Schleiermachers Philosophie 9783787340507, 9783787340514, 3787340505

Während Schleiermachers Rang als Erneuerer der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert unumstritten ist, steht er

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Schleiermachers Philosophie
 9783787340507, 9783787340514, 3787340505

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Schleiermachers Philosophie Andreas Arndt

Meiner

Andreas Arndt

Schleiermachers Philosophie

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4050-7 ISBN eBook 978-3-7873-4051-4

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Teil I · Kontexte

Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant . . . . . . . . . . . . . . .

15

Schlei­er­macher und Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Schlei­er­machers Ironieverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung . . . . . . . 53 Verdankte Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Schlei­er­macher und die ­Französische ­Revolution . . . . . . . . . . . . . 79 Teil II · System

Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung. Zum Systembegriff in Schlei­er­machers Grundlinien einer ­ Kritik der bisherigen Sittenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Schlei­er­machers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 System bei Steffens und Schlei­er­macher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Teil III · Dia­lek­tik

Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System . . . 139 Schlei­er­machers Dia­lek­tik. Ein Projekt der Klassischen Deutschen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Teil IV · Ethik, Recht und Bildung

Der Begriff des Rechts in Schlei­er­machers Ethik-Vorlesungen . 195 Gemeinschaft und Gesinnung. Schlei­er­machers rechtliche und politische Ausgrenzung des ­Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

 »Verderblich, wenn die Universitäten nur fort­gesetzte ­Schulen ­werden«. Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über ­Universitäten in deutschem Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Teil V · Hermeneutik

Hermeneutik und Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Teil VI · An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie

Zwischen Natur und Vernunft. Zur systematischen Stellung der An­thro­po­lo­gie bei ­Schlei­er­macher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Hellsehen in preußischblauer Nacht. Schlei­er­macher über ­Spiritismus, Medien und W ­ ahrsagekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Schlei­er­machers Psychologie. Eine Philosophie des subjektiven Geistes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

6 | Inhalt

Vorwort Die   in dem vorliegenden Band versammelten Texte zu Schlei­er­ machers Philosophie sind größtenteils im letzten Jahrzehnt entstanden; dass sie hier erneut bzw. erstmals veröffentlicht werden, verdankt sich einer Anregung des Verlages, der ich gern nachgekommen bin. Friedrich Daniel Ernst Schlei­er­macher (1768–1834) war Theologe und Philosoph und hat in beiden Disziplinen zeitlebens literarisch und – seit 1804, dem Beginn seiner Hallenser Professur – auch als akademischer Lehrer gewirkt.1 Während sein Rang als Erneuerer der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert unumstritten ist, steht er als Philosoph weiterhin im Schatten seiner Zeitgenossen und auch sein Platz in der Geschichte der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant ist strittig. Teils wird er als »nachidealistischer« Denker angesehen (was immer das heißen mag),2 wogegen jedoch geltend gemacht wird, dass die Vereinigung des Idealismus und Realismus, die Schlei­er­macher erstrebte, auf der Linie der zu Unrecht als »Deutscher Idealismus« etikettierten Klassischen Deutschen Philosophie lag und keine Sonderstellung Schlei­er­machers begründet.3 Schlei­er­ machers Philosophie, so die leitende These der folgenden Untersuchungen, ist integraler Bestandteil dieser Epoche und nur auf dem Boden der nachkantischen Philosophie angemessen zu verstehen.4 Biographie siehe Kurt Nowak, Schlei­er­macher, Göttingen 2001. Michael Theunissen, Zehn Thesen über Schlei­er­macher heute, in: Schlei­er­macher’s Philosophy and the Philosophical Tradition, ed. S. Sorrentino, Lewiston u. a. 1992, IV; Manfred Frank, Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 2007. 3 Vgl. zusammenfassend Walter Jaeschke und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012; zu Schlei­er­macher 254–305. – Zur Kritik der Rede vom »Deutschen Idealismus« vgl. Walter Jaeschke, Zur Genealogie des deutschen Idealismus. Konstitutionsgeschichtliche Bemerkungen in methodologischer Absicht, in: ders., Hegels Philosophie, Hamburg 2020, 393–415. 4 Eine solche Betrachtungsweise zeigt dann nach meiner Überzeugung bei 1 Zur

2 Vgl.

 7

In alle Diskussionen über Schlei­er­machers Philosophie spielt seine Religionsauffassung und Theologie mit hinein – und umgekehrt. Zwar mag das Verhältnis von Philosophie und Theologie für Schlei­er­macher nicht ein Grundthema seines Denkens gewesen sein,5 jedoch nur deshalb, weil er dies im Sinne eines harmonischen Miteinanders meinte gelöst zu haben. In einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. März 1818 schrieb Schlei­er­macher, er sei »mit dem Verstande ein Philosoph, denn das ist die unabhängige und ursprüngliche Thätigkeit des Verstandes«, aber »mit dem Gefühl […] ein Christ«, denn die Religiosität sei Sache des Gefühls, welches der Verstand gleichsam übersetzt (»verdolmetscht«).6 Daraus folge, dass Philosophie und Religion bzw. Theologie sich nicht widersprächen: »Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen«.7 Dies bedeutet, dass Philosophie und Theologie in keinem Begründungsverhältnis zueinander stehen; sie konvergieren, aber jede entwickelt und rechtfertigt sich auf ihrer eigenen Grundlage. Im Zweiten Sendschreiben an Lücke (1829) betont Schlei­er­macher daher, dass Philosophie und Theologie voneinander »frei geworden« seien (KGA I/10, 390). Aus dieser Freiheit folgt, dass die Philosophie sich autonom zu begründen und ihre Verfahrensweisen ausschließlich selbst zu rechtfertigen habe. Das bedeutet vor allem, dass die Philosophie autonom ist, d. h., sie begründet und verantwortet ihre Verfahrensweisen und Resultate selbst. In diesem Sinne schreibt Schlei­er­macher in seiner Ausarbeitung zur Dia­lek­tik-Vorlesung 1814/15 im Zusammenhang mit dem religiösen Gefühl als Innewerden des transzendentalen Grundes: »Wenn nun das Gefühl von Gott das religiöse ist: so scheint deshalb die Religion über der Philosophie zu stehen […]. es ist aber nicht so. Wir sind hieher gekommen, ohne von dem Gefühl ausgegangen zu sein, auf rein philosophischem Wege.« allen Gegensätzen auch überraschende Schnittmengen mit Hegel; vgl. dazu Schlei­er­macher / Hegel. 250. Geburtstag Schlei­er­machers / 200 Jahre Hegel in Berlin, hg. v. Andreas Arndt und Tobias Rosefeldt, Berlin 2020. 5 Vgl. Hans-Joachim Birkner, Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schlei­er­macher-Interpretation, München 1974. 6 Schlei­e r­macher an Jacobi, 30. März 1818, hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Quellenband, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1994, 394–398, hier 395. 7 Ebd., 396. 8 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie 

(KGA II/10, 1, 143) Die Zusammenstimmung von Philosophie und Religion bzw. Theologie ist daher aus Schlei­er­machers Sicht Resultat einer rein philosophischen Gedankenentwicklung. Die Unterscheidung von Philosophie und Religion bzw. Theologie, auf der Schlei­er­macher nach beiden Seiten hin beharrt, brachte er nach einer Nachschrift zur Dia­lek­tik-Vorlesung 1818/19 so zum Ausdruck: »Der Philosoph braucht also die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung« (KGA II/10, 2, 242). Der Unterschied ist jedoch ein Unterschied innerhalb einer Einheit, denn die Religion ist für Schlei­er­macher, wie bereits in den Reden über die Religion (1799) behauptet, ein eigenständiges Gebiet neben der Philosophie (dort: Metaphysik und Moral). Dementsprechend begrenzen sich beide »Territorien« wechselseitig, ungeachtet dessen, dass sie sich autonom und nicht wechselseitig begründen. Dieser Typus des Gegensatzes entspricht Schlei­er­machers Denken – auch in der Dia­lek­tik: eine Differenz bzw. Entgegensetzung, die schon immer in einer übergreifenden Einheit ihre Auflösung gefunden hat. Es ist eine Dia­lek­tik ohne harte Widersprüche, die für Schlei­er­macher leitend ist und auch dieses Verhältnis bestimmt. Eine Philosophie kann mit der Religion bzw. Theologie jedoch nur dann im Schlei­er­macherschen Sinne harmonisch zusammenstimmen, wenn sie die Grenze zum fremden Territorium akzeptiert und sich eine genuin philosophische Deutung etwa des von Schlei­er­macher für die Religion in Anspruch genommenen Gefühls versagt. Nur dann kann auch behauptet werden, dass es keinen »wahren Atheismus« geben könne, wie es in der Dia­lek­tik 1811 heißt (KGA II/10, 1, 38). Anders gesagt: Nur eine Philosophie des Schlei­er­macherschen Typus stimmt in der Konsequenz mit Schlei­ er­machers Religionsauffassung und Theologie überein, nicht aber die Philosophie. Das war schon zu Schlei­er­machers Lebzeiten  – wie etwa bei Hegel  – nicht der Fall8 und die veränderte philosophische Diskussionslage im Ausgang der Klassischen Deutschen Walter Jaeschke, ›Um 1800‹. Religionsphilosophische Sattelzeit der Moderne, in: Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit  – Atheismusstreit  – Theismusstreit, hg. v. Georg Essen und Christian Danz, Darmstadt 2012, 1–92. 8 Vgl.

Vorwort | 9

Philosophie und insbesondere die Religionskritik des 19. Jahrhunderts haben das von Schlei­er­macher angenommene Gleichgewicht beider Seiten nachhaltig erschüttert und schließlich zerstört. Dies führte dazu, dass seine Philosophie, trotz ihrer nachhaltigen Wirkungen auf die nachklassische Philosophie des 19. Jahrhunderts in Deutschland,9 zunehmend nur noch als Glaubens- und Religionsphilosophie wahrgenommen wurde, die »der Theologie einen philosophischen Grund« sichern sollte.10 Das freilich entspricht nicht Schlei­er­machers Auffassung, wie er sie etwa in dem zitierten Brief an Jacobi darlegt. Zu fragen ist, welche Folgen dies für den Umgang mit Schlei­er­ macher als Philosophen und mit seiner Philosophie hat. Unstrittig ist, dass Schlei­er­machers Philosophie in der Theologie der Gegenwart größere Aufmerksamkeit und Würdigung gefunden hat als in der Philosophie, und zwar auch und gerade in philosophisch kompetenten Interpretationen innerhalb eines theologischen Frage­ horizonts.11 Die Philosophie bewegt sich jedoch außerhalb eines solchen Fragehorizonts und kann auch  – kraft ihrer Autonomie, die auch Schlei­er­macher für selbstverständlich hält  – nur Grenzen anerkennen, die sie selbst setzt, d. h. philosophisch begründet. Schlei­er­machers Behauptung, dass die Philosophie »auf rein philosophischem Wege« zur Übereinstimmung mit dem religiösen Bewusstsein komme, hat zur Konsequenz, dass ihm zufolge seine eigene Philosophie ausschließlich nach philosophischen Maßstäben zu beurteilen ist. Dagegen wird von theologischer Seite immer wiedazu Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/M. 1993; Andreas Arndt, Einleitung, in: Schlei­er­ macher, Dia­lek­tik (1811), Hamburg 1986, XXXVI ff. 10 So 1840 Schlei­er­machers Schüler, der Philosophiehistoriker Heinrich Ritter; vgl. Andreas Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 17. 11 Vgl. ebd., 17 f. – Exemplarisch sei verwiesen auf Ulrich Barth, Christen­ tum und Selbstbewußtsein, Göttingen 1983; Günter Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schlei­er­macher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin und New York 1988; Michael Dittmer, Schlei­er­machers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive. Triadizität im Werden; Berlin und New York 2001, Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schlei­er­machers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2001. 9 Vgl.

10 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie 

der geltend gemacht, dass dies eine einseitige und insofern nicht zu verantwortende Betrachtungsweise sei. So wurde mir jüngst vorgeworfen, im Blick auf Schlei­er­machers Philosophie die »religiöstheologische Fundierung von Schlei­er­machers Denken« durch eine »Marginalisierung des Theologen« ausgeblendet zu haben.12 Einer solchen Fundierung seiner Philosophie hätte Schlei­er­macher nach meiner Überzeugung widersprochen. Sie zur Maxime der Interpretation zu machen, hieße, Schlei­er­macher wieder auf die Rolle eines Glaubensphilosophen zu beschränken und damit letztlich aus dem Diskurs der Klassischen Deutschen Philosophie zu eskamotieren. Der hermeneutisch-kritische Umgang mit Schlei­er­machers Philosophie kann meines Erachtens nur darin bestehen, ihr Selbstverständnis als autonome Disziplin ernst zu nehmen und kritisch auf seine Durchführung hin zu überprüfen. Dies ist meines Erachtens die unabdingbare Voraussetzung dafür, Schlei­er­macher als Philosophen und seine Philosophie im Zusammenhang der Epoche überhaupt in den Blick zu bekommen. Dass der kritische Aspekt der Interpretation, der für jede Vergegenwärtigung einer Philosophie unverzichtbar ist,13 von Schlei­er­machers Denken nichts mehr übrig lässt, steht dabei nicht zu befürchten. Die folgenden Texte belegen dies hoffentlich zur Genüge. Sie sind in sechs Gruppen eingeteilt. Am Beginn (Teil I) erfolgt eine philosophiehistorische und zeitgeschichtliche Kontextualisierung, die zugleich den Entwicklungsgang von Schlei­er­machers philosophischen Positionen beleuchtet. Im Mittelpunkt stehen Kant, Fichte, die Frühromantik, der Religionsbegriff, das Subjektivitätsverständnis und die Französische Revolution. Die zweite Gruppe versammelt Texte zur Problematik und zum Werden des Systems Wolfes, Rezension zu Andreas Arndt, Die Reformation der Revolution. Friedrich Schlei­er­macher in seiner Zeit, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 2020, 1, https://www.recensio.net/r/3852a0c59 fb145e9894bfee3cb8675b4 (Aufruf 31. 01. 2021).  – Eine »Marginalisierung der Theologie« hatte mir auch schon Michael Moxter (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 10. 1996) im Blick auf meine Auswahl von Schlei­er­machers philosophischen Schriften (Frankfurt/M. 1996) vorgeworfen; vgl. Arndt, Friedrich Schlei­ er­macher als Philosoph, 19 f. 13 Vgl. Andreas Arndt, Hermeneutik und Kritik im Denken der Aufklärung, in: Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. Manfred Beetz und Giuseppe Cacciatore, Köln, Weimar und Wien 2000, 211–236. 12 Matthias

Vorwort | 11

bei Schlei­er­macher (II), denen Aufsätze zur grundlegenden Disziplin der Dia­lek­tik folgen (III). Hieran schließen sich Texte zu den philosophischen Realwissenschaften an – mit Ausnahme der Naturphilosophie, die Schlei­er­macher selbst nicht bearbeitet hat. Hier geht es zunächst (IV) um Ethik, Recht und Bildung (namentlich Schlei­er­machers Universitätskonzeption), sodann um die Hermeneutik (V) und schließlich um die An­thro­po­lo­gie bzw. Psychologie, eine Disziplin, deren systematische Stellung Schlei­er­macher nicht eindeutig bestimmt hat (VI). Dieses Buch schließt thematisch und chronologisch an meinen 2013 erschienenen Sammelband Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph an, jedoch steht das vorliegende Buch für sich und soll einen Gesamteindruck von Schlei­er­machers Philosophie vermitteln, auch ohne die von Schlei­er­macher bearbeiteten Disziplinen vollständig thematisieren zu können. Die hier versammelten Aufsätze wurden im Vergleich zu den Erstpublikationen formal und stellenweise auch inhaltlich bearbeitet; mitunter kommt es zu Überschneidungen zwischen den Texten, insbesondre bei längeren Zitaten, die deshalb nicht getilgt wurden, damit die einzelnen Aufsätze für sich lesbar bleiben. Berlin, im Juli 2021

Andreas Arndt

TEIL I KONTE X TE

Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant     Friedrich Daniel Ernst Schlei­er­macher (1768–1834) wird als Phi1

losoph kaum wahrgenommen. Mit dem schleichenden Abschied der hermeneutischen Philosophie hat Schlei­er­machers Philosophie, so scheint es, ihre Aktualität vollends eingebüßt. Daran haben auch die ungebrochene Präsenz Schlei­er­machers in der Theologie und alle editorischen Bemühungen im Zusammenhang mit der Kritischen Gesamtausgabe kaum etwas ändern können. Die Gründe dafür sind komplex. Dazu gehören sicher die bereits seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Wahrnehmung, Schlei­er­macher sei eben doch in erster Linie Theologe, aber auch die mangelnde Aufmerksamkeit vieler in der akademischen Philosophie für die Resultate kritischer Editionen, die offenbar eher philologischen als philosophischen Bedürfnissen zugeordnet werden.1 Zudem haben scheinbare Nebenfiguren wie Schlei­er­macher in den Zeiten von Bologna nur wenig Chancen, im akademischen Studium der Philosophie Beachtung zu finden. Freilich ist auch Schlei­er­machers Philosophie alles andere als leicht zugänglich. Es gibt kein systematisch grundlegendes Hauptwerk, sondern nur einen Kosmos von Disziplinen, deren Gravitationszentrum schwer auszumachen ist und die Schlei­er­macher in immer neuen Anläufen bearbeitet, aber nicht in einer gültigen Gestalt hinterlassen hat. Überdies ist Schlei­er­macher ein ausgesprochener Selbstdenker: Er entwickelt sein philosophisches Denken weniger im Gespräch mit anderen als vielmehr im Selbstgespräch. Man kann sagen, dass Schlei­er­macher nach 1804, dem Antritt seiner Hallenser Professur, aus den zeitgenössischen philosophischen Debatten weitgehend aussteigt, obwohl er erst zu diesem Zeitpunkt davergleiche z. B. die Artikel Hermeneutics (Andrew Bowie) und Dialectics (Claudia Wirsing) in The Oxford Handbook of German Philosophy in the Nineteenth Century, ed. Michael N. Forster and Kristin Gjesdal, Oxford 2015, 416–435 und 651–673, wo unbekümmert die neuen kritischen Ausgaben der Hermeneutik und Dia­lek­tik ignoriert werden. 1 Man

