Obgleich der Versuch also noch vor den Reden erschien, folgt sie hier der Auseinandersetzung mit den erst 1800 erschienenen Monologen. Denn der Versuch einer Theorie des geselligen Betragens konkretisiert das Anliegen der Monologen und fuhrt so die grundsätzliche Reflexion der Wechselwirkung von Freiheit und Notwendigkeit der Monologen weiter. Indem der Versuch auf Wechselwirkung explizit reflektiert, kann er als frühes Theoriestück der Wechselwirkung gelesen werden. 67

Vgl. MECKENSTOCK 1984, Einleitung, U l f .

Vollkommene Wechselwirkung als Realisierung von Sittlichkeit

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Ausgangspunkt der Abhandlung ist die routinierte Beschränkung des Geistes auf ein kleines Feld von Tätigkeiten, dem wir sowohl im Berufs- wie im Familienleben unterliegen. In der „freien Geselligkeit" als freie Konversation zwischen unterschiedlichsten Berufs- und Gesellschaftsschichten ohne übergeordneten Zweck soll dieser Mangel an Bildungsangebot kompensiert werden und dem einzelnen Individuum die Chance geben, dass „alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können" (GBKGA I 2, 165). Für die Theorie des geselligen Betragens möchte Schleiermacher ein formales, ein materiales oder inhaltliches und ein quantitatives Gesetz unterscheiden. Der Form nach betrachtet muss die freie Geselligkeit als „vollendete Wechselwirkung" (GBKGA I 2, 169) bezeichnet werden, in der die einzelnen Mitglieder gleichermaßen bestimmen und bestimmt werden, aktiv und passiv bzw. rezeptiv zugleich sind. Der „Materie" oder dem Inhalt nach besteht sie in einem freien Spiel der intellektuellen Kräfte. Das quantitative Gesetz versucht dem Umstand Rechnung zu tragen, dass jede reale Geselligkeit immer einen bestimmten Charakter trägt, indem sie bestimmte Menschen und bestimmte Konversationsthemen und -formen zusammenführt; jede konkrete Form freier Geselligkeit kann nie Schauplatz aller möglichen Menschentypen, Konversationthemen und -arten sein. In seiner Veröffentlichung widmet sich Schleiermacher allein den Überlegungen zu dieser Beschränkung (dieser Quantifizierung) der freien Geselligkeit oder dem „quantitativen Gesetz", das Schleiermacher auch als „Bedingungen der Anwendbarkeit" (GBKGA I 2, 170) der freien Geselligkeit bezeichnet. Das quantitative Gesetz ist für den Begriff der Wechselwirkung von Bedeutung, insofern hier die wechselseitige Bildung von Individuum und individueller Gesellschaft im Zentrum steht, und somit auch die Funktionsweise des „ethischen Zirkels" reflektiert wird. Obgleich sie dort nicht ausgeführt wird, lässt sich aus dem Fragment ein Umriss des zweiten und dritten Gesetzes erstellen. Zur Ergänzung soll Schleiermachers Notizheft herangezogen werden, das er von 1796-1799 führte und für den Versuch einer Theorie des geselligen Betragens auswertete. Die Art und Weise, wie Menschen einander anregen und miteinander in Beziehung treten können, ist unendlich mannigfaltig. Jede Gesellschaft als eigentümliche Zusammensetzung unterschiedlicher Individuen hat jedoch einen ganz eigenen Charakter, sie stellt einen bestimmten Ausschnitt der unendlichen Möglichkeiten menschlicher Konversationsthemen und -formen dar, sie ist wie ihre Mitglieder selbst ein Individuum. 68 Das quantitative Gesetz der freien Geselligkeit reflektiert auf die wechselseitigen Verhältnisse zwischen Gesellschaft und Gesellschaftsmitglied, und indem sich freie Geselligkeit immer nur in einer kon-

68

Vgl. GBKGA 1 2 , 170.

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kreten Gesellschaft verwirklichen kann, bezeichnet Schleiermacher dieses quantitative Gesetz auch als „Bedingung der Anwendbarkeit" (GBKGA I 2,170). Schleiermacher betrachtet dieses Verhältnis von Individuum und individueller Gesellschaft für zwei verschiedene Fälle: a) eine Gesellschaft freier Geselligkeit soll erst noch gebildet werden b) die Gesellschaft besteht bereits. Im ersten Fall wird die zirkelhafte Verwiesenheit von Individuum und individueller Gesellschaft, Teil und Ganzem besonders deutlich, denn die Bildung der Individualität des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes und die Bildung der Individualität der Gesellschaft setzen sich wechselseitig voraus: Der spezifische Charakter einer jeden Gesellschaft kann sich erst im geselligen Umgang ihrer Mitglieder ergeben (und verändert sich mit jedem neuen oder fehlendem Mitglied), die Individualität des Einzelnen jedoch, die diesen gesellschaftlichen Umgang bestimmt, erfährt selbst erst im geselligen Umgang ihre Ausbildung (und dies in jeder Gesellschaft in anderer Form). Es ist daher nicht ein für alle Male festzustellen, worin der besondere Charakter eines gesellschaftlichen Umgangs bestehen kann und soll, wenn die Individualität der Mitglieder sich doch erst im gesellschaftlichen Miteinander bilden kann. Besteht eine Gesellschaft bereits als besondere Gesellschaft, so steht die Frage nach einer ausgewogenen oder angemessenen Balance zwischen dem spezifischen Charakter einer Gesellschaft und der besonderen Eigenart eines Individuums im Zentrum: Jedes neue Gesellschaftsmitglied wird den besonderen Charakter eines geselligen Zusammentreffens verändern - aber wie weit darf und kann diese Veränderung gehen? Auf der einen Seite soll sich jeder im geselligen Zusammentreffen so einbringen, „wie er ist" und durch die Gesellschaft keinerlei Beschränkung erfahren (die freie Geselligkeit soll ihn ja gerade von allen Beschränkungen befreien), auf der anderen Seite darf das neue Mitglied mit seiner ganz eigenen Art den bestehenden Charakter der geselligen Runde nicht „sprengen", denn die einzelne Gesellschaft wird selbst wieder als eine individuelle Einheit begriffen.® Das gesellige Verhalten, das nicht der wechselseitigen Bildung, sondern der wechselseitigen Beschränkung von Individuum und Gesellschaft Rechnung tragen soll, bezeichnet Schleiermacher als Schicklichkeit und hält sie in folgender abstrakten Formel fest: „deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann" (GBKGA I 2, 171). Diese Formel ist eine Maxime, für deren Umsetzung es keine Regel geben kann: „Der Begrif des Schiklichen muß jedesmal aufs neue producta werden." (G7KGA I 2, 38, Nr. 166) 70 ^ 70

Dass sie eine Einheit darstellt, ist natürlich immer nur eine Idee, wie Schleiermacher in seinem Notizheften notiert, vgl. GiKGA I 2, 43, Nr. 190. Neben dieser Maxime der Schicklichkeit, die eine immer wieder neu zu findende Balance zwischen dem individuellen Charakter des Einzelnen und dem individuellen Charakter der Gesellschaft formuliert, versucht Schleiermacher dieses Problem mit der Unterscheidung von Manier

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Ist in jeder Gesellschaft nur eine bestimmte Art des freien Gedankenspiels möglich, dann kann sich (dies fuhrt Schleiermacher nicht aus) das Individuum natürlich nie allein in einer freien Gesellschaft zur Darstellung bringen. Dies bedeutet nicht, dass es sich in der Gesellschaft zurückhalten soll, sondern dass in einer bestimmten Zusammensetzung der Individuen zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Bildung nicht alle Darstellung gelingt. Mit jeder freien Geselligkeit sind, geht man von dem Ziel einer vollendeten Bildung des Individuums aus, Beschränkungen verbunden, die jedoch eben gerade „Bedingung der Anwendung" sind und die Idee der Wechselwirkung bestimmen. Die Aufhebung der Beschränkung geschieht der Idee nach im unendlichen Prozess der sich in verschiedenen Gesellschaften austauschenden Individuen. Kann eine Gesellschaft nur sein, was sie durch seine Individuen ist, und ist jedes Individuum, was es in den Gesellschaften sein kann, dann beeinflusst die Ausbildung der Individualität in einer Gesellschaft den freien Gedankenaustausch in den anderen Gesellschaften. Alle Gesellschaften können sich so nur miteinander vollendet ausführen. Der Form nach soll die freie Geselligkeit „vollendete Wechselwirkung" sein. In den kurzen Ausführungen zu diesem „formalen Gesetz" der freien Geselligkeit heißt es im Fragment: [ . . . ] d i e W i r k u n g e i n e s J e d e n soll g e h e n a u f d i e T h ä t i g k e i t d e r ü b r i g e n , u n d d i e T h ä tigkeit e i n e s J e d e n s o l l s e y n s e i n e E i n w i r k u n g a u f d i e a n d e r n . N u n a b e r k a n n a u f ein f r e i e s W e s e n n i c h t a n d e r s e i n g e w i r k t w e r d e n , als d a d u r c h , d a ß es z u r e i g n e n T h ä t i g keit a u f g e r e g t , u n d i h r ein O b j e k t d a r g e b o t e n w i r d ; u n d d i e s e s O b j e k t k a n n w i e d e r u m z u f o l g e d e s o b i g e n n i c h t s s e y n , als d i e T h ä t i g k e i t d e s A u f f o d e r n d e n (sie)

f...].

( G B K G A I 2, 1 6 9 f . )

Mit vollendeter Wechselwirkung der Individuen wird, wie in Kapitel eins bereits skizziert, ein Aufeinanderwirken beschrieben, in dem aktiver und passiver Part und Ton zu lösen: In der Art und Weise sich zu unterhalten, anzuregen und sich anregen zu lassen - der Manier - soll der einzelne vollkommen frei und unbegrenzt sein. Der Stoff der Geselligkeit, der Themenkreis, über den man sich austauscht, bestimmt den Ton oder Charakter einer Gesellschaft, an den sich jeder Teilnehmer halten kann, ohne sein individuelles Auftreten zu beschneiden (vgl. GßKGA I 2 , 1 7 4 ) . Die Schicklichkeit, die darin besteht, sich an den Ton oder den Stoff einer jeden Geselligkeit zu halten, formuliert Schleiermacher als Gesetz der „Elastizität", das Vermögen die Oberfläche des Themas zu „dehnen" und „auseinanderzuziehen" und die Gewandtheit, die darin besteht, sich trotz der gebotenen Elastizität seine Eigentümlichkeit zu bewahren. Diese Unterscheidung zwischen Manier und Stoff, durch die der Charakter der Gesellschaften und die individuelle Eigenart der Teilnehmer gewahrt werden soll, scheint mir äußerst unglücklich: Zum einen weil damit das fokussierte ethische Problem abgeschwächt wird, zum anderen ist diese Unterscheidung von Form und Inhalt gar nicht durchzuführen. Ließen sich Stoff und Manier voneinander trennen, dann würde die Bildung einer neuen Gesellschaft kein wirkliches Problem darstellen, denn der besondere Charakter der Gesellschaft muss dann nicht in Abhängigkeit der Mitglieder bestimmt, sondern kann - mit Blick auf die „culture generale" eines jeden Mitgliedes - festgesetzt werden.

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nicht m e h r auseinander gehalten w e r d e n k ö n n e n u n d die Tätigkeit des einen auf eine Rezeptivität des a n d e r e n stößt, die z u g l e i c h j e d o c h a u c h als Aktivität begriffen w e r d e n m u s s . D i e s e g e m e i n s a m e T ä t i g k e i t d e r G e s p r ä c h s p a r t n e r , in d e r U r s a che und

Wirkung,

Spontaneität u n d Passivität

eine Einheit

bilden, wird

Schleiermacher in einzelnen N o t a t e n des ersten G e d a n k e n h e f t e s an d e m

von Tätig-

keitspaar H ö r e n - R e d e n illustriert: W e c h s e l w i r k u n g ist n u r d a w o jede T h ä t i g k e i t d e s e i n e n W i r k u n g d e s a n d e r n ist. A l s o a u c h die T h a e t i g k e i t d e s H ö r e r s w ä h r e n d d e s H ö r e n s ; er m u ß also b l o ß v e r n e h m e n — n u n a b e r soll seine T h a e t i g k e i t e i n e f r e i e E n t w i c k l u n g s e i n e r H u m a n i t ä t seyn: ich m u ß ihn a l s o in d e n Z u s t a n d v e r s e z e n d a ß er nicht a n d e r s k a n n als v e r n e h m e n , u n d a u c h in d e n d a ß er n i c h t s a n d e r s will als v e r n e h m e n . ( G I K G A I 2 34, N r . 146) Soll d a s V e r n e h m e n d e s H ö r e r s e i n e T h a e t i g k e i t s e y n so m u ß es a u c h i m R e d e n d e n e t w a s w i r k e n . D i e P a s s i v i t a e t m u ß a c t i v seyn. D i e s m u ß i n s u n e n d l i c h e f o r t g e h n u n d ist d a s s t u m m e Spiel d e r G e s e l l s c h a f t . J e p o t e n t i i r t e r es ist, d e s t o m e h r g u t e L e b e n s a r t h e r r s c h t . ( G i K G A I 2, 34, N r . 147) D a s R e d e n selbst m u ß a b e r s c h o n eine W i r k u n g d e s H ö r e n d e n seyn, d i e s ist freilich n u r d i v i n a t o r i s c h m ö g l i c h n e m l i c h s o d a ß er es g l e i c h als seine W i r k u n g a d o p t i r t . ( C 7 K G A I 2, 34, N r . 148) M i t W e c h s e l w i r k u n g ist ein M i t - u n d D u r c h e i n a n d e r d e r T ä t i g k e i t e n

bezeichnet,

in d e m z w e i H a n d l u n g e n i n e i n a n d e r a u f g e h e n , w e i l sie ein w e c h s e l s e i t i g e s

Han-

d e l n o d e r ein b e i d s e i t i g e s H a n d e l n - L e i d e n sind. D i e T ä t i g k e i t d e s e i n e n b r i n g t als W i r k u n g d i e f r e i e T ä t i g k e i t d e s a n d e r e n h e r v o r . 7 1 S t ö ß t , w i e d i e Monologen

formu-

lieren, m i t jeder H a n d l u n g in d e r „ ä u ß e r e n W e l t " „Freiheit a n Freiheit sich", so wird mit d e m Begriff der W e c h s e l w i r k u n g nicht nur die F o r m freier Geselligkeit

Bei der Realisierung der freien Wechselwirkung spricht Schleiermacher auf sprachlicher Ebene dem Witz und der Ironie eine besondere Rolle zu. Witz und Scherz haben eine angenehme und unterhaltende Wirkung und können so den Hörer dazu bewegen, aus freiem Entschluss zuzuhören. Der Scherz und die Ironie sind darüber hinaus Ausdruck einer unendlichen Aufhebung und der ironische Redner kann so inhaltlich, indem er immer wieder sein Gegenteil aufsucht, sein Gegenüber integrieren: „Der Imperativ der genialischen Narrheit heißt: es soll Alles Scherz werden, und das Ziel worauf sie hinausgeht ist also absolute Antithese. [...] Der Narr allein ist nicht verrükt: denn ihm ist die ganze Welt zurecht gerükt, weil es zu Allem eine absolute Antithese daneben giebt, die er nur aufsucht. [...] Vom Scherz als herrschende Gemüthsstimmung (in der Moral)" (Gi/JKGA I 2, 120, Nr. 7) Vgl. auch GJKGA 1 2, 36, Nr. 158: „Um das Hören thätig zu machen wird schlechterdings Wiz erfordert, in so üblem Credit er auch steht." Auch in dem Versuch einer Theone des geselligen Betragens weist Schleiermacher auf die Bedeutung von Anspielungen, Persiflage, Ironie und Scherz hin (vgl. GBKGA I 2, 182). Hier wird ihre Aufgabe vor allem darin gesehen, auf unverbindliche Weise ein Angebot zur Ausdifferenzierung oder Erweiterung des Tons einer Gesellschaft zu machen. Dass diese Bedeutung von Witz und Ironie nicht auf den Raum freier Geselligkeit beschränkt ist, unterstreicht der Klammerzusatz im letzten Zitat. Allerdings werden die Begriffe Witz, Scherz und Ironie bei Schleiermacher wesentlich konkreter verstanden als bei Schlegel und nehmen nicht die Position zentraler philosophischer Begriffe ein.

Vollkommene Wechselwirkung als Realisierung von Sittlichkeit

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beschrieben, sondern als Modell realisierter gesellschaftlicher Freiheit ein Ideal ethischen Verhaltens schlechthin formuliert. 72 Schleiermacher bestimmt die freie Geselligkeit seinem Inhalt nach als freies Spiel der Gedanken und Empfindungen. Die in freier Geselligkeit zusammen kommenden Menschen bezeichnet Schleiermacher als Gesellschaft im Gegensatz zu der ein gemeinsames Ziel oder Interesse verfolgenden Gemeinschaft der Menschen (GBKGA I 2, 169). 73 Die freie Geselligkeit hat nur sich selbst zum Ziel und soll den Einzelnen gerade von allen Zwecken und Zwängen befreien. Indem in der freien Geselligkeit die Möglichkeit der Konfrontation verschiedener Intentionen oder eines wissenschaftlichen Konfliktes von vorneherein auf ein Minimum reduziert ist, wird sie zu einem optimalen „Ort" zur Realisierung „vollendeter Wechselwirkung". 74 Die Bedeutung dieses „Ortes" für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang wird in dem Fragment selbst nicht umrissen. Da in ihr Wechselwirkung annäherungsweise realisiert und somit auch (ohne Risiko, die eigenen Interessen zu verlieren) einstudiert werden kann, kann man in ihr einen Ort der Erziehung, eine Art „Gewächshaus" ethischen Miteinanders sehen. Dass die in freier Geselligkeit gepflegte gute Lebensart eine gesellschaftliche Relevanz hat, auch oder gerade weil sie keinem anderen Zweck unterliegt als sich selbst, formuliert Schleiermacher in einem Notat des ersten Gedankenhefts: Die gute Lebensart soll nicht eine interimistische Anstalt seyn die sich selbst vernichtet wenn die Menschen klug genug oder bekannt genug sind, sondern sie soll durchgehn [:] ihr Ziel ist eigentlich der häußliche und bürgerliche Zustand. (G7KGA I 2, 36, Nr. 156) 7 5

72

^

^

Das Modell der freien Geselligkeit wird von Schleiermacher in dem Notat 97 des ersten Gedankenheftes nicht nur auf die zwischenmenschliche, sondern auch auf die innermenschliche Konversation übertragen. Als geistiger Zustand der freien Geselligkeit mit sich selbst, der die Bildung der Individualität im Denken fördert, ohne das Denken unter ein externes Ziel zu stellen, erhält die freie Geselligkeit nicht nur eine ethische, sondern auch eine erkenntnistheoretische Bedeutung. Zur inneren Geselligkeit vgl. auch die Ethikvorlesungen 1812/13, E/^BI 80. Diese Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, darauf weist Arndt hin, nimmt die Unterscheidung von instrumentellem Handeln als Arbeit und kommunikativem Handeln als Interaktion vorweg (vgl. A R N D T 1996, Kommentar..., 1142). Hine ähnliche Wechselwirkung, eine Symbiose von aktivem und passivem Part, beschreibt Schleiermacher, wie bereits erwähnt, in den Reden als inniges Verhältnis zwischen Prediger und Gemeinde, aber auch in der l i e b e und Freundschaft sind Formen des Miteinanders, in denen Wechselwirkung annäherungsweise realisiert wird. Eine ähnliche Reflexion findet sich auch bei Schlegel in dem Brief an Dorothea. „Denn Geselligkeit ist das wahre Element für alle Bildung, die den ganzen Menschen zum Ziele hat, und also auch für das Studium der Philosophie, von dem wir reden [ . . . ] Wie klar wissen wir nicht, daß nur eine oder die andre Begebenheit den Sinn für eine neue Welt in uns weckte; daß das alles gar nicht sein würde, ohne diese oder jene BekanntschaftQ" (vgl. S C H L E G E L Κ Α VII, An Dorothea, 55)

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Die Frage, welche Rolle der freien Geselligkeit zukommt, wird vor allem in der Güterlehre der späteren Ethikvorlesungen aufgenommen. Die Güterlehre der Ethik setzt sich mit der zur Institution geronnenen Form vernünftiger Tätigkeit auseinander. Jede Tätigkeit der Vernunft manifestiert sich in einer spezifischen gesellschaftlichen Sphäre oder „ethischen Form": Staat, Akademie, Kirche, Familie und freie Geselligkeit. Die freie Geselligkeit ist dabei diejenige gesellschaftliche Sphäre, in die Beschränkungen und Hierarchien, Klasse, Stand, Religion, Geschlecht oder Nationalität der anderen Sphären keinerlei Rolle spielen: „Die freie Geselligkeit aber erstirbt, sobald sie sich nach äußeren Kennzeichen organisiren will." {EthBI 127 § 238) Auf diese Weise kommt ihr, bezogen auf alle anderen Sphären, eine einigende Funktion zu. 76 In der Ethikvorlesung wird sie inhaltlich als freies Spiel intellektueller Tätigkeiten, „je vielseitiger, desto besser" (EA©I 129 § 249), verstanden. Im freien Gedankenspiel einer gemischten Gesellschaft werden Gedanken, Haltungen, Gefühle angespielt, zu deren Entfaltung in den anderen Sphären weder Raum noch Gelegenheit wäre. Schmölze sieht in der freien Geselligkeit vor allem eine Keimzelle zur gesellschaftlichen Opposition, denn im freien Spiel wird die freie Geselligkeit zur Ideenschmiede, in der Lösungen ethischer und wissenschaftlicher Konflikte entworfen werden. 77 Verstanden als oppositionelle Keimzelle, als gewaltfreien Raum politisch-gesellschaftlicher Bildung und Innovation rückt Schmölze Schleiermachers Entwurf der freien Geselligkeit in die Nähe der ästhetischen Erziehung Schillers. In der in Briefform abgefassten Abhandlung Über die Erziehung des Menschen von 1795 rückt Schiller - noch unter dem Schock der Gewaltherrschaft als Folgeereignisse der französischen Revolution - seine ästhetische Reflexion in eine geschichtsphilosophische Perpektive. Gesellschaftlicher Wandel vom Naturstaat zum Kulturstaat soll durch individuelle Bildung erreicht werden. Ähnlich wie Schleiermacher versteht auch Schiller Arbeitsteilung und Vereinzelung als einen gesellschaftlichen Zustand, der die innere Bildung zur Individualität hindert und stellt ihr die Kunst als ästhetischen Freiraum ganzheitlicher Bildung entgegen. Die Nähe zu Schillers Entwurf einer ästhetischen Erziehung des Menschen kann noch dadurch unterstrichen werden, dass die freie Geselligkeit bei Schleiermacher eine enge Verbindung zur künstlerischen Tätigkeit aufweist, denn die freie Geselligkeit besteht ebenso wie die künstlerische Tätigkeit aus einem freien Gedankenspiel. Allerdings lässt sich der Freiraum der freien Geselligkeit bei Schleiermacher nicht mit der Kunst identisch setzen, sie ist eine Art „Gesellschaftskunst", in der auch mit Handlungen „gespielt" wird. Schillers wie Schleiermachers Entwurf - dies problematisiert Schmölze leider nicht müssten sich jedoch der Frage stellen, wie die individuelle Bildung zur gesamtgesellschaftlichen Relevanz gelangt. Denn die Umsetzung politischer, gesellschaftlicher oder familiärer Opposition, wie sie in der freien Geselligkeit entworfen (aber 7t^

77

Eine einigende Funktion kommt auch der „ethischen Form" der Familie zu, vgl. dazu Kapitel 5.1.1. Vgl. S C H M Ö L Z E 1971, 248 u. 252.

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nicht ausgetragen!) wurde hängt doch wesentlich davon ab, dass die einzelnen Individuen kein schizophrenes Verhalten an den Tag legen, sondern sich als Einheit begreifen und die oppositionellen Überlegungen in die anderen Sphären hineintragen. In den Notizheften von 1796-1799 finden sich ganz offensichtlich Vorarbeiten zur Theorie des geselligen Betragens?^ Diese Notate sind jedoch nicht nur Vorarbeitenm sondern besonders interessant, weil sich in ihnen insgesamt eine andere Herangehensweise an das Problem zeigt als in dem Fragment Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In dem Fragment wird Wechselwirkung als konkrete zwischenmenschliche Wechselwirkung vorgestellt. Die Notate formulieren diese Wechselwirkung wesentlich abstrakter als Lösung zweier „Antinomien" oder Gegensätze, deren Gegensätzlichkeit sich in Wechselwirkung vermittelt. Damit sind die Notate einerseits richtungsweisend für die spätere, wesentlich breitere Verwendung des Begriffs Wechselwirkung, der nicht nur den Bereich des Zwischenmenschlichen bezeichnet, sondern wesentlich abstrakter auch die Wechselwirkung zwischen Theorie und Empirie oder zwischen Urteil und Begriff umfasst. Andererseits liegen uns mit diesen Notate keinesfalls abgeschlossene Gedankenkomplexe vor, mit dem Begriff der „Antinomie" werden auf knappem Raum ganz unterschiedliche philosophische Probleme angesprochen, deren sprachliche Form zum Teil großen Interpretationsspielraum lässt. Aus diesem Grund kann die folgende Lektüre daher nur als ein Angebot verstanden werden, diese Notate in den Gesamtzusammenhang einer Philosophie der Wechselwirkung einzuordnen. Ausgangspunkt für die Überlegungen der Notate ist die Frage nach der „guten Lebensart", die sich für Schleiermacher im Gegensatz zu den Kniggeschen Benimmregeln 79 immer nur als Aufgabe formulieren lässt, das scheinbar Entgegengesetzte zu vermitteln. Im Notat 90 heißt es:

78 Am Rande einiger Notate findet sich der Vermerk „zu III", was offensichtlich auf eine Durchsicht Schleiermachers hinweist. Für Meckenstock ( M E C K E N S T O C K 1984, Einleitung, XIX) bedeutet dieser Vermerk „zu III", dass die gekennzeichneten Notate und Aphorismen dem dritten Gesetz oder dritten Teil der Theorie des geselligen Betragens zugeordnet waren - demnach also eine Textgrundlage für die Rekonstruktion des materiellen Gesetzes abgeben könnten. Allerdings ist nicht immer einsichtig, warum einzelne Notate diesen Vermerk tragen, und andere, die denselben Gedanken betreffen, jedoch nicht. In den Notaten taucht die Unterscheidung zwischen einem quantitativen, formalen und inhaltlichen Aspekt selbst nie auf, lediglich ein einziges Mal ist von einem „dritten Gesetz" die Rede, dessen „Hauptpunkt" der Gegensatz (die „Antithese") von Geist und Buchstaben sei. Dieser Gegensatz von Geist und Buchstabe lässt sich auch am ehesten mit dem freien Spiel der Gedanken und Empfindungen zusammenbringen, in dem die freie Geselligkeit inhaltlich besteht. Die Lektüre von Knigges Über den Umgang mit Menschen, die einzelne Notate belegen, diente Schleiermacher offensichtlich als Kontrastfolie für den Entwurf von neuen, in keinem Regelwerk festzulegenden Geselligkeitsformen.

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Quellen der Antinomie in der guten Lebensart sind folgende: die gegen den einzelnen und gegen das ganze, die natürliche und positive, die Behandlung als Mittel und die als Zwek der Buchstabe und der Geist. (GIKGA I 2, 25£, Nr. 90)

Schleiermacher versteht unter „Antinomie" den Streit zweier Sätze oder „Antithesen", deren zwei sich scheinbar ausschließende Forderungen das gesellige Bettagen bzw. die gute Lebensart gerecht werden soll. Eine Vermittlung beider „Antithesen" ist dann erreicht, wenn sich die beiden scheinbar entgegengesetzten Sätze als identisch erweisen. 80 So verbirgt sich beispielsweise hinter der Antinomie „gegen den einzelnen und gegen das ganze" (G7KGA I 2, 25, Nr. 90) die Forderung eines Miteinanders, in dem sowohl die Individualität des Einzelnen als auch die Gesellschaft als Ganzes zur Entfaltung kommen. Schleiermacher diskutiert diese zwei Forderungen bereits im ersten quantitativen Teil der Theorie und zeigt die wechselseitige Voraussetzung der Entfaltung der Individualität des Einzelnen und der des gesellschaftlichen Ganzen auf. Die Entfaltung und Bestimmung der Gesellschaft ist Voraussetzung der Entfaltung und Bestimmung der Individualität des Einzelnen, beide gegeneinander auftretenden Forderungen erweisen sich als ein und dieselbe. 81 Die Antinomie des Mittels und des Zwecks, die Schleiermacher in Notat 143 als „Grund Antithese" bezeichnet, stellt an die sie vermittelnde Wechselwirkung in der freien Geselligkeit die Forderung, jeden, den man als Mittel behandelt, zugleich immer auch als Zweck zu betrachten. Für das gesellige Betragen, das aus einem freien Gedankenspiel besteht, sind die Möglichkeiten, jemanden als Mittel einzusetzen, denkbar gering, weil andere Handlungsmotivationen als die, sich gemeinsam in freiem Gedankenspiel anzuregen, in der freien Geselligkeit nicht gegeben sind. Die einzige Möglichkeit, sich des anderen als Mittel zu bedienen ist die, ihn als Mittel des Wohlgefallens einzusetzen. Die Antithese von Mittel und Zweck illustriert Schleiermacher dementsprechend im Notat 151 auch an der Situation des Scherzens: Ein Scherz über eine andere Person darf nicht allein zur privaten Belustigung dienen, sondern muss immer auch den, über den gescherzt wurde, zum freien Gedankenaustausch anregen: Der Scherz muß so seyn daß er selbst dadurch vergnügt und erregt wird — und so daß er im Zustande der Gesellschaft bleibt d. h.ich muß ihn nicht nöthigen sich in seinen Familien oder bürgerlichen Zustand zuriiekzusezen. (G7KGA I 2, 35, Nr. 151)

Eine ähnliche Verwendung von „Antithese" findet sich auch bei Schlegel: „Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Anthithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken." (SCHLEGEL Κ Α II, Athenäums-Fragmente, 184, 121). 81

Neben der Antinomie „gegen den einzelnen und gegen das ganze" lassen sich auch die Antinomie natürlicher und konventioneller Lebensart (G7KGA I 2, 29, Nr. 108, GJKGA I 2, 31, Nr. 118 ) und die Antinomie zwischen dem, was die Gesellschaft voraussetzt und dem, was sie hervorbringen soll (G/KGA I 2, 43, Nr. 188), als Vorüberlegung zum quantitativen Aspekt der Theorie des geselligen Betragens begreifen.

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Der Fall, dessen Lösung Schleiermacher als Vermittlung der Antinomie von Zweck und Mittel vorstellt, kann allerdings ebenso gut auch als Vermittlung der Antinomie von Schein und Wesen beschrieben werden, zu der Schleiermacher die meisten Ausführungen macht. 82 Zum Schein 2ählt Schleiermacher die von Knigge aufgestellte Regel des sich „Selbstzurücksezens" (G7KGA I 2, 26, Nr. 92), mit der man dem Gesprächspartner zu gefallen sucht, ihm Raum und Gelegenheit gibt „zu glänzen": „Alle Menschen wollen amusirt seyn ist das Princip des Scheins." (GIKGA I 2, 27, Nr. 98) Verschafft man dem anderen jedoch ein derartiges Wohlwollen bei der eigenen Darstellung, so betrachtet man ihn als ursprünglich passiv, als jemanden, den man erst zur Darstellung reizen muss, 83 und das entspräche nicht dem Prinzip der Wechselwirkung. In der Antinomie von Schein und Wesen wird die Frage, wie man jemanden zur Selbsttätigkeit anregen kann, konkret. Der Schein als Prinzip des Wohlgefallens soll dabei nicht allein auf Wohlgefallen, sondern auf die Lust des anderen, sich frei zu äußern, ausgehen: „Wolbehagen soll imer die Erscheinung einer freien Humanitäts Aeusserung seyn." (G7KGA I 2, 26, Nr. 92). Die Überlegungen, die Schleiermacher in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens ausführt, kommen ganz unscheinbar daher, weil sie sich auf etwas ethisch scheinbar Unwichtiges wie das Salonleben richten. In dieser kurzen Abhandlung stellt Schleiermacher jedoch Überlegungen an, die für seine Ethik exemplarischen Charakter haben. Im Bereich der freien Geselligkeit wird das wechselseitige Verhältnis von Individuum und individueller Gesellschaft besonders deutlich („quantitativer Aspekt"), gerade weil das Individuum nur auf sich selbst konzentriert ist und keinem fremden Ziel oder Interesse unterliegt. Mit der Frage nach einer neuen Gesellschaft, wird die wechselseitige Abhängigkeit von Ganzem und Teil thematisiert, die zuvor analog zum hermeneu tischen Zirkel auch als „ethischer Zirkel" bezeichnet wurde. Mit der Frage nach dem angemessenen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in einer bereits bestehenden freien Geselligkeit wird die wechselseitige Beschränkung, mithin das wechselseitige Verhältnis von Gesellschaft und Individuum, unter dem Aspekt der Freiheit bzw. Freiheitsbeschränkung fokussiert. Mit dem Zustand der „vollendeten Wechselwirkung" (dem formalen Aspekt), formuliert Schleiermacher nicht nur die Form freier Geselligkeit, sondern zugleich ein „ethisches Ideal": Alles Leiden ist zugleich auch Tätigkeit. Das sich gegenseitige Beschränken, der Umstand, dass sich „Freiheit an Freiheit stößt", wie Schleiermacher in den Monologen formuliert, wird in der Zielvorstellung vollendeter Wechselwirkung aufgehoben. Dieses ethische Ideal vollendeter Wechselwirkung oder verwirklichter Freiheit findet in der Sphäre freier Geselligkeit opti82

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Im Hintergrund dieser Antinomie steht nicht nur Knigge, sondern vor allem Kants Antropologie, (Schleiermacher veröffentlicht im Athenäum 1799 eine Rezension), in der der Schein als Einübung ethischen Verhaltens anerkannt wird. Vgl. G/KGA I 2, 26, Nr. 95.

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Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung:

berliner Scbnßen (1798-1801)

male Entfaltungsmöglichkeit (aber auch in der religiösen Geselligkeit, der Freundschaft und der Liebe). Es ist ein Schutzraum für das ethische Ideal der vollkommenen Wechselwirkung, weil es hier um keine externen Interessen, sondern um den freien Gedankenaustausch geht (dies ist der materiale Aspekt). Indem sich in der freien Geselligkeit alle Schichten, Klassen, Geschlechter, Religionen und Nationalitäten mischen, übernimmt sie eine einigende Funktion und fungiert zugleich auch als eine Art kreativ-oppositionelle Ideenschmiede. Die freie Geselligkeit ist so nicht nur Modell, an dem sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft exemplarisch untersuchen lässt, sondern eine Reflexion auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Sphäre freier Geselligkeit. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der freien Geselligkeit wird dabei politisch besonders aktuell und interessant, wenn freie Geselligkeit, wie Schleiermacher das in der Ethikvorlesung von 1812/13 tut, 84 nicht nur zwischenmenschlich, sondern in seiner größtmöglichen Form auch als Verhältnis zwischen „Volksstämmen" bzw. Staaten verstanden wird. Als Vermittlung zweier Antithesen erhält die Wechselwirkung in den Notaten eine wesentlich abstraktere Bestimmung als in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. Ersetzt man den Begriff der „Antithese" durch den späteren Begriff „relative Gegensätze" deutet sich hier schon eine wesentlich umfassendere Verwendung des Begriffs Wechselwirkung an. 8 5 Ein Grund dafür, warum Schleiermacher den Versuch einer Theorie des geselligen Betragens als Fragment belassen hat, kann vielleicht darin gesehen werden, dass mit der Bestimmung der Wechselwirkung als Vermittlung relativer Gegensätze der Kern des Schleiermacherschen Denkens getroffen wurde, dessen Ausführung den Rahmen einer Theorie des geselligen Betragens zwangsläufig sprengen musste.

2.5. Die Wechselwirkung der Geschlechter- „Vertraute Briefe Schlegels Fucinde " (1800)

Friedrich

1799 veröffentlicht Friedrich Schlegel den Roman Lucinde, mit dem er deudiche Kritik, ja sogar Anfeindung in der Öffentlichkeit erfuhr. Schleiermacher antwortet auf diese heftige Reaktionen mit einer Rezension eigener Art. Es ist eine ebenfalls in Briefform vorgetragene Auseinandersetzung mit dem Roman Lj/ande, wobei in die Briefkonversation kleinere Aufsätze und Aufschriebe einflochten sind. Den 84

85

Vgl. E/AW II 33, « 68. Neben den explizit als Antinomien bezeichneten Gegensätzen könnte man dann auch den in der Notiz 106 ausgesprochenen Gegensatz von Theorie und Empirie als Antinomie begreifen.

Die Wechselwirkung der Geschlechter

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Rahmen bildet der Briefwechsel mit einem dem Leser unbekannten Freund, der den fiktiven Autor bittet, er möge ihm den Briefwechsel über den Roman Jjtcinde zu lesen geben, den dieser mit drei Frauen gefuhrt hat. „Herzstücke" der Vertrauten Briefe in Bezug auf den Liebesbegriff sind der erste Brief von Ernestine, der Aufsatz Versuch über die Schamhafiigkeit und die Aphorismensammlung der Briefpartnerin Eleonore. Die Rezension ist weniger als simple Verteidigungsschrift denn als eine philosophische Antwort zu werten, die Schleiermacher auch literarisch gelingt und neben der Auseinandersetzung mit der Rolle der Geschlechter und dem Liebeskonzept eine Reflexion über die Möglichkeit und Form literarischer Kritik überhaupt enthält. 86 Was das Grundkonzept der Liebe als wechselseitige Bildung zweier Individuen angeht, so stimmt Schleiermacher mit Schlegel überein, formuliert jedoch (interessanterweise aus dem Mund der weiblichen Briefeschreiberinnen) einige kritische Gedanken, die das Konzept der Wechselwirkung oder Wechselbildung noch genauer konturieren. 87 Jede der drei Briefeschreiberinnen 88 bringt dabei je einen Kritikpunkt vor: Eleonore kritisiert, dass in dem Schlegelschen Roman die „Lehrjahre der Frau" fehlen, denn wie der Mann ist auch die Frau nicht gleich „aus dem Stand" liebesfähig, sondern entwickelt ihre Liebesfähigkeit auch erst in Erfahrung mit verschiedenen Partnern. Mit dieser Bemerkung Eleonores unterstreicht Schleiermacher den lebensweltlichen Aspekt des romantischen Liebesbegriffs, der die Erfahrung nicht hinter sich lassen kann und soll. Liebe ist nicht nur ideale Wechselbildung zweier Individuen, zur Liebe selbst muss man sich auch erst bilden. Mit der Forderung auch der Frau „Lehrjahre der Liebe" zuzugestehen, bricht Schleiermacher übrigens ein weitaus größeres Tabu als die Schlegelsche Reflexion über die Rollenverteilung in der Sexualität. In eine ähnliche Richtung gehen die Einwände Ernestines, die die „Weltlosigkeit" der

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Vgl. dazu vor allem den Rahmenbriefwechsel. Als gelungenes Beispiel romantischer (Literatur)kritik, die poetisch und kritisch zugleich verschiedene Literaturgattungen anspielt und mit einer Reflexion auf ihre Möglichkeiten und Grenzen verbindet, ist Schleiermachers Antwort auf Schlegels iMcinde noch sehr wenig gewürdigt worden; gegenüber dem polemischen Schlegel, der als Meister in diesem Fach gilt, fallt Schleiermachers Kritik natürlich wesentlich filigraner aber auch komplexer aus. Dass die Schrift Vertraute Briefe i;u Friedrich Schlegels Ljicinde in der Sekundärliteratur in der Regel vorschnell als Verteidigungsschrift klassifiziert wird (SCHMÖLZE 1971, 243 oder auch N O W A K 2001, 94) kritisiert vor allem Wiebering (WIEBERING 1986, 60ff.). Schleicrmacher nehme die Schlegelsche Lucinde eher als Anlass, um seinen eigenen Begriff von Freundschaft und Liebe gegen den Schlegelschen abzusetzen. Der Unterschied scheint mir indes nicht so groß, denn die im Versuch über die Schamhafiigkeit eingeklagte Achtung vor den Grenzen der Individualität des Partners wird von Schlegel selbst in vielen Aphorismen immer wieder gefordert. Zu jeder der drei Briefeschreiberinnen unterhält der Autor ein je eigenes Verhältnis: Eleonore ist die geistige Schwester, zu Karoline besteht eine eher väterliche Bindung und Eleonore, die den Vornamen derjenigen Frau trägt, die Schleiermacher zum Austritt aus einer unglücklichen Ehe bewegen und für sich gewinnen wollte, ist die Geliebte.

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Liebesbeziehung zwischen Julius und Lucinde hervorhebt. Auch wenn zwei Liebende aneinander ein Du finden, so kann dieses Du nicht die ganze Welt ersetzen und der einzige Anlass, man könnte auch formulieren, das einzige Wechselverhältnis sein, in dem und mit dem man sich zum Individuum bildet. Zugleich erhält auch das innige Zweierverhältnis der Liebenden im Austausch mit der Welt eine andere Tiefe. 8 9 Geht nicht die Liebe in dem B u c h e bei aller Vollständigkeit der Darstellung doch ein wenig gar zu sehr in sich selbst zurück? Ich wollte sie g i n g e auch hinauswärts in die Welt und richtete da etwas tüchtiges aus. f . . . ] Mir ist es schon recht, daß etwas geschieht gegen die moralisch sein wollende Weichlichkeit, die die Liebe i m m e r nur auf der Oberfläche spielen läßt, aber m a n m u ß nicht in eine andere Weichlichkeit gerathen, die eben so arg ist, daß m a n Alles in sich zehren läßt, weil man nichts damit zu m a c h e n weiß, oder es sich nicht getraut. (T^BKGA I 3, 162f.) Mir scheint Liebe und W e l t eben so unzertrennlich zu sein als Mensch und Welt im Leben und in der Darstellung, und w e r sie in der letzten von einander scheiden will, versündigt sich. ( K B K G A I 3, 164)

Die junge Karoline wehrt sich gegen den „Geschlechtsdespotismus", mit dem Julius die Zurückhaltung der Frauen und Mädchen als Angst vor dem Unerlaubten interpretiert, dabei einen Teil der Innenwelt des Gegenübers einfach ignoriert und sich auf diese Weise seiner eigenen Skrupel bequem entledigt. Diese Kritik an der Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel und dem mangelnden Respekt vor den Gemütszuständen des anderen, oder man könnte es noch allgemeiner formulieren: die mangelnde Anerkennung des anderen als anderen, wird in dem Aufsatz Versuch über die Schamhaftigkeit theoretisch reflektiert. 9 0 Schamhaftigkeit richtet sich nicht auf einen bestimmten Inhalt, sondern ist eine Achtung vor der Stimmung des anderen und ist darauf bedacht, sie dort, wo man sie nicht verändern oder mitreißen kann, nicht gewaltsam zu verändern: Dasjenige, worauf sie [die Schamhaftigkeit, S. S.] dringt, ist eigentlich Achtung für den Gemüthszustand eines Andern, die uns hindern soll, ihn nicht gleichsam gewaltsamerweise zu unterbrechen f...]. ( K B K G A I 3, 172)

Der oder diejenige, der oder die in einer erotischen Situation anfängt, über Kants Verständnis der Ehe zu diskutieren, kann also ebenso schamlos sein, wie der oder diejenige, die oder der in einer unpassenden Situation anzügliche Witze macht. Da

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Die Verteidigung, die der fiktive Autor auf diesen Vorwurf der „Weltferne" vorbringt, mag nicht so richtig überzeugen: In dem Roman Ljirinde werde keine Abkehr von der Welt dargestellt, sondern lediglich in der Darstellung von ihr abstrahiert. Indem Schleietmacher seine Kritik geschickt in der Form eines Briefwechsels vorbringt, wird der Freund „verteidigt", zugleich bleibt es dem Leser überlassen, ob und von wem er sich überzeugen lässt. Mit der Tugend der Schamhaftigkeit formuliert Schleiermacher für die zwischenmenschliche Kommunikation ein ähnliches Gesetz wie mit der „Schicklichkeit" für den gesellschaftlichen bzw. geselligen Bereich in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens.

Die Wechselwirkung der Geschlechter

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Schamhaftigkeit sich auf kein Gebiet festlegen lässt, sondern das Verhältnis zwischen Individuen allgemein betrifft, bezeichnet sie Schleiermacher auch als eine allgemeine Tugend: Nur ein Mehr und Weniger kann dazwischen Statt finden, und die allgemeine Aufgabe der Schamhaftigkeit bleibt also, jeden Menschen, in jeder Stimmung die einem eigen oder mehreren gemeinschaftlich ist, kennen zu lernen, um zu wissen, wo seine Freiheit am unbefestigtsten und verwundbarsten ist, um sie dort zu schonen. (ί IiK(ϊ A I

3, 172) Mit Schleiermachers literarisch vorgetragenen Einwänden erfährt der romantische Liebesbegriff als wechselseitige Bildung zweier gleichgesinnter Seelen eine schärfere Kontur, die auch für das Motiv der Wechselwirkung von Bedeutung ist: Das konkrete Ideal gelebter Einheit entsteht im Wechselspiel von Ideal und Erfahrung, und diese Wechselwirkung zwischen den Partnern ist kein autistisches Unternehmen, sondern eingebunden in einen konkreten Lebenszusammenhang. Für die Figur der Wechselwirkung lässt sich diese Bemerkungen allgemeiner formulieren: Ein einzelner Wechselwirkungszusammenhang lässt sich nicht „aus der Welt" mithin aus anderen Wechselwirkungszusammenhängen isolieren. Mit dem Begriff der Schamhaftigkeit als Anerkennung des Andersseins des Partners legt Schleiermacher den Finger auf die notwendige Dualität von Differenz und Einheit der Wechselglieder. Denn in der Wechselwirkung kann es nicht darum gehen, die Differenz der Wechselglieder aufzuheben, die genau ein Moment der Dynamik ausmacht. Zum Ideal der wechselseitigen Bildung in Liebe und Freundschaft gehört wesentlich auch die Selbständigkeit und Differenz der Partner, deren Anerkennung Schleiermacher mit dem Begriff der Schamhaftigkeit einfordert und die sich auch bei Schlegel an verschiedenen Stellen immer wieder formuliert findet.91 Allerdings haben sowohl Schlegel als auch Schleiermacher nicht nur die individuellen Differenzen vor Augen (auf die vor allem der Begriff der Schamhaftigkeit abzielt), sondern auch die Geschlechterdifferenzen. Obgleich die vollkommene Auflösung dieser Rollen- und Charakterzuweisung sozusagen das in unendlicher Annäherung zu erreichende Ziel ist, so müssen sie sich eben aus Einsicht in die Funktionsweise der Dynamik sowohl gegen die klischeehafte Starrheit dieser Rollen als auch gegen eine völlige Auflösung dieses Gegensatzes wenden. Schleiermachers frühe Schriften, die Vertrauten Briefe aber vor allem auch der Katechismus der Vernunft für edle Frauen aus den Athenäums-Fragmenten betonen vor allem das Moment der Auflösung starrer Rollenklischees. In dem im Freundeskreis sehr populären und provokanten Fragment stellt Schleiermacher

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Zu Schlegel vgl. REHME-IFFERT 2001, 92: „Angestrebt ist ja gerade keine platt-versöhnerische, unterschiedslos verabsolutierende Harmonie, sondern eine spannungsvolle, die im Anerkennen der Unterschiede des Gegenübers eine wesentliches Moment hat. Und ebenso wird die Vergänglichkeit und Vorläufigkeit einer solchen Synthese gesehen."

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Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung: Berliner Schuften (1798-1801)

zehn Liebesgebote auf, gefolgt von einem „Glaubensbekenntnis", das die Befreiung vom „Rollenjoch" verkündet: 1) Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm. 2) Ich glaube, daß ich nicht lebe, u m zu gehorchen oder um mich zu zerstreuen, sondern um zu seyn und zu werden; und ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen, und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen. 3) Ich glaube an Begeisterung und Tugend, an die W ü r d e der Kunst und den Reiz der Wissenschaft, an Freundschaft der Männer und Liebe zum Vaterlande, an vergangene Größe und künftige Veredlung. (Fra^KGA 12, 154)

In den Ethikvorlesungen ebenso wie in den späteren Psychologievorlesungen schreibt Schleiermacher die Differenzen jedoch wieder fest. 92 Obgleich die Vertrauten Briefen aber auch das populäre Athenäums-Fragmentes Katechismus der Vernunft für edle Frauen eher als Dokumente einer feministischen Position gelesen werden können, befällt einem bei der Lektüre der Geschlechterdifferenzen in der Psychologie (ebenso wie in den Ethikvorlesungen) großer Zweifel, inwiefern Schleiermacher als Vorreiter der Frauenemanzipation gehandelt werden kann. 9 3 Man kann diese (vollkommen klischeehafte) Ansammlung „männlicher" und „weiblicher" Eigenschaften jedoch auch als Namen für Dispositionen lesen, die weder biologisch interpretiert werden, noch alle zugleich auftreten müssen. Handelt es sich aber um die Unterscheidung von Idealtypen, denen nicht unbedingt empirische Exemplare von Mann und Frau entsprechen müssen, dann wird allerdings auch Schleiermachers Ehe - und Familienkonzept modifikationsbedürftig. 94

2.6. Die Dialogführung im Gespräch „ Über das Anständige " als Wechselwirkung von Theorie und Erfahrung Wahrscheinlich im Frühjahr 1800 95 schreibt Schleiermacher einen philosophischen Dialog, in dem der Versuch unternommen wird, den Begriff des Anständigen zu bestimmen, und der inhaltlich den Vertrauten Briefen über Ludnde sehr nahe 92

93

94 95

In den Ethikvorlesungen ist die Geschlechterdifferenz grundlegend für die „ethische Form" der Familie. Allerdings bestimmt Schleiermacher als „Maßstab der Vollkommenheit einer Ehe" „das Extinguiren der Einseitigkeit des Geschlechtscharakters und die Entwicklung des Sinnes fur den entgegengesezten" (ΕώΒΙ 84, § 23). Die Psychologie befasst sich im „konstruktiven Teil" neben den Charakter-, Temperament- und Wertdifferenzen, die zwischen den Einzelwesen bestehen können, auch mit Geschlechterdiffetenzen (ft)SW III 6, 290-301). Eine ähnlich geteilte Einschätzung des emanzipatorisch-progressiven Charakters liegt in der Schlegelschen Sekundärliteratur vor (vgl. REHME-1FFERT 2001, 106). Vgl. dazu Schleiermachers Bemerkungen zur gleichgeschlechtlichen Beziehung ΕώΒΙ 84, § 25. Zur Datierung vgl. MECKENSTOCK 1988, Einleitung XLIV f.

Die Dialogführung im Gespräch "Über das Anständige" (1800)

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steht. Formal ist er an dieser Stelle deswegen so interessant, weil die Dialogführung ein erkenntnistheoretisches Wechsel Verhältnis illustriert, das erst sehr viel später im ersten Dialektikentwurf (1811) thematisiert wird - nämlich die wechselseitige Modifikation einer eher konkreten, von der Erfahrung ausgehenden, und einer eher abstrakten, vom Begriff aus argumentierenden Position. Während Sophron nur eine allgemeine Vorstellung von der Bedeutung und dem Rang des Anständigen hat - im Anständigen zeige sich die Vollendung des Menschen, es gehe noch über die Sittlichkeit hinaus 96 - kann sein Gesprächspartner Kallikles genau benennen, was er unter dem Anständigen versteht. Beide stehen jedoch nicht nur für verschiedene Arten und Weisen, die Begriffsbestimmung vorzunehmen, sie haben auch eine ganz entgegengesetzte Wertung: Ausgangspunkt ist die Hochschätzung des Anständigen durch Sophron und die Geringschätzung des Anständigen durch Kallikles. Für Kallikles ist das Anständige eine Kunst, die in wenigen Tagen erlernbar ist, ein „Gewebe äußerer Gebräuche und eingebildeter willkührlich erdachter Tugenden" (LMKGA I 3, 78). Das Anständige ist für Kallikles zunächst eine bloße Nachahmung des Sittlichen, die sich von dem Sittlichen unterscheidet wie ein Bild von einem Gegenstand. 97 Im Verlauf des Gesprächs erschließt sich Kallikles die Widersprüchlichkeit seiner unterschiedlichen konkreten Bestimmungen, Sophron hingegen, der am Anfang nicht mit sich selbst einig wird und wissen will, „worin es [das Anständige, S. S.] eigentlich besteht und wie man dazu gelangt" (ÜAKGA I 3, 78), füllt seinen abstrakten Begriff langsam mit Inhalt, sodass in dieser Wechselseitigkeit der gesuchte Begriff schließlich Kontur gewinnt, ohne dass das Gespräch jedoch als beendet und die Bestimmung des Begriffs als abgeschlossen betrachtet werden könnte. Bei der Einsicht in die Widersprüchlichkeit der „angesammelten" Verwendungen des Begriffs formuliert Sophron Skrupel, inwiefern ein im Zweiergespräch bestimmter Begriff überhaupt allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. [...] aber w e n n wir auch auf diesem W e g e etwas finden, werde ich Dir dann nicht immer die Einwendung machen müßen, die D u mir bisher gemacht hast, daß nemlich zweifelhaft bleibt, ob das unsrige auch das sei, w a s die Welt anständig nennt? (LL4KGA I 3, 94)

In seiner Antwort verweist Kallikles auf die gemeinschaftliche Konstruktion der Gedanken, die später in der Dialektik als zweites Merkmal des Wissens ausgeführt wird. l i e b e r Sophron, die Menschen fordern etwas von uns außer dem Sittlichen, und nennen es das Anständige; sie wißen uns keinen bestimmten Begrif davon zu geben, wenn wir nun selbst einen finden, da w o sie uns anweisen, und ihnen sagen können, daß es außer dem Sittlichen in den Handlungen nichts weiter geben könne als dieses, 96 97

Vgl. LMKGA I 3, 77. Vgl. LL4KGA 1 3, 79.

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Erste Vielfalt des Gedankens der Wechselwirkung: Berliner Schriften (1798-1801) so m u ß ja dies nothwendig ihr Begrif sein, und w e n n das Einzelne welches sie anständig nennen nicht darunter fällt, so bleibt nichts übrig, als daß sie in der Anwendung ihrer Idee gefehlt haben. ( Ü A K G A I 3, 94)

I n l i t e r a r i s c h e r F o r m w e i s t S c h l e i e r m a c h e r a l s o in d i e s e m k u r 2 e n D i a l o g b e r e i t s auf das zentrale Wechselverhältnis v o n T h e o r i e u n d E r f a h r u n g hin, das in den Dialektikvorlesungen zentral wird.

3. Die Wechselwirkung der Formen des Denkens oder die Begründung eines Wissens „ohne Anfang" Dialektik 3.0. Umleitung Der theologischen Auseinandersetzung mit Schleiermacher ist es zu verdanken, dass die Dialektik Schleiermachers immer wieder auch unter philosophischen Fragestellungen ins Blickfeld gerät, auch wenn in der theologischen Rezeption vor allem das problematische Verhältnis von Theologie, Philosophie und Religion fokussiert wird. Die Geschichte der rein philosophisch orientierten Rezeption der Dialektik ist indes nicht besonders ausladend, sodass H.-J. Rotherts Feststellung von 1970, die Dialektik sei ein „immer noch wartendes Buch", auch dreißig Jahre später noch gilt. 1 In der folgenden Untersuchung der Dialektik wird es darum gehen, die Stringenz des Schleiermacherschen Gedankengangs vor dem Hintergrund der zentralen Fragestellung stark zu machen: Wie ist eine Orientierung im Endlichen vom Endlichen aus möglich? Insofern Rothert das Streitgespräch in den Mittelpunkt seiner Dialektikinterpretation stellt und die Dialektik hinsichtlich der Frage untersucht, was ausgehend vom streitenden Denken über das reine Denken ausgesagt werden kann, folge ich in meiner Dialektikinterpretation dem Ansatz nach Rothert. Das folgende Kapitel fokussiert zunächst Schleiermachers erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt oder das „Projekt Dialektik" (Kapitel 3.1.), widmet sich dann seiner Realisierung in dem so genannten transzendentalen Teil (Kapitel 3.2.) und dem technischen Teil der Dialektik (Kapitel 3.3.) und schließt mit einer Reflexion auf Schleiermachers Bestimmung der Beziehung von Sein und Denken. Die Möglichkeit der Begründung einer Philosophie des Endlichen ohne inhaltlichen Diese Einschätzung teilt auch Manfred Frank (FRANK 2000, 8). Neben den älteren Interpretationen von Bruno Weiß (1878-1880), Isodor Halpern (1901) und Georg Wehrung (1920), sind die Monographien von Hans-Joachim Rothert ( R O T H E R T 1954), Falk Wagner (WAGNER 1974) und H.-R. Reuter (REUTER 1979) zu nennen, sowie zahlreiche Aufsätze von Andreas Arndt. Falk Wagner interpretiert und diskutiert die Schleiermachersche Dialektik vor allem im Kontext des deutschen Idealismus und hebt Schleiermachers Konzept des religiösen Gefühls in Anschluss an Hegels Schleiermacher-Kritik kritisch hervor, während Reuters seine Auseinandersetzung an der Entfaltung des Schleiermacherschen Gedankengangs orientiert und eine textimmanente Interpretation vorstellt.

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik.

„Zugriff auf ein Absolutes wird allein in der Dialektik systematisch verfolgt, obgleich der Ausgang vom Endlichen für alle Wissenschaften grundlegend ist. Eine Reflexion auf die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit findet jedoch bereits in der 1803 von Schleiermacher veröffentlichten Schrift Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre statt, die die ethischen Entwürfe großer Philosophen einer „formalen" Kritik unterzieht. Wie bei Schlegel führt die Forderung nach einer strengen systematischen Stringenz zu einer Philosophie der Wechselseitigkeit: An die Stelle eines obersten Grundsatzes tritt ein System der sich wechselseitig erweisenden und in Wechselwirkung bildenden Wissenschaften. Zugleich wird die Idee einer „obersten Wissenschaft", die auf die Bedingungen der Möglichkeit von Wissen reflektiert, nicht aufgegeben. Die Frage, inwiefern die Dialektik oberste Wissenschaft sein kann, obgleich sie in das System der sich wechselseitig erweisenden Wissenschaften integriert ist, bleibt eine zentrale Frage in der Auseinandersetzung mit der Dialektik. Schleiermacher bestimmt Dialektik als „Kunst der Gesprächsführung", die dem ewigen Streitgespräch, als das sich die erkenntnistheoretische Praxis des Menschen darstellt, Regeln der Streitschlichtung entwerfen soll, um das kontingente oder bloß historische Denken einem Wissen anzunähern. Der Entwurf einer solchen Kunsdehre bedarf einer Klärung dessen, was Wissen ist, die jedoch nie jenseits des geschichtlich erscheinenden Wissens vorgenommen werden kann. Daraus ergibt sich die grundlegende wechselseitige Abhängigkeit zweier Teile der Dialektik, von denen keiner dem anderen vorgeordnet sein soll: einem transzendentalen Teil, der auf die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens reflektiert, und einem technischen Teil, der das Wissen in Bewegung betrachtet und sowohl empirisch aufsuchende wie (Streit)regeln regelgebende Wissenschaftslehre sein soll. Der grundsätzlich vorläufige Status der Dialektik, der aus dieser Wechselseitigkeit von Methode und Inhalt, transzendentalem und technischem Teil der Dialektik folgt, steht Schleiermachers Bemühen gegenüber, einen „überhistorischen Ausgangspunkt" zu finden, von dem aus die Streitregeln der Dialektik „ein für alle Mal" festgelegt werden können. Beide Tendenzen - die Reflexion auf den immer nur vorläufigen Status der Dialektik und das Bestreben einen Ansatz zu finden, mit dem sich trotz des historischen Ausgangspunkts bleibende oder „überhistorische" Streitregeln aufstellen lassen - sind in der Dialektikvorlesung bis zum Schluss präsent, und diese Spannung oder Inkohärenz wird nicht gelöst. Die Untersuchung über Grund und Form des Wissens, der nur ein streitendes und kontingentes Denken, aber kein Wissen selbst vorliegt, kann einen festen Ausgangspunkt gewinnen, indem sie sich dem Wissen in Form des „Wissenwollens" zuwendet. Nicht das Wissen selbst, sondern der Anspruch des vermeintlichen Wissens oder Denkens, ein Wissen zu sein, ist der Gegenstand der Analyse, die die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens frei legen soll. Diese so genannte „Analyse der Idee des Wissens", die den transzendentalen Teil der Dialektik

Fiinleitung

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ausmacht, möchte ich idealtypisch in vier Schritte gliedern, denen man wer Fragen zuordnen kann: 1. Was ist Wissen? 2. Was ist Denken? 3. Worin und warum unterscheiden sich Wissen und Denken? 4. Wie ist Wissen möglich? Das Wort „Analyse" ist insofern missverständlich, als dass es suggeriert, uns läge ein Wissen vor, dessen Form und Beschaffenheit wir untersuchen könnten. Tatsächlich liegt uns nur ein streitendes Denken vor, dem jedoch ein Wissenwollen innewohnt. Nicht das Wissen selbst, aber der Anspruch des kontingenten Denkens, ein Wissen zu sein, das „unbewusste Agens", das sich uns im Streit offenbart, bildet so den Ausgangspunkt der „Analyse der Idee des Wissens". Der erste Schritt dieser Analyse setzt an der Streitsituation selbst an und identifiziert diejenigen Annahmen, die dem Streit zugrunde liegen und ohne die das Streiten keinerlei Sinn macht, als die zwei „Charaktere des Wissens": Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass a) seine Konstruktion von allen gemeinsam vollzogen werden kann und b) eine vollkommene Entsprechung von Sein und Denken besteht. Für das Motiv der Wechselwirkung ist der zweite Schritt der Analyse der Idee des Wissens wesentlich, denn das Denken wird durch das enge Wechselverhältnis von Wahrnehmung und diskursivem Denken und innerhalb des diskursiven Denkens von Urteil und Begriff bestimmt. Mit dem WechselVerhältnis von Wahrnehmung und diskursivem Denken, das jede Wahrnehmung als theorielastig auszeichnet und jede Begriffsbildung auf den wahrnehmenden Gebrauch zurückführt, werden nicht nur Einsichten der modernen Gestaltpsychologie vorweggenommen und Weichen für die moderne Logik gestellt, sondern mit dem Wechselverhältnis von Wahrnehmung und diskursivem Denken ist auch eine Aufwertung des bildlichen Denkens verbunden, das in der Sekundärliteratur bisher nur selten ins Auge gefasst wnrde. 2 In dem dritten und vierten Schritt der Analyse soll aufgezeigt werden, inwiefern jedes reale Denken immer ein individuelles Denken sein muss, und ob und inwiefern sich das streitende Denken (in unendlicher Vermittlung) einem Wissen annähern kann. Muss jedes Denken als eigene Mischung der Denkfunktionen, mithin als je eigene Mischung des absoluten Gegensatzes verstanden werden, so markiert Wissen denjenigen Punkt der vollständigen Vermittlung des streitenden Denkens. Wissen ist Wissen von Welt, die als Terminus „ad quem" von Schleiermacher Idee der Einheit ist, „in welcher alle Gegensätze eingeschlossen sind" (DialKGA II 10/2, 586f.), d. h. als eine in sich differenzierte Einheit verstanden wird. Ob wir darauf hoffen können, dass wir die differenten, sich streitenden 2

In diesen Bereich des biidlichen Denkens fallen auch Schleiermachers Überlegungen zum Schematismus. Eine Auseinandersetzung zum Schematismus findet sich ζ. B. bei Manfred Frank (FRANK 2001).

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

Formen des Denkens je einem Wissen annähern können, ist mit der Bestimmung dessen, was Wissen und was Denken ist, nicht beantwortet. Letzte Bedingung der Möglichkeit von Wissen ist die ursprüngliche Einheit des Gegensatzes, die vom Denken als Bedingung der Möglichkeit von Wissen zwar markiert wird, in der Reflexion jedoch nicht eingeholt werden kann. Streng genommen müsste die Analyse der Idee des Wissens mit der Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit des Wissens und der Markierung der Denkgrenzen als beendet betrachtet werden. Gleichwohl antwortet Schleiermacher auf die Frage Was dürfen wir hoffen? oder besser: Was können wir glauben? im transzendentalen Teil der Dialektik. Der sich in den Überlegungen zum unmittelbaren Selbstbewusstsein aussprechende transzendentalphilosophische Standpunkt Schleiermachers hat in der Sekundärliteratur eine breite Diskussion gefunden, nicht zuletzt deswegen, weil sich hier ein Knotenpunkt des problematischen Verhältnisses von Philosophie und Theologie, mithin vom philosophischen und theologischen Werk Schleiermachers zeigt. Ohne diesen Punkt der Dialektik auszublenden, denn die Frage nach dem transzendenten Grund oder dem unmittelbaren Selbstbewusstsein gehört unweigerlich zur Analyse der Idee des Wissens, werde ich in die Diskussion nicht auf der Höhe der bereits bestehenden Differenzierung und Komplexität einsteigen, sondern lediglich eine Lesart anbieten, die Schleiermachers Auseinandersetzung mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein als Grenzbestimmung liest. 3 Diese Lesart, wenn auch nicht die einzig mögliche, so doch eine mögliche, scheint mir in Hinblick auf den Fokus einer Philosophie des Endlichen und ebenfalls in Hinblick auf die Öffnung der Philosophie Schleiermachers für eine Diskussion mit aktuellen Positionen die philosophisch attraktivste. Der technische Teil der Dialektik Schleiermachers fallt, was die Ausführung angeht, immer hinter den transzendentalen Teil zurück und liegt in den Vorlesungen 1811 und 1814/15 vor allem was die Urteilslehre angeht, nur als Konzept vor. Dies schlägt sich auch in der Sekundärliteratur nieder, die sich in der Regel mit Schleiermachers transzendentalem Teil der Dialektik beschäftigt, obgleich Schleiermacher auf die Aufgabe der Dialektik - nämlich streitschlichtende Regeln für das Gespräch aufzustellen - im technischen und nicht im transzendentalen Teil antwortet. 4 Anders als in den Einleitungen von Schleiermacher angekündigt, Eine Diskussion um das Ob und Wie des transzendentalphilosophischen Ansatzes bei Friedrich Schleiermacher findet sich für die letzten dreißig Jahren in Falk Wagners Dialektikinterpretation (WAGNER 1974) und im Anschluss und zum großen Teil direkten Bezug auf Wagners kritische Interpretation aus Hegelscher Perspektive u. a. bei FRANK 1977, Das individuelle Allgemeine, 87ff.; THIEL 1981; BARTH 1983; ECKERT 1983; CRAMER 1985; SCHÜTTE 1985; ECKERT 1987; JUNKER 1990; CHOI 1991; ECKERT 1991; SORRENTINO 1991; ALBRECHT 1994, insbes. Kap. 4; DIERKEN 1994; FRANK 2001 93ff.; ARNDT 2003; HERMS 2003. Mit dem technischen Teil, mithin der Begriffs- und Uttühbildtmg, beschäftigen sich in jüngster Zeit einige Aufsätze. An dieser Stelle sei vor allem auf den in diesem Jahr erschienenen Sammelband Sehleiermachers Dialektik, hrsg. von C. Helmer, C. Kranich u. B. Rehme-Iffert (2003) und in diesem auf die Beiträge von M. Frank, C. Helmer, D. Thouard und H.-P. Grosshans verwiesen.

Einleitung

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geht der technische Teil nicht empirisch aufsammelnd vor. Anstatt sich sozusagen „methodensammelnd" möglichst vielen einzelnen Wissenschaften insbesondere den Naturwissenschaften bzw. der Physik zuzuwenden, setzt sich Schleiermacher im technischen Teil mit Fragen der Logik auseinander, bietet aber auch hier keine umfassende Diskussion verschiedenster logischer Ansätze, sondern nimmt die Ergebnisse des transzendentalen Teils auf und versucht sie für eine Orientierung im Streitgespräch fruchtbar zu machen. Dieser zweite Teil der Dialektik verdient eine besondere Aufmerksamkeit, weil er zum einen die Argumentation des ersten Teils vertieft und erweitert, sodass Schleiermachers Anliegen deutlicher hervortritt, und er versucht die Ergebnisse des transzendentalen Teils für eine mögliche Orientierung des immer nur „aus der Mitte" anfangenden Denkens fruchtbar zu machen. Kam dem Schluss neben Urteil und Begriff im transzendentalen Teil keinerlei Beachtung zu, da er für Schleiermacher keine eigenständige Form des Denkens ausmacht, so wird erst im technischen Teil deutlich, dass es Schleiermacher keineswegs darum geht, die klassische Logik zu verabschieden, sondern darum, deutlich zu machen, was wir mit ihr klären können und was nicht. Für das Motiv der Wechselwirkung ist entscheidend, dass die im transzendentalen Teil entworfene Architektur der Wechselwirkung im technischen Teil erweitert wird und nicht nur die Ebene der elementaren Bildung einzelner Wahrnehmungen, Urteile und Begriffe (die „Wissenskonstruktion"), sondern auch die komplexe Ebene der Theoriebildung (die „Wissenskombination") in den Blick kommt. Eine Antwort auf die Frage, wie wir uns im streitenden Wissen orientieren können, könnte man in denjenigen Regeln vermuten, die Schleiermacher als „Kanon" kennzeichnet. Diese Kanones, die jeweils die Quintessenz der analysierten Wechselwirkungsverhältnisse enthalten, möchte ich „Maximen der Wechselwirkung" nennen, denn sie fordern lediglich dazu auf, dass Wissen nie einseitig, sondern in wechselseitiger Korrektur und Vermittlung der sich bedingenden Formen des Denkens, gebildet werden soll. Wie diese Vermitdung stattfinden soll und kann, erschließt sich erst in der Zuwendung zu der realen Entfaltung des Wissens im Gespräch und dem Begriff der Kritik, der als eigentliche Streitregel und vom systematischen Standpunkt aus als Kernstück des technischen Teils der Dialektik bezeichnet werden muss. Vorbereitend für diese Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kritik im vierten Kapitel soll am Ende dieses Kapitels das Verhältnis von Sein und Denken diskutiert werden.

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens:

Dialektik

3.1. Das Projekt der Dialektik 3.1.1. Die Frage nach einer obersten Wissenschaft (1): Die Dialektik als Wissenschaftslehre Eine Philosophie aus erstem Grundsatz findet sich bei Fichte ebenso wie bei Reinhold, und Dieter Henrich spricht sogar von einem „Paradigma einer Philosophie aus oberstem Grundsatz", das sich in dieser Zeit entfaltet und für das die 1789 erschienene Schrift Reinholds Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens ebenso wie die durch Jacobis Schrift Ober die Lehn des Herrn Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn (in der zweiten erweiterten Auflage) ausgelöste allgemeine Spinozalektüre initiierende Funktion hatten. 5 Mit diesem Paradigma der Philosophie aus oberstem Grundsatz formuliert sich jedoch zeitgleich eine Kritik, die vor allem im Lager der philosophischen Romantik zu finden ist 6 und mithin auch bei Schleiermacher. Bei Schleiermacher findet sich diese Grundsatzkritik in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre und richtet sich dort vor allem gegen Fichte, aber auch gegen Spinoza. In dieser ersten, 1803 veröffentlichten wissenschaftlichen Auseinandersetzung problematisiert Schleiermacher den Streit verschiedener philosophischer Entwürfe, die alle direkt oder indirekt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben oder darauf ein ethisches System zu sein; für Schleiermacher sind dies die ethischen Entwürfe Kants, Fichtes, Piatons und Spinozas. Wissenschaftlichkeit fordert jedoch nicht nur die Systematik innerhalb des einzelnen ethischen Entwurfes, deren Kritik Schleiermacher in den Grundlinien ausführt, 7 sondern fragt auch nach der Begründung und systematischen Einbettung der Ethik selbst in ein System und stellt so die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit eines Systems der Wissenschaften. Die Begründung der Ethik oder ihres ethischen Grundsatzes muss, wie Schleiermacher formuliert, in einer Wissenschaft „von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften" gesucht werden, die jedoch selbst nicht mehr auf einem obersten Grundsatz beruhen kann, sondern als Ganzes angenommen oder verworfen werden muss. 8 Für

Vgl. D. HBNR1CH 1989, 118f. Während die Spinozarezeption, die in großen Teilen ]acobi zu verdanken ist, eine Philosophie aus erstem Grundsatz anregte, so ist Jacobis Philosophie selbst ausdrücklich gegen jede Philosophie aus erstem Grundsatz gerichtet. Vgl. A R N D T 1996, Kommentar..., 1165. Frank weist auf die Reinholdrezensionen von Carl Chrisdan Erhard Schmidt und Carl Emmanuel Diez hin, vgl. F R A N K 1996, „Wecbseigrundsat^(\ 34. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Grundlinienfindetsich im Kapitel 4.6.1. Vgl. GrundtKGA I 4, 47f.: „Ein solches Bestreben aber kann seine Ruhe nirgends anders finden, als in der Bildung einer - wenn hier nicht ein höherer Name nöthig ist - Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften. Diese nun darf selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsatz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestim-

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Das Projekt der Dialektik

d i e s e W i s s e n s c h a f t „ v o n d e n G r ü n d e n u n d d e m Z u s a m m e n h a n g aller W i s s e n schaften" wäre der Begriff „Wissenschaftslehre" durchaus angemessen,

„ein

N a m e , w e l c h e r d e m d e r P h i l o s o p h i e u n s t r e i t i g w e i t v o r z u z i e h e n ist, u n d d e s s e n E r f i n d u n g v i e l l e i c h t f ü r e i n g r ö ß e r e s V e r d i e n s t z u h a l t e n ist, a l s d a s u n t e r d i e s e m N a m e n z u e r s t a u f g e s t e l l t e S y s t e m " {GründlKGA c h e r g e g e n F i c h t e . I m B e s c h l u s s d e r Grundlinien

I 4, 4 8 ) , p o l e m i s i e r t S c h l e i e r m a gibt Schleiermacher zu bedenken,

d a s s d i e s e h ö c h s t e W i s s e n s c h a f t o d e r W i s s e n s c h a f t s l e h r e , s o f e r n sie u n s n i c h t v o r l i e g t ( u n d d i e s ist n a c h S c h l e i e r m a c h e r d e r F a l l ) , erst m i t a l l e n a n d e r e n u n d als Z u s a m m e n h a n g aller W i s s e n s c h a f t e n g e b i l d e t w e r d e n k a n n . A n d i e Stelle e i n e r Philosophie aus erstem Grundsatz, deren Kritik nicht aus der A b l e h n u n g eines systematischen Ansatzes, sondern gerade aus einem höheren

systematischen

A n s p r u c h e r w ä c h s t , tritt w i e b e i S c h l e g e l e i n e P h i l o s o p h i e d e s W e c h s e l e r w e i s e s : Zuerst nemlich im Allgemeinen [möchte ich anmerken, S. S.], daß keine Wissenschaft kann im strengsten Sinne vollendet sein für sich allein, sondern nur in Vereinigung mit allen andern unter einer höchsten, weiche für alle den gemeinschaftlichen Grund des Daseins enthält, und eine jede bestätiget durch den Zusammenhang mit allen übrigen. Woraus schon von selbst hervorgeht, daß entweder diese auch die erste sein muß der Zeit nach und jene erzeugen, welches Niemand gefunden zu haben behaupten wird, oder daß die untergeordneten sich zugleich und nach gleichen Regeln in Gestalt und Inhalt der Vollendung nähern, und eben hiedurch auch jene Idee sich allmählich entwikelt. ( G r u n d e G A I 4, 353) 9 M i t d e r A b l e h n u n g d e r P h i l o s o p h i e a u s e r s t e m G r u n d s a t z ist j e d o c h f ü r S c h l e i e r m a c h e r die Frage n a c h einer obersten W i s s e n s c h a f t n o c h nicht ad acta gelegt. A l s d i e s e W i s s e n s c h a f t s l e h r e , d i e , i n s o f e r n sie W i s s e n s e l b s t z u m G e g e n s t a n d hat, als h ö c h s t e W i s s e n s c h a f t b e z e i c h n e t w e r d e n k a n n , h a t S c h l e i e r m a c h e r d i e D i a l e k tik v o r A u g e n , ü b e r d i e e r j e d o c h e r s t 1 8 1 1 z u m e r s t e n M a l liest. I n d e r e r s t e n Dialektikvorlesung formuliert Schleiermacher: Die Dialektik in diesem Sinne kann mit Recht das Organon aller Wissenschaft heißen. Sie ist gewissermaßen im Verhältniß zur ganzen Wissenschaft, w a s das gegebene Centrum und größte Peripherie zu einer Kugel ist. (DialKGA II 10/2, 8) Alles Philosophiren ist also ein gesetzmäßiges Construiren einer Erkenntniß, die allemend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann." Diese Ablehnung der Philosophie aus erstem Grundsatz formuliert Schleiermacher sehr viel später noch ähnlich in der Dialektikvorlesung von 1822: „Zweitens aber sagen wir uns eben so von dem Verfahren aller derer los, welche, indem sie einen Inbegriff von Säzen aufstellen, der das Wesentliche des Wissens so enthalten soll, daß das weitere sich daraus entwikkeln läßt, mögen sie ihn nun Wissenschaftslehre nennen oder Logik oder Metaphysik oder Naturphilosophie oder wie sonst immer [,] hiebei einen sogenannten Grundsaz an die Spize stellen, als denjenigen mit dem das Wissen nothwendig anfange, und der selbst schlechthin angenommen werden müsse, ohne schon in früher gedachtem enthalten gewesen zu sein oder daraus entwikkelt werden zu können." (DiätKGA II 10/1, 416f., § 4.2)

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik mal von der Art ist, daß eine Wissenschaft, überhaupt oder eine einzelne, dadurch bestimmt wird. (DialKG A II 10/2, 6)

Eine Aufnahme und Fortsetzung der beschließenden Bemerkungen der Grundlinien zu einem obersten Grundsatz und einer höchsten Wissenschaft findet sich vor allem in den Einleitungen der (philosophischen) Ethikvorlesungen. In dem noch wenig strukturierten BrouUlon %ur Ethik sucht Schleiermacher in der Einleitung nach einer Bestimmung der Ethik, die er als Wissenschaft des menschlichen Handelns der Physik gegenüberstellt und ihr Verhältnis als „gegenseitige Abhängigkeit" definiert, sodass sie sich „nur gemeinschaftlich und parallel der Vollkommenheit nähern" (BrEthBl 1 Of). Obgleich Schleiermacher im frühen Brouillon %ur Ethik die Systematik der Wissenschaften nur als Dualität von Ethik und Physik vorstellt, hat Schleiermacher zu diesem Zeitpunkt bereits ein von ihm als platonisch bezeichnetes Dreierschema vor Augen, das er in den späteren Ethik- und den Dialektikvorlesungen aufnimmt. Davon zeugt die Einleitung zum ersten Band der 1804 erschienenen Piatonübersetzung, in der Schleiermacher die Unzertrennlichkeit und Einheit der drei Disziplinen hervorhebt: Ethik, Physik und Dialektik. 10 Auch die beiden späteren Ethikvorlesungen stellen Ethik und Physik als zwei „Realwissenschaften" vor, die jeweils nur einen Teil des höchsten Wissens zum Ausdruck bringen und, solange dieses nicht vorliegt, sich im wechselseitigen Austausch aneinander bilden müssen. Die Dualität der Realwissenschaften wird in den späteren Einleitungen von 1812/13 und 1816/17 jedoch mit einer längeren Reflexion auf die Möglichkeit eines obersten Wissens und einer obersten Wissenschaft begründet, aus der deutlich wird, in welcher Hinsicht die Dialektik oberste Wissenschaft sein kann. Mit den Überschriften „Übergang von der Kritik zur realen Darstellung" (1812/13) und „Bedingungen für die Darstellung einer bestimmten Wissenschaft" (1816/17) der ersten Einleitungskapitel schließt Schleiermacher die Ethikvorlesungen bewusst an die Grundlinien an und beginnt dort mit denjenigen Überlegungen, die im „Beschluss" der Grundlinien vorgetragen werden: In welchem Verhältnis stehen die Einzelwissenschaften zu einem höchsten Wissen und einer höchsten Wissenschaft und was geht daraus für die Darstellung einer Einzelwissenschaft hervor? Vorausgesetzt wird die in den Grundlinien vorgenommene Bestimmung von Wissenschaftiichkeit als systematische Form, die nicht nur die systematische Darstellung der Einzelwissenschaft, sondern ihre Einbindung in ein System der Wissenschaften bzw. ihre Ableitung aus einem höchsten Wissen fordert:

Vgl. ÜPPST 67: Schleiermacher spricht hier von der Ethik und Physik als den zwei „realen Wissenschaften" und der Dialektik als „Technik der Philosophie" bei Piaton. liine Auseinandersetzung mit diesem antiken Dreierschema findet sich auch in den Vorlesungen zur Geschichte der alten Philosophie, SW III 4, 18.