 15

mit beginnt, seine philosophischen Auffassungen in akademischen Vorlesungen umfassend darzustellen. Dies hat auch dazu geführt, dass Schlei­er­machers philosophischer Entwicklungsgang als ganz auf der Individualität und Einzigkeit Schlei­er­machers beruhend angesehen wurde.2 Nun soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Schlei­er­macher ein origineller Denker ist; er ist dies jedoch nicht nur in Zeitgenossenschaft mit der, sondern auch auf dem Boden der nachkantischen Philosophie.3 Kant steht unübersehbar am Beginn seines philosophischen Bildungsganges. Schon als Student des »Seminariums« der Herrnhuter Brüdergemeine (1785–1787) hatte er Kant – dessen Schriften dort offiziell verboten waren – gelesen und mit Freunden darüber diskutiert (vgl. KGA V/1, XXVIII); in Halle, wo er nach seiner Glaubenskrise und dem Weggang von der Brüdergemeine von 1787 bis 1789 Theologie, vor allem aber Philosophie studierte, war Schlei­er­macher dann Hörer von Johann Heinrich Eberhard, dem Vertreter der Hallischen Schulphilosophie, der sich kritisch mit Kant auseinandersetzte, wobei Schlei­er­macher dieser Kritik nicht folgte. Nach Beendigung des Studiums im Mai 1789 siedelte Schlei­ er­macher nach Drossen über, wo sein Onkel Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, vorher Rektor des reformierten Gymnasiums in Halle, der Schlei­er­macher schon während des Studiums in sein Haus aufgenommen hatte, inzwischen eine Landpfarre versah. In dieser Zeit entstanden seine ersten eigenständigen philosophischen Entwürfe, in denen vor allem zwei Themen im Vordergrund stehen: die Freiheitsproblematik und das Verhältnis von Philosophie und Religion. Für beide Themen ist die Auseinandersetzung mit Kant zentral;4 besonders die Freiheitsproblematik reflektiert aber 2 Diese,

vor allem von der Familie und den Schülern Schlei­er­machers gepflegte Auffassung hatte schon der junge Wilhelm Dilthey als Forschungshindernis angesehen; vgl. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870, hg. v. C. Misch, Leipzig und Berlin 1933, 158 f. – Rudolf Odebrecht hat in diesem Sinne eine »Abhängigkeitsschnüffelei« bei Schlei­ er­macher beklagt (ders., Einleitung des Herausgebers, in: Friedrich Schlei­er­ macher, Dia­lek­tik, hg. v. R. Odebrecht, Leipzig 1942, XII). 3 Vgl. Walter Jaeschke und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012, 254–305. 4 Die Entwicklung des jungen Schlei­er­macher auf Basis der erstmals im 16 | Kontexte 

auch das Zeitgeschehen. Schlei­er­machers erste große Abhandlung Über das höchste Gut, die er gegen Ende seiner Studienzeit verfasst, entsteht 1789, im Jahr der Französischen Revolution, die an seiner Philosophie nicht spurlos vorbei gegangen ist.5    In seiner Abhandlung Über das höchste Gut (1789) schließt 2

Schlei­er­macher sich in wesentlichen Punkten an Kant an. So verteidigt er die rein rationale Bestimmung des Sittengesetzes. Die Vernunft müsse »das, was bei der ganzen Sache sie unmittelbar angeht, auch allein und aus ihren eignen Mitteln in Richtigkeit bringen« (KGA I/1, 88); das höchste Gut ist daher »der vollkomne Inbegrif alles deßen was nach gewißen Regeln in einer gewißen Verfahrungsart nemlich der ungemischten rein rationalen zu erlangen möglich ist« (ebd., 90 f.). Verbindlichkeit für das praktische Verhalten der Menschen erhält das rein rationale Sittengesetz aber nicht unmittelbar, sondern erst dann, wenn der Wille »vermittelst subjektiver von dem Sittengesez abgeleiteter Bewegungsgründe durch dasselbe bestimmt werden kann« (KGA I/1, 100). Die Instanz, die reine praktische Vernunft und Empirie – d. h.: das Begehrungsvermögen – miteinander verbinde, sei das moralische Gefühl: »Sobald wir nemlich einsehn, daß das Sittengesez nicht anders als vermittelst des sich darauf beziehenden moralischen Gefühls auf unsern Willen wirksam seyn und denselben bestimmen kann, so wird es eine sich von selbst uns aufdringende Aufgabe, den praktischen Einfluß dieses Gefühls zu vermehren«; auf diese Weise »fließen Sitten und Glükseligkeitslehre zusammen« (KGA I/1, 124 f.). Schlei­er­macher bestreitet demnach nicht die transzendentalphilosophische Grundlegung des Sittengesetzes, sondern nur eine Rahmen der KGA vollständig edierten Manuskripte behandeln Günter Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schlei­er­macher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin und New York 1988; Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schlei­er­machers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004. 5 Vgl. Kurt Nowak, Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schlei­er­macher. Forschungsgeschichtliche Probleme und Perspektiven, in: Internationaler Schlei­e r­macher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin und New York 1985, 103–125; Miriam Rose, Schlei­e r­machers Staatslehre, Tübingen 2012, 30–106; Andreas Arndt, Die Reformation der Revolution. Friedrich Schlei­er­macher in seiner Zeit, Berlin 2019. Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 17

nicht gelungene Vermittlung mit der Empirie. Seine überlieferten Notizen zur Kritik der praktischen Vernunft beginnen mit Kants Begriff der transzendentalen Freiheit und kreisen dann um das Problem, wie das Sittengesetz durch das Begehrungsvermögen zur Wirkung gebracht werden könne. Hierfür referiert er auf ein »Gefühl der Lust«, bestreitet aber Kants These, dass dadurch das oberste Prinzip der praktischen Philosophie empirisch ausfallen müsse (vgl. KGA I/1, 130 f.).6 Dies ist nach Schlei­er­macher dann nicht der Fall, wenn das Gefühl der Lust nur der Auslöser für das Begehrungsvermögen sei, tatsächlich etwas Nicht-Sinnliches zu begehren. Der Gehalt und die Form des Sittengesetzes seien dann nicht von der Empirie affiziert. Voraussetzung hierfür sei nur, »daß es ein Gefühl der Lust gebe, welches sich uneingeschränkt auf das Gesez und die Funktion desselben beziehe und diese Voraussezung ist uns im reinen Selbstbewußtseyn gegeben.« (KGA I/1, 130) Da man weiß, welche zentrale Rolle das reine oder unmittelbare Selbstbewusstsein beim späteren Schlei­er­macher spielt, ist man vielleicht geneigt, diesen Passus theoretisch stark zu gewichten. Tatsächlich aber bleibt Schlei­er­macher hier jede Erläuterung dafür schuldig, wie in einem reinen Selbstbewusstsein ein nur auf das Sittengesetz bezogenes Gefühl liegen könne. Sein Versuch, den moral sense gegen Kant zu rechtfertigen, führt auch zu keiner Klärung des Problems. Wichtig ist vor allem die grundlegende Fragerichtung Schlei­er­machers: er sucht eine Vermittlung zwischen vernünftiger Willensbestimmung und empirischem Handeln, ohne die Selbstgesetzgebung, d. h. Freiheit der Vernunft, zu beschädigen. Die gesuchte Lösung muss sich daher im Spannungsfeld von Freiheit und Determinismus bewähren. In einem ebenfalls auf 1789 zu datierenden Freiheitsgespräch versucht Schlei­er­macher, die Vermittlung durch Kants Konzept der Einbildungskraft zu erklären. Damit das Gefühl der Lust bzw. Unlust auf das Sittengesetz der Vernunft bezogen werden kann, bedarf es eines Vermögens, das zwischen Sinnlichkeit und Vernunfteinsicht vermittelt. Die Einbildungskraft zeichnet sich in dieser Hinsicht dadurch aus, dass sie »eine ganze Reihe« deutlicher Vorstellungen »in einen einzigen Augenblik zu vereinigen« weiß; »sie preßt sie gleich6 Vgl.

KpV 16, AA 5, 9.

18 | Kontexte 

sam in einer leicht übersehbaren Form zusammen und bei dieser Operation entfließt denselben der herrlichste Saft der Wonne und des Entzükens« (KGA I/1, 156). Die Einbildungskraft, die Schlei­er­ macher auf das Gefühl bezieht, ist hier so etwas wie ein Supplement der reinrationalen Erkenntnis in praktischer Absicht und hat damit die Funktion der »ästhetikologischen« Erkenntnis in der Hallischen Schulphilosophie seit Baumgarten. Im Gefühl wird die praktische Vernunft gleichsam auf ästhetischem Wege zugänglich und kann über Lust bzw. Unlust das Verhalten bestimmen: »Das Vermögen nach vernünftigen Gründen zu handeln heißt nichts anders als das Vermögen durch ein Gefühl von Lust bestimt zu werden welches durch die moralischen Ideen der Vernunft bewirkt« (KGA I/1, 160). Schlei­er­machers Abhandlung Über die Freiheit (1790–92) führt die bisherigen Überlegungen zur Vermittlung von vernünftiger Willensbestimmung und Empirie zusammen. Die Untersuchung soll ausdrücklich »zu einer nähern Beleuchtung der Kantischen Freiheitstheorie« (KGA I/1, 120) hinführen, und zwar in einer Diskussionssituation, die nach Schlei­er­macher durch eine Unentschiedenheit zwischen der »deterministische[n] Auflösung der Leibniz Wolfischen Schule« und der Kantischen Philosophie gekennzeichnet sei (KGA I/1, 219). Schlei­er­macher setzt hierbei wieder an dem Begriff des Begehrungsvermögens an, den er  – im Anschluss an Karl Leonhard Reinhold – auf den Begriff des Triebes zurückführen will (KGA I/1, 222 f.).7 Dem einzelnen Begehren kann dabei Instinkt oder auch Willkür zugrunde liegen; Instinkt, sofern der Trieb zu einer einzelnen Tätigkeit durch ein Objekt, Willkür, sofern er durch Vergleichung mehrerer Objekte bestimmt wird. Wichtig für Schlei­er­macher ist nun, dass der Mensch sich der Willkür bewusst ist: »Wenn ein Wille in einem Subjekt mit Vernunft verbunden ist und diese sich als Princip desselben ansieht, so entsteht praktische Vernunft, welche eine ihrer Natur gemäße Einheit in der Totalität der Maximen hervorzubringen strebt« (KGA I/1, 227). Hieraus ergibt sich aber noch keine Verbindlichkeit, d. h. Allgemeingültigkeit von Handlungen in moralischer Hinsicht, so dass man sich auch gar nicht »auf die Aeußerungen eines äußerst unbestimmten und 7 Zu

Reinhold vgl. Grove, Deutungen des Subjekts, 59–72. Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 19

verworrenen Gefühls von Freiheit« berufen könne, welche bloß subjektiv und jedesmal einer neuen Auslegung bedürftig blieben (KGA I/1, 228). Ein allgemeingültiges Gesetz, auf das Vernunft zielt, ist nun aber nicht Gesetz des Begehrungsvermögens (Beweggrund, Triebfeder), sondern »das hypothetische Naturgesez der Vernunft für den Willen« und Maßstab für die Beurteilung des Subjekts durch die Vernunft (KGA I/1, 230). Das Gesetz – in diesem Falle das Sittengesetz – ist seiner Natur nach allgemein und bezieht sich daher nur auf Maximen, die vom Begehrungsvermögen als Wille befolgt werden sollen. Dieser Wille muss in sich weder gut noch böse sein, sondern auf jede Art von Maxime gehen können. Schlei­er­macher spricht hier von einer »natürliche[n] Unbestimmtheit des Willens«, die notwendig sei, »wenn das durch die Idee der Verbindlichkeit gedachte Verhältniß des Gesezes zum Begehrungsvermögen möglich seyn soll« (KGA I/1, 233). Das meint, dass Verbindlichkeit nur dort greifen kann, wo das Vernunftgesetz weder von vornherein unmöglich noch bloßes Naturgesetz ist. Die entscheidende Frage der Vermittlung ist damit aber noch nicht beantwortet, denn Schlei­er­ macher geht weiterhin davon aus, dass das Sittengesetz einen unmittelbaren Einfluss auf das Begehrungsvermögen nicht haben könne: »Dazu gehört ein Gefühl und vermittelst desselben ein Trieb, der sich unmittelbar und allein auf die praktische Vernunft bezieht und sie gleichsam im Begehrungsvermögen repräsentirt […] Auf dem Daseyn dieses Triebes beruht die ganze Möglichkeit der Idee von Verbindlichkeit, denn er ist es allein, wodurch die Vernunft mit dem Begehrungsvermögen zusammenhängt. In den ehemaligen Moralsistemen nannte man ihn moralischen Sinn; in den neueren heißt er Achtung fürs moralische Gesez« (ebd.).8 Die zentrale Rolle des Begehrungsvermögens ergibt sich für Schlei­er­macher auch daraus, dass für ihn alle Vermögen in der lebendigen Einheit des Individuums zu betrachten sind: »es ist umsonst den Menschen zu theilen, alles hängt an ihm zusammen, alles ist eins« (KGA I/1, 241). Das bedeutet aber auch, dass die Determiniertheit unserer Handlungen und unseres Seins durch NaturbedinKpV 126–142, AA 5, 71–80; auch Johann August Eberhard, Sittenlehre der Vernunft, Berlin 1781, 46–53. 8 Vgl.

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gungen dem dunklen Freiheitsgefühl ebenso wie der Idee sittlicher Autonomie in der praktischen Vernunft unvermittelt entgegensteht. Beides muss miteinander in Einklang gebracht werden, und Schlei­ er­macher versucht dies nun von Seiten des Determinismus; er lasse sich, so Schlei­er­macher, »den Namen eines Deterministen gefallen, wenn man ihm nur verspricht, daß man ihm keinen Satz irgend eines Deterministen unterschieben wolle, wenn er nicht deutlich in dem, was er selbst gesagt hat und noch sagen wird enthalten ist.« (KGA I/1, 244) Im Mittelpunkt seines Versuchs steht die Frage nach der Zurechnung von Handlungen, denn nach geläufiger Auffassung setzt Zurechenbarkeit einen freien Willen voraus. Auch Kant hatte die Möglichkeit der Zurechnung von der Geltung der transzendentalen Freiheit abhängig gemacht, »welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß«,9 wenn er auch nicht der Ansicht war, die natürliche Determiniertheit einzelner Handlungen schließe diese Freiheit per se aus. In der letzteren Auffassung folgt ihm Schlei­er­macher. Nach ihm geht die Zurechnung nicht auf einzelne Handlungen oder Handlungssequenzen, denen ein freier Wille als Ursache unterstellt wird; vielmehr muss die Zurechnung im Blick auf das im höchsten Gut vorausgesetzte Sittengesetz der reinen Vernunft erfolgen, wobei die handelnde Person im Ganzen als Urheber der einzelnen Handlung anzusehen und zu bewerten ist. Die Zurechnung wertet nicht die einzelne Tat, sondern die Person nach ihrer Stellung zur Sittlichkeit. Sie bestimmt das Maß der Sittlichkeit, das ein Individuum repräsentiert: »die Zurechnung ist das Urtheil wodurch wir die Sittlichkeit einer Handlung auf denjenigen der sie gethan hat übertragen so daß das Urtheil über die Handlung einen Theil unseres Urtheils über seinen Werth ausmacht« (KGA I/1, 247). Ein solches Urteil beruht auf einer »Vergleichung mit dem moralischen Gesez« (KGA I/1, 249), welches den allgemeinen, in der Vernunft begründeten Maßstab abgibt. Demgemäß bringt auch die Beurteilung der Person im Ganzen, im Zusammenhang ihrer Handlungen, den Vernunftstandpunkt zur Geltung, indem sie das Individuum auf die Idee der Sittlichkeit bezieht. So steht auch das Strafgesetz unter der 9 KpV

173, AA 5, 97. Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 21

Forderung, die ganze Person im Zusammenhang der Entwicklung der Sittlichkeit zu bewerten, indem es sich von einem »Gefühl allgemeiner Liebe und Gleichheit« (KGA I/1, 271) leiten lässt; hierin finden die Losungen der Französischen Revolution ein unmittelbares Echo. Wie ist es aber mit der liberté bestellt? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es noch weiterer Schritte. Nicht anders als für Kant ist die Idee der Sittlichkeit für Schlei­ er­macher nicht schon darum obsolet, weil sie kontrafaktisch, d. h. nicht-empirisch, sich begründet. Sie ist, wie auch aus der Vorgeschichte der Freiheitsabhandlung deutlich wurde, eine theoretische Leistung der auf Zusammenhang und Allgemeinheit zielenden Ver­ nunft. Wenn ich es richtig sehe, löst Schlei­er­macher den Wider­streit von Vernunft und Empirie letztlich prozessual auf. Die Rückbindung des Zusammenhangs empirischer Handlungen an die Idee der Sittlichkeit lässt diese zum Grund und objektiven Ziel eines Bildungsprozesses zur Sittlichkeit werden, der am Zusammenhang der menschlichen Handlungen in den sittlichen Verhältnissen der Menschen gleichsam empirisch abgelesen werden kann. So erregt es »Entzükung […] wie sich unsre eigne Natur von der thierischen Rohigkeit des Kannibalen, der sich an dem Fleisch seiner Brüder weidet und von der schauderhaften Verderbtheit des ärgsten Bösewichts bis zu der erstaunenswürdigen Vollkommenheit des weisesten Sterblichen und bis zu der Gott ähnlichen Tugend eines Christus oder eines Sokrates ausdehnt« (KGA I/1, 281). Die hier genannten Heroen der Sittlichkeit stellen jedoch vor allem eine Aufforderung dar, die äußeren Verhältnisse, unter denen die Menschen handeln, so einzurichten, dass es keiner besonderen, heroischen Anstrengungen mehr bedarf, um einen höheren Grad von Sittlichkeit zu verwirklichen: »Man vergaß […] daß weder der künftige Zustand unserer Empfindungen noch der unserer Sittlichkeit allein und hinreichend in unserer gegenwärtigen sittlichen Verfaßung sondern immer auch in den äußern Verhältnißen gegründet ist. Wenn also diese überwiegend vortheilhaft eingerichtet werden, warum sollte es nicht möglich seyn, daß der hier lasterhafte ohnerachtet des unvollkomnen welches als die Folge seiner jezigen Beschaffenheit zurükbleibt seinen hier tugendhaften Bruder einst erreicht?« (KGA I/1, 276) Diese Konsequenz unterstreicht, dass Schlei­er­macher nicht auf eine subjektive Sollensethik oder Individualethik, sondern auf 22 | Kontexte 

einen Vernunftbegriff von Sittlichkeit zielt, in dem den allgemeinen Sphären als dem Rahmen einzelner sittlicher Handlungen besondere Bedeutung zukommt. Das Individuum ist Teil der sittlichen Verhältnisse und des fortschreitenden Prozesses der Bildung zur Sittlichkeit. Gleichwohl ist diese Sittlichkeit nur in der unendlichen Mannigfaltigkeit individueller Ausprägungen – sei es in Personen, sei es in Gemeinschaftssphären – greifbar, in welchen sich das Allgemeine darstellt. Im »Anschaun dieses Ganzen« wird diese »unendliche Verschiedenheit, diese unvollkommen scheinende Mannigfaltigkeit« zu »der höchst möglichen allgemeinen Vollkommenheit zu der sie hinführt«, in Beziehung gesetzt (KGA I/1, 281). Die Allgemeinheit wird hier realisiert durch die unendliche Mannigfaltigkeit des Individuellen. Gerade darin aber liegt die Brechung eines allgemein determinierenden Prinzips im Sinne einer blinden, absoluten Notwendigkeit, der nicht zu entrinnen ist. Für Schlei­er­macher sind die geschichtlichen Veränderungen auf der Linie des Fortschritts und die individuelle Mannigfaltigkeit der Menschheit Beweise dafür, dass keine Festlegung auf einen bestimmten Zustand besteht. Auf dieser Grundlage können Determinismus und Freiheit miteinander in Einklang gebracht werden. Freiheit liegt nicht Willkür, sondern »Abwesenheit einer Nöthigung« (KGA I/1, 334) zugrunde; sie ist ein Sich-verhalten-Können im Rahmen des Determinierten und insofern auch Setzen von Determinationen. An diesem Punkt ist nun das Freiheitsgefühl zu verorten und näher zu bestimmen. Es ist ein Gefühl, welches denjenigen Gefühlen verwandt ist, die »in uns bei der Zurechnung sittlicher Handlungen gegen andere entstehen«, mit dem wir aber »mehr bei unserm Ich stehn bleiben«; dieses Gefühl »erwacht unausbleiblich in uns, so oft wir uns unsrer selbst als moralischer Wesen ausdrüklich bewust werden«; es ist »Selbstgefühl« (KGA I/1, 282). Dies ist in einem emphatischen Sinne zu nehmen, denn das Selbst in diesem Kontext ist das Individuum in der Einheit seiner Vermögen; entsprechend ist das Selbstgefühl dem koordiniert, was Schlei­er­macher in Anlehnung an Kant als »reines Selbstbewußtsein« bestimmt hatte. Wir finden dieses Gefühl »ohne willkührliche Herbeirufung auch in Bezug auf einzelne Zeiten und Handlungen bei allen Gelegenheiten, es ist die einzige Voraussezung unter der wir sittlich zu handeln beschließen Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 23

oder uns als sittlich handelnd zu irgend einer Zeit denken können ja es ist das, worauf alle die Gefühle, die das moralische Bewustseyn ausmachen, und die uns zu allen Zeiten bei unsern Handlungen leiten, sich beziehn können« (KGA I/1, 283). Das als Selbstgefühl verstandene Freiheitsgefühl wird damit nicht nur zum zentralen Bezugspunkt aller moralischen Gefühle, sondern tritt als kontinuierlich anwesend zugleich in die Funktion des Kantischen »Ich denke« ein, welches alle Vorstellungen muss begleiten können.10 Angesichts solch starker Thesen muss bezweifelt werden, dass Schlei­er­machers Apologie des Determinismus in der Freiheitsschrift eine deterministische Ethik begründe, wie dies einige Interpreten nahelegen. Viel eher vertritt Schlei­er­macher, wie Kant, eine kompatibilistische Position, die es erlaubt, Notwendigkeit und Freiheit zusammenzudenken. Dies geschieht auf mehreren Ebenen. Mit Kant verteidigt er die Vernunftbestimmtheit des Sittengesetzes, das aber eben darum von der Empirie – dem Reich der Notwendigkeit – nicht tingiert werde. Im Unterschied zu Kant ist mit dem Sittengesetz jedoch ein Gefühl der Lust verbunden, welches das Begehrungsvermögen zu empirischen Handlungen veranlassen können soll, so dass zwar nicht das Sittengesetz als solches, wohl aber das sich auf dieses Gesetz richtende moralische Gefühl zur Empirie vermitteln könne. Entscheidend aber ist, dass für Schlei­er­macher im Reich der Notwendigkeit selbst ein Ermöglichungsgrund der Freiheit darin liegt, dass die Totalität der Determinationen sich nicht zu einer blinden Notwendigkeit zusammenschließt, sondern auch reale Möglichkeiten determiniert, die Freiheit im Sinne von Handlungsalternativen und damit Abwesenheit von Zwang begründen.    Schlei­er­macher selbst, so scheint es, gehörte um 1789 zu den 3

aufgeklärten Verächtern der Religion.11 Im Oktober 1789 schrieb er an seinen Freund Brinckmann: »Meine Parthie […] ist unwiderruflich genommen, und wenn Wizenmann […] und Sokrates selbst zur Vertheidigung des Christenthums aufstehn […] so werden sie 10 Vgl. KrV B 131 f., AA 3, 108; auf diese Parallele zu Kant hat Meckenstock,

Deterministische Ethik, 91 f., erstmals hingewiesen. 11 Die folgenden Ausführungen stellen im Wesentlichen eine Zusammenfassung meines unten abgedruckten Aufsatzes Schlei­er­macher und die Reli­ gions­kritik der Aufklärung dar. 24 | Kontexte 

mich nicht zurükbringen« (KGA V/1, 156).12 In den zwischen 1789 und 1792/93 entstandenen Jugendschriften Schlei­er­machers spielt die Religion daher, selbst in der ganzheitlichen Sicht auf das Leben, keine eigenständige Rolle. Vielmehr wird, wie z. B. in der Freiheitsschrift, bereits das Gleichgewicht des Interesses an Religion und »Spekulation« zum Hindernis erklärt, die spekulative Position zu entwickeln (vgl. KGA I/1, 325). Das Christentum gilt Schlei­er­macher, hierin ist er sich mit seinem Freund Brinckmann einig, als »Volksreligion von reiner Moral« (Von Brinckmann, 26. 6. 1789, KGA V/1, 126); Schlei­er­macher nennt es »eine Sammlung von Sittenregeln für jedermann brauchbar […] vermischt mit einigen Lehrsäzen, die sich, da sie sich blos auf das Judenthum bezogen, auch nur unter den Juden und ihren Nachkommen erhalten haben würden« (An Brinckmann, 28. 9. 1789, KGA V/1, 153). 1789 hält Schlei­er­macher dafür, dass die Religion (und er spricht hier nur vom Christentum) eine Morallehre sei, die vorzugsweise durch die philosophische Vernunft begründet werden müsse. Diese Position unterscheidet sich von der späteren, nach der Vernunft und Religion, philosophischer und theologischer Gottesgedanke einander entsprechen, ohne sich wechselseitig zu begründen. Schlei­er­macher kritisiert um 1789 aber nicht nur die christliche Dogmatik, wie aus den hierfür einschlägigen »Briefen« An Cecilie (1790) hervorgeht, die Günter Meckenstock zu Recht unter den Titel einer »Krisis des religiösen Bewußtseins« gestellt hat.13 Das Fragment bezieht sich auf den Gedankenaustausch zwischen Brinckmann und Schlei­er­macher, der in fiktiven Briefen des Ich-Erzählers Schlei­er­macher an eine junge, empfindsame Frau gespiegelt wird. Nur scheinbar findet die religiöse Krisis – mit der Schlei­er­macher seine eigene Glaubenskrise verhandelt  – eine Lösung im Zusammenstimmen von »Herz und Vernunft« (KGA I/1, 211), indem, in Entsprechung zur Position Kants, die Sittlichkeit die Annahme der bezieht sich auf Thomas Witzenmann, Die Geschichte Jesu nach dem Matthäus als Selbstbeweis ihrer Zuverläßigkeit betrachtet, Leipzig 1789; Johann Konrad Pfenninger (Anonym), Sokratische Unterhaltungen über das Aelteste und Neueste aus der christlichen Welt, 3 Teile, Leipzig 1786– 1792. 13 Meckenstock, Deterministische Ethik, 132–147; vgl. auch Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit, 167–180. 12 Schlei­er­macher

Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 25

Ideen Gottes als des höchsten Wesens und die Annahme der Unsterblichkeit der Seele verlangt. Schlei­er­macher deutet zum Schluss des Fragments an, dass dies nur ein »Ruhepunkt für eine Weile« sei und man nicht »in dieser schöneren Gegend der Philosophie auf immer wohnen« könne (KGA I/1, 212). Damit zeichnet sich ab, dass er mit Kant die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit der Seele als theoretische Gewissheiten kritisiert, über Kant hinausgehend aber auch – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – bereit ist, sie als Postulate der reinen praktischen Vernunft aufzugeben. In diesem Überschritt über Kant liegt Schlei­er­machers Radikalisierung der aufklärerischen Religionskritik. Dabei bleibt jedoch weitgehend in der Schwebe, inwieweit Schlei­er­macher Religion als solche kritisiert oder inwieweit er nur eine Religion kritisiert, die meint, sich dogmatisch und philosophisch absichern zu müssen. Für das Erstere sprich immerhin nicht nur seine (wenn auch temporäre) Absage an das Christentum, sondern auch, dass Religion inhaltlich nur als Sittenlehre vorkommt, die allein aus der Vernunft zu begründen sei. Auf der anderen Seite lassen aber die Briefe An Cecilie erkennen, dass die Seite des Herzens in den »unfruchtbare[n] und trostlose[n] Provinzen« (KGA I/1, 212) der Philosophie, in welche die Vernunft uns treibt, keine Befriedigung findet. Dagegen steht aber wiederum die Einsicht in der Schrift Über den Werth des Lebens, dass erst im Verzicht auf den großen Enthusiasmus Verstand und moralischer Sinn »Spuren von Glükseligkeit« finden können, die nicht illusionär sind und die mit dem Schicksal versöhnen (vgl. KGA I/1, 470 f.). Schlei­er­macher, dies macht bereits seine Abhandlung Über das höchste Gut (1789) deutlich, geht mit Kant sogleich über Kant hinaus. Er sieht das Christentum ausdrücklich als eine Philosophie[!] an, welche – nach Unterdrückung der (neu-)platonischen Schwärmerei – »allein die Stelle aller Sittenlehre vertreten« habe (KGA I/1, 118 f.). Im Praktischen liege das Christentum der Kantischen Philosophie nahe, im Theoretischen jedoch seien beide einander »fast gänzlich entgegengesezt«, weil »ein jedes von beiden da anfängt wo das andre aufgehört hat, und da aufhört, wo das andre anfing«: das Christentum beginne mit dem Willen Gottes, um daraus das höchste Gut abzuleiten, während Kant vom Begriff des höchsten Gutes ausgehend das Dasein Gottes postuliere (KGA I/1, 119). 26 | Kontexte 

Der Grundfehler bestehe vor allem darin, dass beide, Kant und die christliche Sittenlehre, die »Glükseligkeit als Theil des höchsten Guts« (KGA I/1, 119) ansehen, auch wenn diese bei Kant ins Jenseits verlagert werde, weil wir im irdischen Leben nur Glückswürdigkeit erwerben können, aber keine unmittelbare Relation zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit bestehe. Nach Schlei­er­macher ändert diese Verschiebung jedoch nichts, da unter den Bedingungen fortdauernder Sinnlichkeit auch der Hiatus zwischen Tugend und Glückseligkeit fortbestehe oder, unter den Bedingungen eines nichtsinnlichen Jenseits, die Glückseligkeit obsolet bleibe (KGA I/1, 102). Dagegen möchte Schlei­er­macher die Glückseligkeit und mit ihr die Sinnlichkeit aus dem Begriff des höchsten Gutes ausschließen, denn erst durch diese Vermischung von Sittengesetz und Empirie werde es nötig, im ethischen Kontext zum Gottesbegriff Zuflucht zu nehmen. Die Vernunft aber müsse autonom bleiben und »das, was bei der ganzen Sache sie unmittelbar angeht, auch allein und aus ihren eignen Mitteln in Richtigkeit bringen« (KGA I/1, 88). Das höchste Gut sei kein empirisch zu realisierender Zweck; es sei vielmehr »der vollkomne Inbegrif alles deßen was nach gewißen Regeln in einer gewißen Verfahrungsart nemlich der ungemischten rein rationalen zu erlangen möglich ist« (KGA I/1, 90 f.). Damit wirft Schlei­er­macher Kant Inkonsequenz vor, nämlich das Verlassen einer rein rationalen, im Bereich der intelligiblen Welt bleibenden Begründung der Sittlichkeit; er mobilisiert gewissermaßen die Kantische Unterscheidung von intelligibler und sinnlicher Welt gegen Kants Festhalten an der Verbindung von Sittlichkeit und Glückserwartung, aus welcher sich das Postulat der Existenz Gottes ableitet.     Tatsächlich geht Schlei­er­macher gerade in der Frage der rein4

rationalen Begründung des Sittengesetzes sehr bald einen anderen Weg als Kant. Bereits in der Abhandlung Über die Freiheit (ca. 1790–1792) wendet sich Schlei­er­macher gegen die Kantische Theorie intellektueller Vermögen und gegen die Trennung von mundus intelligibilis und mundus sensibilis, indem er den Gedanken der lebendigen, unteilbaren Individualität betont: »es ist umsonst den Menschen zu teilen, alles hängt an ihm zusammen, alles ist eins« (KGA I/1, 241). Indem das Individuum Schnittpunkt von theoreSchlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 27

tischer und praktischer Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit, Sittengesetz und Naturgesetz, Freiheit und Notwendigkeit ist, müssen diese Gegensätze in der Philosophie auch überwunden werden. Schlei­er­macher überwindet damit die Perspektive der Sollensethik und begründet Ethik als eine Theorie der individuellen Realisierung von Sittlichkeit im geschichtlichen Prozess. Dieser Ansatz wird in der zur Publikation verfassten, dann aber doch ungedruckten Abhandlung Über den Wert des Lebens (1792/93) weiter ausgeführt, in der die Französische Revolution und Rousseau ein starkes Echo finden. Der Mensch sei »der freigelassene des Schicksals« (KGA I/1, 429), findet sich aber der Natur entfremdet und von anderen Menschen unterdrückt. Erst in der Gleichheit, die jetzt in das Freiheitsgefühl mit eingetragen wird, könne Freiheit realisiert werden. Einen weiteren Schritt in der Ausarbeitung seiner philosophischen Positionen geht Schlei­er­macher, indem er – vermittelt durch Friedrich Heinrich Jacobi – Kant mit Spinoza konfrontiert und ergänzt. In den 1793/94 entstandenen Manuskripten Spinozismus und Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems schließt er  – unabhängig von entsprechenden Versuchen in den Jenaer frühidealistischen und frühromantischen Diskursen – die kritische Philosophie mit Spinozas Metaphysik zusammen. In dem Manuskript Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems heißt es hierzu, der Kantianismus scheine, »wenn er sich selbst versteht, auf Spinozas Seite zu seyn« (KGA I/1, 570). Begründet wird dies damit, dass das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen bei Spinoza insoweit mit dem Verhältnis von Noumenon und Phänomenon bei Kant zusammenstimme, als beide in dem Bedürfnis übereinkommen, »den Dingen unsrer Wahrnehmung ein anderes Daseyn unterzulegen welches außer unserer Wahrnehmung liegt« (KGA I/1, 573). Spinozas Fehler, auf dem »die einzige Differenz zwischen ihm und Kant« (KGA I/1, 575) beruhe, bestehe darin, »eine positive Einheit und Unendlichkeit zu behaupten« (KGA I/1, 574), obwohl die uns einsehbaren Attribute Gottes oder des Unendlichen auch bei ihm letztlich nur unserem eigentümlichen Vorstellungsvermögen entsprächen. Diese Konfrontation läuft auf eine wechselseitige Korrektur beider Positionen aneinander hinaus: Spinoza macht dem kritischen Idealismus Kants die unabdingbare Voraussetzung eines bewusstseinstranszendenten Seins und damit einer objektiven Philosophie deutlich; 28 | Kontexte 