Das Projekt der Dialektik

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Soli irgend eine besondere Wissenschaft vollkommen dargestellt werden, so darf sie nicht rein für sich anfangen, sondern muß sich auf eine höhere, und zulezt auf ein höchstes Wissen beziehen, von welchem alles einzelne ausgehen muß. (HttiBI 185, 1)

Jede Einzelwissenschaft stellt ein besonderes Wissen vor, das sich zum höchsten Wissen wie ein Teil zum Ganzen verhält und als Teil seine Bestimmung nur im Gegensatz zu allen anderen und mit diesen zusammen in seiner Ableitung aus dem Ganzen oder höchsten Wissen erfährt. „Das höchste Wissen ist aber auch nur vollkommen verstanden, wenn das besondere untergeordnete vollkommen verstanden ist." (E/hBI 188, 5) und diese zirkelhafte Bedingtheit von höchstem Wissen und Einzelwissenschaft, von denen uns keine vollendet vorliegt, bewirkt, dass „das Wissen auf allen Punkten zugleich [...] im Werden begriffen" (EthBl 189, 7) ist. Insofern die höchste Wissenschaft das höchste Wissen zum Gegenstand hat, begründet sie jede Einzelwissenschaft, muss aber, da das höchste Wissen selbst ein Werdendes ist, als ebenso provisorisch angesehen werden wie die Einzelwissenschaften selbst. „Die gegenwärtige Darstellung der Ethik", so formuliert Schleiermacher in der Einleitung von 1815/16, kann und soll daher nur von einem „angenommenen höchsten Wissen" abgeleitet werden (EthBl 192, 21). Schleiermacher differenziert dabei in den Grundlinien zwei Arten höchster Wissenschaft bzw. zwei Arten, die das höchste Wissen zum Gegenstand haben: Die Dialektik hat das höchste Wissen zum Gegenstand, insofern sie auf die Bedingungen der Möglichkeit und die Form von Wissen und höchstem Wissen reflektiert. Sie ist das „gehaltlose Abbild des höchsten Wissens" (EthBl 205, 61), ohne es zugleich als Inhalt zum Ausdruck zu bringen. Die „höchste Einheit des Wissens" hingegen als substantielle Darstellung des Wissens bezeichnet Schleiermacher als „Weltweisheit" (EthBI 204, 61). In den späteren Schriften spricht Schleiermacher nicht mehr von „Weltweisheit" als substantieller Darstellung allen Wissens, sondern von einem Wissen von Welt bzw. von dem vollständig entfalteten Begriff der Welt. Der Entwurf einer solchen obersten Wissenschaft als Weltweisheit kann jedoch kein konkretes Anliegen sein. Sie kann nur als Idee vorgestellt werden, die, solange Wissen noch in Bewegung ist, und das wird es auf unendliche Zeit sein, nur durch das sich permanent modifizierende System aller Wissenschaften (unvollständig) repräsentiert werden kann. Als Wissenschaft, deren Realisation nicht aufs Unendliche vertagt werden muss, kommt daher nur jenes „gehaltlose Abbild des höchsten Wissens" in den Blick, und als solche fasst Schleiermacher die Dialektik ins Auge. Als formale Wissenschaft, die sich mit den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen beschäftigt, steht sie allen anderen Wissenschaften gegenüber. Da alle anderen Wissenschaften unter die zwei großen Wissenschaften Ethik und Physik subsumiert werden müssen, lässt sich das System der Wissenschaften bei Schleierma-

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

eher zunächst als Dreierschema beschreiben, mit dem er der antiken Dreiteilung in Physik, Ethik und Dialektik folgt.11 Im Sinne einer formalen höchsten Wissenschaft erscheint die Dialektik auch in den Ethikvorlesungen: Die Einleitung der Ethikvorlesung von 1812/13 weist mit der Kapitelüberschrift „Deduction der Ethik aus der Dialektik" darauf hin, dass sie sich aus der Dialektik ableitet.12 Die Einleitung von 1816/17 nimmt diesen deutlichen Verweis zurück und spricht nur noch von einer „Ableitung des Begriffs der Ethik". Dennoch findet sich auch hier wie in den zwölf Lemmata von 1812/13 eine äußerst komprimierte Darstellung des Wissensbegriffs, wie er in der Dialektik begründet und entfaltet wird. Für die Einleitung von 1816/17 könnte man sogar von einer in die Ethik integrierten „Kompaktdialektik" sprechen, allerdings in einer am Ergebnis orientierten Darstellung, die auf die Möglichkeit der Begründung des Wissensbegriffs selbst nicht weiter eingeht und insofern gerade die spannende Leitfrage der Dialektik beiseite lässt. Eine in den folgenden Kapiteln zu verfolgende Frage ist, in welchem Verhältnis Dialektik und „Weltweisheit" bzw. der Begriff der Welt und das System der Wissenschaften stehen und ob die Dialektik als „gehaltloses Abbild" des höchsten Wissens auch in der Dialektik selbst als „provisorisch" und wie Physik und Ethik als werdend verstanden werden muss. Oder ob und wenn ja, inwiefern sich die Reflexion auf die Form des Wissens von dem grundsätzlich werdenden Inhalt des Wissens „emanzipieren" kann. Die Frage nach der obersten Wissenschaft soll dann im fünften Kapitel, das sich mit der Wechselwirkung der Wissenschaften beschäftigt, noch einmal aufgegriffen und differenzierter diskutiert werden.

3.1.2. Dialektik als Kunst der Gesprächsführung Mit ihrer Reflexion auf die wissenschaftliche Form verschiedener ethischer Entwürfe leitet Schleiermachers Schrift Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre nicht nur unmittelbar zu den Ethikvorlesungen über, sondern markiert ebenso den Beginn seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen der Dialektik.13 Der Ausgangspunkt der Vorlesungen zur Dialektik ist wie in den Grundlinien die Situation des Streites. Überall dort, wo gedacht wird, d. h. sowohl im Alltag als auch in

11

12

Vgl. dazu ÜPKT

9.

Auf diese Stelle der „Deduction der Ethik aus der Dialektik" bezugnehmend spricht sich M. Frank klar für eine Unterordnung der Ethik und Physik unter die Dialektik aus (FRANK 2000, 1 -2 14). Fur M. Frank (FRANK 2000, 12) sind die Grundlinien ein „nur" kritisches Werk, das den eigenen Standpunkt noch offen lässt. Gerade aber in der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft und Kritik liegt die Eigenständigkeit der Grundlinien und die erkenntnistheoretischen Überlegungen der Grundlinien leiten die Dialektikvorlesungen ein.

Das Projekt der Dialektik

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der Wissenschaft, bietet sich uns das Denken als ein ewiges Streitgespräch dar und illustriert unser Gefangensein im Geschichtlichen, das weder durch den Rückgang auf eine einfachste Wahrheit, ein erstes Prinzip, einen obersten Grundsatz noch durch den Gesetzesspruch der Logik aufgehoben werden kann. Jedes Denken ist ein individuelles, von anderem Denken unterschiedenes und zugleich nur mit anderem Denken verständliches und auf anderes Denken verweisendes Denken. Mit dem Bekenntnis zur Individualität und Geschichtlichkeit unserer erkennenden Tätigkeit geht es Schleiermacher nicht um die definitive Lösung des Streites, sondern er stellt sich vielmehr die Frage, wie wir mit diesem Streit umgehen sollen. Die Dialektik sucht daher keine Regeln der Streitlösung, sondern eher Regeln der Streitschlichtung oder Streitführung, sie ist, wie Schleiermacher in der Vorlesung 1822 formuliert, „Darlegung der Grundsäze für die kunstmäßige Gesprächführung im Gebiet des reinen Denkens" (Dz^/KGA II 10/1, 393, § l ) . 1 4 Nämlich statt eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen gelte es nun eine Kunstlehre des Streitens aufzustellen in der Hoffnung dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Ausgangspunkte für das Wissen zu kommen. {DtalKGK II 10/1, 372, § 2.5)

In der Bestimmung der Dialektik als Gesprächsführung, in der Wissen als Bewegung verstanden wird, für die wir im Gespräch und durch das Gespräch Leitlinien der Gesprächsführung entwickeln können, verweist Schleiermacher ausdrücklich auf Piaton. 15 Obgleich Schleiermacher den Platonischen Dialektikbegriff immer wieder hervorhebt, findet sich weder in der Dialektikvorlesung noch in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, noch in der Einleitung zu seiner Platonübersetzung 16 eine tiefergreifende philosophische Reflexion auf den Dialektikbegriff Piatons, und es fragt sich, ob diese Nähe zu Piaton bei näherer Betrachtung bestehen bleibt. Diese Frage kann hier nicht ohne intensive Auseinandersetzung mit Piaton entschieden werden, aber ich möchte meine Zweifel damit bekräftigen, dass ich noch einmal an den philosophischen Dialog Über das Anständige erinnere, den Schleiermacher wahrscheinlich im Frühjahr 1800 entworfen hat und der von der rhetorischen Form her zunächst an einen sokratischen Dialog erin14

'^

^

Arndt ( A R N D T 1991, Vorgeschichte..., 317) weist darauf hin, dass der Begriff „Dialektik" bzw. „dialektisch" vor der ersten Dialektikvorlesung 1811 eine ambivalente, mitunter negativabwertende Bedeutung hat. Vgl. ÜPPST 9: „Um die Falschheit zu entdecken, muß man im Besitz der wahren kombinatorischen Kunst sein. Diese nannte Piaton Dialektik, weil Denken und Reden die Alten nicht trennen konnten und noch jeder Disput lebendiges Gespräch war." In der Einleitung zur Platonvorlesung spricht Schleiermacher hinsichtlich des Platonischen Dialogverfahrens von „reinster" Dialektik (ÜPPSΤ 250), von der „eigentlichen philosophischen Technik der Dialektik" (ÜPPST 183), die er gegen eine „schlechte und leere Dialektik" (ÜPPST 326) oder die „sophistische Dialektik" (ÜPPST 333) absetzt. Denn jede Kunst, auch die der Dialektik, kann zur „Schmeichelkunst" werden, wenn sie wie eine „Erwerbstüchtigkeit behandelt wird" (ÜPPST 342). Eine tiefergehende Reflexion auf die philosophische Funktion dieser Dialogführung findet sich jedoch nicht.

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

nert. Anstelle einer einseitig didaktischen Dialogführung wie bei Piaton tritt im Schleiermacherschen Dialog ein wechselseitiges Aufeinander-Eingehen und Einander-Abgleichen einer eher begrifflich abstrakten und einer eher empirisch lebensweltlich orientierten Bestimmung des Begriffs. 17 Die Gesprächsfuhrung liegt in beider Hand, das Verhältnis der beiden Gesprächsteilnehmer ist, anders als bei Piaton, das der Gleichberechtigung. 1 ® Ein ganz entscheidender Einfluss auf Schleiermachers Dialektikbegriff, den Schleiermacher jedoch nicht nennt, geht wiederum von Friedrich Schlegel aus, der bei ihrem Zusammentreffen 1796, anders als Schleiermacher, bereits eine eigene erkenntnistheoretische Position vertritt. Auch das Lob der Platonischen Dialektik findet sich schon 1796 bei Schlegel, 19 und es ist auch Schlegel, der das gemeinsame Übersetzungsprojekt der platonischen Dialoge anregt (1798), mithin auch Schleiermachers intensive Auseinandersetzung mit Piaton in den darauf folgenden Jahren.

17

^

19

Dass sich beide Partner aneinander korrigieren und ebenfalls beide das Gespräch leiten, wird besonders deutlich in folgender Stelle: LL4KGA I 3, 90ff. Ganz ähnlich beurteilt M. Frank die Differenz zwischen dem Platonischen und dem Schleiermacherschen Dialektikbegriff, allerdings sehe ich keine offene Kritik am Platonischen Dialektikbegriff bei Schieiermacher (vgl. FRANK 2001, 30ff.). Nach Arndt {Schleiermacher und Piaton, 1996) bekräftige die Auseinandersetzung Schleiermachers mit Piaton Schleiermachers Positionen, die er zuvor in der Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza gewonnen habe, modifiziere sie aber selbst nicht und bleibe der Schleiermacherschen Philosophie insofern äußerlich. „Der Sache nach wird nur die Position bekräftigt, die Schleiermacher bereits 1793/94 in der Konfrontation Kants mit Spinoza erreicht hatte. Ihre Verknüpfung mit der Platonischen Ideenlehre führt zu keiner tiefgreifenden Modifikation und bleibt insofern äußerlich." (ARNDT 1996, Schleiermacher und Piaton, XVI) „Daß Schleiermacher dann seit 1803 in Plato - neben Spinoza - einen Zeugen für sein eigenes System fand, spricht eher für diese These, hier habe eine systematisch interessierte Interpretation stattgefunden, die in vielem eher für Schleiermacher als für Piaton erhellend ist und einen vagen Piatonismus als Folie zur Darstellung von Positionen benutzt, die in der Diskussionssituation der frühidealistischen-frühromantischen Philosophie um 1800 ihren Ursprung haben. Dies verhindert nicht, daß dann im Einzelnen Elemente der platonischen Tradition in die Darstellung eingehen und als theoretische Mittel benutzt werden, aber nur vor diesem Hintergrund werden die - insgesamt eher spärlichen - systematischen Bezugnahmen auf Piaton, die sich vor allem in Schleiermachers Dialektik finden, angemessen zu gewichten sein." (ebenda, XXII) Anders beurteilt K. Pohl {Studien ^ur Dialektik F. Schleiermachers 1954) das Verhältnis von Piaton zu Schleiermacher, der Piatons Bedeutung für Schleiermacher unterstreicht. Zur Beurteilung der Piatonübersetzung Schleiermachers vgl. JANTZEN 1996, Lff. Zur Einschätzung des Piatonbildes bei Schleiermacher und dem Vorwurf der „Tübinger Schule" vgl. STEINER 1996, XUII. Vgl. SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Uhrjahre, 509, Nr. 50: „Sehr bedeutend ist der Griech.fisehe] Name Dialektik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey K[ant]), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich] die Wahrheit zu suchen, zu niederlegen und zu erreichen (So bey Plato Gorg.fias] -cfr. Aristoteles); ist ein Theil der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen."

Das Projekt der Dialektik

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3.1.3. Dialektik als Wissenschaft und Kunstlehre: Philosophie als Philosophieren Schleiermacher unterstreicht den von Fichte geprägten Begriff der „Wissenschaftslehre" nicht nur in den Grundliniensondern auch in den späten Dialektikvorlesungen als einen durchaus passenden Namen für das Unternehmen der Dialektik. In Fichtes Ausführung sieht er jedoch eine einfache Dopplung des wissenschaftlichen Unternehmens, eine Wissenschaftsivissenschaß, der es ausschließlich um das höchste Wissen und seine Entfaltung geht, nicht aber um die Frage, wie wir zu diesem höchsten Wissen gelangen können - eben keine Wissenschaftslehret Nicht, oder besser: nicht nur als wissenschaftliche oder systematische Erkenntnis von Welt soll sich die Wissenschaftslehre verstehen, sondern vor allem als „Kunsdehre" des werdenden Wissens, als technische Anleitung zur Herstellung oder als „gewolltes Hervorbringen" (DialKGA II 10/1, 77, § 20) des Wissens. „Unter Dialektik verstehn wir nämlich die Principien der Kunst zu philosophiren." (DialKGA II 10/2, 5f.) 2 2 Auch wenn Schleiermacher die Dialektik als Kunsdehre behandeln möchte, 2 ' darf die Entscheidung gegen Fichtes Wissenschaftslehre als Wissenschaftswissenschaft nicht zu einer ähnlichen Eingleisigkeit führen, die eine reine, von allem Inhalt abstrahierende Methodenlehre zum Ziel hat. Die Kunsdehre der Wissenschaftslehre (der Philosophie) als Anleitung zum Philosophieren und die Philosophie als Wissenschaft, die sich mit dem auseinandersetzt, was gewusst werden kann, sind jedoch wie Form und Inhalt zwei Seiten ein und derselben Sache: Man kann also sagen daß in der Philosophie Kunst und Wissenschaft in einer gegenseitigen Approximation zu einander sind; aber auch daß beides zwei verschiedne Arten sind dasselbe Princip zu haben (DialKGA II 10/1, 79, § 33)

Da wir in der Reflexion auf das Wissen vom Meinen also vom Nichtwissen oder Noch-nicht-Wissen ausgehen müssen und uns weder im Besitz eines reinen Denkens noch einer unzweifelhaften Methode befinden, müssen sich Wissensmethode und Wissensinhalt wechselseitig zum Maßstab dienen. Denn das, was wir als 20

21

23

Vgl. Crund/KGA I 4, 47 ff. Vgl. DiaiKGA 11 10/1, 81, § 47. Schleiermachers Fichtelektüre basiert vor allem auf den Jenenser Schriften Fichtes, seinen populären Schriften. Eine eigene I^ektüre und Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (denn die Beurteilung dieses Werkes ist durch die Schlegelsche Rezeption bestimmt) findet nach iMeckenstock nicht statt (vgl. M E C K R N S T O C K 1992, 33). Immerhin ging Schleiermachers kritische Haltung gegenüber Fichte so weit, dass Schleiermacher seine erste Dialektikvorlesung 1811 in bewusster Konkurrenz zu Fichte hielt und sich von dem zu Fichtes Vorlesung parallel angesetzten Vorlesungstermin der Dialektik nicht abbringen ließ, wie August Twesten berichtet (vgl. A R N D T 1986, Binkitung, XI). Mit Kunst im Sinne von Kunstlehre lehnt sich Schleiermacher an die antike und weniger an die zeitgenössische Begriffsverwendung an, die vor allem Kunst im Sinne von Kunstwerk, Kunstschaffen bezeichnet. , τ έ χ ν η ' hat eine komplexe und weite Bedeutung, die sowohl Kunst als auch Wissenschaft, Handwerk, Kunstfertigkeit, Tüchtigkeit oder Geschicklichkeit umfasst. Vgl. D/WKGA II 10/1,11, Nr. 41.

Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

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( v e r m e i n t l i c h e s ) W i s s e n e r w e r b e n , ist a b h ä n g i g v o n d e r F o r m d e s E r w e r b s , u n d die A r t u n d W e i s e , w i e w i r ein W i s s e n e r w e r b e n , ist in g l e i c h e r W e i s e

bedingt

durch das, w a s wir bereits wissen: D i e R e g e l n d e r V e r k n ü p f u n g w e n n m a n sie w i s s e n s c h a f t l i c h b e s i z e n will, s i n d n i c h t v o n d e n i n n e r s t e n G r ü n d e n d e s W i s s e n s zu t r e n n e n . D e n n u m r i c h t i g zu v e r k n ü p f e n k a n n m a n n i c h t a n d e r s v e r k n ü p f e n als die D i n g e v e r k n ü p f t sind, w o f ü r w i r k e i n e a n d re B ü r g s c h a f t h a b e n als d e n Z u s a m m e n h a n g u n s e r s W i s s e n s m i t d e n D i n g e n .

(Di-

a/KGA II 10/1, 76, § 1 4 ) 2 4 J e besser die Kunstlehre A n w e i s u n g e n z u m Philosophieren geben kann,

desto

sicherer n ä h e r t sie s i c h d e m s y s t e m a t i s c h e n T o t a l z u s a m m e n h a n g d e s W i s s e n s als W i s s e n s c h a f t d e r P h i l o s o p h i e u n d u m g e k e h r t , je m e h r ü b e r d i e s e n T o t a l z u s a m m e n h a n g gewusst wird, desto besser k a n n die K u n s d e h r e

das

Philosophieren

anleiten: W i e die p h i l o s o p h i s c h e K u n s t a b e r freilich erst v o l l e n d e t w i r d m i t d e r W i s s e n s c h a f t u n d u m g e k e h r t : so ist a u c h j e d e s e i n z e l n e r e a l e W i s s e n erst als s o l c h e s bei d e r V o l l e n d u n g d e r p h i l o s o p h i s c h e n K u n s t u n d W i s s e n s c h a f t v o l l e n d e t . ( Ο ώ / K G A II 1 0 / 1 , 7 8 , § 29)25 D i e D i a l e k t i k als K u n s t l e h r e d e r W i s s e n s e n t f a l t u n g soll b e i d e E l e m e n t e v e r e i n e n u n d s o w o h l , i r g e n d w i e die Principien des P h i l o s o p h i r e n s e n t h a l t e n " ( D i a l K G A II 10/1, 75, § 3) als a u c h „ d e n i n n e r n Z u s a m m e n h a n g alles W i s s e n s m a c h e n " (DialKGA

II 1 0 / 1 , 75, § 4), sie ist „ d i e I d e n t i t ä t d e s h ö c h s t e n u n d

allgemeinsten

Wissens selbst u n d der Principien der wissenschaftlichen Construction"

(DialK-

G A II 10/2, 7).26

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Vgl. auch DialKGA II 10/1, 19, Nr. 98: „Die Principien der Construction des Wissens sollen ein Wissen sein. Indem wir nun dieses construiren, haben wir die Principien noch nicht, und construiren es also ohne Principien. Die Gewißheit kann also nur in der Probe liegen, also eine empirische sein. Woraus folgen würde, daß es viele Systeme des Wissens geben könne, deren jedes unwiderleglich in sich selbst wäre."

^

Vgl. auch Dial.KGA II 10/1, 78, § 30: „Das Fortschreiten der philosophischen Kunst ist ein Annähern zur Philosophie als Wissenschaft so wie das Besinnen über das sittliche Princip eine Annäherung zur ethischen Wissenschaft ist." Vgl. auch DialKGA II 10/1, 78, § 28 u. Dial.KGA II 10/1, 77, § 18ff. Mit einer ähnlichen Reflexion auf die wechselseitige Bedingtheit von Wissen und Methode beschäftigt sich Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes. Ausgangspunkt ist ebenfalls ein radikales Bekenntnis zur Geschichtlichkeit des Denkens, das zu Beginn seiner geschichtlichen Entfaltung weder im Besitz einer allgemein anzuwendenden Methode der Wissensgewinnung noch eines gesicherten Wissens ist. Inhalt und Methode bedingen sich wechselseitig derart, dass eine Orientierung hin zum absoluten Wissen nur im Modus einer immer höherstufigen Erfahrung stattfinden kann. Hegel wehrt sich gegen die Vorstellung von dem Erkennen „als einem Werkzeuge, des Absoluten habhafft zu werden, oder als einem Medium, durch das hindurch wir die Wahrheit erblicken" (HEGEL Phänomenologie des Geistes 1980, 54). Derartige Vorstellungen laufen auf ein Erkennen hinaus, das „vom Absoluten, und einem Absoluten, das von dem Erkennen getrennt ist" (ebenda). Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit können nicht vor jedem realen Er-

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Das Projekt der Dialektik

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Der Versuch, Philosophie oder Wissenschaftslehre ausschließlich als Wissenschaft vom höchsten Wissen oder lediglich als Methodenlehre zu betreiben, findet für Schleiermacher auch in der Philosophiegeschichte eine Illustration. Aus einem frühen mit Phantasie vermischten Zustand der Philosophie, entwickelt sich in der Antike die Philosophie eher als Kunst. Als Vertreter der einseitigen Kunstlehre der Philosophie hat Schleiermacher die Sophisten vor Augen, nicht Piaton, dessen Dialektikbegriff Schleiermacher gerade als Vermittlung eines einseitig an Logik und einseitig an Inhalten orientierten Philosophierens vorführt. 27 In der neuen Zeit „wo alles durch einander geworfen wurde und aus einzelnen Elementen wieder neu zusammengehen musste" findet sich eher ein „unmittelbares Losgehen auf Philosophie als Wissenschaft" (DMCGA II 10/1, 80, § 38). 28 Diese wechselseitige Bedingtheit von Form und Inhalt der Wissenschaftslehre bezeichnet Schleiermacher in den Dialektikvorlesungen auch als wechselseitige Abhängigkeit von Logik und Metaphysik. Eine Logik, die ohne Metaphysik behandelt wird, ist ein Werkzeug, für das es keinen Gebrauch gibt, und sie „kann nur solche Regeln zum Verfahren im Denken hervorbringen, welche zu irgend welchem Inhalt desselben gar kein Verhältniß haben" (DialKGA II 10/1, 424, § 5.1). 29 Jede Metaphysik ohne Logik ihrerseits versteigt sich ins Phantastische. 30

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kennen bestimmt werden, sondern müssen sich in ihrem Auftreten selbst erst bilden: „Aber die Wissenschaft darin, dass sie auftritt, ist sie selbst eine Erscheinung; ihr Auftreten ist noch nicht sie in ihrer Wahrheit ausgeführt und ausgebreitet." (HEGEL Phänomenologie des Geistes 1980, 55); „Die Reihe seiner Gestaltungen, welche das Bewußtseyn auf diesem Wege durchläufft, ist vielmehr die ausfuhrliche Geschichte der Eildung des Bewußtseyns selbst zur Wissenschafft." (HEGE.L Phänomenologie des Geistes 1980, 56) Vgl. Vorlesung %ur Geschichte der Philosophie SW III/4.1, 98f.: „Die Dialektik knüpft sich unmittelbar an die Sophistik an. Denn dieser Corruption konnte nur dadurch begegnet werden, daß der vorige dialektische Instinct zum Bewußtsein erhöht wurde. In der Antilogik ist offenbar Eine Verknüpfung falsch. Um die Falschheit zu entdekken, muß man im Besiz der wahren combinatorisehen Kunst sein. Diese nannte Piaton Dialektik, weil Denken und Reden die alten nicht trennen konnten und noch jeder Disput lebendiges Gespräch war." Vgl. auch Dw/KGA II 10/2, 7: „Diesem Begriffe ganz angemessen ist der Name der Dialektik, welcher bey den Alten gerade diese Bedeutung hatte. Denn der Gegensatz zwischen der realen Wissenschaft und der Philosophie war bey den Alten nicht vorhanden. Die Philosophie befaßte bey ihnen die Ethik, Physik und Dialektik, welche letztere die Principien beider enthielt. Beym Plato enthält die Dialektik sowohl die Regeln der Construction der Wissenschaft, als die Lehren vom όντως ov und dem αγαθόν, insofern sie noch in keines der Gebiete der beiden übrigen Disciplinen übergegangen sind." Auf das fehlende Zusammendenken beider Seiten verweist Schleiermacher auch in seiner Einleitung zur Vorlesung über die Geschichte der alten Philosophie (vgl. SW III 4/1, 16ff.). Den eigenen philosophischen Ansatz als den langersehnten Mittelweg zweier Extreme zu beschreiben, ist jedoch ein alter rhetorischer „Trick" und findet sich in der Philosophiegeschichte von der Antike bis zur Moderne. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die entgegengesetzten Pole wesentlich differenzierter sind, als die interessierte Überzeichnung es vermuten lässt. Dies muss jedoch die Relevanz des Anliegens nicht schmälern. Vgl. auch DialKGA II 10/1, 77, § 16: „Also Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transcendentale Philosophie ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkührliche und fantastische."

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3.1.4. Wechselwirkung von transzendentalem und technischem Teil der „Dialektik" Seine erste Vorlesung über Dialektik hielt Schleiermacher 1811 an der gerade neu gegründeten Universität in Berlin. In den fünf folgenden Dialektikvorlesungen (1814/15, 1818/19, 1822, 1828 und 1831) wurde dieser erste Entwurf immer weiter differenziert und vertieft, jedoch in seiner dreiteiligen Struktur nicht verändert: Eine Einleitung setzt sich mit dem Begriff und Ansatz der Dialektik auseinander und liefert den Umriss des Programms. 31 Ein erster von Schleiermacher als „transzendental" bezeichneter Teil bezieht sich auf das allem Denken innewohnende höchste Wissen, das in der Analyse der Idee des Wissen zu Bewusstsein gehoben werden soll, während der zweite „technische" oder „formale" Teil eine Betrachtung des werdenden Wissens darstellt und die verschiedenen Formen von Wissenskonstruktion und -kombination thematisiert, in die eine Auseinandersetzung mit dem Irrtum und dem „kritischen Verfahren" eingeflochten ist. Das „kritische Verfahren" oder Kritik schlechthin, das ist in den Kapiteln 4.6.-4.8. ausfuhrlich zu zeigen, nimmt bei der Streitschlichtung als reflektierte Wechselwirkung eine zentrale Funktion ein, ungeachtet des verhältnismäßig knappen Raums, den Schleiermacher ihm in der Dialektik widmet. Der technische Teil kann als das

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Eine ganz ähnliche Wechselseitigkeit fordert Schleiermacher im Brouillon ψΓ Ethik von 1805/06 für Religion und Wissenschaft, die isoliert oder ungebremst durch die jeweils andere in einer Sackgasse münden. Durch ein ausgewogenes Gleichgewicht von Religion und Wissenschaft soll verhindert werden, dass die Religion „beim wissenschaftlichen Beginnen in falsche Mystik ausartet" und umgekehrt die Wissenschaft nicht ihrerseits in „dialektische Virtuosität" umschlage „die aber beim Ausfüllen des wissenschaftlichen Fachwerkes das Rechte nicht finden kann" (BrlithBI, 5). An dieser Stelle zeigt sich eine grundsätzliche Schwierigkeit der Sehl eiermach ersehen Manuskripte: Die Begriffspaare Kunstlehre-Wissenschaft, Logik-Metaphysik, Wissenschaft-Religion und, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, auch die Unterscheidung von technischem und transzendentalem Teil werden von Schleiermacher alle auf das Wechsel Verhältnis von Form und Inhalt oder Methode und Untersuchungsgegenstand zurückgeführt. Zugleich setzt er aber mit jedem Begriffspaar immer einen je etwas anderen Akzent, sodass sie, auch wenn Schleiermacher sie in fortlaufender Rede abwechselnd durcheinander substituiert, nicht vollständig zur Deckung kommen. Wissenschaft beispielsweise erhält in den Gegensatzpaaren Wissenschaft-Religion, Wissenschaft-Kunstlehre oder Wissenschaft-Erfahrung eine je andere Konnotation. Diese „Begriffsschwankungen" sind meines Erachtens nicht wie bei Schlegel auf ein bewusstes Spiel mit den Begriffen zurückzuführen, sondern zeigen an, dass der Vorlesung«text den Stand der Selbstverständigung noch nicht überwunden hat.

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Der Umfang dieser Vorschau verändert sich selbstverständlich in den einzelnen Jahren. Die Vorlesung von 1814/15 liefert beispielsweise keinen Umriss des Programms der Analyse der Idee des Wissens, und zum Teil finden sich wesentliche systematische Überlegungen auch in der Einleitung, wie beispielsweise in der Vorlesung von 1822, die die Verbindung von Sprache und Denken thematisiert und auf die Unmöglichkeit eines allgemeinen Anspruchs der Dialektik reflektiert. Auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den drei Sorten des Denkens findet sich in verschiedenen Einleitungen.

Das Projekt der Dialektik

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eigentliche Ziel der Dialektik bezeichnet werden, denn Anliegen der Dialektik war es, die Regeln der Kunst des Philosophierens oder, wie es später heißt, die Regeln der Streitfuhrung zu geben. Er ist der „regelgebende" Teil. Mit der Einteilung in einen transzendentalen und einen technischen Teil der Dialektik soll der Forderung Rechnung getragen werden, eine Wissenschaftslehre zu entwerfen, die zugleich Wissenschaft und Kunst sein will. Der regelgebende technische Teil enthält die eigentliche Kunstlehre des Wissens, während der transzendentale Teil sich auf die „innersten Gründe des Wissens" bezieht und in Schleiermachers Terminologie mehr als Wissenschaft denn als Kunsdehre angesehen werden muss. Transzendentaler und technischer Teil der Dialektik sind als Kunstlehre und Wissenschaft aneinander gebunden, sie sind zwei Darstellungsweisen ein und desselben, die nur durcheinander einsichtig werden und einander wechselseitig begründen. 32 Eine Voranstellung des transzendentalen Teils kann, so betont Schleiermacher in der Einleitung, lediglich aus rhetorischen oder didaktischen Gesichtspunkten vorgenommen worden. 33 Der technische oder empirische Teil kann als Beschreibung verschiedener „Techniken" der Wissensproduktion und -konstruktion aufgefasst werden, deren Begründung im transzendentalen oder theoretischen Teil vorgenommen wird. Der technische Teil der Dialektik ist aber nicht nur empirisch aufsuchend oder deskriptiv, er stellt nicht nur die verschiedenen Formen der Wissensproduktion vor, sondern er hat zugleich einen normativen Charakter, denn er soll das „eigentliche Ziel" (Οώ/KGA II 10/1, 89, § 85) der Dialektik enthalten: Regeln des Streitgespräches zu liefern und befrieden. Er beschreibt so ein Sein und formuliert zugleich ein Sollen. Das Sein gibt Hinweise auf das Sollen, und eine Reflexion auf das Sollen leitet das Sein an. Genau dieser Doppelcharakter verbirgt sich hinter der Forderung, die transzendentalen und technischen Teile im wechselseitigen Austausch zu entwickeln. Diese dreifache Struktur - eine Einleitung, die auf die Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft reflektiert, ein transzendentaler und ein technischer Teil - findet sich nicht nur in den Dialektikvorlesungen, sondern kann für Schleierma32

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Die Herleitung der wechselseitigen Bedingtheit von technischem und transzendentalem Teil ist nicht in allen Vorlesungen gleich. In der Vorlesung 1814/15 begründet Schleiermacher sie mit Rückgriff auf die zwei Charaktere des Wissens, die in der didaktischen Argumentation erst später und zwar in der Analyse der Idee des Wissens vorgestellt werden: Die Gemeinschaftlichkeit des Wissens (als eine von allen gemeinsam zu vollziehende Wissenskonstruktion) und die Übereinstimmung des Wissens mit dem Sein (als der im transzendentalen Teil erörterte Zusammenhang) vgl. DM/KGA II 10/1, 76, § 14. Da der technische Teil auf dem Charakter der Gemeinschaftlichkeit, der transzendentale auf dem der Übereinstimmung von Wissen und Sein basiert, beide Charaktere aber nur mit und durcheinander sich entfalten, stehen auch technischer und transzendentaler Teil in enger Wechselwirkung. Da Logik und Metaphysik jedoch als Untersuchungen vorgestellt werden, die sich jeweils einem Charakter des Wissens widmen (DiaiKGA II 10/1, 77, § 16), bleibt die Argumentationsstruktur erhalten. Vgl. DialKGA II 10/1, 89, § 85.

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eher als Grundschema aller Wissenschaften verstanden werden, das sich am deutlichsten in den Vorlesungen zur Ästhetik und den Akademieabhandlungen abzeichnet. Die Akademieabhandlungen gehören mit den Frühschriften der Monologen und der Grundlegung der Kritik einer bisherigen Sittenlehre zu den wenigen Veröffentlichungen Schleiermachers zu Lebzeiten im Bereich der Philosophie. 34 Wissenschaftlichkeit wird dabei in den Einleitungen als Aufsuchen des „Begriffs" jeder einzelnen Wissenschaft bestimmt, der erst den wissenschaftlichen Status garantiert und Umfang und Inhalt der Wissenschaft in ihrer ganzen Entfaltung bereits im Keim enthalten soll. 35 Der „Begriff der einzelnen Wissenschaften wird dabei jeweils als Begriff einer Tätigkeit verstanden, deren konkrete Erscheinungen im technischen oder empirischen Teil Darstellung finden. Ihre Wesensbestimmung findet hingegen im spekulativen oder transzendentalen Teil statt. Um die Aufgabe der Begriffsbestimmung vollständig zu erfüllen, ist der spekulative Teil ebenso auf den technischen Teil angewiesen, wie umgekehrt. In der Vortragsform der meisten Vorlesungen, und das trifft auch auf die Dialektik zu, die den Begriff des reinen Denkens bestimmt, stellt sich uns ein „eingefrorener" Zustand dieser wechselseitigen Annäherung und Korrektur der beiden Haupteile dar, der den Weg der wechselseitigen Annäherung nicht dokumentiert.36 In der Darstellung der Dialektik fällt aber nicht nur die Dokumentation der vorangegangenen Annäherung weg, sondern der Gedanke der wechselseitigen

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In den Ethik- und Hermeneutikvorlesungen wird diese Dreierstruktur von einer weiteren Dreibzw. Zweierstruktur überlagert.

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Vgl. die Akademierede Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendhegriffs, KGA I 11, 315f.; Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs, KGA I I I , 417f.; Über den Begriff des höchsten Gutes, KGA I I I , 537f..; Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik", K G A I I I , 645ff.; Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Be^ug auf die Theorie derselben , KGA I I I , 727ff., sowie die Hermeneutik- und Ästhetikvotlesungen IUA7 3 u. As/L 8. Auch die Kjir(e Darstellung des theologischen Studiums, die dazu dienen sollte, in das Theologiestudium einzuführen, beginnt mit einer Reflexion auf Form, Inhalt und Umfang der Theologie als Wissenschaft. Als Dokumentation der wechselseitigen Modifikation von Empirie und Spekulation könnten für die Ethik die Grundlinien angesehen werden, und unter den Vorlesungen finden sich in der Ästhetik noch einige Spuren dieses Weges. In der Einleitung und in dem ersten allgemeinen Teil der Ästhetik findet eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Ansätzen und deren Prüfung auf ihre theoretische Tauglichkeit statt. Ganz analog zur Kritik der ethischen Begriffe und Kritik der ethischen Systeme in den Grundlinien fordert Schleiermacher, dass der Begriff der Ästhetik alle Kunstrichtungen und alle Kunsterscheinungen vollständig enthalten und entfalten können soll. Die vorliegenden Theorien, die den Begriff des Schönen und den des Vollkommenen oder den Mimesisgedanken ins Zentrum stellen, werden der Vielfalt der Kunsterscheinungen nicht gerecht. Die Empirie, verstanden als Betrachtung und Auseinandersetzung mit der Kunsterscheinung, dient so der Theorie zur Prüfung, indem sie vorlegt, was zu erklären ist. Schleiermachers Ergebnis dieser Kritik ästhetischer Entwürfe ist eine Produktionsästhetik, deren Begriff wie in den anderen Disziplinen Begriff einer Tätigkeit ist. Da sich das Wesen der Kunsttätigkeit aber auch nur in ihren Werken und einzelnen Äußerungen zeigt, kann die Reflexion auf das Wesen der Kunsttätigkeit eigentlich nicht als abgeschlossen verstanden werden, was Schleiermacher aber gleichwohl nahe legt.

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Annäherung beider Teile, aus der der grundsätzlich provisorische und vorläufige Status der Dialektik hervorgeht, tritt selbst in den Hintergrund. 37 Hält man daran fest, dass sich technischer und transzendentaler oder empirischer und spekulativer Teil wechselseitig bestimmen, so müsste der transzendentale Teil der Dialektik offen sein für eine neue „Bestandsaufnahme" des technischen Teils, der ihn mit weiteren Formen der Wissenskonstruktion und -kombination konfrontiert und eventuell zu einer Modifikation zwingt. Zweifel an dem allgemeinen und überhistorischen Charakter der Dialektik, die Schleiermacher in der Vorlesung von 1822 formuliert, motivieren sich jedoch nicht in erster Linie aus dem programmatisch aufgestellten Wechselverhältnisses von transzendentalem und technischem Teil, sondern entzünden sich an einer Reflexion über den individuellen Charakter der Sprache. Bereits im Bmuillon Ethik bestimmt Schleiermacher das Verhältnis von Sprache und Denken als Identität. Als die „materielle" Seite des Denkens, ohne die kein Denken ein bestimmtes Denken sein kann, zeigt sie sich jedoch immer als individualisierte Sprache eines bestimmten Sprachkreises, sie ist national, regional oder sozial begrenzte Sprache, sodass Schleiermacher in der Dialektikvorlesung von 1822 und später in der für den Druck bestimmten Einleitung von 1833 den allgemeinen und überhistorischen Geltungsanspruch der Dialektik auf einen bestimmten Sprachkreis einschränkt.

3.1.5. Wissenwollen als „unbewußtes Agens" - ein „überhistorischer" Ausgangspunkt der Analyse der Idee des Wissens? Bekennt man sich zu einem radikal geschichdichen Standpunkt und geht davon aus, dass weder endgültige Methoden der Wissenskonstruktion noch ein festes oder reines Wissen vorliegt, dann wird nicht nur fraglich, ob wir jemals ein Wis37 In den ausführlicheren Nachschriften zur Dialektikvorlesung von 1822 zeichnet sich das Abwägen von theoretischen und empirischen Momenten deutlicher ab als in den Manuskripten zur Vorlesung von 1814/15. Schleiermacher formuliert 1822 im transzendentalen Teil immer wieder den noch vorläufigen Status seiner Ausführungen (das wird beispielsweise an folgenden Passagen und Formulierungen deutlich: „Daß beide Merkmale den ganzen Begriff des Wissens erschöpfen, will Schleiermacher nicht behaupten, weil er von einem bestimmten Puncte ausgegangen ist, nämlich daß ein Zustand streitiger Vorstellungen gegeben sei, vielmehr müßte er sich ganz bestimmt des Gegentheils bewußt sein, weil er gesagt hat, es könne kein vollendetes Wissen geben außer im Zusammenhange mit der Construction alles Wissens. In dem Processe kann noch vieles enthalten sein, was in den beiden Merkmalen nicht enthalten ist." (Dw/KGA II 10/2, 452) Vgl. auch Diλ/KGA II 10/2, 459: „Aber dies ist auch eine Antwort, hergenommen aus der alltäglichen Sphäre, und es liegt darin nicht, ob sie eine allgemeine ist oder nicht." Oder vgl. Dia/KGA II 10/1, 235: „Ob nun aber dies die ganze Lösung der transcendentalen Seite der Aufgabe sei könen wir nicht behaupten und haben nicht Ursach es vorauszusezen, da wir nur so gelegentlich dazu gekommen sind." Allerdings wird nie so richtig deutlich, an welcher Stelle und aufgrund welcher Ausführung oder Herleitung sie ihren nur vorläufigen Status überwinden.

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sen erreichen können, sondern wie und ob wir uns überhaupt auf ein Wissen hin orientieren können. Wie kann und soll eine solche Untersuchung über Grund und Form des Philosophierens beginnen, wenn doch die Untersuchung selbst gar nicht vom Gegenstand der Untersuchung getrennt sein kann? Die Dialektik soll vom streitenden Denken ausgehen und befindet sich doch selbst nicht außerhalb dieser Grundsituation des Streitgespräches. Sie steht vor der paradox anmutenden Schwierigkeit, dass ihr Gegenstand „gar nicht außerhalb der Untersuchung vorhanden ist also beide Eins und dasselbe sind" (DialKGA II 10/1, 75, § 2). Oder, wie es in Twestens Mitschrift heißt: „Es könnte jemand sagen, wie wir denn zu den höchsten Principien kommen wollten, da wir doch nicht anders als ohne dieselben zu ihnen kommen könnten?" (DialKGA II 10/2, 10) Soll die Dialektik das Streitgespräch auf ein Wissen hin orientieren können, ohne selbst als endliches Wissen oder Meinen in Frage gestellt zu werden, so muss sie einen streitfreien Ausgangspunkt finden, fordert Schleiermacher: Eine Anleitung von jedem Punkt aus, auf welchem wir uns im reinen Denken finden, den Streit aufzulösen mithin das Wissenwollen seinem Ziel zuzuführen, kann nur mit dem Versuch beginnen, wie aus dem Gehalt jeder reinen Denkthätigkeit ein außer dem Streit liegendes Denken entwikkelt und gesondert werden kann. (Dia/.KGA II 10/1,422, § 5) In Bezug auf dies Urwissen dürfen wir uns also an die Relativität des Wissens nicht kehren, denn diese liegt nur in dem Wissen, was wirklich zeitlich entsteht, nicht in demjenigen, was allem vorhergeht [...]. (DialKGA II 10/2, 4 8 1 ) 3 8

Dieses Urwissen oder Prinzip ist ein reines oder „absolutes Wissen". In der Vorlesung von 1811 unterscheidet Schleiermacher zwei Möglichkeiten, dieses absolute Wissen zu besitzen. Entweder in seinem ganzen Umfang als positives Wissen, was wir jedoch nur anstreben können, oder in der Form eines „unbewußten Agens", das jedes Denken begleitet, indem es ihm als Wissenwollen innewohnt. Das, was sich uns als streitendes Denken darbietet, ist kein Sammelsurium unzusammenhängender mehr oder weniger zufalliger Formen und Inhalte des Denkens, sondern muss als individuelle Erscheinving eines sich geschichtlich äußernden absoluten oder reinen Wissens aufgefasst werden. 3 9 Der Versuch, die Tätigkeit des Philosophierens oder der Wissensentfaltung selbst zum Gegenstand zu machen, kann nur darin bestehen, uns den einzelnen Erscheinungsformen des Wissens zuzuwenden. Sollen wir dabei aber nicht nur geschichtlich Kontingentes, sondern das Wissen selbst auffinden, müssen wir davon ausgehen, dass das We-

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an

Vgl. auch Dm/KGA II 10/2, 444ff. Vgl. DialKGA 11 10/2, 588: „[...] d. h. wir gehen zurück auf die Idee des Wissens, als auf ein eigentlich bewegendes Princip, eine lebendige Kraft, die beständig in Thätigkeit ist, und sich in der Zeit realisiren will [...]."

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sen der Tätigkeit oder das Prinzip des Wissens sich in jeder geschichtlichen Form des Wissens zeigt und einer Analyse zugänglich ist. Der Vorsaz die Production des Wissens durch Besinnung über das Verfahren zur Kunst zu erheben sezt voraus daß ein anderweitig also kunstlos entstandenes Wissen vorhanden sei, an welchem das Verfahren kann beobachtet werden. ( D i a l K G h II

10/1,83, §55) 4 0 Die Aufgabe, Philosophie oder Wissen als Tätigkeit zu bestimmen, kann auch als das Anliegen beschrieben werden, dieses unbewusste, in jeder Denktätigkeit wirkende Prinzip des Wissens, das Schleiermacher auch „ursprüngliches Wissen" oder „Grund alles Wissens" nennt (DialKGA II 10/1, 81, § 46), zu Bewusstsein zu heben. Das absolute Wissen als „unbewußtes Agens" setzen wir „[...] schon als seyend voraus, und wollen nur zum Bewußtseyn desselben gelangen; es ist in allem unsrem Wissen, aber vorher auf unbewußte Art und nur unter der Form der Thätigkeit; es ist zwar das eigentliche Agens, aber wird nicht mit ins Bewußtseyn aufgenommen." (DiaKGA II 10/2, 10) 41 Für H. J. Rothert, der sich 1970 als einer der ersten mit philosophischem Interesse der Dialektik Schleiermachers zuwendet, bleibt dieser Rückgriff auf ein streitfreies „unbewußtes Agens" das fundamentale Problem der Dialektik, das der Preis für das Verdienst Schleiermachers ist, sich zum endlichen Denken zu bekennen und zu einer Dialektik, die weder Anfang noch Ende des Denkprozesses repräsentiert. 42 Denn mit dem Anspruch eine einmalige Analyse dieses „unbewußten Agens" liefern zu wollen, installiere Schleiermacher einen überhistorischen Grund für die Wissenschaftswissenschaft vom endlichen oder geschichtlich erscheinenden Wissen. Rotherts Bedenken aufnehmend, ohne mich ihnen sofort anzuschließen, soll im Folgenden geklärt werden, was sich genau hinter diesem Rückgriff auf ein „unbewußtes Agens" verbirgt und ob Schleiermacher mit diesem „Kunstg r i f f den Boden der Geschichtlichkeit verlässt oder nicht. Schleiermacher ist sich der Problematik seines Ansatzes bewusst, wenn er in der Dialektikvorlesung von 1814/15 schreibt:

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Vgl. auch DialKGA II 10/1, 421f., § 4.3: Voraussetzung der Analyse der Idee des Wissens ist die Annahme, „daß das Wissenwollen schon in den ersten Lebensthädgkeiten des Menschen immer mitgesezt ist, wenngleich nur als ein kleinstes, und daß es sich stetig fortentwikkelt, ohne sich, ohnerachtet aller Veränderungen die es durchgeht jemals so loszureißen daß irgend ein neuer Anfang alles frühere gleichsam ungeschehen machte und zerstörte." Vgl. auch Dm/KGA II 10/1, 421, § 4.3: „Will man also diesen Punkt übergehend erst weiterhin irgend einen Act als den Anfang des reinen Denkens sezen: so wird sich immer nachweisen laßen, daß dieser selbst schon auf früherem ruht, worin das reine Denken auch schon gewesen ist." Vgl. auch DialKGA II 10/1, 78, § 26f. u. DialKGA II 10/1, 86: „Dasselbe Princip ist also auf dem Gebiet des gemeinen Wissens ein bewußtloses agens, auf dem speculativen ein sich selbst durch seine Handlungen zum Bewußtsein kommendes." Vgl. ROTHERT 1970,188

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik Die A n n a h m e freylich, daß in allem einzelnen W i s s e n das absolute enthalten scy, ist nicht von gleicher Dignität, als das gesuchte Wissen selbst, obgleich nothwendig, um eine H a n d h a b e zur A u f f i n d u n g des Absoluten zu erhalten. Insofern sehn wir hier die relative Wahrheit der Behauptung ein, daß der Glaube über dem Wissen stehe. Aber der Glaube ruht auch auf d e m Wissen, insofern dies das Agens in allen unsren Ueberzeugungen ist. (DialKGA II 10/2, 11)

Die Antwort, die Schleiermacher an dieser Stelle gibt, ist wenig befriedigend, indem er an systematisch entscheidender Stelle fast lapidar auf einen hier nicht weiter ausgeführten Glauben verweist. Während die Vorlesung von 1814/15 lediglich die Ergebnisse dieser Bewusstmachung präsentiert, macht die Vorlesung von 1811 die einzelnen Schritte dieses aufsuchenden Vorgehens deudicher. Dort macht sich Schleiermacher zu diesem Punkt der Darstellung folgenden Einwand: „Nun könnte man etwa sagen, ohne das höchste Wissen zu haben, wüßten wir ja nicht, ob ein Einzelnes ein Wissen sey." (DialKGA II 10/2, 11) Woher weiß ich, was ich aufsuchen und zu Bewusstsein heben soll, wenn ich nicht das, was ich suche, schon kenne? Die Bewusstwerdung setzt deshalb nicht beim Wissen selbst, sondern beim vermeintlichen Wissen an: Aber alles, was mir als Wissen erscheint, ist uns in der Hinsicht h o m o g e n ; um im einzelnen Wissen das Absolute zu finden, müssen wir ja gerade vom Inhalt abstrahiren; w a s also möglicher Weise irrig seyn kann, das geht in unsere Untersuchung

nicht ein. (Dia/KGA II 10/2, 11) Die Bewusstwerdung des in uns unbewusst agierenden Prinzips des Wissens soll jedoch nicht „[...] als ein einzelnes, wie ein einzelnes reales Wissen" aufgesucht werden, wie Jonas in einer Zusammenfassung aufgrund einer Vorlesungsnachschrift schreibt, sondern als die „die jedem Wissen nothwendig einwohnende Form des Wissens", als das, was Wissen „zum Wissen macht". Sie ist kein direkter Zugriff auf ein „ursprünglichen Wissens", aus dem sich alles Wissen entfalten können wird, sondern (wesentlich bescheidener) die Reflexion auf das allem vermeintlichen Wissen Gemeinsame, das sich in jeder streitenden Meinung manifestiert: das Wissen wollen. Denn die angestrebte Kunstlehre kann keinen andren Ausgangspunkt haben als das wissenwollen, weil dieses unfehlbar zuerst denen gemeinsam ist, welche auf unserem Gebiete Streit führen daß sie wissen wollen. (DialKGA II 10/1, 373, § 2.5)

Der von Schleiermacher geforderte überhistorische und streitfreie Ausgangspunkt ist also dieses Wissenwollen oder der Anspruch des vermeintlichen Wissens, ein Wissen zu sein, da er die Bedingung der Möglichkeit des Streites selbst darstellt. Die entscheidende Frage, die in diesem Kapitel verfolgt werden soll und am Ende der Arbeit noch einmal aufgenommen werden soll, ist, ob der Zugriff auf dieses Wissenwollen, das sich im Streit manifestiert, ein überhistorischer sein kann oder immer nur ein interpretierender, d. h. historischer sein muss. Und weiter: Ob mit

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einem Zugeständnis des historischen oder interpretierenden Zugriffs Schleiermachers Gedankengang an Attraktivität verliert oder nicht.

3.2. Die „Analyse der Idee des Wissens"— %um transzendentalen Teil der „Dialektik " Der Zugriff auf das allem Denken zugrunde liegende „ursprüngliche Wissen" oder das „unbewußte Agens" aller unserer Denktätigkeiten bezeichnet Schleiermacher bereits in der Dialektikvorlesung 1811 als „Analyse der Idee des Wissen". Diese im transzendentalen Teil der Dialektikvorlesung vorgenommene Begründung des Wissens verändert sich kaum in den einzelnen Fassungen, findet allerdings in der Dialektikvorlesung von 1822, wie sie Odebrecht wiedergibt, die ausführlichste Darstellung. In der folgenden Auseinandersetzung mit Schleiermachers Dialektik orientiere ich mich an der „gedrängten" Fassung von 1814/15, die gegenüber der Vorlesung von 1822 in der Kürze mehr Klarheit gewinnt - sie ist nicht so widersprüchlich, wie Odebrecht es in seinem Kommentar andeutet. Die Vorlesung von 1822 ist hingegen dann von Interesse, wenn die Ausführungen der Vorlesung von 1814/15 zu knapp ausfallen. Dies betrifft die Auseinandersetzung mit dem „transzendentalen G r u n d " und die Darstellung des zweiten, technischen Teils der Dialektik, insbesondere die Urteilslehre. Schleiermachers Argumentation der .Analyse der Idee des Wissens" möchte ich, wie bereits einleitend erwähnt, idealtypisch in vier Schritten strukturieren, denen ich vier Fragen zuordne. 1. Was ist Wissen? 2. Was ist Denken? 3. Worin und warum unterscheidet sich Wissen und Denken ? 4. Wie ist Wissen möglich? Mit der ersten Frage „Wodurch wird ein Denken Wissen?" (DialKGA II 10/2, 11), Wodurch erkennen wir etwas als ein reales Wissen? Oder Was behauptet ein Denken von sich, das den Anspruch erhebt, ein Wissen ψ sein? sucht Schleiermacher nach den Kriterien, ein Wissen vom bloßen Meinen zu unterscheiden. Da wir unser Denken immer nur im Zustand des Streites vorfinden und keine der miteinander streitenden Meinungen als ein Wissen gelten kann, gewinnen wir das, was allen Äußerungen als ihr bewegendes Prinzip zugrunde liegt, indem wir die Meinungen nicht danach befragen, was sie sind, sondern was sie sein wollen: ein Wissen. Nicht aus den einzelnen inhaltlich in Streit liegenden Meinungen, sondern aus dem ihnen allen gemeinsamen Anspruch, ein Wissen zu sein, lassen sich zwei „Charaktere des Wissens" bestimmen: Wissen zeichnet sich a) dadurch aus, dass seine Konstruktion von allen gemeinsam vollzogen werden kann und b) durch die vollkommene Entsprechung von Sein und Denken. In einem zweiten Schritt, „Was ist Denken?" (DialKGA II 10/2, 14), versucht Schleiermacher zu bestimmen, wodurch sich Denken überhaupt auszeich-

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net, und stellt jeden Denkakt als das Zusammenwirken zweier „Funktionen" vor, der Mannigfaltigkeit liefernden organischen und der ordnenden, einigenden formalen. Als je unterschiedlich gewichtete Formen des Zusammenwirkens von organischer und formaler Funktion können wir Urteil und Begriff als zwei grundlegende Formen des Denkens ausmachen. Die organischen und formalen Funktionen des Denkens bestimmen alles Denken, können aber selbst nicht in begrifflicher Form gegeben werden. Sie müssen als pure Rezeptivität und pure Spontaneität verstanden werden, die selbst nicht wieder Gegenstand des Denkens werden können und außerhalb des Denkens liegen. Sie verweisen auf den alles reale Denken bestimmenden absoluten Gegensatz von Idealem und Realem. Mit der dritten Frage Worin unterscheiden sich Denken und Wissen? sucht Schleiermacher den Grund für die Individualität des Denkens auf und führt dadurch unmittelbar zur Beantwortung der vierten Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen Wissen möglich ist. Der Aufweis des absoluten Gegensatzes sagt noch nichts darüber aus, ob wir darauf hoffen können, dass sich in der Entfaltung des Gegensatzes der absolute Gegensatz je vermitteln lässt, und das heißt, ob wir die differenten, sich streitenden Formen des Denkens je einem Wissen annähern können. Letzte Bedingung der Möglichkeit von Wissen ist die ursprüngliche Einheit des Gegensatzes, die vom Denken als Bedingung der Möglichkeit von Wissen zwar markiert wird, in der Reflexion jedoch nicht eingeholt werden kann. Die Frage Ist Wissen möglich? fällt so nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Dialektik. Gleichwohl antwortet Schleiermacher auf die Frage Was dürfen mir hoffen? oder besser: Was können wir glauben? im transzendentalen Teil der Dialektik und markiert so die Anschlussstelle und zugleich die Trennlinie zur Religion und Theologie. In der folgenden Auseinandersetzung mit den einzelnen Schritten der Analyse der Idee des Wissens soll Schleiermachers Vorhaben des „Anfangens aus der Mitte" ernst genommen werden. Die kritische Leitfrage der Untersuchung ist, was wir unter welchen Voraussetzungen und Annahmen, ausgehend vom realen, sich streitenden Denken über Wissen und Denken sagen können.

3.2.1. Die zwei Charaktere des Wissens - die Bedingungen der Möglichkeit des Streites Der erste Schritt der Analyse der Idee des Wissens versucht zu bestimmen, was ein Wissen als Wissen auszeichnet. Da uns kein Wissen vorliegt, das uns Auskunft über seine Struktur (sein Sein) gibt, bleibt uns nur, uns dem streitenden Denken zuzuwenden. Das streitende Denken, ungeachtet seines kontingenten Status', kann uns Auskunft über das Wissen geben, insofern es den Anspruch erhebt, ein Wissen zu sein und dieser Anspruch den Streit der Meinungen erst generiert. Die

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Streitsituation des Denkens ist so nicht nur Ausgangspunkt, sondern mit ihren impliziten Voraussetzungen zugleich Ansatzpunkt der Analyse. Formuliert man die Einstiegsfrage Wodurch wird ein Denken ein Wissen? etwas um, dann erscheint Schleiermachers Vorgehen in diesem ersten Schritt fast sprachanalytisch: „Was verstehen wir darunter, wenn wir davon sprechen zu wissen?" Und bezogen auf die Situation des Streites: Unter welchen Annahmen macht der Satz: „Ich habe recht und Du hast unrecht!" überhaupt erst Sinn? Was sind die den Streitenden gemeinsamen Grundannahmen, ohne die der Streit als Streit gar keinen Sinn machen würde? Und was zeichnet sich darin für die Bestimmung des Wissens ab? In der Zuwendung zum Streit macht Schleiermacher zwei „Charaktere" des Wissens aus, die als Anspruch jedem reinen Denken eigen sind und den Streit zwischen verschiedenen Meinungen erst provozieren. Wissen, so formuliert Schleiermacher in der Vorlesung 1814/15, ist dasjenige Denken, „welches a. vorgestellt wird mit der Nothwendigkeit daß es von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise producirt werde; und welches b. vorgestellt wird als einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend." {Dial.KGA II 10/1, 90, § 87) Ein Streit zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass sich unser Denken unterscheidet, denn nur so kann ich sinnvoll vom anderen behaupten, dass er nicht Recht hat. Indem ich mich streite, unterstelle ich zugleich, dass eine Überzeugung prinzipiell möglich ist und dass wir prinzipiell ein gleiches Denken haben können und aus unserem Streit übereinstimmend hinausgehen können. Eine Übereinstimmung tritt dann ein, wenn der andere die von mir gemachte Aussage mit der von mir vorgenommenen Begründung nachvollziehen kann und umgekehrt. Denn die Übereinstimmung in der Aussage kann auch rein zufällig sein und es kommt also darauf an, dass sich die Begründungen decken, oder wie Schleiermacher formuliert, die Produktion des Gedankens identisch ist: Was bei der Vorstellung des Wissens zum Grunde liegt, ist die allgemeine Identität des Processes. Wenn wir uns denken, daß 2 einerlei Vorstellung von einem Gegenstande haben, und also nicht streitig sind, indem aber einer den andern fragt: wie bist du zu dieser Vorstellung gekommen? und man nun einen verschiedenen Weg der Erreichung der Vorstellung findet: so hört die Einheit auf, indem man glaubt, daß die Vorstellungen, die von einem verschiedenen Puncte ausgegangen sind, nicht eins sein können. (DM/KGA II 10/2, 4 5 0 ) 4 3

Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es von allen geteilt werden können muss, und zwar nicht nur in seinem Ergebnis, sondern in dem Prozess seiner Produktion oder Konstruktion. Nur etwas, von dem wir überzeugt sind, dass es jeder andere in gleicher Weise auch produzieren wird, halten wir für ein Wissen. Der

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Vgl. auch D a K G A II 10/2, 1 l f .

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Streit lässt sich erst beenden, wenn ich den anderen überzeugen kann, wie ich zu meiner Meinung gekommen bin, die ich für ein Wissen halte. Aus dem Umstand, dass wir uns streiten, wird zweitens eine prinzipielle Gegenstandsbezogenheit des Denkens deutlich, denn wir streiten immer um etwas, und dieses Etwas setzen wir als Bezugspunkt unseres verschiedenen Denkens voraus. Nur indem beide Streitparteien behaupten, über denselben Gegenstand etwas auszusagen, kann überhaupt erst Streit entstehen: Der Streit überhaupt sezt die Anerkennung der Selbigkeit eines Gegenstandes voraus, mithin überhaupt die Beziehung des Denkens auf das Sein. (Οώ/KGA II 10/1, 408, § 3)44

In diesem Gegenstandbezug ist die inhaltliche Seite unseres Denkens verankert, ohne dass wir etwas denken, etwas außerhalb des Denkens, verschwindet uns die Inhaltlichkeit unseres Denkens und wird zu einem bloß formalem Spiel. Denn ein tatsächlicher Gegensatz entsteht nicht allein aufgrund von logischen Beziehungen zwischen einem Α und einem B, sondern erst dadurch, dass wir mit Α und Β auf etwas verweisen, und ohne diesen Verweis würden sich die Aussagen Α und Β völlig indifferent gegenüberstehen : Denn so wenig überall etwas aufgehoben wird w e n n ich Α denke und ein anderer denkt B: eben so wenig auch, wenn ich Α denke, und ein anderer denkt nicht A. Dann nämlich denkt er entweder gar nicht, oder er denkt irgend ein B; ja, es gälte auch gleich zu sagen, er denke Nicht-A, indem auch dieses nur irgend ein Β ist, und es gar keinen Grund giebt das eine Denken dem andern entgegenzusezen. ( O i a t K G K II 10/1,409, § 3 . 2 ) 4 5

Ohne diesen Bezugspunkt auf ein Außerhalb des Denkens, das Schleiermacher Sein nennt, kann im Denken kein Streit um etwas erwachsen: Denn nehmen wir diese Beziehung des Denkens auf das Seiende weg: so giebt es keinen Streit, sondern so lange das Denken nur rein in sich bleibt, giebt es nur Verschiedenheit. (Die/KGA II 10/1, 410, § 1.2)46

^

^

Vgl. auch DiatKGA II 10/1, 410: „Denn zweie sind nur im Streit, sofern sie ihr Denken auf ein von beiden gemeinschaftlich als dasselbige gesezte Sein beziehen, und insofern das Denken des einen das des anderen aufhebt." Vgl. auch DiatKGA II 10/1, 424, § 5.1: „Denn wenn der eine Λ mit b und der andere dasselbe A mit einem b ausschließenden c zusammendenkt, woraus nothwendig früher oder später Streit entstehen muß: so wird der Widerspruch nicht unmittelbar durch die Anwendung der logischen Regeln entdekkt, sondern erst wenn eine Veranlassung entsteht b und c auf einander zurükkzuführen. Daher versagen diese Regeln bei jedem ursprünglichen Zusammendenken ihren Dienst, und es bleibt kein anderes Fortschreiten im Denken übrig als von solchen Anfängen die nicht nach diesen Regeln zu prüfen sind; das heißt wir müssen uns mit den willkührlichen Anfängen in allen Gebieten des Wissens begnügen." In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Schleiermacher der Mathematik ihren wissenschaftlichen Gehalt erst in Bezug auf die Welt via Physik zugesteht. Vergleiche dazu die Ausarbeitung Twestens zu Dialektikvorlesung von 1811: „Die Mathematik erhält aber erst ihren wissenschaftli-

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D e r G e g e n s t a n d b e z u g i s t a l s o n i c h t n u r d e m W i s s e n , s o n d e r n d e m D e n k e n allg e m e i n e i g e n . J e d e s D e n k e n ist i m m e r e i n D e n k e n v o n e t w a s , e i n D e n k e n , sich a u f ein A u ß e r h a l b d e s D e n k e n s b e z i e h t , ein D e n k e n , d a s in einer

das

Subjekt-

O b j e k t - F o r m vorliegt: J e d e s D e n k e n , u n d a l s o a u c h d a s W i s s e n s t e h t in R e l a t i o n s o w o h l a u f d a s D e n k e n d e als a u f ein G e d a c h t e s , S u b j e c t u n d O b j e c t . D a s G e d a c h t e ist e t w a s a u ß e r h a l b d e s D e n k e n s a b e r i m D e n k e n g e g e b e n . W i e in d e m D e n k e n , i n w i e f e r n es ein W i s s e n ist, d a s S u b j e k t g e s e t z t w i r d , h a b e n w i r g e s e h n . W i e w i r d ein D e n k e n , i n s o f e r n es W i s s e n ist, in B e z i e h u n g a u f s O b j e c t g e d a c h t [?] [ . . . ] W i r k ö n n e n u n s n i c h t s d e n k e n als u n t e r d e r F o r m d e s S e y n s , w e n n a u c h n u r in u n s selbst u n d f ü r u n s selbst. S e l b s t in d e m w i l l k ü r l i c h e n D e n k e n , i m P h a n t a s m e n , n i m m t d a s G e d a c h t e d i e F o r m d e s S e y n s an. Nicht anders b e y m Irrthum. D e n n wir verflechten a u c h ihn mit d e m Seyn des Ged a c h t e n , i n s o f e r n e s e i n w a h r e s ist. D u r c h w e l c h e R e l a t i o n z u m S e y n w i r d ein D e n k e n ein W i s s e n ? I n d e m N i c h t w i s s e n ist d a s S e y n b l o ß e F o r m u n s r e s D e n k e n s ; a u c h i m Irrthum beziehen wir das D e n k e n auf ein davon unabhängiges Seyn, aber das D e n k e n v e r h ä l t sich n i c h t z u s e i n e m S e y n , w i e d a s D e n k e n sich z u m S e y n v e r h a l t e n soll. [ . . . ] W i s s e n ist d i e C o n g r u e n z d e s D e n k e n s m i t d e m S e y n als d e m G e d a c h t e n . ( D i a / K G A II 1 0 / 2 , 1 2 f . ) 4 7 W i s s e n h e b t sich d a d u r c h v o m b l o ß e n D e n k e n ab, i n d e m es d e n A n s p r u c h hebt, d e m Sein zu entsprechen. Spricht Schleiermacher v o n einer

er-

Übereinstim-

m u n g o d e r K o n g r u e n z z w i s c h e n D e n k e n u n d Sein, s o liegt es z u n ä c h s t

einmal

nahe, unter d e m Sein das Sein einer A u ß e n w e l t zu verstehen, v o n der wir Eindrücke e m p f a n g e n u n d die es gilt m ö g l i c h s t a d ä q u a t i m D e n k e n n a c h z u b i l d e n . der B e s t i m m u n g des zweiten Charakters des Wissens argumentiert

Bei

Schleierma-

cher jedoch ausdrücklich nicht mit d e m Faktum der Außenwelt.48 Die Seinsbezo-

chen Charakter durch ihre Beziehung auf Physik; was in ihr über das Seyn hinausgeht, ist bloßer Durchgangspunet, um wieder auf das Seyn zu kommen." (Dia!KGA II 10/2, 715) Dieser grundsätzliche Gegenstandsbezug unseres Denkens ist es, der Erinnerung erst möglich macht. Sich erinnern heißt, sich auf das früher Gedachte als Gegenstand oder als Objekt zu beziehen: „Es giebt keine Beziehung des Denkens auf Früheres, wenn nicht das Gedachte auch der frühere Gegenstand des Denkens ist. Es ist derselbe Act, wenn sich mein Denken auf frühere Acte des Denkens bezieht. Wir mögen den Zustand dieser Vorstellungen unter dieser oder einer andern Form nehmen, so schließt es immer ein die Beziehung des Denkens auf ein Gedachtes." {DialKGA II 10/2, 456) Vgl. auch den etwas anderen Wortlaut in der Odebrechtausgabe DialO 136. 48 Vgl. auch Dia/KGA. 11 10/1, 409f, § 3.2: „Nun aber kennen wir Alle als eine schon von je bei uns vorgekommene Thatsache das mit dem Denken über das Denken hinausgehen und es auf ein anderes beziehen, welches wir das Sein nennen, und welches sich uns von unseren Denkaeten unzertrennlich von Anfang an ergiebt als das von außen her zu unseren Affectionen mitwirkende, und von unsrem Heraustreten nach außen leidende. [...] indeß gehen wir hier gar nicht auf diese Erklärung zurükk [...]. Denn nehmen wir diese Beziehung des Denkens auf das Seiende weg: so giebt es keinen Streit, sondern so lange das Denken nur rein in sich bleibt, giebt es nur Verschiedenheit. [...] Denn der Streit erfordert ein selbiges für beide streitende Theile, und nur in Bezug

128

Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

genheit des Denkens und der Anspruch der Übereinstimmung des Seins mit dem Denken im Wissen ist, wenn man so will, ein „Faktum des Streites", ohne die kein Streit sinnvoll wäre. Sie ist eine im Streit enthaltene ontologische Annahme, von der sich jedoch keine ontologische Behauptung ableiten lässt. Man könnte es auch so formulieren: Würde man leugnen, dass es einem um das gleiche Etwas gehe, so würde man sich eines performativen Widerspruches schuldig machen, denn streiten heißt, sich um dasselbe Etwas streiten. Die bei allen gleiche Produktion des Denkens und der Gegenstandsbezug des Denkens als Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein sind die zwei Charaktere des Wissens, die aus dem Anspruch des streitenden Denkens gewonnen werden können, einer Analyse der Struktur des (reinen) Denkens, das ein Wissen sein will. Wenn es ein Wissen gibt, dann muss es diesen zwei Charakteren entsprechen. Ob es dieses Sein gibt, wie es beschaffen ist, wie wir uns auf dieses Sein beziehen können und wie wir eine Übereinstimmung von Denken und Sein feststellen können - kurz: ob es ein Wissen gibt - wird an dieser Stelle der Analyse der Idee des Wissens noch nicht verhandelt. Twesten schreibt dazu in seiner Ausarbeitung zur Dialektikvorlesung von 1811: [...] ob das Wissen dem Dinge congruent sey? Dies braucht uns vorläufig noch gar nicht zu kümmern. Sind die Dinge anders, als wir sie denken, so ist eben kein Wissen da; das Wissen ist und bleibt aber die reine Congruenz beider. Das Subjective hat sein nothwendiges Correlat am Objectiven; wie wir aber finden können, ob in einem gegebenen Wissen eine Congruenz zwischen beiden ist, das kümmert uns noch nicht, sondern wird erst am Ende unserer Untersuchung sich ergeben können. ( D i a l K G K II 10/2, 7 1 6 ) 4 9

Indem es im Wissen für Schleiermacher auch um mathematische und moralische „Gegenstände" geht, er also auch ein mathematisches und moralisches „Sein" ins Feld führt, wird bereits deudich, dass es sich bei dem Sein nicht allein um das simple Sein einer Außenwelt allein handeln kann, sich in ihm zumindest nicht erschöpft.^ Der Begriff des Seins wird bei Schleiermacher auf sehr unterschiedli-

^ ^

auf ein solches kann gesagt werden, daß das verschiedene Denken in Beiden nicht verträglich sei sondern sich aufhebe." Vgl. auch DimKGA II 10/2, 14: „Wie wir finden können, ob in einem gegebenen Wissen eine Congruenz [zwischen Denken und Sein, S. S.] ist, wissen wir noch nicht." Überlegungen zur Einordnung eines mathematischen und moralischen Wissens finden sich in der ersten Dialektikvorlesung von 1811. In der 8. Vorlesung macht sich Schleiermacherden Rinwand, dass dem kategorischen Imperativ, der doch ein Wissen ist, „kein Seyn unabhängig von ihm zu entsprechen [scheint]" (DiatiCG A II 10/2, 13f.) - denn er bestimmt ein Sollen, d. h. ein Sein, das noch werden soll. Dennoch kann er als Wissen bezeichnet werden, insofern wir vom Sein der Vernunft sprechen: „Wir setzen die Vernunft als ein Seyn, und der kategorische Imperaüv sagt die Formel aus, wie die Vernunft handelt, und nur in sofern ist es ein Wissen." (DiatKGA II 10/2, 14). Auch „Dem im mathematischen Wissen gedachten scheint [...] kein Seyn zu entsprechen, sondern das Seyn wird erst durchs Denken produciert." (DiatKGA II 10/2, 14). Zur Bedeutung und Status der Mathematik innerhalb der Dialektik siehe Kapitel 3.3.7.

Die ,,Analyse der Idee des Wissens" - zum transzendentalen Teil der „Dialektik"

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che Weise verwendet und bezeichnet nicht immer dasselbe, sodass es sinnvoll erscheint - das sei hier vorausgreifend erwähnt, mehrere Seinsbegriffe bei Schleiermacher zu unterscheiden. Das komplexe, nicht unproblematische Verhältnis von Sein und Denken soll im Anschluss an die Analyse der Idee des Wissens noch einmal ausführlicher aufgegriffen werden (siehe Kapitel 3.4.). Bevor ich mich dem nächsten Schritt der Analyse der Idee des Wissens zuwende, möchte ich noch einen Blick auf die Unterscheidung zwischen reinem, geschäftlichem und künstlerischem Denken werfen, die in den Vorlesungsmitschriften von 1822 und der für den Druck geplanten Einleitung von 1833 dokumentiert ist. Diese Unterscheidung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit eines Interessenkonfliktes, der jedes Gespräch „um die Sache" (mitbestimmt, deren Konsequenzen Schleiermacher jedoch innerhalb der Dialektik nicht weiter reflektiert. Die Unterscheidung in reines, geschäftliches und künstlerisches Denken findet sich in der für den Druck geplanten Einleitung zur Dialektik von 1833 sowie in den Vorlesungsmitschriften von 1822. Hintergrund dieser Unterscheidung ist die Wechselwirkung der vernünftigen Tätigkeiten, die vor allem in den Einleitungen der Ethikvorlesung behandelt werden. Keine Tätigkeit der Vernunft, ob Denken, Handeln oder Empfinden, kann in seinen realen Äußerungen völlig voneinander isoliert werden. Jedes Denken ist zugleich auch immer ein Handeln, jedes Handeln ein Denken, jedem künstlerischen oder religiösen Akt wohnt ein Erkennen inne, jedem Handeln ein künstlerischer Akt und so fort. Die in der Dialektikvorlesung vorgenommene Unterscheidung zwischen reinem, künstlerischem und geschäftlichem Denken kann als Versuch angesehen werden, dieses Aneinander-Auftreten der Tätigkeiten zu systematisieren, indem ein Denken betrachtet wird, das im Dienste des Handelns und eines, das im Dienste der Kunst steht. Während das reine Denken sich ausschließlich auf Wissen richtet, ist das geschäftliche Denken ein Handeln, das sich des Denkens bedient, es ist auf ein konkretes Ziel fixiert, darauf aus, etwas zu verändern. Es ist „alles Denken um eines anderen willen welches dann immer irgend ein Thun sein wird, ein Verändern der Beziehungen des außer uns auf uns" (DialKGA II 10/1, 393, § 1.2). Das künsderische Denken wird wie das reine Denken nicht durch ein dem Denken äußeres Ziel regiert, ihm geht es jedoch im Gegensatz zum reinen Denken nur um die Erfüllung des Momentes, um Wohlgefallen. 51 Das geschäftliche Denken ist nicht darauf aus, ein Sein oder einen GegensVgl. DialKGA II 10/1, 394, § 1.2: „Das reine Denken nun unterscheidet sich auf der einen Seite von dem geschäftlichen als nicht um eines anderen sondern um des Denkens selbst willen gesezt, auf der andern Seite von dem künstlerischen dadurch, dass es sich nicht auf die momentane Action des Subjectes nämlich des denkenden Einzelwesens beschränkt, mithin auch sein Maaß nicht hat an dem Wohlgefallen an dessen zeitlichen Erfülltsein." Zu den drei Denkrichtungen vergl. vor allem die Einleitung von 1833, Dial.KGA II 10/1, 393ff., § 1.

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

tand adäquat zu bestimmen, sondern dieses Sein zu verändern. Um eine Veränderung zu bewirken, hat das geschäftliche Denken auch ein Interesse daran, dieses Eiwas zu erkennen, und ist insofern auch auf ein Wissen ausgerichtet, jedoch mit pragmatischer Intention. Mit dem ethischen Wissen hat es gemeinsam, dass es auf ein Sollen, nicht auf ein Sein fixiert ist. Es unterscheidet sich von jenem ethischen Wissen, das Schleiermacher als kategorischen Imperativ erwähnt, indem dieses Sollen selbst nicht wieder Gegenstand des Wissens und das Denken Instrument eines dem Denken äußeren Zweckes wird. Die Gesprächsführung des geschäftlichen Denkens charakterisiert Schleiermacher als Überredung 52 und findet sein Ziel im Erreichen des Zweckes. Man könnte Schleiermacher weiterführen und nicht nur ein Gespräch, auch einen Streit des geschäftlichen Denkens ausmachen. Dieser Streit wäre kein Streit „um die Sache", sondern ein Interessenstreit, der sich weder beruhigt, wenn man „in der Sache" einig ist, noch bekümmert, wenn das gemeinsame Interesse auf ganz unterschiedliche Einschätzungen „der Sache" oder Situation zurückgeht. Gesteht man zu, dass geschäftliches Denken einen eigenen Streit mit sich führt, so bedeutet dies auch, dass es dort, wo gestritten wird, nicht unbedingt um die Bestimmung eines von allen als selbig anerkannten Gegenstandes gehen muss, sondern eben auch um Interessen gehen kann. Die Reflektion auf solche „Mittelzustände" (DiaKGA II 10/2, 595) geschieht innerhalb der Dialektik mit der Intention, das reine Denken in der Betrachtung zu isolieren. In Kapitel vier sollen diese Überlegungen zu den „Mittelzuständen" noch einmal aufgenommen werden, um genauer zu untersuchen, was diese Wechselwirkung der Tätigkeiten fur das reine Denken für Konsequenzen hat, wie man geschäftliches, künstlerisches und reines Denken im realen Gespräch voneinander unterscheiden kann und ob es überhaupt ein Streitgespräch geben kann, in dem es nur um Wissen geht.

3.2.2. Die zwei Funktionen des Denkens — das Anfangen des Denkens „aus der Mitte" Mit den beiden Charakteren des Wissens, der Gemeinschaftlichkeit des Denkens aller Denkfähigen und der Adäquatheit von Denken und Sein, ist die Analyse der Idee des Wissens noch nicht erschöpft. Da jedes Wissen ein Denken ist, muss Wissen nicht nur gegen anderes Denken abgesetzt werden, sondern es muss bestimmt werden, was Denken als Denken auszeichnet. Ähnlich der Kantischen Spontaneität und Rezeptivität im Erkennen, bestimmt Schleiermacher zwei Funktionen des Denkens, die intellektuelle und die organische oder sinnliche Funkti-

52

Vgl. Οώ/KGA II 10/1, 397, § 1.3.