Kant hingegen macht dem Spinozismus deutlich, dass dieses Sein für uns nur im Rahmen begrenzter subjektiver Erkenntnisvermögen und nicht an und für sich thematisierbar ist. Im Ergebnis wird der transzendentale Gedanke einer vernunftkritisch gebrochenen Substanzmetaphysik eingeordnet. Schlei­er­macher versteht seither den Erkenntnisprozess ontologisch als ein Entsprechungsverhältnis von Denken und Sein, hält aber zugleich an der wissensmäßigen Unerkennbarkeit des Unbedingten oder Absoluten fest. Einen bedeutenden Raum nimmt das Problem der Individuation ein; gegen Jacobis Behauptung, Spinoza könne Individuation nicht wirklich denken, da nach ihm nur die einzige Substanz Bestand habe, versucht Schlei­er­macher den Nachweis, dass in Spinozas Philosophie ein »Princip der Trennung der Objecte« (KGA I/1, 553) vorhanden sei und »ein jedes einzelnes Ding seine eigene verschiedene Lebenskraft habe« (KGA I/1, 554). Hiermit ist der Spinozismus für Schlei­ er­macher erst anschlussfähig für die ethischen Überlegungen, die im Zentrum seines philosophischen Interesses stehen und in denen es um die empirischen, endlichen Subjekte und ihre Freiheit geht. Mit der Kombination von Kant und Spinoza ebenso wie mit seinem besonderen Interesse an der Individualität im Rahmen einer geschichtlichen Vermittlung von Natur und Freiheit und seinem Enthusiasmus für die Französische Revolution gerät Schlei­er­macher in eine Entsprechung zur frühromantischen Philosophie, wie sie sich nahezu zeitgleich bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis) herausbildet. Die Begegnung mit Friedrich Schlegel in Berlin 1796 erfolgte daher auf Augenhöhe und ihr ›Symphilosophieren‹ war gegenseitiger Austausch und nicht einseitige Abhängigkeit.     Mit der Formierung seiner philosophischen Grundpositionen 5 in der Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza scheint die Kantische Philosophie für Schlei­er­macher nur noch ein negativer Abstoßungspunkt zu sein. In einem Brief an Henriette Herz vom 10. August 1802 schreibt Schlei­er­macher: »Wie wenig habe ich den Platon, als ich ihn zuerst auf Universitäten las, im ganzen verstanden […], und wie habe ich über Kant, den ich damals auch etwa mit ebensoviel Glück und Kraft studirte, ganz dasselbe Gefühl gehabt von seiner Halbheit, seinen Verwirrungen, seinem Nichtverstehen Anderer und seiner selbst, wie jetzt bei der reifsten Einsicht« (KGA V/6, 70). Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 29

Ausdruck dieser Position ist bereits Schlei­er­machers Rezension der Kantischen An­thro­po­lo­gie in pragmatischer Hinsicht (1798), die 1799 anonym im Athenaeum der Brüder Schlegel erschien. Sie kommt zu dem Ergebnis, Kants Werk sei »vortreflich […], nicht als An­thro­ po­lo­gie, sondern als Negation aller An­thro­po­lo­gie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist« (KGA I/2, 366). Woran Schlei­er­macher sich vor allem stößt, ist die Unterscheidung von physiologischer und pragmatischer An­thro­ po­lo­gie, wie Kant sie in seiner Vorrede in Übereinstimmung mit der überkommenen von »anthropologia physica« und »anthropologia moralis« vorgenommen hatte.14 Schlei­er­macher sieht darin einen Gegensatz aufgestellt, der ganz »in Kants Denkart« gründe (ebd.). Die physiologische Frage, »was die Natur aus dem Menschen macht«, und die pragmatische, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht«,15 lösen sich für Schlei­er­macher von vornherein in eine auf: »alle Willkühr im Menschen ist Natur, […] alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber An­thro­po­lo­gie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existiren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung« (ebd.). Die Kritik an Kant (und zugleich an Fichte) in Bezug auf die Fragen der Ethik findet ihren Höhepunkt und Abschluss in den 1803 publizierten Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (KGA I/4, 27–357). Hier versucht Schlei­er­macher durchgängig zu zeigen, dass sich auf der Grundlage der Kantischen Philosophie eine Ethik systematisch nicht begründen lässt;16 die zum Teil ätzende Polemik speziell gegen Kant forderte viele Zeitgenossen und auch Freunde Schlei­er­machers zur Kritik heraus.17 An­thro­po­lo­gie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, 119. – Vgl. Johann Georg Walch, An­thro­po­lo­gie, in: Philosophisches Lexicon, Leipzig 41775, 173 f. 15 Friedrich Schlei­er ­macher, Pädagogische Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M. u. a. 1983, 41. 16 Vgl. Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schlei­er­macher, Gütersloh 1974; Herms zeigt, wie die philosophischen Entwicklungslinien Schlei­er­machers – auch in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Kant – in den Grundlinien zusammenlaufen. 17 Vgl. Andreas Arndt, Kommentar, in: Friedrich Schlei­er­macher, Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt/M. 1996, 1170 f. 14 Kant,

30 | Kontexte 

Was Schlei­er­macher gegenüber Kant anmahnt, ist die Einheit von Natur- und Sittengesetz, physischer und moralischer Welt, theoretischer und praktischer Vernunft, kurz: von Philosophie und Leben. Dieses Programm verbindet ihn mit Jacobi und der Frühromantik und bringt ihn in Gegensatz zu Kant und vor allem zu Fichte.18 In einem Begleitbrief zur Übersendung seiner 1800 erschienenen Schrift Monologen an seinen Studienfreund C. G. von Brinckmann heißt es, er – Schlei­er­macher – wolle sich im Rahmen des Idealismus »die wirkliche Welt […] warlich nicht nehmen laßen« (4. 1. 1800; KGA V/3, 316). Im ›Leben‹ sind für Schlei­er­macher der Idealismus der Freiheit und die ›wirkliche Welt‹ des Realismus vereint, und diese »Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist […] Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden […] Man kann innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich. […] Bei dieser großen Verschiedenheit hat es mir immer für die Philosophie leid getan, daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten […] Indes ist doch der Hauptpunkt unserer Verschiedenheit, daß ich nämlich die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne, auch im ersten Monologen schon stark genug angedeutet« (an F. H. C. Schwarz, 28. 3. 1801; KGA V/5, 73–76). Die »wirkliche Welt« – das ist für Schlei­er­macher das Leben und nur durch das Leben selbst und nicht durch eine von ihm abgesonderte Transzendentalphilosophie erschließt sich die Welt für uns. In diesem Sinne heißt es in den Notizen zur Hallenser Ethik-Vorlesung 1805/06, es müsse »die Idee des objectiven Wissens selbst als eines irdischen individuell aufgefaßt« werden, »als Identität eines Allgemeinen und eines Besonderen«.19 Und er fügt hinzu: »Hievon weichen gänzlich ab die gewöhnlichen Formeln der TranscendentalPhilosophie, die ein allgemeines objectives Wissens abstrahirt von 18

»Fichte […] habe ich freilich kennen gelernt – er hat mich aber nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm – wie er es auch als Theorie aufstellt – ganz getrennt« (an C. G. von Brinckmann, Ende 1799; KGA V/3, 313 f.). 19 Friedrich Schlei­er ­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. von Otto Braun, in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, Leipzig ²1927, 175. Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 31

aller Individualität sezen will, aber auf diese Art nur eine gehaltlose und unbestimmte Form erhalten kann«.20 Was, so ist nun abschließend zu fragen, bedeutet dies für die theoretische Philosophie? Wie eigentlich verhält sich der spätere Schlei­er­macher zur Kritik der reinen Vernunft, die der Herrnhuter Zögling zwar schon studiert hatte, mit der sich aber die frühen Entwürfe nie auseinandersetzen? In Schlei­er­machers Schriften und Entwürfen bis etwa 1808 nimmt die praktische Philosophie Kants einen breiten Raum ein; über seine Auseinandersetzung mit der Kritik der reinen Vernunft wissen wir aus dieser Zeit hingegen kaum etwas; im Blick auf die Kritik der Urteilskraft ist nicht einmal bekannt, ob Schlei­er­macher sie je gelesen hat. Mit den Vorlesungen über die Dia­lek­tik kommt dann seit 1811 Kants Kritik der reinen Vernunft stärker in den Blick, obwohl auch dort die explizite Auseinandersetzung mit Kant auf den ersten Blick nicht zentral zu sein scheint. Es gibt nur wenige ausdrückliche Bezugnahmen. Dies darf jedoch nicht darüber täuschen, dass Schlei­er­machers Projekt in seiner Struktur auf Kants Programm einer transzendentalen Logik in der Kritik der reinen Vernunft zurückgeht, die ja in der Analytik die vormalige metaphysica generalis (Ontologie) thematisiert, in der Dia­lek­tik die vormalige metaphysica specialis (rationale Psychologie, Kosmologie und rationale Theologie). Entsprechend versteht Schlei­er­macher seine Dia­lek­tik auch als Einheit von Logik und Metaphysik. So heißt es in Schlei­er­machers Entwurf zur Dia­lek­tik-Vorlesung 1814/15: »Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transcendentale Philosophie ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkührliche und fantastische.« (KGA II/10, 1, 77, § 16) Auch der Aufbau des ersten, transzendentalen Teils der Dia­lek­tik lehnt sich offenkundig an Kant an: parallel zur Kantischen Analytik wird zunächst in der Theorie des Begriffs und des Urteils, welche sich auf das wissbare Sein bezieht, die Ontologie thematisiert, sodann kommen mit der Präsenz des transzendentalen Grundes im (unmittelbaren) Selbstbewusstsein und mit den Ideen der Welt und Gottes die traditionellen Vernunftgegenstände ins Spiel. Hierbei erfolgt 20 Ebd.

32 | Kontexte 

eine tiefgreifende Revision, sofern Schlei­er­macher der rationalen Psychologie  – der Theorie des Selbstbewusstseins  – als Innewerden des transzendentalen Grundes einen systematischen Primat zuspricht. Sie subsumiert auch die Ontologie, »weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist.« (KGA II/10, 1, 152 f., § 228) Gegenstand der rationalen Psychologie ist »die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen.« (KGA II/10, 1, 77, § 16) Auch Kosmologie und Theologie werden somit der rationalen Psychologie zugeordnet. Schlei­er­macher kritisiert jedoch, dass den Denkbestimmungen bei Kant nur subjektive Bedeutung für unsere Erkenntnisart der »Dinge« zukommt, sie selbst aber keine objektive Bedeutung haben sollen. »Kants Polemik gegen die ehemalige Metaphysik«, so sagt er, sei »durch Mißverständnisse« verunreinigt (KGA II/10, 1, 153). Die »Idee der Gottheit« als der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns könne nicht nur regulativ sein, d. h. »Princip des formalen« – also unserer Form der Konstitution von Objektivität im Erkennen –, sondern sie müsse zugleich konstitutiv sein, nämlich unser Sein konstituierend. Dahinter steht die Auffassung, es komme beim Wissen, welches auf Wahrheit des Erkennens zielt, nicht auf einen Inhalt überhaupt, sondern auf die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gedachten an, und diese Übereinstimmung habe der transzendentale Grund zu sichern. Auch Schlei­er­macher wendet sich demnach gegen die bloße Subjektivität der Denkbestimmungen und spricht ihnen selbst objektive Bedeutung zu. Wenn er gleichwohl auf die Konstitution unseres Seins (und nicht des Seins überhaupt) abhebt, dann deshalb, weil unser Sein, wie es uns im reflektierten Selbstbewusstsein gegeben ist, der ausgezeichnete Ort der Wissens- und Handlungsvollzüge ist, in denen wir nach Schlei­ er­machers Auffassung schon immer die Zusammengehörigkeit von Denken und Sein (und damit die Objektivität der Denkbestimmungen) voraussetzen.21 21 Im

reflektierten Selbstbewusstsein ist uns dreierlei gegeben: (1) »daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider«, (2) dass »das Wissen selbst […] uns […] nur im Sein gegeben« sei, »aber als ein von ihm verschiedenes«, und (3), dass »ein gegenseiSchlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 33

Den Mangel der vormaligen Metaphysik sieht Schlei­er­macher darin, dass sie sich nicht unter der Form der Logik verstanden und begründet habe. In den Notizen zur Dia­lek­tik-Vorlesung 1818/19 heißt es: »Identität von Logik und Metaphysik unter der Form der Logik« (KGA II/10, 1, 211). Dies bedeutet, dass wir es in der Dia­lek­tik zunächst mit Denkbestimmungen zu tun haben. Die Dia­lek­tik ist »das System der Anweisungen, nach welchen das Denken erzeugt wird«; d. h. aber, sie fragt zugleich danach, »wie wir überhaupt zu einem Wissen auf dem realen Gebiet in uns kommen« (KGA II/10, 1, 125). Hierbei kommt es im Blick auf die logische Form auf das »in uns« an. Entsprechend sind die transzendentallogischen Formen in ihrer metaphysischen Bedeutung nichts anderes als die Denkformen, unter denen wir ein Wissen vollziehen. Damit diese Denkformen aber ein Wissen sind, müssen sie zugleich auch objektive Bedeutung haben, d. h.: sie müssen einem Sein entsprechen. In dieser Hinsicht ist die Logik dann zugleich Metaphysik, d. h. die metaphysische Bedeutung der logischen Formen hängt an dem Begriff des Wissens. Hierzu heißt es in der Dia­lek­tik-Vorlesung 1818/19: »die Einsicht von der Bewährung des Zusammenhanges zwischen dem Denken und Sein überhaupt ist die sogenannte Metaphysik.« (KGA II/10, 1, 110) Da Wissen Beziehung des Denkens auf das Sein ist, bilden Denken und Sein bzw. Ideales und Reales für das Wissen einen unhintergehbaren »höchsten Gegensaz«, der als Denkgrenze nach »oben« anzusehen und für Schlei­er­macher auf ein ungeteiltes Sein zurückzuführen ist, »welches ihn und mit ihm alle zusammengesezten Gegensäze aus sich entwikelt«; dies ist die »Idee des Seins« als Idee einer nichtrelationalen Identität (vgl. KGA II/10, 1, 101). Da alles Denken und Wissen jedoch relational verfasst ist, bedeutet dies notwendig, dass die Idee des Seins nicht gewusst werden kann; das Wissen ist auf den Bereich der Entgegensetzung beschränkt. Als solches steht es unter den Formen des Begriffs und des Urteils.22 Die Grenzen des Begriffs und des Urteils markieren die Grenzen tiges Werden« von Denken und Sein »durch einander in der Reflexion und im Willen gegeben« sei und niemand glauben könne, »daß beide beziehungslos neben einander hingehen«. (KGA II/10, 1, 93) 22 Der Schluss gilt Schlei­er­macher, anders als in der traditionellen formalen Logik, nicht als eine eigenständige Form, sondern nur als Kombination 34 | Kontexte 

des Wissens. Der Syllogismus dagegen wird von Schlei­er­macher nicht als eine eigenständige logische Form anerkannt, sondern nur als eine Komplexion von Urteilen im Sinne eines abgeleiteten Wissens, dessen Gehalt allein in den Urteilen liegt (vgl. KGA II/10, 1, 102 und KGA II/10, 2, 167 f.).23 Wie in der Analytik von Kants Kritik der reinen Vernunft wird der Bereich des objektiv gültigen Wissens auf Begriff und Urteil beschränkt; der Schluss jedoch, der in Kants transzendentaler Dia­lek­tik der vergeblich auf das Unbedingte ausgreifenden Vernunft zugehört, hat bei Schlei­er­macher keine eigenständige Bedeutung mehr. An die Stelle des Schlusses und der trans­ zendentalen Dia­lek­tik insgesamt muss daher etwas Anderes treten, um die Idee des Seins als den im Wissen in Anspruch genommenen Grund der Einheit von Denken und Sein plausibel zu machen. Dies ist das unmittelbare Selbstbewusstsein, das mit einem »Gefühl« verknüpft und als Analogon des transzendentalen Grundes, der Idee Gottes, verstanden wird. Während die Kombination von Kant und Spinoza Schlei­er­ macher mit der Philosophie um 1800 überhaupt und besonders mit der Frühromantik in eine Entsprechung bringt, nähert ihn seine spätere Auseinandersetzung mit der Kritik der reinen Vernunft in den Vorlesungen über die Dia­lek­tik der Hegelschen Philosophie an: mit gleicher Intensität hat nur Hegel im Rückgang auf Kant das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik unter der Form der Logik vertreten. Kant jedenfalls ist für Schlei­er­macher nicht irgendein Philosoph, mit dem er sich auch auseinandersetzt, sondern der Philosoph, an dem er sich seit seiner Jugend abarbeitet. Gerade deshalb gehört Schlei­er­macher auch auf den Boden der nachkantischen Klassischen Deutschen Philosophie und repräsentiert weder ein vorkritisches noch ein »nachidealistisches« Denken.

von Urteilen; hierzu vgl. Friedrich Ueberweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, Bonn 41882, 61–63. 23 Überwegs Behauptung, Schlei­ er­macher spreche dem Syllogismus im technischen Teil durchaus Bedeutung zu, trifft nicht zu (Ueberweg, System der Logik, 63; KGA II/10, 1, 194). Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant | 35

Schlei­er­macher und Fichte »Ich halte mich mehr an die angenehmen als an die gelehrten Gesellschaften. Die Philosophie liegt freylich hier im Argen. Doch habe ich einen Prediger Schleyermacher gefunden, der Fichtes Schriften studirt und das Journal mit einem andern Interesse als dem der Neugier und Persönlichkeit liest.« (KFSA 24, 12) Was Friedrich Schlegel am 26. August 1797, knapp einen Monat nach seiner Ankunft in Berlin, an Friedrich Immanuel Niethammer berichtet, markiert den Beginn eines einzigartigen »Symphilosophierens« und damit den Beginn der philosophischen Berliner Frühromantik. Bereits am 21. Dezember zieht Schlegel in Schlei­er­machers provisorische Predigerwohnung vor dem Oranienburger Tor, die dieser für die Zeit des Umbaus der Charité zugewiesen bekommen hatte. Das Zusammenleben, das von den Freunden scherzhaft als »Ehe« bezeichnet wird, in der Schlei­er­macher die Rolle der Frau einnehme,1 dauert bis zu Schlegels Wegzug nach Jena im September 1799. Für Schlegel war Schlei­er­macher, wie er bereits 1797 an den Bruder August Wilhelm schrieb, derjenige, mit dem er seine »Ideen von Symphilosophie« realisieren konnte (28. 11. 1797; KFSA 24, 31). Umgekehrt hatte auch Schlei­er­macher in dem Freund einen Geistesverwandten gefunden, dem er seine »philosophischen Ideen so recht mittheilen konnte und der in die tiefsten Abstraktionen mit mir hineinging […]. Kurz für mein Daseyn in der philosophischen und litterarischen Welt geht seit meiner nähern Bekanntschaft mit ihm gleichsam eine neue Periode an« (an Ch. Schlei­er­macher, 22. 10. 1797, KGA V/2, 177). Am Beginn dieser neuen Periode stand offenbar das gemeinsame Interesse an Fichtes Philosophie, und so traf sich Schlegel schon im September 1797 mit Schlei­er­macher, um – wie er schreibt – »mit ihm zu Fichtisiren« (an C. G. von Brinckmann, KGA V/2, 23). Dies 1 Vgl.