Die „Analyse der Idee des Wissens" - zum transzendentalen Teil der „Dialektik"

131

on,® in deren Zusammenwirken jeder einzelne Akt des Denkens besteht. Das notwendige Zusammenwirken von Anschauung und Verstand findet sich bei Kant in der bekannten Formel „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe ist blind" (KANT KrV, A 51/ Β 75). Ganz ähnlich formuliert Schleiermacher zumindest fur eine Seite die von jeder organischen Tätigkeit isolierte intellektuelle Funktion auch als „leere Bestimmtheit". 54 Anders als bei Kant lassen sich die Vermögen, auf die die zwei Funktionen verweisen, für Schleiermacher jedoch nicht weiter formal bestimmen oder differenzieren, weder in reine Anschauungsformen der Sinnlichkeit noch in reine Begriffe des Verstandes. Denn jede Bestimmung, jede Form muss bereits als Ergebnis des Zusammenwirkens beider Funktionen gedeutet werden. Die Leistungen der zwei Funktionen für das Denken, die im konkreten Gedachten immer ineinander wirken, zu isolieren, ist nur als Abstraktion möglich und stellt etwas Undenkbares dar. „Was jede von ihnen beiträgt läßt sich nicht isoliren ohne das reale Denken zu zerlegen, also etwas zu erhalten was für sich nicht nachgewiesen werden kann." (DMCGA II 10/1, 96, § 118.1) Die intellektuelle Funktion muss als eine strukturierende, formgebende oder Einheit stiftende Funktion verstanden werden, die organische oder sinnliche Funktion hingegen kann als „reines Geöffnetsein" beschrieben werden. Sie geben dem Denken Form und Inhalt, 55 wobei Form und Inhalt getrennt voneinander keinerlei Sinn ergeben, denn jede Form wird erst mit einem Inhalt zur Form und jeder Inhalt erst Inhalt durch seine Form. 56 Oder wie Schleiermacher in der Vorlesung von 1814/15 formuliert: „Durch die erste [die intellektuelle Funktion, S. S.] wird jedes Ein Denken, durch die andre [die organische Funktion, S. S.] wird jedes ein Denken." (DialKGA II 10/1, 97, § 119) Wurde Wissen zuvor durch die beiden Charaktere bestimmt, so kann Wissen auf dieser Stufe der Analyse der Idee des Wissens als vollkommenes Aufgehen der beiden Funktionen ineinander oder anders formuliert: als die vollständige und

53

54

Die Bezeichnung „sinnliche Funktion" findet sich in der Vorlesung 1822 vgl. DiaKGA II 10/2, 484. Vgl. Dia/KGA II 10/1, 96, § 118.1. Vgl. Dia/KGA II 10/1, 232: „Durch das Geöfnetsein des geistigen Lebens nach außen = Organisation komt das Denken zum Gegenstand oder zu seinem Stoff durch eine ohnerachtet aller Verschiedenheit des Gegenstandes sich immer gleiche Thätigkeit = Vernunft komt es zu seiner Form vermöge deren es immer Denken bleibt." (Vgl. dazu eine ähnliche, nicht wortwörtliche Stelle in der Odebrechtausgabe DimΟ 140). Vgl. auch Dia/KGA 11 10/2, 458: „ W a s d u r c h d i e O r g a n i s a t i o n e n t s t e h t , ist der Stoff zum D e n k e n ; was die V e r n u n f t hinz u t h u t , i s t d i e F o r m d e s D e n k e n s ; und darin ist alles geendet." Dazu findet sich eine prägnante Formulierung in der Odebrechtausgabe der Dialektik, die sich allerdings nicht mehr in der kritischen Gesamtausgabe wiederfindet, sodass anzunehmen ist, dass dies eine Zusammenfassung von Odebrecht selbst ist: „Fjne organische Tätigkeit ohne alles Intellektuelle wäre noch nicht einmal das Fixieren eines Gegenstandes und gäbe gar keinen Stoff zum Denken, nur die Möglichkeit dazu." (Dia/O 143).

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

differenzierte Einheit all dessen, was sich unserem „Geöffnet-Sein" darbietet und darbieten kann, bezeichnet werden.

3.2.3. Wahrnehmung, eigentliches Denken und Anschauung Obwohl beide Funktionen im konkreten Denken nie getrennt werden können, kann man den Zustand der „Harmonie" von dem der Dominanz einer der beiden Funktionen unterscheiden. Hinsichtlich dieser Art und Weise des Zusammenwirkens der beiden Funktionen unterscheidet Schleiermacher drei Arten des Denkens: Wahrnehmung, eigentliches Denken und Anschauung. 5 ' In der Wahrnehmung dominiert die organische Funktion, das bloße „Geöffnetsein" für die unendliche chaotische Mannigfaltigkeit, und die intellektuelle Funktion agiert hier als selektierend-bestimmende Funktion nur soweit, als dass sich in der Wahrnehmung etwas darstellt: etwas Großes, etwas Schwarzes, etwas, das sich von rechts nach links bewegt oder etwas Unangenehmes am eigenen Körper. Anders als in der einzelne Eindrücke fixierenden Wahrnehmung dominiert im „eigentlichen Denken" die intellektuelle Funktion. Sie geht über die einzelnen Eindrücke hinaus und bildet Urteile und Begriffe. In der dritten Art des Zusammenwirkens, der Anschauung, sind beide Funktionen in einem harmonischen, vollkommen ausgeglichenen Verhältnis. Die Form, in der wir wahrnehmend denken, nennt Schleiermacher Bild. Es ist sozusagen die erste (minimalste) Form des Denkens überhaupt und bezeichnet kein Gesichtsbild, sondern ist im Sinne des „Zusammentreffens der organischen Eindrücke überhaupt" gemeint {Dial.KGA II 10/2, 482). Jedes wahrgenommene Bild kommt nicht auf rein rezeptive Art zustande, sondern ist, wenn auch nur zu geringem Anteil, immer auch ein Produkt der intellektuellen Funktion. In reiner Rezeptivität, einem reinen „Geöffnetsein" kann sich uns nichts darbieten, es sei denn eine in sich undifferenzierte „chaotische Mannigfaltigkeit von Impressionen", die erst durch die intellektuelle Funktion überhaupt bestimmt, unterschieden und mithin wahrgenommen wird: Dieses Setzen der Einheit [in die unbestimmte Totalität des organischen Eindrucks, S. S.] ist aber schon ein Werk der intellectuellen Function. So sind diese beiden Functionen stets miteinander verbunden. Ist das ein Denken: die Thätigkeit der organischen Function, ohne Vernunftthätigkeit? Dies wird eine chaotische Mannichfaltigkeit von Impressionen [...]. (Dia/KGA II 10/1, 459f.) 58 57

CO

Vgl. DialKGA II 10/1, 96f. und DialKGA II 10/2, 471: „Das Denken, wo die organische Seite vorwiegt, nennen wir W a h r n e h m e n ; dasjenige, worin die intellectuelle Seite vorherrscht, ist das D e n k e n im e n g e r n S i n n e d e s W o r t s ; dasjenige, worin beide Seiten in Gleichgewicht stehen, bezeichnen wir durch das Wort A n s c h a u u n g . " h

Eine entsprechende, jedoch nicht wortwörtlich entsprechende Stelle findet sich in der Odebrechtausgabe „Was wir aber als einen Gegenstand aufnehmen, ist nie allein das Totale der organischen

Die „Analyse der Idee des Wissens" - zum transzendentalen Teil der „Dialektik"

133

Dies bedeutet jedoch, dass jedes Bild der Wahrnehmung bereits eine Konstruktion impliziert, dass wir bereits in dem einfachen Akt der Wahrnehmung keine uns vorliegende Außenwelt ab-bilden, sondern Außenwelt bilden. In gleicher Weise, wie die Wahrnehmungen immer als Zusammenwirken beider Funktionen verstanden werden müssen, ist das „eigentliche" oder diskursive Denken, in dem die intellektuelle Funktion dominiert, auf die „Material liefernde" organische Funktion angewiesen. Ebenso wenig wie es ein reines rezeptives Abbilden einer äußeren Welt in der Wahrnehmung geben kann, kann es ein Denken geben, das sich in reiner Spontaneität genügt, es wäre eben nur eine „leere Bestimtheit" (Οώ/KGA II 10/1, 97, § 118.3). Auch wenn bei Kant Begriffe ohne Anschauung leer sind, so ist es für Kant möglich, beide Vermögen zumindest in der kritischen Analyse voneinander zu trennen. Der Umstand, dass Sinnlichkeit und Verstand in der konkreten Erfahrung immer zusammenwirken, spricht für Kant nicht gegen die Möglichkeit, beide Vermögen in ihrer formalen Bestimmtheit zu analysieren: Raum und Zeit als reine Anschauungsformen, die Kategorien als reine Begriffe des Verstandes. Wie kann man jedoch ein Vermögen bestimmen - so könnte Schleiermacher Kant fragen - das uns immer nur an und mit einem anderen vorliegt? Die zwei Denkfunktionen sind für Schleiermacher als Vermögen formal nicht weiter zu bestimmen, sondern lediglich in ihrer Funktion zu benennen: Stoff liefernd, Form gebend. Bestimmbar ist ihr gemeinsames Resultat: die verschiedenen Formen des Denkens. Welt, das ist das vollkommene Aufgehen beider Denkfunktionen ineinander oder die vollständig differenzierte Einheit all dessen, was sich unserem „Geöffnetsein" darbieten kann. Wahrnehmung und eigentliches Denken als zwei unterschiedlich gewichtete Mischungen der zwei Denkfunktionen sind nun zwei Seiten oder zwei Richtungen, von denen aus wir Welt bildend beschreiben bzw. erkennen. Keine der beiden Seiten des Denkens kann mehr zur Erkenntnis beitragen als die andere, es gibt keine niedere oder höhere im Sinne ihrer Vollkommenheit oder Wahrheit. Ebenso wenig gibt es eine erste im Sinne der Ursprünglichkeit oder Richtung der Genese der Erkenntnis. Denn beide, Wahrnehmung wie eigentliches Denken, setzten sich wechselseitig voraus: Das eigentliche Denken in Form von Begriffen und Urteilen basiert auf Wahrnehmungen. Wahrnehmungen jedoch können nur gemacht werden vor dem Hintergrund vorausgesetzter Begriffe und Urteile, die als Selektionsmechanismen der chaotisch dargebotenen Mannigfaltigkeit fungieren. Sich wechselseitig voraussetzen bedeutet jedoch auch, sich wechselseitig zu modifizieren: Mit jeder neuen Wahrnehmung modifi-

Funktion. Man unterscheidet vielmehr immer gleich die Vielheit der Gegenstände, die sich den Sinnen darbieten. [...] Wollten wir uns die Tätigkeit der organischen Funktion ohne Vernunfttätigkeit denken, so wäre es nichts als eine chaotische Mannigfaltigkeit von Impressionen." (Dia/O 142)

134

Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

zieren sich Urteile und Begriffe, neue Urteile und Begriffe provozieren veränderte Wahrnehmungen. 59 Dieser wechselseitigen Bedingtheit von Wahrnehmung und diskursivem Denken ist die Quelle eines nie stillstehenden Denkens, zugleich verbürgt sie die Chance einer unendlicher Annäherung an ein vollkommenes Wissen. Denn die Einseitigkeit, die durch die Dominanz je einer der beiden Denkfunktionen entsteht, kann durch das bewusste Aufeinander-Beziehen, Aneinander-Korrigieren von Wahrnehmung und eigentlichem Denken aufgehoben werden. Stehen Wahrnehmung und eigentliches Denken in beständiger Wechselwirkung, so stellt Schleiermacher die Anschauung als ein vollkommen ausgewogenes Verhältnis der beiden Denkfunktionen vor. In ihr sind Wahrnehmung und eigentliches Denken ineinander aufgegangen, sie ist „also eigentlich als die Vollendung beider" (Dia/O 160) 60 zu verstehen und die eigentliche Form des Wissen, die bildlich und begrifflich zugleich ist. Als solche ist sie das nur annäherungsweise zu gewinnende Ziel und außerhalb des wirklichen Denkens, ein „Gedankending" {Dial.KGA

II 10/2, 472).

Vollkommen ineinander aufgehen können Wahrnehmung und eigentliches Denken erst in dem Moment, wo alles wahrgenommen, alles gedacht wurde, vollendete Anschauung ist so immer Anschauung von Welt. Es fragt sich dann jedoch, ob man noch von Anschauungen im Plural sprechen kann oder besser nur von einer Anschauung, nämlich der Anschauung der Welt sprechen sollte. Anschauung ist das begriffliche Erfassen des Individuellen und das bildliche Erfassen des Absoluten. Beides bedingt sich gegenseitig. Einzelne Anschauung und Anschauung von Welt können für Schleiermacher nicht getrennt werden, jede (einzelne) Anschauung impliziert Anschauung von Welt, und dies heißt zugleich alle möglichen anderen Anschauungen: Gibt es ein vollkommnes Wissen unter der Form der Anschauung, so muß in einem solchen die Verknüpfung aller andren Anschauungen liegen, d. h. in der einzelnen Anschauung müssen wir die Totalität aller andren haben in dem angegebnen Sinn. (Οώ/KGA II 10/2, 474)

Neben dieser immer als Ziel vorzustellenden Anschauung spricht Schleiermacher jedoch auch von realen Anschauungen als einer konkreten Form des Denkens. Offensichtlich müssen in Schleiermachers Rede zwei Anschauungsbegriffe unterschieden werden: die vollkommene Anschauung als Grenzbegriff und eine angenäherte und deshalb reale Anschauung, die Schleiermacher durchaus als wirkliche Form des Denkens versteht. Sie steht für ein Denken, das man weder dem bildlich-wahrnehmenden, noch dem diskursiven eigentlichen Denken zuordnen kann,

60

Dass einzelne Wahrnehmungen nie pure Fakta sind, sondern immer auf eine sie bestimmende Theorie weisen, findet sich auch bei Friedrich Schlegel in den Athenäums-Vragmenten (vgl. SCHLEGEL Κ A II, Athenäums-Vragmente, 201 f, Nr. 226. Vgl. auch DialKGA II 10/2, 472.

Die „Analyse der Idee des Wissens" - zum transzendentalen Teil der „Dialektik"

135

da sie beides in einem ausgewogenem Maße vereint, ohne bereits Wissen zu sein. 61

3.2.4. Das bildliche Denken: Bild und Schema Obgleich das bildliche Wahrnehmen die ganze eine Seite des Denkens ausmacht und angeschautes Denken oder Wissen für Schleiermacher immer nur in einem Austausch und Ausgleich von Wahrnehmung und diskursivem Denken bestehen kann, findet das bildliche Denken sowohl im transzendentalen als im technischen Teil der Dialektik keinen angemessenen Raum. Der transzendentale Teil widmet sich in der Analyse der Idee des Wissens vor allem Begriff und Urteil, der technische Teil konzentriert sich auf die Begriffs- und Urteilsbildung. 02 Eine Aus- und Weiterführung erfährt das Verhältnis von Wahrnehmung und Denken in Schleiermachers Erläuterungen zum Schema, aber auch hier bleiben wesentliche Fragen zur Bedeutung der Bildlichkeit und ihrer Beziehung zur Sprache offen. Dies spiegelt sich auch in der Sekundärliteratur wieder: In der Auseinandersetzung mit der Dialektik findet das bildliche Denken und der Schematismus kaum Beachtung. 63 Den wenigen Äußerungen Schleiermachers zur Wahrnehmung nach, muss das Bild tatsächlich als Bild und somit als eine vor - oder nichtsprachliche Form des Denkens interpretiert werden, 6 4 die im Gegensatz zum diskursiven Ausdruck nicht als eine „diskrete" in sich unterschiedene, sondern eine „stetige", mit einem Mal erfassbare Einheit verstanden werden soll. 65 Bildliches und begriffliches Denken unterscheiden sich für Schleiermacher jedoch nicht dadurch, dass nur der Begriff zur Abstraktion fähig ist und das Bild

61

62

Vgl. DiaiKGA II 10/2, 472: „ Die 3te Form ist die Anschauung. Das Gleichgewicht jener beiden Formen können wir uns auf eine 2fache Art zu Stande kommend denken, 1) ursprünglich, vom Anfange des ganzen Processes an. 2) durch eine Umkehrung des Processes im Processe selbst, ζ. B. indem die organische Thätigkeit eher aufhört, aber die intellectuelle fortdauert, und so jene gleichsam einholt. [...] Doch haben wir diesen Ausdruck (Anschauung) in der Sprache, und er bezeichnet genau jenes Gleichgewicht, das wir uns als eine Approximation zu denken haben, wobei das Ubergewicht der einen Function über die andre nicht g e w o l l t wird." Der Begriff der Schematisierung taucht überhaupt erst ab 1814/15 auf, wobei der Schematisierungsprozess in der Vorlesung von 1811 als solcher nicht benannt, aber als Begriffsbildung durch Induktion behandelt wird. Ausführlichere Äußerungen zu Schema und Schematismus finden sich vor allem in der Dialektikvorlesung von 1822. Als einer der wenigen Dialektikinterpreten setzt sich M. Frank in seiner Einleitung mit dem Schematismus auseinander. Sie stellt allerdings eher eine Fragen aufwerfende Form der Annäherung dar. Hier ist vor allem eine diskursive Sprache gemeint, keine poetische, der in gewisser Weise ein büdlicher Charakter zukommt.

65

Vgl. D/a/KGA II 10/2, 483: „Es wird also das Bild immer gleichsam die stetige Darstellung des Gegenstandes, der Begriff die discrete Darstellung sein."

136

Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

zwangsläufige ein einzelnes, denn das einzelne Bild kann zu allgemeinen Bildern oder zum „Schema" werden: [...] im Begriffe kann eine mannichfache Abstufung gesetzt sein vom Allgemeinen und Besondren, aber das Bild ist derselben Abstufung fähig. Auf dieselbe Weise können wir den Begriff bis aufs Einzelne verfolgen, wie wir das Bild auf das ganz Allgemeine ausdehnen können. {DialKGA II 10/2, 483)

Damit beschränkt sich das bildliche Denken aber nicht mehr allein auf den Bereich der Wahrnehmung, sondern unterscheidet sich in die dem begrifflichen Denken vorangehenden Wahrnehmungsbilder und die das begriffliche Denken begleitenden allgemeinen Bilder oder Schemata. 6 6 Das allgemeine Bild oder Schema ist (wie bei Kant) das den einzelnen wandelnden Bildern zu Grunde liegende, sinnliche und zugleich intellektuelle allgemeine Bild, 6 7 und es ermöglicht, ebenfalls wie bei Kant, 6 8 die Subsumtion des einzelnen Bildes unter einen Begriff: Nur vor dem Hintergrund des Schemas eines Hundes können wir darüber urteilen, ob ein wahrgenommenes einzelnes Bild als Hund bezeichnet werden kann oder nicht. Schemata oder allgemeine Bilder liegen uns jedoch nicht einfach vor, sie werden gebildet - so wie Begriffe und Urteile gebildet werden. 6 9 Allgemeine Bilder gehen in ihrer Bildung auf einzelne Bilder zurück. D. h. erst wenn ich mehrere Dinge wahrgenommen habe, die alle vier Beine, einen Schwanz haben und bellen, entsteht das allgemeine Bild eines Hundes. Zugleich kann aber jedes einzelne Bild nur in Bezug auf ein allgemeines Bild als einzelnes Bild fixiert werden. Ohne jedes allgemeine Bild bleibt die einzelne Wahrnehmung amorph. Es ist die Wahrnehmung von etwas, aber ohne die strukturierende Funktion eines allgemeinen Bildes, könnten wir noch nicht einmal sagen, w o dieses Etwas anfängt oder aufhört. 7 0 Dies bedeutet, das einzelne Wahrnehmungsbild und das allgemeine Bild des Schemas sind gleichursprünglich in dem Sinne, als dass ihre Bildung wechselseitig ist und keines „früher" als das andere auftritt:

66 67 68 69 70

Vgl. Dial.KGA 11 10/2, 617. Vgl. DiaJKGA II 10/1,170f„ § 31. Vgl. KANT KrV, A 137f./ Β 176f. Zu Schleiermachers Rede von den angeborenen Begriffen und Urteilen siehe Kapitel 3.2.8. Es gibt einige Stellen zum Schema, die sich in diese Lesart nicht einfügen, da sie das Schema als eine Form des Begriffs vorstellen: Die Begriffe, die deduktiv und induktiv gebildet werden, grenzt Schleiermacher gegen den vollständigen Begriff ab und nennt sie Schema (durch die Induktion gebildet) und Formel (durch die Deduktion gebildet). Erst wenn Schema und Formel sich durchdringen, entsteht ein vollständiger Begriff. Dem Begriff ist dann kein ihn begleitendes (bildliches) Schema zur Seite gestellt, sondern es erscheint als gelungene Vermittlung von Schema und Formel, als Produkt von Induktion und Deduktion. Vgl. DialKGK II 10/1, 183, § 56: „Der Begriff aber ist erst vollständig wenn eines aus dem andern hervorgeht, bis dahin ist er noch im Werden." Anstelle von „vollständiger Begriff verwendet Schleiermacher in diesem Zusammenhang auch ganz einfach nur den Term „Begriff. Mit Schema als unvollständiger Begriff muss eine weitere, eine andere Bedeutung von Schema verzeichnet werden.

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Eine einzelne Gestalt als gegebene Erscheinung kommt nicht in den Sinn ohne ihre allgemeinen Schemata, und das Schema nicht ohne einzelne Gestaltung; beides wird gleichzeitig im oscillirenden Verfahren. (Dia/KGA II 10/1, 171, § 31)

Wahrnehmungsbilder sowie allgemeine Bilder oder Schemata müssen immer als ein Zusammenwirken beider Denkfunktionen gedacht werden. Sie sind, auch wenn die organische Funktion in ihnen überwiegt, immer auch Produkt der intellektuellen Funktion. Ein tatsächlich einzelnes Bild, das sozusagen nur einen Punkt oder einen Moment aus der chaotischen Mannigfaltigkeit heraushebt, kann es daher genauso wenig geben 7 1 wie ein vollkommen allgemeines Bild, sodass sich einzelnes und allgemeines Bild nur graduell unterscheiden. Diesem nur graduellen Unterschied kommt Schleiermacher auch in der Terminologie nach, indem er nicht nur von einzelnen und allgemeinen Bildern, sondern auch von „untergeordneten Schemata" als „nähere Bestimmungen des allgemeinen Bildes" (DialKGA II 10/2, 641) spricht. Schleiermachers Ausführungen zum bildlichen Denken und seinem Verhältnis zum diskursiven oder eigentlichen Denken sind insgesamt nicht sehr ausführlich und lassen einige Fragen offen. Zur Klärung der Funktion und Stellung des bildlichen Denkens bei Schleiermacher bietet sich, wie so oft, Kant als „Kontrastfolie" an. Bei Kant vermittelt das Schema als Produkt der Einbildungskraft zwischen anschauender Sinnlichkeit und begrifflichem Verstand und soll so die angemessene Subsumtion des Einzelfalls unter eine Regel (einen Verstandesbegriff) garantieren. Auch bei Schleiermacher ermöglicht das Schema die angemessene Subsumtion des Einzelfalls oder einer einzelnen Wahrnehmung unter eine Regel oder einen Begriff, und insofern das Schema zwischen Wahrnehmung und Begriff vermittelt, übernimmt es eine Mittlerfunktion. Allerdings stellen die Schemata keine dritte Größe zwischen Wahrnehmungen und Begriffen dar, sondern unterscheiden sich von den einzelnen Bildern nur durch ihren Allgemeinheitsgrad und nicht dadurch, dass sie auf ein drittes Vermögen zwischen Anschauung und Verstand zurückgehen. Aus diesem Grund kann es bei Schleiermacher auch keine Unterscheidung zwischen empirischen, reinen und transzendentalen Schemata geben. Wollte man in der Kantischen Terminologie bleiben, so sind alle Schemata empirische Schemata, die sich lediglich in ihrem Allgemeinheitsgrad unterscheiden. Die Notwendigkeit einer zwischen Rezeptivität und Spontaneität vermittelnden dritten Größe fällt bei Schleiermacher auch weg, denn organische und intellektuelle Funktion treten in jeder Form des Denkens, sowohl im Wahrnehmen als auch im Begriff bereits immer nur aneinander auf und sind als reine Vermögen

71

Vgl. Dia!KGA II 10/2, 615: „Das Einzelne ist jedoch selbst wieder ein Allgemeines, insofern es ein Veränderliches ist [...]." Frank bringt die Frage, ob es einzelne Bilder nach Schleiermacher l· berhaupt geben kann (FRANK 2001, 48) vor, als ob es sich hier um eine Unstimmigkeit bei Schleiermacher handele. Man kann und muss diese Frage von Schleiermacher aus, wie ich denke, ganz klar mit nein beantworten.

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

unvorstellbare Abstraktionen eines puren Ordungswillens und einer puren Rezeptivität. Das einzelne wahrgenommene Bild ist diejenige Form des Denkens, in dem die organische Funktion im Zusammenwirken mit der intellektuellen Funktion ihr Maximum erreicht. Je allgemeiner dieses Bild wird, man könnte auch formulieren: je schemenhafter es wird, desto größer ist der Anteil der intellektuellen Funktion. Ähnlich wie in der Begriffsbildung organisiert sich das bildliche Denken der Schemata hierarchisch: So wie ein allgemeiner Begriff unter einen noch allgemeineren Begriff subsumiert werden kann und so fort, gibt es für jedes allgemeine Bild ein noch allgemeineres. Es fragt sich nun, ob auch bei den allgemeinen Bildern die intellektuelle Funktion immer noch von der organischen dominiert wird, und die Dominanz der organischen bzw. intellektuellen Funktion sozusagen das Unterscheidungsmerkmal des bildlichen und diskursiven Denkens ist. Aus Schleiermachers Ausführungen lässt sich hierauf keine eindeutige Antwort geben. Einzelne Bemerkungen Schleiermachers legen nahe, dass im bildlichen Denken samt den abstraktesten Schemata - die organische Funktion die intellektuelle dominiert. Zugleich beschreibt Schleiermacher das bildliche Denken als ein Denken, das dem begrifflichen auf allen Abstraktions- und Allgemeinheitsstufen einhergeht, sozusagen eine Art „Parallelschiene" der Welterkenntnis. 72 Dem „System aller allgemeiner Gestalten oder Bilder" als bildliches Denken steht die „Totalität der Begriffe und Urteile" als Vernunft gegenüber: [...] sprechen wir einen allgemeinen Begriff ein sinnliches Bild, das durch die Thätigkeit gekommen ist; d e r S i n n a l s s o l c h e r i s t allgemeinen Gestalten oder Bilder Totalität der Begriffe und Urtheile.

aus: Hund, Baum, so haben wir zugleich der intellectuellen Function in den Sinn also der Ort für das System der wie die V e r n u n f t der Ort der (Ρώ/KGA II 10/2, 616)

Definiert man Sinnlichkeit und Vernunft, wie Schleiermacher das an dieser Stelle tut, als bildliches und begriffliches Vermögen, dann kann man auch bei Schleiermacher eine Kluft zwischen Sinnlichkeit und Vernunft (in der Kantischen Terminologie: Verstand) feststellen, wobei das Schema keine Mittlerfunktion einnehmen kann, weil es eben zu einer Seite, der sinnlichen Seite gehört. Die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Verstand ist dabei nicht eine zwischen Spontaneität und Rezeptivität, sondern die zweier Medien, oder man könnte vielleicht auch sagen, die zweier Sprachen. Dass hier eine Kluft besteht, wird dann deutlich, wenn man sich die Frage stellt, wie man ein Bild in einen Begriff oder einen Begriff in ein Bild „übersetzen" kann. Dies wird beispielsweise dann relevant, wenn ich eine Wahrnehmung einem anderen mitteilen will. Um das (eigentlich unsprachliche 72

• Kann ein Bild ebenso allgemein sein wie ein Begriff, dann ist in der Tat nicht ganz einsichtig, warum die intellektuelle Funktion hier weniger interveniert als im Begriff. In diesem Sinne ist, denke ich, M. Franks Bemerkung zu beurteilen, die Schemata seien „zwar sinnlich dargestellt, aber rein intellektuell bestimmt" (FRANK 2001, 46).

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oder vorsprachliche) einzelne Bild der Wahrnehmung einem anderen mitzuteilen, soll es wie Schleiermacher in der Vorlesung von 1822 andeutet, „mit einer zusammenfassenden Beschreibung von organischen Eindrücken" (Dial.KGA II 10/2, 483) „übersetzt" werden. Unklar bleibt in Schleiermachers Erklärung, in welcher Form diese organischen Eindrücke vorliegen sollen, ob sie bildlicher oder begrifflicher Natur sind. Liegen die organischen Eindrücke als Bilder vor, so kann der ansonsten unendliche Regress des Ubersetzens nur dann angehalten werden, wenn man gemeinsame organische Eindrücke voraussetzt, die von allen in gleicher Weise benannt oder beschrieben werden. Vollkommen gemeinsame organische Eindrücke kann es vor dem Hintergrund der Schleiermacherschen Philosophie nicht geben. 7 3 Die eigentliche Frage, wie eine (gemeinsame) Übersetzung bildlicher Eindrücke in diskursive Sprache möglich ist, bleibt jedoch offen. Ein ähnliches Ubersetzungsproblem lässt sich auch von der anderen Seite, vom Begriff kommend, beobachten. Zu einem Begriff muss nach Schleiermacher, soll er verstanden werden, ein Bild entworfen werden. Wie diese Gestaltung, diese Übersetzung vom Begriff ins Bild vor sich geht, bleibt in Schleiermachers Aufzeichnungen ebenfalls offen. Theilen wir einem andren einen Begriff mit, so wird dies den Erfolg haben, daß er sucht, sich den Gegenstand auch als Bild darzustellen; aber er wird auch wissen, daß dies nicht dieselbe Thätigkeit ist. (Dial.KGA II 10/2, 483)

Einzelne Wahrnehmungen sind diejenigen Formen des Denkens, in der die organische Funktion soweit dominiert, wie sie nur dominieren kann. Begriffe müssen auf Wahrnehmungen zurückgehen, weil sie sich nur so mit „Inhalt" füllen können. Bei der Zuordnung von Wahrnehmung und Begriff leiten die Schemata das Urteil an. Wie diese Vermittlung stattfindet, bleibt dabei offen. Schemata sind jedoch keine dritte Größe (sie gehen nicht wie bei Kant auf ein eigenes Vermögen zurück), sondern sie sind selbst Teil des bildlichen Denkens, das als Sinn oder Sinnlichkeit der Vernunft gegenübersteht. Begriffe gehen so nicht nur auf bildliches Denken in Form von einfachsten Wahrnehmungen zurück, sondern haben in den ihnen einhergehenden allgemeinen Bildern oder Schemata ihre „sinnliche Seite" (DialKGA II 10/1, 172, § 33). Wahrheit oder Wissen entsteht genau dann, wenn das diskursive im bildlichen Denken eine Entsprechung findet: [...] es wird jeder Begriff, auch von Seiten der intellectuellen Function gebildet, nur ein wirkliches Denken seyn, insofern ein sinnliches Bild darin gesetzt ist, welches das Bewußtseyn im Denken begleitet und mit ihm identisch ist [...]. (DialKGA I I 10/2, 616)

Ist das bildliche Denken eine eigene Form des Denkens, so kann es im konkreten Fall auch vom diskursiven Denken abweichen. Darin läge meines Erachtens der eigentlich spannende Aspekt, nämlich im bildlichen Denken eine eigene Form des 73 Zu Schleiermachers Theorie des Irrtums siehe Kapitel 3.3.3.

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik.

Denken zu sehen, das mit dem begrifflichen Denken im wechselseitigen Austausch steht, d. h. bestimmt und bestimmt werdend mit ihm korrespondiert. Wichtig scheint mir dabei, dass das bildliche Denken einen ebenso hohen „Allgemeinheitsgrad" haben kann wie das diskursive Denken. Was die Darstellung dieses bildlichen Denkens mit hohem Abstraktheitsgrad angeht, so könnte man hier beispielsweise an Schaubilder aus den Naturwissenschaften oder aus der Geometrie denken. Sind Wahrnehmungen und Schemata eigene Formen des Denkens, so kann man, wie eingangs geschehen, Schleiermacher zum Vorwurf machen, dass in der Ausführung des technischen Teils der Dialektik ein ganzes Kapitel fehlt, welches sich mit dem bildlichen Denken, dem Prozess seiner Bildung als Schematisierung sowie mit der wichtigen Frage nach der „Ubersetzung" von Bildlichkeit in Sprache und umgekehrt explizit auseinandersetzt. Ein wesentlicher Aspekt des bildlichen Denkens, der in der Dialektik nur am Rande erwähnt wird, weil er in der Entwicklung des reinen Denkens keine elementare Rolle einnimmt, betrifft die Kunst. Die künsderische Tätigkeit äußert sich auch im Bild und hat mit der einzelnen Wahrnehmung gemeinsam, dass sie ein Einzelnes oder Individuelles darstellt, jedoch ein komplexes Individuelles wie beispielsweise die Persönlichkeit eines Menschen. Bildlich meint hier wie auch bei der Wahrnehmung und beim Schema nicht unbedingt visuell, sondern hebt das „stetige", das „Auf-einen-Blick" der Darstellung hervor, das auch mit sprachlichen Mitteln erreicht werden kann7 4 Gehören Wahrnehmung und Schema zum identischen Symbolisieren der Wissensbildung, so gehört das bildlichkünstlerische Denken, das ebenfalls in Bildern stattfinden kann, zum identischen Symbolisieren der Kunst oder Religion und hat somit nicht keine, aber eine ganz andere Funktion für das reine Denken als die Schemata der Wahrnehmung. Hat das Wissen die Ausdifferenzierung des Allgemeinen zum Gegenstand und die Verortung des Besonderen im Allgemeinen, so könnte man Kunst nach Schleiermacher als komplexe Gestaltung des Individuellen bezeichnen. Auch die Darstellung und Bildung komplexer Individualität ist Teil von Welt, und insofern muss das Wissen, will es einen vollständig entfalteten Begriff der Welt erfassen, in letzter Hinsicht auch das bildliche Denken der Kunst integrieren können: Die letzte Ergänzung der Unvollkommenheit des Wissens liegt also hier auf der Seite des Bildes, und der ganze Cyclus von individuellen Bildern soll die Unvollkommenheit des allgemeinen Wissens ergänzen. {Dial.KGA II 10/2, 634)

^

Vgl. Dial.KGA II 10/2, 634: „Überhaupt können wir jedes Individuelle nie rein in der Sprache ausdrücken, allenfalls durch eine Reihe Bilder. Eine Persönlichkeit kann nie durch eine Definition wiedergegeben werden, sondern wie im Roman oder Drama nur durch das Bild, das desto besser ist, je mehr alle Theile darin zusammenhängen."

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In welchem Verhältnis diese dem individuellen und dem identischen Symbolisieren zugehörigen Seiten des bildlichen Denkens miteinander stehen, lässt Schleiermacher sowohl in der Dialektik als auch in der Ästhetik unproblematisiert. 75

3.2.5. Das eigentliche Denken: Urteil und Begriff Das diskursive oder eigentliche Denken stellt sich für Schleiermacher in zweifacher Form dar: es ist entweder Urteil oder Begriff. Wie Wahrnehmung und eigentliches Denken, so unterscheiden sich Urteil und Begriff durch ein unterschiedlich gewichtetes Zusammenwirken der beiden Funktionen des Denkens. Im Urteil überwiegt die organische Funktion, im Begriff die intellektuelle. Orientiert man sich an der „Logik von Port-Royal", 76 die den Schulbetrieb in England, Frankreich und Deutschland bis ins 19. Jahrhundert bestimmte (SCHENK 76), dann weicht Schleiermachers Behandlung von Urteil und Begriff in der Dialektik in zweifacher Weise ab: Zum einen lässt die Dialektik nur Begriff und Urteil als Formen des Denkens gelten, der Schluss und mit ihm der Syllogismus sind ihm keine originären Formen des Denkens, sondern lediglich Kombinationen aus Urteil und Begriff: Der Gehalt des Syllogism besteht nur darin daß w e n n ein niedrigeres unter ein höheres subsumirt wird auch die Actionen ihrer Möglichkeit nach mit aufgenommen werden. Neues Erkennen kann unmöglich dadurch entstehen. Der Form nach ist er Uebergang aus einem Urtheil durch einen Begriff zu einem andern Urtheil deutet also die Verschlingung beider Reihen an die wir auch ohnedies schon kennen. (Dia/.KGA II 10/1, 4 2 ) 7 7

Unter der dünnen Ausführung des bildlichen Denkens, aus dem dennoch richtungsweisend die große Bedeutung des Bildlichen für das diskursive Denken entnommen werden kann, leiden auch Schleiermachers Erläuterungen zur realen Anschauung, die insgesamt sehr dunkel bleiben. Vgl. beispielsweise DialKGA II 10/2, 490: „Die 3te Form, die Anschauung, ist das absolute in ein ander seyn von Bild und Begriff. Raum und Zeit gehen rein auf die organische Thätigkeit und sie sind daher auch das reine Schema des Bildlichen, und die Zusammenfassung beider ist die Totalität des Bildlichen wie das Reale und Ideale die Totalität des Seyns, und beides ist identisch." Die „Logik von Port-Royal" ist das 1662 anonym erschienene, von Amauld und Nicole vetfaßte Lehrbuch der Logik La Logique ou lArt de Penser (dt.: Die Logik oder die Kunst des Denkern, Darmstadt 1992). 77

Vgl. auch DM/KGA II 10/1, 42: „Wenn der Syllogism eine eigene Form wäre: so müßte ihm auch ein eignes Sein entsprechen; ein solches läßt sich aber nicht nachweisen. Denn daß Sein und Thun nicht von einander zu trennen sind liegt schon abgebildet in der Art wie Begriff und Urtheil von einander abhängen." Vgl. dazu auch Dia/KGA II 10/2, 16: „Nun ist alles Denken entweder Begriff oder Urtheil. Der Schluß ist nur eine Combination der andren beiden, und keine primitive Form. Das Bilden eines Begriffs ist ein eigner Denkact; es wird dadurch ein Seyn, eine Einheit des Seyns flxirt, und dis ist an und für sich ein Denkact. Das Urtheil ist dagegen eine Combination, indem von einem Subject etwas ausgesagt wird. Beide Formen setzen sich aber gegenseitig vor-

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Wagner wendet sich gegen Schleiermachers Einordnung des Schlusses und weist mit Hegel darauf hin, dass gerade im Schluss das Vermittlungsvermögen zwischen Allgemeinem und Besonderem der Vernunft besteht. 78 Wie Hübner jedoch zu Recht bemerkt, 79 geht es Schleiermacher im transzendentalen Teil nicht um die methodische Entwicklung des Wissens (anders als im technischen, wo der Schluss durchaus seinen Platz hat), sondern um die elementare Form des Denkens. Der Form nach kann der Schluss als komplexes Urteil begriffen werden. Zum anderen gehen nicht nur Urteile auf Begriffe zurück, sondern auch die Begriffe sind, das versucht Schleiermacher zu zeigen, in ihrer Bildung auf Urteile angewiesen. Mit dieser Ansicht stellt sich Schleiermacher gegen die klassische Logik der Zeit, als dessen Vertreter er vor allem Baumgarten vor Augen hatte. In seiner Logik entwirft Baumgarten eine Art logische Stufenleiter, in der Urteile aus Begriffen, Schlüsse aus Urteilen gebildet werden. 80 Folgt man Schleiermacher jedoch in der Überlegung, dass auch die Begriffsbildung selbst in der Form des Urteilens geschieht, dann ist keine der beiden Formen des eigentlichen Denkens „höher" oder „entwickelter" im Erkenntniswert als die andere. Und in dieser wechselseitigen Abhängigkeit von Urteil und Begriff liegt ein starkes Argument für die Unhintergehbarkeit der Kontingenz oder Historizität unserer Erkenntnis. Dass Urteile auf Begriffe zurückgehen, lässt sich schnell einsehen, da im Urteil Begriffe miteinander verknüpft werden. Ergebnis eines Urteils ist jedoch wiederum ein (im Urteil näher bestimmter) Begriff. Das Isolieren eines einzelnen Dinges aus der chaotischen Mannigfaltigkeit geschieht bereits in der Form des Urteils. Denn ein Ding, das nicht auch ein so und so bestimmtes Ding wäre, ist kein Ding. Jeder Begriff, der nicht verschwinden soll, sondern einen Gehalt hat, hat ein Prädikat und dieses kann ihm nur im Urteil zugesprochen werden. Wie das Sezen eines Dinges auf dem Wahrnehmen einer Action beruht: so das Sezen einer Action auf dem Wahrnehmen eines Dinges so daß beides zugleich und durch-

einanderwird. (DiaJKGA II 10/1, 57) Ehe wir aus der chaotischen Totalität Einheiten gesondert haben nehmen wir Actionen wahr; also Urtheil vor Begriff aber Subject und Prädicat sind in jedem Urtheil als Begriffe; also Begriff vor Urtheil[.] (DiaJKGA II 10/1, 68)

78 79

80

aus. Denn ein Begriff enthält mehrere Urtheile, in welche man ihn auch zerfällt, wenn man ζ. B. einem andren einen Begriff klarmachen will." Vgl. W A G N E R 94. Vgl. H Ü B N E R 110. In der Dialektikvorlesung von 1811 verweist Schleiermacher auf die Logik Alexander Gottlieb Baumgartens (Acroasis Logica. hi ChristianumL·B. de Wolff, Halle 1761, ND: A. G. Baumgarten, Gesammelte Werke, Abt. III/ Bd. 5, Hildesheim / New York 1973) als „gemeine Logik" (Dia K G A II 10/1,50).

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Jeder Begriff subsumiert unter sich verschiedene niedrigere Begriffe und wird selbst mit anderen Begriffen unter einen höheren Begriff subsumiert. 81 Er ist, wie Schleiermacher formuliert, „ein Schweben zwischen dem Allgemeinen und Besondren, denn theils ist unter ihm als einer Einheit das empirische und einzelne subsumirt, ein Mannigfaltiges Besonderes umfasst" (Dia/KGA II 10/2, 16f.). Der höchste reale Begriff, der zugleich der Inbegriff alles Wissens ist, da er alles unter sich subsumiert, ist der Begriff der Welt. Solange der Prozess der Wissensbildung noch nicht abgeschlossen ist, kann jedoch kein Begriff als vollständig, muss jede Begriffssubsumtion als vorläufige betrachtet werden, und das Ideal einer in sich geschlossenen Begriffshierarchie charakterisiert gerade nicht das reale Wissen. Beim Versuch einer Subsumtion eines Begriffs unter einen anderen wird sich daher immer ein „Rest" bemerkbar machen, der nicht aufgeht im Allgemeineren: Die Besonderheit eines einzelnen Seienden geht nicht auf in der Allgemeinheit eines einzelnen Denkens, sondern nur in der Identität einer mannigfaltig Einen Subsumtion und einer mannigfaltig totalen Combination. (Dial.KGA II 10/1, 6, Nr. 22)

Wenn aber zur Bildung von Urteilen immer schon Begriffe und zur Bildung von Begriffen immer schon Urteile vorausgesetzt werden müssen und beide wechselseitig aufeinander verweisen, so lässt sich kein einfacher oder sicherer Anfangspunkt der Erkenntnis bestimmen, und jedes reale Denken verweist immer wieder schon auf ein bereits bestehendes Denken. Dieses Wechselverhältnis der realen Formen des Denkens markiert unsere erkenntnistheoretische Position als ein ewiges „Aus-der-Mitte-Anfangen", das wir, eben weil sich das Bedingte wechselseitig bedingt, nicht hinter uns lassen können. Als überhistorisch und selbst nicht wieder in Frage gestellt erscheinen in diesem Teil der Dialektik jedoch die Denkformen Urteil und Begriff selbst. Woher weiß ich aber, dass das Denken immer nur in Urteil und Begriff (Wahrnehmung, Schema und Anschauung) vorliegt? An dieser Stelle setzt vor allem Rotherts Kritik an Schleiermacher an, für den mit der Bestimmung quasi zeitloser Formen des Denkens das Unternehmen, die Geschichtlichkeit des Denkens ernst zu nehmen, auf halbem Wege gestoppt wird: Er [Schleiermacher, S. S.] ist davon überzeugt, und zwar ohne daß dieses Überzeugtsein Problem des Überzeugungsgefühls wird, die Struktur des streitenden Denkens unstreitig und außer allem Streit zu kennen und darum auch handhaben zu können. Denken ist ihm ohne jeden Streit und Zweifel begriffliches und urteilendes Denken. So viel Schleiermacher auch dafür getan hat und so sehr er auch energisch darauf gedrungen hat, daß das Denken sich seiner eigenen Geschichte erinnert und annimmt, er hat den damit gegebenen Stoß in die Endlichkeit aufgefangen, indem er die Methode des Denkens in seiner Struktur als Bewußtsein formalisierte und zeitlos verstand. [...] Möglich jedoch und durchführbar w a r ihm dieses, weil er inmitten des nichtwis-

81

Vgl. DimKGA II 10/1, 104, § 145: „Er [der Begriff, S. S.[ ist Aussonderung einer Einheit des Seins aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit welche aber selbst wieder Mannigfaltigkeit in sich trägt und als Theil mit anderen eine höhere Einheit bildet."

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senden Denkens schlechthin Entscheidendes wußte: er kennt, wie selbstverständlich, die formalen Strukturen von Sein (Seiendem) und Vernunft in ihrem Aufeinanderbezogensein. (ROTHERT 211 f.) In diesem zweiten Schritt der Analyse der Idee des Wissens („Was ist Denken?") geht Schleiermacher in der Tat nicht sehr analytisch vor. Sowohl die Formen des Denkens als auch die Denkfunktionen werden von Schleiermacher eher vorgestellt als hergeleitet. Eine Herleitung dieser Denkformen kann es jedoch, Schleiermachers Ausgangspunkt entsprechend, eigentlich auch gar nicht geben, sie können nur aufgefunden werden. Die Analyse der Idee des Wissens setzt beim aufgefundenen realen Denken an und muss deshalb - hier ist Rotherts Kritik voll und ganz berechtigt - ihres aufsuchenden und prinzipiell revidierbaren Status eingedenk bleiben. Dies betrifft sowohl die Bestimmung der Charaktere des Wissens, die auf einer Art sprachanalytischer Auseinandersetzung mit der Streitsituation beruhen und somit sprachabhängig bleiben, als auch die Bestimmung der Formen des Denkens. Ob man, wenn man diesen „Stoß in die Endlichkeit" nicht auffangt, sondern zulässt, zugleich am Grundgerüst der Schleiermacherschen Dialektik rütteln muss, wage ich jedoch zu bezweifeln. Dadurch, dass die Denkfunktionen von Schleiermacher in der Reihenfolge der Vorlesung vor den Denkformen eingeführt werden, entsteht auch hier der Eindruck, dass sie nur vorgesetzt und nicht in der Analyse des aufgefundenen Wissens nachgewiesen werden. Wie lassen sich die Denkfunktionen bestimmen, wo sie doch ausdrücklich von Schleiermacher als etwas bezeichnet werden, was außerhalb des realen Denkens liegt?

3.2.6. Die „transzendentale Deduktion" des obersten Gegensatzes als Denkgrenze - die „transzendentale Deduktion" der beiden Funktionen des Denkens Die Herleitung des obersten Gegensatzes und mit ihm die Herleitung der beiden Funktionen des Denkens geschieht ausgehend von den Denkformen Urteil und Begriff mit Hilfe eines Gedankenexperiments, das der Anlage nach an Kants metaphyische und transzendentale Erörterung von Raum und Zeit erinnert. In der metaphysischen Erörterung von Raum und Zeit der Kritik der reinen Vernunft unternimmt Kant den Versuch, alles Erfahrungsmäßige wegzudenken, um die reine Form dessen zu isolieren, die allem Erfahrungsmäßige zu Grunde liegt. Die transzendentale Erörterung soll die gegenstandskonstitutive Funktion der reinen Anschauungs formen - eben ihren transzendentalen Charakter nachweisen. Eine ähnliche Begründungs Strategie liegt bei Schleiermacher vor, wenn er von den Formen Urteil und Begriff ausgehend ein Gedankenexperiment vornimmt, das ihn zwar nicht zu reinen Formen des Erfahrbaren, aber zu den Grenzen des Denkbaren führen soll. In der „Grenzwertüberlegung" sollen die Grenzen des

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Denkbaren nicht nur als Grenzen markiert, sondern auch in ihrer konstitutiven Funktion für das Denken nachgewiesen werden. In diesem Sinne könnte man von einer „transzendentalen Deduktion" des obersten Gegensatzes und der Denkfunktionen sprechen. Da im Idealfall des Wissens jedem Begriff immer ein niederer und ein höherer Begriff zugeordnet werden kann, versucht Schleiermacher in einem Gedankenexperiment an den „Anfang" und das „Ende" der Begriffsbildung zu gelangen, indem er nach dem absolut kleinsten und absolut größten Begriff fragt. Die Bestimmung des größten und kleinsten Begriffs fuhrt jedoch über das reale Denken hinaus, indem es etwas bezeichnet, was selbst nicht mehr denkbar ist. Der absolut größte Begriff muss etwas sein, das nichts mehr ausschließt, absolut umfassend ist und der kleinste Begriff etwas, was in sich nicht mehr weiter differenziert werden kann. Diesen Bedingungen genügen nur die Vorstellung einer „absoluten Einheit des Seins" und die einer „unerschöpflichen Mannigfaltigkeit" (DialKGA II 10/1, 104f., §§ 147ff.) - beide Vorstellungen sind selbst nicht mehr Begriff, sondern markieren die Grenze des Vorstellbaren bzw. Denkbaren und stehen zueinander im absoluten Gegensatz. 82 Der Versuch, etwas außerhalb des Denkens Liegendes dennoch zu bezeichnen, muss eigentlich scheitern und um diese Spannung des Benennens eines Unbenennbaren zu unterstreichen, bezeichnet Schleiermacher die Rede vom absoluten Gegensatz auch als „Mythos": „Die bloße Materie ist die Endlichkeit des Seins als Negation des Denkens gedacht, also nur Abstraction oder Mythos." ( D i a K G A II 10/1, 6, Nr. 19). In den gleichen Grenzen wie der Begriff ist auch das Urteil verortet, dessen „kleinstes" und „größtes" Urteil mit dem „kleinsten" und „größten" Begriff zusammenfällt. Dort, wo ein Subjekt alle Prädikate umfasst, ist kein Urteil möglich und in der „absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins" bzw. der „unerschöpflichen Mannigfaltigkeit des Wahrnehmbaren", dort, wo aus einer Unendlichkeit von Prädikaten kein bestimmtes Subjekt als „für sich geseztes Sein" (Dia/KGA II 10/1, 107, § 157) herausgenommen werden kann, ist dies ebenso wenig möglich. Die Bezeichnung dieser Denkgrenzen variiert fast mit jeder Verwendung und in jeder Vorlesung, was die Lektüre nicht vereinfacht. So verwendet Schleiermacher neben den schon erwähnten auch die Bezeichnung „Gott" (Dia/KGA II 10/1, 201, Nr. 4), 83 „absolute Einheit" (Dia/KGA II 10/1, 202, Nr. 7), die „bloße Vorstellung des Seins", 84 „absolutes Subject" (Dia/KGA II 10/1, 108, § 163) für 82

Von „Gedankengrenze" (Dia/KGA II 10/1, 234) oder „Grenze des Denkens" (DialKGA II, 462) spricht Schleiermacher vor allem in der Vorlesung von 1822. 83 Vgl. Dia/KGA II 10/1, 95f., § 114: „Im Aufsteigen bleibend können wir in dieses Gebiet [das transzendentale, S. S.] nur die Begriffe G o t t und C h a o s sezen im ersten ist jede organische Thätigkeit negirt im lezten jede intellectueUe. Auf diese Weise gefaßt sind sie kein wirkliches Denken." 84 Vgl. DialKGA 11 10/2, 463: „Wir werden im Begriff des Dinges von der Möglichkeit, daß es uns organisch afficiren könne, abstrahiren; was bleibt dann übrig? ein wirkliches Denken kann es

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den einen und „Chaos", 85 „absolute Mannigfaltigkeit" (DialKGA II 10/1, 202, Nr. 7), „bloße Materie" (Dia/KGA II 10/1, 6, Nr. 19) „absolute Mannigfaltigkeit des Erscheinens" (DialKGA II 10/1, 108, § 165), „absolute Materie" (DialKGA II 10/1, 123, § 186) für den anderen Part des absoluten Gegensatzes. Im Folgenden werde ich den absoluten Gegensatz mit dem Begriffspaar „absolute Einheit" und „absolute Mannigfaltigkeit" bezeichnen. Dieser höchste Gegensatz wird von Schleiermacher mal als „transzendental" mal als „transzendent" bezeichnet. In der Vorlesung von 1814/15 spricht Schleiermacher beispielsweise von den Denkgrenzen als den „transzendentalen Wurzeln" des Denkens, 86 in der Vorlesung von 1814/15 werden die Grenzen von Urteil und Begriff von Schleiermacher auch als „transzendenter Begriff und „transzendentes Urteil" bezeichnet. 87 Das Sezen einer absoluten Einheit des Seins und das Sezen einer absoluten Mannigfaltigkeit des Erscheinens ist kein Denken da es weder Begriff noch Urtheil ist, aber beides sind die transcendentalen Wurzeln alles Denkens und also auch alles Wissens. (DialKGA II 10/1, 108, § 165)

Diese Doppelbenennung mal als transzendental mal als transzendent bei Schleiermacher hat ihren Grund weder in der Unkenntnis der von Kant aufgestellten Begriffsverwendung 88 noch in einem ungenauen Umgang mit ihr, sondern charakterisiert vielmehr das Spezifische des Schleiermacherschen Ansatzes. 89 Vernicht mehr sein, sondern nur die Grenze des Denkens. Das ist die bloße Vorstellung des Seins 85

Vgl. Dia/KGA II 10/1, 201, Nr. 4 sowie DiaKGA II 10/2, 658f. u. DiaKGA II 10/2, 462f.: „Denken wir uns die Impressionen ohne Bestimmbarkeit, was haben wir dann gedacht? Hier stehen wir an der Grenze des Denkens. Diese Vorstellung hat man von jeher das C h a o s genannt, das Mannichfache, in der absoluten Verworrenheit gesetzt. [...] Das Chaos also ist der absolute Anfang des Denkens von der organischen Seite aus, indem von der intellectuellen selbst noch als Tendenz abstrahirt." 86 Vgl. Dia/KGA I, 108, § 165. 87 Vgl. Dia/KGA II 10/1,108, § 166. oo Spreche ich von der Kantischen Unterscheidung der Begriffe, so beziehe ich mich auf prominente Stellen in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der XJrteihkraß (für „transzendental vgl. beispielsweise KANT KrV, (Einl. VII) Β 25 u. KANT Kritik der ürtei/skraft, 27 (Einl. V.); für „transzendent" KANT KrV, (trans. Dial. Einl. II) A 296/ Β 352). Auf eine Kurzformel gebracht kennzeichnet transzendental die a priorische Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, während transzendent das Überschreiten der Grenzen jeder möglichen Erfahrung charakterisiert, das, was selbst nicht mehr Gegenstand der Erfahrung, des Denkens werden kann. Die Kantische Verwendung dieser beiden Begriffe ist indes jedoch nicht so unproblematisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Begriff des Transzendentalen, obgleich er im Zentrum der Kantischen Terminologie steht, findet in den Schriften Kants selbst alles andere als eine eindeutige und klare Verwendung. Er ist ein zunächst aus der in sich selbst heterogenen Tradition übernommener, in und für die eigene Systematik neu definierter Begriff, wobei die Definition des Transzendentalen kein einmaliger Akt, sondern ein bis ins Opuspostumum sich fortsetzender Prozeß ist (vgl. HINSKB). ^ Hier schließe ich mich der Interpretation Arndts an (ARNDT 1988, Xf.), der anders als Sorrentino (SORRENTINO 1988) eine synonyme Verwendung der Begriffe transzendent und transzen03

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steht man unter transzendental die Kennzeichnung der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und unter transzendent dasjenige, was über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht und nie Gegenstand des Denkens (allenfalls des Hoffens) werden kann, so zeichnet sich der höchste Gegensatz eben durch seinen transzendent-transzendentalen Charakter aus. Er ist Bedingung der Möglichkeit des Denkens und kann vom Denken selbst „abstrakt" erfasst, bzw. als Denkgrenze vorgestellt werden. In einer idealtypischen Analyse der Idee des Wissens müsste erst an dieser Stelle, d. h. nach dem Aufweis der Denkgrenzen, von den Denkfunktionen die Rede sein, denn die beiden Denkfunktionen beziehen sich genau auf diese im Gedankenexperiment aufgewiesenen Grenzen des Denkens. Die organische Funktion als rein rezeptive Funktion bezieht sich auf den Grenzwert der absoluten Mannigfaltigkeit, die intellektuelle als rein ordnend oder rein spontane Funktion auf den der absoluten Einheit. Man könnte hier also nicht nur von einer transzendentalen Deduktion des absoluten Gegensatzes, sondern von einer transzendentalen Deduktion der Denkfunktionen sprechen.

3.2.7. Exkurs: Zur Bestimmung von Raum und Zeit und dem Gegensatz von Denken und Gedachtem Zuvor wurde betont, dass in Schleiermachers Analyse der Idee des Wissens eine formale Bestimmung der Vermögen Sinnlichkeit und Vernunft (reine Anschauungsformen und reine Begriffe) im Gegensatz zu Kants kritischem Unternehmen gerade nicht vorgenommen werden kann. Rezeptivität und Spontaneität können getrennt voneinander nur abstrakt als Mannigfaltigkeit gebend und Distinktion stiftend beschrieben werden. Formal bestimmt werden können hingegen die Formen des Denkens und der Wahrnehmung: Schema, Begriff/Urteil und Anschauung, in denen beide Denkfunktionen zwar unterschiedlich gewichtet sind, aber dennoch immer zusammenwirken. Allerdings setzt sich Schleiermacher auch mit Raum und Zeit auseinander die ausführlichsten Überlegungen finden sich in den Vorlesungsmitschriften von 1822. Raum und Zeit werden dort als zwei unterschiedliche Formen der Stetigkeit bezeichnet, als zwei Formen, das Kontinuum der absoluten Mannigfaltigkeit darzubieten. Alle Wahrnehmungen sind immer Wahrnehmungen in Zeit und in Raum und zwar so, dass es keine Wahrnehmung des Raumes ohne Zeitwahrnehmung und keine Wahrnehmung der Zeit ohne Raum gibt:

dental bei Schleiermacher feststellt. Eine synonyme Verwendung beider Begriffe lässt sich beispielsweise in der Vorlesung 1811 belegen, vgl. Dia!KGA II 10/1, 43. In der Vorlesung von 1822 wird „transzendental" als „Voraussetzung des Denkens" bezeichnet, die zugleich in keinem wirklichen Denken vorkommt (Dia/KGA II 10/2, 492).

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik. Dazu [für die Stetigkeit und die Möglichkeit eine Trennung zu machen, S. S.] sind uns 2 Formen gegeben - Raum und Zeit, und so denken wir uns die unbestimmte Mannichfaltigkeit als 2fach stetig als allgemeine Raum- und Zeiterfüllung. Wir können nicht anders eine Impression auffassen als an sich in der Zeit, aber so, daß wir sie beziehen auf den Raum. Das außer uns, abstrahirt von der Zeit, ist die allgemeine Raumerfüllung, und das außer uns, abstrahirt vom Raum, ist die allgemeine Zeiterfüllung; ein jeder Moment der Zeit führt mit seinem Inhalt auf eine allgemeine Raumerfüllung zurück. {DiafcGh II 10/2, 488)

Findet alles Wahrnehmen immer in Raum und Zeit statt, so stellt sich im eigentlichen Denken immer der Gegensatz von Denken und Gedachtem ein. Schleiermacher formuliert: von „Idealem" und „Realem". Kein Denken ist möglich, ohne in oder an diesem Denken zugleich zwischen einem Denken und einem Gedachten zu unterscheiden. Als Denkender begreife ich mich als seiendes Denken (Ideales) und denkendes Sein (Reales). 90 Unterscheidet Schleiermacher Denkfunktionen und Denkformen, so kommt mit der Gegenüberstellung Raum/Zeit und Denken/Gedachtes noch eine dritte Ebene hinzu, die man, um Begriffsüberschneidungen zu vermeiden, vielleicht am besten als „Denkstrukturen" bezeichnen könnte, die Wahrnehmen und Denken bestimmen: Die Mannichfaltigkeit der Impressionen die durch Zeit und Raum bestimmt wird, ist parallel dem Gegensatze des Idealen und Realen. (DialKGiV II 10/2, 488)

Es fragt sich zunächst nun aber, wie wir diese Denkstrukturen auffinden und als Denkstrukturen legitimieren und vor allem jedoch, was diese Denkstrukturen anderes sein können und sollen als reine Anschauungs- bzw. reine Verstandesformen. Eine „Herleitung" dieser Denkstrukturen findet in der Dopplung des höchsten Gegensatzes statt. Raum und Zeit sowie Reales und Ideales sollen als „höchster Gegensatz" auf organischer bzw. intellektueller Seite des Denkens verstanden werden. 91 Da alles Wissen immer Wahrnehmung und Denken sein muss, müssen sich die beiden höchsten Gegensätze ebenfalls entsprechen. Für diese Entsprechung stellt Schleiermacher folgende Formeln auf: Der erfüllte Raum ist das Bild des realen Seins, die erfüllte Zeit das Bild des idealen Seins. Der Begriff der erfüllten Zeit ist das ideale Sein, der Begriff des erfüllten Raumes ist das reale Sein. 9 2 In dieser „Herleitung" bleibt einiges sehr dunkel. Kann die Gegenüberstel90

91 92

Vgl. Dia!KGA 11 10/2, 488: „Wenn wir uns selbst als Identität des Denkens und Seins betrachten, so repräsentirt das Ideale das Sein und das Reale das Denken. Wie verhält sich dazu das denkende Sein oder seiende Denken? Das Reale ist im denkenden Sein das Sein, das Ideale im seienden Denken das Denken." Interessanterweise hat Odebrecht an dieser Stelle offenbar eine nicht unentscheidende Umstellung vorgenommen, denn im Text lautet es dort: „[...] so repräsentirt das Ideale das Denken und das Reale das Sein. Das Reale ist, was im denkenden Sein das Sein ist, und das Ideale, was im seienden Denken das Denken ist." Vgl. Dia/KGA II 10/1, 240f. Vgl. Dia/KGA II 10/2, 489.

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lung von Denken und Gedachtem als Gegensatz verstanden werden, so fällt es eher schwer, die Gegensätzlichkeit von Raum und Zeit nachzuvollziehen. Wohl könnte man (wie das auch Kant tut) die Zeit mehr als innerliche, den Raum mehr als äußerliche Form verstehen, 93 aber daraus wird noch kein Gegensatz. Obgleich auch für Schleiermacher jede Wahrnehmung immer in Raum und Zeit ist, wehrt er sich ganz entschieden dagegen, Raum und Zeit als reine Anschauungsformen zu verstehen, d. h. als subjektive Erkenntnisstrukturen a priori. Raum und Zeit sind nicht nur die Formen der Vorstellungen, sondern Formen „der Dinge selbst": Raum und Zeit sind die Art und Weise zu sein der Dinge selbst, nicht nur unserer Vorstellungen, welches aus unserer Hauptansicht des Wissens folgt, weil alles reale Wissen zugleich ein quantitatives ist. Beide Formen sind also in der Vorstellung sowol als in den Dingen und die Frage welches von beiden sie seien ist leer. [...] Alles was unter der Form des Gegensazes steht, steht auch unter beiden. [ . . . ] Der Raum ist das Außereinander des Seins, die Zeit das Außereinander des Thuns. ( D i a l K G A II 10/1, 49f.)

Bei Kant hebt das Denken mit der Erfahrung an. Erst indem wir etwas denken, lässt sich über das Denken überhaupt etwas sagen. Wir brauchen die Erfahrung, damit der Vernunftapparat „in Gang kommt" und wir ihn „in Aktion" beobachten können. Die Frage, was das „Erfahrungsmaterial" an sich, ohne oder neben der „Erfahrungsform" sei, lässt sich im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung für Kant nicht klären (KANT KrV, Einl. Β If.) Denn sofern wir den subjektiv-konstitutiven Anteil von der Erfahrung abzuziehen versuchen, bleibt eben nichts Erfahrbares. Auch für Schleiermacher wäre die Frage, was denn diese Erfahrungsmaterie „an sich" sei, sinnlos. Aber ebenso unfruchtbar ist die Frage, was denn die Vernunft „an sich", d. h. ohne das von ihr bearbeitete „Material" sei. Ein Isolieren der reinen Form, wie sie Kant in der metaphysischen Erörterung des Raumes und der Zeit vornimmt, 94 wäre nach Schleiermacher kein sinnvolles, weil undurchführbares Unternehmen. Denn die Vernunft lässt sich von dem, was sie vernünftig strukturiert, ebenso wenig „abziehen" wie von dem bearbeiteten Material die Vernunft. Genau so wenig, wie man die Erscheinung „an sich" in den Blick bekommt, kann man die Vernunft a priori bestimmen. In diesem Sinne wehrt sich Schleiermacher schon ganz früh gegen eine Unterscheidung von a priori und a posteriori. 95 Liest man Schleiermachers Oialektik als Kritik der Vernunft, was ich durchaus vertrete, so ist sie eine Kritik in der Perspektive des werdenden Wissens. Aus93 94

^

Die Zeit entspricht auch bei Schlciermacher eher dem Denken, der Raum dabei eher dem Gedachten, vgl. Dial.KGA II 10/1, 240f. Vgl. KANT KrV, A 23/ Β 37f. bzw. Β 46/ A 31. Vgl. DialKGA II 10/1, 12, Nr. 47: „Vernichtung des Gegensazes zwischen Erkentniß a priori und a posteriori. Nur wo beides zusammen ist, da ist Wissen."

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens:

Oiakktik

gangspunkt ist immer wieder das werdende Denken, in dem Form und Inhalt jeweils immer nur als „Asymptoten" oder Grenzpunkte abstrakt bestimmt werden können.

3.2.8. Der Grund der Differenz und der Grund der Gemeinschaftlichkeit des Wissens Dem dritten Schritt der Analyse der Idee des Wissens hatte ich die Leitfrage Worin und warum unterscheidet sich Denken von Wissen? vorangestellt, deren Beantwortung unmittelbar weiterführt zur Frage Wie ist Wissen möglich? Denken, das war der Ausgangspunkt der Dialektik, ist das sich in Streit befindende, von einander differierende Denken, aus dem lediglich der Anspruch, ein Wissen zu sein, gewonnen werden kann. Die zwei Charaktere des Wissens, die allen gemeinsame oder allgemeine Produktion des Wissens und die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein, treffen wir im wirklichen Denken, das in der Form von Wahrnehmung und eigentlichem Denken, bzw. von Begriff und Urteil vorliegt, nicht an. Warum ist alles reale Denken ein differentes oder je individuelles Denken, wenn ihm doch ein ursprüngliches Wissen in der Form des Wissenwollens innewohnt, und wie kann man davon ausgehen, dass sich das differente Denken überhaupt an ein allen gemeinsames Denken annähern kann? In der kurz vor dem Tod 1833 geschriebenen, für den Druck geplanten Einleitung in die Dialektik begründet Schleiermacher die Individualität des Denkens aus seiner Sprachgebundenheit. Denn jeder in Sprache geäußerte Gedanke ist an die Sprache eines spezifischen Sprachkreises gebunden und nur in diesem verständlich. Die verschiedenen Sprachen sind jedoch nur bedingt ineinander übersetzbar, und es gibt in jeder Sprache „solche Elemente", „welche irrational sind gegen andere Sprachen, so daß sie auch nicht durch eine Verknüpfung mehrerer Elemente dieser Sprachen genau wiedergegeben werden können" (DialKGA II 10/1, 403). Sprachkreis ist für Schleiermacher jedoch in seinem kleinsten wie größten Umfang gemeint, sodass nicht nur Sprachgruppen oder Nationalsprachen, sondern in letzter Hinsicht die je eigen gefärbte Sprache eines einzelnen Menschen als ein Sprachkreis verstanden kann und muss. 96 Schleiermachers Reflexion auf die Sprachgebundenheit des Denkens, das sich der Eigenschaft und Funktionsweise der Sprache nicht entziehen kann, bezeichnet Frank als „linguistic turn avant la lettre" (FRANK 2001, 22) und vergleicht sie mit der Sprachtheorie de Saussures und seiner Rede von der Differentialität der Zeichen. 97 Sicherlich findet sich in Schleiermachers sprachtheoretischen Überlegung auch eine Begründung für die Individualität und Geschichtlichkeit des Den-

96 97

Vgl. Dw/KGA Π 10/1,404, §2.2. Vgl. FRANK 2001, 29.

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kens. Anders als Frank 9 8 sehe ich die Begründung der Dialektik für die Differenz im Denken jedoch nicht in einer sprachphilosophischen Überlegung allein, auch wenn diese die geplante Druckfassung der Dialektik 1833 einleiten sollte. Die spezifische Begründung der Dialektik geht einen anderen Weg und versucht eine transzendentale Begründung der Differenz und geht insofern über die sprachphilosophische Reflexion hinaus. Denken ist nicht nur different, weil es in Sprache seinen Ausdruck findet, jedes Sprechen das Sprachsystem selbst modifiziert und Sinn einen permanenten Aufschub erfährt, sondern weil es als Zusammenwirken zweier Denkfunktionen vorgestellt wird, die eigentlich inkompatibel sind. Diese Argumentation, die auf das Verhältnis der beiden Denkfunktionen abhebt, wird vor allem in den frühen Dialektikvorlesungen (1811 und 1814/15) vorgetragen. In der späteren Vorlesung von 1822 flacht diese Argumentation wieder ab und fällt hinter die grundlegenden Überlegungen der frühen Vorlesungen zurück: In der Dialektikvorlesung von 1822 erklärt Schleiermacher die Differenz im Denken etwas banal mit dem Hinweis auf die „ursprüngliche Differenz der organischen E i n d r ü c k e " {DiaKGA

II 10/2, 630).

Jeder Mensch hat eine ihm eigene Position in Ort und Zeit, und insofern bietet sich der organischen Funktion als dem reinen „Geöffnetsein" ein je anderer Ausschnitt der unbestimmten Mannigfaltigkeit. D. h. jemand, der in der Wüste Gobi lebt, wird zum gleichen Zeitpunkt andere Wahrnehmungen haben als jemand, der sich gerade in einem Zug von Hamburg nach Berlin befindet; und jemand, der im 18. Jahrhundert an derselben Stelle stand, wie ein Passant heute auf dem Alexanderplatz, wird zwangsläufig auch etwas anderes wahrgenommen haben, als einen großen Turm mit einer kugelförmigen Verdickung am oberen Ende. J e mehr sich Ort- und Zeitkoordinaten der verschiedenen Menschen annähern - und mit ihnen auch ihr Schicksal, desto mehr Chancen haben sie, im Denken eine Übereinstimmung zu finden." Unsere raum-zeitliche Vereinzelung, die Schleiermacher in der Vorlesung von 1822 in den Vordergrund stellt, ist jedoch nur ein Grund dafür, dass wir nicht dieselbe Wahrnehmung haben, und sie darf nicht zu der verkürzten Formel führen, der Grund der Differenz im Denken liege in der organischen Funktion, wie dies Rieger und Pohl tun. 1 0 0 Selbst wenn wir den exakt gleichen Ort und die exakt gleiche Zeit für zwei Wahrnehmungen fingieren würden - dies kann natürlich nur ein Gedankenexperiment sein - so würden wir nach Schleiermacher doch

98

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Vgl. FRANK 2001, 34ff. Vgl. DiaKGA II 10/2, 479: „Je mehr gleiche Schicksale und Anlagen 2 Menschen haben, desto mehr denken sie übereinstimmend, und sehen die Entwicklung des Gedankens des andren voraus. - Wo ist das andre Extrem? Je mehr das Individuelle zunimmt, desto weniger kann der eine den andern verstehen." Vgl. RIEGER 274. u. 283f sowie POHL 1954/55, 327: „Der Grund der Differenz liegt letzthin in der Auswahl und Aspektierung der organischen Eindrücke, der verschiedene Sichten von Welt."

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens:

Dialektik

zwei unterschiedliche Wahrnehmungen erhalten, denn der Grund der Differenz liegt im Verhältnis der beiden Denkfunktionen, die sich zueinander wie „Asymptoten" 1 0 1 verhalten, zwischen denen „es kein nothwendiges Band" {DiätKGA II 10/1, 53) und für deren Zusammenwirken es keinerlei feste Norm gibt. In das Kontinuum der unendlichen Mannigfaltigkeit (selbst der raumzeitliche „Ausschnitt" des einzelnen Menschen muss immer noch als eine in sich ununterschiedene unendliche Mannigfaltigkeit vorgestellt werden), die sich mittels der organische Funktion darbietet, muss die intellektuelle Funktion ordnend eingreifen. Die Problematik dieser Aufgabe kann man sich vielleicht im Bild eines Rechens vergegenwärtigen, der in eine Menge Sand hineingreift und nur einzelne Sandkörner mitnehmen kann. Aber auch dieses Bild ist bereits schief, denn es legt nahe, dass es einzelne Elemente gäbe, die von einem uns zur Verfügung stehenden Instrument erfasst werden könnten. Beim Zusammenwirken beider Funktionen unter der Form des Bildes oder des Begriffs und Urteils muss zwangsläufig eine Selektion stattfinden, die, da es für das Wie der Selektion keine weiteren Formen gibt, bei jedem Akt eine je andere sein wird. Die Wahrnehmung eines Smaragdes, so versucht Schleiermacher in der Vorlesung 1814/15 diese je individuelle Schematisierung zu illustrieren, würde mir trotz identischer RaumZeitkoordinaten „einmal ein Schema eines bestimmten Grün, dann einer bestimmten Krystallisation endlich eines bestimmten Gesteins" ( D i a l K G A II 10/1, 114, § 175.2) sein. Die Differenz im Denken entsteht so durch einen je eigenen und immer von einem anderen verschiedenen Selektionsakt, indem die intellektuelle Funktion auf eine bestimmte Weise aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit etwas Bestimmtes selektiert und zur Wahrnehmung formt: 1 0 2 Jede Function ist immerwährend in einer allseitigen Thätigkeit, der einzelne Act hebt nur heraus und entsteht aus dieser beiderseitigen Heraushebung. Wir haben immer weit mehr im Sinn als wir wahrnehmen und auch immer mehr in der Vernunft, als wir Begriffe bilden. (DialKGA II 10/1, 53) 103 101

102

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DialKGAU

10/1,54.

Eine ganz ähnliche Reflexion findet sich in der Kritikvorlesung im Kontext der historischen Kritik. Dort beschreibt Schleiermacher, inwiefern sich eine Erzählung von der Wirklichkeit nie mit der Wirklichkeit decken können wird (vgl. KGA I I I , Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik, 651 f.): Eine geschichtliche Tatsache, verstanden als das, was „wirklich passiert", stellt ein Kontinuum dar. J e d e Beschreibung dieses Kontinuums muss zwangsläufig sukzessive vorgehen und eine Selektion einzelner Sequenzen vornehmen. Auf diese Weise findet sich in der Erzählung einer Tatsache immer auch ein großer Anteil an Subjektivität, und vor diesem Problem grundsätzlicher „Irrationalität" steht die historische Kritik, die aus den historischen Dokumenten die Historie ermitteln soll. Schleiermacher reflektiert in den Kritikvorlesungen allerdings nicht darauf, dass wir die Tatsache nie als solche ermitteln können, da jede Kritik der Erzählung wiederum Erzählung ist und es keinen außersprachlichen Maßstab geben kann. Das Kontinuum des „Passierten", der Historie oder die „Irrationalität" zwischen Tatsache und Erzählung verweist vielmehr auf das ungenormte Zusammenwirken beider Denkfunktionen. Das Kontinuum muss als unendliche Mannigfaltigkeit verstanden werden, aus der die intellektuelle Funktion willkürlich selektiert. Vgl. auch DialKGA II 10/1, 58f.

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Der Grund der Differenz liegt also nicht nur in der organischen Funktion, 1 0 4 sondern ebenso in der intellektuellen Funktion, weil im Verhältnis beider begründet. 1 0 5 Als erste Voraussetzung dafür, dass wir uns trotz der unvermeidbaren Differenz und einem gemeinschaftlichen Denken annähern können, bestimmt Schleiermacher die Allgemeinheit oder Einheidichkeit der beiden Funktionen bei allen Menschen: Die Möglichkeit der Lösung unsrer Aufgabe liegt also in der Identität der Beziehung der einen auf die andre [Seite, S. S.] in allen, d. h. 1) es m u ß in allen, für welche eine Auflösung streitiger Vorstellungen möglich sein soll, angelegt sein in ihrer geistigen Thätigkeit dieselbe Entwicklung von Gegensätzen; und 2) in ihnen vorkommen können dieselbe Mannichfaltigkeit von organischen Impressionen. (Dia/KGA II 10/2, 465f.)106

Im Sinne der gleichen Anlage der intellektuellen Funktion, die die Bedingung der Möglichkeit aller Denkakte und daher auch aller Begriffe darstellt, spricht Schleiermacher auch von dem „zeitlosen Vorhandensein aller Begriffe in der Vernunft" oder von „angeborenen Begriffen". Dies bedeutet nicht, dass die Vernunft die Identität einer jeden konkreten Begriffsproduktion garantiert, sondern dass das Vermögen der Begriffsproduktion in allen Denkenden als identisch angesehen werden kann; nicht die realen Begriffe sind identisch, sondern lediglich die vor jeder Begriffsbildung bei allen als gleich vorauszusetzende Fähigkeit Begriffe zu bilden, also eine Tätigkeit. Die Begriffe als zeitliche Acte sind freilich nicht in der Vernunft auf zeidose Weise gesetzt, sondern die in allen identische Vernunft als Princip betrachtet, ist in allen

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In der Vorlesung von 1822 finden sich, wie gesagt, auch Stellen, die die Differenz im Denken allein det organischen Funktion zuweisen, vgl. beispielsweise DialKGA II 10/2, 630: „So bleibt nichts andres übrig, als daß diese Relativität des Wissens gegründet ist in einer ursprünglichen Differenz der organischen Eindrücke. So ist die Verschiedenheit der Sprachen begründet." Vgl. auch DialKGA II 10/2, 630: „Daraus ist die Abweichung in dem Schematisirungsprozeß der verschiedenen Völker, woraus die Verschiedenheit der Sprachen entsteht, begründet." Vgl. ebenso DialKGA II 10/2, 632: „Die Differenz [im Denken, S. S.] muß gegründet sein in der organischen Function als Receptivität von außen; und hierin liegt, daß die Differenz überall sein muß, wo etwas von bestimmten organischen Eindrücken abhängt." Diese Interpretation vertritt auch BOWIE 2003. Vgl. dazu DialKGA II 10/1, 58f.: „Man kann nicht etwa sagen das Eigenthümliche sei nur die Combination und die Begriffe allen gleich gegeben. Denn mit diesen wären auch jene bestimmt und es bliebe nur eine äußere Differenz daß der Eine diese macht und der andere jene. - Je nachdem man sich stellt kann man sagen das Eigenthümliche und relative sei nur in der organischen Function gegründet oder in det Vernunft: weil nemlich die Vernunft nur durch jene im Endlichen real wird und jene nur durch diese ein wirkliches Denken produciren kann." Vgl. auch DialKGA II 10/1, 56f.: „Der Irrthum liegt im Zusammensein beider Penkfunktionen, S. S.j, und jeder empirische Punkt ist ein solches. In jedem daher und auch schon in dem vorläufigen Sezen des Gegenstandes ist Irrthum möglich. iMan macht die Einheit zu klein oder zu groß. Also nur provisorisch zu sezen." Vgl. auch DialKGA II 10/1, 114, § 176: „Es kann also eine Allen gemeinsame Begriffsproduction nur geben inwiefern diese in der Einerleiheit der Vernunft gegründet ist."

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik,

prädeterminirt zu der Production derselben Begriffe. [ . . . ] I n d e r V e r n u n f t i s t a l s o d i e z e i t l i c h e B e g r i f f s B i l d u n g a u f z e i t l o s e W e i s e g e s e t z t . (DialKGK

II 1 0 / 2 , 5 2 4 )

Dieses System [der Begriffe, S. S.] ist angeboren d. h. es wohnt uns ein als eine Thätigkeit um vermittelst der Einigung mit der realen Seite zum Bewußtsein zu kommen. {Dial·KG A II 10/1, 5 6 ) 1 0 7

Die Formulierung des „Angeborenseins" bei Schleiermacher wird von einigen Autoren anders interpretiert. Frank geht davon aus, dass die Rede von den angeborenen Begriffen bei Schleiermacher tatsächlich auf konkrete Begriffe zielt und die Übereinstimmung von Denken und Sein eine „harte Korrespondenz" (FRANK 2001, 41) meint. Mit diesem Gedanken der angeborenen Begriffe, die die „unentbehrlichen Garanten der intersubjektiven Gleichheit" des Schematisierungsprozesses sind (FRANK 2001, 45) und einen gleichen Gegenstandsbezug garantieren, kann es eine „Gleichheit unserer Gedankenkonstruktion" geben, die „über einen bloßen hermeneutischen Konsens" hinausgeht (FRANK 2001, 41). Interpretiert man die angeborenen Begriffe derart, dann ergeben sich, wie Frank selbst auch feststellt, Widersprüche zu anderen grundlegenden Thesen der Dialektik Schleiermachers. Beispielsweise lässt sich nicht mehr erklären, wie bereits im Schematisierungsprozess Irrtum auftreten kann und warum, wenn es doch angeborene Begriffe gibt, Begriffe erst wechselseitig aus Wahrnehmungen und Urteilen entstehen. Geht man von konkreten angeborenen Begriffen aus, dann verschwindet sozusagen das Herzstück der Schleiermacherschen Argumentation, die mit dem Aufweis der ungenormten wechselseitigen Bildung von Urteil und Begriff, Wahrnehmung und diskursivem Denken die Geschichtlichkeit des Denkens, unser permanentes „Aus-der-Mitte-Anfangen" begründet. 108 Da Begriffe und Urteile sich wechselseitig bedingen und keines dem anderen vorausgeht, muss auch die organische Funktion bei allen als gleich vorausgesetzt werden, auch wenn es hier keine ähnlich populäre Formulierung wie die Rede von den angeborenen Begriffen gibt: Die Rezeptivität für Welt, das „Nach-außenGeöffnet-Sein des Lebens" ist bei allen Menschen die gleiche, „alle sind in dieselbe Welt gestellt":

Vgl. auch DimKGA II 10/2, 466: „Das lste ist das Wahre in dem Ausdrucke der angebornen Begriffe. Diese sind in allen Menschen dieselben. Das Angeborensein geht dem Denken voraus, und es kann nichts andres damit gemeint sein, als daß dieselbe Richtung auf daselbe System von Begriffen in allen angelegt ist, denn sonst würde aus allen organischen Impressionen kein Denken." Vgl. auch Dia/KGA II 10/1, 115, § 176.4; Dia/KGA II 10/1, 36f.; Dial.KGA II 10/1, 56f. u. DialKGA 11 10/1, 59f.

108 Seiner Interpretation entsprechend konstatiert Frank in Schleiermachers Dialektik auch ein „Begründungsdefizit", für den Umstand, dass wir diese „Mitte" des Denkens bzw. den Streit nicht verlassen können (vgl. F R A N K 2001, 118).

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Das andre ist dasselbe, wie wenn man sagt: in allen Menschen ist dieselbe Organisation, und alle werden in dieselbe Welt gesetzt. Organisation ist das nach aussen Geöffnetsein des Lebens [...]. (OialKGK II 10/2, 466) So wie von einem angeborenen System der Begriffe müsste man eigentlich auch von einem angeborenen System der Urteile sprechen dürfen. 1 0 9 Ein Hinweis darauf findet sich in den Notizen zur Vorlesung von 1814: Es muß später nachgewiesen werden daß auch schon mit einem System von Begriffen ein System von Relationen also von Urtheilen gegeben sei. (Ditt/KGA II 10/1, 202, Nr. 8) Spätestens dann, wenn man nicht nur von angeborenen Begriffen, sondern auch von angeborenen Urteilen sprechen kann, wird deutlich, dass es sich hier weder um konkrete Begriffe noch um konkrete Urteile handeln kann. Zu fragen ist nun, ob eine angenommene Gleichheit der Vermögen ausreicht, für deren Zusammenwirken es keine (angeborene) Norm gibt, um, wie Frank formuliert, „den Kollaps der Kommunikation theoretisch zu verhindern" (FRANK 2001, 83). Während der allererste Akt des Zusammenwirkens der beiden Funktionen - den wir uns nur vorstellen können - als etwas vollkommen Willkürliches erscheinen muss, wird das folgende Zusammenwirken durch das bereits entstandene Denken bzw. durch die das bestimmte Denken ausdrückende und „konservierende" Sprache gelenkt. In diesem Sinne ist keine Wahrnehmung „objektiv", denn sie wird durch die im Denken des Wahrnehmenden bereits gebildeten Begriffe und Urteile gelenkt oder durch die ihm für seine Beschreibung zur Verfügung stehende Sprache. Gleichzeitig verändert jede Wahrnehmung diese Begriffe und Urteile, jede Beschreibung die Sprache. Jedes Denken ist so ein zugleich allgemeines und doch individuelles Denken. 1 1 0 Das differente oder individuelle Denken repräsentiert eine von unendlich vielen Varianten der Organisation des Mannigfaltigen und darf deshalb nicht beseitigt, sondern muss im Allgemeinen aufgehoben werden. Der Weg zum absoluten Wissen geht daher nicht über eine Angleichung des Ungleichen, sondern über den wechselseitigen Bezug und die Modifikation der voneinander abweichenden Begriffe, Urteile und Wahrnehmungen. Eine „Garantie für das Zusammengehören" 1 1 1 beider Funktionen, die wir beim „ersten" Zusammentreffen nicht haben, 109

Hübner will dieses „Angeborensein" (HÜBNER 113f.) lediglich für die intellektuelle Funktion veranschlagen. Vgl. DialKGh II 10/2, 478: „Der Gedanke, so wie er bei einem Andren gefunden wird, ist immer derselbe, doch immer etwas Anderes, wie bei dem Anderen, in seiner ganzen Reihe des Lebens. Also sowohl das Individuelle ist durchdrungen von dem Allgemeingiltigen, als auch das Allgemeingiltige von dem Individuellen, und alles Wissen ist daher durchdrungen von der Differenz der Subjecte."

111

Vgl. D M C G A II 10/1, 53: „Im Augenblik der Vereinigung [der beiden Funktionen, S. S.] ist keine Garantie für das Zusammengehören Beider. Diese bildet sich erst aus dem ganzen System des Wissens [...]."

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Die Wechselwirkung der Formen des Denkens: Dialektik

gewinnen wir in dem Maße, in dem sich das System des Wissens entfaltet. Ein vollkommen willkürliches Zusammenwirken kann es natürlich gar nicht geben, da dem Denken immer ein Denken vorausgeht. Bestimmt wird das Zusammenwirken beider Funktionen durch das bereits bestehende Denken, eine definitive „Norm" des Zusammenwirkens liegt uns nicht vor, sie entsteht mit dem Zusammenhang des Wissens selbst. Den Gesamtzusammenhang des Wissens bezeichnet Schleiermacher als vollständig entfalteten Begriff der Welt. Diese Annäherung an das absolute Wissen oder an den Begriff der Welt ist jedoch immer unendlich und muss unendlich sein, da es im Raum und vor allem auch in der Zeit unendlich viele Möglichkeiten der Organisation der absoluten Mannigfaltigkeit gibt: Sehen wir auf die größte, weiteste Ferne der A u f g a b e , den Z u s a m m e n h a n g alles W i s sens, so haben wir schon g e f u n d e n , d a ß der nicht gegeben seyn kann ohne das gefundene Verhältniß der Individualität zur Identität. Aber hierin sehen wir schon, daß diese A u f g a b e eine unendliche ist und nur allmählich gelöst w e r d e n kann; denn die D u r c h s u c h u n g der g a n z e n Natur der Menschheit im Allgemeinen und der Natur der Einzelnen setzt eine unendliche A n s c h a u u n g d e s M e n s c h e n voraus; aber dadurch wird die A u f g a b e nicht aufgehoben, d e n n wir m ü s s e n die Idee des W i s s e n s festhalten, und also i m m e r glauben, daß hinter der Individualität die identität steckt [ . . . ] . (Diur Literatur und Poesie, die immer wieder auf die Philosophie der Philologie zurückgreift, setzt Schleiermacher die Kritik in die hermeneutische Formel vom Besserverstehen ein: „k [Kritik] ist eigentlich] nichts als

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Kritik als Kunst der Orientierung: Kritik und Hermeneutik

Die enge Wechselbeziehung von Interpretation und Kritik stiftet Schlegel auch durch den Begriff des „Charakterisierens", den er in Lessings Gedanken und Meinungen ausführt. Schlegel bestimmt dort die Kritik als Mittelglied zwischen Geschichte und Philosophie, denn jede philosophische Prüfung der Geschichte sei ebenso Kritik wie die historische Betrachtung der Philosophie. Historische Betrachtung der Philosophie meint dabei nicht nur den Vergleich einzelner philosophischer Werke, sondern auch die Auseinandersetzung mit der Genese eines einzelnen Denkers oder Denkens. Eine solche historische Betrachtung eines Denkens, eines Denkers oder einer Philosophie ist jedoch nichts anderes als ein „gründliches Verstehen" welches, wenn es explizit formuliert wird, Charakterisieren heißt: Und doch kann m a n nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches, w e n n es in bestimmten Worten ausgedrückt wird, Charakterisieren heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik. ( S C H L E G E L KA III, Lessings Gedanken und Meinungen, 60)

4.7. Kritik und Hermeneutik. 4.7.1. Metakritik der reinen Vernunft als Sprachkritik: Herder und Hamann In Anschluss an Kants kritische Philosophie, die die Metaphysik auf den „sicheren Weg der Wissenschaft" bringen sollte (KANT KrV, Β XV), wird vor allem der Maßstab der Kritik selbst zum Problem, denn sie scheint selbst nicht frei von metaphysischen Voraussetzungen. 158 Als einer der ersten, der auf die „Schwierigkeit des Richteramtes" in der Kantischen Kritik der reinen Vernunft, in der die Vernunft „Parthei und Richter", „Gesetz und Zeuge" 1 5 9 in einem ist, aufmerksam gemacht hat, muss Herder genannt werden und mit Herder natürlich auch Ha-

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Vergleichung des Geistes und d.jes] Buchstabens eines Werkes, welches als 1 /0 [Unendliches] als Absolutum und Individuum behandelt wird. — Kritisieren heißt einen Autor besser verstehen als er s.fichl selbst verstanden hat.-" (SCHLEGF.L, ΚΑ XVI, Fragmente %ur Literatur und Poesie, 168, Nr. 992) Für Krüger gehen die Lösungsversuche nachfolgender Philosophengenerationen allerdings bis zu Heideggers Schrift Kant und das Problem der Metaphysik (1929) an Kant vorbei, denn sie übersehen, dass Kant die praktische Vernunft als Maßstab der Vernunftkritik überhaupt einsetzt. Die reflektierende Urteilskraft vollzieht in der Kritik der reinen Vernunft die Kritik und wird in der Kritik Her Urteilskraft selbst noch einmal einer Kritik unterzogen. Die Kritik der Urteilskraft müsse so bereits als eine Kritik der Kritik aufgefasst werden (vgl. KRÜGER 157ff. u. 186). Vgl. HERDER, Metakritik 1881, 18: „Wenn aber Vernunft kritisirt werden soll; von wem kann sie es werden? Nicht anders als von ihr selbst; mithin ist sie Parthei und Richter. Und wonach kann sie gerichtet werden? Nicht anders als nach sich selbst; mithin ist sie auch Gesetz und Zeuge. Sofort erblickt man die Schwierigkeit dieses Richteramtes."

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Kritik und Hermeneutik

m a n n , mit d e m H e r d e r in e n g e m A u s t a u s c h s t a n d . S e i n e

Kritik an der

Kritik

b e z e i c h n e t e H a m a n n als „ M e t a k r i t i k " u n d g i b t so z u e r k e n n e n , d a s kritische A n l i e gen der Kritik der reinen Vernunft systematisch überbieten zu wollen.1 ^ A u s H a m a n n s f r a g m e n t a r i s c h - k r y p t i s c h e r Metakritik nunfl

über

den

Purismus

der

Ver-

v o n 1 7 8 4 , 1 ® ü b e r n i m m t Herder die kritischen A n s a t z p u n k t e u n d baut diese

m i t d e r Metakritik

der

k o m m e n t a r z u r Kritik

reinen

Vernunft

der reinen

d e r d e r V e r s u c h , e i n reines

Vernunft

1799 zu einem systematisch-kritischen

Text-

a u s . W i e f ü r H a m a n n , s o ist a u c h f ü r H e r -

V e r m ö g e n zu kritisieren, v o n v o r n e herein ein verfehlter

A n s a t z . D e n n ein V e r m ö g e n an sich lässt sich gar nicht z u m G e g e n s t a n d

einer

Kritik m a c h e n , lediglich das, w a s wir v o n i h m durch seine Ä u ß e r u n g e n und Tätigkeiten vorliegen h a b e n . 1 ® E i n V e r m ö g e n d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r kritisirt m a n n i c h t ; s o n d e r n m a n u n t e r s u c h t , b e s t i m m t , b e g r ä n z e t es, z e i g t s e i n e n G e b r a u c h u n d M i s b r a u c h . K ü n s t e , W i s s e n s c h a f ten, als W e r k e d e s M e n s c h e n b e t r a c h t e t , kritisirt m a n , e n t w e d e r in i h n e n s e l b s t o d e r in i h r e n H e r v o r b r i n g u n g e n ; n i c h t a b e r N a t u r v e r m ö g e n . ( H E R D E R , Metakritik 1881, 17)164 Ein reines V e r m ö g e n zu kritisieren w ü r d e voraussetzen, dass sich die V e r n u n f t v o n allem E m p i r i s c h e n , v o n jeder E r f a h r u n g frei m a c h e n könnte: S i c h v o n sich selbst u n a b h ä n g i g z u m a c h e n , [ . . . ] d. i. a u s aller u r s p r ü n g l i c h e n , i n n e r n u n d ä u ß e r n E r f a h r u n g sich h i n a u s z u s e t z e n , v o n a l l e m E m p i r i s c h e n f r e i ü b e r sich selbst sich h i n a u s zu d e n k e n , v e r m a g n i e m a n d . ( H E R D E R , Metakritik

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^

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1881, 2 4 ) 1 6 5

Nach Röttgers (RÖTTGERS 1975, 40) habe Herder als erster das Problem gesehen, das der Selbstbezug der Vernunft darstellt. Hamanns Vorhaben einer „Metakritik" existierte bereits 1782, das dokumentiert ein Brief Hamanns an Herder vom 7.7.1782 ( H A M A N N Briefwechsel, Bd. 4 (1778-1782), hrsg. von A. Henkel 1959, 400, Brief 654). Für Oswald Bayer kann Hamanns philosophische Methode allgemein als „metakritisch" bezeichnet werden, insofern es immer nur im genauen Bezug auf Vorher-Gesagtes bzw. VoherGedachtes urteilt und sich nicht der Illusion eines reinen, traditionslosen Selbstbezuges hingibt (BAYER 60f.). Hamann spricht zuvor, was sein Vorgehen angeht immer von „Nachlese", „Nachspott" oder „Nachspiel" (BAYER 61). Zu Hamanns Kritikbegriff vgl. R Ö T T G E R S 1975,105f. Ebenso ist für Maimon die Frage zentral, ob der kritische Gebrauch der Vernunft selbst wieder der Kritik bedarf, denn die Vernunft erkennt sich selbst immer nur durch ihre Wirkung, sie wird sich Objekt im Produkt ihrer Tätigkeit (vgl. RÖTTGERS 1975, 74f.). Vgl. S. M A I M O N , Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist oder das höhere Erkenntnis- und Willensvermögen, Leipzig 1797, 15 + Widmung. Vgl. H A M A N N , Metakritik 1951, 286: „Bleibt es also ja noch eine Hauptfrage: w i e d a s V e r m ö g e n z u d e n k e n m ö g l i c h s e y ? - Das Vermögen, r e c h t s und l i n k s v o r und o h n e , m i t und ü b e r d i e Erfahrung hinaus zu denken?" Vgl. H E R D E R , M e t a k r i t i k 1881, 39: „Nirgends anders hin als i n s i c h s e l b s t kann sich die Vernunft verirren, durch Misbrauch ihrer Kräfte oder ihres Werkzeugs; sich außer sich in einen Zustand, ehe menschliche Vernunft war, setzen, um zu sehen, wie menschliche Vernunft werde? ist nicht Philosophie, sondern Plotinische Dichtung."

282

Kritik als Kunst der Orientierung: Kritik und

Hermeneutik

Hauptargument der beiden Metakritiken ist jedoch die totale Ausblendung der sprachlichen Verfasstheit der Vernunft bei Kant. Vernunft ist nur in Sprache, und unser vernünftiges Denken wird durch die Formen und Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks bestimmt. Sprache ist das „Organon unserer Vernunft" (HERDER, Metakritik 1881, 20), 166 und jede Kritik der Vernunft muss daher ihre Leitlinien, ihren Maßstab in der Sprache finden und in erster Linie Sprachkritik sein: Die menschliche Seele denkt mit W o r t e n ; sie äußert nicht nur, sondern sie bezeichnet sich selbst auch und ordnet ihre Gedanken mittelst der S p r a c h e . Sprache, sagt L e i b n i z , ist der Spiegel des menschlichen Verstandes, und, wie man kühn hinzusetzen darf, ein Fundbuch seiner Begriffe, ein nicht nur gewohntes, sondern unentbehrliches Werkzeug seiner Vernunft. Mittelst der Sprache lernten wir denken, durch sie sondern wir Begriffe ab und knüpfen sie, oft haufenweise, in einander. In Sachen der reinen oder unreinen Vernunft also muß dieser alte, allgemein=gültige und nothwendige Zeuge abgehört werden, und nie dürfen wir uns, wenn von einem Begriff die Rede ist, seines Heroldes und Stellvertreters, des ihn bezeichnenden W o r t e s , schämen. (HERDER, Me-

takritik 1881, 19) 167

Dass die Vernunft überhaupt einer Klärung bedarf, ist für Herder auf einen unangemessenen, mangelhaften, verstellenden Sprachgebrauch zurückzuführen: Ein grosser Theil der Misverständnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten also, die man der Vernunft zuschreibt, wird wahrscheinlich nicht an ihr, sondern an dem mangelhaften oder von ihr schlecht gebrauchten Werkzeuge der Sprache liegen, wie das Wort W i d e r s p r ü c h e selbst saget. Glaube niemand, daß die hohe Kritik der reinen Vernunft hiedurch erniedrigt, und die feinste Spekulation zur G r a m m a t i k werde. (HERDER, Metakritik 1881, 19f.)

Diese Sprachkritik versteht Herder als sprachgeschichtliche oder etymologische Untersuchung, die er an den tragenden Grundbegriffen der Kritik der reinen Vernunft vorführt: Dazu zählen die Unterscheidung von synthetischen und analytischen Urteilen, die Verwendung der Begriffe a priori und a posteriori, 168 die Bestimmung von Raum und Zeit als reine Anschauungsformen und die Begriffe transzendental, Anschauung und Postulat, die er für missverständlich und unsinnig hält. 169 Obgleich Herder betont, dass jede Kritik der Vernunft selbst wieder Ge-

166

167

168 169

Auch für Hamann ist Sprache das „einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft" (HAMANN, Metakritik 1951, 284). Vgl. auch HERDER, Metakritik 1881, 191.: „Oft zeigt uns dieses, wie wir zu dem Begriff gelangt sind, was er bedeute, woran es ihm fehle. [ . . . ] . ; wie sollte der Vernunftrichter das Mittel übersehen, durch welches die Vernunft eben ihr Werk hervorbringt, vesthält, vollendet?" Vgl. auch H E R D E R , Metakritik 1881,317. Vgl. HERDER, Metakritik 1881, 33ff. Hamanns Metakritik richtet sich vor allem gegen die Bestimmung von Raum und Zeit als reine Anschauungsformen bei Kant (vgl. H A M A N N , Metakritik 1951, 286f.).

Kritik und Hermeneutik

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genstand der Kritik werden kann, 170 und jede Kritik grundsätzlich historisch ist, präsentiert sich das Unternehmen der Metakritik als eine (einmalige) Aufklärung über Sprachverwirrungen. Herder ist „überzeugt, daß jeder speculative Begriff verständlich gemacht werden könne und müße" (HERDER Metakritik 1881, 11 f.) und „die gemißbrauchte Sprache" kann nicht anders von ihrem „Unrath" „Krümmen und Winkelhaken" gesäubert werden (HERDER, Metakritik 1881, 12), als durch „eine klare Exposition der ersten Begriffe unseres Verstandes und unsrer Vernunft" wodurch eine „wirklich e r s t e u n d l e t z t e P h i l o s o p h i e , eine r e i n e S p r a c h e d e s a n e r k e n n e n d e n V e r s t a n d e s werde; überzeugt hievon, glaubt der Verfasser der Metakritik, nicht nur, daß jeder andre sie hätte schreiben können, sondern bescheidet sich auch, daß mancher andre sie beßer, nicht aber redlicher als er, hätte schreiben mögen." (HERDER, Metakritik 1881, l l f . ) 1 7 1 Damit wird Vernunftkritik durch Sprachkritik ergänzt bzw. überboten, das Unternehmen einer Philosophie oder Wissenschaft vorangehender und nicht begleitender Kritik bleibt jedoch erhalten.

4.7.2. Hermeneutik als Methode der Kritik Schleiermacher war Herders Metakritik bekannt und er war um eine angemessene Rezension dieser Schrift bemüht, wie aus einem Brief vom 28.6.1800 an A.W. Schlegel hervorgeht. 172 Mit Herder und Hamann in Einklang setzt sich auch Schleiermacher in seinen Dialektikvorlesungen gegen Kants Unternehmen ab, eine formale Analyse eines reinen Vermögens vorzunehmen. Denn ein Vermögen ist uns immer nur zugänglich über seine Tätigkeit oder Erscheinung. Auch für Schleiermacher ist Sprache „Organon der Vernunft", jedes Denken ist ein Denken in Sprache. Der ewige Streit des Denkens, der Streit der in Erscheinung tretenden Vernunft spiegelt sich in den verschiedenen Sprachen und dem 170 Vgl. HKRDKR, Metakritik 1881, 23: „Die Vernunft wird sich kritisiren und j e d e Kritik derselben muß sich gefallen lassen, kritisirt zu werden, so lange Vernunft und Kritik ist. War ihr Rechnung 171 richtig, warum sollte sie sich scheuen, aufs neue überrechnet zu werden?" Der Glaube an die aufklärende Kraft der Sprache findet sich auch bei den so genannten Aufklärungsgrammatikern, die mit Hilfe einer „Synonymik" die Verstehensschwierigkeiten aus dem Weg räumen wollen, wie beispielsweise der Hallenser Professor und Schleiermacher-Lehrer J . A. Eberhard mit seinem 1/ersuch einer altgemeinen deutseben Synonymik (Halle 1795-1802) ebenso wie Reinholds Grundlegung einer Synonymik für den allgemeinen Sprachgebrauch in den philosophischen Wissenschaften (Kiel 1812), in der er Kants Vernunftkritik ähnlich wie Herder und Hamann durch eine Sprachkritik, d. h. durch Aufklärung über sprachliche Missverständnisse zu überbieten sucht (vgl. T H O U A R D 1998, 276). 1 7 2 Vgl. S C H L E I E R M A C H E R , K G A V/4 114, Brief Nr. 898. Schleiermacher gibt dort zu verstehen, dass er gerne anstelle Bernhardts die Rezension der Herderschen Metakritik übernommen hätte. Die erste Rezension von Kiesewetter nennt er unlesbar und er hofft, dass Bernhardis Rezension „dem Materiale nach" über diese Rezension Kiesewetters hinausgeht.

284

Kritik als Kunst der Orientierung: Kntik und

Hermeneutik

sich permanent modifizierenden Sprachgebrauch wieder. Eine Analyse und Kritik der Sprachlichkeit des Denkens legt das In-Sprache-Sein des Denkens offen, kann für Schleiermacher jedoch keine einfache, endgültige Lösung des streitenden Denkens herbeiführen. Eine Klärung des Sprachgebrauchs kann nur in der Hinwendung und im Verständnis des individuellen Sprachgebrauches bestehen, nicht jedoch in der Rückführung eines „verwirrten", „mißbrauchten" Sprechens auf ursprünglich klare Begriffsverhältnisse. 173 Die Ausführungen Schleiermachers zum Verhältnis von Denken und Sprechen machen deudich, dass Kritik immer auch Sprachkritik sein kann und muss, und es liegt auf der Hand, dass die Kritik in einem sehr engen Verhältnis zur Hermeneutik steht. Explizit formuliert wird das Verhältnis von Hermeneutik und Kritik weniger in der Dialektik und in Bezug auf das kritische Verfahren, 174 als in den Hermeneutikvorlesungen, die Schleiermacher für die Jahre 1828 und 1832/33 auch als Vorlesung zur Hermeneutik und Kritik ankündigt. 17 -' Der Kritikbegriff aber, um den es Schleiermacher vorzugsweise in den Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik aber auch in der 1830 gehaltenen Akademierede zur Kritik geht, beinhaltet eine eingeschränkte, philologische Kritik. Wie in den anderen Akademiereden, so beginnt Schleiermacher auch die Akademierede zur Kritik mit einer Reflexion auf die fehlende wissenschaftliche Gestalt der zu behandelnden Wissenschaft und fordert so indirekt eine der Darstellung der Kritik vorangehende Kritik. Bevor die philologische Kritik mit „philosophischer Genauigkeit" aufgestellt werden könne, sollen Umfang und Inhalt, Aufgabe und Einteilung geklärt werden, und zu diesem Zweck soll die philologische Kritik gegen andere Formen der Kritik abgegrenzt werden. In Anlehnung an Wolf und Ast unterscheidet Schleiermacher die philologische Kritik von zwei anderen Formen der Kritik: der historischen und der doktrinalen. Während die philologische Kritik die mündliche oder schriftliche Rede auf ihre Echtheit überprüft, die historische Kritik die Tatsachen aus einer vorliegenden

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174

Schleiermacher steht mit dieser Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Denken ganz in der Nähe von Humboldt, der eine einmalige Klärung von Missverständnissen durch eine Sprach kritik aufgrund der Verschiedenheit der Sprachen ablehnt. Humboldt kommt zu dieser Einsicht auf dem Weg seiner vergleichenden Sprachstudien, die ihm die Grenzen der Obersetzung und die Relativität der grammatischen Kategorien vor Augen führen. Auch bei Humboldt modifiziert jedes Individuum die Sprache zu einem je eigenen Gebrauch, (vgl. T H O U A R D 1998) Vgl. DialKGA II 10/2, 634: „Die Aufgabe [des kritisches Verfahrens, S.S.], sich des individuellen Factors zu bemächtigen, ist die, den verschiedenen Charakter der Sprachen nach ihrem allgemeinen Bilderschematismus aufzufassen." Vergleiche auch eine Stelle aus dem Bnuillon %ur Ethik (BrElbBl 93ff.), in der Schleiermacher darauf hinweist, dass eine F.inheit der verschiedenen Denkschulcn über die Einheit der Sprachen erreicht werden soll. In der Akademierede von 1829 Über den Begriff der Hermeneutik mit Be^ug auf Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch stellt Schleiermacher beispielsweise Grammatik, Hermeneutik und Kritik als zusammengehöriges Tripel vor.

Kritik und Hermeneutik

285

Schrift (oder Rede) ermittelt, 176 soll die doktrinale Kritik das Werk mit seinem „Urbild" vergleichen. Von diesen drei Kritikbegriffen (unter denen bemerkenswerterweise ein eigener philosophischer Kritikbegriff gar nicht auftaucht), ist die doktrinale Kritik die umfassendste, denn das Werk ist nicht nur als Kunstwerk zu verstehen, sondern umfasst, wie Schleiermacher in der Vorlesung von 1832 formuliert „alle menschlichen Produktionen vom Mechanischen an durch die Gebiete der Kunst und Wissenschaft hindurch" (HerF 244). Auch in der Akademierede ist der Gegenstandbereich der doktrinalen Kritik unbeschränkt und betrifft neben den schriftlichen Werken auch die Gegenstände der bildnerischen und mimischen Künste und alle politischen und ethischen Werke, „so daß alle politische und ethische Würdigung eines in sich abgeschlossenen ganzen unter denselben Begriff gehörte" (KGA I I I , Ober Begriff und Einteilung der philologischen Kritik, 649). Leider ist diese doktrinale Kritik, die zu einem umfassenden Kritikbegriff hätte ausgebaut werden können, nicht weiter ausgeführt, Vorlesung und Akademierede beschränken sich in der näheren Erklärung auf die philologische Kritik, die „die Echtheit der Schriften und der Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden Zeugnissen und Datis zu konstatieren" (Her.F 71) hat. An dieser Ausführung zu dieser sehr speziellen, philologischen Kritik ist vor allem die Beziehung zur Hermeneutik interessant. Auch wenn sich Schleiermacher um eine eigene Begrifflichkeit für die Systematik der Kritik bemüht, so wird schnell deutlich, dass es kein eigenes, von der Hermeneutik zu trennendes kritisches Verfahren gibt, sondern die Echtheit der Schrift, divinatorisch und komparativ verfahrend, sowohl nach sprachlichen als auch nach psychologischen Kriterien ermittelt werden muss. Geht man noch einmal zurück zur doktrinalen Kritik und versteht man unter „Urbild" eines wissenschaftlichen Werkes, seine Beschaffenheit, die es haben müsste in einem abgeschlossenen Ganzen wissenschaftlicher Produktion, so könnte die doktrinale Kritik auch auf den Wissensprozess bezogen als philosophische bzw. erkenntnistheoretische Kritik interpretiert werden. Allerdings wird hier zur Voraussetzung, was erst durch Kritik selbst entstehen kann: Das Wissen selbst als „Urbild" jeder wissenschaftlichen Rede. Dass das kritische Verfahren um seine Aufgabe vollkommen zu lösen auf den „Totalzusammenhang" des Wissens angewiesen ist, mithin zur Voraussetzung wird, was erst aus Kritik hervorgehen kann, formulierten auch die Dialektikvorlesungen. Anders als die Akademierede und Vorlesungen zur Kritik problematisieren die Dialektikvorlesungen jedoch diesen Zirkel. Zum Begriff der historischen Kritik vergleiche die Akademierede zur Kritik (KGA I I I , Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik, 651) aber auch Schleiermachers Programmschrift Kur^e Darstellung des theologischen Studiums %um Behuf einleitender Vorlesungen von 1810, insbesondere KD KGA I 6, 364, § 102ff. Wesentlich im Zusammenhang der historischen Kritik ist Schleiermachers Neubestimmung von „Tatsache", deren Konstruktion als „Verknüpfung des Aeußeren und Inneren zu einer geschichtlichen Anschauung, als eine freie geistige Thätigkeit anzusehen ist" (JCÜKGA I 6, 381, § 152).

286

Kritik als Kunst der Orientierung:

Kntik und Hermeneutik

Die Hermeneutik und die Kritikvorlesungen heben zwar das enge Wechselverhältnis von Hermeneutik und Kritik hervor, in der Übernahme einer traditionellen Einteilung in doktrinale, historische und philologische Kritik (die hinter die Überlegungen der Grundlinien, der Ethik- und Dialektikvorlesungen zurückfällt) und in der Beschränkung der Ausführung auf eine rein philologische Kritik, bleibt die Beziehung zwischen Hermeneutik und dem philosophischen Kritikbegriff, d. h. dem in der Dialektikvorlesung zentralen kritisches Verfahren ganz unbeleuchtet. Das „geschichtliche Erkennen" (EthBI 192, § 19) des kritischen Verfahrens, das sich der Eigentümlichkeit sowie dem Totalzusammenhang des Denkens zuwendet, wurde in der Dialektikvorlesung nur in seiner Funktion für den Wissensprozess vorgestellt. Wie das kritische Verfahren dabei eigentlich verfahren soll, findet meines Erachtens in der Hermeneutik, speziell in der späten Fassung der psychologischen Auslegung, eine Anleitung. Denn in der Aufzeichnungen von 1832 geht es , wie ausgeführt, um die Genese des Gedankens oder - um die Formulierung aus der Dialektikvorlesung aufzunehmen - um ein „geschichtliches Erkennen": Im rein psychologischen Teil geht es um die reale Genese mit all ihren Assoziationsquellen und Ablenkungen und im rein technischen Teil um die Genese der individuellen „Form" vor dem Hintergrund einer „idealtypischen" Genese des Gedankens oder darum, den individuellen, erkenntnistheoretischen Status der Rede zu bestimmen. Zum entscheidenden Bindeglied zwischen Hermeneutik und Dialektik wird so die Kritik, die als geschichdiches Erkennen oder als „Verstehen des Prinzips der Eigentümlichkeit" in der Hermeneutik eine Anleitung findet. Und dies bedeutet, dass der Schlüssel für die Streitschlichtung im Prozess der Wissensbildung im Verstehen liegt. Warum dann überhaupt noch von Kritik und nicht gleich vom Verstehen reden? Kritik unterscheidet sich vom Verstehen dadurch, dass sie das Verstandene im Sinne der Vermittlung anwendet, das Ergebnis des Verstehensaktes noch einmal explizit formuliert und zu einer neuen Position zusammenfasst, die wieder ins Streitgespräch eingehen kann. In den Kritikbegriff geht so das „explicare" wieder ein, das Schleiermacher ausdrücklich nicht als Gegenstand der Hermeneutik betrachtet wissen wollte.

4.8. Der erweiterte KriükbegHff 4.8.1. Kritik als Kunstkritik - Kritik als Kritikkunst Kritik wurde bisher in Funktion und Bedeutung für den Wissensprozess thematisiert. Der doktrinale Kritikbegriff der Akademierede und der Vorlesung zur Kritik zeigte jedoch (auch wenn die Einteilung in eine doktrinale, historische und philologische Kritik eher als ein Fremdkörper in der Schleiermacherschen Philosophie erscheint), dass Schleiermacher Kritik als ein universales, durch die Wissenschaften

Der erweiterte Kritikbegriff

287

und Künste durchgehendes Unternehmen begreift. Auf den folgenden Seiten folgen einige Überlegungen, die diesen erweiterten Kritikbegriff ins Auge fassen. Anders als für Schlegel, dessen Reflexionen zur Kritik als Kunstkritik beginnen und für den die Kunstkritik immer einen zentralen Platz einnimmt, ist Ort und Form einer eigentlichen Kunstkritik bei Schleiermacher schwer ausfindig zu machen. Eine Kunstkritik wird man an erster Stelle in den Vorlesungen zur Ästhetik vermuten, die jedoch bei Schleiermacher als Produktionsästhetik angelegt ist, in der die Kunsttätigkeit und nicht das Kunsturteil im Zentrum steht. In den Einleitungen zu den Ästhetikvorlesungen weist Schleiermacher die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Vollkommenheit oder dem der Schönheit als „Begriff der Ästhetik d. h. als Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung - sogar ausdrücklich zurück. Der „Begriff der Ästhetik, von dem ausgehend die Ästhetik als Wissenschaft vollständig entfaltet werden kann, kann allein die Kunsttätigkeit sein. An der Kunsttätigkeit wiederum interessiert nicht die Tätigkeit des Genies als Hervorbringen von besonders vollkommenen oder schönen Kunstwerken, sondern die Funktion und Bedeutung der grundlegenden, alltäglichen Tätigkeit, die jedem eigen ist. Dass mit dieser Perspektive auf Kunst kaum Anhaltspunkte für das ästhetische Urteil gegeben werden, formuliert Schleiermacher selbstkritisch am Ende der Akademierede Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Be^ug auf die Theorie derselben von 1831 (KGA I I I , 792f.). Da die doktrinale Kritik, die als Urteil über die Vollkommenheit auch Kunstkritik umschließt, keine Ausführung erfährt, bleibt wiederum die Hermeneutik als derjenige Ort, an dem Schleiermacher - wenigstens was die literarischen Werke angeht - Kunstkritik thematisiert, 177 und die Beispiele, die Schleiermacher im grammatischen Teil der Auslegung nennt, machen deudich, dass er durchaus auch literarische Werke vor Augen hatte. Die durchkomponierte Form, die die technische Auslegung verfolgen soll, bezieht sich nicht nur auf die idealtypische Form des „reinen Denkens", wie es die Ausführungen zu Keimentschluss, Meditation und Komposition nahe legen, sondern auch auf die Form künstlerischer Darstellung. Bezogen auf ein Kunstwerk soll der rein technische Teil nicht den erkenntnistheoretischen Status der Rede bestimmen, sondern untersuchen, inwiefern der Autor formanwendend oder formschöpfend vorging. Denn in der Geschichte der Kunst lassen sich zwei alternierende Perioden feststellen, die durch ein unterschiedliches Verhältnis zur „Form" bestimmt sind: Es gibt Zeiten, in denen der Autor für das, was er ausdrücken möchte, auf keine angemessene bereits vorliegende literarische Form zurückgreifen kann und formschöpfend wird - und es gibt 177

Wellek sieht den größten Beitrag Schleiermachers zur Literaturkritik in der Hermeneutik (WELLEK, 553). Für C. Berner dagegen schließt die Hermeneutik Schleiermachers nicht nur die künstlerische Rede, sondern auch „Wettetgespräche", diskursive Rede mit semantischem „Nullwert", aus (BERNER, 1992, 78). Dagegen ist einzuwenden, dass ein Wcttergespräch auch erst nach dem Verstehensakt als Wettergespräch charakterisiert werden kann.

288

Kritik als Kunst der Orientierung: Kritik und

Hermeneutik

Zeiten, in denen der Autor sich einer vorhandenen Form bedient und, indem er sie anwendet, weiter ausbaut. 178 Fasst man den hermeneutischen Gegenstand der Schleiermacherschen Hermeneutik also so weit, dass er auch literarische Kunstwerke umschließt, so müsste man konsequenterweise ähnlich der erkenntnistheoretischen Kritik, Kunstkritik von einem Kunstverständnis unterscheiden. Kunstkritik würde im Gegensatz zum Kunstverständnis selbst produktiv werden und das Verstandene neu formulieren. Denkt man Schleiermacher weiter und fordert für das „explicare", dass es das Kunstwerk in unendlicher Tätigkeit vollendet (so wie die philosophische Kritik in unendlicher Tätigkeit Wissen vollendet), so muss man für die Kunstkritik eine künsderische Form fordern, und man landet umwendend bei Friedrich Schlegel, für den Kunstkritik notwendigerweise Kunst bzw. poetisch sein muss. P o e s i e k a n n n u r d u r c h P o e s i e kritisiert w e r d e n . E i n K u n s t u r t e i l , w e l c h e s n i c h t selbst ein K u n s t w e r k ist, e n t w e d e r i m S t o f f , als D a r s t e l l u n g d e s n o t w e n d i g e n E i n d r u c k s in seinem W e r d e n , oder durch eine s c h ö n e F o r m , und einen i m Geist d e r alten r ö m i s c h e n Satire liberalen T o n , hat gar kein Bürgerrecht i m Reiche der Kunst. ( S C H L E G E L K A I i iyceums-tragmente,

1 6 2 , N r . 117)

Kritik ist jedoch nicht nur Kunst, indem sie Kunstwerke kritisiert, sondern sie ist Kunst im Sinne einer Kritikkunst, einer „Wissenschaftskunst" - dieser Gedanke findet sich bei Schlegel wie bei Schleiermacher. D i e κ ρ [Kritik] ist w i e d i e φ λ [ P h i l o l o g i e ] e i n e W i s s e n s c h a f t s k u n s t ; n u r d i e κ ρ [kritische]

φσ

[Philosophie]

ist

( S C H L E G E L Κ Α X V I , tragmente

eine

Kunst

spr Literatur

und

zwar

und Poesie,

eine

Wissenschaftskunst.—

137, N r . 6 2 2 )

Denn jede Kritik wendet sich dem Individuellen zu und muss in dieser Zuwendung zum Individuellen zugleich über das Individuelle hinaus auf ein Absolutes oder Ganzes gehen, das uns weder als Ganzes eines Werkes, einer Epoche, einer Dichtkunst, der Erkenntnis oder als Weltganzes vorliegt. Wie im Prozess des Verstehens muss auch die Kritik dieses Ganze divinatorisch entwerfen und wird von Schleiermacher ähnlich wie das Verstehen in der Hermeneutik als alternierender Bezug zweier Momente vorgestellt: einem entwerfenden oder divinierenden und einem prü-

1 "7Q An dieser Stelle bietet sich wieder ein Blick auf die Ästhetik an, die in Bezug auf den Begriff der Vollkommenheit des Kunstwerkes (auch wenn sie ihn nicht ins Zentrum der Betrachtung stellt) eine ganz ähnliche, wenn auch nicht deckungsgleiche duale Einteilung wie in der Hermeneutik anbietet: Die organische Vollkommenheit eines Kunstwerkes kann auf zweierlei Weise betrachtet werden, einmal auf das Kunstwerk selbst, seine Komposition bezogen (dies entspräche der rein technischen Interpretation, die die Entwicklung der Rede aus ihrem Keimentschluss verfolgt) und dann auf das Kunstwerk in seinem Kunstkontext, seinem Zyklus, seinem Kunstganzen bezogen (dieser Teil entspräche zum einen der grammatischen aber auch der rein psychologischen Interpretation). Beide Teile der Vollkommenheitsbetrachtung bedingen sich wechselseitig, vgl. dazu /f.r/1. 39.

Der erweiterte Kritikbegriff

289

fenden, komparativen Moment. 17y Im wechselseitigen Bezug dieser beiden Momente kann die Kritik wie die Hermeneutik in zweifacher Weise als Kunst bezeichnet werden: Sie ist Kunst im Sinne von Kunstlehre, aber auch Kunst im Sinne von künsderischem Entwurf, indem sich für ihren Vollzug keine festen Regeln angeben lassen. Da Kritik ein wesentliches Moment in der Wissensproduktion darstellt, muss sie immer als Teil der wissenschaftlichen Praxis betrachtet werden. Dennoch setzt Schleiermacher in den Ethikaufzeichnungen von 1816/17 das kritische Verfahren ausdrücklich gegen die Wissenschaft ab: Es „liegt außer der realen Wissenschaft, es fehlt ihm an der Gemeingültigkeit und an der festen Gestaltung von dieser" (E/ÄBI 217, § 109). Auch in den ersten Niederschriften zur Ethikvorlesung, dem Brouillon Ethik, trennt Schleiermacher Kunst und Wissenschaft voneinander: Als Wissenschaft im strengen Sinne kann nur die Naturwissenschaft gelten - der Ethik hingegen seien alle Künste oder Kunstlehren zugeordnet: „alles sittliche Produciren läßt sich als Kunst ansehn, - Kunstlehre, praktische Anweisungen für die Künste" (Eibl31

12, § 61).

Im Sinne strenger Systematik, im Sinne von Vollständigkeit und vollständiger Ableitung, kann aber auch die Naturwissenschaft, solange sie nicht vollendet ist, keine Wissenschaft im strengen Sinne sein. Ihr liegt wie der Ethik die Dialektik als „Wissenschaftslehre" zugrunde und ist auf ein kreatives Moment in der Wissens179 Um eine eigene Begrifflichkeit für die Kritik bemüht und noch zu eng an Wolf orientiert, spricht Schleiermacher in der Vorlesung zur Kritik nicht von Divination und Komparation, sondern von einem urkundlichen und einem divinatorischen Vorgehen der Kritik. Das divinatorische Vorgehen wird dabei von Schleiermacher nicht ganz klar bestimmt: einerseits ist es wie in der Hermeneutik ein entwerfendes Verfahren, zum anderen soll es sich, ähnlich wie die „niedere Kritik" den werkimmanenten Indizien der Kchtheit zuwenden. Diese Begriffsschwankungen möchte ich hier jedoch vernachlässigen. Andere Stellen, aus denen hervorgeht, dass Schleiermacher die Methode der Kritik im Alternieren eines eher komparativen und eines eher divinatorischen Momentes sieht, finden sich in den Ethikvorlesungen: Im Brouillon %ur Ethik weist Schleiermacher der Kritik den Raum der freien Geselligkeit zu. Die freie Geselligkeit will „das Individuelle durch comparative Anschauung finden", kann aber erst vollendet werden durch „ein hinzukommendes unmittelbares Gegebensein" (BrEthül 93). Dieses hinzukommende unmittelbare Gegebensein ist nichts anderes als ein unmittelbares Verstehen des Individuellen durch Divination. Weitere Stellen finden sich ζ. B. in den Ethikaufschrieben von 1812/13, ΕΛΒ1 1 2 5 f , § 231: „Es ist die Sache der kritischen Disciplin, die man gewöhnlich Religionsphilosophie nennt, die individuelle Differenz der einzelnen Kirche in comparativer Anschauung zu flxiren [...]" In der Dialektikvorlesung von 1811 heißt es: Die „Identität von Induction und Construction", die herzustellen ist, um „das Princip des eigenthümlichen" herzustellen, muss folgenden Weg gehen: „Nemlich wenn man eine Einheit ahndet muß man diese als Allgemeinheit in ihre besonderen Theile zerlegen und wenn diese hernach mit den verschiedenen Momenten der Induction zusammenstimmen so entsteht Sicherheit." ( D m K G A II 10/1, 60) Den divinatorischen Charakter der Kritik hebt auch Friedrich Schlegel an verschiedenen Stellen hervor. Vgl. Ζ. B. SCHLEGEL ΚΑ XVIII, Philosophische Lehrjahre, 49, Nr. 308: „Alle Κ [Kritik] ist divinatorisch, ein Proj.[ekt] zu ergänzen ist gerade dasselbe, als ein Fr.[agment] zu ergänzen. — " ; Vgl. auch das bekannte Fragment zur Universalpoesie SCHLEGEL ΚΑ II, Athenäumsfragmente, 182FI, N r . 1 1 6 u. e b e n d a 2 0 1 , N r . 2 2 1 )

Kritik als Kunst der Orientierung: Kritik und

2 9 0

Hermeneutik

Produktion ebenso angewiesen wie die Ethik. Die Ethik ist jedoch nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst im Sinne von Kunstlehre. Denn da die Ethik die Handlungen der Vernunft zum Gegenstand hat, ist jede wissenschaftliche Auseinandersetzung zugleich auch eine Anweisung für zukünftiges Handeln. In diesem Sinne unterscheiden sich Natur- und Geisteswissenschaft, denn die Natur kann in ihren Handlungen auf den Geist nicht verstärkt, gelenkt, orientiert werden. Je größer die in der Kritik zu vermittelnden einzelnen Gegensätze sind, desto schwerer fällt es natürlich, ihre Vermittlung komparativ, und d. h. für andere nachvollziehbar zu untermauern. Dementsprechend ist der zur Verfügung stehende komparative Apparat desto größer, je spezieller der Streit ist, der mit Kritik vermittelt werden soll. Dies wird besonders in Schleiermachers Kritikvorlesung deutlich, die Schleiermacher ja ausdrücklich als Wissenschaft bezeichnet. Je karger die Referenzen werden, auf die sich die Kritik beziehen kann, desto mehr ist die Kritik auf einen kreativen Entwurf oder die divinatorische Komponente angewiesen. Hierin mag ein Grund dafür liegen, warum Schleiermacher in den Ethikaufzeichnungen von 1816/17 der Kritik die „Gemeingültigkeit" und die „festefn] Gestalt" der Wissenschaft abspricht - „denn es ist immer in einem höheren Grade als die Darlegung eines realen Wissens das Werk des Eigenthümlichsten in dem Menschen" (EthBI 217, § 109). Aus demselben Grund mag Schleiermacher auch im frühen ethischen Entwurf des Brvuillon ^ur Ethik die Kritik der „freien Geselligkeit" anstelle der Wissenschaft zuordnen. 180

4.8.2.

Kritik und Technik: kritische und technische Disziplinen

In seinen Aufschrieben zur Ethik von 1816 stellt Schleiermacher dem kritischen Verfahren ein regelgebendes oder technisches Verfahren zur Seite. 181 Wie das kritische Verfahren bezieht auch das technische Verfahren das „Beschauliche und das Erfahrungsmäßige" ( £ Ä 6 B I 2 1 7 , § 1 0 9 ) aufeinander, jedoch in praktischer Hinsicht. Das technische Verfahren soll diejenigen Bedingungen angeben und eine regelmäßige Anwendung dieser Bedingungen bereitstellen, unter denen sich die Vernunft der Natur „am vollständigsten und leichtesten bemächtigt" (EthBI 2 1 8 , § 109). Es bemüht sich nicht darum zu erkennen, wie eine bereits gemachte Erfahrung als integriert in eine bereits aufgestellte theoretische Erkenntnis verstanden werden kann, sondern ermittelt „unter welchen Umständen und Bedingungen der Widerstand [der Natur, S.S.] am leichtesten oder schwersten gehoben wird" (EthBI 218, § 109). Anders als das kritische Verfahren ist das technische Verfahren kein 180 181

Vgl. BrEtbBl 93: „Die Kritik repräsentirt die Anschauung in der freien Geselligkeit [...]. Dieser Verkehr des individuellen Wissens unter einander ist also auch ganz das der freien Geselligkeit." Anregung dieser Zweiteilung könnte man bei Piaton in der Unterscheidung von „beurteilenden" und „anordnenden" bzw. „gebietenden" Disziplinen vermuten (vgl. Piaton, Po/iiikos 260b.

Der erweiterte Kritikbegriff

291

einmaliges Vermitteln zwischen einem im Streit liegenden vorhandenen Erfahrungsmäßigen und Spekulativen, sondern eine (spekulative) Anleitung zur Herstellung des Erfahrungsmäßigen. Anhand dieser Unterscheidung von kritischen und technischen Disziplinen bei Schleiermacher lässt sich der Technikbegriff bestimmen: Während das kritische Verfahren die je neue und einmalige Vermittlung eines mehr Empirischen und mehr Spekulativen vornimmt, ist die Vermitdung im technischen Verfahren zur Regel geronnen und greift dem Streit vor, man könnte auch sagen, das kritische Verfahren geht dem technischen Verfahren voran. 182 Der Regelstatus des technischen Verfahrens bzw. der Technik muss dabei meines Erachtens immer als ein vorläufiger gedacht werden. 1 8 3 Denn die Technik der besten Aneignung der Natur durch die Vernunft legitimiert sich nur aus dem jeweiligen Stand der Wissenschaft und dem in ihr repräsentierten Einigungsgrad von Natur und Vernunft. Die Technik friert sozusagen den jeweiligen Stand der Forschung zur Regel ein und wird von der fortschreitenden Entwicklung der Wissenschaft selbst wieder in Frage gestellt. Die Vermittlung dieses Streites wäre dann wiederum Aufgabe der Kritik. Als Bezug des „Beschaulichen und des Erfahrungsmäßigen" kann so nicht nur die Kritik, sondern auch die Technik als bewusst betriebene Wechselwirkung bezeichnet werden, wobei die Kritik die „bewegliche" immer wieder neu zu findende Vermittlung darstellt, die Technik dagegen die „feste", ,institutionalisierte" Form der Wechselbeziehung. In den früheren Ethikaufzeichnungen von 1812/13 spricht Schleiermacher anstelle von einem kritischen und technischen Verfahren von kritischen und technischen Disziplinen, 184 was zunächst keine großen Interpretationsprobleme aufwirft: In den kritischen und technischen Disziplinen wird für einen konkreten Gegenstandsbereich das kritische und technische Verfahren zur Wissenschaft bzw. zur Kunstlehre ausgebaut. Als kritische Disziplinen führt Schleiermacher neben der Religionsphilosophie und der Rechtsphilosophie die Grammatik an. Die Hermeneutik dagegen ebenso wie die Staatslehre (Staatskunst, Staatsklugkeit), die Politik,

182

183

184

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Herms (HERMS 2003, 26) wenn er schreibt: „Sie [die technischen Disziplinen, S.S.] bieten sämtlich Wissen in seiner Orientierungsfunktion für zielsicheres Handeln, also Wissen, welches jeweils auf einer kritisch gewonnenen Erkenntnis des Wesens eines Gegebenen fußt und von dieser dauernden Seinsweise eines Gegebenen diejenigen Regeln abhebt, denen der produktive und reproduktive Umgang mit diesem Gegebenen folgen muß." Dem entspricht, dass die Anweisungen, die das technische Verfahren gibt, auch „hypothetischen Charakter" haben können, wie Schleiermacher formuliert (Vgl. EtbB1 218, § 109). Dies betrifft auch die Einleitung zur Ethik, die Braun unter der Ziffer V in seiner Ausgabe wiedergibt und - wahrscheinlich wegen der großen inhaltlichen Parallelen zur letzten überarbeiteten Einleitung von 1816/17 - auf das Jahr 1816 datiert. Birkner korrigiert diese Datierung allerdings und vermutet eine Entstehung um 1813.

292

Kritik als Kunst der Orientierung: Kritik und

Hermeneutik

die Didaktik und Erziehungskunst ordnet Schleiermacher den technischen Disziplinen zu. 1 8 5 Weitere Beispiele lassen sich ableiten, wenn man technische Disziplin, wie die Ethikvorlesung von 1816/17 nahe legt, mit Kunst bzw. Kunstlehre gleichsetzt. 186 Denn eine Kunstlehre ist, wie die Dialektik ausführt, „jede Anleitung bestimmte Thätigkeiten richtig zu ordnen um ein aufgegebenes zu erwirken." (DiaJKGA II 10/1, 400, § 1.5). Unter diesem Blickwinkel können aber, wie das Bmuillon ψτEthik von 1805/06 187 deutlich macht, nicht nur einige, sondern alle an die Ethik anschließenden Disziplinen als Kunstlehren verstanden werden. 1 8 8 Lässt man die merkwürdige Bestimmung der Grammatik als kritische Disziplin einmal außen vor, so ist zumindest augenfällig, dass die Dialektik, die ja eigentlich eine kritische Disziplin par excellence sein sollte, in dieser Rekonstruktion als technische Disziplin gelten muss. Die Unterscheidung in technische und kritische Disziplinen, die weder in der Dialektik noch in der Ethik einen großen Raum einnimmt, sondern in einzelnen, nicht immer in sich stimmigen Bemerkungen aufzusuchen ist, ist in der Sekundärliteratur populär, wird aber selten problematisiert. Die Aufmerksamkeit liegt dabei auf der Frage, wo sich diese technischen und kritischen Disziplinen für das System der Wissenschaften verorten lassen, und die meisten Autoren fassen die technischen und kritischen Disziplinen, so wie es die Paragraphen 58 und 60 der Ethikeinleitung von 1812/13 auch nahe legen, als voneinander zu unterscheidende Disziplinen auf, die sich an die Ethik anschließen. Für Herms hingegen, der sich mit dieser Unterscheidung beschäftigt, gibt es für die kritischen und technischen Disziplinen im System der Wissenschaften eigentlich keinen Platz, orientiert man sich an dem von Schleiermacher in jeder Ethik aufgestellten „Fünferschema". Aus Schleiermachers verstreuten Bemerkungen zu den technischen und kritischen Disziplinen ergibt sich meines Erachtens erstens, dass die Unterscheidung nur tendenziell aufrecht erhalten werden kann, d. h. eine Disziplin ist mehr tech18 ®

187

188

Religionsphilosophie als kritische Disziplin vgl. GLR 62, § 9.2; Rechtsphilosophie als kritische Disziplin vgl. ( J .R 13, § 2.2; Staatskunst und Erziehungskunst als technische Disziplinen vgl. ΕώΒΙ 218, § 109 ; Staat, Staatslehre, Staatsklugkeit, Kunst als technische Disziplinen ΕΛΆ1 12/13, 12, § 61 ; Politik, Didaktik u. Hermeneutik als technische Disziplinen, Grammatik als kritische Disziplin vgl. EthBl 1812/13, 116f., § 187ff. Für Herms (HERMS 2003, 25f.) Hinweis darauf, die Dialektik sei eine technische, die Ästhetik eine kritische Disziplin, konnte ich keine direkten Textbelege finden. Vgl. dazu BrEibBl Vgl. BrEtbBl 4.

218, § 109.

·-

Für eine solch breites Spektrum von technischen Disziplinen spricht, dass viele Vorlesungen einen zweiten so genannten „technischen Teil" haben, der der eigentliche Kunstteil ist und dass man dieTeil zumindest als technische Disziplin lesen kann. 189 sen Als „Fünferschema" lässt sich die doppelte Zweiteilung der Wissenschaften in EthikGeschichtskunde auf der einen und Physik-Naturgeschichte auf der anderen Seite bezeichnen, für die die Dialektik als Wissenschaftswissenschaft in gleichem Maße grundlegend ist.

Der erweiterte Kritikbegriff

293

nisch oder mehr kritisch, nie aber kann die technische Disziplin zum reinen Regelwerk verkommen. Sie muss, wie Schleiermacher im Zusammenhang mit der technischen Disziplin der Hermeneutik formuliert, immer „freie Synthesis" (J5//jBI 116, § 189) enthalten. 190 Dies wird vor allem in Schleiermachers Ausführungen zur Kunsdehre deutlich, die eben immer auch Kunst, d. h. nicht unter Regeln zu bringende Anwendung enthalten muss. Zweitens kann auch die Kritik selbst wieder als Technik auftreten, hier verschmelzen beide Disziplinenformen und man könnte, wenn man möchte, von einer höheren oder höherstufigen technischen Disziplin sprechen. In diesem Sinne ist die Dialektik Kunsdehre philosophischer Kritik 191 , der gerade als Kunstlehre der Kritik auch die Hermeneutik beigeordnet werden muss, auch wenn Schleiermacher die Hermeneutik explizit als technische Disziplin auffuhrt. In den Ethikvorlesungen wird die Kritik als Vermittlung von Spekulativem und Empirischem bezeichnet, und als solche dürfte sie eigentlich nicht auf den Prozess des identischen Symbolisierens beschränkt sein. Dennoch wird sie in den Aufschrieben zur Ethik immer im Kontext der Wissensproduktion also als Erkenntniskritik behandelt, ganz im Gegensatz zur Technik, die sich in Schleiermachers Beispielen auf die gesamte vernünftige Tätigkeit erstreckt. Diese Asymmetrie oder Einseitigkeit erklärt Herms, indem er die kritischen Disziplinen als einen „Querschnitt" der Ethik bezeichnet, die allein dem identischen Symbolisieren, d. h. der Wissensproduktion zugeordnet sind, die technischen Disziplinen dagegen als „Längsschnitt" interpretiert. 192 Ein Anzeichen dafür, dass die Kritik sich jedoch nicht auf das identische Symbolisieren beschränkt, obgleich sie bei Schleiermacher nur dort eine Ausführung erhält, kann man im Begriff der doktrinalen Kritik sehen, der nicht nur Werke, sondern auch Handlungen umschließt. Und als „bewusst betriebene Wechselwirkung" - wie sie zuvor bezeichnet wurde - nimmt die Kritik eine so wesentliche Rolle in der Wissensbildung ein, dass man mit gutem Recht nach einer kritischen Vermittlung des Individuellen und Allgemeinen für das Organisieren oder Handeln im engeren Sinne fragen kann. Eine solche praktische Kritik würde zwischen dem Gegensatz von Gemeinschaft und Individuum vermitteln und sowohl als Kritik am Individuum als auch an bestehenden Institutionen oder ethischen Formen zu verstehen sein. Der Erkenntniskritik als Kritik des in Sprache gefassten Denkens ist die (Sprach) Hermeneutik zur Seite gestellt und man könnte dementsprechend für die Kritik der Handlung nach einer Hermeneutik fragen, deren Gegenstand nicht nur das Verstehen der Rede ist, sondern das Verstehen aller menschlichen Tätigkeiten. 190 Eine Disziplin w i e die Ästhetik kann d e r Beschreibung ihrer A u f g a b e nach durchaus als kritisch und technisch v e r s t a n d e n w e r d e n ("vgl. A s f t . 5V

101 U i Vgl. DiaKGA II 1 Q9

10/2,428.

Vgl. H E R M S 1 9 7 6 , 5 1 1 u. H E R M S 2 0 0 3 , 2 6 .

294

Kritik als Kunst der Orientierung: Kritik und

Hermeneutik

Einen methodischen Leitfaden fände eine solche Hermeneutik, die ich Hermeneutik der Kultur nennen möchte, in der Sprachhermeneutik, einen inhaltlichen Leitfaden vor allem in der Güterlehre der Ethikvorlesungen. Das letzte Kapitel dieses Buches wird die Idee einer Kritik und Hermeneutik der Kultur anhand dieser beiden Leitfäden skizzieren und die Kritik und Hermeneutik der Kultur, die im Schleiermacherschen System lediglich als Leerstelle angelegt ist, als wesentliches Element einer Philosophie der Wechselwirkung herausstellen.

5. Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben oder die Entfaltung des Wissens im System der Wissenschaften Ethik 5.0. Einleitung Das wissenwollende Denken oder identische Symbolisieren beschreibt nur eine „Tätigkeit" der sich realisierenden Vernunft, denn die Vernunft realisiert sich, indem sie Natur vernünftig strukturiert - „Organe" schafft - und in der vernünftig strukturierten Natur sich selbst erkennt - „Symbole" hervorbringt. Die Wechselwirkung zwischen „Symbolisieren" (dem Erkennen im engeren Sinne) und „Organisieren" (dem Handeln im engeren Sinne) werden in der philosophischen "Ethik thematisiert, 1 die als Wissenschaft von den Handlungen der Vernunft ähnlich wie in der Ethik Spinozas theoretische und praktische Philosophie umfasst, da die Frage nach dem guten Handeln und die nach der Wahrheit vor dem Hintergrund ein und desselben Prozesses einer sich im Endlichen realisierenden Vernunft beantwortet werden kann. Eine isolierte Betrachtung des wissenwollenden Denkens, wie sie die Dialektikvorlesungen unternehmen, erschließt daher nur eine Seite eines zusammengehörigen Prozesses. In der Auseinandersetzung mit der philosophischen Ethik, der sich das folgende Kapitel widmet, liegt der Schwerpunkt zum einen auf der Erweiterung der erkenntnistheoretischen Perspektive der Dialektik, d. h. auf dem System der Wissenschaften und der Wechselwirkung der Wissenschaften,^ mit der Schleiermacher dem sicherlich populäreren Schlegelschen Begriff der „Universalphilosophie" systematisch nachgeht. Zum anderen geht es um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Orientierung in der sittlichen Praxis, und im Kontext dieser Frage tritt die Interpretation der Ethik als Kulturphilosophie in den Vordergrund.

Schleiermacher hat bekanntlich Vorlesungen zur philosophischen und Vorlesungen zur theologischen Ethik gehalten. Hier geht es ausschließlich um Schleiermachers Entwurf der philosophischen Ethik. Diese erkenntnistheoretische Dimension der Ethik betont vor allem Ellert Herms (HERMS 1976 u. 1984).

296

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und lieben

Es kann mittlerweile als Konsens in der Sekundärliteratur gelten, dass sich Schleiermachers Philosophie nicht ohne Blick auf das Wissenschaftssystem angemessen beurteilen lässt, und Ellert Herms bezeichnet die Frage nach dem Konzept des Wissenschaftssystems Schleiermachers sogar als „Schlüsselfrage jeder sachgemäßen Schleiermacherinterpretation" (HERMS 1991, 367). 3 Bezeichnend für das Wissenschaftssystem Schleiermachers ist die bipolare Anordnung der Wissenschaften und seine Rekursivität oder die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Wissenschaften untereinander. Diese Wechselwirkung der Wissenschaften findet ihre Begründung zunächst im „Totalzusammenhang" des Wissens, denn jede Wissenschaft geht in letzter Konsequenz auf denselben Gegenstand Welt, der sich im Prozess des Wissens erst bildet und aus dessen Gesamtgefüge sich kein Teilbereich isolieren lässt, der nicht alles andere Wissen voraussetzt und zugleich bestimmt. Interessanter ist jedoch eine andere, quasi „versteckte" Begründung. Die Wechselwirkung der Wissenschaften lässt sich, wie zu zeigen sein wird, über die Wechselwirkung der Tätigkeiten begründen. Auf diese Wechselwirkung der Tätigkeiten und ihre Konsequenz für die einzelnen Wissenschaften wird hier ein besonderes Gewicht gelegt werden, und an diesem Punkt -wird es darum gehen, mit Schleiermacher über Schleiermacher hinaus zu denken. Hat jede Wissenschaft eine bestimmte Tätigkeit zum Gegenstand und kann keine dieser vernünftigen Tätigkeiten isoliert für sich betrachtet werden, muss man mit Schleiermacher und über Schleiermacher hinaus für jede Wissenschaft oder Disziplin eine Art „Grenzverwaltung" einklagen. Erst wenn man dieser Wechselwirkung der Tätigkeiten nachgeht und untersucht, inwiefern Denken beispielsweise als interessegeleitet oder als ästhetisches Phänomen begriffen werden kann, kommen Fragen wie die nach der Macht oder der Gewalt oder auch die nach der Lust am wissenschaftlichen Diskurs und der Schönheit desselben überhaupt in den Blick. Eine Untersuchung der Bedeutung dieses „Grenzverkehrs" soll stattfinden, indem verschiedene „Mittelzustände" der Tätigkeiten, wie Schleiermacher formuliert (DialKG A II 10/2, 595), untersucht und systematisiert werden. Das folgende Kapitel setzt demnach mit Schleiermachers programmatischer Bestimmung des Systems der Wissenschaften ein, wie sie in den Einleitungen der philosophischen Ethik vorgenommen werden und ergänzt diese mit Überlegungen zur Wechselwirkung der Tätigkeiten (Kapitel 5.1.). Anschließend soll die Rekursivität des Wissenschaftssystems in den Blick genommen werden, indem konkrete Wechselwirkungsverhältnisse zwischen Ethik, Dialektik und Psychologie sowie Ethik und Physik untersucht werden (Kapitel 5.2.). In der bipolaren ArchiDem Systemgedanken Schleiermachers widmen sich neben der älteren Arbeit von Hermann Süskind (SÜSKIND 1909) u. a. H.-J. Birkner (BIRKNER 1964), Heinz Kimmerle (KIMMERLE 1957 u. 1984), Ellert Herms (HERMS 1974 u. 1976), Andreas Arndt ( A R N D T 1984) und Gunter Scholtz (SCHOLTZ 1991 u. 1995).

Einleitung

297

tektur des Systems der Wissenschaften steht der Ethik als Wissenschaft von den Handlungen der Vernunft, die Physik als Wissenschaft von den Handlungen der Natur gegenüber. Beide „Realwissenschaften" teilen sich den zwei verschiedenen Wissensarten nach wiederum in je zwei Wissenschaftsteile: eine eher theoretisch orientierte Naturwissenschaft steht einer eher empirisch oder aufsammelnd vorgehenden Naturgeschichte gegenüber, eine eher theoretisch orientierte Ethik einer eher empirisch oder aufsammelnd vorgehenden Geschichtskunde. Schleiermacher hat lediglich eine Seite dieses Systems, die Ethik, ausgeführt. Aber auch ohne eine nähere Ausführung der Physik lassen sich, ausgehend von dem für alle Wissenschaften grundlegenden Wissensbegriff der Dialektik, einige Aussagen über die Anlage und das Selbstverständnis der Physik machen, hinter denen sich ein sehr modernes Verständnis der Naturwissenschaft zeigt. Bevor sich die Auseinandersetzung mit Schleiermachers Philosophie am Ende dieses Buches der Frage zuwendet, wie eine Orientierung im gesamten sittlichen System möglich ist (Kapitel 5.4.), wird es im dritten Teil dieses Kapitels darum gehen, die Bedeutung der Wechselwirkung der Wissenschaften für die wissenschaftliche Praxis zu beleuchten (Kapitel 5.3.). Zwei Überlegungen sollen deutlich machen, dass Schleiermachers Programm der Wechselwirkung der Wissenschaften ohne weiteres Anschluss an aktuelle wissenschaftsphilosophische Positionen finden kann. Eine umfassende Diskussion der Aktualität Schleiermachers in wissenschaftsphilosophischer Hinsicht kann hier nicht stattfinden. Mit Rekurs auf Schleiermachers Schrift Kur^e Darstellung des theologischen Studiums wird es dabei um die Frage des Fortschritts und der Einheit der Wissenschaften gehen. Anschließend sollen Schleiermachers Überlegungen zur Wechselwirkung der Wissenschaften mit der seit den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erhobene Forderung nach Interdisziplinarität konfrontiert werden. Folgt man Schleiermachers eigenem Selbstverständnis, so müssen seine philosophischen Ethikvorlesungen als Mittelweg zwischen zwei Ansätzen praktischer Philosophie gelesen werden: Weder kann sich das gute Handeln allein an einem reinen Sollen orientieren, denn ein reines Sollen ist inhaltsleer, noch kann die Gültigkeit sittlicher Normen allein von historisch gewachsenen Formen abhängig sein.4"

Schleiermachers philosophische Ethik als Mittelweg zwischen Pflicht und Sittlichkeit, zugleich als Kritik und Alternative zu Kant, ist in der Philosophie bisher sehr wenig gewürdigt worden, was sicherlich mit der prominenten Position Hegels zu tun hat, in der sich ein ähnlich, wenn auch anders ausgerichteter Ansatz formuliert, vgl. daxu die Einschätzung von Berben (vgl. B E R ß E N 164). Im Zusammenhang einer Ethik zwischen Sein und Sollen kann auf Michael Moxters Monographie (vgl. M O X T E R 1992) hingewiesen werden, in der er die Entwicklung der ethischen Schriften von den Frühschriften an verfolgt, als eine zunehmende Annäherung an eine Aristotelische Position beschreibt und darin Schleiermachers Alternativentwurf zum Kantischen sieht.

298

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

In Hinsicht auf die Frage, wie ich mich in einer Welt historisch gewachsener Handlungsmuster orientieren soll, scheint es mir äußerst fruchtbar, sich auch im sittlichen Kontext dem Kritikbegriff zuzuwenden. In einem Ausblick soll daher abschließend die Idee einer Kritik und Hermeneutik der Ethik oder der Sitte entworfen werden, die den im Kontext der Wissensbildung entworfenen Kritikbegriff für den gesamten sittlichen Prozess fruchtbar zu machen versucht. Eine solche Kritik und Hermeneutik könnte als Kritik und Hermeneutik der Kultur bezeichnet werden, insofern Schleiermachers Begriff der Kultur alle Manifestationen der Vernunft und ihre institutionalisierten Formen umfasst und so breit angelegt ist, dass er den Gegensatz von Kultur und Natur sowie den von Kultur und Gesellschaft oder Kultur und Zivilisation, wie er für andere Kulturbegriffe grundlegend ist, hinter sich lässt. Als Kulturphilosophie lesen bereits A. Reble und R. Heinze Schleiermachers Ethik, 5 und diese Interpretationslinie hat gerade in den letzten Jahren wieder an Interesse gewonnen, oft jedoch in Form eines Etiketts: Schleiermacher als Kulturphilosoph ist in aller Munde, selten wird diese Interpretation jedoch ausgeführt. 6 Eine Kulturkritik und Kulturhermeneutik, die der Ethik als „Wissenschaft von den Handlungen der Vernunft" gegenüberstehen, würden zum einen alle Einzelkritiken und alle Einzelhermeneutiken umfassen, mithin auch eine Kritik und Hermeneutik der Handlung, mit deren Hilfe nicht über den Geltungsanspruch einander entgegen gesetzter Meinungen, sondern über den Geltungsanspruch einander entgegen gesetzter Interessen entschieden werden soll. Zum anderen muss die Kulturkritik und Kulturhermeneutik dem Umstand Rechnung tragen, dass die einzelnen Tätigkeiten sich nie völlig voneinander isolieren lassen. Ihr müsste daher auch die Aufgabe zufallen, den „Grenzverkehr" oder die Wechselwirkung zwischen den Tätigkeiten zu beleuchten, und sie ist daher mehr als nur die Summe aller Einzelkritiken und Einzelhermeneutiken. Mit dieser Skizze einer Kritik und Hermeneutik der Kultur schließt sich der Bogen der Philosophie der Wechselwirkung, die vor allem entlang des Wissensbegriffes entwickelt wurde, aber den gesamten sittlichen Prozess umfasst und nur in diesem Totalzusammenhang aller vernünftiger Tätigkeiten eine angemessene Beurteilung erfahren kann.

5

Vgl. REBLE 1935 u. H E I N Z E 1934.

6

So beispielsweise in Hermann Fischers Gesamtdarstellung (FISCHER 2001, 78f.). Auch Dilthey bezeichnet in seiner Dissertation die Ethik als Theorie der Kultur (vgl. D1LTEY SW X1V/1, 339357). Auf dem Schleiermacher-Kongress von 1984 findet sich noch kein einziger Beitrag zu diesem Thema, anders auf dem Schleiermacher-Kongress der Schleiermacher-Gesellschaft im Jahr 1999, die eine ganze Sektion dem Thema „Ethik und Kulturifeiro" widmet. Keiner dieser Beiträge dieser Sektion thematisiert jedoch direkt den kulturphilosophischen Ansatz Schleiermachers. Eine Auseinandersetzung mit Schleiermacher als Kulturphilosophen findet sich bei Gunter Scholtz (SCHOLTZ 1983 u. 1995, 35-64), Wilhelm Grab (GRAB 2002) und m der etwas älteren Auseinandersetzung von Bernhard Kopp (KOPP 1974, 68-81).

299

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (1)

5.1. Die Wechselwirkung der Wissenschaften (1) 5.1.1. Die Ethik als Wissenschaft über das Handeln der Vernunft Schleiermacher beginnt seine philosophischen Vorlesungen über Ethik noch in Halle im Wintersemester 1804/05 und setzt sie 1805/06 in Halle fort. Schleiermacher liest insgesamt acht Mal über die philosophische Ethik, nach dem Weggang aus Halle noch im Vorfeld der Eröffnung der Humboldtuniversität 1808 in Berlin und dann weitere fünf Male in Berlin, zuletzt 1832. Anders als bei der Konzeption der Dialektikvorlesung, bei der Schleiermacher philosophisches Neuland betrat, kann er bei der Konzeption der Ethikvorlesungen auf eine längere Auseinandersetzung mit Themen der praktischen Philosophie zurückblicken, gleichwohl sie in der Ethikvorlesung eine eigene und neue Struktur finden. Im Folgenden sei zur Orientierung ein kurzer Überblick über Ansatz und Struktur der Ethikvorlesungen gegeben. Unter Ethik versteht Schleiermacher nicht allein die praktische Philosophie und die Auseinandersetzung mit moralischen Fragen. Sie ist zwar ,Ausdruck des Handelns der Vernunft" (EthBI 208 § 75), sie ist die „Beschreibung der Geseze des menschlichen Handelns" (BrEtbBI 4) und muss „also alles wahrhaft menschliche Handeln umfassen und verzeichnen" (EthBl 6 § 12). Aber als Wissenschaft der Vernunft oder Geistes-Wissenschaft, die das „Leben der Vernunft" (EthBI 7 § 1 6 ) behandelt, umfasst sie sowohl theoretische als auch praktische Philosophie. Handeln der Vernunft in seiner Erscheinung als menschliches Handeln (das Schleiermacher auch als Erkennen im weitesten Sinne bezeichnet) ist sowohl ein Handeln im engeren Sinne (Organisieren) als auch ein Erkennen im engeren Sinne (Symbolisieren). Im Organisieren macht sich die Vernunft die Natur zum Werkzeug, es ist eine bildende Tätigkeit, mittels derer die Vernunft die chaotische Natur zu einer vernünftigen Ordnung gestaltet und auf diese Weise beherrschbar macht. Die Natur wird dadurch sowohl in ihrer äußeren als auch in ihrer menschlichen Gestalt zum Organ der Vernunft. Im Symbolisieren gestaltet sich die Vernunft die Natur zu Symbolen, durch die sie sich den vernünftigen Gehalt der Natur erkennbar macht. 7 Symbol ist jedes Ineinander von Vernunft und Natur, sofern darin ein Gehandelthaben auf die Natur, Organ jedes, sofern darin ein Handelnwerden mit der Natur gesezt ist; jedes also beides auf ungleiche Weise.

Brouilhn ψΓ Ethik

Im von 1805/06 wird diese spätere Bipolarität von einer Dreigiiedrigkeit überlagert, die von der Ausführung jedoch bereits im unterlaufen wird und sich auch leicht auf die Bipolarität zurückführen lässt: Statt Symbolisieren und Organisieren bedingen sich Symbolisieren, Organisieren und Erkennen wechselseitig (vgl. 12). Erkennen und Symbolisieren als Wissen und Darstellen können jedoch als zwei Momente oder Tendenzen des Symbolisierens verstanden werden.

Bromlion £u Ethik

BrEthBl

300

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

1. Denn Organ ist die Natur als Durchgangspunkt für das Handeln der Vernunft, Svmbol ist sie als ruhend mit und in der Vernunft. 2. Denn nirgends ist im beziehungsweisen In- und Außeinander von Vernunft und Natur ein Gleichgewicht. Jedes bestimmte Ineinander hat also auch seine Beziehung überwiegend auf das eine oder das andere. (EtbBl 235, § 7) Indem sich beide Tätigkeiten der Vernunft wiederum je auf eine individuelle, unübertragbare, die einzelne Person betreffende Weise und eine identische, mit anderen vernünftigen Personen gemeinsame oder teilbare (mitteilbare) Weise vollziehen lassen, ergibt sich eine Quadrublizität der vernünftigen Tätigkeiten aus individuellem und identischem Symbolisieren und individuellem und identischem Organisieren. Während das identische Symbolisieren als wissenwollendes Denken Gegenstand der Dialektik ist, das individuelle Symbolisieren als Ausdruck des Gefühls dem Bereich der Kunst und Religion zugeordnet werden kann, versteht Schleiermacher unter identischem Organisieren jede Art des Verkehrs, der sich als Tausch in der Wirtschaft oder in der Sphäre des Rechtes abspielen kann. Das individuelle Organisieren richtet sich nicht auf die Produktion von „Verkehrstrukturen" des Rechtes und der Wirtschaft, sondern auf die Ausbildung der eigenen Individualität und die Produktion von Eigentum. Bei dem Begriff des Eigentums liegt dabei das Gewicht auf eigen, es ist nicht austauschbar wie Geld, das den Verkehr regelt, sondern etwas, das seine Bestimmung verliert, wenn es den Besitzer wechselt. Handeln als Erkennen, Erkennen als Handeln im weiteren Sinne oder Handeln und Erkennen im engeren Sinne beschreiben jedoch nur eine Seite im Prozess des sich progressiv entfaltenden absoluten Gegensatzes: Vernunft-Natur. Natur und Vernunft modifizieren sich wechselseitig aneinander, sodass man auch von den „Handlungen der Natur auf die Vernunft" reden kann. So „gewiß sie [die Ethik, S. S.] wissenschafdiche Darstellung des menschlichen Handelns ist, so gewiß ist sie die ganze Eine Seite der Philosophie, der nur noch Eine andere gegenübersteht" (BrEthBI 10) 8 - diese andere „Realwissenschaft" ist die Physik. 9 Beide „Realwissenschaften" teilen sich, den zwei sich ergänzenden Wissens- bzw. Theorieformen entsprechend, wiederum in einen eher empirischen und einen eher spekulativen Teil. Auf diese Weise ergibt sich eine viergliedrige Struktur der Realwissenschaften: Der spekulativen Physik steht die empirisch vorgehende Naturkunde oder Naturgeschichte gegenüber, der spekulativen Ethik die empirische oder erfahrungsorientierte Geschichtskunde.

Vgl. auch E m I 7, § 18. Unter Physik subsumiert Schleiermacher die gesamte theoretische Naturwissenschaft. Dieser weite Begriff von Physik ist in dieser Zeit durchaus üblich. So findet man zum Beispiel in Meufels Geschichte der Gelehrsamkeit die Chemie und Physiologie der Physik untergeordnet (die Medizin jedoch nicht).