219.

Schlei­er­macher an Charlotte Schlei­er­macher, 31. 12. 1797, KGA V/2,

 37

scheint die in der Forschung seit langem verbreitete und bis heute weithin akzeptierte These zu stützen, Fichtes Philosophie habe auf die Formierung der frühromantischen und besonders der Friedrich Schlegelschen Philosophie einen entscheidenden Einfluss ausgeübt.2 Demnach habe Schlegel sich während seines ersten Jenaer Aufenthaltes (ab Sommer 1796) zunehmend an Fichte orientiert und die dabei gewonnene Konzeption dann unter dem Einfluss Schlei­er­machers durch dessen Moralkritik und die Einbeziehung der Religionsthematik modifiziert. Für Schlei­er­macher dagegen ist das für Friedrich Schlegel postulierte Fichte-Erlebnis nicht nachweisbar; sein Denkweg vor der Begegnung mit Schlegel stellte sich, wie bereits Wilhelm Dilthey treffend schrieb, »als eine Combination von Kant und Spinoza« dar (Dilthey 1870, 298). Auch in der Zeit des Symphilosophierens mit Schlegel finden sich bei Schlei­er­macher, bei allem Respekt gegenüber Fichte, eher distanzierende Bemerkungen zu dessen Philosophie; ein Fichte-Erlebnis lässt sich hier nicht ausmachen. In den symphilosophischen Projekten der Berliner Frühromantik spielt Fichte keine besondere Rolle; sie beziehen sich auf einen »Anti-Leibniz« (zu dem es immerhin Vorarbeiten gibt, KGA I/1, 75–103), auf die Herausgabe eines »Philosophischen Journals«, das die Freunde mit eigenen Beiträgen bestreiten wollten, und natürlich auf die gemeinsame Übersetzung des Platon. Was also, so ist zu fragen, hat es angesichts dessen mit dem »Fichtisieren« auf sich? Schlei­er­machers Denkweg nimmt seinen Ausgang bei Kant, allerdings in einem aristotelisch orientierten ethischen Kontext; im Mittelpunkt steht der Freiheitsbegriff in der Kritik der praktischen Vernunft. Mit dem Studium Spinozas anhand der zweiten Auflage der Jacobischen Spinoza-Schrift in den Jahren 1793/94 wird dann aber die kritische Philosophie Kants insgesamt mit Spinoza rekombiniert. Im Ergebnis wird der transzendentale Gedanke einer vernunftkritisch gebrochenen Substanzmetaphysik eingeordnet.3 In dieser Hinsicht optiert Schlei­er­macher wie Friedrich Schlegel für eine objektive Philosophie. Durch die Orientierung auf den Kantischen Freiheitsbegriff verfügt Schlei­er­macher dabei auch schon vor der Begegnung mit Fichte über ein Konzept zuletzt Bärbel Frischmann, Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus, Paderborn u. a. 2005, 17 ff. 3 Vgl. dazu oben Schlei­e r­machers Auseinandersetzung mit Kant. 2 Vgl.

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von Subjektivität und Individualität. Dieses Konzept auf dem Boden eines objektiv gerichteten Philosophierens zu entfalten, dürfte eines der Themen beim gemeinsamen »Fichtisieren« von Schlei­er­ macher und Schlegel gewesen sein.4 Gegenüber Fichte wahrt Schlei­er­macher dabei durchgängig eine kritische Distanz. An ihm vermisst er vor allem die Einheit von Philosophie und Leben, an der ihm – mit Friedrich Heinrich Jacobi – besonders gelegen war.5 Die angestrebte Vereinigung von Philosophie und Leben bedeutet für Schlei­er­macher die Vereinigung von Idealismus und Realismus, aber nicht im Sinne Fichtes als Einholen der »natürlichen«, realistischen Einstellung durch den vollendeten kritischen Idealismus,6 sondern im Sinne eines aus Spinoza abgeleiteten Objektivismus. Fichte wird von Schlei­er­macher im Rahmen seiner vorgängigen Kritik an Kants Freiheitsbegriff als ein konsequenter Idealismus der Freiheit rezipiert, die Begründung dieses Idealismus jedoch für defizitär gehalten. Fichte nähme die Natur und das alltäglich gelebte moralische Leben nicht in ihrer eigenen, positiven Bedeutung ernst, sondern betrachte sie als ein bloß negatives, vom Ich Gesetztes und zu Überwindendes. In seiner im Athenaeum erschienenen Rezension der Fichteschen Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800) argumentiert Schlei­er­macher, dass weder der Idealismus noch der Realismus die Selbstbestimmung aus Freiheit darlegen könnten; diese Einsicht könne nur »aus der innern Stimme des Gewissens unmittelbar« hervorgehen (KGA I/3, 242). Wenn, so heißt es, »der theoretische bereits Wilhelm Dilthey, Leben Schlei­er­machers, Berlin 1870, 320, gesehen hat, übernimmt – unter dem Einfluss Schlegels – bei Schlei­er­macher zunehmend Platon die Stelle Spinozas, während Schlegel den zunächst auf Platon bezogenen Enthusiasmus nun auch mit dem pantheistisch gedeuteten Spinozismus in Verbindung bringt. 5 »Fichte […] habe ich freilich kennen gelernt – er hat mich aber nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm – wie er es auch als Theorie aufstellt – ganz getrennt« (an C. G. von Brinckmann, Ende 1799; KGA V/3, 313 f.). 6 »Demnach ist der tiefere Sinn der obigen Synthesis folgender: Ideal- und Real-Grund sind im Begriffe der Wirksamkeit (mithin überall, denn nur im Begriffe der Wirksamkeit kommt ein Real-Grund vor) Eins und eben dasselbe. Dieser Saz, der den kritischen Idealismus begründet, und durch ihn Idealismus und Realismus vereinigt, will den Menschen nicht eingehen; und daß er ihnen nicht eingehen will, liegt am Mangel der Abstraktion.« (Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, FGA I, 2, 326). 4 Wie

Schlei­er­macher und Fichte | 39

Idealismus für den, der sich außer der Schule befindet, nur dient, um die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche die realistische Spekulation seinem Gelangen zum Bewußtsein der Freiheit verursachen könnte: so ist er ihm warlich überall nicht brauchbar, weil ja jene Spekulation nur eine Verkünstelung des Verstandes ist, und außer der Schule ebenfalls nicht vorkommen kann. Sollte aber nicht Fichte seiner theoretischen Philosophie Unrecht thun unter uns Unphilosophen, oder Naturphilosophen, wenn er sie für uns nur auf diesen Gesichtspunkt stellt? Sollte man nicht vom Moralismus aus, sobald man nur über ihn denken will, auch nothwendig auf den Idealismus kommen müßen?« (KGA I/3, 242 f.) Der nicht aus dem lebendigen Moralismus, der Stimme des Gewissens, abgeleitete Idealismus der Freiheit ist für Schlei­er­macher – wie auch sein Gegenpart, der theoretische Realismus – nur eine Abstraktion oder »Verkünstelung« des Verstandes. Mit seiner Kritik repliziert Schlei­er­macher auf einen Angriff Fichtes, denn im ersten Teil seiner Schrift nimmt Fichte in der Charakteristik des Determinismus offenkundig auf Schlei­er­machers Reden über die Religion (1799) Bezug. Seine Quintessenz lautet: »Ich bin eine durch das Universum bestimmte Aeußerung einer durch sich selbst bestimmten Naturkraft« (FGA I, 6, 207). Was, so fragt Fichte weiter, sei gegen diese Vorstellung überhaupt einzuwenden? »Begebe ich mich auf ihren Grund und Boden, auf den so gerühmten Standpunkt einer Uebersicht des Universum, so muß ich ohne Zweifel mit Erröthen verstummen. Es ist also die Frage, ob ich überhaupt auf diesen Standpunkt mich stellen, oder in dem Umfange des unmittelbaren Selbst-Bewußtseyns mich halten; ob der Erkenntniß die Liebe, oder der Liebe die Erkenntniß untergeordnet werden solle« (FGA I, 6, 214).7 Anspielung auf Schlei­er­machers in den Reden gebrauchtes Bild für die ursprüngliche Einheit von Anschauung und Gefühl – die bräutliche Umarmung des Universums mit dem anschließenden Erröten des Jünglings – scheint mir evident zu sein: »Die geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich meße sie, und sie spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor, und verbreitet sich wie die Röthe der Schaam und der Lust auf seiner Wange«. (KGA I/2, 221 f.) 7 Fichtes

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In seinen Monologen (1800), die fast zeitgleich mit Fichtes Bestimmung des Menschen erschienen waren, hatte Schlei­er­macher ausdrücklich den Standpunkt der »Unphilosophie« als Zugang zur moralischen Weltansicht bezogen, welche mit dem Standpunkt des Idealismus übereinkommen soll. Diese anonym erschienene Schrift, die von einigen Zeitgenossen zunächst als Produkt Fichtes angesehen wurde und in der Forschung vielfach als Beleg für den Fichteschen Einfluss auf Schlei­er­macher galt, ist in Wahrheit ebenso ein Manifest für den Idealismus der Freiheit wie gegen den Begründungszusammenhang der Fichteschen Philosophie selbst. Am deutlichsten wird dies in Schlei­er­machers Selbstanzeige: »Dieses Büchlein enthält die Aeußerungen eines Idealisten über die wichtigsten Verhältnisse des Menschen, und macht mit der eigenthümlichen Denkungsart bekannt, welche diese Philosophie, in dem Verfasser wenigstens, begründet hat«; dies ermögliche es, »Gegenstände mit denen Jeder zu thun hat, aus dem Gesichtspunkt des Verfassers zu betrachten, und die Lehre zu welcher er sich bekennt von einer andern als der gewöhnlichen Seite in ihrem Einfluß auf den Charakter und das Leben kennen zu lernen«.8 Man vergleiche damit Fichtes Aussage in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), wo es explizit heißt: »Der Idealismus kann nie Denkart seyn, sondern er ist nur Speculation.« (FGA I, 3, 210 f.) Schlei­er­macher hat seine Worte offenbar sehr bewusst gewählt, um seine Distanz zu Fichte deutlich zu machen. Diese besteht darin, dass er, wie es unter dem 4. 1. 1800 in einem Begleitbrief zur Übersendung der Monologen an C. G. von Brinckmann heißt, im Rahmen des Idealismus »die wirkliche Welt« sich »warlich nicht nehmen laßen« wolle (KGA V/3, 316). Seine Position gegenüber Fichte fasst Schlei­ er­ macher am 28. 3. 1801 in einem Brief an F. H. C. Schwarz prägnant zusammen: »Die Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist […] Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden […] Man kann innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich. […] Bei dieser großen Verschiedenheit hat es mir immer für die Philosophie leid getan, daß auch vertrautere 8 Berlinische

Zeitung vom 28. 12. 1799, zitiert in: KGA V/3, XXXVIf. Schlei­er­macher und Fichte | 41

Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten […] Indes ist doch der Hauptpunkt unserer Verschiedenheit, daß ich nämlich die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne, auch im ersten Monologen schon stark genug angedeutet« (KGA V/5, 73–76). Ein durchschlagender Einfluss Fichtes ist bei Schlei­er­macher nicht zu erkennen. Schlei­er­macher respektiert Fichte als einen dia­ lektischen Virtuosen,9 der aber  – so der immer wiederkehrende Vorwurf – dabei vom »Leben« abstrahiere. Die Idee einer Wissenschaftslehre als oberster »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften« (KGA I/4, 48), wie es in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) heißt, teilt Schlei­er­macher mit Fichte, meint aber, dass die »Erfindung« des Namens »Wissenschaftslehre« »vielleicht für ein größeres Verdienst zu halten ist, als das unter diesem Namen zuerst aufgestellte System« (ebd.). Der Grund liegt darin, dass Schlei­er­macher mit Schlegel der Philosophie aus einem obersten Grundsatz eine Absage erteilt. Die oberste Wissenschaft »darf selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann« (KGA I/4, 48). Eine solche Alternative zur Fichteschen Wissenschaftslehre entwickelt Schlei­er­macher dann seit 1811 in bewusster Konkurrenz zu Fichte in seinen Vorlesungen über die Dia­lek­tik.10

9 Vgl.

an C. G. von Brinckmann, 14. 12. 1803, KGA V/7, 158. II/10, 1.2; vgl. besonders die Historische Einführung, VIII–X.

10 KGA

42 | Kontexte 

Schlei­er­machers Ironieverzicht    Friedrich Schlegel, so eine nicht unumstrittene These, habe die 1

Abkehr vom frühromantischen Denken durch Ironieverzicht vollzogen.1 Schlegels Weggefährte Friedrich Schlei­er­macher, selbst einer der Protagonisten der Frühromantik und zugleich derjenige, der die frühromantischen Konzeptionen in eine systematische Form transformiert hat,2 hatte sich dagegen schon immer einer affirmativen Verwendung des Ironiebegriffs enthalten. Bereits Ingrid Strohschneider-Kohrs musste in ihrem umfassenden Werk über die romantische Ironie feststellen, Schlei­er­macher zeige das Bild »eines fast gänzlichen Mangels von Resonanz auf den Ironie-Begriff Schlegels«:3 »Alle […] Zeugnisse Schlei­er­machers lassen nichts erkennen von der hohen Begeisterung, mit der in der Romantik das Prinzip der Ironie als Ausdruck eines tiefgreifenden geistigen und künstlerisch wirksamen Geheimnisses neuentdeckt und als besondere Möglichkeit künstlerischer Spontaneität und Besonnenheit proklamiert wird.«4 Seit 1960, als dies gedruckt wurde, hat sich an diesem Befund auch durch die inzwischen zahlreich erschienen Bände der Kritischen Schlei­er­macher-Gesamtausgabe nichts geändert. Im Gegenteil, wir wissen jetzt, dass Schlei­er­macher spätestens in seiner Hallenser Vorlesung zur Philosophischen Ethik 1805/06 ausgesprochen kritisch zum Ironiekonzept der Frühromantik Stellung nahm. Eine solche ausdrückliche Bezugnahme war bisher nicht bekannt; sie findet sich in einer Nachschrift der Vorlesung durch den aus Bremen stammenden Medizinstudenten Adolf (bzw. Adolph) Wilhelm Matthias Schöningh, Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen ›Athenäum‹ und ›Philosophie des Lebens‹, Paderborn u. a. 2002. 2 Vgl. Jaeschke und Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, 254 ff. 3 Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen ³2002 (11960), 97. 4 Ebd., 100. 1

 43

Müller (1784–1811). In den anderen zu diesem Kolleg überlieferten studentischen Nachschriften findet sich diese Formulierung nicht: »Jedes Handeln was ein Aneignen muß zugleich wieder in die Gemeinschaft übergehen, also kein Handeln was auch Bildung, was nicht zugleich als Stiften der Liebe und persönlichen Verbindung. Die Individualität als sittlich gebildet darf sich am wenigsten isoliren. Wer noch nicht ethisch individualisirt ist nicht fähig für die größere Sphäre da ihr Gehalt leer, sobald nicht diese Bildung voraus. Daher die jetzige Denkungsart: die übrige Welt sei zu schlecht für einen individuell gebildeten und nur für die Persiflage gut und nur durch Ironie sei die Gemeinschaft der Gebildeten möglich. In dem Maaß einer individuell gebildet, ist er der Bildende und überlegen für die Gemeinschaft. Je lebendiger er sich seiner Individualität bewußt, desto mehr der Trieb sich zu offenbaren. Dies Handeln in der Zeit angesehen zerlegt sich in bestimmte Momente, als Besitzergreifen, und Bilden des in Besitz genommenen. Es gibt nicht Besitzergreifen ohne Bilden in die Individualität und umgekehrt: kein Bilden für die Individualität was nicht wieder ein Anbilden. Dies bestimmt das Maaß der Sittlichkeit für den einzelnen und die Masse die zu bilden, oft Fehlen dieser sittlichen Maxime: Anhäufung von Eigenthümlichem zum Bilden, dessen Masse aber zu groß, wodurch dies für das Bilden der andern verloren geht; von idealer Seite aber das Überladen von Planen in die Ferne die alles Bilden verderben. Oft Anweisung der Mäßigung, was bedeutet ein richtiges Verhältniß des realen wie idealen Eigenthümlichen zur bildenden Kraft; wenn diese hinter der bildbaren Masse zurückbleibt Trägheit.«5

Deutlicher lässt sich kaum sagen, dass Schlei­er­macher das früh­ romantische Ironiekonzept für verfehlt hält, und es ist offenkundig, dass er hier auf seinen ehemaligen Freund und Weggefährten Friedrich Schlegel anspielt, dem er sich zu dieser Zeit schon entfremdet, mit dem er aber noch nicht gebrochen hatte. Weshalb aber hat Schlei­er­macher von Anfang an das Ironiekonzept des Freundes nicht übernommen, sondern weitgehend ignoriert? Strohschneider-Kohrs legt nahe, dies habe daran gelegen, dass für Schlei­er­macher »Fragen der ästhetischen Formung und das Problem des künstlerischen Schaffens« in der Zeit der engen GemeinSchlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Müller (Winter 5/6. / Ethik. / Adolf Müller, Stadtbibliothek Bremen 134738, Bremen b. 652 Nr. 21), 128. 5