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (1)

301

Alle Ethikvorlesungen gliedern sich in eine allgemeine Einleitung und die drei Haupteile einer Güter-, Tugend- und Pflichtenethik. 10 Mit dieser Dreiteilung der Ethik unterscheidet Schleiermacher keine Gegenstandsbereiche des Sittlichen, sondern drei Ebenen, oder man könnte auch formulieren, drei Perspektiven auf den Prozess der erscheinenden Vernunft, die jede für sich den ganzen Prozess in Augenschein nehmen, jedoch auf eine spezifische Art. Die Güterlehre richtet sich auf „Güter" oder auf die „Produkte" der Handlung, auf das, was durch einzelne Handlungen entstanden ist und seinerseits zukünftige Handlungen bestimmt. Der Begriff des Gutes ist dabei am ehesten vergleichbar mit dem ökonomischen Ausdruck des Gutes (KGA I I I , Über den Begriff des höchsten Gutes (I), 545). Das, was durch einzelne Handlungen geworden ist, ist jedoch nie das Werk eines einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, und deshalb ist die Güterlehre diejenige Betrachtungsweise, die Sittlichkeit nicht nur bezogen auf den einzelnen, sondern auch auf die Gemeinschaft thematisiert. Schleiermacher bezeichnet diese Ebene des Sittlichen dementsprechend auch als „sittlichen Makrokosmos". Ein Gut kann ein ganz konkreter Gegenstand sein, aber auch und vor allem eine Form menschlichen Zusammenlebens. Gegenstand der Güterlehre sind daher neben der Analyse der einzelnen vernünftigen Tätigkeiten die so genannten „ethischen Formen", Gemeinschaftsformen oder institutionalisierte Handlungskomplexe. Jeder der vier grundlegenden Tätigkeiten ordnet Schleiermacher eine spezifische Form der Gemeinschaft oder eine „ethische Form" zu: dem identischen Organisieren entspricht die Gemeinschaftsform des Staates - dem individuellen Organisieren die Gemeinschaftsform der freien Geselligkeit. 11 Das identische Symbolisieren bildet in der Wissenschaft oder Akademie ihre Gemeinschaftsform und das individuelle Symbolisieren bildet sich in seiner religiösen Variante in der Kirche. Neben diesen vier Formen bestimmt Schleiermacher die Familie als die alle ethischen Formen nicht umfassende, aber insofern einende ethische Form, als sie in sich alle vier Tätigkeiten verbindet. Die einzelnen Erscheinungsformen von Staat, Akademie, Kirche, freier Geselligkeit und Familie müssen dabei als Individuen verstanden werden, die sich voneinander unterscheiden, die aber weder aneinander angeglichen noch zugunsten der vermeintlich „besten" ethischen Form aufgegeben werden sollen. Ihre Einheit kann nur in derjenigen Form der Gemeinschaft bestehen, in der, wie in der Personengemeinschaft, jeder einzelnen Erscheinungsform der ihr unverwech-

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11

Eine eigene Fassung der Einleitung findet sich lediglich in den nahezu vollständigen Entwürfen des BrouiUon r^ur Ethik und den Notizen zur Vorlesung von 1812/13 sowie in dem Manuskript von 1816/17. Die Zuordnung der freien Geselligkeit ist bei Schleiermacher ähnlich wie die der Familie nicht eindeutig vorzunehmen - denn sie kann auch dem individuellen Symbolisieren zugeteilt werden, vgl. dazu BrEthB 1 53.

302

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

seibare Platz zukommt. 12 Das Ziel aller ethischen Anstrengung kann aus der Perspektive der Güterlehre als „höchstes Gut" beschrieben werden, das jedoch kein einzelnes Gut, sondern die vollkommene oder gelungene Organisation aller Güter darstellt. 13 Im Gegensatz zur Güterlehre wendet sich die Tugendlehre nicht der Form menschlicher Gemeinschaft, sondern dem Individuum zu und thematisiert den „sitdichen Mikrokosmos" (EthBl 17, § 100). Sie bestimmt das ethische Vermögen der Vernunft in der einzelnen Persönlichkeit oder die Ethik von Seiten des Individuums, seiner Kraft oder Haltung, die allem Handeln zugrunde liegt. 14 Die Pflichtenlehre ist der Teil der Ethik, der sich der einzelnen konkreten Handlung zuwendet, die „Darstellung des vernünftigen Momentes [ . . . ] des unendlich Kleinen, des Elementes im sittlichen Prozeß" (EthBI 18, § 101). Indem sie sich dem einzelnen Moment zuwendet, behandelt sie vorrangig die Frage Was soll ich tun? und untersucht die Bedingung der Möglichkeit und die mögliche Form von Pflichtformeln. Hat jede dieser drei Ebenen des Sittlichen den vollständigen Prozess der sich verwirklichenden Vernunft im Blick und muss in vollendeter Form als vollständige Ethik betrachtet werden 15 - wozu bedarf es dann überhaupt einer dreifachen Perspektive? Die Dreiteilung der Ethik ist ein Zugeständnis an den progressiven oder werdenden Charakter der Ethik. Hätten wir einen vollständigen Überblick über das Sittliche, so würde eine Tugendlehre, eine Pflichtenlehre und eine Güterlehre für sich allein ausreichen, die Handlungen der Vernunft wissenschaftlich zu untersuchen. Im unvollendeten Prozess ist jedoch jede Perspektive begrenzt und nur im Alternieren der Frage von Was ist ein Gut? - Was ist eine Tugend? - Was ist Pflicht? wird Orientierung möglich, da die sittliche Weltbildung bedingt ist sowohl

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14 10

Vgl. BrHthB 1 25f. Indem Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre verschiedene Perspektiven auf ein und denselben Prozess darstellen und zwar derart, dass, wenn alle Tugenden erreicht und alle Pflichten erfüllt sind, auch alle Güter geschaffen sind - setzt Schleiermacher sich deutlich gegen Kants Entwurf des höchsten Gutes ab. Bei Kant wird das höchste Gut als Zusammenfallen von Vollkommenheit und Glückseligkeit gefasst, deren Realisierung jedoch nicht in menschlicher Gewalt steht, der Mensch darf lediglich hoffen, dass sein moralisches Handeln vom Glück begleitet wird, dessen er sich würdig erwiesen hat. Im Gegensatz zur Kantischen Philosophie wird von Schleiermacher das höchste Gut mit dem Prozess des Sittlichen so verwoben, dass die Realisierung des Sittlichen und die Realisierung des höchsten Gutes ein und dasselbe ist. (Vgl. dazu vor allem B E R ß E N 172ff.). Die Güterlehre und mithin das höchste Gut auf die Gemeinschaft und nicht allein auf den einzelnen Menschen zu beziehen, darin sieht Schleiermacher den wesentlichen Unterschied zu den Ethiken der Antike, die ebenfalls als Güterlehren angelegt sind, vgl. dazu K G A I I I , Ober den Begriff des höchsten Gutes, 547) Vgl. KGA I I I , Ober die ivissenschaftüche Behandlung des Tugendbegriffs, 321. Vgl. EOB1 221, § 117: „Wenn alle Güter gegeben sind, müssen auch alle Tugenden und alle Pflichten mit gesezt sein; wenn alle Tugenden, dann auch alle Güter und Pflichten; wenn alle Pflichten, dann auch alle Tugenden und Güter." Vgl. auch KGA I 11, Ober die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs, 320f. u. EtbBI 220 § 113ff.

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (1)

303

durch die institutionalisierten Gemeinschaftsformen, die innere moralische Haltung als auch durch die handlungsanweisenden Maximen. Unter diesen drei Ebenen verleiht Schleiermacher der Güterlehre jedoch ein besonderes Gewicht. 1 ^ Sie ist in ihrer unvollendeten Gestalt am selbständigsten, da sie sich nicht nur den Tätigkeiten selbst, sondern auch dem Produkt der Handlung zuwendet und dadurch zum einen überhaupt erst die Frage aufwirft, ob gutes Handeln auch gelingt und wenn ja, wie. 17 Zum anderen „Kommt doch das meiste von dem was in der menschlichen Welt geschieht, und auch unser Leben bedingt und bestimmt, nicht durch unsere und anderer Einzelner sittliche Weltbestimmungen und pflichtmäßiges Handeln zu Stande, sondern auf eine andere Weise [...]" (KGA I 11, Über den Begriff des höchsten Gutes, 540) - nämlich durch Güter, die ja nicht nur Produkte von Handlungen sind, sondern als historisch gewachsene Formen sittlichen Zusammenlebens Handlung wiederum determinieren. In der anschließenden Tabelle wird der strukturelle Aufbau der Ethik noch einmal im Überblick gegeben.

^

Die gewichtige Bedeutung der Güterlehre schlägt sich auch in der Darstellung nieder, denn die Tugend- und Pflichtenlehre liegen eher fragmentarisch vor. Dieser Umstand kann auch durch die Akademieabhandlungen nur zum Teil kompensiert werden, die eher Aufschluss über die Anlage als über die konkrete Ausführung dieser zwei letzten Teile geben. Schleiermacher hielt mehrere Akademieabhandlungen zu ausgesuchten Problemen bzw. Teilen der Ethik: Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (1819), Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pßchtbegriffs (1824), Ober den Unterschied fischen Naturgest% und Sittengesefi? (1825), Über den Begriff des Erlaubten (1826). Den Abschluss bilden die zwei Abhandlungen Über den Begriff des höchsten Gutes (1827 u. 1830).

17

Vgl. EthBl 16, § 87ff. u. BthBl 224, § 122. Vgl. auch K G A 1 11, Über den Begriff des höchsten Gutes, 541: „Darum habe ich mich auch in alle diese herrlichen Lobpreisungen niemals finden können, wie wohl und voll sie auch klingen von einer Pflichtmäßigkeit des Handelns, welche gar nicht daran denke, was dabei herauskommt oder nicht, und von einer Tugend, welcher gar nichts darauf ankommt, ob das auch gelingt und wohl geräth, woran sie sich setzt, oder nicht, sondern dieses, wie es nun eben jeder meint, dem Zufall oder der göttlichen Vorsehung anheimstellt." Vgl. auch KGA I I I , Über den Begriff des höchsten Gutes, 537f.

304

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

Ethik W i s s e n s c h a f t der H a n d l u n g e n der V e r n u n f t auf die N a t u r = E r k e n n e n im weiteren Sinne

I. Güterlehre a)

Symbolisieren = E r k e n n e n im engeren Sinne

Tätigkeiten

individuelle Tätigkeit

identische Tätigkeit

individuelles Symbolisieren

identisches Symbolisieren

= Kunsttätigkeit

= Wissen

individuelles Organisieren

identisches Organisieren

Organisieren = H a n d e l n im engeren Sinne b)

ethische F o r m e n 1 universal

individuell

Sich-Aneignen

Kirche freie Geselligkeit

(Kunst)

Akademie

(Familie) G e m e i n s c h a f t bilden

Familie

Staat

II. Tugendlehre belebende T u g e n d e n

| bekämpfende Tugenden

erkennende Tugenden

Weisheit

Besonnenheit

|

handelnde Tugenden

Liebe

Beharrlichkeit

|

III. Pflichtenlehre individuell

universal

Sich-Aneignen

Gewissenspflicht

Berufspflicht

G e m e i n s c h a f t bilden

Liebespflicht

Rechtspflicht

Abb. 4

Aufbau der Ethik

|

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (1)

305

5.1.2. Die Wechselwirkung der Tätigkeiten Sowenig wie die einzelnen Formen des Denkens, Begriff und Urteil, streng voneinander getrennt werden können und wechselseitig auseinander hervorgehen, lassen sich die Formen des Handelns der Vernunft fur Schleiermacher streng voneinander unterscheiden. Sie treten immer aneinander auf und können sich nur im wechselseitigen Bezug aufeinander entfalten. 1 ^ Jedes Organ ist zugleich immer auch Symbol und jedes Symbol ist immer auch Organ. 19 Erst durch ein Aneignen der Welt durch einen handelnden Umgang mit der Natur wird das Chaos der Natur eine strukturierte, wirkliche Welt. Und umgekehrt wird die Welt „auch wieder erst dadurch, daß sie erkannt wird, aneignungs fähig" (BrEthBl 28). Die beiden Hauptfunctionen der Vernunft, die organisirende und die erkennende, sind in der Realität nicht getrennt, sondern jeder Act wird nur a parte potiori unter Eine besondere subsumirt, denn mit dem Organbilden wird das Erkennen, und durch jedes Erkennen ist ein neues Organ gesezt. So wird auch mit jeder Darstellung ein Erkennen, und jedes Organ ist zugleich ein Symbol. Wir müssen sie aber isoliren durch Abstraction, aber nicht durch bewußdose, um hernach desto vollkommener zur lebendigen Anschauung zu kommen. Wie beide in der Realität verbunden sind, so gibt es in der wissenschaftlichen Darstellung keine wahre Priorität zwischen beiden, indem Organe nur gebildet werden durch den Gebrauch und Erkennen nur stattfindet vermittelt durch Organe. (E/hBl 19, § 6,7,8)

Jedes Erkennen impliziert immer zugleich einen Umgang mit dem Erkannten, ein „Zum-Werkzeug-" oder „Zum-Eigentum-Machen". Gleichzeitig können wir nichts verwenden, ohne es in der Verwendung nicht auch (neu) zu bestimmen. Oder anders formuliert: Wir wissen nicht, was etwas ist, wenn wir nicht auch wissen, wofircs ist; und ohne zu wissen, was etwas ist, können wir es nicht ψ etwas einsetzen. Jedes Erkennen setzt ein Gehandelt-Haben, ein Mit-etwasumgegangen-Sein voraus, so wie jedes Handeln als der Umgang mit Etwas, die Erkenntnis dieses Etwas voraussetzen muss. Jede Kenntnis des Was schließt auch immer eine Kenntnis des Wie bzw. des Wo^u ein. Ein Wissen, dass nicht auch einen möglichen Umgang mit den Dingen ausdrückt, eine „pure" Kenntnis des Was, die keine Kenntnis des Wo^u enthält, gibt es nicht. Je komplexer unsere Kenntnis der Dinge wird, je mehr Dinge -wir kennen, desto komplexer und vielfältiger werden unsere Handlungsmöglichkeiten. Und je komplexer sich der Umgang mit den Dingen gestaltet, desto mehr differenziert sich ihre Bestimmung. Jedes Handeln impliziert immer auch einen Erkenntnisakt, so wie jedes Erkennen

^

19

Vgl. Brtthßl 12: „Diese Wechselwirkung von Einsehen und Darstellen ist die Oscillation des sittlichen Lebens, und keins von beiden kann ohne das andere gedacht werden. Den Prozeß dieser Operation und die Vermittelung dazu muß sich die Vernunft erst bilden." Vgl. auch ΗΛΒ1 14, § 74.

306

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

auch unter seinem Handlungsaspekt betrachtet werden kann. Jedes Handeln setzt ein Erkennen voraus, jedes Erkennen ein Handeln. 2 0 In einer derartigen Wechselbeziehung stehen auch die beiden individuellen und identischen Formen beider Tätigkeiten der Vernunft. Denn jede individuelle Tätigkeit ist ein Veräußern und setzt ein Minimum an Übertragbarkeit und Identität der Tätigkeit voraus, so wie jede identische Tätigkeit von einzelnen Personen nicht anders als auf individuelle Weise ausgeführt werden kann. Wie aber auch der vorige Gegensaz nicht rein war, sondern in jedem wirklichen Lebensmoment Erkennen und Organisiren beisammen ist, so ist auch nicht etwa das Eigenthümliche etwas zur identischen Natur Hinzukommendes, noch umgekehrt, sondern es ist die Natur selbst, welche sich in jedem eigenthümüch gestaltet, und das Eigenthümliche selbst, in welchem sich das Identische manifestirt. (AstL 9)

Im Gegensatz zu allen Organen, die auf identische Weise „hergestellt" wurden, kann das individuelle Eigentum weder durch Geld noch durch Überredung (Geld und Sprache bilden die Verkehrseinheit des identischen Organisierens) übertragen werden. Denn Eigentum ist eben eigentümlich und derart an diejenige Person gebunden, die es organisiert oder hergestellt hat, dass es beim Einritt ins Tauschgeschäft seinen Charakter verliert. Wäre Eigentum jedoch vollkommen eigentümlich, dann würde anderer Leute Eigentum niemanden interessieren, was ja offensichtlich nicht der Fall ist. Keine Aneignung der Natur, kein Organ kann so eigentümlich oder individuell sein, dass es nicht auch wieder zum Organ für andere werden könnte. U m den unübertragbaren-übertragbaren oder individuellidentischen Charakter von Eigentum zu verdeutlichen, könnte man sich ein Restaurant vorstellen, das durch die Persönlichkeit des Betreibers geprägt wird. Möchte jemand dieses gut laufende Restaurant erwerben, so erwirbt er das, was kaufbar an diesem Objekt ist, aber er hat keinerlei Garantie dafür, dass das Restaurant weiterhin gut laufen wird. Denn die Atmosphäre, die den eigentümlichen Ort ausmachte und vielleicht das Erfolgsrezept war, ist mitunter an den alten Betreiber gebunden. Allerdings kann man sich auch vorstellen, dass es einen Käufer gibt, der für eben diese eigentümliche Atmosphäre Sinn hat und diese Atmosphäre weiter zu führen versteht. Organe müssen jedoch nicht so materialisiert verstanden werden, wie in diesem Beispiel. Auch die mehr oder weniger individuelle Bildung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten einer Person und die Bildung von Gemeinschaftsstrukturen fallen in den Bereich des Organisierens. Als Beispiel für das identische Organisieren, das sich eben durch Tausch oder Austauschbarkeit charakterisiert, könnte man an einen vom Staat bezahlten Staatsdiener denken, der ein Visum 20 Anders als bei Spinoza können Handeln und Erkennen jedoch nicht als zwei Perspektiven auf ein und dieselbe Tätigkeit verstanden werden, sondern als zwei tendenziell unterscheidbare, sich wechselseitig bestimmende Tätigkeiten, die erst in ihrer Vollendung, d. h. im Unendlichen zusammenfinden.

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (1)

307

ausstellen soll. Von allen Beamten auf demselben Posten ist zu erwarten, dass sie diese Handlung auf identische Weise vornehmen. Zugleich kann das Verwaltungs- und Rechtssystem, mit dem die Handlung konform sein soll und das die Austauschbarkeit dieser Tätigkeit garantiert, nicht mehr sein als ein vorgegebener Spielraum, der von jeder Person auf individuelle Weise ausgefüllt werden muss. Die Wechselbeziehung von individuellem und identischem Symbolisieren kennzeichnet die Beziehung von Religion und Wissen bzw. von Kunst und Wissen. Das individuelle Symbolisieren ist wie das identische Symbolisieren Erkennen, „es ist Bewußtsein vom Verhältnis des Menschen in der Welt" (ÄstL 10). Es hat somit in letzter Konsequenz keinen anderen Gegenstand als das Wissen, erkennt jedoch an den „Rändern" des Wissens, indem es Symbole für das hervorbringt, was wissend nicht eingeholt werden kann: das Individuelle und das Absolute. Modus des individuellen Symbolisierens ist nicht das Denken, sondern das unübertragbare individuelle Gefühl. 21 „Nemlich die Individualität ist etwas durch den Gedanken nicht Erreichbares." (BrEthBl 50) 22 Dass das identische Symbolisieren den Anspruch des Identischen nie ganz einlösen kann und in der Realität immer auch ein individuelles Denken und Sprechen ist, wurde in der Dialektik und Hermeneutik von Schleiermacher hinreichend begründet. Mit dem Äußerlich- und Darstellbar-Werden des unübertragbaren individuellen Gefühls ist im Gegenzug immer auch ein minimaler Anteil an Allgemeinheit gegeben, denn etwas Unübertragbares lässt sich nicht darstellen, sondern verbleibt innerlich: Wie nun das unübertragbare Gefühl nothwendig zugleich wieder äußerlich wird und den Charakter der Gemeinschaft annimmt, so muß auch das allgemeingültige Denken wieder den Charakter der Eigenthümlichkeit annehmen. (BrEttiBl 24)

Das Problem der Mitteilung - sogar des ursprünglich im Gefühl angelegten Mitteilen-Wollens und des Gemeinschaft-Suchens, eines eigentlich Unübertragbaren - beschäftigt Schleiermacher bereits in den Keden über die Religion, ohne dass er dort soweit ginge, ein Wechselverhältnis von Religion und Wissenschaft auszusprechen. Anders als das Denken veräußert sich das Gefühl (in erster Linie) nicht

22

Kann das individuelle Symbolisieren den ersten Charakter des Wissens, die von allen gemeinsam m vollziehende Konstruktion, nicht erfüllen (es ist eben nicht identisches, sondern individuelles Symbolisieren), so strebt es in künstlerischer Form als Darstellung eines Ideals in einem höheren Sinne eine Übereinstimmung des Symbols mit dem Sein an. Das Ideal vervollständigt die nur lückenhafte und mangelhafte Hrscheinung, ist daher ganz bewusst Erfindung und weicht so von diskursiver, in wechselseitiger Bestätigung von Erfahrung und Theorie entworfener,.Wirklichkeit" ab. Indem sie jedoch die mangelhafte Erscheinung zum „inneren Typus" ergänzt, stellt sie eine Art „höhere Wirklichkeit" dar. Vgl. auch DiätKGA II 10/1, 20, Nr. 103: „Das Wissen ist als allgemeingültig gesezt. Anderes Denken kann nicht Wissen werden; daher Kunst Gegensaz. Beschränkung durch Individualität gehört nicht hierher. - Die Identität der Person braucht also gar nicht zu irren."

308

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

in Sprache, sondern im Medium von Ton und Bewegung. 23 Die Übertragbarkeit des Gefühls in der Darstellung oder seine Verständlichkeit beruht, was die einfache Gefühlsäußerung angeht, daher nicht auf einem gemeinsamen Zeichensystem, sondern auf dem gemeinsamen Leben oder der mehr oder weniger gemeinsamen Lebensart (Schleiermacher formuliert „Volkstümlichkeit"), die den Interpretationshintergrund für beispielsweise eine Geste abgibt, in der ein Gefühl zum Ausdruck kommt. Findet das Gefühl jedoch keinen unmittelbaren Ausdruck, sondern einen in und über Kunst vermittelten Ausdruck, dann bildet diesen Interpretationshintergrund nicht nur die Volkstümlichkeit, sondern eine Art Kunstoder Formensprache, also im weitesten Sinne wiederum ein Zeichensystem. Schleiermacher scheut sich davor, den Ausdruck der Formensprache oder „Sprachen der Kunst" zu verwenden, klar wird in den ästhetischen Vorlesungen jedoch, dass der Künstler in seiner Formensuche nicht jedes Mal im luftleeren Raum beginnt, sondern sich auf die Kunsttradition bezieht, die er wie eine Sprache anwendet und mit der Anwendung zugleich modifiziert. Indem sich im Sprechen und Denken ein Individuum ausspricht, ist jedes identische Symbolisieren zugleich immer zu geringem Anteil auch ein individuelles Symbolisieren. Indem individuelles Symbolisieren verständlich ist und sich auf eine gemeinsame Lebensform oder eine gemeinsame Kunstsprache bezieht, ist es auch immer zu einem geringen Anteil ein identisches Symbolisieren. Gegen diesen lezten Nachweis könnte man einwenden, die Darstellung müsse eigentlich unverständlich sein, w e n n sich T o n und Geberde zum unübertragbaren eigenthümlichen Gefühl verhalten sollen wie Sprache zum Denken. Allein dieser Gegensaz ist auch nur relativ, und in der Wirklichkeit immer beide Glieder vereint, wie denn auch die Sprache nur in gewissen Grenzen, und innerhalb dieser in sehr verschiedenen Graden verständlich ist. So sind auch jene Aeußerungen des Gefühls vollkommen verständlich nur, w o eine wahre Identität des Lebens stattfindet, im vollkommensten Zusammensein; im gewissen Grade aber verständlich auf jeder Basis einer Gemeinsamkeit von Eigenthümlichem, am meisten der natürlichen, nämlich Volksthümlichkeit. Außer diesen Grenzen mit der Verwandtschaft abnehmend, immer unverständlicher und fremder. ( Ä s t L 12)

5.1.3. Die Wechselwirkung der Wissenschaften als Streitgespräch um den Begriff der Welt Die zentralen Aussagen zur Wechselwirkung der Wissenschaften finden sich nicht in der Dialektik, sondern in den Einleitungen der Ethikvorlesungen, die den Wissensbegriff der Dialektik einzelner Sätze und Theorien nicht nur innerhalb einer Wissenschaft, sondern auch das Verhältnis der einzelnen Wissenschaften untereinander deuten. Die Forderung nach der Wechselwirkung der Wissenschaf23

VghAtfLlO.

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ten ergibt sich aus dem für alle Wissenschaften grundlegenden Wissens- und Weltbegriff Schleiermachers. Jedes reale Wissen - das übernimmt die Ethik aus der Dialektik - ist ein relatives, von Gegensätzen bestimmtes, sich permanent im Streit befindendes Denken. Kein Begriff kann isoliert für sich „zum vollkommenen Wissen gebildet werden; denn um dies zu sein, muß er bezogen sein auf den Zusammenhang des Wissens, und d. h. es muß aus dem Begriff herausgegangen sein" {DialKGA II 10/2, 601). Die Totalität des Wissens ist jedoch nichts anderes als der vollständig entfaltete Begriff der Welt. Auch die einzelnen Wissenschaften haben in letzter Hinsicht immer Welt zum Gegenstand, und in diesem gemeinsamen letzten Gegenstand ist das Über-sich-Hinausgehen jeder Wissenschaft und das ewige Streitgespräch der Wissenschaften untereinander angelegt. Denn die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaftsgebiete greifen in den seltensten Fällen ineinander wie Puzzleteile eines in sich konsistenten komplexen Wissens von Welt, sondern widersprechen sich, stellen einander in Frage, formen einander um. Nur wenn die Physik gleichmäßig fortgeht, wird die Ethik als Wissenschaft; sonst besteht sie nur durch das Interesse am Gegenstand, also zufällig. W o Ein Theil der Weltweisheit aufgehoben wird, da ist kein Leben der Wissenschaft, und der gesezte und angebaute Theil m u ß auch verderben. Daher ist die Sittenlehre zu keiner Zeit besser als die Naturwissenschaft, und es giebt eine fortwährende Gleichmäßigkeit in beiden. (EthBl 207,§ 68f.)

Die einzelnen Wissenschaften stehen aber nicht dem Gegenstand nach (als Streitgespräch um den Gegenstand Welt), sondern auch ihrer Form nach in Wechselwirkung. Das reale Wissen ist tendenziell immer mehr dem „Realen" oder „Idealen" zugewendet und kann sich nur durch permanente Wechselwirkung der tendenziellen Formen des Denkens einem Wissen annähern. Dies gilt jedoch nicht nur innerhalb einer Wissenschaft für die elementare Ebene, also im Austausch von Wahrnehmung und Denken oder urteilendem und begrifflichem Denken, Wissenskonstruktion und -kombination, sondern ebenso für die Systematisierung des Wissens, d. h. für die Beziehung der einzelnen Wissenschaften untereinander: Jedes besondere Wissen, also auch die Systeme desselben, d. h. die realen Wissenschaften, stehn unter der Form des Gegensazes. (EthBI 8, § 22 L e m m a 4)

Dies kündigt sich einerseits in der Pluralität der Ausprägungen einer wissenschaftlichen Disziplin an, 2 4 andererseits auch in der notwendigen und konstitutiven Wechselwirkung zwischen eher empirischen und eher spekulativ vorgehenden Wissenschaften. Ethik und Geschichtskunde, Physik und Naturkunde stehen einander als „relative Gegensätze" gegenüber, die aufeinander verweisen, sich 24

Vgl. £>/JBI 1816/17 9, § 35: „So lange die Wissenschaft unvollendet ist, existirt sie auch in mannigfaltigen Gestalten, von denen keine allgemeingültig sein kann." Vgl. auch ErfiBl 1812/13 9, § 31: „Vor dieser Identität [der beiden Realwissenschaften, S. S.] ist daher jede Wissenschaft unvollkommen, durch den Zustand der andern bedingt und in eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen zerfallen."

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

aufeinander berufen, sich aneinander erproben, ohne ineinander vollkommen aufgehen zu können. Geschichtslehre und Sittenlehre, so formuliert Schleiermacher in der Ethikvorlesung von 1816/17, sind einander wie Bilderbuch und Formellehre, die je ein eigenes Interesse verfolgen und deshalb weder zu einer „angewandten Sittenlehre" noch zu einer „beschaulichen Geschichtskunde" verschmelzen können. 2 -' Zugleich finden sie aneinander ihr Pendant und müssen sich wechselseitig aneinander bewähren: Die Geschichtskunde wendet sich beschreibend dem Prozess der erscheinenden Vernunft zu, für die die Ethik das Gesetz der Bewegung formulieren soll. Da das Gesetz seinen Erscheinungsformen nicht völlig indifferent gegenüber stehen kann, ist eine „sogenannte reine Sittenlehre", die jenseits und in Absehung von aller geschichtlichen Erscheinung von Sittlichkeit entworfen wird, ein „leerer Gedanke" (J3/ABI 216, § 106). Will man diese Formulierung ergänzen, in der Schleiermacher in subtiler Polemik die bekannte Formel aus der Kritik, der reinen Vernunft aufnimmt, um sich mit ihr gegen Kants praktische Philosophie auszusprechen, könnte man fortfahren: eine so genannte „reine" Geschichtskunde, die glaubt rein beobachtend vorgehen zu können, ist „blind". 2 ^ Eine moderne Version dieser wechselseitigen Voraussetzung von den historisch oder empirisch und den spekulativ-philosophisch vorgehenden Wissenschaften, die sich sogar der gleichen Formulierung bedient und davon zeugt, wie schwer sich diese Einsicht durchzusetzen scheint, 27 findet sich bei Lakatos, der das Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie auf die Formel bringt: „Wissenschaftsphilosophie ohne Wissenschaftsgeschichte ist leer; Wissenschaftsgeschichte ohne Wissenschaftsphilosophie ist blind." (LAKATOS 56). 28 Schleiermachers Entwurf dieser Wechselbeziehung spricht sich jedoch nicht erst und nicht nur in den Ethikvorlesungen aus, sondern findet sich bereits in der kleinen frühen Schrift Über den historischen Unterricht von 1793, die erst 1957 unter Über den Geschichtsunterricht in der kritischen Gesamtausgabe vollständig abgedruckt

25

27

28

Vgl. Ea6BI217,§ 108. Vgl. RtbB1 217, § 108: „Angewandte Sittenlehre und beschauliche Geschichtskunde sind zusammengehörige Mißverständnisse; reine Sittenlehre und reine Geschichtskunde sind zusammengehörige Nichtigkeiten. Sittenlehre und Geschichtskunde bleiben immer für sich selbst gesondert; für einander sind sie die Geschichtskunde das Bilderbuch der Sittenlehre, und die Sittenlehre das Formelbuch der Geschichtskunde." Vgl. auch E/iBl 1816/17 217, § 108: „Die Sittenlehre mag noch so weit in das Einzelne ausgeführt werden, so wird sie doch nie Geschichtskunde; sondern beide bleiben immer außer einander, und keine wird je nur das entgegengesezte Ende der andern." Lothar Schäfer sieht in dem großen Einfluss der analytischen Wissenschaftstheorie mit ihrem statischen Wissenschaftsbegriff den Grund dafür, warum erst in den sechziger Jahren erkannt wird - man müsste ergänzen: wieder erkannt wird - wie eng verflochten Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte sind (vgl. SCHÄFER 12). Auf diese Nähe von Lakatos und Schleiermacher weist bereits G. Scholtz (SCHOLTZ 1991, 179).

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wurde. 29 In der im Rahmen des Lehramtstudiums angefertigten Abhandlung Über den historischen Unterricht geht Schleiermacher der Frage nach, wie die bisher betriebene Geschichtsschreibung zur Wissenschaft werden kann (und wirft somit eine Fragestellung auf, die in der Regel erst Mitte des 19. Jahrhunderts Droysen mit seinen Vorlesungen zur „Historik" (1857-1883) zugesprochen wurde). 30 Geschichtskunde ist eine empirisch vorgehende Wissenschaft, die geschichtliche Daten aufzeichnet, sie in einem geschichtlichen Gesamtzusammenhang einordnet und somit deutet. Der Entwurf eines geschichtlichen Zusammenhangs ist dabei ebenso sehr auf das Vorliegen von Daten und Fakten angewiesen wie Formulierung und Auswahl der Daten und Fakten auf das Bestehen eines Interpretationsrahmens in Form einer Theorie oder in Form von Begriffen. Der Versuch, Geschichtsschreibung als eine rein chronologische Ansammlung von Fakten zu verstehen (wie in der chronographischen Geschichtsschreibung), wäre von Schleiermachers Position aus nicht nur von wenig Interesse, da sie zu keiner Gesamtdarstellung gelangt, sondern auch naiv, insofern selbst die Auswahl von Fakten bereits einen theoretischen Vorgriff impliziert. 31 Die Darstellung der Geschichte, so bestimmt Schleiermacher in der frühen Abhandlung, soll daher versuchen, unparteilich zu sein, wobei Unparteilichkeit nicht Objektivität meint, sondern Reflektion auf den und Offenlegung des eigenen subjektiven Standpunkts, der zugleich eine Pluralität der Betrachtungsweisen beinhaltet. 32 Ebenso obsolet wie die chronographische Geschichtsschreibung, dem „geistesdumpfen Zustand antiquarischer Faktensammlung", ist jedoch die Übergewichtung des theoretischen Überbaus oder „abstrakter Ideengerüste", „die keinen Anhalt an der historischen Welt besaßen" (NOWAK 1991, 439) oder die didaktische Uberformung der Geschichte, wie sie in der pragmatischen Geschichtsschreibung der Aufklärung praktiziert wurde. Denn die Beschreibung des Geschehenen ist nicht beliebig und vollkommen abhängig von der jeweiligen „Theorieschablone", mit der wir auf die Geschichte sehen.

29

30 31

32

Vgl. KGA 1/1, 487-497. Im Gegensatz zu Schleiermachers Hermeneutik, deren Bedeutung als Methodenwissenschaft für die Geistes- und mithin auch für die Geschichtswissenschaft immer wieder gewürdigt wurde, wurde und wird Schleiermachers Geschichtsbegriff kaum beachtet (vgl. J O R D A N 188f u. N O W A K 1991, 419). Zum Geschichtsbegriff vgl. neben Jordan und Nowak vor allem W. Grab (GRÄB 1980). Entscheidende Bemerkungen zur Geschichte finden sich darüber hinaus in der Schrift Kurie Darstellung des theologischen Studiums spm Behuf einleitender Vorlesungen von 1811 sowie in den Vorlesungen zur Kirchengeschichte und den Akademiereden über den Begriff der Hermeneutik und Kritik. Vgl. HEDINGER, 1133. Dies macht Schleiermacher nicht in der frühen Abhandlung, aber in der Akademierede über den Begriff der Hermeneutik und über den Begriff der Kritik im Kontext der historischen Kritik deutlich. Dies ist nach Jordan ( J O R D A N 192) völlig untypisch für das historische Denken des 19. Jahrhunderts.

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

Indem auch die Geschichtskunde (reflektiert oder unreflektiert) immer einen theoretischen Vorgriff machen muss, um überhaupt erst einmal Fakten als Fakten zu bestimmen, und einen Begriff vom Menschen, von Mann und Frau, von Familie, von Arbeitsformen, vom Staat, Ständen oder politischen Klassen usw. zugrunde legt, steht sie in enger Wechselwirkung mit der Ethik. Derjenige, der eine marxistische Deutung des Menschen und der ihn bestimmenden Arbeitsverhältnisse zugrunde legt, wird andere Fakten und Daten bemerken, auswählen und anführen, als derjenige, der von einer christlichen Weltdeutung ausgeht. Und nur indem sich auch Fakten und Daten gegen Theorien und Begriffe aussprechen können, kann auch die Geschichte oder Geschichtskunde zur Korrektur der Ethik werden, deren prinzipielle Historizität sich darin ausspricht. Daher ist die Sittenlehre zu keiner Zeit besser als die Geschichtskunde, und es giebt eine fortwährende Gleichmäßigkeit zwischen beiden. (HthUl 207, § 72)

In der gleichen wechselseitigen Abhängigkeit stehen die Physik als theoretische und die Naturkunde als empirische Naturwissenschaft. 33

5.1.4. Die Wechselwirkung der Tätigkeiten und ihre Bedeutung für die Wechselwirkung der Wissenschaften Die notwendige Wechselwirkung der Wissenschaften, die Schleiermacher in den Ethikvorlesungen ausführt, findet ihre Begründung im „Totalzusammenhang" des Wissens, der wie ihr Gegenstand Welt immer im Werden ist und aus dessen Gesamtgefüge sich kein Teilbereich isolieren lässt, der nicht alles andere Wissen voraussetzt und zugleich bestimmt. Wissen ist jedoch nur eine Form der erscheinenden Vernunft und die Forderung nach der Wechselwirkung der Wissenschaften ließe sich auch von einer anderen Seite aus erheben, nämlich ausgehend von der Wechselwirkung der allen Wissenschaften zugrunde liegenden vernünftigen Tätigkeiten. Da keine Tätigkeit von der anderen streng getrennt werden kann und immer Aspekte der anderen Tätigkeiten an sich trägt, muss jede Wissenschaft, die ja eine spezifische Tätigkeit zum Gegenstand hat, auch immer Fragestellungen anderer Wissenschaften aufnehmen und weiterdenken. Der Frage, ob und wenn ja welche konkrete Bedeutung die Wechselwirkung der Tätigkeiten für die einzelnen Wissenschaften haben 33

Naturkunde bei Schlciermacher umfasst meines Rrachtens nicht nur die Naturgeschichte (unter die man mit Kant die Astronomie zählen könnte, aber auch Wissenschaftszweige wie die Geographie, Archäologie und Abstammungskunde), sondern auch die Naturbeschreibung und die experimentell vorgehende Naturwissenschaft. Darin mag man eine Asymmetrie zur Vernunftwissenschaft sehen, in der die empirische Seite lediglich die Geschichtskunde umfasst. Diese Asymmetrie liegt aber vor allem darin, dass eine „experimentelle Vernunftwissenschaft", wie sie uns heute beispielsweise in der Soziologie vorliegt, als Wissenschaft oder Wissenschaftszweig zu Schleiermachers Zeit noch gar nicht entwickelt war.

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kann, geht Schleiermacher zwar immer wieder in einzelnen Bemerkungen, aber an keiner Stelle systematisch nach. In der Dialektik und Ästhetik geht es Schleiermacher gerade darum, den einzelnen grundlegenden Tätigkeiten eine isolierte Betrachtung zukommen zu lassen und selbst in den Ethikvorlesungen, in denen die Wechselwirkung der Tätigkeiten als konstitutiv für die einzelnen Wissenschaften eingeführt wird, bemüht er sich in Güter, -Tugend- und Pflichtenlehre um eine Trennung der vernünftigen Tätigkeiten. Hinter diesem Versuch, die einzelnen Tätigkeiten abstrahiert von ihrer Wechselwirkung mit allen anderen Tätigkeiten zu untersuchen, steckt nichts anderes als der Versuch, dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den Schleiermacher bereits in den Grundlinien formuliert, gerecht zu werden: Wissenschaftlichkeit muss sich dadurch ausweisen, dass sie den ihr eigenen Gegenstand vollständig und systematisch erfasst, oder wie Schleiermacher in den späteren Dialektik-, Ästhetik- und Kritikvorlesungen sowie in den meisten Akademieabhandlungen formuliert: jede Wissenschaft muss den ihr eigenen „Begriff bestimmen. Ist jedoch kein „BegrifP' der einzelnen Tätigkeit ohne den der anderen ein „vollständiger B e g r i f f - und das legen die Einleitungen der Ethikvorlesungen nahe - müsste man auf die Wechselwirkung der Tätigkeiten gerade auch dann reflektieren, wenn man Wissenschaftlichkeit einfordert. Das „Rezept" der Dynamik der Wechselwirkung, auf das Schleiermacher schon in den Frühschriften hinwies, fordert den Wechsel von Grenzüberschreitung und erneuter Grenzziehung zwischen den Wechselgliedern. Diesem Grundrezept der Dynamik der Wechselwirkung folgend, müsste man mit Schleiermacher und über Schleiermacher hinaus für jede Wissenschaft oder Disziplin eine Art „Grenzverwaltung" einklagen, beziehungsweise man müsste eine Reflexion auf den Umstand, dass keine Tätigkeit des Geistes vollkommen getrennt von allen anderen Tätigkeit auftreten kann, einklagen. Welche Bedeutung haben diese „Spurenelemente" anderer Tätigkeiten im Denken, Handeln und Fühlen? Welche Konsequenzen muss man daraus ziehen, dass immer auch Teilaspekte anderer Tätigkeiten an jeder Tätigkeit auftreten: dass Denken als ein Handeln oder Fühlen, dass Handeln als ein Fühlen und Denken, dass Fühlen als ein Handeln und Denken betrachtet werden kann? Durch das Anliegen der Dialektik, das reine Denken abstrahiert von seiner Wechselwirkung mit Handeln und Fühlen zu thematisieren, erscheint das dialektische Streitgespräch beispielsweise als eine Art herrschaftsfreier, unästhetischer und freudenloser bzw. ungeselliger Diskurs. Fragen nach der Bestimmung jedes realen Diskurses durch unterschiedliche Interessen kann man jedoch erst in dem Rahmen stellen, in dem man auf den Aspekt im Denken reflektiert, der jedes Denken auch als Handeln und so als zweckgebunden und interessenge-

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

leitet vorstellt. 34 Von der Lust am Reden und der Schönheit einer mathematischen Formel lässt sich ebenfalls erst dann sprechen, wenn man Denken als ästhetisches Phänomen in den Blick nimmt. Eine Systematisierung des „Grenzverkehrs" zwischen den Tätigkeiten könnte darin bestehen, für jede Tätigkeit zwei Richtungen der Betrachtungsweise zu unterscheiden: Es müsste zum einen untersucht werden, welche Bedeutung es hat, wenn die grundlegende Tätigkeit einer anderen Tätigkeit untergeordnet ist. Und es müsste zum anderen untersucht werden, welche Konsequenzen es hat, wenn der grundlegenden Tätigkeit andere Tätigkeiten untergeordnet sind. Für die Dialektik und ihre grundlegende Tätigkeit des identischen Symbolisierens hieße dies: (Erste Richtung) Was bedeutet es für den Prozess des reinen Denkens, dass es ein Denken gibt, welches nicht nur in erster Linie am Wissen, sondern am Wohlgefallen interessiert ist oder dass es ein Denken gibt, welches ein dem Wissen externes Interesse verfolgt? {Zweite Richtung) Was bedeutet es für den Prozess des Wissens, dass nicht nur im Akt des Denkens oder Redens, sondern auch im Akt des Handelns und des Kunstschaffens ein Wissen produziert wird? Für die drei Tätigkeiten Handeln, Denken und Kunstschaffen (bzw. Organisieren, identisches und individuelles Symbolisieren) ergäbe sich folgende Systematisierung derartiger „Mittelzustände" oder „Mischformen" der Tätigkeiten:

„reine" Tätigkeiten

Misch formen

„reines D e n k e n " Denken unter dem Aspekt des Wissenwollens „reines" Handeln Handeln unter dem Aspekt des Handelns „reine" Kunsttätigkeit Kunsttätigkeit unter dem Aspekt der Kunsttätigkeit

Denken unter dem Aspekt des Handelns

Denken unter dem Aspekt der Kunsttätigkeit

Handeln unter dem Aspekt des Wissen-Wollens Kunsttätigkeit unter d e m Aspekt des Handelns

Handeln unter dem Aspekt der Kunsttätigkeit Kunsttätigkeit unter d e m Aspekt des Wissen-Wollens

Abb. 5 Tätigkeiten und Mischformen der Tätigkeiten

Ein Macht- oder Interessenpotential wohnt nicht nur dem Streitgespräch oder dem Denken, sondern ebenso auch der religiösen Tätigkeit inne. Mit Barth wehrt sich Theunissen (THHUNISSEN, These 7) dagegen, dass Schleiermacher das der Theologie einwohnende Machtstreben unterschlägt. Schleiermacher sei ganz arglos hinsichtlich des „ i d e o l o g i s c h e n Scheins", er unterschätze das „geheime Machtstreben in der religiösen Selbstvergewisserung des Menschen". Ein solches Machtstreben der Religion kann und muss vor dem Hintergrund der Wechselwirkung der Tätigkeiten jedoch mit Schleiermacher behauptet werden.

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Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, Schleiermachers vereinzelte Überlegungen zur Bedeutung solcher Mittelzustände oder Mischformen für das Denken, Handeln und Kunstschaffen zusammenzutragen und dieser Tabelle entsprechend zu systematisieren und ergänzen. 33 Was das Denken oder identische Symbolisieren angeht, so liefert Schleiermacher in der Dialektik bereits eine ausführliche Überlegung, bezogen auf die erste Richtung der Betrachtungsweise oder die Frage: Was bedeutet es für den Prozess des reinen Denken, dass es ein Denken gibt, welches nicht nur in erster Linie ein Wissen, sondern auch ein Wohlgefallen oder ein Wissen externes Interesse verfolgt? Denken wird in der Dialektikvorlesung zunächst „als die allgemeinste Bezeichnung der bekannten geistigen Function in dem weitesten Umfange" (DialKGA II 10/1, 393, § 1.1) eingeführt. Um den eigentlichen Gegenstand der Dialektik ins Auge zu fassen, unterscheidet Schleiermacher schon ab der Dialektikvorlesung von 1811 ein „reines Denken" von einem „künstlerischen" und „geschäftlichen Denken". Eine Ausführung dieser drei Ausrichtungen des Denkens findet sich in der späten Vorlesung von 1822: Das reine Denken nun unterscheidet sich auf der einen Seite von d e m geschäftlichen als nicht um eines anderen sondern um des Denkens selbst willen gesezt, auf der andern Seite von dem künstlerischen dadurch, daß es sich nicht auf die momentane Action des Subjectes nämlich des denkenden Einzelwesens beschränkt, mithin auch sein Maaß nicht hat an dem Wohlgefallen an dessen zeitlichen Erfülltsein [...], sondern auch in dem Zusammenbestehen des Denkens in diesem Subject mit dem Denken in allen andern. (DialKGA II 10/1, 394f., § 1.2) 3 6 Neben der bipolaren Ordnung, die das gesamte Schleiermachersche Denken bestimmt, findet sich seit den Monologen und Reden immer wieder eine Dreiteilung der Tätigkeiten in Denken, Handeln und Fühlen, die mit dieser Bipolarität zu konkurrieren scheint. Herms (HERMS 1976, 497) spricht Zweifel aus, ob diese Dreiteilung detailliert zu begründen ist. Demgegenüber könnte eingewandt werden, dass auch die bipolare Struktur, die Schleiermacher auf allen Ebenen einzuführen versucht, nicht immer nachvollziehbar ist und oft erzwungen erscheint, wie ζ. B. die strenge Dichotomie der Begriffshierarchie, in der sich zwei ausschließende positiv bestimmte Glieder gegenüberstehen müssen. Der von Schleiermacher an einzelnen Beispielen durchgeführte „Beweis" der Vorzüglichkeit der Bipolarität bzw. „Quadruplizität" in der Dialektikvorlesung von 1822 beispielsweise bleibt über weite Strecken sehr dunkel (vgl. DialKGA II 10/2, 647ff.). Die Dreiteilung kann allerdings sehr schnell wieder auf eine Bipolarität zurückgeführt werden, indem man sich vergegenwärtigt, dass Gefühle im individuellen Symbolisieren Darstellung finden und Handeln mit Organisieren gleichgesetzt und in identisches und individuelles Organisieren unterschieden werden kann. Allerdings ist der Unterschied zwischen identischem und individuellem Symbolisieren wesendich markanter als zwischen individuellem und identischem Organisieren, sodass ich bei der Aufstellung der Mischformen der Dreiteilung folge. 36

Vgl. auch DialKGA II 10/2, 595: „Noch ein Unterschied. Irgend ein einzelner Denkact kann vorkommen in 2 ganz verschiedenen Beziehungen. Wir sind hier im Denkenwollen begriffen, aber dies kann ein unabhängiges oder ein abhängiges sein; wir können unterscheiden das Denkenwollen um sein selbst und um eines andern willen; das letzte bei einem praktischen Zwecke. Ein solches Denken wollen wir ein bedingtes, das lste das reine Denken nennen." Vgl. auch DialKGA II 10/1, 395, § 1.2: „[...] das reine Denken als das in sich selbst bleibende und sich uns zur

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Das geschäftliche Denken bezieht sich auf einen äußeren Zweck, den es anstrebt und dem es sich unterordnet. Zu dem geschäfdichen Denken „rechnen wir alles Denken um eines anderen willen welches dann immer irgend ein Thun sein wird, ein Verändern der Beziehungen des Außer uns auf uns" (Dm/KGA II 10/1, 393, § 1.2). Davon unterscheiden sich sowohl das künstlerische als auch das reine Denken, denn beide beziehen sich nur auf sich selbst. Das künstlerische Denken genügt sich jedoch im Wohlgefallen am Gedachten, es ist ein Phantasieren, während dem reinen Denken ein Wissenwollen einwohnt, das jede Gesprächsführung zu einem Streitgespräch macht. Für jede der drei Arten des Denkens, oder man sollte vielleicht besser sagen: der drei Tendenzen des Denkens, lässt sich eine je eigene Gesprächsführung feststellen: Im Streitgespräch des reinen Denkens geht es um Wissen, im künstlerischen Denken geht es vor allem um Anregung - ähnlich dem Gespräch in freier Geselligkeit - und in der geschäftlichen Gesprächsführung „hat die Kunst der Ueberredung ihr eigenthümliches Gebiet" (Dial.KGA II 10/1, 396, § 1.3.) - die natürlich „seriöser" aber auch „unseriöser" Natur sein kann. Alle drei Tendenzen im Denken treten in der Realität immer vermischt auf und sind in ihren ersten Anfängen gar nicht voneinander zu unterscheiden.38 Dort, wo diese Vermischung nicht reflektiert wird, stellt sie immer eine Gefahr für das reine Denken dar, zugleich haben aber sowohl das künsderische als auch das geschäftliche Denken eine Funktion für das reine Denken. Gefahr und Bedeutung des künstlerischen und geschäfdichen Denkens für das reine Denken diskutiert Schleiermacher in der Dialektik im Kontext der Überlegungen zum Irrtum in der Vorlesung von 1822. Einleitend zum rein technischen Teil der Dialektik unterscheidet Schleiermacher (wie in Kapitel 3.3.3. ausgeführt) vier Formen des „Überzeugungsgefühls" zum Wissen: das Wissen des Wissens (vollkommenes Wissen), das Nichtwissen des Nichtwissens (der Irrtum), das Wissen des Nichtwissens (die Phantasie oder die skeptische Position) und das Nichtwissen des Wissens. Im Unterschied zum reinen Wissen ist das geschäftliche Denken (hier: bedingtes Denken) auf ein konkretes Ziel ausgerichtet, zu dessen Erfüllung

38

Unveränderlichkeit und Aligemeinheit steigernde, das geschäftliche welches in dem Anders werden von etwas oder in der Erreichung eines Zwekkes sein Ende findet, und das künstlerische welches in dem Moment des Wohlgefallens zur Ruhe kommt [...]." Vgl. Οώ/KGA II 10/1, 394, § 1.2: „Zu diesem künstlerischen aber gehört alles Denken welches nur unterschieden wird an dem größeren oder geringeren Wohlgefallen [...]. Das Denken und Bilden ist also hier von dem im Traume anfangend bis zu den Urbildern künstlerischer Werke sich steigernd eigentlich nur der momentane Act des Subjectes, durch den es sich auf bestirnte Weise zeitlich erfüllt, und nur das lebendigste und wohlgefälligste davon nach Außen verbreitet." Im künstlerischen Denken kommt „das Verhältniß der Gedanken des Einen zu denen des Andern ihrem Inhalt nach so gut als gar nicht in Betracht [...], sondern nur die allerdings durch das Wohlgefallen an der Mittheilung zu unterstüzende erregende Kraft welche die Gedankenerzeugung des Einen auf die des Andern ausübt." (Dw/KGA II 10/1, 396, § 1.3) Vgl. Dw/KGAIIlO/1,418, §4.3.

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das Denken angetrieben ist. Ist das Ziel erreicht, so ist auch das geschäftliche Denken oder bedingte Denken befriedigt, während das reine Denken erst in der Erkenntnis des Totalzusammenhanges in seinem Streben innehält. Alles Denken ist immer auch und in seiner genetischen Entwicklung an erster Stelle ein bedingtes, geschäftliches Denken und ohne diese Ausrichtung des Denkens wären wir gar nicht überlebensfahig. Für die Entfaltung des reinen Wissens kann das bedingte Wissen jedoch 2u einem entscheidenden Hemmnis werden, denn es stagniert genau in dem Moment, in dem es das ihm gesetzte Ziel erreicht hat. Ein auf diese Weise mit geschäftlichem Denken vermischtes reines Denken erweist sich innerhalb des bestimmten Anwendungsgebietes immer wieder als Wissen, da es seinen Zweck als Wissen von etwas, mit dem man etwas Bestimmtes anfangen will, erfüllt. Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, dass dieses Wissen ein Wissen bleibt, wenn es diesen vom Zweck abgesteckten Kontext verlässt. Wenn wir uns in einem bedingten Denken vorstellen, und uns bewußt sind, daß das bewußte Wissen eine unendliche Aufgabe ist, so werden wir sagen müssen, daß wir eine Kenntniß zum praktischen Wissen nicht immer aus dem Wissen überhaupt rein herausnehmen können. Wir werden daher eilen müssen, hier unsre Gedanken abzuschließen um dort danach handeln zu können. [...] Der Zustand der richtigen Meinung ist eigentlich das Eigenthum des bedingten Denkens, und hat hier eine Nothwendigkeit - das bedingte Denken ist stets durch ein reales Wollen bedingt, und da ist der eigentliche Werth des Denkens die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gedachten. Den ganzen Gegenstand will ich nicht denken, sondern nur das vom Gegenstande, was sich auf mein Handeln bezieht. [...] Nun sind es dieselben Gegenstände beim Denken und beim Handeln, ζ. B. die ganze Natur. Dieselben Vorstellungen können gut sein für das bedingte Denken, nachtheilig für das reine, und dies kommt beständig vor. [...] Das Übertragen jener Vorstellungen [des geschäftlichen Denkens, S. S.] wäre dem reinen Denken höchst verderblich. (DialKGk II 10/2, 595f.) Beispiele für ein solches „dienendes Denken" findet man zuhauf in jeder an den Bedürfnissen der Industrie oder Politik orientierten Wissenschaft. Die Ausrichtung auf ein Interesse oder wissenschaftsfremdes Ziel führt dazu, dass ein partielles Wissen institutionalisiert und gegen alle Zweifel und Anfechtungen immunisiert wird. Schleiermacher weist jedoch daraufhin (und das ist für das Selbstverständnis der Wissenschaften nicht unwichtig), dass der das reine Denken hemmende Zweck nicht unbedingt ein Zweck des praktischen Lebens oder ein wissenschaftsexterner Zweck sein muss. Ein wissenschaftlicher Zweck, der darin besteht, nur ein Teilgebiet oder einen Teilaspekt bearbeiten zu wollen, kann genau dann zum Hemmnis des reinen Denkens werden, wenn der Wissenschaftler den Charakter der Universalität des Denkens aus den Augen verliert und sich mit der Partialität seiner Forschung zufrieden gibt. Ζ. B. nehmen wir einen einzelnen Gegenstand, einen Zweig der Naturgeschichte, für den jemand Interesse hat; ist dieses Interesse gesondert vom wissenschaftlichen Zu-

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben sammenhange, so nimmt es den Character der einseitigen Vorliebe an, und so tritt es in einen Gegensatz mit den übrigen Zweigen des wissenschaftlichen Denkens, eben so wie das bedingte Denken gegen das reine. (Dia/KGA II 10/2, 600) 3 9

Diese Installierung einer „richtigen Meinung", deren Wahrheitswert nur im Kontext eines abgezirkelten Handlungsraumes gemessen wird, soll durch die bewusste skeptische Position ersetzt werden. Aber das Geschäftlich-Sein des Denkens hat auch eine positive Seite, denn ohne ein gesetztes Ziel, bei dem das prinzipiell unbefriedigte reine Denken seine Befriedigung findet, fände das Streitgespräch keinen pragmatischen Abschluss und könnte sich in der Gesellschaft nicht zur Geltung bringen: Wollten wir das künftige Geschlecht für das reine Denken bilden, so würde dies unmöglich sein, oder wir könnten seine Selbstständigkeit im Leben nicht garantiren. Das reine D e n k e n m u ß d u r c h a u s erst eine solche G r u n d l a g e haben. (Dia/KGA II 10/2, 597)

Das Gespräch des künsderischen Denkens wird als freier Gedankenaustausch bezeichnet und es erscheint angemessen, in diesem Zusammenhang noch einmal einen Blick auf die freie Geselligkeit zu werfen, wie sie Schleiermacher in dem Fragment Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von 1899 beschreibt. Der „Materie" oder dem Inhalt nach besteht die freie Geselligkeit, in der sich alle Klassen und Berufe mischen, in einem freien Spiel der intellektuellen Kräfte und Empfindungen. Die „Gesellschaftskunst" der freien Geselligkeit ist jedoch nicht nur ein Beispiel für das künstlerische Denken, sondern kann ebenso als Beispiel für ein „künstlerisches Handeln" herangezogen werden. Die freie Geselligkeit hat nur sich selbst zum Ziel und soll den Einzelnen gerade aus allen Handlungszusammenhängen, die ihn bestimmen, befreien. Im Unterschied zur Gemeinschaft, die ein gemeinsames Ziel oder Interesse verfolgt, spricht Schleiermacher aus diesem Grund auch von der freien Geselligkeit als Gesellschaft. Indem in der freien Geselligkeit die Möglichkeit der Konfrontation verschiedener Intentionen oder eines wissenschafdichen Konfliktes von vorneherein auf ein Minimum reduziert ist, kann sie (hier knüpfe ich an meine Überlegungen aus dem Kapitel 2.4. an) die Funktion eines „Gewächshauses" sowohl für das Denken als auch für das Handeln einnehmen. Im freien Gedankenspiel einer sozial und beruflich gemischten Gesellschaft werden Ideen, Haltungen, Rollen und Gefühle angespielt, nicht jedoch ausgetragen. Eine ähnlich positive und sogar zentrale Funktion für den Prozess des Wissens spricht Schleiermacher in der Dialektikvorlesung dem künstlerischen Denken oder dem „von den Banden der Allgemeingültigkeit und des Seins losgelös-

39 Vg], Dia/KGA II 10/1, 276, L1X: „Jedes partielle wissenschaftliche Interesse bekommt den Charakter des bedingten Denkens, denn die Begriffe werden eher abgeschlossen als sie in Bezug auf alle coordinirten Punkte durchgeprüft sind." Vgl. auch Dia/KGA II 10/2, 600.

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tern" freien Phantasieren zu. Es erfüllt seine Funktion als Hypothesenlieferant insofern es ein „gewusstes Nichtwissen" ist: Was ist denn das bewußte Nichtwissen? Doch ein Denken, aber kein Wissen, d. h. ein Denken, das nicht nach den Gesetzen der Allgemeinheit der Construction gebildet ist, ein Denken, das nicht dem Sein entspricht; das bewußte Nichtwissen ist Selbstthätigkeit im Denken, die von der Abhängigkeit vom Sein losgelöst ist, d. h. es ist das freie Phantasiren. Also beim bewußten Wissen wollen wir ankommen, und im Irrthum sollen wir nie sein; wie steht es aber ums freie Phantasiren? Soll es sein oder nicht? Im combinatorischen Proceß besonders im heurisüschen Verfahren ist das freie Phantasiren für uns unentbehrlich, nur müssen wir nicht dabei stehen bleiben, sondern hindurchgehn. (D/Ö/KGA II 10/2, 593f.)

Die Betonung liegt dabei jedoch auf dem Wort „gewusst"; denn wenn das Bewusstsein dafür, dass das Phantasieren ein Phantasieren ist, verloren geht, kann ein solches künstlerisches Denken einen negativen und hemmenden Charakter für das reine Denken haben. Dort wo das Wohlgefallen, die Lust am Reden, Argumentieren oder Widersprechen unbemerkt regiert, und sich der Redner nicht mehr im Klaren darüber ist, dass er nur mit Gedanken spielt, entfernt er sich ebenso vom Wissen wie dort, wo ein grundsätzlich immer unbefriedigtes reines Denken durch das Erreichen eines bestimmten Zieles sein Ende findet. Einige Überlegungen zur „Mischung" der Tätigkeiten finden sich auch in den Asthetikvorlesungen 1831/32. Dort weist Schleiermacher darauf hin, dass nicht nur Wissenschaft über Kunstwerke betrieben, sondern Wissenschaft auch als Kunstwerk betrachtet werden kann (Asth 157ff.). Ein wissenschaftliches Werk als Kunstwerk zu betrachten, heißt, es hinsichtlich seiner ästhetischen Qualität der Vollkommenheit oder Schönheit zu beurteilen. Wie oft huldigen wir nicht trefflichen wissenschaftlichen Productionen als allen Fächern ohne Unterschied, selbst mathematische nicht ausgenommen, wie sehr auch der Calculus mit der Kunst scheint in Widerspruch zu stehen, doch zugleich als wahren Kunstwerken! Und zwar nicht nur wegen kunstreicher Behandlung der Sprache, selbst wenn diese für die unmittelbare Abzwekkung wenig austrägt, sondern tief aus dem innern heraus geht uns die Schönheit hervor in dem Ebenmaß und der Fülle der wohlgerundeten Theile, in dem Reichthum der Beziehungen, in der klaren Uebersichtlichkeit des Zusammenhanges. (ÄsfL 157)

Eine solche ästhetische Betrachtung, stellt Schleiermacher fest, findet allerorts statt, und wir sprechen neben der Schönheit einer mathematischen Formel auch von der Schönheit einer Volksversammlung, eines geselligen Abends, von der Schönheit des Kosmos oder eines Lebens. 40 Die Bedeutung, die diese Erweite40

In der Ästhetik unterscheidet Schleiermacher für die Kunst eine „organische" und eine „elementarische" Vollkommenheit. Die Bezeichnung „schön" oder „vollkommen" in anderen Disziplinen kann sich sowohl auf die eine als auch auf die andere Vollkommenheit beziehen. Beim wissenschaftlichen Werk bezieht sich dieses Urteil beispielsweise auf die Komposition, die organische

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rung des Kunstraumes für die Kunsttätigkeit sowie für das Handeln und Denken hat, wird in der Ästhetik nicht verfolgt, denn Schleiermacher ist bemüht, die Kunsttätigkeit als reines Kunstschaffen zu isolieren und die Frage, wie Kunst „an einem andern oder in einem anderen vorkommt, vorläufig bei Seite zu stellen und uns zunächst nur an die selbständig auftretende Kunst zu halten, welche Werke, die nichts anderes sein wollen, zu Tage fördert." (AstL 159) Versucht man die Unterteilung des Denkens in ein geschäftliches, künstlerisches und reines Denken auch für das Handeln und die Kunsttätigkeit zu übernehmen und entsprechend drei Tendenzen innerhalb jeder Tätigkeit zu unterscheiden, dann ergäbe sich für die Kunsttätigkeit neben einer „reinen" Kunsttätigkeit eine „wissenwollende Kunsttätigkeit" (die Kunsttätigkeit unter dem Aspekt des Wissenwollens) und eine „geschäftliche Kunsttätigkeit", die auf einen kunstfremden Zweck gerichtet ist (die Kunsttätigkeit unter dem Aspekt des Handelns). Das Kunstschaffen steht zwar im Gegensatz zum Wissen, jedoch nicht zum Erkennen, denn es ist selbst ein Erkennen von Welt, jedoch vom Gegenstand her sozusagen an den „Enden" der Welt verankert. Es bringt ein individuelles Gefühl zum Ausdruck und hat das Individuelle und das Absolute zum Gegenstand. Indem es die Grenzbereiche zur Darstellung bringt, die das Wissen nie erreichen kann, ergänzt es sich mit dem wissenwollenden Denken. 41 Innerhalb der Ästhetikvorlesung spricht Schleiermacher davon, dass die Kunsttätigkeit als „Akzidenz" an einer anderen Tätigkeit auftauchen kann wie beispielsweise an der Rhetorik. Das in der Rhetorik kunstvoll inszenierte Gefühl soll jedoch überreden und nicht überzeugen; insofern steht die Kunst der Rhetorik zwar in enger Verbindung mit dem Wissen, nicht aber in seinem Dienste und kann deshalb auch nicht als Beispiel für eine „wissenwollende Kunsttätigkeit" angesehen werden. Als dem Wissen untergeordnet, könnte hingegen eine Kunsttätigkeit gelten, die sich dem Diktum der allgemeinen Verständlichkeit unterwirft und Allgemeinheit oder Wissen zum Ausdruck bringen will. Eine solche Kunst unter die man beispielsweise Lehrstücke wie Gottscheds Trauerspiel Sterbender Cato (1731) zählen könnte, läuft Gefahr zur bloßen Illustration des Wissens mit rein didaktischem Charakter zu werden. Dass Schleiermacher in der Ästhetik eine „geschäftliche" Kunst durchaus vor Augen hatte, wird deutlich, wenn er im Zusammenhang mit künstlerischen „Randphänomenen" oder „Mischgattungen" wie Reiseberichten oder Tagebü-

Vollkommenheit, und bezeichnet eine besondere Durchgeformtheit, eine Einheit des Werkes, die der Einheit von Kunstwerken gleich kommt, vgl. ÄsiL 32ff. Wie schwer es ist, identisches und individuelles Symbolisieren voneinander zu trennen, zeigt sich unter anderem an der Dichtkunst, die unter den Künsten eine besondere Stellung einnimmt, da sie Sprachkunst ist und als solche dem sich in Sprache ausdrückenden Wissen sehr verwandt. Die problematische Rolle der Dichtkunst ist bis hin zur Akademierede Über den Begriff der Kunst, die Schleiermacher erst 1831 und 1832 vor der Akademie der Wissenschaften zu Berlin hielt, präsent. Vgl. dazu vor allem den dritten Teil der Rede.

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ehern 42 auch von der Architektur spricht. Die Architektur ist ganz klar einem kunstfremden Zweck unterworfen, der das Künstlerische dominiert. Dieses Beispiel der Architektur lässt sich heutzutage ohne Probleme zu einer langen Liste angewandter Kunst von der Werbung, über Design bis zum politischen Happening ausbauen. Zur geschäftlichen Kunst müsste jedoch nicht nur angewandte Kunst gezählt werden, sondern jede Kunst, die sich einem kunstfremden Zweck unterwirft (ζ. B. im wahrsten Sinne des Wortes um des Geschäftes willen). Das Problematische dieses geschäftlichen Kunstschaffens könnte man ganz analog zum geschäftlichen Denken in seinem vorzeitigen Abschluss sehen. Der Abschluss des Werkes wird nicht durch die befriedigte Suche nach der einen vollkommenen Form, sondern durch den erreichten Zweck diktiert (der Käufer ist zufrieden, die Ausstellung rückt näher). Als „pragmatischer Abschluss" (kein Kunstwerk ist je vollendet) kann dies wie beim Denken natürlich in lebensweltlicher Hinsicht als positiv verbucht werden. Bei der Übernahme der drei Tendenzen für das Organisieren oder Handeln im engeren Sinne müsste man ein „reines" Organisieren oder Handeln von einem „erkennenden Handeln" (Handeln unter dem Aspekt des Wissenwollens) und einem „künstlerischen" (Handeln unter dem Aspekt der Kunsttätigkeit) unterscheiden. Als eine Form des künstlerischen Handelns muss, wie bereits erwähnt, sicherlich die „Gesellschaftskunst" in der freien Geselligkeit betrachtet werden, in deren Schutz jenseits sozialer und beruflicher Zwänge Haltungen, Rollen und Gefühle angespielt und ausprobiert werden können. Insofern könnte man das künstlerische Handeln auch als „geselliges" oder „spielendes" Handeln bezeichnen. In eine ähnliche Richtung geht eine Bemerkung aus den Monologen, die der Phantasie eine fundamentale, weil realitätserweiternde Rolle für das Handeln zusprechen. Denn die Phantasie entwirft Situationen, an denen sich der praktische Verstand abarbeiten kann und wird so zu einer Art Erfahrungsquelle, mit der man mangelnde Erfahrung kompensieren kann. Dort wo die äußeren Umstände der Entfaltung der Selbstbildung wenig „Stoff bieten, erweitert die Phantasie diese Möglichkeit der Anregung, indem sie verschiedenste Situationen imaginiert und durchspielt. Schleiermacher entwickelt diesen Gedanken vor allem im Zusammenhang mit Liebe und Freundschaft. 43 Auch für das spielende oder phantasierende Handeln ließe sich nicht nur eine positive, sondern auch eine negative Funktion für das Handeln vorstellen. Künstlerisches oder spielendes Handeln, das im Raum der freien Geselligkeit stattfindet, kann keinerlei „Schaden" anrichten, da der Wirkungsraum klar umgrenzt ist. Handlungen jedoch, die von einem ästhetischen Aspekt dominiert werden, und in denen das Bewusstsein dafür, dass es sich hier um ein Kunstwerk oder Spiel handelt, verdrängt wurde oder unreflektiert bleibt, können gefährlich werden,

42 43

Vgl.AnLBO. Vgl. AfoKGA I 3, 48f.

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wenn sie in den öffentlichen Raum treten. Denn ihr Wirkungsraum ist im öffentlichen Raum nicht mehr eingegrenzt. Genau das, was man der freien Geselligkeit in politischer Hinsicht vorwerfen könnte, nämlich dass keine der Ideen oder angespielten Haltungen in der Realität Folgen haben muss, ist der Garant dafür, dass ein Ausprobieren überhaupt möglich wird. Zu der „Mischform" des denkenden oder erkennenden Handelns findet sich, soweit ich Schleiermachers Werk überblicke, keine Bemerkung. Man könnte unter dieser Kategorie zunächst an ein Handeln denken, das der Kommunikation dient oder Kommunikation ist, also alle Formen der nonverbalen Kommunikation, die natürlich nicht nur die einfache Mimik und Gestik, sondern auch komplexe Handlungsabläufe umfassen können. (Beispiel: Ich gehe schwimmen nicht nur, um mich fit zu halten, sondern weil ich jemandem mitteilen möchte, dass ich dasselbe Hobby habe wie er.) In dieser Art von kommunizierendem Handeln ist jedoch noch kein spezieller Bezug auf das Wissenwollen. Als ein erkennendes Handeln könnte man dasjenige Handeln bezeichnen, das auf ein einziges Ziel ausgeht, nämlich Wissen. Unter dieses einseitig ausgerichtete Wissen könnte man beispielsweise jede Art von Experiment zählen. Dass ein solches Handeln sehr schnell entgleisen und „unsittlich" werden kann, weil es nur auf ein Wissen aus ist und weder die Interessen und Rechte des handelnden Individuums noch die der Gemeinschaft beachtet, leuchtet ohne weitere Erklärungen ein. Die Systematisierung, der Schleiermachers Dreiteilung des Denkens folgt, darf nicht dahin missverstanden werden, dass es ein „reines" Denken, Handeln oder Kunstschaffen tatsächlich gäbe. In unterschiedlichem Ausmaß ist jedes Denken, Handeln und Kunstschaffen immer „unrein" und trägt Aspekte anderer Tätigkeiten an sich, und nur weil sich keine Tätigkeit isolieren lässt, gibt es eine permanente Wechselwirkung. Ebenso müssen die Mittelzustände oder Mischformen als Konstrukte verstanden werden, die dabei helfen sollen, die Bedeutung hervorzuheben, die das Aneinander-Sein der Tätigkeiten für jede einzelne Tätigkeit hat. Dabei wurde klar, dass der „Grenzverkehr" zwischen den Tätigkeiten (der also immer schon stattgefunden hat und immer stattfindet) positive wie negative Auswirkungen auf die Entfaltung der einzelnen Tätigkeit haben kann. Die Entwicklung jeder einzelnen Tätigkeit findet genau in dieser Oszillation zwischen Grenzauflösung und Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen statt, wobei die Grenzen nie geschlossen nie ganz aufgelöst werden können. Vor dem Hintergrund der Systematisierung dieser Mischformen könnte man von jeder Wissenschaft fordern, dass sie bezogen auf diese beiden Richtungen für ihre grundlegende Tätigkeit sowohl positive wie negative Funktionen der Mischformen im Grenzverkehr untersucht. Für die Dialektik bedeutet dies, dass sie nicht nur die geschäfdichen und künsderischen Aspekte des Denkens in den Blick nimmt, sondern zugleich darauf reflektieren muss, welche Bedeutung es für den Prozess des Wissens hat, dass es einen erkennenden Aspekt im Handeln und Kunstschaffen gibt. In jedem Handlungsakt findet ein Gegenstandsbezug statt, in

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dem das Wissen von dem Gegenstand nicht nur angewendet, sondern erweitert und verändert wird, denn im Umgang mit den Gegenständen machen wir Erfahrungen mit denselben und bilden sie. So steht beispielsweise hinter der Handlung Ich füttere meinen Hund ein bestimmtes Wissen über Hunde oder in der Handlung leb gehe über die Straße ein bestimmtes Wissen über den Straßenverkehr. Das Wissen über Hunde wird im Umgang mit dem Hund erweitert, aber ich kann auch davon sprechen, dass sich der Hund in meinem Umgang mit ihm verändert, weiterbildet. Ich füttere beispielsweise den Hund mit Schokolade und handle so gegen mein Wissen über Nahrung von Hunden. Der Hund stirbt aber nicht, wird auch nicht krank, sondern entwickelt sich zu einem Hund, der gerne Schokolade Birgt jeder handelnde Umgang mit den Dingen nicht nur aber auch ein Wissen von den Dingen, dann können einzelne Handlungen und Kunstaktionen mit dem Denken in Streit treten, denn es spricht sich im Handeln und Kunstschaffen nicht zwangsläufig dieselbe Erkenntnis oder Bestimmung von etwas aus wie im Denken. Ich kann einen Menschen als erwachsen bezeichnen, aber in meinen Handlungen zeigt sich, dass ich ihn für ein Kind halte. Ich kann mich gegen Gewalt aussprechen und doch ein Verhalten an den Tag legen, das als gewalttätig identifiziert werden kann. Ich kann als Arzt im Gespräch eine bestimmte Definition des Menschen vertreten und in meiner medizinischen Praxis eine ganz andere. Ich kann von der Gleichberechtigung von Männern und Frauen überzeugt sein und dennoch diskriminierend handeln usw. Allerdings ergibt sich dieser Streit nicht ohne weiteres von selbst, denn das im Handeln sich aussprechende Wissen muss erst einmal als solches erkannt werden, es bedarf quasi einer Übersetzung in Diskursivität. Ein ähnliches Problem der „Übersetzung" besteht zwischen Wissen und Kunst. Auch in der Kunst wird ein Erkennen von Welt produziert, das keine adäquate, sondern eine überhöhte oder ideale Darstellung der Wirklichkeit liefert. Der „Wahrheitsgehalt", um den es im Streitgespräch geht, kann nicht ohne Verlust in Diskursivität übersetzt werden. Schleiermacher weist zwar in seiner Dialektik darauf hin, dass auch diese erkennenden bzw. wissenden Aspekte des Handelns und der Kunst in die Dialektik gehören, wie aber diese Aspekte erkannt und in ein Streitgespräch integriert werden können, bleibt offen. Mit der Reflexion darauf, dass es Mschformen gibt und welche Bedeutung sie für den Prozess des reinen Wissens haben, ist daher der „Grenzverkehr" noch nicht durchschaut. Es bleibt noch offen, wie sich die erkennenden Aspekte des Handelns und des Kunstschaffens in das Streitgespräch integrieren lassen. Ebenso offen bleibt, wie man ein geschäftliches Denken oder „partialisiertes" Wissen erkennt. Um sich gegen die Wissen hemmende Auswirkung des geschäftlichen Denkens oder des nur an einem Wissensausschnitt interessierten Denkens zu schützen, schlägt Schleiermacher eine bewusst skeptische Haltung vor. Eine prophylaktisch skeptische Haltung, dies müsste man gegen

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Schleiermacher anführen, wird sich gegen eine institutionalisierte Wahrheit jedoch kaum durchsetzen können, solange sie nur vor der grundsätzlich möglichen Geschäftlichkeit oder Partialität des Denkens warnt. Sie muss die Geschäftlichkeit des Denkens kritisch nachweisen. Nur wenn man konkret zeigt, inwiefern ein installiertes Wissen einem praktischen Bedürfnis gehorcht, kann diese Bindung aufgehoben und die Dynamik des Wissens wieder in Gang gesetzt werden. Es bedarf also einer Technik und/oder Kunst, die die Mischformen im konkreten Fall nachweist und Übersetzungsmodelle anbietet. Diese Aufgabe kann meines Erachtens von einer Kritik und Hermeneutik der Kultur übernommen werden, die Gegenstand des letzten Kapitels sein soll.

5.2. Das System der Wissenschaften als ewig vorläufiges System 5.2.1. Die Frage nach der obersten Wissenschaft (2): Das Verhältnis von Ethik und Dialektik und die Rolle der Psychologie im System der Wissenschaften Der Systembegriff, den Schleiermacher in den Grundlinien einer Kritik bisheriger Sittenlehre von 1803 ausfuhrt und an dem er die verschiedenen ethischen Entwürfe misst, fordert eine aus einer Grundidee sich vollständig entfaltende Wissenschaft, die ihre Begründung selbst wiederum in einer Wissenschaft „von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften" (GrundlKGA I 4, 48) finden soll, denn eine besondere Wissenschaft muss, soll sie „vollkommen dargestellt werden, [...] sich auf eine höhere, und zulezt auf ein höchstes Wissen beziehen, von welchem alles einzelne ausgehen muß." (Ethül 185, § 1) Die Einlösung dieser Bedingungen der Wissenschaftlichkeit oder Systematik steht jedoch unter der wechselseitigen Abhängigkeit von besonderem und höchstem Wissen. Um diesem zirkelhaften Verweis von Einzelwissenschaft und höchster Wissenschaft zu entkommen, unterscheidet Schleiermacher in den Grundlinien zwei Arten höchster Wissenschaft: Eine „Wissenschaftslehre" auf der einen Seite, die auf die Bedingungen der Möglichkeit und die Form von Wissen und höchstem Wissen reflektiert und als „gehaltloses Abbild des höchsten Wissens" (EthBl 205, § 61) verstanden werden muss, und die „Weltweisheit" auf der anderen, die als „höchste Einheit des Wissens" verstanden werden muss und eine substanzielle Darstellung des Wissens, mithin des höchsten Wissens beinhaltet {EthQl 204, § 61). Im Gegensatz zur „Weltweisheit" oder zum vollständig entfalteten Begriff der Welt, stellt Schleiermacher mit dem Entwurf der Dialektik zunächst eine Grundlegung des Systems der Wissenschaften in Aussicht, die, da sie sich auf den „formalen" Aspekt der Form des Wissens konzentriert, selbst nicht wieder Gegenstand des Streitgesprächs werden kann. Obwohl Schleiermacher diese Aus-

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sieht nicht leicht aufgibt, 44 wurde in der Auseinandersetzung mit der Dialektik deutlich, dass eine rein formale Behandlung des Wissens sich nicht isolieren lässt. Sie muss sich in zweierlei Hinsicht der Dynamik des in ihr begründeten Wissensbegriffs selbst unterwerfen. Die im transzendentalen Teil der Dialektik vorgenommene Analyse der Idee des Wissens steht zum einen in Wechselwirkung mit dem empirisch-aufsuchenden zweiten Teil und analysiert kein Wissen, sondern das, was ihr vom technischen Teil der Dialektik als Wissen zugetragen wurde. Uber das Wechselverhältnis von transzendentalem und technischem Teil steht die Dialektik in Wechselwirkung mit allen anderen Wissenschaften, denn der empirische Teil kann ein vermeintliches Wissen nirgendwo anders aufsuchen als in den einzelnen Wissenschaften selbst. Zum anderen ist das identische Symbolisieren lediglich Ausschnitt einer weitaus umfassenderen Tätigkeit der Vernunft und ihr progressiver und provisorischer Status ergibt sich auch daraus, dass sich das Denken nicht rein vom Fühlen und Handeln isolieren lässt. Welche Konsequenzen diese von Schleiermacher nicht weiter verfolgte Wechselwirkung der Tätigkeiten für die Konzeption der Dialektik haben könnte, wurde oben skizziert. Da die Dialektik als Wissenschaft vom identischen Symbolisieren dem Gegenstand nach in den Bereich der Ethik fällt, die alle vernünftigen Tätigkeiten umfasst, versucht Herms die These stark zu machen, 45 dass Schleiermacher in den späteren Schriften nicht die Dialektik, sondern die Ethik als „oberste Wissenschaft" vor Augen hat. Dass die Dialektik dem Gegenstand nach in der Ethik verortet werden kann, bedeutet jedoch noch nicht, dass wir in den konkreten Ausführungen zur Ethik eine der Dialektik vergleichbare Fragestellung finden. Indem die Ethik in Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre über diejenigen Tätigkeiten reflektiert, die Schleiermacher in anderen Vorlesungen isoliert zum Gegenstand macht, findet sich, wenn man so will, in der Ethik eine „zweite" Dialektik, ebenso eine „zweite" Ästhetik, Hermeneutik und Politik; jedoch unter anderen Vorzeichen: Denn die Ethik, die die Güterlehre als die wesentliche unter den drei sittlichen Betrachtungsweisen hervorhebt, legt ein besonderes Gewicht auf die institutionelle Manifestation und kulturelle Bedingtheit aller unserer Tätigkeiten und bietet auf diese Weise sozusagen einen kulturwissenschaftlichen Ansatz. Auch wenn man, wie in Kapitel 3.1.1. ausgeführt, diese Passagen aus der Einleitung der Ethikvorlesung als eine in die Ethik integrierte „Kompaktdialektik" bezeichnet, so findet sich hier lediglich eine am Ergebnis orientierte Darstellung, die auf die Möglichkeit der Begründung des Wissensbegriffs selbst nicht weiter eingeht. 46 Einen zentralen Aspekt für das System der Wissenschaften liefert die 44

Dies wird unter anderem dadurch deutlich, dass Schleiermacher diese Aussicht immer wieder auch noch zu einem Zeitpunkt formuliert, in dem der progressive oder vorläufige Status der Dialektik bereits klar eingeräumt wurde.

45

Vgl. H E R M S 1976.

46

Die Ethik greift dabei nicht nur auf die Begründung des Wissensbegriffs zurück, sondern ebenso auf die „Deduktion" des absoluten Gegensatzes des Realen und Idealen. An dieser Stelle sei auf

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Ethik jedoch, indem sie das Wissen in den Gesamtprozess vernünftiger Tätigkeit einordnet und die für alle Wissenschaften konstitutive Wechselwirkung der Tätigkeiten thematisiert. Diesen systematisch zentralen Aspekt der Ethik und nicht allein ihren umfassenden Gegenstand könnte man als Argument anführen, der Ethik eine herausgehobene Stelle unter den Wissenschaften einzuräumen. Da sich jede Wissenschaft und mit ihr auch die Dialektik als Wissenschaftslehre dem Streitgespräch der Wissenschaften stellen muss, fragt sich indes, ob der Titel „oberste Wissenschaft" in Schleiermachers System der Wissenschaften überhaupt sinnvoll vergeben werden kann. Die Frage, welche der realen Wissenschaften die „oberste" sei, erweist sich in einem durch Wechselwirkung geprägten Wissenschaftssystem eigentlich nur insofern als fruchtbar, als dass sie die für das System zentralen Aspekte jeder einzelnen Wissenschaft ans Licht heben hilft und zeigt, wie die einzelnen Wissenschaften - je nachdem, welche Fragestellung dominiert - auf die Ergebnisse anderer Wissenschaften angewiesen sind und sich im Streitgespräch mit ihnen modifizieren müssen. 47 Auch die „Weltweisheit", die den Grundlinien nach ein höchstes oder vollkommenes Wissen von Welt enthalten soll, kann eigentlich nicht als „höchste" Wissenschaft bezeichnet werden, eher als „letzte" oder „einzige". Denn im Zielpunkt des Wissens, dem vollständig entfalteten Begriff von Welt, lassen sich keine einzelnen Wissenschaften mehr voneinander unterscheiden; die verschiedenen Gestalten von Wissenschaft haben sich zu einer einzigen zusammengefunden. Eine prägnante Formulierung dieses Gedankens findet sich in der Einleitung zur Ethikvorlesung von 1812/13: Im endlichen Dasein sowol als im endlichen Wissen als Darstellung des Absoluten ist der Gegensaz nur relativ. Also in der Vollendung ist Ethik Physik und Physik Ethik. (EtK&l 8, § 29 Lemma I I ) 4 8

Auf dem Weg ihrer Vervollkommnung sind die einzelnen Wissenschaften auf den Austausch mit allen anderen Wissenschaften angewiesen und verlieren zugleich

eine Asymmetrie der Begründungsstruktur hingewiesen, die bisher noch nicht thematisiert wurde. Die Dialektik „deduziert" den höchsten Gegensatz des Idealen und Realen, indem sie von den Formen des Denkens bis zu den nur abstrakt vorzustellenden Denkgrenzen fortschreitet. Dass dieser höchste Gegensatz transzendent-transzendentaler Grund nicht nur des identischen Symbolisierens, sondern auch aller vernünftiger Tätigkeiten ist, wird in der Ethik vorausgesetzt, ohne dass sie eine vergleichbare „Deduktion" für das Fühlen oder Handeln im engeren Sinne durchführt. 47 η • Rieger spricht in diesem Zusammenhang von der Rekursivität des Systems bzw. den Hierarchiestrukturen des Systems (vgl. R1KGF;R 260f.). 48 Vgl. EtbBl 9, § 31: „Vor dieser Identität [der absoluten Gegensätze, S. S.] ist daher jede Wissenschaft unvollkommen, durch den Zustand der andern bedingt und in eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen zerfallen."

Das System der Wissenschaften als ewig vorläufiges System

327

mit dem Grad ihrer Annäherung an ihren letzten Gegenstand Welt ihre Unterscheidung:^ Die höchste Einheit des Wissens, beide Gebiete des Seins in ihrem Ineinandersein ausdrückend, als vollkommene Durchdringung des Ethischen und Physischen und vollkommenes Zugleich des Beschaulichen und Erfahrungsmäßigen ist die Idee der Weltweisheit. [...] Aber sie kann nie fertig sein, so lange Ethik und Physik als gesonderte Wissenschaften bestehen. (ΕώΒI 204, § 61) 5 0

Zugespitzt heißt dies jedoch, dass man von einem System der Wissenschaften (in dem sich einzelne Wissenschaften voneinander unterscheiden und in Beziehung zueinander stehen) auch nur solange sprechen kann, wie die einzelnen Wissenschaften selbst unvollkommen und im Werden sind. In dem Moment, in dem die einzelnen Wissenschaften die in den Grundlinien aufgestellten Bedingungen der Wissenschaftlichkeit vollkommen erfüllen - dies ist die paradox anmutende Folgerung - ist das System der Wissenschaften zugleich aufgehoben. 5 1 Man könnte auch formulieren: Ein System ist immer ein unvollendetes, sich modifizierendes System - ein „System unterwegs". Die Einheit dieses Systems ist dadurch gegeben, dass die Wissenschaften in letzter Instanz alle auf denselben Gegenstand Welt gehen. Eine Konstante im System bildet die bipolare Grundstruktur der Wissenschaften, die nicht die Ergebnisse der Wissenschaften selbst, aber die Art und Weise ihrer Wechselwirkungszusammenhänge festzuschreiben scheint. Diese bipolare Grundstruktur der Wissenschaften geht auf die bipolare Struktur der Tätigkeiten zurück, die sie zum Gegenstand haben. Vernunftwerden der Natur (Gegenstand der Physik) und Naturwerden der Vernunft (Gegenstand der Ethik), Organwerden der Natur (Gegenstand einer praktischen Philosophie, oder Sittenlehre) und Symbolwerden der Natur (Gegenstand der Erkenntnistheorie oder Dialektik) sind Tätigkeiten, die jeweils einen Pol eines von zwei Seiten ausgehenden Einigungsprozesses benennen. Die Einzelwissenschaften finden in ihrer Vollendung zur „Weltweisheit" gerade deswegen zusammen, weil die von ihnen fokussierten Seiten des Einigungsprozesses bei fortschreitender Einigung nicht von ihrem Pendant isoliert werden können.

In eben diesem Sinne ist auch die Formulierung zu verstehen, dass das Verstehen ein „allmähliches Sichselbstfinden des denkenden Geistes" ist (siehe Kapitel 4.4.). In Annäherung an ein vollständiges Verstehen muss die Hermeneutik über sich selbst hinaus, sie ist nicht nur eine Vorstufe des Gemeinschaftlichwerdens der Vernunft, sie ist in letzter Instanz schon selbst Vermittlung des Individuellen mit dem Allgemeinen - das vollständige Verstehen ist ein Verstehen, das zugleich ein Erkennen und Handeln ist. 50

51

Vgl. EtbBl 9, § 34: „Die Ethik ist daher zu keiner Zeit besser als die Physik; immer Parallelismus beider." Vgl. dazu EtbBI 8, § 22 U m m a 4: „jedes besondere Wissen, also auch die Systeme desselben, d. h. die realen Wissenschaften, stehn unter der Form des Gegensazes."

328

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

Diese bipolare Struktur kann auch als „Dreier-" (Ethik, Physik, Dialektik) bzw. „Fünferschema" (Ethik-Geschichtskunde, Physik-Naturkunde, Dialektik,) bezeichnet werden, insofern der Dialektik als Wissenschaftslehre eine gesonderte (keine höchste) Stellung unter den Wissenschaften zukommt.

Dialektik

Physik

Rthik

als Wissenschaft von den

als Wissenschaft von den

Handlungen der Natur

Handlungen der Vernunft

Naturkunde als empirische Naturwissenschaft

Geschichtskundc Physik als spekulative

als empirische

Ethik

Vernunftwissenschaft

als spekulative

Naturwissenschaft

Vernunftwissenschaft

(Dialektik)

Abb. 6

Die bipolare Architektur der Wissenschaften - „Fünferschema"

Im Sommersemester 1818 beginnt Schleiermacher damit, eine Vorlesung zur Psychologie zu halten und wiederholt diese Vorlesung insgesamt dreimal, zuletzt im Jahr 1833/34. Obgleich von verschiedener Seite aus die philosophische Bedeutung der Psychologievorlesung innerhalb des Denkens Schleiermachers hervorgehoben wurde 5 2 und bereits 1873 und 1895 zwei erste Monographien zur Psychologie entstehen, 53 bleibt die Psychologievorlesung innerhalb der Sekundärliteratur insgesamt weitgehend unbeachtet und auch in jüngster Zeit sind lediglich drei Aufsätze von Herms, Tice und Arndt zu verzeichnen. 54 " Diese Zurückhaltung geht sicherlich auch darauf zurück, dass Schleiermacher mit der Psychologie einen 52

53

So unter anderem von Dilthey, für den Schleiermacher die empirische Psychologie als „allgemeine Grundlage seines Philosophierens" betrachtet und die Erkenntnistheorie auf „psychologischer Selbstbesinnung" ruht (DILTHEY, heben Schkiermacbers, 465f.). L. George, der Herausgeber der ersten Ausgabe der Psychologievorlesungen, bezeichnet die Psychologie sogar als „Schlüssel [...] zu dem philosophischen System" Schleiermachers (vgl. P/ySW III 6, VII). Vgl. LANG 1873 u. GEYER 1895.

54

Vgl. HERMS 1991, TICE 1991 u. ARNDT 1998.

Das System der Wissenschaften als ewig vorläufiges System

329

in Bezug auf die anderen Wissenschaften relativ eigenständigen Entwurf des „ganzen geistigen Lebens" anfertigt, 55 der die Einordnung der Psychologie in die bipolare Wissenschaftsstruktur problematisch werden lässt. Auf den folgenden Seiten werde ich sicherlich weder der Psychologie als Werk gerecht werden noch die Frage nach der Bedeutung der Psychologie im Wissenschaftssystem angemessen beantworten können. Dennoch möchte ich diese Frage nicht übergehen, sondern einige Gedanken zum systematischen Ort der Psychologie zur Diskussion stellen. Über das Verhältnis dieser neuen Wissenschaft zur Ethik, Physik und Dialektik und ihren Ort im System der Wissenschaften äußert sich Schleiermacher selbst auffalligerweise kaum, das Verhältnis von Dialektik und Psychologie sei, wie Dilthey bemerkt in „bemerkenswerter Undeutlichkeit gehalten" (DILTHEY 1966, 465f.). In einer der wenigen Stellen zur Psychologie in der Ethikvorlesung bezeichnet Schleiermacher die Psychologie als ein Pendant zur „Naturlehre und Naturbeschreibung", sie sei „also empirisches Wissen um das Tun des Geistigen" (EthW II 632). Und ein wenig später fährt er fort: „Die Psychologie aber erschöpft die empirische Seite nicht, sondern das thut die Geschichtskunde" (EttiW II 632). Diesen Aussagen zufolge müsste die Psychologie als ein Teil oder Aspekt der Geschichtskunde der spekulative ausgerichteten Ethik gegenüberstehen. Schleiermachers Psychologie ist inhaltlich ebenso breit angelegt wie die Ethik, denn sie thematisiert alle Tätigkeiten der Vernunft: Handeln, Denken und Fühlen und entspricht so dem Gegenstand nach der empirischen Psychologie, die sich mit den so genannten Vermögen des Menschen, dem Gefühl, dem Verstand und einem Willen beschäftigt. 56 Im Gegensatz zur Ethik soll die Psychologie jedoch eine empirische Perspektive auf diese Tätigkeiten verfolgen, denn sie setzt mit der „Darlegung der verschiedenen Thätigkeiten der Seele aus der Beobachtung" an (P^SW III 6, 407). Grundlegend für die Psychologie ist eine zweifache Tätigkeit des Menschen, eine eher rezeptiv „aufnehmende" und eine eher spontan „ausströmende" Tätigkeit, deren Wechselverhältnis auf Stufen der Wahrnehmung, des Denkens, des Selbstbewusstseins und des Wollens untersucht wird. Die ursprünglich zweigeteilte Tätigkeit des Aufnehmens und Ausströmens kann mit der für die Ethik zentralen Unterscheidung in Symbolisieren und Organisieren identifiziert werden, sie knüpft jedoch auch an die in der Apologie der Reden formulierte doppelte Tätig-

55

Schleiermacher beschreibt in der Psychologievorlesung von 1818 die Aufgabe der Psychologie als „das geistige Ptincip, welches durch das ganze Leben hindurch geht, auf einer bestimmten Stufe, der einzigen, die uns wirklich gegeben ist, anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen" ( f t ) S W III 6, 407).

56

Zum Entwurf der Schleiermacherschen Psychologie im Verhältnis zur Psychologie des 18. Jahrhunderts vgl. A R N D T 1998, 149ff.

330

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

keit (oder den doppelten „Trieb") des rezeptiven In-sich-Aufnehmens und produktiven oder spontanen Aus-sich-Herausgehens an: Jede menschliche Seele — ihre vorübergehenden Handlungen sowohl als die innern Eigenthümlichkeiten ihres Daseins führen uns darauf — ist nur ein Produkt zweier entgegengesezter Triebe. Der eine ist das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen, in ihr eignes Leben zu verstricken, und wo möglich in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen. Der andere ist die Sehnsucht ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzutheilen, und selbst nie erschöpft zu werden. (RRKGA I 2, 191)

Herms sieht in den 1818 begonnenen Psychologievorlesungen einen Neuentwurf der Systemkonzeption, mit dem Schleiermacher an die Überlegungen der Grundlinien zur obersten Wissenschaft anknüpft. Die Psychologie müsse als „krönender Abschluss" (HERMS 1991, 377f.) des Wissenschaftssystem begriffen werden, insofern sie in doppelter Hinsicht die Position der obersten Wissenschaft beanspruche: Zum einen müsse die Psychologie von der Anlage her als „Weltweisheit" begriffen werden (mit der Einschränkung, dass die vorgetragene Psychologie noch im Fragmentstatus vorliegt), da sich in ihr nicht nur beide Formen des Wissens, sondern auch beide Gegenstandsbereiche, Physik und Ethik, durchdringen. Denn Gegenstand der Psychologie sei die Seele, die sowohl als Teil der Ethik aber auch als Teil der Physik aufgefasst werden könne, insofern sie als ein „ursprünglich für sich gesetztes vorausgesetzt wird" (HERMS 1991, 377). Zum anderen löse sie die Dialektik in ihrer wissensbegründenden Funktion ab, da sie eine Theorie des Selbstbewusstseins liefere, die in der Dialektik nur marginal behandelt werde. Je mehr sich die Dialektik als Kunstlehre etabliere, desto mehr werde deutlich, „daß in ihr die Idee des Wissens zwar vorausgesetzt werden mußte, aber eben auch nur vorausgesetzt, gewissermaßen als „Geliehenes" aus einer anderen Disziplin" (HERMS 1991,395). Ob man Herms' Einschätzung der Psychologie folgt, hängt davon ab, welchen Stellenwert man der Theorie des Selbstbewusstseins in Bezug auf die Idee des Wissens einräumt, wie man den Gegenstand der Psychologie interpretiert und schließlich ob, und wenn ja, in welcher Form sich die Psychologie selbst wiederum der Wechselwirkung der Wissenschaften unterwerfen muss. Plant Schleiermacher mit seiner Psychologie den Entwurf einer „Weltweisheit", so müsste sie nicht nur als Schnittpunkt der Realwissenschaften gedacht werden, sondern als eine alle Wissenschaften, mithin Physik und Ethik, vollständig umfassende Wissenschaft. Dies ist ganz eindeutig nicht der Fall. Und auch die These, dass die Psychologie im Schnittbereich beider Realwissenschaften anzusiedeln ist, kann in Frage gestellt werden. Zwar ist für die Psychologie die Leib-Seele-Einheit grundlegend, sie konzentriert sich jedoch nur auf die Seelenseite, sodass sie zwar sicherlich mehr Anknüpfungspunkte für naturwissenschaftliche Forschung bietet als die Ethik, im Gegensatz zu unserem heutigen Verständnis der Disziplin aber noch lange keine semi-naturwissenschafdiche Forschung selbst darstellt. Die

Das System der Wissenschaften als ewig vorläufiges System

331

Psychologie als „Weltweisheit" zu entwerfen, würde auch weniger einem „krönenden Abschluss" des Schleiermacherschen Systems gleichkommen, sondern eher einer grundlegenden Richtungsänderung entsprechen. Denn die Ausführungen zur Ethik und Dialektik machen deutlich, dass die „Weltweisheit" als Zielbegriff verstanden werden muss, deren Stelle im realen Wissen nicht von einer einzelnen Wissenschaft, sondern von dem per se unvollständigen System sich modifizierender Wissenschaften eingenommen wird. Auch die These, dass die Psychologie die Dialektik in ihrer Funktion im System der Wissenschaften ablöst, scheint mir nicht haltbar. Das Selbstbewusstsein findet in der Oialektik in der Tat nur einen untergeordneten Platz; die Analyse der Idee des Wissens führt in ihrer vierten und letzten Frage (Wie und unter welchen VAussetzungen ist Wissen möglich?) zum absoluten Gegensatz, der als „Denkgrenze" markiert wird. Und nur bis zu diesem Punkt, der klärt, was an Voraussetzungen des Wissens oder Denkens nicht mehr selbst Gegenstand der Reflexion sein kann, kann die Analyse der Idee des Wissens fortschreiten. Thematisiert Schleiermacher innerhalb der Oialektik den transzendenten Grund, das Selbstbewusstsein oder das „schlechthinnige Abhängigkeitgefühl", so um die Anschlussstelle für die Theologie oder eben auch die Psychologie zu markieren, die das Selbstbewusstsein zum Gegenstand haben. Aber auch die Theologie und die Psychologie, die auf das Selbstbewusstsein reflektieren, können ihren Gegenstand lediglich aufhellen, jedoch in keiner Wiese begründen. Grundlegend für die Theorie des Wissens ist jedoch nicht das Selbstbewusstsein (auch wenn es seinen reflexiv nicht zugänglichen Grund darstellt), sondern die Analyse der Idee des Wissens, mit der die Dialektik ihren Status als Wissenschaftslehre rechtfertigt. Sie ist - und darin liegt ja gerade die Pointe ihrer Anlage - Theorie und Technik in einem. Die Meinung, dass die Psychologie die Dialektik in ihrer grundlegenden Funktion für das Wissen nicht ablösen kann, vertritt auch Arndt. 5 7 Anders als die Oialektik setze die Psychologie nicht das Wissen, sondern das Gefühl als das Primäre und nähert sich dem Selbstbewusstsein aus einer grundsätzlich anderen Richtung als die Oialektik. Die Psychologie geht vom Empirischen aus und stößt auf das Faktum des Selbstbewußtseins als Gefühl, in dem die Seele von einem Absoluten ergriffen wird. Die Reflexion auf das, was sich in diesem Gefühl kundtut, fällt jedoch außerhalb des Bereiches der Psychologie u n d ist für diese Disziplin transzendent. Die Dialektik hingegen richtet sich auf die transzendentalen Voraussetzungen des Wissens und Handelns als immanente Bedingung ihres Vollzugs; sie stößt dabei auf das unmittelbare Selbstbewußtsein als den ausgezeichneten Ort ihres Innewerdens. [ . . . ] In diesem Sinne bildet die Unmittelbarkeit des Gefühls eine Grenze der Reflexion in beiden Disziplinen und zugleich einen Schnittpunkt, an dem sie sich treffen und voneinander unterscheiden. Sie nähern sich dieser Grenze in einer gegenläufigen Bewegung; die Psychologie von

57

Vgl. ARNDT 1998, „Spekulativ Ttticke . . 1 4 9 u. 156.

332

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und I -eben

Seiten der Empirie, die Dialektik von Seiten der Spekulation. (ARNDT 1998, „Spekulative Blicke...", 157)

Arndt schlägt vor, das Dreierschema des Wissenschaftssystems unter Einbeziehung der Psychologie zu einem Viererschema, einer Quadruplizität, umzudenken und den zwei Realwissenschaften Physik und Ethik die zwei kritischen Wissenschaften Dialektik und die „höhere kritische Disziplin" Psychologie zur Seite zu stellen. Inwiefern der Psychologie der Status einer „höheren kritischen Disziplin" zugesprochen werden kann, leuchtet indes nicht ganz ein. Versteht man dagegen unter kritischer Disziplin, dass sie Kritik selbst zum Gegenstand hat, so kann lediglich die Dialektik (und hinsichtlich der engen Verbindung von Kritik und Hermeneutik auch die Hermeneutik) als kritische Disziplin gelten. Versteht man unter kritischer Disziplin den Umstand, dass sie mehr empirisches und mehr spekulatives Wissen vermittelt, so kann nicht nur die Psychologie, sondern muss jede Wissenschaft als kritische Disziplin gelten. Unter dieser Perspektive kann sich die Psychologie als eine „höhere" kritische Disziplin nur durch den Umstand auszeichnen, dass sie dem Umfang ihres Gegenstandes nach einen besonders großen Bogen spannt. Für Arndt ist die Psychologie eine „höhere kritische Disziplin, welche das empirisch gegebene Geistige mit dem Spekulativen, dem transzendentalen Grund der Dialektik, vermittelt." (ARNDT 1998, Spekulative Bücke..., 158). 58 Versteht man die Psychologie jedoch hinsichtlich der Art und Weise, wie das Selbstbewusstsein thematisiert wird, als ein von der Empirie ausgehendes Komplement zur Dialektik, dann kann die Psychologie selbst nicht wieder als „höhere kritische Disziplin" verstanden werden, sondern es bedarf vielmehr einer eigenen kritischen Anstrengung, die Überlegungen beider Wissenschaften zusammenzuführen. Sieht man in der Psychologie weder einen systematischen Neuansatz, mit dem Schleiermacher noch einmal die Frage nach der obersten Wissenschaft zu beantworten sucht, noch eine „höhere kritische" Disziplin, so bleiben Schleiermachers knappe Angaben zum systematischen Ort der Psychologie bestehen. Folgt man diesen Aussagen, so steht die Psychologie als „empirisches Wissen um das Tun des Geistigen" und als Teil der Geschichtslehre der Ethik gegenüber. Diese Verortung in dem bipolar aufgebauten System der Wissenschaften schließt nicht aus, dass die Psychologie (auf empirische Weise) einen für das System zentralen Aspekt wie das unmittelbare Selbstbewusstseins thematisiert. Sie schließt ebenfalls nicht aus, dass Schleiermacher mit dem Entwurf der Psychologie nicht nur eine Ausformulierung oder Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems vornimmt, sondern implizit auch ein Ungenügen an der Ethik formuliert und dass die Ausführungen zur Psychologie mit Ausführungen der Ethik in Streit geraten.

58

Vgl. auch A R N D T 1996, Kommentar..., 1108.

Das System der Wissenschaften als ewig vorläufiges System

333

Ein solches Ungenügen könnte darin bestanden haben, dass die Ethik die einzelnen sittlichen Tätigkeiten, obwohl sie in der Einleitung deren Wechselwirkung programmatisch darlegt, in der Ausführung getrennt zu behandelt sucht. Neben ihrem empirischen Vorgehen unterscheidet sich die Psychologie auch dadurch von der Ethik, dass sie das Wie der Zusammengehörigkeit der Tätigkeiten untersucht und den Menschen, zumindest im zweiten Teil der Vorlesung, als eigentümliche Einheit untersucht. Während die Ethik die menschliche Tätigkeit immer unter bestimmten Aspekten bzw. innerhalb einer „ethischen Form" betrachtet (ζ. B. den Menschen als Familienmitglied, als Mitglied der Akademie oder Gemeinde, als Staatsbürger usw.), richtet sich die Psychologie im „konstruktiven" Teil auf die Einheit Mensch und betrachtet diesen unter seiner spezifischen Eigentümlichkeit: seinem Charakter, seinem Alter und seinem Geschlecht. 59 Wie sich Psychologe, Ethik, Dialektik in diesem Streit zu modifizieren haben, muss hier offen gelassen werden. 60

5.2.2. Die beiden Realwissenschaften Physik und Ethik und die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften Obwohl Schleiermacher über Jahre nicht müde wurde, Fichte und Schelling die Einseitigkeit ihrer Systeme vorzuwerfen, 61 hat Schleiermacher die „Physik" als Wissenschaft von den Handlungen der Natur selbst bekanntlich nie ausgeführt. Die Einleitungen der Ethikvorlesungen, die beide Wissenschaften als die zwei „Realwissenschaften" vorstellt und ihre Wechselwirkung herausstreicht, markiert jedoch die Stelle, die die Physik im System einnehmen soll. Über die konkrete

60

61

Schleiermachers Ankündigung, auch die Eigentümlichkeit individuenübergreifender Einheiten wie die der Volksgemeinschaft zu untersuchen, bleibt ohne Ausführung. In diesem Dreier- oder Fünferschema kommt nicht nur der Psychologie, sondern auch der Theologie, die in den Überlegungen dieser Arbeit weitgehend ausgeblendet wurde, als Wissenschaft von Religion keine unproblematische Stellung zu. An dieser problematischen Bedeutung und Rolle der Theologie im System der Wissenschaften lässt sich nicht vorbeigehen, und zugleich wendet man sich damit einem Thema zu, das in einem Unterkapitel noch nicht einmal ansatzweise bearbeitet werden kann, dessen Erörterung vielmehr ganze Bände füllen kann und gefüllt hat, gehört es doch seit dem frühen Beginn der Schleiermachersekundärliteratur zu einem Hauptfokus der theologischen Sekundärliteratur. Diese Frage sei hier bewusst in Klammern gesetzt. Vgl. beispielsweise GV·GKA I 3, 320, Nr. 149: „Aus dem Idealismus sind Zwey verschiedene Theorien ausgegangen. Die fichtische welcher durch die ganze Anlage und Gesinnung keine Physik möglich ist, und die schellingsche welcher auf eben die Art keine Ethik möglich ist. Zu beweisen ist demnach daß auch die Physik des lezten und die Ethik des ersten schlecht und leer seyn muß, ohnerachtet der Bewunderungswürdigkeit der Zurüstungen." Vgl. auch einen Brief an Brinckmann (BrR/4, 94f.): „Wer nun aber die Philosophie und das Leben so strenge trennt, wie Fichte thut, was kann an dem Großes sein?" und einen Brief an F.H.C. Schwarz vom 28.3.1801, in dem er sich gegen „die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren" wendet (KGA V/5, 76, Brief Nr. 1033).

334

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

Struktur und Anlage der Physik finden sich meines Wissens nur zwei kurze nicht sehr aussagekräftige Stellen in der Ethik, die zumindest Schleiermachers Reflexion auf diese Problematik belegen. 62 Auf der Basis der Ethik- und Dialektikvorlesungen lassen sich jedoch zentrale Aussagen über die Anlage und das Verständnis der Physik als Wissenschaft von den Handlungen der Natur machen, hinter denen sich ein sehr modernes Verständnis der Naturwissenschaft abzeichnet. Denn einerseits erhellt sich der Naturbegriff nur in seinem Verhältnis zur Vernunft, andererseits ist der in der Dialektik entfaltete Wissensbegriff grundlegend für beide Realwissenschaften und beschreibt nicht nur den Prozess der ethischen, sondern ebenso den der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Eine Auseinandersetzung mit dem Naturbegriff, die Frage nach der Methode der Naturwissenschaft und ihrer Wechselwirkung mit der Ethik ersetzt zwar nicht die fehlende Ausarbeitung der Physik, kann aber doch gegen den Vorwurf ins Feld geführt werden, Schleiermacher sei derselben von ihm selbst so heftig kritisierten Einseitigkeit verfallen. In der Philosophiegeschichtsschreibung wird für die Trennung der Wissenschaftslandschaft in Geistes- und Naturwissenschaften in der Regel Dilthey als Dreh- und Angelpunkt begriffen. Von diesem Punkt aus lässt sich dann, was auch immer wieder geschieht, die Theorie der Wissenschaften vor Dilthey als Vorgeschichte dieser Trennung lesen und im Anschluss an Dilthey als ihre Radikalisierung, Differenzierung (beispielsweise in Droysens Dreiteilung der Wissenschaften in Logik, Physik und Ethik, und den ihnen entsprechenden Methoden des Erkennens, Erklärens und Verstehens) und Modifikation (beispielsweise durch Ablösung des Begriffs der Geisteswissenschaften bei den Neukantianern Rickert und Windelband durch den der Kulturwissenschaften). Auch wenn die mittlerweile als Zwei- bzw. Drei-Kulturen-Lehre diskutierte Einteilung der Wissenschaften6-' immer wieder starker Kritik ausgeliefert ist, und die scharfen Grenzen Der Dreiteilung der Ethik in Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre stellt Schleiermacher dort die Dreiteilung der Naturwissenschaft in eine organische (System der lebendigen, sich wieder erzeugenden Formen), dynamische (System der Kräfte) und mechanische (System der Bewegungen) gegenüber. Für diese drei verschiedenen Perspektiven, in denen Naturwissenschaft betrieben werden kann, soll das gleiche Verhältnis gelten wie für Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre. Vgl. dazu die Ethikvorlesung von 1812/13 EthBl 18, § 102f. sowie die Ethikvorlesung von 1816/17 /://jßI 220f., § 116 u. 224. Eine Art „Ersatz" für diese fehlende Ausarbeitung der Physik könnte man in der Naturphilosophie des Hallenser Professors Heinrich Steffens sehen. Denn Schleiermacher verweist ausdrücklich hinsichtlich der noch ausstehenden naturwissenschaftlichnaturphilosophischen Betrachtung auf seinen Freund und Kollegen, den Schelüngianer Steffens. Und dieser verweist in seinen naturphilosophischen Vorlesungen wiederum auf Schleiermachers Ethik, sodass sich beide, zumindest ihrem Selbstverständnis nach, in der Ausarbeitung der Systemteile ergänzen. Nach dem Weggang aus Halle versuchte Schleiermacher seit 1808 die Berufung Heinrich Steffens nach Berlin voranzutreiben, unter anderem als Gegengewicht zu Fichte (vgl. dazu einen Brief an Brinckmann vom 26.1. 1808, ßrR/4,145). Vgl. beispielsweise

sebaften, hrsg. von

Glan^ und Elend der %wei Kulturen: über Verträglichkeit der Natur- und GeisteswissenHelmut Bachmaier und Ernst Peter Fischer, Konstanz 1991.

Das System der Wissenschaften als ewig vorläufiges System

335

schon längst aufgeweicht sind, scheint diese Dichotomie oder Trichotomie doch soviel Plausibilität 2u haben, dass sie nicht vollständig aus der Diskussion verschwindet. Eine solche Lektüre der Wissenschaftsgeschichte (Theorie und Praxis der Wissenschaften eingeschlossen), die von Dilthey aus vorwärts und rückwärts blickt, birgt die Gefahr einer etwas schablonenhaften Interpretation. Haug weist in diesem Zusammenhang darauf hin,64" und der Hinweis scheint mir wertvoll, dass es wenig ertragreich ist, sich in der Vorgeschichte der Diltheyschen Unterscheidung auf die Suche nach Denkern zu machen, die entweder gegenüber der sich anbahnenden Entzweiung die Einheit der Wissenschaften betonen, oder aber den Trennungsprozess vorantreiben. Vielmehr lassen sich unterschiedliche Modelle der Trennung der Geistes- und Naturwissenschaft(en) feststellen, die zugleich auch immer Einheitsmodelle darstellen, denn die Frage nach der Einheit der Wissenschaften steht mit der ausgesprochenen Trennung immer im Raum. 6 5 Es ist also weniger sinnvoll, danach zu fragen, ob bei Schleiermacher schon die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft(en) vorliegt, sondern me Einheit und Differenz der beiden Realwissenschaften bei Schleiermacher angelegt sind. Wie auszuführen sein wird, lassen sich Ethik und Physik, die auch als Geistes- und Naturwissenschaft bezeichnet werden, 66 für Schleiermacher ihrem Gegenstand, nicht jedoch ihrer Methode nach trennen. Mit der für alle Wissenschaften grundlegenden dialektisch-hermeneutischen Methode, die sich gegen Diltheys Modell des Methodendualismus absetzt, und der für alle Wissenschaften grundlegenden Wechselwirkung der Wissenschaften eröffnet Schleiermacher eine Perspektive auf die soziale und hermeneutische Dimension der Naturwissenschaft, die erst 100 Jahre später mit dem Beginn der Wissenssoziologie breitere Diskussion findet. Für Schleiermacher können Natur- und Geisteswissenschaft nicht streng voneinander getrennt werden und ihre wechselseitige Bedingtheit ist genauso evident, wie eine tendenzielle Trennung der Wissenschaften grundlegend für die Dynamik der Wissenschaften bleibt. Ausgehend von einem dynamischen Natur- und Vernunftbegriff wird Schleiermacher weder zum Anwalt totaler Grenzauflösung, noch ein Anwalt gesicherter Grenzziehung, sondern entwirft eine Theorie tendenzieller Unterscheidung und eine Theorie des „Grenzverkehrs" - modern gesprochen, eine Theorie der für alle Wissenschaften konstitutiven Interdisziplinarität. Eine Unterscheidung der beiden Realwissenschaften Ethik und Physik kann bezogen auf ihren Inhalt vorgenommen werden. In der Naturwissenschaft, so formuliert Schleiermacher im hrouillon yir Ethik von 1805/06, erscheint dem 64

Vgl. HAUG 247ff.

65

Zur Frage, wann die einschlägige Trennung von Geist und Natur bzw. von Geistes- und Naturwissenschaften zu veranschlagen ist und warum eine solche Trennung sich durchgesetzt hat, vgl. BUBNER (HRSG.) 1990, Die Trennung im Natur und Geist.

66

Vgl. beispielsweise BrEthßl

3.

336

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

menschlichen Geist alles „als Product", in der Ethik hingegen alles „als Produciren" (BrEthBl 3). Natur liegt dem erkennenden menschlichen Geist als Produkt, als Objekt vor, während sich der Geist selbst vor allem als Tätigkeit erfahrt. Diese Unterscheidung hinsichtlich des Gegenstandes kann jedoch aufgrund des dynamischen Natur- und Vernunftbegriffes bei Schleiermacher immer nur als Tendenz bestehen und nie rein vorgenommen werden. Denn auch in der Ethik wird uns nicht nur das Produzieren selbst, sondern werden auch die Produkte menschlicher Handlungen zum Gegenstand, die sich beispielsweise in der Form von Institutionen objektivieren können. Auf diese Objektivationen des menschlichen Geistes und ihre bestimmende Funktion für weitere Handlungen legt Schleiermacher mit der Güterlehre der Ethik sogar ein besonderes Gewicht. Im Unterschied zu dem Objekt der Natur könnte man hier vielleicht von Werken sprechen oder von Kultur im Schleiermacherschen Sinne — d. h. von organisierter, zum Organ oder Werkzeug gebildeter Natur. Wo aber fangen Werke oder Kultur an und wo hören Naturvorgänge auf? Kann eine gentechnisch manipulierte Pflanze noch als Natur bezeichnet werden, und ist im Gegenzug dazu ein aggressives Verhalten besser als Naturvorgang oder als Tätigkeit der Vernunft beschrieben? Denn auch Natur tritt uns nicht nur als Produkt, sondern ebenso als „Produzieren" oder Tätigkeit entgegen, u. a. in Form unseres Körpers. Werke oder Kultur als Produktseite der Geisteswissenschaft und Natur lassen sich ebenso wenig klar voneinander trennen wie die Naturvorgänge (vor allem biologischer Art) als tätige Seite der Natur von vernünftigen Handlungen. Wir wenden uns der Natur als dem „Dinglichen" oder „Objekthaften" zu, demjenigen, in das wir scheinbar nicht involviert sind. Da die uns vorliegende Natur aber immer schon vernünftig gebildete Natur ist, muss in dem Objekt-Sein für uns ihr Subjekt-Sein und die Dynamik der Natur mitgedacht werden. Dieses Handeln der Natur, ihr Subjekt-Sein formuliert Schleiermacher explizit in der Ethikvorlesung von 1812/13 und relativiert so die Zuweisung in Produzieren und Produkt des Brouiiton ^ur Ethik. Die Ethik ist also Darstellung des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunft, d. h. von der Seite, wie in dem Ineinandersein der Gegensäze die Vernunft das Handelnde ist, und das Reale das Behandelte, und die Physik Darstellung unter der Potenz der Natur, d. h. wie das Reale das Handelnde ist, und das Ideale das Behandelte. (EthBI 8, § 28 Lemma 10)

Natur und Vernunft sind die Grenzbegriffe des absoluten Gegensatzes, absolute Einheit und absolute Mannigfaltigkeit und äußern sich als Funktion: einheitsstiftend oder strukturierend und Materie oder Stoff gebend. Vernunft und Natur, die als absolute Gegensätze oder Vermögen keinerlei Wirklichkeit haben, treten in der Wirklichkeit nur aneinander in Erscheinung, in Form einer „Natur, in welcher die Vernunft schon ist", und einer „Vernunft, welche schon in der Natur ist" (EthBI 13, § 67). D. h. jeder vernünftige Akt hat einen bestimmten Gehalt und in

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der uns erscheinenden Natur hat sich Vernunft bereits eingeschrieben und schreibt sich weiterhin ein. Dies formuliert Schleiermacher explizit auch für den Gegensatz von Leib und Seele, in deren Dualität für uns der Gegensatz von Geistes- und Naturwissenschaft nach Schleiermacher „angeboren" sei, insofern uns die Trennung von Produkt oder Objekt und Produzieren oder Geistigkeit in der Form von Leib und Seele immer schon vorliegt: 6 7 Aber, was wir Leib nennen, ist als solcher überall schon ein Ineinander des Dinglichen und Geistigen, und was Seele als solche eben so. (EtbBl 200, § 49) Natur und Vernunft als reale Natur und reale Vernunft sind in fortwährender Bildung. Unter diesen Voraussetzungen kann es weder eine uns vorliegende Natur geben, deren objektiv allgemeine Beschaffenheit wir uns durch Wahrnehmungen aneignen können, noch eine Natur, deren Objektivität durch die subjektivallgemeinen Formen des Erkennens garantiert wird und wie bei Kant als Zusammenhang der über Vernunftgesetze vermittelten Erscheinungen begriffen werden kann. 6 8 Natur ist nur in dem Maße, in dem wir Vernunft entfaltet haben, sie zu beschreiben und zu klassifizieren und umgekehrt: Vernunft haben wir nur in dem Maße, in dem Natur ihr Anlass gibt, sich an ihr ordnend zu erproben. Dieses Aneinander-Sein von Natur und Vernunft spiegelt sich auch im Verhältnis von Sein und Denken wider (siehe Kapitel 3.4.). Wissen und Sein (bzw. Denken, insofern es sich um ein vorläufiges, vermeintliches Wissen handelt) „sind eines des andern Maaß" (EthBI 193, § 26). Ebensowenig wie Schleiermacher eine einfache Abbildtheorie vertritt (wir nehmen das Sein wahr, wie es ist), kann die Bestimmung des Seins nicht allein auf unseren Erkenntnisapparat zurückgeführt werden: Die Einheit der Erscheinung eines Moments sondert sich auf eine bestimmte Art nur in Mannigfaltiges durch Beziehung auf verschiedene Begriffe. Und in einem Begriff an sich liegt kein Grund ihn nicht in die Vielheit seiner Unterarten zu spalten, oder ihn nicht unter seinen höhern zu verbergen, sondern nur in der Bestimmtheit des Seins, worauf er bezogen wird. (EfhBl 194, § 26) Schleiermachers erkenntnistheoretische Grundposition, die davon ausgeht, dass auch in der Erkenntnis der Natur als der Erkenntnis des „Dinglichen" oder „Objekthaften" der Erkennende involviert ist, findet ein Jahrhundert später auch in der naturwissenschaftlichen Forschung und zwar vor allem in der Quantentheorie 67 68

Vgl. Etm 8, § 26/27. Vgl. K A N T KrV, A 216/ Β 263: „Unter Natur (im empirischen Verstände) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d.i. nach Gesetzen. Es sind also gewisse Gesetze, und zwar a priori, welche allererst eine Natur möglich machen; die empirischen können nur vermittels der Erfahrung, und zwar zur Folge jener ursprünglichen Gesetze, nach welchen selbst Erfahrung allererst möglich wird, stattfinden, und gefunden werden."'

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eine Bestätigung. 69 Werner Heisenberg (1901-1976) formuliert in seiner Theorie der Unschärferelation oder Unbestimmtheitsrelation (1927) die Unmöglichkeit, im Bereich der Quantenmechanik exakte, von der „Größe" des Beobachters unabhängige Messungen vorzunehmen, denn es gibt eine Mindestenergie, mit der ein Experiment durchgeführt werden muss, und infolgedessen auch eine Mindestbeeinflussung des Experimentes. Je genauer man eine Eigenschaft messen möchte (ζ. B. die Geschwindigkeit des Elektrons), desto ungenauer wird zwangsläufig die Information über die andere Eigenschaft (in diesem Fall den Aufenthaltsort des Elektrons). Beides gleichzeitig zu bestimmen ist unmöglich, sodass sich nie eine von der Messeinrichtung unabhängige „Wirklichkeit" beobachten lässt und die Unschärfe oder Unbestimmtheit der Messungen sich niemals auf Null reduzieren lässt. J e nach Versuchsanordnung erhält man darüber hinaus andere Informationen über den Untersuchungsgegenstand: Mal erscheint er als Teilchen, mal als Welle („Welle-Teilchen-Dualismus" oder „Welle-KorpuskelDualismus"). Diese duale Gesetzmäßigkeit muss nicht zugunsten einer Erklärungstheorie entschieden werden, sondern soll vielmehr als „komplementärer" Erklärungsansatz anerkannt werden. 70 Heisenbergs und ebenso Bohrs (1885-1962) Untersuchungen bauen auf Max Plancks (1858-1947) Strahlengesetz und der Entdeckung des Wirkungsquantums „h" auf, mit dem dieser bereits darauf hinwies, dass es eine Mindestenergie geben müsse, mit der ein Experiment durchgeführt werden könne und der Beobachtbarkeit eine prinzipielle Grenze gesetzt sei. Gleichwohl zieht Planck nicht dieselben erkenntnistheoretischen Konsequenzen wie Heisenberg oder Bohr. 71 Für Heisenberg und Bohr fordern diese physikalischen Entdeckungen der QuantenInteressant und alles andere als zufällig ist, dass diese Hinsicht in der Physik genau dort einsetzt, wo die naturwissenschaftliche Forschung mit der Zuwendung zum subatomaren „Mikrokosmos" definitiv den Bereich des „Wahrnehmbaren" verlässt und somit auch die Sinne als Anwalt einer uns vorliegenden Außenwelt wegfallen. 70

71

Bine anspruchsvolle Einführung und Darstellung in die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, unter anderem der Quantenmechanik und Relativitätstheorie, die aber dennoch für Nicht-Physiker verständlich bleibt, findet sich bei Michael Drieschner: Rinfiihrung in die Naturphilosophie, Darmstadt 1991. Vgl. dazu Heisenbergs Aufsatzsammlungen zu den philosophisch-erkenntnistheoretischen Implikationen der physikalischen Entdeckungen HEISENBERG 1945, 1955, 1969, 1971, 1989. Max Planck steht, was seine erkenntnistheoretische Position angeht, Albert Einstein (1879-1955) näher als Heisenberg und Bohr. Beide, Planck und Einstein gingen mit der „Kopenhagener Deutung der Quantentheorie" von Heisenberg und Bohr, die eine grundsätzliche Revision des Kausalitätsbegriffes forderte, nicht mit und man könnte beide, obgleich sie die Quantentheorie auf den Weg brachten, immer noch als „Realisten" bezeichnen. Vgl. dazu Einsteins Aufsatz Physik und Realität (1936) und Plancks Buch Das Weltbild der neuen Physik, (1929). Den Sachverhalt der „Kopenhagener Deutung der Quantentheorie" (Heisenberg und Bohr, 1927) fasst Heisenberg in dem Aufsatz Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie, vorgetragen 1929 und veröffentlicht 1930 in Leipzig, zusammen, Niels Bohr in der Schrift Wirkungsquantum und Naturbeschreibung. Komplementarität im Mikrokosmos von 1929. Heisenberg erhielt dafür 1932 den Nobelpreis, den Bohr bereits 1922 für sein Atommodell erhalten hatte.

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mechanik eine grundlegende erkenntnistheoretische Revision. Zumindest im Mikrobereich subatomaren Verhaltens kann es nach Heisenberg nicht mehr um die Feststellung objektiver Sachverhalte gehen, weil zwischen dem selbstständigen Verhalten des Untersuchungsobjektes und der Beeinflussung durch das Messgerät nicht länger exakt unterschieden werden kann. Das von Heisenberg in einem Vortrag 1941 beschriebene Selbstverständnis der Naturwissenschaft, in dem Heisenberg den Prozess der Erkenntnis auch als unentwegtes „Aus-der-Mitte-Anfangen" beschreibt, liest sich fast wie eine Übernahme Schleiermacherscher Überlegungen: Wir sind uns mehr als die frühere Naturwissenschaft dessen bewußt, daß es keinen sicheren Ausgangspunkt gibt, von dem aus Wege in alle Gebiete des Erkennbaren führen, sondern daß alle Erkenntnis gewissermaßen über einer grundlosen Tiefe schweben muß; daß wir stets irgendwo in der Mitte anfangen müssen über die Wirklichkeit zu sprechen mit Begriffen, die erst durch ihre Anwendung allmählich einen schärferen Sinn erhalten, und daß selbst die schärfsten, allen Anforderungen an logische und mathematische Präzision genügenden Begriffssysteme nur tastende Versuche sind, uns in begrenzten Bereichen der Wirklichkeit zurechtzufinden. [...] Aber die Ahnung eines großen Zusammenhangs, in den wir mit unseren Gedanken doch schließlich immer weiter eindringen können, bleibt auch für uns die treibende Kraft der Forschung. (HEISENBERG 1945, 95)

5.2.3. Die dialektisch-hermeneutische Methode und die soziokulturelle „Kontaminiertheit" naturwissenschaftlicher Erkenntnis Können Ethik und Physik bei Schleiermacher tendenziell hinsichtlich ihres Gegenstandes unterschieden werden, so jedoch nicht hinsichtlich ihrer Methode und nicht in Bezug auf ihren Wahrheitsbegriff, denn die Dialektik bestimmt als Wissenschaftswissenschaft die Wahrheitskriterien und die Methode des dialektischen Streitgespräches für alles Wissen. Jedes wissenschaftliche Ergebnis äußert sich jedoch in Sprache, sodass auch für die Naturwissenschaft oder Physik der Begriff der Interpretation zentral wird. Das kritische Verfahren sowie das dem kritischen Verfahren beigeordnete hermeneutische Verfahren haben kein exklusives Verhältnis zur Ethik, sondern gelten für alle Wissenschaften, die Physik oder Naturwissenschaft eingeschlossen. Jeder in Sprache geäußerte Gedanke muss, dies ist der erste Kanon der grammatischen Interpretation, 72 aus der Rede des dem Autor und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachkreises verstanden werden. Ebenso wesentlich wie die Unterschiede verschiedener nationaler und regionaler Sprachen, das könnte man hier ergänzen, sind die Unterschiede der Sprachen verschiedener Akademien - also verschiedener Wissenschaftssprachen, sodass es gerade vor dem Hintergrund der Vielfalt der Wissenschaftssprachen 72

Vgl. Her?

101.

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

einer Hermeneutik bedarf. In der Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschem Sinn, die Schleiermacher im Vorfeld der Gründung der Berliner Universität verfasste, bezeichnet Schleiermacher die Vielfalt der Sprachen als größte Hürde der Einheit der Wissenschaften. Von der Schwierigkeit der Vermittlung zwischen den Sprachen nimmt Schleiermacher jedoch die Mathematik aus, und an anderer Stelle, in der Dialektikvorlesung von 1814/15, spricht Schleiermacher davon, dass die Irrationalität der Sprachen nicht für die rein mathematische Formel gilt. 73 Gegen die These, dass auch das naturwissenschaftliche Wissen einer hermeneutischen Vermittlung bedarf, könnte man einwenden, dass sich die Naturwissenschaft im Gegensatz zur Geisteswissenschaft einer formal-mathematischen Sprache bedient, die sich durch Allgemeinheit auszeichnet. Diesen Einwand bringt Schleiermacher selbst auch in der Dialektik vor: Wenn wir dies [dass in jedem wahrhaft durchdrungenen Wissen Mathematik und Dialektik ist, S. S.] im Allgemeinen als anerkannt sehen, so wird doch jeder sagen, daß die Mathematik in einem nähern Verhältniß steht zur Physik, als kritisches Princip angesehn; die Dialektik näher der Ethik. Dies ist Täuschung, und man verwechselt Inhalt und Form, und glaubt, daß die empirische Form den beiden l s t e n Wissenschaften sich selbst annähere. {DialKGA II 10/2, 704)

Obwohl Schleiermacher Mathematik und Dialektik als sich ergänzende Glieder bezeichnet, „welche die realen Wissenschaften umschließen und kritisieren" (DiaΙΟ 463) 7 4 , finden sich kaum Ausführungen zur Mathematik für das Denken und den Prozess des Wissens. Hinter dieser fehlenden Ausführung zur Mathematik steckt, wie bereits angemerkt, keine Unkenntnis oder eine mangelnde Würdigung des Mathematischen. Vielmehr wird hier deudich, worin Schleiermacher ein Problem sah, das es zu lösen galt, und worin nicht. Was können - das ist die zentrale Frage, um die es Schleiermacher geht - Mathematik und auch Logik vor dem Hintergrund einer immer nur „aus der Mitte" anfangenden Begriffs- und Urteilsbildung leisten, welche Angemessenheit oder Anwendbarkeit des MathematischLogischen besteht in Bezug auf das „reale Denken"? 7 5 Mathematik kann überall dort aufgehen, wo das Denken abstrakt bleibt und kein Sein, kein „Etwas" betrachtet wird. Die Aufgabe der Mathematik für die Wissenschaften bezeichnet Schleiermacher daher auch als eine „propädeutische" Funktion, sie ist ein „Uebungsmittel" (DialA 66, Nr. 36 Notizen 1811 / VDA 1, 10), das Ordnungsschemata anbietet, und in dieser Hinsicht erst Streit möglich macht, insofern erst durch die Ordnung des Diskurses Widersprüche ans Licht kommen. Streitschlichtung 73 74 73

Vgl. D/a/KGAII 10/1,178, §44. Diese Formulierung findet sich nur in der Edition Odebrechts. Dem entspricht Boehms Bemerkung (vgl. BOKHM 10), dass das Philosophisch-Werden der Hermeneutik, das er für die Hermeneutik seit dem Idealismus feststellt, nicht gegen die Exaktheit der Naturwissenschaften plädiert und für Unexaktheit oder Divination, sondern für eine größere „Sachangemessenheit" der Wissenschaft.

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und gerade darum geht es in der Dialektik - kann jedoch weder durch Anwendung von Schlüssen noch durch formal-mathematisches Denken, sondern nur durch Kritik erreicht werden. Eine speculative Naturwissenschaft kann immer nur nach dialektischen Principien angelegt werden, denn hier kommt es an auf den Gegensatz zwischen dem Für-sichgesetzt-sein und dem Mit-andern-gesetzt-sein. (Dia/KGA II 10/2, 704)

Ist die Dialektik Methode aller Wissenschaft, mithin Methode der Naturwissenschaft, so muss auch für die naturwissenschaftliche Erkenntnis gelten, was über das Denken in der Dialektik gesagt wurde. Und es muss auch dasjenige auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis Anwendung finden, was zuvor über die Wechselwirkung der Tätigkeiten entwickelt wurde. Obgleich Schleiermacher bemüht ist, in der Dialektik das wissenwollende Denken oder das identische Symbolisieren in seiner reinen Form zu betrachten, kann es kein „reines" Denken geben. Jedes reale Denken folgt immer auch einem wissensfremden Zweck oder Interesse und muss immer auch als ästhetisches Phänomen betrachtet werden. Gerade weil man keine absolute Trennung zwischen den Tätigkeiten vornehmen kann, ist es umso wichtiger, dass man die Konsequenzen (positiver wie negativer Art) dieser „Mischformen" des geschäftlichen und künstlerischen Denkens für den Prozess des Wissens zu bestimmen versucht. Diese unvermeidbare und für den Wissensprozess sogar konstitutive Wechselwirkung kann natürlich nicht nur auf der Ebene der unmittelbaren Tätigkeiten bemerkt werden, sondern lässt sich ebenso auf der Ebene der Werke, Güter bzw. der so genannten „ethischen Formen" - heute würde man sagen der gesellschaftlichen Institutionen - untersuchen. Die wissenschaftlichen Institutionen und Bildungseinrichtungen, „Akademien" in Schleiermachers Vokabular, werden natürlich beeinflusst durch politische und wirtschaftliche Institutionen und sind nicht unabhängig von institutionalisierter religiöser Praxis welcher Art auch immer und vice versa. Was und wie gedacht wird - und dies gilt eben nicht nur für das ethische oder geisteswissenschaftliche Wissen sowie die künstlerische und literarische Produktion, sondern ebenso für das naturwissenschaftliche Wissen - hängt so immer auch davon ab, in welcher Gesellschaft, welcher Staatsform, unter welchen ökonomischen Bedingungen, und in welcher religiösen Tradition wir leben. Jedes physikalische oder naturwissenschaftliche Wissen muss daher nicht nur als ein grundsätzlich historisches oder streitbares gelten, dass immer wieder in Frage gestellt werden kann, und nicht nur als ein Wissen, das der kritischhermeneutischen Vermittlung bedarf, sondern es ist immer auch ein kulturellsozial bedingtes Wissen. Mit dieser Konsequenz, die sich aus Schleiermachers Ausführungen ziehen lässt, kann Schleiermacher schon vor der Formierung der Wissenssoziologie bzw. Wissenschaftssoziologie in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts durch Karl Mannheim und Max Scheler als Vertreter wissenschaftssoziologische Grundprämissen gelten.

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W e c h s e l w i r k u n g von Kunst, Wissenschaft und Leben

Dass sich für Schleiermacher Wissen nicht allein auf ein soziales oder kulturelles Phänomen reduzieren lässt, kann man an einem Unterscheidungsmodell deutlich machen, dass Hans Reichenbach (1891-1953) in Erfahrung und Prognose {Experience and Prediction) 1938 formuliert hat und das für das Wissenschaftsverständnis des logischen Empirismus grundlegend wurde. Auch Reichenbach ging von einer kulturell-sozialen Bestimmtheit des Wissens aus. Diese betrifft für Reichenbach aber lediglich die Entstehung des Wissens. Von dieser Psychologie des Denkens oder dem Enstehungszusammenhang lasse sich eine „rationale Nachkonstruktion", 76 der Begründungszusammenhang, unterscheiden, in dem die auf Umwegen und auf nicht rationale Art gemachte Entdeckung logisch nachkonstruiert und so eigentlich erst als allgemeines Wissen begründet wird. Interessant ist, dass sich auch bei Schleiermacher eine ähnliche Unterscheidung wie die von Entstehungs- und Begründungszusammenhang findet, und zwar in der Gegenüberstellung der rein psychologischen und der technischen Auslegung im psychologischen Teil der Hermeneutik. Während die rein psychologische Auslegung die tatsächliche Entstehung des Gedankens zu ermitteln sucht und sich aus diesem Grund den Lebensumständen, der Persönlichkeit des Autors, den Nebengedanken und dem Assoziationsmaterial etc. zuwendet, geht es der technischen Interpretation nicht um die dem Denken externen, sondern internen Faktoren. Die technische Interpretation soll eine idealtypische Genese des Gedankens aufstellen und man könnte auch formulieren: den Begründungszusammenhang prüfen. Denn im Gegensatz zur rein psychologischen Untersuchung soll hier nicht ermittelt werden, über welche (Um)wege eine Idee entstanden ist (ob Newton ein Apfel auf den Kopf fiel), sondern ob sich der Gedanke aus einem eher induktiven oder eher deduktiven Weg als ein Wissen behauptet. Im Gegensatz zum kritischen Rationalismus kann dieser Begründungszusammenhang für Schleiermacher jedoch nie vollständig aufgestellt werden, zum einen, da sich ideale und reale Entstehung oder rein psychologische und technische Interpretation gar nicht von einander trennen lassen, und jeder Gedanke als gesellschaftlich-kulturell bedingt gelten muss. Zum anderen und in erster Linie jedoch, weil wir überall dort, wo wir über Welt reden und das rein Mathematische verlassen, „aus der Mitte" anfangen." 7 Selbst wenn wir uns vorstellen, dass wir, wenn wir denken, nur am Wissen interessiert sind, was nie der Fall ist, lässt sich kein geschlossener Begründungszusammenhang aufstellen. Eine Wahrnehmung ist kein bloßer Spiegel, der uns die Gegenstände der Natur vorführt, damit unser Denken ihre Beschaffenheit begreiReichenbach bezieht sich dabei auf Carnaps Begriff der „rationalen Nachkonstruktion" wie ihn Carnap in Oer logische Auftau 77

Vgl. DialKGA

der Welt (1928) bestimmt.

II 10/2, 454. Der individuelle und historische Charakter der M a t h e m a t i k wird

jedoch bei Schleiermacher bei weitem nicht so emphatisch betont, w i e bei Schlegel: Vgl. S C H L E G E L Κ Α X V I I I Philosophische

Lehrjahre 157, 404: „ D i e μ α φ [Mathematik] m u ß historisch,

universell und chaotisch g e m a c h t w e r d e n w i e die H i s t o r i e ] = σ υ σ τ [systematisch]."

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (2)

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fen kann. Jede Wahrnehmung impliziert einen theoretischen Vorgriff: Wahrnehmen bedeutet Selektieren und Selektion geschieht durch eine der Wahrnehmung vorangehende Begrifflichkeit. Gleichzeitig wird kein Begriff aus dem bloßen Denken geboren, denn jeder Begriff ist ein inhaltlich gefüllter Begriff, ein Begriff von Etwas, und dieses Etwas kann uns nur durch Wahrnehmung gegeben sein. Wahrnehmung und Denken setzen sich wechselseitig voraus: Jeder Begriff verweist auf eine Wahrnehmung, die durch eine Begrifflichkeit bestimmt ist, die ihrerseits wieder auf eine Wahrnehmung verweist usw. Dies bedeutet, dass es weder einen ersten Akt der Wahrnehmung, noch einen ersten Akt der einfachsten Begriffsbildung geben kann, die wir für alle Menschen als gleich voraussetzen können und die den Ausgangspunkt für ein induktiv oder deduktiv gesichertes allgemeines Wissen darstellen könnten. Jedes induktive Verfahren setzt Ergebnisse eines deduktiven Vorgangs voraus, jede Deduktion das Ergebnis einer Induktion. Dieses wechselseitige Aufeinanderverweisen von Begriff und Urteil, Induktion und Deduktion, Theorie und Empirie kennzeichnet unser „Aus-der-MitteAnfangen" und, insofern geht Schleiermachers Begründung der Individualität oder „Irrationalität" des Denkens nicht nur über eine rein sprachphilosophische, sondern ebenso über eine rein wissenssoziologische Begründung hinaus, obgleich sie beide enthält. Wissen ist auch, aber nicht allein ein soziokulturelles Phänomen, und der Versuch eine idealtypische Rekonstruktion vorzunehmen, gleichwohl wir einsehen können, dass dieser Versuch nie vollständig gelingen kann, darf nach Schleiermacher nicht aufgegeben werden, denn gerade darin besteht das eigenste Interesse des Wissensprozesses: Eine allgemeine Konstruktion des Denkens vorzunehmen, die dem Sein entspricht. Diesen Anspruch aufzuheben würde bedeuten, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Tätigkeiten der Vernunft vollkommen einzuebnen, die jedoch für die Dynamik der Weltbildung grundlegend ist.

5.3. Die Wechselwirkung der Wissenschaften (2) 5.3.1. Schleiermachers geschichtliches Entwicklungsmodell in der Schrift „Kurze Darstellung des theologischen Studiums": Revolution, Fortschritt und Einheit im Prozess des Wissens In der Kursen Darstellung des theologischen Studiums %um Behuf einleitender Vorlesungen von 1811 nimmt Schleiermacher Überlegungen aus der frühen Abhandlung Über den Geschichtsunterricht wieder auf. Die kurze aber inhaltlich sehr dichte Schrift baut auf Schleiermachers Vorlesungen zur Enzyklopädie auf, die er bereits im ersten Wintersemester 1804/05 („Enzyklopädie und Methodologie") in Halle begonnen hatte und mit denen Schleiermacher versuchte, dem für ihn veralteten Theologieverständnis einen eigenen Entwurf vom Umfang und Inhalt, der Aufgabe und der

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Methode der Theologie als Wissenschaft entgegenzusetzen, mit dem in das Theologiestudium eingeführt werden sollte. Eine Veröffentlichung dieser epochemachenden Programmschrift musste unter anderem wegen des napoleonischen Krieges bis 1810 warten. 78 In diesem Zusammenhang ist Schleiermachers Bestimmung der historischen Theologie interessant, die er als „ein Teil der neueren Geschichtskunde" ( K D K G A I 6, 353, § 69) begreift und zu deren Einleitung er ein geschichtliches Entwicklungsmodell vorstellt. 79 Für Schleiermacher lassen sich in der Geschichte Momente einer kontinuierlichen Entwicklung (Perioden) und Momente einer plötzlichen Umgestaltung (Epochen) unterscheiden — zwei zur Zeit Schleiermachers gängige Gliederungsprinzipien der Geschichte. 80 Eine Reihe von Momenten, in denen ununterbrochen die ruhige Fortbildung überwiegt, stellt einen geordneten Zustand dar und bildet eine geschichtliche Periode; eine Reihe von solchen, in denen das plötzliche Entstehen überwiegt, stellt eine zerstörende Umkehrung der Verhältnisse dar und bildet eine geschichtliche Epoche. (.KDKGA I 6, 355, § 73)

In der Abfolge von Perioden und Epochen, die zu neuen Perioden werden, lassen sich zwei entscheidende Knotenpunkte ausmachen: Der „Kulminationsknoten" bzw. „Kulminationspunkt" ( K D K G A I 6, 362, § 93) 81 bezeichnet denjenigen Punkt, mit dem sich das Wesen oder das Charakteristische einer Periode am besten fassen lässt. 82 Mit anderen Worten, der Kulminationspunkt bezeichnet eine historische Lage, in der die gestaltenden Prinzipien einer Periode auf ihre volle Höhe, damit aber schon auf den W e g ihrer Ablösung g e k o m m e n waren. ( N O W A K 1991, 431)

Der Epochenbruch kündigt sich bereits im „revolutionären Entwicklungsknoten" (iCDKGA I 6, 356, § 76) an, einem Zeitpunkt, zu dem das Alte scheinbar noch etabliert, das Neue aber bereits schon sichtbar ist. Das geschichtliche Entwicklungsmodell des Alternierens von Perioden und Epochen, von Phasen der Ausdifferenzierung und Momenten des Umbruchs oder der Revolution betrifft nicht nur die Theologie als Teilgebiet der Geschichtskunde, sondern kennzeichnet die gesamte Geschichtskunde, beispielsweise die Geschichtskunde der Kunst oder Kunstgeschichte.

Vgl. SCHOLZ, HEINRICH XVI. Vgl. KDKGA I 6, 354ff., §§ 71-78. 80 Vgl. NOWAK 1991, 430. 81 Vgl. auch KDKGA I 6, 388, S 175. 82 . I;ür Nowak ist der Begriff des Kulminationspunktes bei Schleiermacher mit dem der Epochenschwelle vergleichbar (vgl. NOWAK 1991, 431). Für Jordan nimmt Schleiermacher mit diesem Begriff den Begriff der „Idee eines Zeitalters" in der Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts vorweg (vgl. JORDAN 197). 78 79

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In den Vorlesungen zur Ästhetik spiegelt sich dieser Gegensatz von Ausdifferenzierung und Umbruch im Gegensatz von Genialität und Virtuosität, die Schleiermacher nicht nur, aber auch dazu verwendet, verschiedene Phasen in der Kunstgeschichte zu charakterisieren. Während Genialität überall dort vorliegt, wo mit einer alten Form gebrochen und eine neue gefunden wird, zeichnet sich Virtuosität durch die Beherrschung und Ausdifferenzierung einer bereits bestehenden (Kunst) Form aus und kann, wenn die Erfindung gegen Null geht, zum rein Mechanischen verkommen. 83 Auch in den Akademiereden Über den Begriff der Hermeneutik (1829) findet sich dieses Entwicklungsmodell wieder, auch wenn Schleiermacher hier nicht von Periode und Epoche, sondern von dem Wechsel zweier Perioden der Literaturgeschichte spricht, die ein je unterschiedliches Verhältnis zur Form zum Ausdruck bringen: Zeiten, in denen der Autor für den auszudrückenden Inhalt über keine Form verfügen kann und formschöpfend wird und Zeiten, in denen der Autor sich einer vorhandenen Form bedient, welche er ausdifferenziert. 8 4 Bezieht man dieses Entwicklungsmodell auch auf die geschichtliche Entfaltung des Wissens selbst, was aus dem Verhältnis von Geschichtskunde und Ethik folgt, so bietet sich ein Vergleich mit Thomas Kuhns Modell wissenschaftlicher Entwicklung an, zu dem Schleiermachers geschichtsphilosophische Überlegungen erstaunliche Parallelen aufweisen. Kuhn überträgt mit Anlehnung an Flecks Begriff der „Denkstile" 85 ein Entwicklungsmodell, das für kulturelle und geisteswissenschaftliche Zusammenhänge schon wesentlich früher formuliert wurde, auf die Entwicklung der gesamten Wissenschaftsgeschichte und somit auch auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis: Es gibt Perioden der Ausformung und Perioden der Neugestaltung oder Phasen der „Normalwissenschaft" und Phasen der „Revolution" in der Wissenschaftsgeschichte. Eine Phase der Normalwissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie einer übergeordneten Problemlösungsstrategie, gemeinsamen intuitiven Einstellungen einer Forschergruppe, gemeinsamen Methoden oder einem gemeinsamen Paradigma folgen. Wissenschafdiche Revolutionen entstehen genau dann, wenn ein Paradigmenwechsel vorliegt, d. h. wenn eine übergeordnete Problemlösungsstrategie von einer anderen verdrängt wird. Während die Entwicklung innerhalb der Normalwissenschaft sich eher aus wissenschaftsinternen Faktoren ergibt (wobei das Paradigma bestimmt, was zur 83 84 85

Zum Gegensatz von Genialität und Virtuosität vgl. ÄstL 44, zur Virtuosität ÄsfL 13, 15, 26 u. 53. Vgl. KGA I 11, Über den Begriff der Hermeneutik, 615. Vgl. KUHN 1976 (The structure of snentific revolutions, Chicago 1962;. Kuhns Entwicklungsmodell der Wissenschaften baut auf Ludwig Flecks wesentlich früher entstandenen, aber weniger beachteten Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Tatsache auf (FLECK 1935). Tatsache muss nach Fleck bereits als ein geistiges Konstrukt betrachtet werden, sie ist ebenso Produkt der verschiedenen „Denkstile" einer Forschergemeinschaft wie der Geschichte, vgl. dazu auch SCHOLTZ 1991, 166. Eine ähnliche Neubestimmung der Tatsache findet sich allerdings schon bei Schleiermacher und zwar in der Kursen Darstellung lies Theologischen Studiums (1810) im Kontext der historischen Kritik (vgl. iCDKGA I 6, 381, § 152).

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und I x b e n

Wissenschaft gehört), wird der Paradigmenwechsel durch externe Faktoren eingeleitet und lässt sich auch nicht im wissenschaftlichen Sinne begründen. D. h. er setzt sich durch wissenschaftsexterne Argumente durch, er überredet und überzeugt nicht, denn das, was als Argument anerkannt wird, bestimmt ja das alte Paradigma. Das Provokative dieses viel diskutierten Ansatzes kann man darin sehen, dass Kuhn die Entwicklung der Wissenschaften in Paradigmen partialisiert und davon ausgeht, dass Wahrheitsnormen und Kriterien der Wissenschaft mit dem Paradigmenwechsel verschwinden bzw. neu entstehen. 86 Schleiermachers Geschichtsmodell des Alternierens von Perioden der Ausdifferenzierung und Epochen, die Schleiermacher interessanterweise auch als „Revolutionen" bezeichnet (KDKGA I 6, 355, § 73), kann und muss konsequenterweise als allgemeines Entwicklungsmodell der Geschichtskunde auch für die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Wissens veranschlagt werden. Das geschichtliche Entwicklungsmodell bezieht sich also nicht auf den Inhalt der Naturgeschichte, insofern die geschichtliche Entfaltung der Natur nicht als Alternieren von Perioden und Epochen begriffen werden soll. Aber es bezieht sich auf die Form der Naturgeschichte ebenso wie auf die Form der Physik, denn Physik und Naturgeschichte sind Wissenschaften, und als solche haben sie eine geschichtliche Erscheinung und ihren Platz in der Geschichtskunde. Dass Schleiermacher die Konsequenz der geschichtsphilosophischen Thesen aus der Kursen Darstellung durchaus vor Augen hatte und das Entwicklungsmodell auch auf die Wissenschaft, mithin auf Naturwissenschaft, übertragen hat, macht ein Zitat aus der Hermeneutik deutlich: Revolutionen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und der Ethik haben neue Systeme hervorgebracht und alte verworfen. Kommt man nun von der Darstellung eines früheren wissenschaftlichen Systems, nachdem man dieses gefaßt hat, plötzlich und ohne Überlegung zu einem andern, neuen, so muß man nach geschehener Sprachkonstruktion so verfahren, daß man das Einzelne noch unbestimmt läßt, bis man das Ganze gefaßt hat. Wollte man gleich Einzelnes im neuen System mit Einzelnem im vorhergehenden vergleichen, so würde man mißverstehen, denn das Verhältnis des Einzelnen ist in jedem Ganzen ein anderes. (HerF 139f.)

Auch wenn dieses Zitat aus der Hermeneutik deutlich macht, dass ein Einzelnes ein Problem, eine Theorie, eine Tatsache - im neuen wissenschaftlichen System eine ganz andere Bedeutung einnimmt als im alten, stehen sich Schleiermachers Wissensbegriff zufolge die verschiedenen wissenschaftlichen Systeme ebenso wenig wie die verschiedenen Sprachsysteme vollkommen indifferent gegenüber. Ein vollkommen neues wissenschaftliches System, für das keinerlei Vergleichsba-

Schäfer sieht die Provokation darin, den Wissenschaftsbetrieb im wesendichen als normalwissenschaftliches Treiben zu begreifen, den „Normalwissenschaftler" als durch beispielhafte Problemlösungen gesteuert, an den kumulativen Fortschritt glaubend, und in seinem Tun banal (vgl. SCHÄFER 1985, 22ff.).

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sis mit anderen wissenschaftlichen Systemen besteht, wäre, so könnte man mit Schleiermacher sagen, kein „neues" System, denn im Begriff des Neuen oder des Anderen ist das Alte noch enthalten: Absolut neu ist keine neuerfundene Form. Sie existiert schon irgendwo, nur nicht gerade an dem Punkt, wo der Verffasser, S. S.] sie hervorbringen will. Sie liegt entweder auf einem andern Kunstgebiet. ( H e r f 184)

Beide Formen der Entwicklung können daher nicht absolut voneinander getrennt werden, denn ebenso wie „kleine" Revolutionen innerhalb einer Periode stattfinden, muss zwischen Epochenbrüchen dennoch Kontinuität festzustellen sein. 87 Die Abfolge dieses Alternierens von Perioden und Epochen muss für Schleiermacher in letzter Hinsicht als ein Ganzes behandelt werden, auch wenn das Ganze der Geschichte nie überblickt, nie bestimmt werden kann und als ein Unendliches gelten muss. Betrachtet man also einen Epochenbruch, so kann die epochale Veränderung nach Schleiermacher von einer engeren Perspektive aus als etwas vollkommen Neues, von einer weiteren im Blick auf das Ganze der geschichdichen Entwicklung als etwas Weitergeführtes betrachtet werden. Da die Geschichte überhaupt, und so auch besonders die ganze Folge von Thätigkeiten Einer Kraft nur Fin Ganzes bildet: so kann jeder erste Zustand eines kleineren geschichtlichen Ganzen zwiefach angesehen werden, als Entstehung eines neuen und als Ausbildung eines schon da gewesenen. (KDKGA I 6, 356)

Revolutionen oder Paradigmenwechsel dürfen daher nach Schleiermacher nicht allein durch externe Faktoren gesteuert werden, sondern müssen sich auch durch ihre Lösungspotenz im Streitgespräch auszeichnen und durchsetzen. Allerdings kann der Paradigmenwechsel auch bei Kuhn nicht ganz allein auf wissensexterne Gründe zurückgeführt werden, und die Revolution ist keine Totalrevolution in dem Sinne, dass ein Paradigma dem anderen völlig indifferent gegenübersteht. Der Paradigmenwechsel kündigt sich als Krisenbewusstsein an, also durch ein Ungenügen des alten Paradigmas, in dem Anomalien auftreten, die sich nicht mehr befriedigend lösen lassen. Damit eine Wissensgemeinschaft den Paradigmenwechsel anerkennt, muss das neue Paradigma in der Lage sein, allgemein anerkannte Probleme zu lösen, „die Erhaltung eines relativ großen Teils der konkreten Problemlösungsfähigkeit versprechen, die sich in der Wissenschaft von seinen Vorgängern her angesammelt hat" (KUHN 181). Neuheit um ihrer selbst willen ist in der Wissenschaft kein Desideratum, wie in so vielen anderen kreativen Bereichen. Daraus ergibt sich, daß neue Paradigmata, auch wenn sie selten oder niemals alle Fähigkeiten ihrer Vorgänger besitzen, gewöhnlich doch eine große Zahl der konkretesten Bestandteile vergangener Leistungen bewahren und immer zusätzliche konkrete Problemlösungen gestatten. (KUHN 181)

87

Vgl. KDKGA 1 6, 354, § 71.

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Für Schleiermacher sind jedoch auch — und dies unterstreicht wiederum die Nähe zu Kuhn — die wissensexternen Faktoren in Zeiten des Umbruch besonders wichtig. Als wissenschaftsinterne Faktoren könnte man im Kontext der Schleiermacherschen Begrifflichkeit die Wechselwirkungsverhältnisse innerhalb des Symbolisierens und als wissenschaftsexterne Faktoren die Wechselwirkungsverhältnisse des Symbolisierens mit allen anderen vernünftigen Tätigkeiten bezeichnen. Die wissensexternen Faktoren, also für Kuhn dasjenige, was in erster Linie für einen Paradigmenwechsel verantwortlich ist, spielen in Zeiten des Umbruchs eine wesentlich größere Rolle als in Zeiten periodischer Ausdifferenzierung; Denn in Zeiten der Umbildung ist alle Wechselwirkung lebendiger und alles einzelne abhängiger von einem gemeinsamen Impuls; wogegen der ruhige Verlauf das Hervortreten der Gliederung begünstigt. (KDKGA I 6, 356, § 77) Während des ruhigen Fortschreitens lassen sich die coexistirenden organischen Teile des Ganzen leichter gesondert in ihrer relativen Selbständigkeit betrachten; in Zeiten der Umbildung hingegen ist alle Wechselwirkung lebendiger, und jedes einzelne abhängiger von dem gemeinsamen Zustande. (KDKGA I 6, 356) Von einem Fortschritt als eines kumulativen Wachstums von Wissen, wie es Francis Bacon in seiner Schrift New Atlantis (1627) mit dem Bild vom Hause Salomons idealtypisch beschreibt, kann weder in dem paradigmengeleiteten Modell Kuhns noch im Alternieren von Periode und Epoche bei Schleiermacher die Rede sein. Ebenso wenig kann Fortschritt als ein Stufenmodell der sich zu immer höherem Dasein entfaltenden Vernunft, wie wir es bei Vico, Kant, Herder oder aber auch bei Hegel und Fichte finden,88 vorgestellt werden. Von Fortschritt können wir nach Kuhn nur sprechen, insofern „die Anzahl der von der Wissenschaft gelösten Probleme wie auch die Exaktheit der einzelnen Problemlösungen immer weiter wachsen werden" (KUHN 181). In diesem moderaten Sinn von Fortschritt, als ein Komplexer-Werden des Wissens und Wissenschaftsapparates könnte man auch bei Schleiermacher den Prozess des Wissens verstehen. Ein Fortschritt aber, der aus einer Kette individueller Ausprägungen der Vernunft besteht, 8 9 lässt nicht nur das Realisierte hinter sich, sondern wendet sich auch wieder zurück zu ihm. Der dialektische Streit, in dem sich das reale Wissen befin-

88

Bei Vico kann Geschichte als Abfolge von kulturellem Wachstum und Verfall gelesen werden, die sich auch auf je höherer Ebene wiederholen (Principi di una scien^a nouva 1725), bei Kant findet sich der Glaube der Aufklärung, dass Geschichte von der Barbarei zur Entfaltung der Vernunft fortschreitet (Ideen ψ einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784), Herder spricht von einer organischen Entfaltung der Humanität und denkt in Kulturstufen (Ideen %ur Geschichte der Philosophie der Menschheit, 1784-1791). Auch für Fichte schlägt sich eine höherstufige Vernünftigkeit in Epochen nieder (Die Grundlage des gegenwärtigen Zeitalters, 1806), und Hegel denkt Geschichte als dialektische Schritte zu immer größerer Freiheit (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1937).

89

Vgl. J O R D A N 1 9 5 f u . 197.