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schaft mit Friedrich Schlegel keine große Relevanz hatten.6 Das gilt jedoch nur sehr eingeschränkt, denn Schlei­er­macher diskutierte, wie aus dem Briefwechsel hervorgeht, mit dem Freund eingehend auch Fragen des literarischen Stils seiner eigenen Schriften – wie der Reden über die Religion (1799) und der Monologen (1800) – und unternahm darüber hinaus Versuche auf dem Feld der Poesie.7 Eine Erklärung für Schlei­er­machers Ironieverzicht, so meine These, hat vor allem an der philosophischen Bedeutung der Ironie-Figur anzusetzen, denn hier gibt es – trotz aller sonstigen, sehr weitgehenden Übereinstimmungen – von Anfang an eine fundamentale Differenz zwischen Schlei­er­macher und Friedrich Schlegel. Kurz gesagt: Für Schlegel ist die Ironie eine Reflexionsfigur der Beziehung auf das Absolute, während Schlei­er­macher die Beziehung auf das Absolute im Modus der Unmittelbarkeit denkt.    Die philosophische Figur der Ironie bezieht sich auf eine Pro­ 2

blematik der Kantischen Philosophie, die vor allem durch Friedrich Heinrich Jacobi als deren Begründungsdefizit ausgesprochen worden war. Es geht im Kern um die in der transzendentalen Dia­lek­tik der Kritik der reinen Vernunft dargelegte Unmöglichkeit, das Unbedingte denkend zu bestimmen und damit dem Verstandesdenken Grundlage und Halt zu verschaffen. Wir könnten, so heißt es in Jacobis Spinoza-Buch, nur »Ähnlichkeiten (Übereinstimmungen, bedingt nothwendige Wahrheiten) demonstrieren, fortschreitend in identischen Sätzen. Jeder Erweis setzt etwas schon Erwiesenes zum voraus«; und Jacobi fügt dem im Blick auf seine eigene Position hinzu: das »Principium« des Erwiesenen sei »Offenbarung«.8 Organ zum Empfangen dieser Offenbarung ist nach Jacobi schließlich das Gefühl, welches »das Wissen im Glauben begründet«.9 Dessen Unmittelbarkeit gelte, so Jacobi, »in Absicht auf uns, weil wir das eigentliche Mittelbare davon nicht erkennen«.10 Die romantische Ironie, 98. Patsch, Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schlei­er­ machers poetische Versuche, Berlin und New York 1986. 8 Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hg. v. K. Hammacher und W. Jaeschke, Hamburg und Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 ff., Bd. 1, 1, 124. 9 Jacobi, Werke, Bd. 2, 1, 403. 10 Ebd., 33. 6 Strohschneider-Kohrs, 7 Hermann

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Friedrich Schlegel ist aus dem Letztbegründungsprogramm Jacobi-Reinhold-Fichtescher Prägung ausgestiegen. Die Berührung des Unendlichen und des Endlichen, an dem die Ironie ihren Ort hat, steht daher innerhalb eines anderen Begründungsversuchs von Philosophie. In seiner Rezension von F. H. Jacobis Roman Woldemar (1796) spricht Schlegel von einem Wechselerweis. Es sei, so heißt es dort, ein »von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie« (KFSA 2, 74).11 Das bedeutet zunächst und vor allem, dass die Wechselwirkung des Bedingten in sich den Grund der Philosophie bildet und nicht ein Unbedingtes, das von dem Bedingten unterschieden wäre; das Unbedingte ist vielmehr die Totalität der Wechselerweise und damit des Bedingten selbst. An die Stelle der Deduktion aus dem Unbedingten (bei Fichte: den Grundsätzen der Wissenschaftslehre) tritt dann ein rückläufiges Begründen des Unbedingten aus dem Bedingten. Diese Struktur beschreibt Schlegel in seinem Republikanismus-Aufsatz (1796) im Zusammenhang mit der Frage, dass »jede Negationen eine Position, jede Bedingung etwas Bedingtes voraussetzt«, wie folgt: »Alle Negationen sind Schranken einer Position, und die Deduktion ihrer [der Negationen] Gültigkeit ist der Beweis, daß die höhere Position, von welcher die durch sie limitierte Position abgeleitet ist, ohne diese Bedingung sich selbst aufheben würde.« (KFSA 7, 11 f.) Das Bedingte beglaubigt das Bedingende und beide bedingen sich wechselseitig in einer Struktur, die Schlegel ausdrücklich als »Zirkel« beschreibt (KFSA 7, 12). Schlegel ist sich des Gegensatzes zu Fichte in dieser Frage voll bewusst: »Die Cyklisazion ist wie eine Totalisazion von unten herauf. Bey Fichte doch ein Herabsteigen.« (KFSA 16, 68)12 Das Theorem des Wechselerweises verweist auf zwei Philosophien, deren vielfältige Kombination – nicht zuletzt durch Jacobis polemische Intervention, Transzendentalphilosophie sei umgestülpter Spinozismus – das Denken der nachkantischen Philosophie 11 Gegen

Tendenzen, den Wechselerweis als einen Schlüssel als QuasiPrinzip von Schlegels Philosophie anzusehen, vgl. Frischmann, Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus, 149. 12 Diese Methode nimmt Schlegel unabhängig von Fichte in Anspruch: »Auch die Methode der materialen Alterthumslehre erkannte ich selbst, lange ehe ich von Fichte wußte, für cyklisch.« (KFSA 16, 66, Nr. 62) 46 | Kontexte 

nachhaltig bestimmt hat: Spinoza und Kant. Dass Bestimmtheit Negation sei, diesen Satz hatte Schlegel wohl aus Jacobis Spinoza-Buch als Grundthese Spinozas kennen gelernt. Er verbindet sich offenbar mit dem der All-Einheit als Totalität des Bedingten, das als das Bedingende nur durch das Bedingte affirmierbar ist. Der Wechselerweis besteht dann näher darin, dass sich (a) das Bedingte wechselseitig stützt, d. h. eine systematisch gerichtete Totalität darstellt (und nicht eine bloße Kette von Folgerungen aus einem Bedingten), und (b) darin, dass die Totalität als das Bedingende zum Bedingten durch letzteres affirmiert wird und zugleich das Bedingte stützt. Der letztere Punkt bezeichnet, wie wir noch sehen werden, den Einsatzpunkt der Ironie. Der zweite Referenzpunkt für das Theorem des Wechselerweises ist, wie bereits erwähnt, Kant. Schlegel zielt hier auf die in der transzendentalen Dia­lek­tik vorgetragene Auffassung, die Totalität der Bedingungen selbst sei das Unbedingte. Der transzendentale Vernunftbegriff sei, so Kant, »der von der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten«, welche Totalität nur durch ein Unbedingtes möglich sei: »Da nun das Unbedingte allein die Totalität der Bedingungen möglich macht, und umgekehrt die Totalität der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vernunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält, erklärt werden.«13 Das Unbedingte ist jedoch für Kant durch die Vernunft begrifflich nicht zu bestimmen, sondern die Vernunft verstrickt sich bei dem Versuch einer solchen Bestimmung unvermeidlich in dialektische Oppositionen, welche die Form des Widerspruchs haben.14 Damit ist der Einsatzpunkt der Ironie weitergehend bestimmt: in den Totalisierungen des begreifenden Denkens  – der Suche nach der Totalität der Bedingungen – kommt das Bedingte mit dem Unbedingten so in Berührung, dass das begreifende Denken unvermeidlich die Form einer absoluten Widersprüchlichkeit annimmt. Ironie, so lässt sich vorgreifend sagen, ist die Form, worin 13 KrV

B 379, AA 3, 251. Andreas Arndt, Widerstreit und Widerspruch. Gegensatzbeziehungen in frühromantischen Diskursen, in: Romantik/Romanticism. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 2008, hg. v. K. P. Ameriks u. a., Berlin und New York 2009, 80–100. 14 Vgl.

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diese Widersprüchlichkeit bewältigt werden soll. Ihr Einsatzpunkt ist also die Totalität unter der Form absoluter Gegensätzlichkeit als Aporie des begrifflichen Denkens. Zu betonen ist dabei jedoch, dass Schlegel das Begründungsverfahren der Philosophie nicht von einem vorausgesetzten und der Reflexion entzogenen Absoluten respektive Unbedingten abhängig macht. Dies wird auch daran deutlich, dass er die Setzung eines Absoluten, das nicht mit der Welt des Bedingten (und damit auch der bedingten Bedingungen) vermittelt ist, als einseitige und falsche »Abart« der Philosophie ansieht, als »Mystizismus« (KFSA 18,  6, Nr. 22.23).15 Die vom mystischen Denken intendierte Einheit – als Hauptexponenten des Mystizismus gelten ihm Jacobi und Fichte – bleibt für sich genommen eine leere Abstraktion. Eine gegenläufige Tendenz zur Allheit des Wissens verfolgt der Empirismus, dem jedoch die Richtung auf die absolute Einheit fehlt, d. h., der die Totalität des Empirischen verfehlt. Die dritte Abart der Philosophie schließlich ist der Skeptizismus, der nach Schlegel »eine unendliche Menge, eine Allheit von Widersprüchen« setzt und damit eine negative Totalität konstituiert (KFSA 18, 4, Nr. 9). Diese »drei Abarten vernichten sich nicht nur gegenseitig sondern auch jede selbst« (ebd., Nr. 6). Festzuhalten ist jedoch, dass für Schlegel ein für sich gestelltes Absolutes nicht die Alternative darstellt, sondern ein, wie sich in Anlehnung an Hegel sagen ließe, sich vollbringender Skeptizismus, denn die Form der Totalität ist ja die der Widersprüchlichkeit als »absolute Synthesis absoluter Antithesen«. In diesem Zusammenhang ist, ohne dass ich hier näher darauf eingehen will, daran zu erinnern, dass Schlegel im Rückgang auf Platon und Kant bereits 1796 eine eigene Konzeption von Dia­lek­ tik begründet und als erster in der nachkantischen Philosophie die Dia­lek­tik als Organon des Findens und Mitteilens der Wahrheit versteht.16 Der dialektische Prozess überwindet die Einseitigkeiten der hierzu Andreas Arndt, Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schlei­er­macher, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg. v. B. Sandkaulen und W. Jaeschke, Hamburg 2004, 126–141. 16 Vgl. Andreas Arndt, Perspektiven frühromantischer Dia­l ek­tik, in: Das neue Licht der Frühromantik. Innovation und Aktualität frühromantischer Philosophie, hg. v. Bärbel Frischmann und Elizabeth Millán-Zaibert, Pader15 Vgl.

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genannten drei Abarten der Philosophie und verbindet fortschreitend Spekulation (Mystizismus) und Empirie in einem polemischskeptischen Verfahren der Vernichtung des Irrtums, wie es dann in der Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie (1800/01) näher ausgeführt wird. Der dialektische Prozess als totalisierendes Verfahren findet seine Grenze dort, wo Totalität nicht abschließend bestimmt werden kann. Das Setzen des Absoluten17 führt, analog zu den dialektischen Oppositionen Kants, zu einem »unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten«; dies nennt Schlegel in den Lyceum-Fragmenten Ironie (KFSA 2, 160). In der Ironie ist die Grenze des Erkennens als Grenze des Begriffs erreicht: »Eine Idee«, so heißt es im Athenaeum-Fragment 121, »ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stets sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.« (KFSA 2, 184) Sie bringt den »unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten« (KFSA 2, 160) zum Ausdruck. Dieser Widerstreit ist die antinomische Form des Wechselerweises, in dem das Bedingte und das Unbedingte sich gegenseitig stützen und voraussetzen, deren Vereinigung aber begrifflich nicht vollzogen werden kann. Die antinomische Form der Idee als höchste Erkenntnis ist die Erkenntnis der Grenze des Erkennens selbst, aber wir können sie – so betont Schlegel in Vorwegnahme eines später von Hegel gebrauchten Arguments – als Grenze nur erkennen, indem wir »auf irgend eine Weise (wenn gleich nicht erkennend)« schon immer über sie hinaus sind (KFSA 18, 521, Nr. 23). Dies geschieht, wie es im Abschluß des Lessing-Aufsatzes heißt, »durch Allegorie, durch Symbole«, durch welche »überall der Schein des Endlichen mit der Wahrheit des Ewigen in Beziehung gesetzt und eben born u.a 2009, 53–64. – Zum Zusammenhang von Dia­lek­t ik und Ironie vgl. auch die Einleitung von Andreas Arndt und Jure Zovko in: Friedrich Schlegel, Schriften zur Kritischen Philosophie 1795–1805, hg. v. A. Arndt und J. Zovko, Hamburg 2007, XVIII–XXVII. 17 Das ›Setzen‹ des Absoluten ist nach Walter Benjamin eine Konstitution des Absoluten durch die Reflexion, die sich damit ein Medium schafft, um Kontinuitäten bzw. Identitäten zu reflektieren. Vgl. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919), Frankfurt/M. 1973, 32.; Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt/M. 1987. Schlei­er­machers Ironieverzicht | 49

dadurch in sie aufgelöst wird« und »an die Stelle der Täuschung die Bedeutung tritt« (KFSA 2, 414). Schlegel definiert die Ironie daher im »Lyceum«-Fragment 42 mit einem gewagten Ausdruck auch als »logische Schönheit« (KFSA 2, 152), die den absoluten Widerspruch ästhetisch überspielt, indem sie ihn als Schein (Täuschung) entlarvt und ihm dadurch die Bedeutung seines Gegenteils gibt. Philosophisch ist Ironie die Konsequenz eines Begründungsverfahrens, das auf ein unvermitteltes Absolutes oder Unbedingtes als Grund des Bedingten Verzicht leistet, wie es bereits in dem Theorem des Wechselerweises liegt. Ironie ist nicht die Form des Innewerdens einer Unmittelbarkeit, sondern sie gibt dem notwendigen Scheitern der totalisierenden Reflexion an den Antinomien eine Bedeutung über das negative Resultat und damit die Grenzen des begreifenden Erkennens hinaus. Sie ist, sozusagen, Fortsetzung der Reflexion mit anderen Mitteln und verliert diesen Bezug auf die Reflexion auch nicht, denn der Enthusiasmus, mit dem die Ironie die Grenze überschreitet, wird durch den Skeptizismus sogleich wieder ernüchtert: das Totalisieren mündet in das Verstehen der »Welt«, und beides – Totalisieren und Verstehen – ist unendlich, solange die Welt im Werden ist.    Friedrich Schlei­er­macher kennt Vergleichbares nicht. Der Grund 3

dafür ist, dass Schlei­er­macher mit Jacobi an der Figur der unvermittelten Unmittelbarkeit festhält. Dies kennzeichnet bereits die Position der Reden über die Religion (1799), wo die Religion von der Metaphysik und Moral geschieden und als gleichursprüngliches Vermögen proklamiert wird. Sie sei, so Schlei­er­macher, wesentlich »Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion« (KGA I/2, 213). Diese Anschauung ist unmittelbar, ebenso wie ihr subjektives Innewerden im Gefühl; sie kann daher in ihrer Ursprünglichkeit nicht begrifflich vermittelt dargestellt werden. Von Jacobi – und insoweit folgt er Friedrich Schlegel – unterscheidet sich Schlei­er­macher dadurch, dass die ursprüngliche Anschauung nicht für ein Prinzip steht; in Abgrenzung zu Fichtes Wissenschaftslehre heißt es in den 1803 erschienenen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, eine »Wissenschaft von den 50 | Kontexte 

Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften« dürfe »selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen«. Sie sei vielmehr »als ein Ganzes« zu denken, »in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht […], und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann« (KGA I/4, 48). Hierin ist unschwer Schlegels Konzeption des Wechselerweises wiederzuerkennen. Im Unterschied zu Schlegel geht Schlei­er­macher jedoch von einer vorgängigen Präsenz der Totalität als Einheit in einer ursprünglichen Anschauung aus. Da diese aller Reflexion vorausliegende Einheit auch im Akt der Reflexion präsent ist, kommt es für Schlei­er­macher im Zuge des totalisierenden Verfahrens nicht, wie bei Schlegel, zu Antinomien, die aufgelöst und überspielt werden müssten, sondern indem man in der Anschauung bleibt, bleibt man auch in der durch sie verbürgten Identität. In Schlei­er­machers Manuskript zur zweiten Hallenser EthikVorlesung 1805/06 schließt Schlei­er­macher auf die »Frage, was man an die Spize der Sittenlehre stellen soll«, eine »Behandlung in Grundsäzen und Säzen« ausdrücklich aus und verweist auf eine »ursprüngliche Anschauung«, welche man »nicht in einem Saz zusammenfassen« könne, weshalb man »also unmittelbar in der Anschauung haften bleiben« müsse.18 Das bedeutet in der Konsequenz, wie Schlei­er­macher erläutert, dass »Denken und Anschauen […] gegeneinander irrational« bleiben: »Die Begriffe sind nichts als Repräsentanten des Anschauens. Muß man am Ende damit aufhören, daß Princip auf eine Anschauung zu beziehen, so kann dies nicht als Fundament der Wissenschaft angesehen werden, da es der Anschauung gehört«.19 Es versteht sich, dass die Anschauung nicht die Anschauung von Gegenständen der Erfahrung im Kantischen Sinne ist, sondern eine eher intellektuelle Anschauung der Totalität im Sinne der Anschauung des Universums in den Reden über die Religion von 1799. Irrational im Verhältnis zum (begrifflichen) Denken ist die ursprüng18

19

Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 82. Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Müller, 4. Schlei­er­machers Ironieverzicht | 51

liche Anschauung deshalb, weil sie dem Begriff nicht zugänglich ist, wobei sie, als etwas Nichtbegriffliches, das begriffliche Erkennen allererst begründen soll. Diese Position, das sei hier nur am Rande erwähnt, gilt auch für die späteren Vorlesungen über die Dia­lek­tik, in denen das wissenschaftliche Verfahren einen transzendenten Grund – die Idee Gottes – als Ausgangspunkt nimmt, der als Einheit ohne Gegensatz im unmittelbaren Selbstbewusstsein präsent ist und die Einheit des Idealen und Realen und damit das Wissen als Einheit von Denken und Sein verbürgt. Von diesem Standpunkt aus kann die Ironie nur als subjektives Spiel mit willkürlichen Entgegensetzungen erscheinen, weil sie die ursprüngliche Anschauung und damit den Grund des Wissens preisgibt. Dies erklärt, weshalb Schlei­er­macher in der eingangs zitierten Passage aus der Vorlesungsnachschrift zum Ethik-Kolleg 1805/06 das (Vor-)Urteil der Gegner der Frühromantik, die Ironie sei das frivole Spiel sich selbst ermächtigender Subjektivität, in der Sache weitgehend übernehmen kann. In dieser Hinsicht war er nie mit Schlegel konform gegangen, auch wenn er bis dahin jeden polemischen Akzent vermieden hatte. Dass er 1805/06 weniger Rücksicht nimmt, ist wohl dem sich abzeichnenden Zerwürfnis mit Schlegel geschuldet.