Die Wechselwirkung der Wissenschaften (2)

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det, darf nicht nur zeitlich synchron als Streit von Zeitgenossen, sondern muss auch als Streit zwischen den Zeiten verstanden werden: Vielmehr müssen wir von vorne herein als möglich annehmen, daß überall auf diesem Gebiet des Denkens um des Wissens willen, gleichsam Stoff zu noch unentdektem Streit vorhanden sei, welcher durch neue Denkacte kann aufgeregt werden; wie ja die Geschichte der meisten Wissenschaften in ihren mannigfaltigen Umgestaltungen nichts anderes darbietet, als ein sich immer erneuerndes Zurückgehen auf frühere für unstreitig gehaltene Vorstellungen und Säze als auf streitig gewordene. ( D i a l K G A II 1 0 / 1 , 4 0 0 , § 1-5-)

Anders als Schleiermacher scheut sich Kuhn davor, dieses Komplexer-Werden zugleich auch als eine Annäherung an die Wahrheit zu bezeichnen: Um es genauer zu sagen: wir müssen vielleicht die - ausdrückliche oder unausweichliche — Vorstellung aufgeben, daß der Wechsel der Paradigmata die Wissenschaftler und die von ihnen Lernenden näher an die Wahrheit heranführt. (KUHN 182)

Das Komplexer-Werden des Wissens und Wissenschaftsapparates bleibt bei Schleiermacher auf die Einheit des Wissens und der Welt hin orientiert. Die Annäherung an Wahrheit als Annäherung an den Begriff der Welt und die Einheit des Wissens aufzugeben, würde nach Schleiermacher bedeuten, den Anspruch auf Wissen selbst aufzugeben. Denn der Wissenwollende sucht eine Korrespondenz von Sein und Denken und eine Übereinstimmung mit allen anderen Wissenden. Schleiermacher gewinnt die zwei Charaktere des Wissens in der Zuwendung zum Streit, und man könnte sie daher auch als das ,,Apriori des Streites" bezeichnen: Wenn wir uns streiten, dann setzen wir voraus, dass wir über dasselbe Etwas streiten und dass unser Denken ein vom Streitpartner in derselben Weise konstruierbares oder ein allgemeines Denken ist. Ohne diese Annahmen macht Streit keinen Sinn. Akzeptiert man das Nebeneinander von verschiedenen Paradigmen oder „Wissensvorstellungen" - um die Begrifflichkeit des „Wissensanthropologen" Yehuda Elkanas aufzunehmen 9 0 - ohne zumindest den Anspruch zu erheben, Das Entwicklungsmodell des „Wissensanthropologen" Yehuda Elkana (Y. Elkana: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt am Main 1986) geht in eine ähnliche Richtung wie Kuhns Modell sich ablösender Paradigmen. Wissenswandel und Wissensproduktion muss nach Elkana als Entwicklung betrachtet werden, die durch die Wechselwirkung dreier Faktoren bestimmt wird: Dem „Wissenskorpus", den Elkana als die materiale Seite des Wissens bezeichnet, das, was als Wissen gehandelt wird: den Methoden, Lösungsangeboten, Theorien, offenen Problemen. Den „Wissensvorstellungen" (images of knowledge), die den erkenntnistheoretischen Überbau darstellen und bestimmen, was als ein Wissen gelten darf und was nicht. Zu den Wissensvorstellungen zählt Elkana Anschauungen über die Aufgabe der Wissenschaft und die Natur der Wahrheit, die Bestimmung der Wissensquellen und ihre hierarchische Ordnung (Offenbarung, Erfahrung, logisches Denken, experimentelle Empirie, sinnliche Evidenz, klare und distinkte Ideen, Autorität, Neuheit, Schönheit etc.), Methodologien, sowie die Bestimmung des Adressaten des Wissens. Und schließlich „Ideologien", „Normen" und

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dass man auch über paradigmatische Einstellungen oder Wissensvorstellungen streiten kann, bewegt man sich nach Schleiermacher lediglich im geschäfdichen Denken. Denn dem geschäftlichen Denken geht es in erster Linie um die Lösung eines konkreten Problems, und es gibt sich im Gegensatz zum wissenwollenden Denken mit wirkungsvollen Problemlösungsstrategien zufrieden. Kann der Wissensprozess bei Schleiermacher also als Fortschritt im Sinne eines Komplexer-Werdens und einer Annäherung an die Wahrheit gelesen werden, dann bleibt jedoch das Ziel - und das kann nicht genug hervorgehoben werden unabhängig davon wie „fortgeschritten" wir sind, immer unendlich weit entfernt. Es ist ein Fortschritt, dessen Abstand zum Ziel sich nicht minimieren lässt. Dem realen Wissen steht zu jedem Zeitpunkt die Unendlichkeit der Bewegung des Wissens gegenüber, dem sich historisch ausweisenden Wissen die unendlichen Möglichkeiten noch nicht realisierter Wahrnehmung, noch nicht gefundener Theorien, sodass sich kein Wissensstand beruhigen darf und zumindest der Möglichkeit nach eine fundamentale Modifikation erfahren kann. Kuhn macht jedoch darauf aufmerksam, und dies scheint mir ein wichtiger Einwand zu sein, dass in der Geschichte dieses Wachstums auch Probleme und Problemlösungsvarianten verloren gehen können. 91 Schleiermachers Entwurf ist ein hermeneutischer Entwurf mit dem Optimismus, der der Hermeneutik eigen ist und der daran glaubt, dass dem Streit alles erhalten bleibt. Und in der Kritik an diesem Optimismus muss meines Erachtens auch das Verdienst und der Impuls der dekonstruktivistischen Philosophie gesehen werden. Ihr Gegner ist weniger die erkenntnistheoretische Kategorie der Einheit, ohne die auch eine Differenzphilosophie nicht auskommen kann, ohne sich den Boden unter den Füßen wegzuziehen, als ihr optimistischer „Effekt" oder „Reflex", neben dem das perma-

91

„ Werte", die nicht direkt der kulturellen Dimension der Wissenschaft entspringen, also ζ. B. politische Erwägungen und Überzeugungen, soziale Zwänge, Menschenbilder usw. Auch wenn sich alle drei Faktoren wechselseitig bestimmen, so kommt den Wissensvorstellungen, was die Entwicklung des Wissens angeht, die größte Bedeutung zu, denn sie haben zensierende Kraft und entscheiden darüber, was überhaupt ein Problem, was eine Tatsache ist oder nicht (vgl. ELKA\ Λ 19f u. 99). Aus der Dominanz bestimmter Wissensvorstellungen (eines erkenntnistheoretischen Bezugsrahmens) zu einer bestimmten Zeit folgt für Elkana ein Zwei-Stufen-Modell der Erkenntnis, das den Anspruch erhebt, eine realistische und relativistische Position des Denkens miteinander zu vermitteln. Innerhalb eines bestimmten erkenntnistheoretischen Bezugsrahmens, den man auch als Paradigma im Kuhnschen Sinne bezeichnen könnte, lässt sich sinnvoll über Wissen streiten und Wahrheit bestimmen. D. h. innerhalb eines erkenntnistheoretischen Bezugsrahmens kann eine realistische Position vertreten werden. Aus einer Perspektive, die sich über einen Bezugsrahmen erhebt und mehrere Bezugsrahmen überblickt, muss dieser Realismus aufgegeben werden und muss einem Relativismus weichen. „Ich werde behaupten, [ . . . ] daß es relativ zu jedem Bezugsrahmen Fortschritt gibt, der allerdings nicht gradlinig verläuft; daß innerhalb eines gegebenen Bezugsrahmens ein solider Realismus gilt, aber Relativismus ebenfalls korrekt ist, und daß es somit keinen alles umfassenden Rahmen gibt, der außerhalb aller anderen Bezugsrahmen läge und kulturabhängig ist." (ELKANA 19) Vgl. K U H N 181.

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351

nent stattfindende Verschwinden, Vergessen, Verblassen oder Verdrängen selbst verdrängt wird. Einheit ist so auf der einen Seite Bedingung der Möglichkeit des Differenten und nur, wer in letzter Konsequenz Einheit will, sieht sich gezwungen, sich auch mit dem Differenten auseinanderzusetzen. Wer einsieht, dass Einheit aufgegeben bleibt und eine abstrakte Größe ist, die immer nur provisorisch realisiert werden kann, der muss zwangsläufig Anwalt des Differenten sein. Aber gerade weil Einheit abstrakt, d. h. eben nichts Vorstellbares, nichts Reales ist, entstehen Probleme. Es ist daher meines Erachtens nicht die erkenntnistheoretische Kategorie der Einheit, sondern die Vorstellung, die wir uns von dieser Einheit machen - beispielsweise die eines Ortes, an dem sich das Ganze der Geschichte abspielt und zu dem der Zugang unproblematisch erscheint - und ihre „Effekte", über die sich die (hermeneutische) Philosophie immer wieder selbst aufklären muss.

5.3.2. Der Gedanke der Wechselwirkung der Wissenschaften als philosophisches Modell wissenschaftlicher Interdisziplinarität und Schleiermachers universitätspolitische Umsetzung in der Reformschrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" Mit dem Programm der Wechselwirkung der Wissenschaften wird der permanente Austausch und die Zusammenarbeit der Wissenschaften in Schleiermachers Ethikvorlesungen nicht nur konstatiert oder als wünschenswert begrüßt, sondern als konstitutiv für jede Wissenschaft vorgestellt, und man kann Schleiermachers Systematisierung des romantischen Wissenschaftsideals der Universalpoesie in moderner Wissenschaftssprache auch als ein philosophisch begründetes Modell wissenschaftlicher Interdisziplinarität verstehen. Mit einer solchen Formulierung stellt sich natürlich die Frage, ob es legitim und sinnvoll ist, diesen differenzierten Begriff, der sich auf die Wissenschaftslandschaft im zweiten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts bezieht und auf ihre speziellen Probleme reagiert, so einfach um zwei Jahrhunderte zu verpflanzen. Man könnte behaupten, dass der Begriff der Interdisziplinarität auf Probleme reagiert, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in dieser Form noch gar nicht existiert haben, denn das Konzept der Interdisziplinarität entsteht als Reaktion auf eine zunehmende Ausdifferenzierung und Zerklüftung der Wissenschaftslandschaft. Die Forderung nach Interdisziplinarität dokumentiert auf der einen Seite die Erfahrung der Orientierungslosigkeit in einer unüberschaubar werdenden Disziplinenlandschaft, 92 die Hoffnung darauf, die verlorene Einheit der Wissenschaften durch eine verbindende wissenschafdiche Praxis zu „fli-

92

Vgl. H Ü B E N T H A L If.

352

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

cken" 9 3 und zugleich ein Misstrauen gegen die alten Disziplinengrenzen und die oft immer noch aufrechterhaltene Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Von einer Zerklüftung der Wissenschaft, derart, dass mitunter Wissenschaftler eines Faches Kommunikationsschwierigkeiten haben, kann im beginnenden neunzehnten Jahrhundert natürlich nicht die Rede sein. Auch die Trennung von Geistes - und Naturwissenschaften, deren interdisziplinäre Zusammenarbeit wohl die größten Schwierigkeiten bereitet, liegt noch nicht als fast feindliche Gegenüberstellung vor, wie sie sich seit Diltheys programmatischem Entwurf eingebürgert hat und die nicht nur unterschiedliche Gegenstände, sondern unterschiedliche Methoden und Wahrheitsbegriffe für beide Wissenschaftsbereiche veranschlagt. Obgleich die Wissenschaftler des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts keine Vorstellung von dem Ausmaß der noch kommenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften hatten, so begleitet die Erfahrung eines gesteigerten Wissenswachstums, das Gefühl einer unübersichtlich werdenden Disziplinenlandschaft und das Bewusstsein einer immer schwieriger zusammenzuhaltenden Einheit der Wissenschaften spätestens seit dem siebzehnten Jahrhundert den wissenschaftlichen Prozess. Das Tempo der zunehmenden Spezialisierung lässt sich beispielsweise an der ständig wachsenden Anzahl wissenschaftlicher Periodika ablesen: Um die Wende zum achtzehnten Jahrhundert gab es noch weniger als hundert Periodika, 1790 bereits über tausend. 94 Die bereits beachtliche Produktion an Universitäts- und Wissenschaftsgeschichten im achtzehnten Jahrhundert mag neben der Historisierung des Denkens ebenfalls ein Zeichen für das gesteigerte Bedürfnis nach Übersichtlichkeit und Orientierung in der Wissenschaftslandschaft sein. 95 93 94 95

Vgl. M I T T E L S T R A ß 1987, 156. Vgl. E L K A R 7 4 . Als ein Dokument für die bereits sehr hohe Zahl an Orientierung stiftenden wissenschaftshistorischen Abhandlungen kann Johann Georg Meufels heitfaden %ur Geschichte der Gelehrsamkeit von 1799 herangezogen werden. Meufel liefert nicht nur selbst eine Geschichte der Entwicklung der Wissenschaften, sondern 'zugleich eine Bibliographie bereits erschienener wissenschaftshistorischer Abhandlungen. Meufels Übersicht über die bestehenden Disziplinen und Fächer zeigt auch, dass die Vier-Fakultäten-Einteilung, der die Universitäten immer noch anhingen, längst zu einem alten Mantel geworden war, unter dem sich eine Vielfalt neuer Disziplinen tummelte. Auch wenn erst in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine erste naturwissenschaftliche Fakultät eingerichtet wurde (vgl. S C H N Ä D E L B A C H 1983, 276), so gliederten sich seit dem siebzehnten Jahrhundert langsam naturwissenschaftliche Disziplinen sowie Politik- und Wirtschaftswissenschaften in die Universitäten ein, meistens der medizinischen, zum Teil jedoch auch der philosophischen Fakultät zugeordnet (vgl. SCHINDLING 47 u. 70ff.). Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass der wissenschaftliche Betrieb sich nicht allein an den Universitäten abspielte, sondern auch in den zahlreichen im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert gegründeten Akademien, in denen die Naturwissenschaften einen starken Stand hatten und in den seit dem siebzehnten Jahrhundert entstehenden Berg-Akademien, polytechnischen Instituten und Spezialschulen, die die heutigen Ingenieurwissenschaften vertraten. Das Bewusstsein der fehlenden Einheit der Wissenschaften und die Diskussion darüber ist nach Voßkamp mindestens so alt wie der Beginn der Spezialwissenschaften im siebzehnten Jahrhundert (vgl. V O ß K A M P 1984).

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Auch die bei Dilthey formulierte Trennung der Geistes- und Naturwissenschaften fällt nicht vom Himmel und hat eine lange Vorgeschichte, deren einzelne Etappen verschiedene Trennungs- und zugleich immer auch verschiedene Einheitsmodelle vorstellen. So ist weder die Erfahrung der radikalen Spezialisierung noch die sich entwickelnde Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften und die mit beiden einhergehende Infragestellungen der Einheit der Wissenschaften dem zwanzigsten Jahrhundert vorbehalten. Was die philosophische bzw. wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung angeht, so kann man vielleicht so weit gehen zu behaupten, dass es gar kein spezifisch philosophisches Problem der Interdisziplinarität gibt, wohl aber eine Reihe philosophischer bzw. wissenschaftsphilosophischer Probleme, die sich mit der Forderung nach Interdisziplinarität erneut und in einem speziellen Licht stellen. 96 Auch wenn der Ruf nach Interdisziplinarität erst in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aufkommt, werden in philosophischer Hinsicht Fragen und Probleme diskutiert, die eine geschichtliche Kontinuität aufweisen und alles andere als brandneu sind, sodass es selbstverständlich ist, die Interdisziplinaritätsdebatte nicht auf das zwanzigste Jahrhundert zu beschränken. Der Begriff der Interdisziplinarität ist inzwischen zu einem komplexen, differenzierten Begriff geworden, und in der gegenwärtigen Debatte nimmt die Unterscheidung verschiedener Formen und Niveaus interdisziplinärer Zusammenarbeit und ihre begriffliche Differenzierung einen großen Raum ein, denn nicht jede Zusammenarbeit, nicht jeder Austausch zwischen den Wissenschaften ist von gleicher Qualität. Helmut Schelsky, der in Deutschland mit als erster die Forderung nach Interdisziplinarität erhoben hat, unterscheidet Interdisziplinarität dreifach hinsichtlich der Verklammerung: der sie konstituierenden Theorie, des methodischen Vorgehens und des gemeinsamen komplexen Gegenstandes. 97 Diese dreifache Unterscheidung hat sich inzwischen wesentlich differenziert. Jantsch unterscheidet beispielsweise Multi-, Pluri-, Cross-, Inter- und Transdisziplinarität, Voßkamp Grenzfeld-, Problem-, Methoden- und Konzeptinterdisziplinarität und Lenk als Stufen „aufsteigender Integriertheit" interdisziplinäre Projektkooperation, interdisziplinäres Forschungsfeld, multidisziplinäre Aggregatwissenschaft und echte Interdisziplinarität.9® Solche und ähnliche Binnendifferenzierungen sind eng an ein spezifisches Disziplinen- und Methodenverständnis gebunden und aus diesem Grund schwer von der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft zu trennen. Un96

Dies wird auch deutlich aus der Geschichte der Interdisziplinaritätsdebatte. Interdisziplinarität ist eine Forderung zur Neuorganisation wissenschaftlicher Praxis, die selbst auch aus der Praxis kommt. Erst mit der Zeit gewinnt die Debatte um Interdisziplinarität ein theoretisches Fundament und wird in ihren wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und Schwierigkeiten beleuchtet (vgl. H Ü B E N T H A L , 6).

97

Vgl. LÜBBE. Vgl. H Ü B E N T H A L 17ff.

98

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abhängig von der sehr heterogenen Terminologie bemühen sich die einzelnen Autoren darum, den Charakter der wissenschaftlichen Zusammenarbeit genauer zu bestimmen, d. h. Unterscheidungen danach einzuführen, ob die Zusammenarbeit über eine gemeinsame Theorie oder Methode, eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Problem stattfindet. Mit Blick auf diese Binnenunterscheidungen lässt sich zeigen, dass auch bei Schleiermacher eine angemessene Komplexität und eine Ebenenunterscheidung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit angelegt ist. Schleiermachers Theorie der Wechselwirkung der Wissenschaften hat der Interdisziplinaritätsdebatte voraus - und darin liegt der Gewinn, Schleiermacher hier ins Gespräch zu bringen - dass er nicht (nur) vom Phänomen oder Faktum der Interdisziplinarität ausgeht, sondern die Forderung der Wechselwirkung in seinem philosophischen System verankert und begründet. Von Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, in der die Grenzüberschreitung der Wissenschaften kein wünschenswertes Supplement zu jeder disziplinären Praxis, sondern als unvermeidbar und aus diesem Grunde konstitutiv für den Fortgang jeder Wissenschaft eingesehen werden muss, lassen sich Fragen wie die nach der Einheit der Wissenschaften, nach dem Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität, nach „Supradisziplinen", nach den verschiedenen Sprachen der Wissenschaften oder die nach einer obersten Wissenschaft und der Bedeutung der Philosophie beantworten, die die Interdisziplinaritätsdebatte beherrschen. Eine erste und nahe liegende Stufe interdisziplinärer Zusammenarbeit findet im Grenzbereich zwischen einander verwandten, aneinander angrenzenden Disziplinen oder Fächern statt. Diese Verflechtung, wie Hübenthal sie n e n n t , " oder „Grenz feld-Interdisziplinarität" (Voßkamp) formuliert Schleiermacher beispielsweise in der Wechselbeziehung von Empirie und Theorie für Geschichtskünde und Ethik, Naturkunde und Naturwissenschaft sowie in der Wechselbeziehung von Hermeneutik, Grammatik und Kritik. Problematischer aber auch interessanter wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit jedoch, wenn sie einen größeren Bogen spannt und nicht nur zwei Teile einer Disziplin oder aber zweier benachbarter Disziplinen miteinander verbindet, sondern „transdisziplinär" (Hübenthal) natur- und geisteswissenschaftliche Fächer miteinander konfrontiert. Basis für eine derart weit gespannte Zusammenarbeit nicht benachbarter Disziplinen ist nach Hübenthal meistens ein und dasselbe Problem, auf das hin sich die einzelwissenschaftlichen Forschungen wechselseitig ergänzen. Die Zusammenarbeit besteht dabei nach Hübenthal weniger darin, gemeinsam ein Problem zu erarbeiten, noch weniger darin, eine gemeinsame Methode auszuarbeiten, sondern darin, ihre Ergebnisse aneinander zu messen und zu untersuchen, inwiefern diese zu einer Revision ihrer Forschung führen können oder müssen. Diese „Probleminterdisziplinaritä" (Voßkamp) oder

99

Vgl. HÜBENTHAL 17f.

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„Pluridisziplinarität" (Jantsch) ist bei Schleiermacher im Begriff der Welt angelegt, weil sich kein Teil des Wissens isolieren lässt und jede Theorie immer explizit oder implizit auch auf andere Theorien verweist und verweisen muss, da sie immer nur einen Ausschnitt vom gemeinsamen Gegenstand Welt betrachtet. Auch die beiden „Realwissenschaften" Physik und Ethik stehen in einem aufeinander verweisenden unvollendeten Zustand und müssen in ihrer wissenschaftlichen Arbeit Begriffszusammenhänge voraussetzen, die in ihnen selbst nicht thematisiert und bestimmt werden. So stoßen die Ethik und die unter ihr subsumierten Vernunftwissenschaften, die sich mit den menschlichen Handlungen und den Produkten menschlicher Handlung beschäftigen, zwangsläufig immer wieder auf die Beschaffenheit der (menschlichen) Natur. Schleiermacher weist in den Hermeneutikvorlesungen beispielsweise auf die physische Beschaffenheit der menschlichen Stimme hin, darauf, dass die Geschichtswissenschaft auf die geographischen Beschaffenheiten eingehen und die Ästhetik den Zusammenhang von Organ und Kunsttechnik untersuchen muss.1®® Aber nicht nur die Ethik, auch die Naturwissenschaft impliziert ihrerseits Begriffe und Konzepte, die nicht Gegenstand ihrer Forschung sind: Sie setzt Weltdeutungen, Menschenbilder, Moralvorstellungen oder Geschichtsbilder voraus. Dies wird bei Schleiermacher nicht explizit mit Beispielen illustriert, ist aber im Wechselverhältnis von Physik und Ethik angelegt. Dass das eigene Selbstverständnis und das darin implizit enthaltene Weltbild einer Wissenschaft alles andere als ihr äußerlich ist, zeigt die Physik der vorletzten Jahrhundertwende. Naturwissenschaftler wie Bohr, Planck, Heisenberg, Einstein oder auch Fleck sahen sich aufgrund der physikalischen Forschung mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen konfrontiert, die sie zu einer Revision ihres Wirklichkeitsbegriffs, ihres positivistischen Naturverständnisses zwangen. Die Einsicht, dass auch die naturwissenschaftlichen Fächer mit endehnten Begriffen und Konzepten der Geisteswissenschaften arbeiten, dass Welt- Vernunft- Geschichts- oder Menschenbilder Einfluss auf die wissenschaftliche, mithin auch naturwissenschaftliche Forschung haben, deren selektive, sanktionierende Funktion sie sich selbst nur aufklären können, ist Gegenstand der Wissenschaftssoziologie bzw. Wissenssoziologie, die sich als Fächer mit eigenem Ansatz in den zwanziger bzw. dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts formiert haben. Richtete sich die Intention wissenschaftssoziologischer Untersuchungen zunächst darauf, die soziale und kulturelle „Kontaminiertheit" wissenschaftlicher Forschung so weit es geht einzuschränken (R. K. Merton), ist mittlerweile deutlich, dass eine solche Einschränkung nicht möglich, vielmehr die „kulturelle Kontaminiertheit" konstitutiv für jede Wissenschaft ist. So trat beispielsweise die seit Mitte der siebziger Jahre formierte Wissenschaftlergruppe „Science in Context" zuerst mit dem 100 Vgl. IlerP 77: „Nun aber hat auch die Sprache ihre Naturseite; die Differenzen des menschlichen Geistes sind auch bedingt durch das Physische des Menschen und des Erdkörpers. Und so wurzelt die Hermeneutik nicht bloß in der Ethik, sondern auch in der Physik."

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Anliegen auf, die kulturabhängigen Randgebiete der Wissenschaft abzusondern von dem „harten Kern" rein wissenschafdicher Forschung, kam dann jedoch zunehmend zu der Einsicht, dass auch dieser „harte Kern" Erkenntnisse formuliert, die kulturabhängig - und somit auch Gegenstand der Geisteswissenschaften sind. 101 In der gegenwärtigen Diskussion wird Interdisziplinarität immer wieder als eine Art Ersatz für die verlorene Einheit der Wissenschaften diskutiert 102 und schon Schelsky sah in der Praxis der Interdisziplinarität eine Chance, die verlorene Einheit der Wissenschaften (als eine partielle Einheit) wieder herzusteilen. Die Einheit liegt dann nicht in einer letzten gemeinsamen Grundlage aller Wissenschaften, sondern in der nachträglichen Überwindung der Grenzen zwischen einzelnen Wissenschaften, die vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand ausgeht. Die Wissenschaften können - darin besteht die Hoffnung - durch das Schaffen von Querverbindungen zwischen ihnen vermittels der Gegenstände zu einem Gebäude zusammenwachsen, das der Vielfalt der Untersuchungsgegenstände trotz geschaffener Beziehungen zwischen ihnen gerecht werden kann. (HÜBENTHAL 8)

Dabei muss gefragt werden, ob man überhaupt sinnvoll von Interdisziplinarität sprechen kann, wenn nicht eine Einheit der Wissenschaften zumindest als regulative Idee, vorausgesetzt wird. Eine solche Funktion der regulativen Idee übernimmt in Schleiermachers Denken der Begriff der Welt, der als wirkliche, formal bestimmte Einheit der Wissenschaften jedoch immer eine aufgegebene bleibt. Dass diese Einheit eine ewig aufgegebene ist, spiegelt sich für Schleiermacher auch in den verschiedenen Sprachen der Wissenschaften oder Sprachen der Akademien wieder, sodass man mit Schleiermacher nicht nur von verschiedenen Sprachen hinsichtlich der Disziplinen, sondern auch hinsichtlich der verschiedenen „Schulen" sprechen müsste und ein Verständigungsproblem nicht nur zwischen, sondern schon innerhalb der einzelnen Fächer besteht. Eine vollkommene Verständigungslosigkeit kann es nach Schleiermacher jedoch ebenso wenig geben, wie eine vollkommene Kompatibilität dieser Sprachen. 1 0 3 Wahrnehmung und Begriffe, empirische Daten und Theorien und schließlich verschiedene Wissenschaften bedingen sich wechselseitig und unterhegen einer beständigen Modifikation, sodass die Einheit der Wissenschaften weder in einem allen gemeinsamen Wirklichkeitszugang noch in einem bestimmten Gegenstand, einer allgemeinen Sprache, einer speziellen wissenschaftlichen Methode oder Theorie begründet werden kann. Die Bedingtheit jeder Wissenschaft durch alle anderen zu ignorieren, heißt, den eigensten Forschungsgegenstand „Welt", der 101

102

103

Inzwischen hat sich die Gruppe bis zu Gebieten der Quantenmechanik und der mathematischen Statistik vorgearbeitet (vgl. DASTON 21 ff.). Vgl. M l T T l i L S T R A ß 156. Zu den Sprachschwicrigkeiten bzw. Ubersetzungsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Methoden und Wissenschaftssprachen Vgl. V O ß K A M P in seinem Bericht zur Arbeitsgruppe Utopieforschung 456ff.

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nie vorliegt, sondern sich mit der Entwicklung der einzelnen Forschung selbst erst bildet, aus den Augen zu verlieren. Eine solche Blindheit oder Beschränktheit nur partiell betriebener Forschung vergleicht Schleiermacher, wie ausgeführt, mit dem geschäftlichen Denken. Jedes partielle wissenschaftliche Interesse bekommt den Charakter des bedingten Denkens, denn die Begriffe werden eher abgeschlossen als sie in Bezug auf alle coordinirten Punkte durchgeprüft sind. (DiaJKGA II 10/1, 276, LIX)

Auch die meisten Autoren, die sich zur Interdisziplinarität äußern, sehen in dem gemeinsamen Problem bzw. Gegenstand der verschiedenen Wissenschaften, die allem zugrunde liegende Brücke interdisziplinärer Praxis. 104 Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist möglich (und gefordert), weil es den verschiedenen Wissenschaften bzw. Disziplinen in letzter Hinsicht um dasselbe Problem, denselben Gegenstand geht, auch wenn dieses Problem, dieser Gegenstand, durch die spezifische Begrifflichkeit und Interessenlage einer jeden Wissenschaft eine je andere Form erhält. Ursula Hübenthal unterscheidet daher zwischen dem „Gesamtphänomen" als dem allen Wissenschaften gemeinsamen Gegenstand und dem jeder einzelnen Disziplinen eigenen „Untersuchungsgegenstand". 105 Ein „Gesamtphänomen", das jenseits der Begrifflichkeit und Interessen der Einzelwissenschaften zwangsläufig unbestimmt bleiben muss, ist jedoch in letzter Konsequenz nichts anderes als der noch aufgegebene Begriff der Welt. Die notwendige Grenzüberschreitung der Wissenschaften bedeutet jedoch nicht, dass Schleiermacher für eine Auflösung disziplinärer Grenzen plädiert. Denn wechselseitiger Austausch ist nur zwischen zwei ungleichen Partnern fruchtbar. Der Prozess der Wissensentfaltung geschieht im Wechsel von Vermittlung und Differenz - und Differenz kann nur entstehen, wenn sich die Wissenschaften der Ausbildung ihres je eigenen Aufgabenfeldes widmen. 1 0 6 Die Dynamik der Wechselwirkung besteht gerade in Grenzauflösung und Grenzziehung, und insofern ist Wechselwirkung mehr als Interdisziplinarität, sie formuliert das notwendige Alternieren von Disziplinarität und Interdisziplinarität. Interdisziplinäre Zusammenarbeit kann auch darin bestehen, dass verschiedene Methoden oder Konzepte aus einer Disziplin in eine andere übernommen und dort fruchtbar angewendet werden. Dass von einer solchen „CrossDisziplinarität" (Jantsch) oder „Methoden"- bzw. „Konzept"-Interdisziplinarität Vgl. H Ü B E N T H A L 12. Vgl. H Ü B E N T H A L 22. 106 • Dieser Meinung ist auch Mittelstraß, für den Interdisziplinarität und Disziplinarität keine Gegensätze darstellen, sondern sich wechselseitig voraussetzen (MITTELSTRAß 154). Für das Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie formuliert Lothar Schäfer eine ähnliche Einsicht: „Aber sollten die beiden Disziplinen voneinander lernen können, muß auch eine gewisse Unabhängigkeit der beiden voneinander gewährleistet sein. Korrekturmöglichkeiten setzen Kntikpotentiale voraus, die jedoch bei allzu engen Abhängigkeitsverhältnissen gerade nicht gegeben sind." (SCHÄFER 14). 105

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(Voßkamp) bei Schleiermacher nichts zu finden ist, mag hier nun tatsächlich an der wesentlich weniger ausdifferenzierten Wissenschaftslandschaft liegen, die Schleiermacher vor Augen hatte, denn die Methoden, die für die Crossdisziplinarität oder Methodeninterdisziplinarität hier zur Debatte stehen, sind Spezialmethoden und keine grundsätzlichen Methoden, die Wissenschaftlichkeit selbst garantieren sollen. Und es mag auch daran liegen, dass sich Schleiermacher, wie bereits kritisch angemerkt, im technischen Teil der Dialektik eigentlich kaum um eine Methoden- und Theoriediskussion der bestehenden wissenschaftlichen Praxis einlässt. Als grundsätzliche wissenschafdiche Methoden müsste man nach Schleiermacher Deduktion und Induktion anführen, die, da sie wechselseitig aufeinander verweisen, immer auf eine kritisch-hermeneutische Korrektur und Ergänzung angewiesen sind. Man könnte also auch von einer grundsätzlichen dialektisch-kritisch-hermeneutischen Methode aller Wissenschaften sprechen und dementsprechend bezeichnet Schleiermacher die Kritik auch als „die allgemeine Form alles wissenschaftlichen Verkehrs" (BrEt/iBI 99). Da Kritik nicht nur zwischen einzelnen wissenschaftlichen Positionen, sondern auch zwischen den einzelnen geschichtlichen Gestalten der Wissenschaften vermittelt, könnte man in Schleiermachers Terminologie Kritik auch als interdisziplinäre Praxis oder Interdisziplinarität als eine Form der Kritik verstehen. Auch für diese Kritik als Vermittlung zwischen den Wissenschaften gilt, was für alle Formen der Kritik gilt: Sie ist Kunst und Ihre Anwendung lässt sich selbst nicht wieder unter Regeln bringen. Jede Kritik ist eine neue Kritik, jede interdisziplinäre Praxis ist eine neue interdisziplinäre Praxis. Dass es für interdisziplinäre Zusammenarbeit keinen fest vorgeschriebenen Weg geben kann, sondern einen immer nur wieder neu zu findenden, ist nach U. Hübenthal mittlerweile auch Konsens in der gegenwärtigen Diskussion. 107 Eng mit der Methoden- und Konzept-Interdisziplinarität verbunden ist der Begriff der „Systemwissenschaften" (Weizsäcker), der „Systemdisziplinen" (Lenk) oder „supradisziplinären Wissenschaften" (Hübenthal), die sich nicht eindeutig den Geistes- oder Naturwissenschaften zuordnen lassen und einen großen Beitrag zur Vermittlung der Disziplinen leisten können, indem sie in verschiedensten Disziplinen zum Einsatz kommen und so eine Basis der Vergleichbarkeit schaffen. Zu diesen supradisziplinären Wissenschaften zählt U. Hübenthal u. a. die Wissenschaftswissenschaften, die Semiotik, die Spieltheorie, die Systemtheorie und die Kybernetik. In diesem Sinne könnte man Schleiermachers Dialektik, die Kritik und insbesondere die Kritik der Kultur, wie sie noch auszuführen sein wird, als Supradisziplin bezeichnen. Einen ganz konkreten Niederschlag finden Schleiermachers Überlegungen zur Wechselwirkung der Wissenschaften in der Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn von 1808. Diese Schrift steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Universitätsgründung in Berlin, deren politische Durchset107

Vgl. H Ü B E N T H A I . 9.

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zung 1810 in dem letzten Jahr weitgehend Humboldts Verdienst war. 1 0 8 Theoretische Überlegungen über Sinn und Form universitärer wissenschaftlicher Praxis als Vorgeschichte der Reformuniversität finden sich jedoch nicht nur bei Humboldt, sondern seit 1790 in zahlreichen Schriften zur anstehenden preußischen Universitätsreform, u. a. bei Schleiermacher, Steffens, Fichte und Schelling. 109 Unter diesen Programmschriften stehen sich Humboldts und Schleiermachers Entwürfe sehr nahe. Schleiermachers Schrift, die 1808 in Berlin gedruckt wurde, fand eine große Resonanz und bildete sich teilweise bis in einzelne Formulierungen in den vorgeschlagenen Universitätsstatuten ab.11® Auch für Humboldt ist Wissen keine von den anderen Bereichen des Lebens isolierbare Tätigkeit, sondern eingebettet in den umfassenden sittlichen Prozess der Weltbildung. Wissenschaft ist ein lebendiges, sich permanent modifizierendes Unternehmen, deren Einheit nicht mehr als gegeben, sondern lediglich als aufgegeben verstanden werden kann. In seiner fragmentarischen Schrift drängt Humboldt daher darauf, die Wissenschaft in ihrer Lebendigkeit zu erhalten und als ein „noch nicht ganz aufgelöstes Problem" (ANRICH 377) zu behandeln. 111 Wie für Humboldt soll auch für Schleiermacher die neue Universität ein Ort der Einheit von Lehre und Forschung darstellen. Gegenstand der Lehre sind nicht nur die Forschungsinhalte, sondern das Forschen selbst. Der Eintritt in die eigene Forschung kann für Schleiermacher jedoch nur dann gelingen, wenn das Bewusstsein für die Einheit und den Umfang der gesamten Wissenschaften oder wenn ein Bewusstsein für das, was Wissenschaft und Wissen ist, vermittelt wird. Schleiermacher fordert daher ein allen anderen Studien vorangehendes einjähriges Philosophiestudium, und die philosophische Fakultät sollte dementsprechend die erste Stelle unter den Fakultäten einnehmen und alle anderen als Institute sich an 108

Humboldt übernahm ab Februar 1809, berufen von dem Freiherrn von Stein, die Leitung der Sektion Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium und setzte in dieser Position nicht nur die Reform der Universität, sondern eine Reform des ganzen Bildungsapparates durch (vgl. HÖDEL 130f.). Humboldt musste jedoch bereits im April 1810 zurücktreten, und die Universitätsreform fand nur als Kompromiss, nicht jedoch in ihrer ursprünglichen Form ihre Umsetzung (vgl. ARNDT 1996, Kommentar..., 1200). Anders als Schöllings Schrift, mit der er sich 1801 habilitierte, waren Fichtes, Schleiermachers, Steffens und Humboldts Schriften unmittelbar an die bevorstehende oder erhoffte Neugründung der Berliner Universität gekoppelt (vgl. ANRICH XIf.). 1 1 0 Vgl. ARNDT \9%, Kommentar..., 1200. 111 •• Vgl. auch HUMBOLDT, Über die innere und äußere Organisation dir höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), 379: „Dies vorausgeschickt, sieht man leicht, daß bei der inneren Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten Alles darauf beruht, das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig als solche zu suchen. Sobald man aufhört, eigentlich Wissenschaft zu suchen, oder sich einbildet, sie brauche nicht aus der Tiefe des Geistes heraus geschaffen, sondern könne durch Sammeln extensiv aneinandergereiht werden, so ist Alles unwiederbringlich und auf ewig verloren; verloren für die Wissenschaft, die, wenn dies lange fortgesetzt wird, dergestalt entflieht, daß sie selbst die Sprache wie eine leere Hülse zurückläßt, und verloren für den Staat."

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

sie anschließen und ihr unterordnen. 1 1 2 So wie die Lernenden sollten auch alle Lehrenden in der philosophische Fakultät verwurzelt sein, damit ihre Lehre nicht mit der Zeit zu einem handwerklichen Unterricht v e r k o m m e . 1 1 3 D e m Universitätslehrer wird daher ungeachtet seiner Spezialisierung das Recht eingeräumt, in anderen Fächern und zu allgemeinen philosophischen Fragen Stellung zu nehmen. Kein Lehrer darf auf sein eigenes Fach eingeschränkt werden. D i e Universität soll darauf zustreben, „sich nicht zu sehr ins Einzelne hinein bestimmt zu theilen, jeden Lehrer etwa streng in den Grenzen seiner Facultät zu halten, oder gar in dieser ihn ganz zu bestimmt auf ein gewisses Fach

einzuschränken"

(GGL7KGA I 6, 5 7 ) . 1 1 4 Mit dieser Hierarchisierung greift Schleiermacher in der unipolitischen Abhandlung die Problematik der obersten Wissenschaft wieder auf, ohne mit dieser Forderung den prinzipiell werdenden Charakter der Philosophie und das rekursive System der Wechselwirkung der Wissenschaften zu unterlaufen. Eine Sonderstellung kommt der Philosophie (man müsste hier übersetzen Dialektik) zu, indem sie auf die Bedingungen von Wissenschaften und Wissenschaftlichkeit reflektiert und gerade erst durch diese Reflektion der grundsätzlich offene Charakter aller Wissensbemühungen zu Tage tritt. Während der Aspekt der Persönlichkeitsausbildung oder Ausbildung zur Individualität, den Humboldt und auch Schleiermacher hervorheben, vor allem in der Idee eines „Studium generale" wieder aufgenommen wurde, könnte die Forderung eines einjährigen Philosophiestudiums in die Forderung übersetzt werden, jedem Studium eine wissen-

112

11-3

Vgl. GGUKGA I 6, 56: „Dies Recht [der Philosophie die erste zu sein, S. S.] übt sie fast überall aus über die ankommenden Studierenden; von ihr werden zunächst Alle geprüft und aufgenommen, und dies ist eine sehr löbliche und bedeutende Sitte. Nur scheint sie noch erweitert werden zu müssen, um ihre Bedeutung ganz zu erfüllen. Es ist gewiß verderblich, daß die Studierenden gleich anfänglich sich können irgendeiner andern Facultät einverleiben." Die philosophische Fakultät ist dasjenige, was „alles zusammenfaßt, was sich natürlich und von selbst als Wissenschaft gestaltet" (ebenda). „Sie ist auch deshalb die Krste und in der That Herrin aller übrigen, weil alle Mitglieder der Universität, zu welcher Facultät sie auch gehören, in ihr müssen eingewurzelt sein." (ebenda).

Wozu nach Schleiermacher besonders die juristische und, wie Schleiermacher mit kleinem Seitenhieb auf die eigene Zunft bemerkt, auch die theologische Fakultät neigen, vgl. GCl/KGA I 6, 57. ^ ^ Interessanterweise fordert Lenk in einer ähnlichen Argumentation, aber in umgekehrter Richtung, für jeden Philosophen als Spezialisten für das Allgemeine eine Doppelausbildung und eine Zusammenarbeit im „multidisziplinären Arbeitsteam". In einem solchen Team käme dem Philosophen (dem methodischen Universalisten, wie dem Systemtheoretiker ζ. B.) die Aufgabe zu, die Diskussion zu organisieren, auf alternative, mitunter utopisch anmutende Möglichkeiten aufmerksam zu machen, ideologiekritische Gesichtspunkte sowie Normen und Werteaspekte einzubringen. Der Philosoph soll Form und Fokus sein - das macht seine von Lenk vertretene (neue) Praxisnähe aus (vgl. LFNJK 16). Auch wenn I^enk betont, dass der Philosoph dabei immer nur vorschlagend und Rat gebend, nie endgültig direktiv vorgehen darf, ist mir diese eingeschränkte und konkrete Zwecksetzung, die dem Philosophen (nicht der Philosophie) eine Art Schiedsrichterfunktion im wissenschaftlichen Diskurs zuschreibt, suspekt und beschreibt für mich eher die Rolle eines Oiskurstecbmkers, denn die des Philosophen.

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

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schaftswissenschaftliche Ausbildung vorangehen zu lassen, die die Frage nach der Einheit und Einteilung der Wissenschaften, die nach dem Wissensbegriff, Sprache und Methoden der Wissenschaften, wenn nicht vollständig beantwortet, so doch aufwirft und ein Problembewusstsein schafft. Mit dem Plädoyer für die Disziplinen überschreitende Lehrtätigkeit der Professoren formuliert Schleiermacher zwar noch keine Forderung interdisziplinärer Zusammenarbeit, denn ein Wechsel des Faches oder der Disziplin ist noch keine eigentliche Zusammenarbeit verschiedener Fächer und Disziplinen, aber eine wesentliche Voraussetzung. Denn der Wechsel ist nicht willkürlich, sondern motiviert, und der Wissenschaftler tritt mit seinem Vortrag im fremden Gebiet - dies ist für Schleiermacher selbstverständlich - in einen (ihm neuen) Diskussionskontext ein. Aber warum sollte auch ein Lehrer gehindert werden, einmal das Gebiet einer andern Facultät zu betreten? Grenzen doch alle aneinander und berühren sich in mehreren Punkten, so daß es an Veranlassungen nicht fehlt, aus einer in die andern hinüberzuschweifen. Ergreift dies ein Gelehrter recht, und begnügt er sich nicht damit, nur für sein eignes Studium zu leihen, was er von dort her braucht: so muß er gewiß etwas recht eigenthümliches und geistreiches hervorgebracht haben auf dem fremden Gebiet, wenn er sich entschließt, es öffentlich vorzutragen. (GGUKGA I 6, 58)

Jeder, der einmal seine Fähigkeit als Universitätslehrer bewiesen hat, muss in allen anderen Gebieten vortragen dürfen. Die Struktur der Universität sollte diesem belebenden Austausch genügend Raum lassen, damit „neues Leben in einen jeden Zweig der Wissenschaften kommt, wenn er wieder von Andern, und vorzüglich von solchen die sich mit andern Zweigen mehr abgegeben haben, aufs neue bearbeitet wird. Darum lasse keiner sein Talent so bestimmt und äußerlich binden, oder binde es selbst." (GGUKGA I 6, 58)

5.4. Ausblick: Auf dem Weg einer Kritik und Hermeneutik der Kultur 5.4.1. Schleiermachers Ansatz einer praktischen Philosophie zwischen Sein und Sollen, Sitte und Gesetz Schleiermachers Ansatz einer praktischen Philosophie muss seinem eigenen Selbstverständnis nach als Versuch gewertet werden, der zwei ethische Ansätze, die bis heute die praktische Philosophie entzweien, zu verbinden sucht. Diese zwei Gegenpositionen praktischer Philosophie könnte man mit den Etiketten „Universalismus" versus „Kontextualismus" oder Ethik des Gesetzes versus Ethik der Sitte versehen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die von der allgemeinen und kulturübergreifenden Gültigkeit normativer Aussagen überzeugt sind, auf der anderen Seite diejenigen, die sich auf die Kontextgebundenheit sittlicher

362

W e c h s e l w i r k u n g von Kunst, Wissenschaft und Leben

L e b e n s f o r m e n b e r u f e n u n d d a r a u f a u f m e r k s a m m a c h e n , dass sittliche V e r b i n d lichkeit n u r in einer historisch g e w a c h s e n e n G e m e i n s c h a f t e n t s t e h e n k a n n . 1 1 5 Für S c h l e i e r m a c h e r m a n i f e s t i e r t sich dieser u n t e r s c h i e d l i c h , je einseitige

ethische

A n s a t z als G e g e n s a t z v o n Sein u n d Sollen, Sitte u n d G e s e t z z u m e i n e n z w i s c h e n A l t e r t u m , w o G ü t e r - u n d T u g e n d l e h r e d o m i n i e r e n u n d der M o d e r n e (der Philos o p h i e des 18. J a h r h u n d e r t s , in N a m e n v o r allem Kant), die Ethik als P f l i c h t e n ethik e n t w i r f t . 1 1 6 I n n e r h a l b der M o d e r n e zeigen sich diese einseitigen E n t w ü r f e als G e g e n s a t z v o n E u d ä m o n i s m u s 1 1 7 o d e r „consultativer E t h i k " u n d d e r P f l i c h tenethik ä la K a n t . 1 1 8 Jämmerlich ist freylich jene praktische Philosophie der Franzosen und Engländer, von denen man meynt, sie wüßten so gut, was der Mensch sey, unerachtet sie nicht darüber spekulirten, was er seyn solle. Jede organische Natur hat ihre Regel, ihr Sollen; und wer darum nicht weiß, wie kann der sie kennen? Woher nehmen sie denn den Eintheilungsgrund ihrer naturhistorischen Beschreibungen und wonach messen sie den Menschen? Eben so gut sind sie aber doch als jene, die mit dem Sollen anfangen und endigen. Diese wissen nicht, daß der sittliche Mensch aus eigner Kraft sich um seine Axe frey bewegt. Sie haben den Punkt außer der Erde gefunden, den nur ein Mathematiker suchen wollen kann, aber die Erde selbst verloren. U m zu sagen, was der Mensch soll, muß man einer seyn, und es nebenbey auch wissen. (Fra^KGA I 2, 151) In allen Formen sezt sie [die kantische Philosophie, S. S.] das Sollen, ohne sich zu bekümmern um das Sein, als charakteristisch für das Ethische im Gegensaz gegen das Physische. Aber die Erscheinung ist im Physischen auch dem Begriff nie angemessen, und was für die Ethik eigentlich Object ist, nemlich die Kraft, aus welcher die einzelnen Handlungen hervorgehen, muß in der Ethik auch als seiend und mit seinem Sollen identisch vorausgesezt werden. (EtbBI 6, § 10)

115

Zu Schleiermachers Zwischenposition zwischen einer Ethik der Sitte und des Gesetzes vergleiche vor allem B E R ß E N 1998. G u n t h e r S c h o t e (vgl. S C H O L T Z 125) interpretiert diesen Z w i s c h e n w e g der Schleiermacherschen Ethik als einen W e g zwischen Kant und Herder.

116

Vgl. EtiBl

117

V g l . Eä6BI 6, § 8 .

118

16, § 86.

Vgl. EibBI

10, § 42: „ D i e Imperativische Ethik faßt nur die Seite des Nichtgewordenen, drückt

also das allmählige V e r s c h w i n d e n dieses Factors nicht aus." Vgl. EthB\ 10, § 43: „Die consultative [Ethik, S. S.] faßt nur die Seite des G e w o r d e n e n , denn nur für die g e w o r d e n e kann es gleichgültig sein dasselbe unter der F o r m der Vernunft o d e r der Sinnlichkeit auszudrücken." Vgl. EtbBI

10, §

44: „ E i n e vollständige Darstellung m u ß also den Gegensaz beider F o r m e n a u f h e b e n . " Vgl. BrEtbB\

17: „Unter d e m Charakter der Gesezmäßigkeit wollen in unsern Zeiten die bürgerlichen

M e n s c h e n die ganze Sittlichkeit anschaun. M i t Recht, d e n n ohne G e m e i n s c h a f t kann die Vernunft im Einzelnen nicht zur Identität hinaufsteigen. A b e r sie m u ß die Individualität mitbringen, sonst bringt sie ja nur ein Organ mit, das sich erst ein beseelendes Princip sucht." Vgl.

BrEtbBl

11: „ F o r m und Stil der Ethik. Der Stil der Ethik ist der historische. D e n n nur w o Erscheinung und G e s e z als dasselbe g e g e b e n ist, ist eine wissenschaftliche Anschauung. I m Sollen ist ein Zwiespalt gesezt, i m Rathgeben ein Aeusseres und Bedingtes. Der Stil kann also w e d e r Imperativisch n o c h consultativisch sein."

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

363

Schleiermachers Auseinandersetzung mit Kant und seine Kritik an Kant geht in eine ähnliche Richtung wie Hegels Kantkritik. Auch für Schleiermacher muss der reine Wille als inhaltsleere, tautologische Abstraktion verstanden werden, der nur in konkreter Sittlichkeit zur tatsächlichen Handlungsanweisung und somit zwangsläufig „unrein" werden kann. 1 1 9 Allerdings wird der Prozess sittlicher Weltbildung bei Schleiermacher nicht als dialektische immer höherstufige Erfahrung gedeutet, die im Absoluten seinen versöhnenden Abschluss findet, sondern als offener Prozess der wechselseitigen Bildung der sich bedingenden Interessen von Individuum und Gemeinschaft. Das Sollen bestimmt so das Sein, insofern es Motor für die Modifikation des Seins ist, das Sein das Sollen, insofern sich das Sollen nur im Sein realisieren kann; jedes konkrete, inhaltliche Sollen lässt sich nur in Bezug auf ein sittliches Sein formulieren. Sein und Wollen markieren nicht das Terrain zweier Welten, sondern im Prozess der Sittlichkeit schreibt sich das Sollen langsam in das Sein ein und wird dadurch allererst sichtbar. Diese wechselseitige Bildung von Sein und Sollen im Bereich des Sittlichen zeigt sich auch in der Beziehung von Ethik und Geschichtskunde, die zu ihrer Entfaltung wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Weder kann die Ethik oder Sittenlehre ohne Blick auf die historische Erscheinung der Vernunft geschrieben werden, noch eine Geschichte ohne sittlichen Interpretationsrahmen. Sittenlehre und Geschichtskunde verhalten sich zueinander wie das „Formelbuch" zum „Bilderbuch". 1 2 0 Vernunft, deren ursprüngliche Einheit vorausgesetzt wird, erscheint in der Form der Persönlichkeit und ist als solche „zweifach" raum-zeitlich vereinzelt: vereinzelt in den einzelnen vernünftigen Akten und einzeln in der einzelnen Person. Die momentane und personale Vereinzelung muss im Prozess der sich realisierenden Vernunft wieder eingeholt werden, indem die Ausschnitthaftigkeit zur Gemeinschaft erhoben wird und der einzelnen Erscheinung der ihr unverwechselbare Platz in der Totalität der Erscheinungen zugewiesen wird: Das Handeln der Vernunft ist in der Persönlichkeit unter die Bedingung von Raum und Zeit gesezt. Geht ihr Handeln in den räumlichen und zeitlichen Bestimmungen ^ ^ Vgl. Hegels Kantkritik im Naturrechtsaufiat^ von 1802 „Es ergiebt sich sogleich, daß da die reine Einheit das Wesen der praktischen Vernunft ausmacht, von einem Systeme der Sittlichkeit so wenig die Rede seyn kann, daß selbst nicht einmal eine Mehrheit von Gesetzen möglich ist; indem was über den reinen Begriff, oder weil dieser, insofern er als negirend das Viele, d. h. als praktisch gesetzt wird, die Pflicht ist, was über den reinen Begriff der Pflicht und die Abstracdon eines Gesetzes hinausgeht, nicht mehr dieser reinen Vernunft angehört; [...] Aber die Materie der Maxime bleibt, was sie ist, eine Bestimmtheit oder Einzelheit; und die Allgemeinheit, welche ihr die Aufnahme in die Form ertheilt, ist also eine schlechthin analytische Einheit; und wenn die ihr ertheilte Einheit rein als das, was sie ist, in einem Satze, ausgesprochen wird, so ist der Satz ein analytischer und eine Tautologie." (HEGEL, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts 1968, 434f.) ^ ^ Vgl. Ei/jBI 217, § 108: „[-.-] für einander sind sie die Geschichtskunde das Bilderbuch der Sittenlehre, und die Sittenlehre das Formelbuch der Geschichtskunde."

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

auf und ist also ein absolut Vereinzeltes, so wird in jedem Handeln die Totalität des sittlichen Prozesses negirt. Es muß also die Vernunft auch unter dieser Form als mit sich selbst gleich dargestellt und gezeigt werden, daß in jeder Handlung vermöge ihrer Vernünftigkeit die Totalität des sittlichen Prozesses gesezt ist. (EtbBl 15, § 82)

Kants kategorischer Imperativ muss von diesem Standpunkt aus als Gleichsetzung des Nichtgleichen oder als leere Abstraktion kritisiert werden. Handle so, dass die Maxime deiner Handlung zum allgemeinen Gesetz werden kann, stellt vom Standpunkt einer sich im Individuum realisierenden Vernunft eine nicht zu erfüllende Aufgabe dar. Denn jede Handlungsmaxime, die mehr aussagt als die Tautologie der Definition des reinen Willens, bezieht sich auf eine konkrete Situation und weder die Maxime noch die Situation lassen sich verallgemeinern. Die Handlungsmaxime, die mein gutes Handeln anleiten soll, darf weder über den Einzelnen noch über die konkrete Situation hinwegsteigen - eine Maxime kann und darf keine für jeden Menschen in jeder Situation gleiche sein. J e allgemeiner man die Maxime formuliert, desto mehr Fälle kann sie unter sich subsumieren, aber desto inhaltsleerer wird sie, desto weniger kann sie das Handeln tatsächlich anleiten. Ein durchtrainierter Mensch kann in einer brenzligen Situation anders eingreifen als ein Kind oder ein alter Mensch. Ein gebildeter Mensch hat mehr Möglichkeiten einen politischen Zusammenhang zu durchschauen, als ein ungebildeter und ihm wachsen aus diesem Grund andere Verantwortlichkeiten zu. Universalität kann für Schleiermacher daher nicht in Form der Allgemeingültigkeit von konkreten subjektiven Handlungsmaximen bestehen, sondern muss eher als Universalität im Sinne einer vollkommenen Angemessenheit und Allgemeinverträglichkeit verstanden werden. Der Weg zu einem (lebendigen) Allgemeinen oder Universellen kann für Schleiermacher daher weder in der Abstraktion vom Eigentümlichen oder Individuellen noch in deren Negation bestehen, sondern lediglich in der Zuwendung zu diesem. Denn die Bildung zur Individualität ist zugleich Bedingung der Bildung der Gemeinschaft und umgekehrt. Ist die Erkenntnis, dass meine Individualität Teil eines unendlichen Ganzen ist, notwendig Voraussetzung meiner Freiheit, so kann sie erst mit der Einsicht darein, wie ich als Individuum Teil eines Ganzen bin, realisiert werden. Was ich aber für ein Individuum bin, das erschließt sich mir nur in dem Maße, in dem sich mir die menschliche Gemeinschaft erschließt. Anders formuliert: Die in den einzelnen Aktionen des Individuums raum-zeitlich vereinzelte Vernunft bildet sich in diesem Prozess in gleicher Weise zur Individualität, wie sich die Gesamtheit der Erscheinungen zur organischen Gemeinschaft bildet, in der jedem Individuum sein unverwechselbarer Platz zukommt. f...] so kann das Gebiet des Identischen nicht anders als zugleich ein Eigenthümliches und das Fiigenthümliche nicht anders als zugleich ein Identisches sein. (EthBI 31, § 53)

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

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Die Iligenthümlichkeit wäre keine, wenn sie nicht in Gemeinschaft träte: denn sie existirt nur relativ gegen andere. Und die Gemeinschaft hätte kein Fundament, wenn es nicht die Eigentümlichkeit wäre. (BrEthBl 16)

Der kategorische Imperativ muss nicht aufgegeben, aber neu formuliert werden. Individuelles und Gemeinschaftliches sind auf ideale Weise miteinander zu vermitteln: Handle so, dass deine Handlung allgemeine und individuelle Interessen auf ideale Weise miteinander vermitteln hilft. Die Kantische Frage Was soll ich tun? muss bei Schleiermacher mit der Frage gleichgesetzt werden, wie ich mich als Individuum am besten in das menschliche Zusammenleben einschreiben kann. Es ist dabei ebenso unsittlich die Persönlichkeit eines anderen Menschen zu übergehen, wie seine eigene Persönlichkeit aus „Schlaffheit" nicht einzubringen. Im isolirten Aneignen geht der reinmenschliche Charakter verloren unter der Form der Gewalttätigkeit, d. h. des Nicht-Anerkennens der Persönlichkeit außer sich. (EtbBI 29, § 39) Im isolirten Hingeben geht er verloren unter der Form der Schlaffheit, d. h. des Nicht-Sezens der eignen Persönlichkeit. (EtbBI 29, § 40)

Oder wie Schleiermacher in der Akademieabhandlung zur Pflichtenlehre formuliert: Handle jedesmal gemäß deiner Identität mit Andern nur so, daß du zugleich auf die dir angemessene eigenthümliche Weise handelst. (KGA I 11, Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs, 426f.) Handle nie als ein von den Andern unterschiedener, ohne daß deine Übereinstimmung mit ihnen in demselben Handeln mitgesetzt sei [...] (KGA I I I , Versuch Uber die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs, 427) Eigne nie anders an, als indem du zugleich in Gemeinschaft trittst. (KGA I I I , Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs, 427) Tritt immer in Gemeinschaft, indem du dir auch aneignest. (KGA I I I , Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pftichtbegriffs, 427)

Theoretische und praktische Philosophie unterscheiden sich daher für Schleiermacher keinesfalls durch ihre je einseitige Ausrichtung auf ein Sein und ein Sollen. Ebenso wie sich die praktische Philosophie nur als Prozess der wechselseitigen Bildung von Sein und Sollen beschreiben lässt, geht es auch im Prozess der Wissensbildung um ein Sollen, das sich langsam in ein Sein einschreibt. Natur muss als das nur abstrakt zu fassende Chaos purer Mannigfaltigkeit oder purer Materie begriffen werden, dass sich erst im vernünftigen Akt zu einem konkreten Sein bildet, und das, was Vernunft ist, zeigt sich uns lediglich in seinen vernünftigen Akten und lässt sich nicht in einer einmaligen kritischen Reflexion in Form von apriorischen Strukturen freilegen. Wissen, als das von allen gleich produzierte, dem Sein entsprechende Denken, kann daher nur als ein Sollen oder als praktisches Gesetz formuliert werden; Denke so, dass dein Denken ein von allen gemeinsam produziertes Denken sein kann oder; Denke so, dass dein Denken mit dem Sein überein-

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

stimmt. Auch auf erkenntnistheoretischer Seite gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Sollen des Wissens und dem Sein der Meinung. So wie wahr und falsch nur relative Größen sind, die den „Grad der Einigung" des Denkens anzeigen, müssen auch gut und böse als relativ zu vergebende Prädikate verstanden werden, die sich mit wachsendem sittlichem Prozess ändern können. Falsch und böse sind - wie in Spinozas Ethik - nichts „Positives", sondern zeigen lediglich einen Mangel an Erkenntnis, einen Mangel an sittlicher Einigung an. Das Böse ist an sich nichts und kommt nur zum Vorschein mit dem Guten zugleich, inwiefern dies als ein Werdendes gesezt wird. (BrEthBI 7)

Das Böse kann weder auf eine „Antivernunft" noch auf Natur zurückgeführt werden und es besteht auch nicht im Widerstreit eines einzelnen gegen einen allgemeinen Willen, denn dieser Konflikt ist gerade die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich Sitdichkeit als Vermitdung des Individuellen und Allgemeinen überhaupt erst bilden kann. Das Böse sezen in einem Widerstreit eines einzelnen Willens gegen einen allgemeinen ist eine unrichtige Formel, weil alle Fortschritte sittlicher Ganzen von einem Widerstreit Einzelner ausgehen müssen. (EthBl 34, § 80)

Gut und böse sind Urteile, die überhaupt nur bezogen auf einen konkreten sittlichen Kontext gefällt werden können, der einen bestimmten Entwicklungspunkt der sich aneinander realisierenden Natur und Vernunft darstellt. Gut heißt: die Handlung, Haltung oder sittliche Intuition hat für den Kontext, den wir gerade überblicken können, einen optimalen Einigungsgrad zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. zwischen Individuum und Individuum hergestellt. Da es keine reale Antivernunft geben kann, in welchem Falle es auch einen Antigott geben müßte, so kann der Gegensaz zwischen gut und böse nicht anderes ausdrücken als den positiven und den negativen Factor in dem Prozeß der werdenden Einigung und also auch nicht besser aufgefaßt werden als in der reinen und vollständigen Darstellung dieses Prozesses. (EthBl 10, § 47) Der Gegensaz von gut und böse bedeutet nichts anderes, als in jedem einzelnen sittlichen Gebiet das Gegeneinanderstellen dessen, was darin als Ineinandersein von Vernunft und Natur, und was als Außereinander von beiden gesezt. f...] — Indem aber das Gute durch das Handeln der Vernunft gesezt ist, kann weder die Natur selbst das Böse sein, denn sie ist im Guten mitgesezt, noch kann es eine Gegenvernunft geben, deren Einssein mit der Natur das Böse wäre. Denn sonst gäbe es keine vorausgesezte Einheit der Vernunft und Natur. [...] Ein sittliches Gebiet ist ein bestimmtes und begrenztes, sittlich für sich sezbares Sein. Nur in einem solchen wird Böses gesezt mit dem Guten, und kann also nur das oben Beschriebene ausdrücken. (EthBl 212, S 91). 1 2 1 121 Vgl. EtbBl 212, § 92: „Indem also die Sittenlehre das Handeln der Vernunft als ein Mannigfaltiges auseinanderlegt, so ist sie ein sich immer erneuerndes Sezen und Aufheben des Gegensazes von

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

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Diesem Sollen müssen wir uns zwar in jeder Situation neu stellen, wir können uns ihm aber nie so stellen, als würde die Welt erst anfangen zu werden. So wie wir in eine Sprache hineingeboren werden, die unser Denken bestimmt, so werden wir auch in einen sozialen Zusammenhang hineingeboren, in dem schon eine bestimmte Form von Gemeinschaft existiert und der unsere Handlungen bestimmt. 1 2 2 Es gibt kein erstes Anfangen der Wirkung der Natur auf die Vernunft und der Vernunft auf die Natur. Ihr Aufeinandereinwirken hat immer schon begonnen D i e V e r n u n f t wird in der N a t u r gefunden und die E t h i k stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprünglich hineinkäme. (EiblSI

9, §39)

J e d e s E r s c h e i n e n der V e r n u n f t unter dieser F o r m ist aber selbst s c h o n zu sezen als ein G e w o r d e n e s , d. h. als einen früheren geringeren G r a d ihres Vorhandenseins voraussezend, also nie als b l o ß e s V e r m ö g e n , sondern jedes V e r m ö g e n nur mit seiner Thätigkeit und durch sie. (fitbBl

14, § 72)

E s besteht ein Regelwerk an sittlichen Normen, denen wir uns nie vollständig entziehen können, und es kann gar nicht darum gehen, die gute Form sozialen Zusammenlebens aus dem Stegreif oder auf dem Reißbrett zu entwerfen, sondern nur darum, die Vermittlung von individuellen und gemeinschafdichen Interessen ausgehend von der bestehenden Gemeinschaft bzw. von bestehenden Gemeinschaften weiterzubilden.

5.4.2. Kultur als Organproduktion: Ausbau der Talente und Aneignung der Natur Schleiermachers Ethik wurde bereits in den dreißiger Jahren von Reble als Kulturphilosophie entdeckt. 1 2 3 Diese frühe Lesart der Ethik als Kulturphilosophie und die Hervorhebung der Bedeutung des Begriffs der Kultur für Schleiermachers philosophisch-theologisches Werk findet nach einem ersten Interesse in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erst in jüngster Zeit vermehrt wieder Beachtung in der Sekundärliteratur. 124 Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass der Begriff der Kultur und der Kulturphilosophie, der in der Philosophie des gut und böse. Kr wird gesezt, indem bestimmte sittliche Gebiete gesezt werden; er wird aufgehoben, indem ein Ineinander von Natur und Vernunft gesezt wird, welches abgesehen von dem ausgedrückten Handeln nicht war." Vgl. auch UtblSl 34, § 78; Li/Ml 34, § 77 u. ί-JbliI 35, § 81. Es macht daher in Schleiermachers System wenig Sinn, einen Naturzustand von einem Zivilisationszustand zu unterscheiden. 123

Vgl. R E B L E 1935. Heinzes ( H E I N Z E 1935) inhaltlich schwache Arbeit ist zwar im gleichen Jahr erschienen, geht hinsichtlich der Konzeption der erst spät veröffentlichten Arbeit Rebles jedoch nach.

124

Vgl. S C H O L T Z 1983, S C H O L T Z 1995 u. 35-64, G R A B 2002 und die etwas ältere Auseinandersetzung von Bernhard Kopp (KOPP 1974, 68-81). Neben den vergleichsweise wenigen Aufsätzen zu diesem Thema steht jedoch eine relativ häufige Hervorhebung Schleiermachers als Kulturphilosoph.

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

zwanzigsten Jahrhunderts einen entscheidenden Platz einnimmt,12;> besonders in den letzten zehn Jahren wieder Hochkonjunktur hat. 126 Analog zu einem „linguistic turn" könnte man mit Blick auf den populären Fokus im intellektuellen Diskurs der letzten zehn jähre von einem „cultural turn" sprechen. Wesentlich ist jedoch, dass Schleiermachers Ethik, die das Gewicht auf die das Handeln bestimmenden Güter oder Objektivationen des Geistes legt - von daher eine Lesart als Kulturphilosophie erlaubt - sich leicht mit einem modernen Kulturbegriff zur Deckung bringen lässt und damit auch ein Anschluss an moderne Diskussionszusammenhänge erlaubt. Schleiermachers Kulturbegriff findet sich vor allem in dem frühen Entwurf der Ethik von 1805/06, dem Bmuillon ^ur Ethik, lässt sich aber ohne Probleme auch für die späteren Entwicklungsstufen der Ethik, in denen der Begriff Kultur nur noch selten auftaucht, übernehmen. Im Bnuillon %ur Ethik wird Kultur zunächst mit der Organbildung identifiziert: „vollständige Organbildung" ist die „Idee einer vollkommenen Kultur" (BrEthBl 16). 127 Organe als Werkzeuge im vernünftigen Umgang mit der Natur können in unmittelbare und mittelbare unterschieden werden. Zur unmittelbaren Organbildung gehört alles, was die Ausbildung der menscheneigenen Anlagen betrifft und Schleiermacher spricht daher auch von der Ausbildung der „Talente" oder von „Gymnastik". Die „Gymnastik" ist jedoch nicht in erster Linie körperliches Training, wie man heute sagen würde, sondern betrifft vor allem den Ausbau der Denk- und Wahrnehmungsfähigkeiten. 128 Als Bildung mittelbarer Organe geht das Organisieren über die Selbstbildung des Menschen hinaus und ist Aneignung und Gestaltung der (externen) "Natur. Beide Formen der Organbildungen (man könnte zugespitzt sagen: Selbstbildung und Fremdbildung) sind durcheinander bedingt. Die Ausbildung meiner körperlich-geistigen Fähigkeiten bedingt die Art und Weise, wie ich mich der äußeren Natur bemächtigen kann. Ein neues Instrument der Aneignung der äuße125 Für Geyer (GEYER, C.-F. 3) ist der Begriff der Kultur Leitbegriff postidealistischer Diskurse. Ulrich Barth (Vortrag zum Schleiermacher-Symposium in Münster am 11.3.2001) sieht vor allem drei Gründe für diese Konjunktur: Zunächst verlangen die Veränderungen im weltpolitischen Kontext nach Ende des Kalten Krieges nach neuen Leitbegriffen und Diskursen, die das Orientierungsvakuum ausfüllen und der Begriff der Kultur trete an die Leerstelle des obsolet gewordenen Gesellschaftsbegriffs. Mit dem Begriff der Kultur gelinge es zweitens die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften zu betonen, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr vor einem Legitimationsproblem gestellt sahen, dem mit der Umbenennung der Geisteswissenschaften in Kulturwissenschaften zu begegnen (man könnte auch sagen: auszuweichen) versucht wird. Nicht zuletzt tritt im weltpolitischen Kontext der „Kulturenkonflikt" immer mehr in den Vordergrund, der dem Begriff der Kultur einen enormen KuftrlaiaBtfat.aber zutreffende und präzise Auseinandersetzung des Kulturbegriffs bei Schleiermacher liefert vor allem Bernhard Kopp, mit der die folgende Darstellung in den wesentlichen Pnnlrten i'ihprnintnmmr 128

Vgl. BrEtbßi 31.

Ausblick: Auf dem Weg zu einet Kritik und Hermeneutik der Kultur

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ren Natur fordert und fördert den Ausbau neuer Fähigkeiten. i£> Unter diese Organbildung zählt Schleiermacher Mechanik, die „Agrikultur" und die Sammlung des wissenschaftlichen Apparates. 1ΛΙ Während unter Mechanik die Aneignung der anorganischen Natur, also jede Form von Technik und Industrie zur zählen ist, muss Agrikultur im weitesten Sinne als Aneignung der organischen Natur begriffen werden. Mechanik und Agrikultur wäre das, was im heutigen Sprachgebrauch als Wirtschaft zu bezeichnen wäre,1-11 dementsprechend spricht Schleiermacher im Βrouillon %ur Ethik auch von einer „ökonomischen Kultur", der die Sammlung des wissenschaftlichen Apparates als „wissenschaftliche Kultur" oder „repräsentative Bildung" gegenübersteht (BrEthBI 69). Als Organbildung oder schöpferische Naturgestaltung unterläuft Schleiermacher äußerst weit gefasster Kulturbegriff sowohl die Opposition von Kultur und Natur als auch die von Kultur und Gesellschaft bzw. Kultur und Zivilisation. Kultur als Bildungsprozess zu verstehen, war schon der Aufklärung eigen, allerdings in Entgegensetzung zur Natur - wobei Natur als zu überwindende Bildungsstufe galt. Obgleich Kultur als Ausbildung der Natur bezeichnet wird, ist Natur überhaupt nur etwas, konkret oder wirklich, weil sie durch Vernunft organisiert wurde, und in dieser Hinsicht könnte man wirkliche Natur als eine immer schon vernünftig kultivierte Natur bezeichnen. Natur ist nur in dem Maße, in dem wir Vernunft entfaltet haben, sie zu beschreiben, uns zu Nutze zu machen und zu klassifizieren und umgekehrt: Vernunft haben wir nur in dem Maße, in dem Natur ihr Anlass gibt, sich an ihr handelnd und erkennend zu erproben. Allerdings legen auch viele Stellen bei Schleiermacher nahe (entgegen einzelnen Äußerungen), dass sich der Prozess der erscheinenden Vernunft oder der Prozess, der sich in seinen Handlungen auf die Natur realisierenden Vernunft nicht auf die menschliche Vernunft reduzieren lässt. Von diesem Standpunkt aus könnte man eine Unterscheidung in eine menschliche Gestaltung der Natur und in eine dem Menschen vorangegangene Gestaltung der Natur fordern. Wird Natur jedoch als Prozess und nicht als vorliegender Gegenstand verstanden, lässt sich aus der immer schon vernünftig gestalteten Natur der Anteil menschlicher Gestaltung nicht mehr herausrechnen. Selbst der uns bei Geburt vorliegende organisierte 1 .Hb muss als kulturelles Produkt verstanden werden - Produkt zweier Menschen, Produkt menschlicher Technik und menschlich gestalteter Umwelt. Eine genetisch gezüchtete Pflanze ist sowohl Kultur als auch Natur - ein Mensch mit einem künstlichen Organ sowohl Natur als auch Kultur. Und selbst eine

129

130

131

Vgl. BrEthBI 30: „Die Ausbildung der Persönlichkeit bestimmt die Anbildung der Natur und umgekehrt. Daher ist es besser das Ganze zusammen zu lassen, und so ist es das, was wir ausdrücken wollen in der Idee der Kultur" Vgl. BrEihBI 29. Kopp hebt zu Recht hervor, dass mit der Einbeziehung der Wirtschaft in die Kultur Wirtschaft zugleich als ethisches Problem begriffen wird (vgl. KOPP 79).

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

„unberührte Natur" wird uns erst in dem Moment zur realen Natur, in dem wir sie erkennend und handelnd betreten und ist somit bereits kulturell gestaltet. 132 Sowenig wie Schleiermachers Kulturbegriff in der Opposition zur Natur Sinn macht, lässt er sich dem der Zivilisation oder dem der Gesellschaft gegenüberstellen, wie er für die Gründerzeit und auch Spengler entscheidend ist.13-* Denn das identische Organisieren als Sphäre des Rechtes bringt ja gerade den Staat als höchstes Organ oder System - Schleiermacher formuliert: ethische Form - hervor, er „beruht doch ganz auf der Basis der Kultur und ist nichts anders als die zur höchsten Potenz erhobene Kultur selbst" (BrEthBl 34). 134 Aus dem individuellen Organisieren geht das nicht teilbare Eiferttum hervor, das nur in der gesellschaftlichen Form der freien Geselligkeit gemeinschaftlich werden kann, die ein „freiwilliges Eintretenlassen der Andern in die Sphäre des Eigenthums" ist (.BrEthBI 50). Der Staat (der auch den gesamten Bereich der Wirtschaft und Technik umfasst) und die freie Geselligkeit beschreiben zwei Kultursphären oder zwei kulturelle Bereiche, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können. 1 3 5 Identifiziert man den Bereich der Kultur mit dem des Organbildens, so umfasst Kultur jedoch nicht den ganzen Prozess sittlicher Weltbildung und Kopp weist daraufhin, dass gerade das, was in der Klassik wesentlicher Anteil der Kultur war (Wissenschaft und Kunst) aus Schleiermachers weit gefasstem Kulturbegriff wieder heraus fällt. 136 Die Trennung zwischen Kultur auf der einen Seite und Wissen oder Wissenschaft und Kunst auf der anderen lässt sich dabei jedoch schwer am „Material" oder an einzelnen Gesellschaftsbereichen festmachen. Denn Organisieren und Symbolisieren unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihres Gegenstandbereiches des Körperlichen oder Geistigen, sondern hinsichtlich eines anderen Umgangs 132

133 134

Ist die Frage nach der nichtmenschlichen Vernunft hinsichtlich der Unterscheidung Kultur-Natur müßig, so ist sie doch in ethischer Hinsicht interessant, da sich mit dem Auftrag, die Vereinzelung der Vernunft zur Gemeinschaft zu führen, die potenzielle sittliche Gemeinschaft nicht auf die Menschengemeinschaft beschränkt, sondern bezieht auch Tiere und Umwelt mit ein, sodass Ethik nicht nur Menschenethik, sondern zugleich eine Tier- und Umweltethik einschließen müsste. Vgl. GEYER 7f. Mit der Bestimmung des Staates als einer zur höchsten Potenz erhobenen Kultur setzt sich Schleiermacher ganz entschieden gegen Staatstheorien ab, die das Miteinander nicht auf historisch gewachsene Gemeinschaftsformen, sondern in einen einmaligen Vertrag gründen wollen. „Eben so wenig aber kann je ein Staat willkührlich entstehen wie ein Vertrag, daß die Menschen sich berathschlagten, wie sie sich zu einem gewissen Zwecke vereinigen sollten." (Vgl. BrE/ABI 63) „Durch B e r a t s c h l a g u n g kann kein Staat entstehn, weil sonst die Idee etwas Will kührliches wäre oder wieder nur die Vorstellung eines Einzelnen. Ganz falsch daher die Vorstellung von einem

Nothstaat und Vernunftstaat." (BrEtbBl 64) 135

136

In seiner Auseinandersetzung mit Schleiermachers Kulturphilosophie reflektiert G. Scholtz (vgl. SCHOLTZ 1983) weniger den Begriff der Kultur, sondern setzt sich vor allen Dingen mit der Bedeutung der Unabhängigkeit dieser einzelnen Kultursphären auseinander und zeigt Entsprechung und Differenzen zur Hegeischen Philosophie auf. Vgl. K O P P 1 u. 76.

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mit den Dingen: handelnd als Werkzeug benutzend und erkennend als Symbol verwendend. Wissenschaft und Kunst sind nicht selbstverständlich Kultur, sondern können als Kultur verstanden werden, wenn es darum geht, wie sie sich als Organ oder zum Ausbau der Talente und zur Aneignung der externen Natur eignen. Man kann Schleiermachers Kulturphilosophie jedoch nicht nur vor dem Hintergrund seines eigenen Kulturbegriffes lesen, sondern auch vor einem erweiterten Kulturbegriff, der Prozess und Güter des Symbolisierens mit einschließt. Ein derart weit gefasster Kulturbegriff, würde den ganzen Bereich der Sittlichkeit umfassen. Es wäre eine Bezeichnung für alle Manifestationen menschlicher Vernunft und ihre Institutionalisierung, für den Prozess vernünftiger Tätigkeiten, in denen sich Handlung und Erkenntnis objektivieren und sich als Objektivation zukünftiger Handlungen und Erkenntnisse bestimmen. So verstanden wäre Kultur Prozess der Gestaltung sinnhafter Wirklichkeit, kein „Kampfbegriff' (Kultur versus Natur oder versus Zivilisation), sondern eher eine Plattform, auf der Bewegungen beobachtet und analysiert werden können. Als solche kommt sie mit dem weit gefassten Kulturbegriff moderner Diskussionszusammenhänge, wie er sich beispielsweise bei Geertz findet, überein.

5.4.3. Die Idee einer Kritik und Hermeneutik der Kultur und ihr Platz im philosophischen System Schleiermachers Wie Spinozas Entwurf der Ethik umfasst auch Schleiermachers Ethik als Wissenschaft von den Handlungen der Vernunft sowohl theoretische als auch praktische Philosophie und die Frage nach dem guten Handeln und die nach der Wahrheit muss vor dem Hintergrund ein und desselben Prozesses einer sich im Endlichen realisierenden Vernunft beantwortet werden. Daher scheint es zulässig, die Antworten, die Schleiermacher in der Dialektik und Ethik auf die Frage: Wie kann ich mich im Endlichen orientieren? zu vergleichen. Ausgangspunkt der Dialektik ist der ewige Streit der Meinungen, für den die Dialektik als Kunstlehre Streitregeln liefern soll. Auch für die Ethik ließe sich ein Grundkonflikt bestimmen, nämlich den ewigen Streit der Interessen oder das ewige Gegeneinander der einzelnen Willen. Nicht in der Ethik, wohl aber in der Dialektikvorlesung von 1822 wird ein solcher Streit der Interessen oder Willen wird als ethische Grundsituation formuliert. Wir sind im Zustande streitiger Vorstellungen, - der muß gelößt werden. Wir finden uns aber auch beständig i m Z u s t a n d e e i n e s s t r e i t i g e n W o l l e n s , jeder mit andern und mit sich selbst (Zustände von Ungewißheit und Unschlüssigkeit). Diese Zustände müssen auch geschlichtet werden, wenn sich das Leben erhalten soll. So haben wir auch hier das Interesse, die Construction eines übereinstimmenden Wollens zu Stande zu bringen. Ein rein übereinstimmendes kann es aber nicht eher geben, als bis

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und I-eben

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in beiden streitenden Theilen die Totalität alles menschlichen Wollens gesetzt ist. W e n n wir also dies ansehen als reine A u f g a b e für sich, so ist es o f f e n b a r eine, die eben so viel Recht hat, f ü r sich behandelt zu werden, als die bisherige." (Vgl. II 10/2, 558)

DialKGh

137

Der Konflikt der verschiedenen aufeinander prallenden Interessen ist in den Ethikvorlesungen beispielsweise in der Freiheit-versus-NotwendigkeitsProblematik präsent, die Schleiermacher vor allem in den Einleitungen der Ethikvorlesungen thematisiert. Er steht aber nicht im Vordergrund und wird nicht zum Ausgangspunkt der Argumentation genommen, sodass auch die Frage nach der konkreten Vermittlung dieses Konfliktes nicht zur zentralen Aufgabe der Ethik wird. Freiheit und Notwendigkeit stellen keine zwei Reiche dar, sondern eher Zustände, die nie rein, sondern immer vermischt auftreten. Wir sind nicht frei im Willen und in notwendige Zusammenhänge eingebunden in der Welt der Erscheinungen, sondern in gewisser Hinsicht frei und in gewisser Hinsicht fremdbestimmt. Selbstverständlich kann man sich einen rein freien Willen vorstellen und ein solcher freier Wille ist per definitionem gut. Ein freier Wille ist jedoch eine völlig inhaltsleere Angelegenheit und bleibt ebenso abstrakt wie die Vorstellung eines reinen Wissens, das per definitionem wahr ist. Ein inhaltlich bestimmtes Wissen und ein inhaltlich bestimmter reiner Wille sind dann möglich, wenn sich die individuell realisierende Vernunft im Streit der Meinungen und im Konflikt der Interessen vollständig vermittelt hat. Der Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit muss daher nach Schleiermacher als Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft begriffen werden. Das Eingebundensein in einen Kontext sittlicher Gemeinschaft betont die Seite der Notwendigkeit, das Individuell-Sein, die der Freiheit. Oder anders formuliert: je mehr der Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft aufgehoben ist, desto mehr verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit. Die Beurteilung, ob etwas eher frei und notwendig ist, hängt daher (wie die Beurteilung von gut und böse, wahr und falsch) immer vom einzelnen sittlichen Gegenstand bzw. vom sittlichen Kontext ab. Ist der sittliche Prozess als Einigung von Individuum und Gemeinschaft fortgeschritten, muss neu beurteilt werden, was frei und was notwendig ist. Eine vollkommene Freiheit ist dort, wo aller Gegensatz von Natur und Vernunft aufgehoben ist: Notwendigkeit erweist sich als Freiheit. J e mehr ethische Zusammenhänge zwischen einzelnen ethischen Handlungen wir erkennen, desto mehr Freiheit, je mehr Auseinandergehen, desto mehr Notwendigkeit. Betrachtet m a n also alles Sittliche als Eines, so ist der Gegensaz nicht; er entsteht erst im Vereinzeln, sofern jedes einzelne für sich Gesezte nur beziehungsweise ein solches ist. Sofern nun jedes für sich gesezt ist, hat es auch das Hervorbringende seiner Erscheinungen in sich, u n d diese sind frei; sofern nicht, sind sie nothwendig. {EtK&l 215f, § 104) 137

Vgl. auch DiaJKGA II 10/2, 564f.