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Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung Mit seinen Reden über die Religion – so stand es im Frühjahr 1799 im Leipziger Messkatalog und auch noch in der Buchhändleranzeige vom September desselben Jahres1  – wandte sich Schlei­er­macher »an die aufgeklärten Verächter derselben« bzw. »die Aufgeklärten unter ihren Verächtern«. Auf dem Titelblatt war dann von den »Gebildeten« die Rede, wohl vor allem aus Rücksicht auf den Atheismusstreit um Fichte. Der Blick in das Buch selbst belehrt jedoch ohnehin darüber, dass mit den »Verächtern« eher die Indifferenten als die ausgesprochenen Religionskritiker gemeint waren, also jene, die sich nicht um die Provinz in ihrem Gemüt kümmerten, die nach Schlei­er­macher zur conditio humana gehört: die Religion. Tatsächlich richtet sich Schlei­er­machers Kritik vor allem gegen Übergriffe von beiden Seiten: von Seiten der Philosophie auf die Religion, von Seiten der Religion auf die Philosophie. Indem Schlei­er­macher die daraus entstehenden trüben Mischungen aus Metaphysik, Moral und Religion – gleich unter welchen Vorzeichen – kritisiert, betreibt er selbst Aufklärung durch Kritik. Schon hieran wird deutlich, dass das Verhältnis von Philosophie und Religion bzw. Theologie, auch wenn es für Schlei­er­machers Denken im allgemeinen nicht die »Würde des Grundthemas« haben mag,2 für unsere Thematik grundlegend ist. Ich werde daher dieses Verhältnis im Blick auf ausgewählte Stationen des Schleier­­ macherschen Denkweges in den Mittelpunkt stellen, wobei ich 1 Staats-

und gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, 7. 9. 1799, Nr. 144, 6. 2 Hans-Joachim Birkner, Theologie und Philosophie. Einführung in Pro­ bleme der Schlei­er­macher-Interpretation, München 1974, 43. Gerhard Ebeling sah im Unterschied zu Birkner in dem Verhältnis von Philosophie und Theologie »das Kernproblem der Schlei­er­macherinterpretation« (Gerhard Ebeling, Theologie und Philosophie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 3 1957–1962, Bd. 6, Sp. 813 f.).  53

mich – da es nicht um den Religionsbegriff an sich, sondern um die Religionskritik geht – vor allem auf den frühen Schlei­er­macher beziehen werde. Die Betrachtung ist aber über Schlei­er­macher selbst hinaus zu erweitern, denn Schlei­er­machers Denken hat, wie abschließend gezeigt werden soll, eine konstitutive Bedeutung für die Radikalisierung der Religionskritik im Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie bei Ludwig Feuerbach.    Schlei­er­macher selbst, so scheint es, gehörte um 1789 zu den 1

aufgeklärten Verächtern der Religion. Im Oktober 1789 schrieb er an seinen Freund Brinckmann: »Meine Parthie […] ist unwiderruflich genommen, und wenn Wizenmann […] und Sokrates selbst zur Vertheidigung des Christenthums aufstehn […] so werden sie mich nicht zurükbringen.« (KGA V/1, 156)3 In den zwischen 1789 und 1792/93 entstandenen Jugendschriften Schlei­er­machers spielt die Religion daher, selbst in der ganzheitlichen Sicht auf das Leben, keine eigenständige Rolle. Vielmehr wird, wie z. B. in der Freiheitsschrift, bereits das Gleichgewicht des Interesses an Religion und »Spekulation« zum Hindernis erklärt, die spekulative Position zu entwickeln (KGA I/1, 325). Das Christentum gilt Schlei­er­macher, hierin ist er sich mit seinem Freund Brinckmann einig, als »Volksreligion von reiner Moral« (von Brinckmann, 26. 6. 1789, KGA V/1, 126); Schlei­er­macher nennt es »eine Sammlung von Sittenregeln für jedermann brauchbar […] vermischt mit einigen Lehrsäzen, die sich, da sie sich blos auf das Judenthum bezogen, auch nur unter den Juden und ihren Nachkommen erhalten haben würden.« (An Brinckmann, 28. 9. 1789, KGA V/1, 153) Die Parallelen zu den Überlegungen des jungen Hegel über Volksreligion und Christentum sind unübersehbar.4 Hervorzuheben ist, dass Brinckmann seine Überlegungen in Bezug auf die Dogmatiken der Wittenberger und Hallenser Aufklärungstheologie vorträgt; der »fromme Christ«, so seine Schlussfolgerung, »braucht dies alles nicht, und der philosophische Kopf bezieht sich auf Thomas Witzenmann, Die Geschichte Jesu nach dem Matthäus und Johann Konrad Pfenniger (Anonym), Sokratische Unterhaltungen. 4 Vgl. Walter Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 42 ff. 3 Schlei­er­macher

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geht einen andern Weg« (KGA V/1, 126). In seiner Antwort stimmt Schlei­er­macher zu, erinnert aber zugleich daran, dass es noch etwas Drittes gebe, nämlich den »philosophischen Christen« (KGA V/153).5 Auf diese Spezies ist er jedoch nicht gut zu sprechen, denn von ihr rühre jene trübe Mischung her, welche den Geist des Christentums als Sittenlehre verdorben habe: sie wollen »ihre Vorurtheile und gewiße mißverstandene Winke ihres Herzens mit ihren Einsichten vereinigen«, woraus die Dogmatik entstanden sei, an der »zu zimmern und zu hämmern« die philosophischen Christen nicht aufhören werden, während »die jenseits des Rubikons«, zu denen Schlei­er­macher sich selbst auch zählt, solche Dogmatik »als ein leeres und unnüzes Gebäude verachten werden«. Die Entmischung von Philosophie und Religion ist bereits hier der Grundtenor von Schlei­er­machers Stellungnahme und er hält diese Position von da an auch durch; in seiner Dia­lek­tik-Vorlesung 1818/19 heißt es prägnant: »Der Philosoph braucht […] die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung« (KGA II/10, 2, 242). Was sich ändert, ist freilich die Grundlage dieser Entmischung. 1789 hält Schlei­er­macher dafür, dass die Religion (und er spricht hier nur vom Christentum) eine Morallehre sei, die vorzugsweise durch die philosophische Vernunft begründet werden müsse. Der Gedanke der Aufklärungsphilosophie von der Seligkeit der Heiden, wie ihn Christian Wolff in seiner Prorektoratsrede von 1721 de Sinarum philosophia practica und auch Schlei­er­machers Lehrer Eberhard in seiner Neue[n] Apologie des Sokrates 1776 vertreten hatten,6 wird hier gewissermaßen auf das Christentum rückprojiziert: die Philosophie der »Heiden« enthält nicht eine der christlichen Sittenlehre adäquate Moral, sondern das Christentum enthält eine vernünftig zu begründende Auffassung von Sittlichkeit. Diese Position unterscheidet sich von der späteren, nach der Vernunft und Reliist unverständlich, dass Uwe Glatz, Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schlei­er­macher, Stuttgart 2010, 81, dies so verstehen will, als ob Schlei­er­macher diese Position affirmieren wolle. 6 Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, hrsg. v. M. Albrecht, Hamburg 1985 (zuerst 1722); Johann August Eberhard, Neue Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden, Berlin und Stettin 1776. 5 Es

Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung | 55

gion, philosophischer und theologischer Gottesgedanke einander entsprechen, ohne sich wechselseitig zu begründen. Schlei­er­macher kritisiert um 1789 aber nicht nur die christliche Dogmatik, wie aus den hierfür einschlägigen »Briefen« An Cecilie (1790) hervorgeht, die Günter Meckenstock zu Recht unter den Titel einer »Krisis des religiösen Bewußtseins« gestellt hat.7 Das Fragment bezieht sich auf den Gedankenaustausch zwischen Brinckmann und Schlei­er­macher, der in fiktiven Briefen des Ich-Erzählers Schlei­er­macher an eine junge, empfindsame Frau gespiegelt wird. Nur scheinbar findet die religiöse Krisis – mit der Schlei­er­macher seine eigene Glaubenskrise verhandelt  – eine Lösung im Zusammenstimmen von »Herz und Vernunft« (KGA I/1, 211), indem, in Entsprechung zur Position Kants, die Sittlichkeit die Annahme der Ideen Gottes als des höchsten Wesens und die Annahme der Unsterblichkeit der Seele verlangt. Schlei­er­macher deutet zum Schluss des Fragments an, dass dies nur ein »Ruhepunkt für eine Weile« sei und man nicht »in dieser schöneren Gegend der Philosophie auf immer wohnen« könne (KGA I/1, 212). Damit zeichnet sich ab, dass er mit Kant die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit der Seele als theoretische Gewissheiten kritisiert, über Kant hinausgehend aber auch – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – bereit ist, sie als Postulate der reinen praktischen Vernunft aufzugeben. In diesem Überschritt über Kant liegt Schlei­er­machers Radikalisierung der aufklärerischen Religionskritik. Dabei, das muss hier ausdrücklich angemerkt werden, bleibt jedoch weitgehend in der Schwebe, inwieweit Schlei­er­macher Religion als solche kritisiert oder inwieweit er nur eine Religion kritisiert, die meint, sich dogmatisch und philosophisch absichern zu müssen. Für das Erstere sprich immerhin nicht nur seine (wenn auch temporäre) Absage an das Christentum, sondern auch, dass Religion inhaltlich nur als Sittenlehre vorkommt, die allein aus der Vernunft zu begründen sei. Auf der anderen Seite lassen aber die Briefe An Cecilie erkennen, dass die Seite des Herzens in den »unfruchtbare[n] und trostlose[n] Provinzen« (KGA I/1, 212) der Philosophie, in welche die Vernunft uns treibt, keine Befriedigung findet. Dagegen steht aber wiederum Meckenstock, Deterministische Ethik, 132–147; vgl. auch Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schlei­er­machers bis 1799, Berlin und New York 1995, 167–180. 7 Günter

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die Einsicht in der Schrift Über den Werth des Lebens, dass erst im Verzicht auf den großen Enthusiasmus Verstand und moralischer Sinn »Spuren von Glükseligkeit« finden können, die nicht illusionär sind und die mit dem Schicksal versöhnen (KGA I/1, 470 f.).    Schlei­er­macher, dies macht seine Abhandlung Über das höchste 2

Gut deutlich, geht mit Kant sogleich über Kant hinaus. Er sieht das Christentum ausdrücklich als eine Philosophie[!] an, welche – nach Unterdrückung der (neu-)platonischen Schwärmerei – »allein die Stelle aller Sittenlehre vertreten« habe (KGA I/1, 118 f.). Im Praktischen liege das Christentum der Kantischen Philosophie nahe, im Theoretischen jedoch seien beide einander »fast gänzlich entgegengesezt«, weil »ein jedes von beiden da anfängt wo das andre aufgehört hat, und da aufhört, wo das andre anfing«: das Christentum beginne mit dem Willen Gottes, um daraus das höchste Gut abzuleiten, während Kant vom Begriff des höchsten Gutes ausgehend das Dasein Gottes postuliere (KGA I/1, 119). Der Grundfehler bestehe vor allem darin, dass beide, Kant und die christliche Sittenlehre, die »Glükseligkeit als Theil des höchsten Guts« (ebd.) ansehen, auch wenn diese bei Kant ins Jenseits verlagert werde, weil wir im irdischen Leben nur Glückswürdigkeit erwerben können, aber keine unmittelbare Relation zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit bestehe. Nach Schlei­er­macher ändert diese Verschiebung jedoch nichts, da unter den Bedingungen fortdauernder Sinnlichkeit auch der Hiatus zwischen Tugend und Glückseligkeit fortbestehe oder, unter den Bedingungen eines nichtsinnlichen Jenseits, die Glückseligkeit obsolet bleibe (KGA I/1, 102). Dagegen möchte Schlei­er­macher die Glückseligkeit und mit ihr die Sinnlichkeit aus dem Begriff des höchsten Gutes ausschließen, denn erst durch diese Vermischung von Sittengesetz und Empirie werde es nötig, im ethischen Kontext zum Gottesbegriff Zuflucht zu nehmen. Die Vernunft aber müsse autonom bleiben und »das, was bei der ganzen Sache sie unmittelbar angeht, auch allein und aus ihren eignen Mitteln in Richtigkeit bringen« (KGA I/1, 88). Das höchste Gut sei kein empirisch zu realisierender Zweck; es sei vielmehr »der vollkomne Inbegrif alles deßen was nach gewißen Regeln in einer gewißen Verfahrungsart nemlich der ungemischten rein rationalen zu erlangen möglich ist« (KGA I/1, 90 f.). Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung | 57

Damit wirft Schlei­er­macher Kant Inkonsequenz vor, nämlich das Verlassen einer rein rationalen, im Bereich der intelligiblen Welt bleibenden Begründung der Sittlichkeit; er mobilisiert gewissermaßen die Kantische Unterscheidung von intelligibler und sinnlicher Welt gegen Kants Festhalten an der Verbindung von Sittlichkeit und Glückserwartung, aus welcher sich das Postulat der Existenz Gottes ableitet. Und auch in anderen Hinsichten mobilisiert Schlei­er­ macher Kant gegen Kant, wie es Peter Grove prägnant zusammengefasst hat: »Er argumentiert mit der Analytik der zweiten Kritik gegen ihre Dia­lek­tik, mit der ersten Kritik gegen ihre praktisch-philosophische Transformation der Metaphysik in der zweiten Kritik.«8    Ich kann dies hier nicht im Einzelnen erörtern und auch nicht 3

der von Grove aufgeworfenen Frage nachgehen, ob Schlei­er­machers Abhandlung über das höchste Gut letztlich in Anknüpfung an Rehberg in einen »undogmatische[n] metaphysische[n] Atheismus« münde.9 Die bereits angesprochene Uneindeutigkeit, wie weit Schlei­er­ macher mit seiner Religionskritik geht bzw. gehen will, lässt sich m.E. nicht eindeutig auflösen. Seine über Kant hinausgehende Kritik der philosophischen Theologie muss nicht als Kritik der Religion selbst, sondern kann auch als Kritik an der Vermischung von Philosophie und Religion verstanden werden, die durch die Stellvertreterfunktion des Christentums für die Sittenlehre zustande gekommen sei. Deutlich wird nur, dass Schlei­er­macher auf eine autonome – und d. h. rein rationale – Begründung des Sittengesetzes zielt. Ob die Religion daneben noch eine Rolle spielen könnte, in der sie sich nicht auf trübe Weise mit der Philosophie vermischt, bleibt weitgehend offen. Auf welche Weise beides – Kritik der philosophischen Theologie und Affirmation der Religion – bei Schlei­er­macher zusammen bestehen könnte, führt ansatzweise die wohl an Wilhelm Dohna gerichtete briefliche Abhandlung über Wissen, Glauben und Meinen vor, die freilich nicht genau zu datieren und insofern schwer zu den anderen Frühschriften ins Verhältnis zu setzen ist (KGA V/1, 424–428).10 Hier geht es, kurz gesagt, darum, die Religion vom (phiGrove, Deutungen des Subjekts, 124. 125. 10 Ebd., 126 ff. 8 Peter

9 Ebd.,

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losophischen) Wissen so zu trennen, dass sie gleichwohl mehr ist als ein bloßes Meinen, welches immer »mit dem Bewußtseyn der Unzulänglichkeit der Gründe begleitet« wird (KGA V/1, 425). Die Religion als Glaube ist ein Fürwahrhalten aus subjektiven Gründen, welches sich nicht auf ein äußeres Objekt, »sondern auf das fürwahrhaltende Subjekt selbst bezieht« (KGA V/1, 424). Schlei­er­macher bezeichnet diese Form des Selbstbezugs als »das unmittelbare Selbstbewußtseyn« (ebd.). Auf diese Weise »entsagt« die Religion dem Wissen, um sich auf den Glauben »einzuschränken« (KGA V/1, 426); – eine bemerkenswerte Akzentverschiebung gegenüber Kant, der ja das Wissen beschränken wollte, um dem Glauben Platz zu machen.11 Schlei­er­macher kritisiert auch hier, auf Positionen verweisend, die er in der Abhandlung über das höchste Gut vorgetragen hatte, dass Kant mit seiner Postulatenlehre so etwas wie einen »nothwendige[n] Glaube[n]« (ebd.) konstruieren wolle, während er sich nur auf das Selbstverhältnis des Subjekts beziehen könne, welches sich in Hinsicht auf die Religion für Schlei­er­macher nicht auf die menschlichen Natur überhaupt, sondern die Modifikation der menschlichen Natur im Individuum bezieht und insofern gerade nicht notwendig ist (KGA V/1, 424). Nahegelegt wird die religiöse Selbstdeutung nach Schlei­er­ macher durch das »Bedürfniß […] dem bei uns von innen so sehr angefochtnen Sittengesetz eine äußre Stütze zu verschaffen« (KGA V/1, 426). Entgegen dem ersten Anschein ist diese Äußerlichkeit nicht objektiv zu verstehen, sondern beruht allein darauf, dass eine »allgemein als nothwendig erkannte Idee« – gemeint ist m. E. das Sittengesetz – gegen die individuell gegebenen »Widersprüche der Sinnlichkeit« autorisiert werden kann (KGA V/1, 427). Dies geschieht so, dass die Möglichkeit einer praktischen Bestimmung allein durch Vernunft, wie sie das Sittengesetz fordert, durch die Annahme Gottes als eines entsprechenden praktischen Ideals »anschaulich gemacht wird« (ebd.). Ich kann hierin, anders als Peter Grove, keine Schlei­er­machersche Postulatenlehre erkennen. Schlei­ er­macher legitimiert lediglich die Möglichkeit einer anschaulichen, d. h. nicht rein intelligiblen individuellen religiösen Selbstdeutung im praktischen Zusammenhang. Dass diese nur im praktischen 11 KrV