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

373

Indem also die Sittenlehre das hervorbringende Handeln der Vernunft als ein Mannigfaltiges auseinanderlegt, so ist sie ein wechselndes Sezen und Aufheben des Gegensa-

zes von Freiheit und Nothwendigkeit. (Ethül 215, § 105)

138

Eine approximative Lösung dieses ethischen Grundkonfliktes ist deshalb möglich, weil Konflikte überhaupt erst dadurch entstehen, dass keine ausreichende Einsicht in den vollendeten Weltzusammenhang besteht, in dem jedem Individuum sein unverkennbarer Platz zukommt. Alle Interessen der Gemeinschaft und alle Interessen der Individuen erweisen sich so im vollendeten Weltzusammenhang als allen gemeinsame Interessen. 139 Diese Losung des Freiheitsproblems wird von Schleiermacher bereits in den Monologen entwickelt und hier steht anders als in den Ethikvorlesungen die „Antinomie" von Freiheit und Notwendigkeit oder die Grundsituation des Konfliktes in der „Freiheit an Freiheit sich stößt" (MeKGA I 3, 10) im Vordergrund. In den Monologen wird auch die Kantische Ausgangsposition als Gegenüber einer äußeren Welt der Notwendigkeit und einer inneren Welt freier Selbstanschauung ganz deudich, die Schleiermacher schließlich spinozistisch wendet (siehe Kapitel 2.3.). In der äußeren Welt oder in der Welt des Seins wird Freiheit sichtbar in dem Maße, indem das Subjekt Einblick in den sittlichen Totalzusammenhang gewinnt und sich in ihr verorten kann. Freiheit des Individuums ist nicht die Freiheit zu tun und zu lassen was es will, aber die Freiheit Individuum zu sein. Dass diese Erkenntnis, in der sich dem Einzelnen Freiheit zeigt, zugleich immer auch Bildung ist und mit der Erkenntnis von Welt wechselseitige Bildung von Individualität und Gemeinschaft bzw. Welt einhergeht, wurde ebenfalls schon in den Monologen ausgesprochen, auch wenn das Wie der Verschränkung von Welt- und Selbstbildung und Welt- und Selbsterkenntnis dort ganz vage bleibt. Dieses Wie wird in den Ethikvorlesungen durch den Entwurf der Wechselwirkung von Organisieren und Symbolisieren systematisch beantwortet. Dialektik und Ethik unterscheiden sich aber nicht nur darin, dass der grundsätzliche Streit der Meinungen oder ethische Grundkonflikt in der Dialektik im 138

139

Vgl. EtbB\ 11, § 49: „Da der Gegensaz zwischen Freiheit und moralischer Nothwendigkeit vorzüglich versirt in der Differenz zwischen einem Einzelnen und einem Ganzen, dem er angehört, worin der persönliche Einigungsgrad des Einzelnen die Freiheit und der des Ganzen die Nothwendigkeit repräsentirt, kann er auch nur richtig aufgefaßt werden, in einer Darstellung, welche zeigt, wie Werden eines Einzelnen und eines Ganzen durch einander bedingt sind." Da sich hier wieder deutlich Schleiermachets spinozistische Ausgangsposition anzeigt, ließe sich auch mit Spinoza formulieren: „Absolut aus Tugend handeln ist in uns nichts anderes als nach der Leitung der Vernunft handeln, leben, sein eigenes Sein erhalten (diese drei Ausdrücke bezeichnen dasselbe) auf der Grundlage, daß man den eigenen Nutzen sucht." (SPINOZA, Ε IV LS 24) Es ist dem Menschen aber nichts nützlicher als der Mensch (SPINOZA, Ε IV LS 35 ZS 1), sodass jeder Mensch seinen eigenen Nutzen am erfolgreichsten im Nutzen der Menschengemeinschaft sucht. Anders als bei Spinoza ist die approximativ zu erreichende Einsicht zugleich ein Prozess der Bildung, in dem sich sowohl die Individuen als auch die Gemeinschaft progressiv bilden.

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

Vordergrund steht, sondern auch in ihrem Aufbau. Die Einleitung der Dialektik setzt sich mit der Frage nach der Bedingung von Wissenschaftlichkeit auseinander und entwirft das fur die Dialektik konstitutive Wechselverhältnis von transzendentalem und technischem Teil. Der erste, transzendentale Teil antwortet in der „Analyse der Idee des Wissens" auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und untersucht die verschiedenen, sich wechselseitig voraussetzenden und modifizierenden Formen, in denen das Denken auftritt und konstruiert wird. Der zweite oder technische Teil hat dem Programm nach eine doppelte Aufgabe. Er sollte zum einen empirisch aufsuchend vorgehen und verschiedene „Techniken" der Wissensproduktion und -konstruktion beschreiben, das Wissen „in Bewegung" beobachten, und er soll dieses werdende Wissen zugleich orientieren - also Regel gebender oder technischer Teil sein. Während die deskriptiv-empirische Aufgabe des technischen Teils nicht eingelöst wird, liefert Schleiermachers Ausführung des zweiten Teils das für den Streit der Meinungen so entscheidende „kritische Verfahren". Anders als die meisten Disziplinen, über die Schleiermacher liest, strukturiert sich die Ethik nicht in dieser dreigliedrigen Form von Einleitung, transzendentalem und technischen Teil. Einer Einleitung, die wie die Einleitungen der Dialektik die Bedingungen von Wissenschaftlichkeit untersucht, folgt eine spekulative Untersuchung der drei Ebenen des Sittlichen in Form von Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre. An die Stelle des Wechselverhältnisses von transzendentalem und technischem Teil tritt jedoch das ähnlich gelagerte Wechselverhältnis von spekulativer Ethik und empirischer Geschichtskunde. Die Geschichtskunde, die man mit dem nicht ausgeführten deskriptiv-empirischen Teil der Dialektik vergleichen könnte, übernimmt im Verhältnis zur "Ethik jedoch keine normative Aufgabe: Sie sucht das Ethische in geschichtlicher Gestalt auf, liefert aber keinerlei Regeln zur Orientierung im sittlichen Werden. Eine Untersuchung der „Ethik im Werden" findet sich zwar in den Einleitungen der Ethikvorlesungen, jedoch unter einem wissenschaftstheoretischen Fokus. Sie problematisiert den Status der Ethik als Wissenschaft vor dem Hintergrund ihrer Begründung aus der Dialektik und ihrer permanenten Modifikation im Wechselverhältnis mit der Geschichtskunde. Im Zusammenhang der Wechselwirkung von Ethik und Geschichtskunde bringt Schleiermacher in den Ethikvorlesungen auch das kritische Verfahren bzw. die kritischen Disziplinen ins Spiel, die zwischen dem mehr empirischen und mehr spekulativen Wissenschaften vermitteln sollen. Es giebt aber außer der Sittenlehre und außer der Geschichtskunde ein kritisches und ein technisches Verfahren, wodurch das Beschauliche und das Erfahrungsmäßige auf einander bezogen werden. (EtbBl 217, § 109) 1 4 0

^

Vgl. E/iBl 12, § 57f.: „Alles in der Ethik Construirte enthält die iMöglichkeit einer unendlichen Menge von Erscheinungen. Außer dem empirischen Auffassen der lezteren entsteht noch das

Ausblick: Auf dem W e g zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

375

Dieses kritische Verfahren ist jedoch ein der einzelnen Handlung nachträgliches wissenschaftliches Interesse, mit dem geschichtliche Zusammenhänge vor dem Hintergrund der Ethik und die Ethik vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erzählung aufeinander bezogen werden, mit dem Formelbuch und Bilderbuch einander „angeglichen" werden. Es geht in erster Linie um das Werden der Wissenschaft Ethik nicht um das Werden des Sittlichen, um eine Vermittlung zweier Wissenschaften nicht um die Vermittlung im Interessenkonflikt der Individuen. Der Kritikbegriff der Oialektik sowie der der Ethik werden lediglich für den Modus des Denkens entworfen. Wie in einer konkreten Situation ein Interessenkonflikt gelöst werden kann, dafür gibt die Ethik keine Antwort. 141 Analog zur Kritik im identischen Symbolisieren könnte man nun nach einer Theorie der praktischen Kritik oder einer „Kritik der Sitte" fragen, die nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln zum Gegenstand hat und im Prozess der sittlichen Weltbildung eine ähnliche „Katalysatorfunktion" übernimmt wie die philosophische Kritik im Prozess des Wissens.14^ Die folgende Tabelle soll noch einmal einen Überblick über die hier vorgenommene Gegenüberstellung von Ethik und Dialektik geben, Bedürfniß einer nähern Verbindung des Empirischen mit der speculativen Darstellung, nemlich zu beurtheilen, wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowol dem Grade als der eigenthümlichen Beschränktheit nach verhalten. Dies ist das Wesen der Kritik, und es giebt daher einen Cyclus kritischer Disciplinen, welche sich an die Ethik anschließen." Vgl. auch EtbBi 191, § 18: „Die Mannigfaltigkeit dieser unvollkommenen Darstellungen erzeugt ein jede Wissenschaft in ihrem Werden begleitendes kritisches Verfahren, weiches sucht, indem es diese Gestaltungen in nothwendigen Bezug auf einander bringt, schon im Werden der Wissenschaft ihre Vollkommenheit aufzufinden." 141

Auch Gunter Scholtz bemerkt, dass die Ethik eigentlich keinen technischen Teil beinhaltet, sondern (im Gegensat?, zur transzendental (spekulativj-technischen Dialektik) eher als spekulativ begriffen werden muss: „Die Ethik gibt erst das allgemeine Richtmaß vor. Für die Praxis bedarf es dann der technischen' und ,kritischen' Disziplinen, die zwischen der spekulativen Ethik und der empirischen Wirklichkeit die Brücke schlagen, wie ζ. B. Staatslehre und Pädagogik." (SCHOLTZ 1983, 134) Allerdings muss hier bemerkt werden, dass sich die Staatslehre und die Pädagogik von Schleiermachet beide als technische Disziplinen geführt werden (also überwiegend eine regelhafte Vermittlung des Allgemeinen und Besonderen angeben der bereits eine kritische Vermittlung vorangegangen sein muss). Die technischen Disziplinen Pädagogik und Staatslehre wenden sich darüber hinaus einem ganz konkreten Gegenstand bzw. Kulturbereich zu und stellen daher keine, dem technischen Teil der Dialektik entsprechende Reflexion auf den rcgcigcbendcn Charakter der Ethik oder die grundlegenden Bedingung praktischen Kritik und kritischer Praxis dar.

I49 ** In der Einleitung der Ethikvorlesung von 1816/17 bezeichnet Schleiermacher die Idee einer „angewandten" Sittenlehre als „leeren Gedanken" (K/ABI 216, § 107). Damit wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass Sittenlehre kritisch angewandt wird, denn anders kann sich das Sollen gar nicht in das Sein einschreiben. Vielmehr ist die Idee einer Sittenlehre, die anwendbare Formeln oder Regeln festschreibt, obsolet. Ein Anzeichen dafür, dass sich die Kritik nicht allein auf das identische Symbolisieren richtet, obgleich sie bei Schleiermacher nur dort eine Ausführung erhält, kann man im Begriff der doktrinalen Kritik sehen, die nicht nur Werke, sondern auch Handlungen umschließt.

376

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

in der die Kulturkritik einen vom System geforderten, von Schleiermacher jedoch nicht besetzten Platz einnimmt.

DIALEKTIK technischer Teil

transzendentaler Teil

Untersuchung des Wissens in Bewegung

Analyse der Idee des Wissens —Analyse der Wechselwirkung der Formen des Wissens

Regel gebender Charakter Kritik als Streit schlichtende „Kegel"; die (SprachfHermeneutik ist der Kritik ^r Seite gestellt

empirisch- aufsuchender Charakter findet in der Ausführung der Dialektik keine wirkliche Entsprechung

ETHIK

Kulturkritik

Geschichtskunde

Kritik der Kultur als Streit schlichtende „Regel" im Konflikt der Interessen; Kulturhermeneutik ist der Kulturkritik %ur Seite gestellt

Darstellung der geschichtlichen Erscheinungen der vernünftigen Tätigkeiten

Analyse der Wechselwirkung %wischen Individuum und Gemeinschaft sowie der vernünftigen 7 ätigkeiten auf drei Ebenen des Sittlichen Güterlehre

Pflichten-

Tugend lehre

lehre

Abb. 7

Struktur der Dialektik und Ethik

U m diese Interessenkonflikte zu lösen, muss die Kritik die „Eigentümlichkeit des Handelns" erkennen, indem sie sich dem konkreten sittlichen Kontext zuwendet, aus dem heraus sich ein Interesse oder Anliegen manifestiert. Eine Schlichtung des Interessenkonfliktes kann dadurch erreicht werden, dass die Begrenztheit des sittlichen Kontextes aufgezeigt und die Geltungsansprüche der einander scheinbar widerstrebenden Interessen neu bestimmt werden. Der Kritik im Modus des Denkens ist eine Sprachhermeneutik als methodische Anleitung zur Seite gestellt, und dem entsprechend könnte man auch nach einer „Hermeneutik der Sitte"

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

377

fragen, die sich nicht nur dem in Sprache geäußertem Denken, sondern jedem vernünftigen Akt verstehend zuwendet. Liest man Schleiermachers Ethik als Kulturphilosophie in dem vorgeschlagenen erweiterten Sinn, dann kann man eine solche Kritik und Hermeneutik der Sitte auch Kritik und Hermeneutik der Kultur nennen. Eine Kritik und Hermeneutik, die sich vor allem mit der organisierenden Seite der Vernunft beschäftigt, könnte man Kritik und Hermeneutik der Handlung nennen. Dieser Sprachregelung, möchte ich auf den nächsten Seiten folgen. Denn sie hat den Vorteil, dass eine so umfassende Kulturkritik und -hermeneutik nicht nur alle Einzelkritiken und hermeneutiken umfasst, sondern auch auf ihre Wechselwirkung reflektieren kann. Überträgt man die in der Dialektik formulierten Grundregeln der Streitschlichtung auf den in der Ethik in der Freiheitsproblematik ausgesprochenen Interessenkonflikt, so ergeben sich folgende Punkte: • Die Einsicht, dass jedes bestimmte Wissen relativ ist, führt zur ersten grundlegenden Regel der Streitschlichtung, die die prinzipielle Bereitschaft zur Modifikation der eigenen Position von den Teilnehmern des Diskurses fordert. Eine erste Grundregel der sittlichen Konfliktschlichtung muss daher die prinzipielle Bereitschaft zum Interessenausgleich und die Einsicht sein, dass der Geltungsanspruch jedes Interesses ein auf eine bestimmte sittliche Situation begrenzter ist. • So wie Denken nur in die Einordnung in einen „Totalzusammenhang" der Welt ein Wissen sein kann, kann Sittlichkeit nur vor dem Hintergrund einer sittlichen Weltgemeinschaft gesucht werden. Die Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre bietet wie der transzendentale Teil der Dialektik eine Analyse sittlicher oder sozialer Wechselwirkungsverhältnisse und stellt Formeln oder Maximen auf, die das gute Handeln anleiten. Diese „Maximen der Wechselwirkung" geben jedoch keine Auskunft darüber, wie wir die zwei einander opponierenden Interessen vermitteln können. Das Wie sittlicher Konfliktschlichtung wird durch eine Kritik der Kultur angeleitet, die voraussetzt, dass alles Handeln relativ ist und als „geschichtliches Erkennen" selbst klären soll, inwiefern es relativ ist. Einer Kritik der Kultur müsste eine Hermeneutik der Kultur zur Seite gestellt werden, deren Gegenstand nicht nur das Verstehen der Rede ist, sondern das Verstehen aller menschlichen Tätigkeiten, die sich nicht allein dem hermeneutischen, sondern auch dem ethischen Zirkel zuwendet. Einen methodischen Leitfaden fände eine solche erweitere Hermeneutik in der Sprachhermeneutik, einen inhaltlichen Leitfaden vor allem in den Ethikvorlesungen und der auf drei Ebenen vorgenommenen Analyse sittlicher Wechselverhältnisse. Die Kulturhermeneutik unterscheidet sich (tendenziell) von der Kulturkritik, indem sie keine eigene Position im Streitgespräch der Interessen formuliert. Das „explicare" bleibt Aufgabe der Kulturkritik, die das Verstandene formuliert und sich einmischt, indem sie Lösungen für den Konflikt anbietet.

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

• Kulturkritik und Kulturhermeneutik sind keine Metadisziplinen, sondern unendliche Unternehmen, die selbst wieder zum Gegenstand sowohl der Kritik als auch der Hermeneutik werden. Denn „dieses geschichtliche Erkennen durch das kritische Verfahren ist aber ebenfalls nie vollkommen gegeben, sondern nur im Werden begriffen" (EttiBI 192, § 19).

5.4.4. Pflichtenlehre und Tugendlehre: kritische oder technische Praxis? Die Aufgabe der drei Hauptteile der Ethik - Güterlehre, Tugendlehre und Pflichtenlehre - versucht Schleiermacher in der Einleitung zur Ethikvorlesung von 1812/13 auch zu erläutern, indem er der Pflichtenlehre ein „eher kritisches Interesse", der Tugendlehre ein „eher technisches Interesse" zuspricht. 143 Wie im Kapitel vier erläutert, bezieht sich auch das technische Verfahren auf die Vermittlung der Wechselglieder. Im Gegensatz zur Kritik, die mit jedem kritischen Geschäft eine je neue Vermittlung vornimmt, ist die Vermittlung im technische Verfahren „zur Regel geronnen", sie gibt Anweisungen, unter welchen Bedingungen sich die Vernunft der Natur „am vollständigsten und leichtesten bemächtigt" (EthBI 218, § 109). Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Verhältnisse der drei Hauptteile der Ethik zueinander, so scheinen diese Zuweisungen auf den ersten Blick plausibel. Während die Güterlehre die Formen sittlicher Gemeinschaft oder den sittlichen „Makrokosmos" thematisiert, untersucht die Tugendlehre den sittlichen „Mikrokosmos" und fokussiert lediglich das Individuum und die in ihm liegende „Kraft" oder Haltung zum Handeln. Die Pflichtenlehre konzentriert sich weder allein auf das Individuum noch auf die sittliche Gemeinschaft, sondern hat den konkreten Moment der Handlung zum Gegenstand. Sie soll die eigentliche Antwort auf die Frage Was soll ich tun? geben. Diese Frage kann weder allein mit Blick auf die soziale Gemeinschaft, noch allein in der Zuwendung zum Individuum beantwortet werden. Handle so, dass deine Handlung sowohl individuelle als auch allgemeine (b%n>. gemeinschaftliche) Interessen befriedigt! könnte man als eine Art kategorischen Imperativ bezeichnen. Diese Vermittlung zwischen Gemeinschaft und Individuum kann aber nur durch Kritik angeleitet werden, die sich auf die konkreten Interessen, auf die sozialen Formen, sowie auf die konkrete Disposition des Individuums bezieht. Indem sie diese immer wieder neu zu stiftende Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft anstrebt, könnte die Pflichtenlehre auch als kritische Disziplin beschrieben Vgl. EthBI 17, §§ 94-96: „§ 94. Die Tugendform geht von dem technischen Interesse aus, indem sie zeigt, wie derjenige sein muß, der im ethischen Prozeß mit Erfolg arbeiten soll. § 95. Die Pflichtform geht von dem kritischen Interesse aus, indem sie sondert, was als ethisch real, und was als ethisch leer zu bezeichnen ist. § 96. Die Tugendform war daher das natürliche Product einer productiven Zeit, wie die Pflichtform das Werk einer reflectirenden leeren Zeit."

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werden. Der Tugendlehre hingegen könnte man einen eher technischen Charakter zusprechen, insofern sie diejenigen Haltungen untersucht, die der Einigung von Individuum und Gemeinschaft zuträglich sind. Die Aufgabe der Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft kommt jedoch nicht allein der Pflichtenlehre zu, auch wenn sie mit der Frage Was soll ich tun? am deutiichsten hervortritt. Die Frage ob etwas „gut" oder „böse" ist, differenziert sich innerhalb der Güterlehre zur Frage, ob die soziale Gemeinschaft ein wirkliches Gut ist, innerhalb der Tugendlehre zur Frage, welche innere Haltung oder Kraft des Individuums eine wirkliche Tugend ist. Die Beantwortung dieser Fragen bedarf jedoch ebenso der Kritik wie die Frage, ob die Regel, die mein Handeln anleitet, als Pflicht gelten kann oder nicht. Und ebenso wie die Tugendlehre als Technik verstanden werden kann, muss auch die Pflichtenlehre als Technik zur Anleitung des guten Handelns verstanden werden. Und zwar als eine Technik, die sich selbst wieder der Kritik unterstellen muss, so wie jede Technik einem bestimmten Wissensstand angemessen und insofern „provisorisch ist". Die Frage, ob etwas gut oder böse ist, kann nur mit Blick auf die konkreten sittlichen Verhältnisse und unter der Vorgabe sittlicher Weltgemeinschaft beantwortet werden. Dies kann, da sich die Handlungskonstellationen permanent modifizieren, nicht ohne Kritik geschehen, die mithilfe der Hermeneutik den Geltungsanspruch von Interessen immer wieder neu beurteilt. Zugleich kann aber auch, da sich Handlungskonstellationen ähneln, eine soziale Technik entwickelt werden, die uns anleitet, in welchen sozialen Formen, mit welchen Tugenden und mit welchen Regeln wir uns dem Ziel sittlicher Weltgemeinschaft am ehesten nähern. Kritik ist nötig, da sich Vernunft nur in ihrer individuellen Erscheinung manifestiert, Technik ist möglich, da sich hinter allen Erscheinungen Vernunft realisiert und verschiedene Menschen und verschiedene menschliche Gemeinschaften nie vollkommen voneinander differieren können. Es scheint daher wenig sinnvoll, die drei Hauptteile der Ethik in eher technische oder eher kritische Disziplinen aufzuteilen. Dass diese Zuweisung, die Schleiermacher in der Vorlesung von 1812/13 vornimmt, nicht aufgeht, sondern dass sowohl die Pflichten- als auch die Tugendlehre einer Kritik bedarf und beide als Wissenschaften verstanden werden müssen, die eine Technik sittlicher Weltbildung anbieten, wird auch darin deutlich, dass Schleiermacher diese Zuweisung in der Vorlesung von 1816/17 umkehrt. In dieser letzten Bearbeitung der Einleitung zur Ethik wird nun die Tugendlehre als eher kritisches und die Pflichtenlehre als eher technisches Unternehmen bezeichnet. 144

HttiBl 223, § 120: Die Tugendlehre „regt das kritische [...] Verfahren a u f , die Pflichtenlehre das technische Verfahren.

1 4 4 vg'·

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

5.4.5. Überlegungen zur Struktur einer Hermeneutik der Kultur Eine Hermeneutik der Kultur müsste zunächst den Gegenstand des Verstehens auf alle vernünftigen Tätigkeiten ausdehnen und alle Einzelhermeneutiken (die Sprachhermeneutik und eine „Hermeneutik der Kunst" sowie eine „Hermeneutik der Handlung") umfassen. In einem ersten Schritt möchte ich daher zunächst versuchen, ob und wie sich die Struktur der Sprachhermeneutik auch auf das Organisieren oder Handeln übertragen ließe, und wie sich eine Hermeneutik der Kunst und eine Hermeneutik der Handlung gestalten könnten. Ein wesentlicher Schritt zu einer philosophisch gewendeten Hermeneutik bestand bei Schleiermacher zum einen in der Universalisierung des Missverständnisses und zum anderen in der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens, in der Verstehen als unendliches Unternehmen erscheint. Diese Universalisierung des Missverständnisses muss auch für eine Handlungshermeneutik gelten: Missverstehen ergibt sich auch im Handlungskontext von selbst. Eine hermeneutische Aufgabe besteht nicht nur dort, wo es um komplexe internationale oder interkulturelle Handlungszusammenhänge geht, sondern auch bei jeder einzelnen Handlung, in der wir Gefahr laufen, falsch verstanden zu werden. Bedingung der Möglichkeit des Verstehens ist zunächst ganz banal der hermeneutische Zirkel, in dem jedes Element des Textes als Teil eines Ganzen verstanden werden muss, wobei dem Interpreten weder das Verständnis des Ganzen noch das des Einzelnen vollständig vorliegt. Aber es geht im Akt des Verstehens nicht nur um divinatorisch-komparativen Nachvollzug einzelner hermeneutischer Zirkel, sondern um ein ganzes Netz hermeneutischer Zirkel, in dem das Einzelne verschiedene Ganze und über das Einzelne das Ganze andere Ganze bestimmt. Eine Struktur dieses Netzes bildet das grundlegende Verhältnis von Sprache, Rede und Sprecher. Folgt man dieser dreigliedrigen Struktur, so strukturiert sich das Netz ethisch-hermeneutischer Zirkel in einer Hermeneutik der Handlung über die Beziehung von Handlungssystem - Handlung - Handelnder. Die einzelne Handlung ist Aktivierung und Modifikation des Handlungssystems und zugleich Aktivierung und Modifikation eines Handelnden oder Individuums. Beide Größen setzen sich wechselseitig voraus und modifizieren sich über die Handlung: Jedes Handlungssystem ist nur wirklich in den ihm entsprechenden konkreten, individuellen Handlungen, jedes Handeln eines Individuums findet seine Form in einem schon bestehenden System oder Handlungsmuster. Sowenig wie es für das Sprechen einen ersten Anfang gibt, derart, dass wir auf kein Sprachsystem zurückgreifen oder im Äußern von Gedanken langsam ein vollkommen neues Sprachsystem erst bilden, so wenig können wir Handeln, ohne uns bestehender Handlungssysteme oder Handlungsmuster zu bedienen. Diese Handlungsmuster prägen unsere Interessen, ohne dass sie jedoch allein durch sie bestimmt werden können, denn in

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der Anwendung auf verschiedene Situationen durch verschiedene Individuen erfahren diese Handlungsmuster eine Modifikation. Analog zum Wechselverhältnis von Sprache — Rede — Sprecher ließe sich in einer Hermeneutik der Handlung das Verhältnis von Handlungssystem (oder einem institutionalisiertem Handlungsmuster) - Handlung - Handelnder aufstellen und forlumieren: Jeder Mensch ist auf der einen Seite ein Ort, in welchem sich ein gegebenes Handlungsmuster auf eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Handlung ist nur zu verstehen aus diesen institutionalisierten Handlungsmustern. Dann aber ist der Mensch auch ein sich stetig entwickelndes Individuum, und seine Handlung muss auch in Bezug auf die Struktur und Disposition des Individuums verstanden werden. 1 4 5

Aus diesen miteinander verknüpften zentralen hermeneutischen Zirkeln folgt in der Sprachhermeneutik eine zweifache Auslegungsarbeit: In der grammatischen Auslegung wird die einzelne Rede verstanden als „herausgenommen aus der Sprache" und in einer psychologischen bzw. technischen Auslegung als „Tatsache im Denkenden" (Her.F 77) untersucht. Diese zweifache Auslegungsarbeit stellt keine zwei Lesarten dar, sondern, da beide hermeneutische Zirkel über die Rede miteinander verknüpft sind, sich wechselseitig aufeinander beziehende Auslegungsrichtungen. Wiederum analog zu Schleiermachers Erläuterungen der Sprachhermeneutik ließe sich formulieren: Das Verstehen kann nur im Ineinandersein beider Auslegungsatten, der „grammatischen" (als sittlicher oder kultureller Grammatik) und der psychologischen, bestehen: 1. Die Handlung ist auch als Tatsache des Individuums nicht verstanden, wenn sie nicht als Aktivierung von bestehenden Handlungsmustem verstanden ist, weil das Immer-schon-Bestehen solcher Handlungsmuster das Individuum modifizieren. 2. Die Handlung ist aber auch als Aktivierung von Handlungsmustern nicht verstanden, wenn sie nicht zugleich auch als Tatsache des Individuums verstanden ist, weil in diesem der Grund von allen Einflüssen des Einzelnen auf die Handlungsmuster liegt, welche selbst erst durch Handlungen werden. 14

^

Vgl. die entsprechende Stelle aus der Hermeneutik HerF 78: „Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber ist er auch ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Tatsache von diesem im Zusammenhang mit den übrigen."

^

Vgl. die entsprechende Stelle aus der Hermeneutik f ieri1 79: „Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen). 1. Die Rede ist auch als Tatsache des Geistes nicht verstanden, wenn sie nicht als Sprachbezeichnung verstanden ist, weil die Angeborenheit der Sprache den Geist modifiziert. 2. Sie ist auch als Modifikation der Sprache nicht verstanden, wenn sie nicht als Tatsache des Geistes verstanden ist, weil in diesem der Grund von allem Einflüsse des Einzelnen auf die Sprache liegt, welche selbst durch das Reden wird."

382

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

In Anlehnung an die grammatische Auslegung der Sprachhermeneutik ließen sich auch der erste und der zweite Kanon übernehmen, die die Richtung angeben, in der eine Auswahl solcher Handlungssysteme zu treffen wäre: 1) Alles, was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Handlung, darf nur aus dem dem Individuum und seinem ursprünglichen Adressaten gemeinsamen Handlungskodex bestimmt werden. 2) Die Intention einer jeden Handlung in einer bestimmten Situation muss immer im Zusammenhang mit den sie umgebenden Handlungen bzw. aus dem unmittelbaren Handlungskontext bestimmt w e r d e n . ^

Die Aufgabe einer „Grammatik der Kultur" bzw. einer „Grammatik der Handlung" ist natürlich ungleich schwerer zu beschreiben als die der Sprache, denn für Handlungen gibt es keine vergleichbar „geschlossenen" Systeme wie die Grammatik einer Sprache (auch das Sprachsystem zeichnet sich natürlich durch Offenheit aus). In der Auswahl, im Auffinden und in dem Zu-Bewusstsein-Heben der entsprechenden Systeme - denn oft ist ihre „Grammatik" zwar wirksam aber unreflektiert - liegt die große Schwierigkeit einer Hermeneutik der Handlung. Die psychologische Seite der Interpretation, in der das Individuum im Zentrum steht, soll Antwort darauf geben, wie der Gedanke entstanden ist und warum und inwiefern das Sprachsystem auf individuelle Art modifiziert wurde. Die Entstehung des Gedankens wird in der rein psychologischen Auslegung hinsichtlich ihrer leb ens weltlichen Faktoren oder als „reale" Entstehung untersucht. Sie fragt nach dem lebensweltlichen Kontext, nach den Ablenkungen des Gedankens, nach seinen Inspirations- und Assoziationsquellen. In der technischen Auslegung — hier kommt ein normatives oder erkenntnistheoretisches Element in die Hermeneutik - geht es um die idealtypische Rekonstruktion des Gedankens: Wie lässt sich der Haupt- oder Kerngedanke sozusagen optimiert oder jenseits aller Ablenkungen und Seitenwege entfalten. Dass jeder Verstehensakt mehr als nur ein „bloßes Verstehen", nämlich ein „geschichtliches Erkennen" ist, dass jede Hermeneutik in der Einlösung ihrer eigensten Aufgabe über sich selbst hinausgehen und zum kritischen Erkennen werden muss, ist, wie erläutert (siehe Kapitel 4.4.), in der technischen Interpretation angelegt. Analog zur Sprachhermeneutik wäre auch in einer Handlungshermeneutik eine solche psychologische Auslegung denkbar, die die Entstehung der Handlung untersucht und in einen rein psychologischen und einen technischen Teil unterscheiden würde. Der rein psychologische Teil würde die Entstehung der Handlung in Bezug auf ihren lebensweltlichen Kontext untersuchen: Durch welche '^

Vgl. die entsprechende Stelle aus der Hermeneuük HerF 101: „1. Erster Kanon: Alles, was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden." HerP 116: „3. Zweiter Kanon. Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muß bestimmt werden nach seinen Zusammensein mit denen, die es umgeben."

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

383

Lebensumstände wird ihre Entstehung beeinflusst (abgelenkt, motiviert, angeregt, etc.)? Die technische Auslegung würde sich hingegen auf die „idealtypische Rekonstruktion" der Handlung oder des Handlungsinteresses richten. Was war, schiebt man alle Ablenkung und Nebeninteressen beiseite, das eigentliche Interesse oder „Kerninteresse" der Person? Und ist dieses „Kerninteresse" eher ein individuelles oder gemeinschaftliches? Wie in der Sprachhermeneutik würde der technische Teil der Handlungshermeneutik ein normatives Element enthalten, insofern er die vorliegende Handlung vor dem Hintergrund des sittlichen Ideals der vollkommenen Vermittlung von Individuellem und Gemeinschafdichem einzuordnen sucht, und er würde eine kritische Leistung vollziehen. Mit diesem normativen „Input" sowohl der Sprachhermeneutik als auch der Hermeneutik der Handlung wird die Hermeneutik zwangsläufig zur Kritik. Lässt sich in der Sprachhermeneutik eine Art methodischer Leitfaden für die Grammatik der Handlung finden, so könnte man die Ethik als „materialen" Leitfaden hinzuziehen und eine weitere Differenzierung der Hermeneutik der Handlung dadurch erhalten, dass man die drei Ebenen sittlicher Weltbildung der Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre unterscheidet. Auf der Güterebene ginge es um Formen der Gemeinschaft und auch um Gegenstände, die ein bestimmtes Handlungsmuster vorgeben oder nahe legen. Beispielsweise herrschen in einem Unternehmen der freien Wirtschaft andere „Spielregeln" als in einem stark subventionierten Unternehmen oder als an einer Hochschule, und einer Endassung kommt in allen drei Fällen eben auf Grund dieser unterschiedlichen Handlungsmuster eine unterschiedliche Bedeutung zu. Auf der Ebene der Pflichtenlehre geht es um konkrete Regeln oder Gesetze, die natürlich in Form von Staatsgesetzen, aber auch in jeglicher Form privater oder halbprivater Natur („Geh nicht bei rot über die Straße!", „Ruf deine Oma einmal in der Woche an!") vorliegen. Antigone soll zwar beurteilt, muss aber zunächst verstanden werden, und zwar aus denjenigen für sie bindenden Gesetzen, die sie dazu zwingen, den Bruder zu begraben. Auf der Ebene der Tugendlehre geht es um Haltungen, die sicherlich schwerer auszumachen sind als Gesetze und Formen der Gemeinschaft. Aber auch Haltungen entstehen nicht in und fur jedes Individuum neu, vielmehr lehnen sie sich an institutionalisierte Haltungen an, werden übernommen oder sogar „eingeimpft", und lassen sich beispielsweise in bestimmten religiösen Erziehungen auffinden. Das Unternehmen einer solchen Handlungshermeneutik ist natürlich gigantisch und seine Unendlichkeit leuchtet noch viel deutlicher ein als die Unendlichkeit der Sprachhermeneutik. Allerdings steht uns heute ein ganz anderer Apparat kulturwissenschaftlicher Untersuchungen zur Verfügung, die die Pluralität sozialer Grammatiken freilegen, als dies zur Zeit Schleiermachers der Fall war. Einer Kulturhermeneutik, die sich in das System der Wissenschaften bei Schleiermacher einfugt, würde im Unterschied zu vielen gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen eine klar definierte ethische Funktion zukommen. Dem ent-

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Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

spricht, dass Kultur bei Schleiermacher nicht als wertneutrale Größe gehandelt wird, sondern einen sittlichen Charakter hat. Unsittlich oder zur „Barbarei" (.BrEtbBI 32) kann Organbildung dann werden, wenn sie nicht mehr als Moment eines übergreifenden sittlichen Prozesses verstanden wird. Dies ist überall dann der Fall, wenn das Sich-zum-Werkzeug-Machen der Natur nicht zugleich auch auf Erkenntnis abzielt 148 oder die einzelne Organbildung zum Selbstzweck wird und ihre Einbindung in einen sittlichen Gesamtzusammenhang verleugnet. Eine derartige Isolierung einzelner kultureller Bereiche tritt beispielsweise dann auf und wird zur „Barbarei", wenn die Aneignung der Natur, die ja immer zwangsläufig auch eine Zerstörung bestehender Strukturen beinhaltet, zur puren Ausbeutung wird und nicht auf einer höheren Stufe auch für ihre Erhaltung sorgt. Schleiermachers Begriff der Kultur könnte so auch als Ethik der Nachhaltigkeit gelesen werden. Wer Früchte pflückt, m u ß die Pflanze erhalten, wer erntet, muß säen. Das eine Element ohne das andere ist Barbarei. J e unorganisirter, desto mehr kündigt sich jedes Object als für die zerstörende Thätigkeit an, je organisirter, desto mehr hat es durch sich selbst repräsentativen Werth, und der Mensch als höchstes darf an sich genommen nur repräsentatives Organ sein. ( B r E t b B l 32)

Was Barbarei ist und was als Kultur gelten kann, dafür gibt es kein endgültiges Urteil und Barbarei kann in jedem „kulturellen Gewandt" auftreten. Es geht nicht um die Form, sondern um die bestehende oder fehlende Einbindung in den sittlichen Gesamtkontext. Es hat immer in der Ethik Widersacher der Kultur gegeben. Dies m u ß uns abgeschmackt erscheinen, denn ohne Organbildung für die Vernunft könnte es überhaupt kein sittliches Leben geben. Wie kann also jenes Geschäft der Keim des Verderbens sein? Die Ursache Hegt aber darin, daß man die Idee zerrissen und ihre Elemente einzeln im Gegensaz gegen einander aufgestellt hat, da man denn natürlich nach Auflösung der sittlichen Einheit Unsittliches bekommen muß. (BrEtbBl 31)

Die folgenden Tabellen sollen einen Überblick über die anhand der Struktur der Sprachhermeneutik entworfene Hermeneutik der Handlung geben.

148

Vgl. BrE/hSl 33: „Man hat nicht Recht sich aus der Natur organisch anzueignen, wenn man nicht für die Vernunftbildung aneignet. Die Selbsterhaltung ist nur unter dieser Bedingung eine sittliche Handlung."

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

385

Sprachhermeneutik Sprachsystem

~

Rede

~

Sprecher/Individuum

Sprache

Sprecher

grammatische Interpretati-

psychologische Interpretation

on

Rekonstruktion der Genese des Gedankens

Welche Spracbregeln wurden

Wie ist die Rede entstanden ?

angewendet? 1. Kanon

2. Kanon

rein psychologische Interpre-

technische Interpretation

tation lebenspraktische Ebene

normativ-erkenntnistheoretische

Rekonstruktion der „realen"

Ebene

Genese bzw. der Geschichte

Rekonstruktion der „idealtypischen"

der Gedankenentwicklung

Genese Ist der Gedanke ein eher

Wie ist der Gedanke entstanden ?

empirisches oder eher spekulatiws Wissen ?

Hermeneutik der Handlung institutionalisiertes Handlungsmus ter/ soziales System

~

Handlung

~

Handelnder/ Individuum

institutionalisiertes Handlungsmuster

psychologische Interpretation

grammatische Interpretation

Rekonstruktion der Genese der Handlung

Welche Regeln wurden angewendet?

Wie ist die Handlung entstanden?

1. Kanon

rein psychologische Interpre-

2. Kanon

Individuum

technische Interpretation

tation lebenspraktische Ebene

normativ-ethische Ebene

Rekonstruktion der „realen"

Rekonstruktion der „idealtypi-

Handlung bzw. der Geschich-

schen" Genese

te der Handlungsentwicklung

Ist die Handlung eine sittliche

Wie ist der Gedanke entstanden ?

Handlung? Ist sie eher eine am Individuum oder eine an der Gemeinschafi orientierte Handlung?

Abb. 8

Vergleich zwischen Sprach- und Handlungshermeneutik

386

Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben

Jede Einzelhermeneutik fixiert die Perspektive einer einzelnen Tätigkeit, zugleich kann keine Tätigkeit der Vernunft vollkommen von der anderen Tätigkeit isoliert werden. Wäre die Kulturhermeneutik lediglich eine Summe der Einzelhermeneutiken, so werden die verschiedenen Tätigkeiten der Vernunft und ihre kulturellen Manifestationen isoliert betrachtet und die Wechselwirkung zwischen den Tätigkeiten käme gar nicht in den Blick. Es scheint daher sinnvoll, der Kulturhermeneutik auch die Aufgabe zuzuweisen, den „Grenzverkehr" zwischen den einzelnen vernünftigen Tätigkeiten - und dies heißt auch den Grenzverkehr zwischen den verschiedenen „ethischen Formen" oder kulturellen Manifestationen - zu untersuchen. Eine solche Hermeneutik der Wechselwirkung, die die „Grenzlandschaft" zwischen den Tätigkeiten beleuchten soll, die nicht untersuchen wo und wie Wechselwirkung auftritt, könnte sich an der im Kapitel 5.1.4. gegebenen Systematisierung der „Mischformen" orientieren. Für jede Tätigkeit müssten, wie oben ausgeführt, zwei Richtungen verfolgt werden: Es müsste untersucht werden, wie die grundlegende Tätigkeit an anderen Tätigkeiten auftaucht und wie andere Tätigkeiten an ihr auftauchen. Denken müsste nicht nur als „reines", am Wissen orientiertes Denken, sondern auch als geschäftliches und künstlerisches Denken untersucht werden. Für eine Sprachhermeneutik bedeutet dies beispielsweise konkret, dass sie sich auch dem Handlungs- und Emotionsaspekt zuwenden muss, der in jedem Sprechen seinen Ausdruck findet. ^ Und so wie Handeln und Kunstschaffen Aspekte am Denken sind, taucht auch das Denken als Aspekt am Handeln auf. In jedem Handlungsakt findet ein Gegenstandsbezug statt, in dem das Wissen von dem Gegenstand nicht nur angewendet, sondern erweitert und verändert wird. Birgt jeder handelnde Umgang mit den Dingen nicht nur aber auch ein Wissen von den Dingen, dann können einzelne Handlungen und Kunstaktionen mit dem Denken in Streit treten. Problematisch ist meines Erachtens dabei nicht, dass das erkenntnistheoretische „Implantat" unserer Handlungen mit unserem Denken in Streit gerät, sondern dass sich ein solches Streitgespräch nicht ohne weiteres von selbst ergibt. Denn dieser Erkenntnisaspekt im Handeln (und Kunstschaffen) spricht sich eben nicht oder nicht auf dieselbe Weise aus wie im Denken selbst. 150

Iis wäre zu überlegen, ob man für eine derartige Modifikation der Sprachhermeneutik, beispielsweise bei der Sprachakttheorie (in der Austinschen Unterscheidung von lokutionärem, illokutionärem und perlokutionärem Akt) Anleitung findet. Soll die Kulturhermeneutik als Hermeneutik der Wechselwirkung eine Art „Übersetzerfunktion" zwischen den Tätigkeiten übernehmen, so kann sie dies wiederum nur von einem sprachlichen Standpunkt aus tun, denn Kritik und Hermeneutik sind, auch wenn sie sich d e m gesamten sittlichen

Prozess zuwenden, Teil

der erkennenden Tätigkeit. Das Ergebnis dieser

kritisch-

hermeneutischen Analyse von Wechselwirkungsverhältnissen ist in Sprache festgehalten, Sprache bleibt das Medium der Dekodierung, sodass es auch hier, wenn es um die praktische Umsetzung dieser Kritik geht, auch eine Art „Übersetzungsproblem" gibt.

Ausblick: Auf dem Weg zu einer Kritik und Hermeneutik der Kultur

387

Ein ethisches oder normatives Moment der Hermeneutik der Wechselwirkung, durch das jede Hermeneutik schließlich zur Kritik wird, ergäbe sich weniger durch die Forderung einer ausgewogene Interessenvermitdung von Individuum und Gemeinschaft, als durch das ausgewogene Verhältnis der ein2elnen vernünftigen Tätigkeiten und Tätigkeitsbereiche. Oder anders formuliert: Nur dadurch, dass jede einzelne Tätigkeit ihre Selbständigkeit wahrt, kann die Dynamik des sittlichen Prozesses aufrechterhalten werden. Kulturkritik muss dort intervenieren, wo die Selbständigkeit der Wechselglieder gefährdet ist.

Schluss: Die Endlichkeit einer Theorie des Endlichen In diesen abschließenden Betrachtungen soll keine Rekapitulation der Argumentationslinie erfolgen — eine Darstellung der Struktur der Gedankenführung findet sich bereits in der Einleitung sowie in den Einleitungen der jeweiligen Kapitel. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle die Ergebnisse der vorliegenden Schleiermacherlektüre noch einmal auf die Frage nach dem philosophischen „Status" einer Philosophie des Endlichen hin konzentrieren. Dazu setzen meine Überlegungen noch einmal bei der Dialektikvorlesung ein, die unter den philosophischen Vorlesungen Schleiermachers am konsequentesten der Frage nachgeht, welche Art von Aussagen über das Endliche vom Endlichen aus begründet werden können. Wissen, das war eine zentrale These der Dialektik,, kann sich immer nur in Wechselbildung von mehr empirischem und mehr spekulativem Denken bilden. Ebenso wie wir Theorien aus dem bloßen Denken nicht bilden können, ohne dabei auf Erfahrung zurückzugreifen, können wir bei jeder Erfahrung und jeder empirischen Erkenntnis ohne Begriffe, Thesen und Theorien, die wir im Voraus gebildet haben, nicht auskommen. Bereits im Kapitel wurde die Frage gestellt, inwiefern sich diese Grundeinsicht der Dialektik, da sie für alles werdende Wissen gilt, auch auf die Dialektik als Metatheorie des Wissens selbst übertragen lassen muss, d. h. ob und inwiefern auch der Entwurf der Dialektik nicht ohne Voraussetzungen, nicht ohne theoretischen Vorgriff beginnt. Wollte man ein moderneres Vokabular benutzen, so könnte man formulieren: Folgt nicht jede Bestimmung dessen, was ein Wissen ist, einem „Paradigma" (Kuhn) oder ist nicht jedes Wissen durch eine spezifische „Wissensvorstellung" (Elkana) geprägt, die selbst jedoch nicht als überhistorisch angesehen werden kann? Dafür, dass Schleiermacher die Dialektik nicht für eine ein für alle Male aufgestellte Wissenschaftswissenschaft hält, spricht das Wechselverhältnis von transzendentalem und empirischen Teil. Denn der transzendentale Teil der Dialektik, der die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens bestimmen soll, kann sich nach Schleiermacher immer nur in wechselseitiger Abhängigkeit mit dem technischen oder empirisch aufsuchenden Teil der Dialektik bilden. Diesem grundsätzlich progressiven Charakter der Dialektik, der auch in Schleiermachers sprachphilosophischen Überlegungen der späten Einleitung in die Dialektik von 1833 und Schleiermachers Ausführungen zur Wechselwirkung der Wissenschaften deutlich wird, steht jedoch Schleiermachers Anspruch entgegen, mit der „Analyse der Idee des Wissens" einen philosophischen Standpunkt zu

Schluss : Die Endlichkeit einer Philosophie des Endlichen

389

der „Analyse der Idee des Wissens" einen philosophischen Standpunkt zu gewinnen, der sich nicht selbst wieder in Frage stellen muss. Soll der Streit des bloßen Meinens auflösbar sein, so fordert Schleiermacher, dass „aus dem Gehalt jeder reinen Denkthätigkeit ein außer dem Streit liegendes Denken entwikkelt und gesondert werden" muss (DialKGA II 10/1, 422, § 5). Eine unstreitbare philosophische Ausgangsposition soll dadurch gewonnen werden, dass keine Denk Malte, sondern die Form der Denkbewegung selbst - das „unbewusste Agens" oder Wissenwollen, dass sich in jedem Denken zeigen soll, zum Analysegegenstand wird. Dabei setzt die „Analyse der Idee des Wissens", was die Bestimmung der zwei „Charaktere des Wissens" angeht, an der Streitsituation selbst an. Ob man die zwei „Charaktere des Wissens" als formale Bestimmung des Wissens anerkennt, hängt jedoch letztendlich davon ab, ob man den Streit als „Faktum" des Wissenwollens anerkennt oder nicht. Ob man die Bestimmung der Denkformen als formale Bestimmung des Denkens anerkennt, hängt davon ab, was zuvor als Erscheinungsformen des Denkens bezeichnet wurde. Oder auf das Wechselverhältnis von transzendentalem und empirischem Teil bezogen: Welche Erscheinungsformen des Wissens der technische oder empirische Teil dem transzendentalen Teil zur Analyse vorlegt. Hinsichdich der Frage, ob die Dialektik eine einmalig zu leistende philosophische Anstrengung sein kann oder nicht, ist Schleiermachers philosophische Position nicht eindeutig. Es scheint mir aber in sich kohärenter und zugleich philosophisch „tragfähig", wenn man zulässt, dass die Dialektik als Metatheorie des Wissens, sich ihrer eigenen Theorie unterwirft und als grundsätzlich streitbar versteht, da sie, wie Schleiermacher selbst formuliert, „gar nicht außerhalb der Untersuchung vorhanden ist also beide Eins und dasselbe sind" (Dia/KGA II 10/1, 75, § 2). Die entscheidende Frage ist, ob sich die Theorie des Endlichen, insofern sie sich selbst als endlich entwirft, selbst diskreditiert oder nicht. Ein Argument gegen dieses philosophische System der Orientierung im Endlichen kann meines Erachtens nicht der Vorwurf sein, dass es selbst auf Voraussetzungen beruht und selbst streitbar werden kann. Als eine solche Voraussetzung der Dialektik könnte man beispielsweise die Bestimmung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem ansehen, die Idee eines sich im Endlichen unendlich realisierenden absoluten Gegensatzes. Denn diese Interpretation des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem geht nicht aus der „Analyse der Idee des Wissens" hervor, sondern geht ihr als „Interpretationsrahmen" voraus. Indem sich die Oialekük dem in ihr entworfenen dynamischen Wissensbegriff selbst wieder unterwirft, bestätigt sie sich zugleich. Denn die Souveränität einer Theorie des Endlichen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie ihre eigene Absetzung - oder milder formuliert: ihre Modifikation - noch mit einschließen kann. Argumente für oder gegen den hier vorgestellten philosophischen Entwurf Schleiermachers scheinen mir daher sinnvoll auf derjenigen Ebene angesiedelt zu sein, wo es darum geht, die innere Stringenz des Entwurfes sowie seine Tauglichkeit zu

390

Schluss : Die Endlichkeit einer Philosophie des Endlichen

prüfen, neue Probleme und Fragestellungen aufzunehmen. Dies kommt der von Schleiermacher in den Grundlinien geforderten „Kritik der Begriffe" gleich, die nach dem systematischen Zusammenhang der einzelnen Begriffe fragt, und der im dritten Buch der Grundlinien durchgeführten „Kritik der Systeme", die danach fragt, ob nichts, was in der Ethik als Wissenschaft der Vernunft vorkommen muss, ausgelassen wurde. Die „Kritik der Grundsätze" hingegen, in der es um die Begründung des jeweiligen Systems geht, kann in letzter Hinsicht nur deutlich machen, auf welchen Voraussetzungen jeder systematische Entwurf beruht. Indem seine Voraussetzungen beleuchtet werden, ist jedoch kein Entwurf diskreditiert. Denn mit dem Entwurf eines philosophischen Systems bewegen wir uns, wie Schleiermacher in den Grundlinien ausführt, auf einer Ebene, auf der wir nicht mehr begründen, sondern nur noch annehmen oder ablehnen können. Schleiermachers Philosophie wurde als Philosophie des Endlichen gelesen, die das Endliche als einen unendlichen Wirkungszusammenhang interpretiert. Unsere facettenreiche, widersprüchliche, sich modifizierende Interpretation von Welt erhält dabei durch die Analyse der Wechselwirkungszusammenhänge eine Struktur. Die Analyse dieser Struktur oder Architektur der Wechselwirkungszusammenhänge, in der ich ein wesentliches Verdienst des Schleiermacherschen Denkens sehe, ist eine philosophische Aufgabe, mit der sich Schleiermacher in seinen philosophischen Vorlesungen auseinandersetzt. Die Frage, wie sich diese Wechselwirkungen konkret gestalten, ist, wie das vierte Kapitel zu zeigen versuchte, Aufgabe einer Kritik und Hermeneutik der Kultur, die als orientierungsstiftende Wissenschaft der Schleiermacherschen Ethik zur Seite gestellt werden kann. Im ethischen Zirkel zwischen einzelner Erscheinung und Totalzusammenhang, und im Nachvollzug der einzelnen Wechselwirkungszusammenhänge wird die sich selbst immer wieder kritisch zu unterwerfende Kritik zum Instrument der Orientierung im aufgegebenen Totalzusammenhang, den sie mit jedem kritischen Akt zugleich modifiziert und bildet. In der historischen Bedingtheit oder Endlichkeit unserer mehr oder weniger guten Handlungen und unseres mehr oder weniger wahren Denkens trägt uns ein Netz aus Sinn- und Handlungszusammenhängen, auf dem wir uns mit Hilfe einer kritisch-hermeneutischen Anstrengung orientieren. Die Dynamik des Endlichen ist eine Dynamik der Wechselwirkung relativer Gegensätze und beruht auf dem Alternieren von Grenzüberschreitung und Grenzziehung der Wechselglieder. Sie beruht auf der Einsicht, dass die Wechselglieder nie streng voneinander getrennt werden können und ineinander übergehen, aber ebenso darauf, dass sie nie vollständig ineinander aufgehen können. Im Kontext von Beziehung und Freundschaft formuliert Schleiermacher die Notwendigkeit der Grenzziehung in den Vertrauten Briefen mit dem ebenso schönen wie zutreffenden Begriff der „Schamhaftigkeit" als Respekt vor der Andersartigkeit des anderen und in dem Versuch einer Theorie des gesellschaftlichen Betragens mit dem Begriff der „Schicklichkeit".

Schluss : Die Endlichkeit einer Philosophie des Endlichen

391

Diese Dynamik von Grenzüberschreitung und Grenzziehung ist eine Dynamik von Einheit und Differenz. Auch wenn Welt als „terminus ad quem" nur in unendlicher Bewegung zu realisieren ist und insofern die Wirklichkeit, in der wir leben, immer eine differente ist, hält Schleiermacher an der Idee einer in sich differenzierten Einheit fest. Insofern lässt sich Schleiermachers Philosophie, wenn man so will, auch als Philosophie der Einheit lesen — aber sie ist ebenso eine Philosophie der Differenz. D e n n Differenz und Einheit lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, sie sind zwei Momente ein und derselben Bewegung. Die Annahme einer im Unendlichen zu realisierenden, umfassenden, in sich differenzierten Einheit führt nicht dazu, dass Differenzen verdeckt werden, sondern sie ist erst der Garant dafür, dass Differenzen zutage treten können, und in ihr liegt ein Argument dafür, sich durch das Abseitige und Andere in Frage stellen zu lassen. Erst die Annahme eines Totalzusammenhanges ermöglicht auch den Perspektivenwechsel im kritischen Versuch, sich zu orientieren. D e n n es geht Schleiermacher nicht um die exklusive Betrachtung einer bestimmten Wechselwirkung, die die Interpretation von Welt bestimmt, sondern um die Bereitschaft sich der Komplexität der Wechselwirkungszusammenhänge zu stellen. Einen solchen weiten Blickwinkel, innerhalb dessen nicht nur ein Wechselwirkungsverhältnis, sondern dem Ansatz nach die Totalität der Wechselwirkungszusammenhänge untersucht wird, sollte auch eine Kritik und Hermeneutik der Kultur einnehmen, wie ich sie in Fortsetzung der Schleiermacherschen Denklinien zu skizzieren versucht habe.

Abkürzungen Zitate häufig verwendeter Primärliteratur werden mit Angabe des Autors, der Abkürzung des Werkes und der Seitenzahl belegt. Stellennachweise aus Schleiermachers Werken werden ohne Angabe des Autors nur mit der jeweiligen Abkürzungen des Werkes, der Seitenzahl und gegebenenfalls des Paragraphen oder der Nummer gegeben (z.B. EthBI, 122, § 212). Nachweise aus der Kritik der reinen Vemunfl Kants folgen den Seitenzahlen der Erst- und Zweitausgabe (A/B). Zitate aus Spinozas Ethik werden mit Angabe des Buches (in römischen Ziffern), der Definition (Def.), des Lehrsatzes (LS) oder der Anmerkung (Anm.) gegeben (z.B. II LS 40 Anm.2). Zitate Friedrich Schlegels werden nach der Kritischen Ausgabe unter Angabe des Bandes, des Werkes, der Seitenzahl und gegebenenfalls der Fragmentnummer angegeben (z.B. S C H L E G E L K A XVLII, Philosophische I^ehrjahre, 36, Nr. 193).

1. Werke von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher a) Werkausgaben SW III

PsjSW III 6 W

EttiW II KGA

BrKGA V 2 BrKGA V 3

Sämtliche Werke, Abt. III: Zur Philosophie (10 Bde.), Berlin 1834-1864 Daraus mit folgender Abkürzung zitiert: Psychologe, in: SW III 6, hrsg. von L. George, Berlin 1862 Werke. Auswahl, Bd. 1-4, hrsg. von O. Braun und J. Bauer, Leipzig 1910-1913 Daraus mit folgender Abkürzung zitiert: Entwürfe ψ einem System der Sittenlehre, in : W II, hrsg. von O. Braun, Leipzig 1913 Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von H.-J. Birkner, G. Ebeling, H. Fischer, H. Kimmerle und K.-V. Selge; Abt. I: Schriften und Entwürfe, Abt. II: Vorlesungen, Abt. III: Predigten, Abt. IV: Übersetzungen, Abt. V: Briefwechsel und biographische Dokumente, Berlin/New York 1980 ff. Daraus mit folgender Abkürzung zitiert: Briefwechsel 1796-1798, KGA V 2, Berlin/New York 1988 Briefwechsel 1799-1800, KGA V 3, Berlin/New York 1992

Werke von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

ßrKGA V 5 G7KGA I 2 GIIIKGA I 2 GFKGA I 3 GrundlKGA I 4 GGUKGA I 6

FragKGA I 2 GBKGA I 2 AfoKGA I 3 LL4KGAI 3 VBKGA I 3 DialKGA

II 10/1

DialKGA II 10/2

-RRKGA I 2 KDKGA

I 6

393

Briefwechsel 1801-1802, K G A V 5, Berlin/New York 1999 Vermischte Gedanken und Einfälle (Gedanken I), K G A I 2, Berl i n / N e w York 1984, 1-49; (Gedanken III), K G A I 2, Berlin/New York 1984, 119-139 Gedanken V, K G A I 3, Berlin/New York 1988, 129-137 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, K G A I 4, Berl i n / N e w York 2002, 27-357 Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu errichtende (1808), K G A I 6, Berl i n / N e w York 1998, 15-100 Fragmente, K G A I 2, Berlin/New York 1984, 141-156 Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, K G A I 2, Berl i n / N e w York 1984,163-184 Monologen. Eine Neujahrsgabe, K G A I 3, Berlin/New York 1988, 3-61 Über das Anständige, K G A I 3, Berlin/New York 1988, 73-99 Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Ljtdnde, K G A 1/3, Berl i n / N e w York 1988,139-216 Vorlesungen über die Dialektik, Manuskripte Schleiermachers, K G A II 10, Teilband 1, hrsg. von A. Arndt, Berl i n / N e w York 2002 Vorlesungen über die Dialektik, Vorlesungsnachschriften, K G A II 10, Teilband 2, hrsg. von A. Arndt, Berlin/New York 2002 Uber die Religion. Reden an die Gelehrten unter ihren Verächtern, I 2, Berlin/New York 1984, 185-326 Kur^e Darstellung des theologischen Studiums %um Behuf einleitender Vorlesungen, K G A I 6, Berlin/New York 1998, 243-446

b) Einzelausgaben ÄstO ÄstL BrG BtR

Ästhetik, hrsg. von R. Odebrecht, Berlin/Leipzig 1931 Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hrsg. von Th. Lehnerer, Hamburg 1984 Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hrsg. von W. Gaß, Berlin 1852 Aus Schleiermacher's lieben. In Briefen. Band 1, Druck und Verlag G. Reimer, Berlin 1858; Band 2, Druck und Verlag G. Reimer, Berlin 1858; Band 3, vorbereitet von L. Jonas, hrsg. von W. Dilthey, Berlin 1861; Band 4, vorbereitet von L. Jonas, hrsg. von W. Dilthey, Berlin 1863

394 BrM

DiatO DialA BrEthBl

EthB I

HerK HerF HerV

ÜPPST

GLR

Abkürzungen

Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien - und Freundesbriefe 1804 bis 1834, in neuer Form mit einer Einleitung und Anmerkungen, hrsg. von H. Meisner, Gotha 1923 Dialektik, hrsg. von R. Odebrecht, Leipzig 1942 (ND Darmstadt 1976) Dialektik (1811), hrsg. von A. Arndt, Hamburg 1986 Brouillon %ur Ethik (1805/06). Auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hrsg. u. eingeleitet von H. -J. Birkner, Hamburg 1981 Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung Güterlehre und Pflichten lehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hrsg. von H. -J. Birkner, Hamburg 1990 (2. verbesserte Auflage) Hermeneutik, hrsg. von H. Kimmerle, Heidelberg 1959 Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, Frankfurt am Main 1977 Allgemeine Hermeneutik (1809-1810), hrsg. von W. Virmond, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Bd. 1, hrsg. von Κ. V. Selge, Berlin/New York 1985, 1269-1310 Uber die Philosophie Piatons. Geschichte der Philosophie. Vorlesungen über Sokrates und Piaton (\wischen 1819 und 1923). Die Einleitungen %ur Übersetzung des Piaton (1804-1828), hrsg. und eingeleitet von P. M. Steiner, Hamburg 1996 Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aufgrund der 2. Aufl. und kritischer Prüfung des Textes hrsg. von M. Redeker, Berlin 1960

2. Werke von anderen Autoren KrV KA

Ε

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in seiner Begehung

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Monographien, Sammelbände und Aufsätze zum Werk von F. Schleiermacher

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Eine

entmcklungsgeschichtlich-

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Monographien, Sammelbände und Aufsätze zum Werk von F. Schleiermacher

Rössler, Beate: Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik. chungen am BeispielM. Dummetts und F.D.E. Schleiermacher; Berlin 1990

407 Untersu-

Rothert, Hans-Joachim: Die Endlichkeit des Menschen bei Friedrich Schleiermacher. Eine systematische Untersuchung %ur Dialektik aus dem unmittelbaren Selbstbewußtsein, Ev.Theol. Diss. Tübingen 1954 Rothert, Hans-Joachim: Die Dialektik Friedrich Schleiermachers. Überlegungen zu einem immer noch wartenden Buch, in: Zeitschrift für 'Theologie und Kirche 67 (1970), 183-214 Röttgers, Kurt: Die Dialektik von Kant bis zur Gegenwart, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972, 184-189 Schmölze, Gerhard: „Freie Geselligkeit". Ein unausgearbeitetes Kapitel der Ethik Schleiermachers, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau Bd. 16 (1971), 232-261 Schneider, Ulrich Johannes: Die Geschichtsausffassung des hermeneutischen Denkens, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Teilband 1 (Schleiermacher-Archiv Bd. 1), hrsg. von Κ. V. Selge, Berlin/New York 198, 631-640 Schnur, Harald: Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994 Schnur, Harald: Die Rationalität der Wissensbildung. Schleiermachers Dialektik als Verfahren der Moderation, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hrsg. von D. Burdorf u. R. Schmücker, Paderborn/München/ Wien/ Zürich 1998, 137-146 Scholtz, Gunter: Schleiermachers Theorie der modernen Kultur mit vergleichendem Blick auf Hegel, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hrsg. von O. Pöggeler u. A. Gethmann-Siefert, Bonn 1983, 143-151 Scholtz, Gunter: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984 Scholtz, Gunter: Schleiermachers Dialektik und Diltheys erkenntnistheoretische Logik, in: Dilthey-Jahrbuch 2 (1984), 171-189 Scholtz, Gunter: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften., Frankfurt am Main 1995 Scholz, Heinrich: Einleitung, in: F. D. E. Schleiermacher, Kur^e Darstellung des theologischen Studiums %um Behuf einleitender Vorlesungen, hrsg. von H. Scholz, Darmstadt 1993 (Nachdr. der 3. kritischen Ausg. Leipzig 1910), XII-XXXVII Scholz, Paul: Schleiermachers Monologen in ihrem Verhältnis ψ Kants Ethik Eine Studie %ur Geschichte der Moralphilosophie, Leipzig Phil. Diss., 1919 Schulte, Robert Werner: Schleiermachers Monologen in ihrem Verhältnis zu Kants Ethik, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 40 (1916), 300-320

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Eine Studie aufgrund seiner frühesten

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4. Werke von anderen Autoren Elkana, Yehuda: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt am Main 1986 Fichte, Johann Gottlieb: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), in: Sämtliche Werke I, hrsg. von I. H. Fichte, Berlin 1845/46, ND Berlin 1971, 417-449 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage dergesammten Wissenschaftslehre (1797, 18022), in: Sämtliche Werkel, hrsg. von I. H. Fichte, Berlin 1845/46, ND Berlin 1971, 83-328 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlagen des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), in: Sämtliche Werke III, hrsg. von I. H. Fichte, Berlin 1845/46, ND Berlin 1971, 1-386 Fleck, Ludwig: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Basel 1935 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Bd. 1 u. 2, Tübingen 1960

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Werke von anderen Autoren

Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge %um Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987 Habermas, Jürgen: Oer philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1988 Hamann, Johann Georg: Kritik der reinen Vernunft (1781), in: Sämtliche Werke Bd. 3: Schriften über Sprache/Mysterien/Vernunft (1772-1788), hrsg. von J. Nadler, Wien 1951, 275-280 Hamann, Johann Georg: Metakritik über den Purismus der Vernunft (1784), in: Sämtliche Werke Bd. 3, Schriften über Sprache/Mysterien/Vernunft (1772-1788), hrsg. von J. Nadler, Wien 1951, 281-289 Hamann, Johann Georg: Briefwechsel, Bd. 4 (1778-1782), hrsg. von A. Henkel (1959) Heisenberg, Werner: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. träge, Leipzig 1945

Sechs Vor-

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Werke

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in: Werke (Nationalausgabe) Bd.

Schlegel, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von E. Behler unter Mitwirkung von J.-J. Anstett, H. Eichner u.a.; Abt. I: Kritische Ausgabe seiner Werke, Abt. II: Schriften aus dem Nachlass, Abt. III: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel, Abt. IV: Editionen, Übersetzungen, Berichte; Paderborn/München/Wien/Zürich 1958-2002 Spinoza, Baruch de: Die Ethik, Stuttgart 1977 Spinoza, Baruch de: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, Hamburg 1993

5. Monographien, Sammelbände und Aufsätze ψ anderen Autoren und Themen Anonym: Materialien %ur Geschichte der kritischen Philosophie, Leipzig 1793, ND Düsseldorf 1969 mit einem Vorwort versehen von Lutz Geldsetzer Anrieh, Ernst (Hrsg.): Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt 1956 Arndt, Andreas: Dialektik Hamburg 1994

und Reflexion.

Zur Rekonstruktion

des

Vernunftbegriffes,

Monographien, Sammelbände und Aufsätze 'zu anderen Autoren und Themen

413

Bartuschat, Wolfgang: Einleitung, in: Baruch de Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, Hamburg 1993, VII-XXXVIII Bayer, Oswald: Johann Hermann Hamann. Radikaler Aufklärer als Metakritiker, in: Grundlinien der Vernunftkritik, hrsg. von C. Jamme, Frankfurt am Main 1997, 55-70 Behler, Ernst: Klassische Ironie, Romantische Ironie, Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe, Darmstadt 1972 Behler, Ernst: Friedrich Schlegels Theorie des Verstehens. Hermeneutik oder Dekonstruktion, in: Die Aktualität der Frühromantik, hrsg. von E. Behler u. J. Hörisch, Paderborn 1987,141-160 Behler, Emst; Hörisch, Jochen (Hrsg.): Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn 1987 Behler, Ernst: Grundlagen der Ästhetik in Friedrich Schlegels frühen Schriften, in: Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (17951805), hrsg. von W. Jaeschke und H. Holzhey, Hamburg 1990, 112-127 Behler, Ernst: Frühromantik, Berlin/New York 1992 Beierwalters, W.: Gegensatz, in: Historisches sel/Stuttgart 1974, 105-117

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Grondin, Jean: Einführungin

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Grunwald, Max: Spinoza in Deutschland (Berlin 1897), Aalen 1986

415

Monographien, Sammelbände und Aufsätze zu anderen Autoren und Themen

Haug, Walther: Die Frage nach dem historischen Ort der Entzweiung von Natur und Geist: Rückblick und Diskussion, in: Die Trennung von Natur und Geist, hrsg. von R. Bubner, B. Gladigow und W. Haug, München 1990, 245-258 Hedinger, H.-W.: Historik, ars historica, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/Stuttgart 1974,1132-1137 Heintel, Erich: Herder und die Sprache, in: Johann Gottfried Herder, Sprachphilosophische Schriften, hrsg. von E. Heintel, Hamburg 1960, XV-LXVII Henrich, Dieter: Die Anfänge der Theorie des Subjektes (1789), in: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung Jürgen Habermas %um 60sten Geburtstag, hrsg. von A. Honneth, T. McCarthy, C. Offe, A. Wellmer, Frankfurt am Main 1989, 106-170 Hentig, Hartmut von: Polyphem oder Argos? Disziplinarität in der nichtdisziplinären Wirklichkeit, in: Interdisyplinarität. Praxis - Herausforderung - Ideologie, hrsg. von J. Kocka, Frankfurt am Main 1987, 34-59 Hinske, Norbert: Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Stuttgart 1970 Hödel, Günther: Um den Zustand der Universitäten zum Besseren Jahrhunderten Universitätsgeschichte, Wien 1994

Der dreißigjährige

Kant,

reformieren. Aus acht

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und Sys-

Wörterbuch der

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Monographien, Sammelbände und Aufsätze zu anderen Autoren und Themen

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Personenregister Aristoteles 9 , 1 1 2 , 1 9 1 , 2 9 7 Arnauld, Antoine 141 Arndt, Andreas 4, 8, 10, 12-14, 26£, 44, 53, 55, 89, 101,104,106, l l l f f . , 146,158,166,169,171f., 207-209, 219, 221 ff., 260, 271, 296, 328£, 331 f., 359 Ast, Friedrich 221, 225, 284 Bacon, Francis 348 Bardili, Christoph Gottfried 172 Barth, Ulrich 3, 104, 314, 368 Bartuschat, Wolfgang 38 Baumgarten, Alexander Gottlieb 142 Bayer, Oswald 281 Bayle, Pierre 274 Behler, Ernst 18, 207, 249 f. Benjamin, Walter 3, 4, 51, 277 Berben, Tobias 297, 302, 362 Berner, Christian 13, 254, 287 Birkner, Hans-Joachim 3, 13£, 291, 296 Birus, Henrik 206f., 216, 220, 223f., 247 Blackwell, Albert 11 Böhme, Jakob 213 Bohr, Niels 338, 355 Bohrer, Karl-Heinz 3 Bolzano, Bernhard 171 Bowie, Andrew 153 Braun, Otto 14, 291 Brinckmann, Karl Gustav von 71 f., 77, 217, 260, 333f.

Bubner, Rüdiger 2, 335 Camerer, Theodor 8, 27, 29, 165 Carnap, Rudolf 342 Cavendish, Henry 16 Coulomb, Charles Augustin 16 Cramer, Konrad 8, 27, 104 Daston, Lorraine 356 Daube-Schakat, Roland 227f. Delbrück, Ferdinand 27 Derrida, Jacques 207, 210, 226, 247, 256 Descartes, Rene 1 Dilthey, Wilhelm 2, 11, 205ff., 223, 228, 235, 298, 328f., 334f,, 352f. Dinsmore, Patrick D. 8, 27, 82 Droysen, Johann Gustav 311, 334 Eberhard, Johann August 9, 283 Eckert, Michael 4, 104, 161, 163 Eichner, Hans 19, 276 Einstein, Albert 338, 355 Elkana, Jehuda, 349, 350, 388 Engfer, Jürgen 199 Fichte,Johann Gottlieb 9, 15-18, 21 f., 38f., 40ff., 48, 72, 78, 106f., 113, 169, 171, 199, 249f., 262, 264, 333f., 348, 359 Fleck, Ludwig 345, 355 Frank, Manfred 4, 12f, 16ff, 40f., 55, 101, 103f., 106, 110, 112, 135, 137£, 141,150f., 154f., 159f., 172, 182, 198, 205ff., 226, 228, 230, 233, 235f., 247, 250f., 256 Fried,Jochen 207

420

Personenregister

Gadamer, Hans-Georg 10, 207, 228, 235 Geertz, Clifford 371 George, Leopold 14 Geyer, Carl-Friedrich 368, 370 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 276 Gottsched, Johann Christoph 320 Grab, Wilhelm 298, 311, 367 Grondin, Jean 220 Grundwald, Max 26 Grunow, Eleonore 261 Hamann, Johann Georg 16, 209, 213f., 280-283 Haug, Walther 335 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2£, 6, 50,101,104, 114f, 142,171, 297, 348, 363, 370 Heidegger, Martin 2, 210, 280 Heinze, Rudolf 298, 367 Heisenberg, Werner 338f., 355 Henrich, Dieter 106 Herder,Johann Gottfried 16, 209f., 213f, 280-283, 348, 362 Herms, Ellert 9, 11, 22, 104, 157, 159, 163, 272, 291f£, 295f., 315, 325, 328, 330 Herz, Henriette 53, 61, 71 Hübenthal, Ursula 351, 353f., 356ff. Hubig, Christoph 249 Hübner, Ingolf 3, 142, 155,159, 172, 203 Hübener, Wolfgang 207, 223 Humboldt, Wilhelm von 210, 284, 359 Jacobi, Friedrich Heinrich 9, 18, 26, 40£, 55, 106,199 Jaeschke, Walter 54 Jantsch, Erich 353, 355, 357 Jonas, Ludwig 12, 122 Jordan, Stefan 311, 344, 348

Kant, Immanuel 9, 15f£, 19f., 24f., 38, 40, 43, 48, 59, 72f£, 93, 96,106, 112,130£, 133,136-139,144,146£, 149, 158£, 168, 175, 177, 188f£, 197, 199, 209, 247, 249, 262£, 272275, 280, 282£, 297, 302, 310, 312, 337, 348, 362£, 365£, 373 Kimmerle, Heinz 4, 12£, 158, 205f£, 220, 226, 230, 235, 240, 254£, 296 Knigge, Adolph Freiherr von 91, 93 Kopp, Bernhard 298, 367-370 Körner, Christian Gottfried 39 Körner, Josef 44, 216 Koselleck, Reinhart 211 Krüger, Gerhard 280 Kuhn, Thomas 345-350, 388 Lakatos, Imre 310 Lenk, Hans 353, 360 Lessing, Gotthold Ephraim 26, 50 Maimon, Salomon 281 Mannheim, Karl 341 Marx, Karl 312 Meckenstock, Günter 8£, 22, 26£, 59,61,71,75, 78, 84, 91,98, 113 Mendelsohn, Moses 50 Merton, Robert King 355 Meufel, Johannes Georg 300, 352 Mill, John Stewart 171 Mittelstraß,Jürgen 352, 356f. Moxter, Michael 3, 9, 168, 297 Naschert, Guido 4, 17£, 41, 51 Newton, Isaak 16 Nicole, Pierre 141 Niethammer, Friedrich Immanuel 40, 279 Nietzsche, Friedrich Iff., 5, 210, 277 Nowak, Kurt 95, 311, 344 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 8, 15£, 21,40, 50,181,277

Personenregister

Odebrecht, Rudolf 9, 13, 22,123, 127,131 f., 148, 187, 170,173,193, 215, 253, 340 Planck, Max 338, 355 Piaton, 6, 9, 19, 38, 44, 53, 106, 108, l l l f . , 115,217ff, 248, 262, 290 Ploucquet, Gottfried Wilhelm 172 Pohl, Karl 112, 151, 214,215 Potepa, Maciej 208, 254 Reble, Albert 298, 367 Rehme-Iffert, Birgit 4, 17£, 21, 40f., 44£, 97f., 104, 169, 199 Reichenbach, Hans 342 Reimer, Georg Andreas 218 Reinhold, Karl Leonhard 18, 40, 106, 283 Rickert, Heinrich 334 Rieger, Reinhold 151, 206£, 223, 230, 250£, 257f., 326 Rothert, Hansjoachim 101,121, 143, 144 Röttgers, Kurt 274, 281 Sack, Samuel Gottfried 26, 59, 60f. Saussure, Ferdinand de 150, 207, 230, 256 Schäfer, Lothar 310, 346, 357 Scheler, Max 341 Schelling, Friedrich 6, 9, 16, 50, 171 f., 249f., 333, 359 Schelsky, Helmut 353, 356 Schiller, Friedrich 16, 90 Schindling, Anton 352 Schlegel, August Wilhelm 16, 53, 275, 283 Schlegel, Caroline 53 Schlegel, Dorothea 39 Schlegel, Friedrich 4, 740, 17ff., 21 f., 39-58, 78, 88£, 92, 94f, 97, 102, 107, 112£, 116, 134, 169, 199, 207, 209, 216-220, 234, 342, 250, 260, 271 f., 274f£, 277-280, 283, 287f£, 295

421

Schmidt, Carl Christian 40, 106 Schmölze, Gerhard 90, 95 Schnädelbach, Herbert 352 Schnur, Harald 207, 223 Scholtz, Gunter 2f£, 171, 296, 298, 310, 345, 362, 367, 375, 370 Scholz, Oliver R. 207, 223 Schütte, Hans-Werner 104, 164 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian Ehrhard 61, 72, 75, 260, 333 Sigwart, Christoph von 4, 206 Sorrentino, Sergio 104, 146 Spener, Johann Carl Philipp 57, 72 Spinoza, Baruch de 8, 9, 19, 26-40, 53, 58, 72, 81-84,106,112, 165,167, 200£, 249, 262, 295, 306, 366, 371, 373 Stadler, Ulrich 48, 50 Steffens, Heinrich 334, 359 Szondi, Peter 206£, 230, 235, 256 Theunissen, Michael 6, 64, 314 Thouard, Denis 4, 9, 104, 159,190, 283£ Tice, Terrence 3, 328 Timm, Hermann 26 Twesten, August 12, 14, 113,120, 126, 128, 158, 172, 193, 219 Uberweg, Friedrich 172 Verlato, Michaela 222 Vico, Giambattista 348 Virmond, Wolfgang 10, 13, 206 Vorländer, Franz 172 Voßkamp, Wilhelm 352f£, 356, 358 Wagner, Falk 101, 104, 142 Weber 170f, 261 Weizsäcker, Carl Friedrich von 358 Weiss, Peter 178 Wellek, Rene 287 Wiebering, Joachim 95 Willim, Bernd 206, 225, 227£, 230£, 235, 250

422

Personenregister

Wüs, Jean Pierre 206f. Winckelmann, Johann Joachim 275 Windelband, Wilhelm 334 Wolf, Friedrich August 217, 221, 284, 289 Wolff, Christian 171 Wundt, Wilhelm 171