B XXX, AA 3, 19. Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung | 59

Zusammenhang möglich ist, ergibt sich allein daraus, dass jede Begründung der Religion im Kontext der theoretischen Vernunft ein bloßes Meinen wäre. Von der Postulatenlehre indes unterscheidet sich Schlei­er­macher dadurch, dass er der religiösen Selbstdeutung jede Beimischung von Objektivität und damit jede begründende Funktion nehmen will, welche sie zu einem notwendigen Glauben machen würde. So bleibt nur die reine Selbstbezüglichkeit in praktischer Hinsicht als Ort eines legitimen Glaubens und damit der Religion übrig – das insofern »unmittelbare«, d. h.: nicht auf Gegenstände bezogene – Selbstbewusstsein. Es trifft daher zu, dass Schlei­ er­macher in der brieflichen Abhandlung »die Religion im unmittelbaren Selbstbewußtsein« verankert.12 Sie ist dadurch aber weder notwendig (sondern vielmehr kontingent) noch allgemein (sondern individuell), weshalb die autonome, notwendig-allgemeine und wissensmäßig vollzogene Begründung des Sittengesetzes sowie die theoretische Vernunft davon ganz unberührt bleiben. In der Folge rückt Schlei­er­macher sowohl von der moraltheo­ retischen Interpretation des Christentums als auch von der Begründung von Religion im Kontext praktischer Philosophie ab. Am deutlichsten wird dies in der Trennung von Metaphysik und Moral auf der einen und Religion auf der anderen Seite, wie sie in den Reden vollzogen wird. Was bleibt, ist jedoch die Bindung der Religion nicht nur an die Subjektivität, sondern auch an die Sinnlichkeit qua Anschauung, wie sie – anknüpfend an die vermittelnde Funktion der Religion bei Kant – zuerst in der brieflichen Abhandlung über Wissen, Glauben und Meinen hervortritt. Die spätere Verlagerung von der Anschauung zum Gefühlsbegriff ändert hieran grundsätzlich nichts; die sinnliche Komponente bleibt bis hin in die Bestimmung der Religion (parallel zur Kunst) als individuellem Symbolisieren erhalten. Auf der anderen Seite gibt Schlei­er­macher bereits in seinen Jugendschriften die von Kant übernommene Trennung von sinnlicher und intelligibler Welt auf, was auch zu einer Neuausrichtung des Verhältnisses von Philosophie und Religion führt. Die individuellen Deterministische Ethik, 157; Grove, Deutungen des Subjekts, 131 möchte dagegen individuelles und unmittelbares Selbstbewusstsein unterscheiden. Mir scheint, dass in dem Brief beides gerade als identisch aufgefasst ist. 12 Meckenstock,

60 | Kontexte 

Vermittlungsleistungen der Religion müssen jetzt auch eine philosophische Entsprechung finden und beide, Wissen und Handeln (Philosophie) sowie Religion, sind notwendige Bestandteile der Totalität des Lebens. Ihr gemeinsamer Grund ist jetzt ein Absolutes, das im Gefolge der Jacobi- und Spinoza-Studien in Schlei­er­machers Blickfeld tritt und den Blick auf Kant entscheidend verändert. Die Verankerung beider in einem Absoluten erlaubt es, Philosophie und Religion zu trennen, zugleich aber aufeinander beziehbar zu halten. Die Religionskritik Schlei­er­machers vollendet sich als Entmischung, die zugleich Affirmation sowohl der Selbständigkeit der Philosophie als auch der Religion ist. Wenn immer eine grundsätzliche Kritik der Religion selbst auf Schlei­er­machers Denkweg gelegen haben mag, so ist sie jetzt für ihn nicht mehr möglich.     Mit der Position einer Parallelität von Religion und Philoso4

phie setzt Schlei­er­macher voraus, dass Religion eine Tatsache des menschlichen Bewusstseins darstellt, die nicht nur zu den historischen Beständen des menschlichen Geistes, sondern gleichsam zur Naturausstattung des menschlichen Gemüts gehört. Sie ist ein Vermögen, das man ignorieren, aber nicht vertilgen kann. Eine radikale Religionskritik mit atheistischen Konsequenzen, wie sie vor allem die Französische Aufklärungsphilosophie hervorgebracht hatte,13 ist für Schlei­er­macher in jedem Falle haltlos und beruht auf einer Verkennung der menschlichen Natur und der Natur des Universums. Die radikale Religionskritik erwächst für ihn, so scheint es, aus einer Nationaleigentümlichkeit der Franzosen, die in der ersten Rede wie folgt charakterisiert wird: »frivole Gleichgültigkeit mit der Millionen des Volks, der wizige Leichtsinn mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten That des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens bestimmt« KGA I/2, 169). Mit anderen Worten: Der Atheismus ist für Schlei­er­macher immer nur Schein, der auf einem Selbstmissverständnis beruht, wie es auch später noch in der Glaubenslehre14 und in den Vorlesungen über die Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 14 Vgl. KGA I/7,1, 124: »Will man […] das auf Gott sich beziehende Selbst13 Vgl.

Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung | 61

Dia­lek­tik bekräftigt wird, nach denen es »wahren Atheismus« nicht geben könne (KGA II/10, 1, 38). Aus dieser Perspektive ist Atheismus nicht ein theoretisches, sondern vielmehr ein praktisches Problem, eben ein Problem der Verächter der Religion. Schlei­er­macher befindet sich damit im mainstream der Aufklärungsphilosophie, welche vor allem einen praktischen Atheismus kannte; erst durch den Spinoza-Streit erfolgte eine Wendung, sofern nun die Frage im Raum stand, ob eine Philosophie aufgrund ihrer Prinzipien atheistisch sein könne. Siegmund Jakob Baumgarten etwa hatte in seiner einflussreichen, von Semler herausgegebenen Geschichte der Religionspartheyen die These vertreten, sofern Religionsspötter und ungläubige Freigeister Atheisten genannt werden könnten, seien sie dies in der Regel deshalb, weil sie unter »diejenigen begriffen« werden, »deren Verhalten der Ueberzeugung von GOtt widerspricht; welche auch practische Atheisten, d. i. thätige Gottesverleugner heissen, im Gegensatz der theoretischen oder der atheorum speculativorum.«15 Zu letzteren zählt vor allem Spinoza, den Schlei­er­macher freilich gerade für das religiöse Bewusstsein in Anspruch nehmen will. Auch hiermit befindet er sich in bester Gesellschaft. Seitdem Jacobi 1785 seine Version des Wolfenbütteler Gesprächs mit Lessings Bekenntnis zu Spinoza veröffentlicht hatte,16 galt Spinoza vielen – mit Ausnahme vor allem Kants und Jacobis selbst – als »theissimus« und »christianissimus«, wie Goethe es formulierte.17 Das Schlei­ er­ macher nicht unter die spekulativen Atheisten gerechnet werden kann und vielleicht  – dies bleibt eine offene Frage  – nie gerechnet werden konnte, stellt ihn nicht ins Abseits der vorherrschenden aufklärerischen Religionskritik, deren Begriff ja wesentlich von Kant her datiert und darauf zielt, ungerechtfertigte Geltungsansprüche der Religion gegenüber der Philosophie bewußtsein mißkennen, als sei es kein anderes als das auf die Welt Bezug neh­ mende: so kann dies mit einigem Scheine nur geschehen, wenn man in diesem lezteren selbst die Seite des Freiheitsgefühls aufhebt.« 15 Siegmund Jacob Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen, hg. v. Johann Salomon Semler, Halle 1766, 25. 16 Vgl. Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1, 16–30. 17 Goethe an Jacobi, 9. 6. 1785, in: Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Heinrich Jacobi, Briefwechsel, hg. v. Max Jacobi, Leipzig 1846, 85. 62 | Kontexte 

abzuweisen. Dem wird Schlei­er­macher durch sein Programm der Entmischung gerecht, das letztlich darauf beruht, der Religion als nicht-reflexiver individueller Selbstdeutung der Subjektivität einen Platz anzuweisen, an dem sie in keine Konkurrenz zu philosophischen und wissenschaftlichen Selbst- und Weltdeutungen tritt.

5  Die Subjektivierung der Religion, auf der Schlei­er­machers auf-

geklärter Religionsbegriff beruht, ist für sich genommen freilich nicht dagegen gefeit, zum Ansatzpunkt einer radikalen Religionskritik gemacht zu werden. Feuerbach inszeniert in diesem Sinne ein kunstvolles Spiel, in dem er Hegelsche und Schlei­er­machersche Positionen sich wechselseitig kritisieren lässt. In seinem Aufsatz Zur Beurteilung der Schrift »Das Wesen des Christentums« (Anfang 1842) erklärt er sich näher darüber.18 Hierbei stilisiert Feuerbach sich zunächst in polemischer Absicht, d. h. gewiss in übertriebener Weise, als Anti-Hegelianer.19 »Hegel«, so heißt es, »identifiziert die Religion mit der Philosophie, ich hebe ihre spezifische Differenz hervor; […] Hegel objektiviert das Subjektive, ich subjektiviere das Objektive; […] Hegel unterscheidet, ja, trennt den Inhalt, den Gegenstand der Religion von der Form, von dem Organ, ich identifiziere Form und Inhalt, Organ und Gegenstand; Hegel geht vom Unendlichen, ich vom Endlichen aus; Hegel setzt das Endliche in das Unendliche […]; ich setze das Unendliche in das Endliche«.20 Die entscheidenden Stichworte sind »Subjektivierung« und »Verendlichung«. Hierauf basiert Feuerbach sein grundlegendes Einverständnis mit Schlei­er­ macher: »Ich tadle Schlei­er­ macher nicht deswegen, wie Hegel, daß er die Religion zu einer Gefühlssache machte, sondern nur deswegen […], daß er nicht den Mut hatte, einzusehen und einzugestehen, daß objektiv Gott selbst nichts andres ist als das Wesen des Gefühls, wenn subjektiv das Gefühl die Feuerbach, Gesammelte Werke, hg. v. W Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 9, 229–242. 19 Zum Kontext der Feuerbachschen Stellungnahme in den religionsphilosophischen Diskussionen der Zeit vgl. Walter Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, StuttgartBad Cannstatt 1986, Kap. IV, bes. 396 ff. 20 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 9, 231. 18 Ludwig

Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung | 63

Hauptsache der Religion ist. Ich bin in dieser Beziehung so wenig gegen Schlei­er­macher, daß er vielmehr eine wesentliche Stütze, die tatsächliche Bestätigung meiner aus der Natur des Gefühls gefolgerten Behauptungen ist.«21 Tatsächlich aber ist die Feuerbachsche Konsequenz aus Schleier­­ machers Gefühlsbegriff, wie Walter Jaeschke gezeigt hat, »eine Hegelsche«,22 denn in ihr wird das Gefühl wiederum als subjektive Form eines objektiven Inhalts verstanden. Gleichzeitig jedoch wird diese Objektivität ihrem Wesen nach als subjektiv bestimmt, sofern es sich dabei um die Selbstobjektivierung des fühlenden Subjekts handelt. In diesem Sinne hatte Feuerbach bereits im Wesen des Christentums auf Hegel und Schlei­er­macher verwiesen.23 Gleich der Beginn der Einleitung über das »Wesen des Menschen im allgemeinen« führt die Religion auf die differentia specifica von Mensch und Tier zurück: Tiere haben keine Religion, weil sie kein Gattungsbewusstsein haben.24 Damit wird auf Hegels Polemik gegen Schlei­er­machers Gefühlstheologie angespielt, wo es hieß: »Soll das Gefühl die Grundbestimmung des Wesens des Menschen ausmachen, so ist er dem Thiere gleichgesetzt«.25 Feuerbach, so scheint es, stimmt dieser Konsequenz zu, wenn er schreibt, »daß da, wo das Gefühl zum Organ des Unendlichen, zum subjektiven Wesen der Religion gemacht wird, der Gegenstand derselben seinen objektiven Wert verliert«.26 Das freilich ist für Feuerbach gerade der Kern der Sache. Hegels Schlei­er­macher-Kritik ist für ihn Bestätigung und Be21 Ebd.,

230.

Die Vernunft in der Religion, 398. Einfluss Schlei­er­machers wird vorher  – auch literarisch  – kaum greifbar; zwar begründete Feuerbach 1824 seinen Wechsel von Heidelberg nach Berlin auch damit, dass dort der »große Schlei­er­macher« lehre, wobei er ihn auffälligerweise vor allem als Kanzelredner und Exegeten und nicht als Systematiker erwähnt (an den Vater, 8. 1. 1824, in: Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 18, 41), aber tatsächlich muss gerade der Exeget Schlei­er­macher für Feuerbach eine Enttäuschung gewesen sein, denn der Besuch einer Vorlesung über die Paulinischen Briefe – der einzigen von Schlei­er­macher gehaltenen, die Feuerbach belegt hatte – wurde abgebrochen (vgl. die Erläuterungen ebd., 401 und 407). 24 Vgl. Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 5, 28 f. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorwort zu: H. F. W. Hinrichs: Die Religion, in: GW 15, 137. 26 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 5, 41. 22 Jaeschke, 23 Ein

64 | Kontexte 

kräftigung seiner Lesart des Schlei­er­macherschen Gefühlskonzepts. Mehr noch. Weil Hegel Religion nicht radikal subjektivieren wollte, habe er ihren Begriff verfehlt; er sei »ebendeswegen nicht in das eigentümliche Wesen der Religion eingedrungen, weil er als abstrakter Denker nicht in das Wesen des Gefühls eingedrungen ist«.27 Die Subjektivierung der Religion bedeutet jedoch für Feuerbach, dass die menschliche Subjektivität als solche den objektiven Gefühls­ inhalt ausmacht: die Religion »ist identisch mit dem Selbstbewußtsein, mit dem Bewußtsein des Menschen von seinem Wesen«.28 Diese Subjektivierung versteht Feuerbach, durchaus an Schlei­ er­macher anknüpfend, als Individualisierung. Hierin liege jedoch eine Täuschung, welche der Religion eigentümlich sei. Mache, so heißt es, das Individuum »seine Schranken zu Schranken der Gattung, so beruht dies auf der Täuschung, daß es sich mit der Gattung unmittelbar identifiziert«.29 Das religiöse Bewusstsein ist somit ein defizitäres Selbstbewusstsein, denn das wahre Selbstbewusstsein ist für Feuerbach reflexiv: »An dem Gegenstande wird […] der Mensch seiner selbst bewußt: das Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen.«30 Dagegen solle das Individuum »sich als beschränkt fühlen und erkennen«, indem »ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenstand ist, sei es nun als Gegenstand des Gefühls oder des Gewissens oder des denkenden Bewußtseins.«31 Indem Schlei­er­machers Subjektivierung der Religion nach Feuerbach für die Religion nichts anderes zurückbehält als das individuelle Selbstverhältnis des Subjekts, wird Schlei­er­macher zum »letzten Theologen des Christentums«.32 Er übernimmt dessen Bestimmung des Gefühls als Organ des Religiösen, um darzutun, dass das Gefühl seinem Wesen nach »sich selbst Gott« sei und die Theologie selbst insofern auf einen »religiösen Atheismus« des Herzens hinauslaufe.33 27 Feuerbach, 28 Feuerbach, 29 Ebd.,

Gesammelte Werke, Bd. 9, 230. Gesammelte Werke, Bd. 5, 29.

37. 34. 31 Ebd., 37. 32 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 9, 230. 33 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 5, 42 f. 30 Ebd.,

Schlei­er­macher und die ­Religionskritik der ­Aufklärung | 65

Verdankte Subjektivität Am 21. November 2018 konnte der 250. Wiederkehr des Geburtstages von Friedrich Daniel Ernst Schlei­er­macher gedacht werden. Dieses Gedenken fand nicht nur im Rahmen der akademischen Welt statt. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) hatte aus diesem Anlass ein Magazin herausgegeben, in dem kurze Essays und Veranstaltungshinweise versammelt sind. Es trägt den einprägsamen Titel »Alles mit Gefühl«. Auch kritische Anfragen sind darin zu lesen. In einem Beitrag des seinerzeitigen Pfarrers und Propstes Christian Stäblein, jetzt Bischof der EKBO, hieß es: »Ach! Glaube bloß frommes Bewusstsein. Alles mit Gefühl. Alles Erfahrung im Vollzug für das Subjekt im Mittelpunkt. Wie soll da noch irgendetwas dazukommen, das nicht schon vorher im Subjekt war?« Hier wird auf den Punkt gebracht, was über Schlei­er­macher an scheinbaren Gewissheiten kursiert: alles nur Subjektivität und Gefühl. Ich möchte diese Gewissheit im Folgenden in Zweifel ziehen. Zwar ist es unstreitig richtig, dass Schlei­er­ macher, wie alle Vertreter der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant, der Subjektivität einen hohen Stellenwert einräumt, aber er reduziert nicht alles auf Subjektivität. Meine Gegenthese lautet: bei Schlei­er­macher handelt es sich um eine bedingte Subjektivität, die sich nicht durch einen Akt der Selbstsetzung bzw. Selbstermächtigung konstituiert, sondern sich – als Subjektivität – einem sie Bedingenden verdankt. Dies ist nicht schöpfungstheologisch zu verstehen, sondern im strikten Sinne des Schlei­er­macherschen Begriffs dessen, was gewöhnlich unter dem Titel »Subjektivität« behandelt wird. Im Folgenden möchte ich diese These in zwei Schritten näher begründen. Zunächst ! werfe ich einen Blick auf den frühen Schlei­ er­macher und besonders die Struktur des religiösen Bewusstseins in den Reden über die Religion von 1799. Sodann @ verfolge ich die Ausgestaltung dieser Position in philosophischer Hinsicht bis hin zu den an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesungen.  67

   Schlei­er­macher, das mag angesichts der erwähnten Etikettierun1

gen erstaunen, gebraucht den Begriff »Subjekt« relativ sparsam. In seinen von ihm selbst in den Druck gegebenen Schriften kommt er, soweit ich sehe, gar nicht vor; die wenigen Stellen in seinen frühen Manuskripten sind Kant-Zitate bzw. Paraphrasen von Kant bzw. Fichte.1 Nicht viel anders sieht es in den eigenhändigen Vorlesungsmanuskripten aus: in denen zur Philosophischen Ethik etwa findet sich nur dreimal die Formulierung »Subject« bzw. »Subjectivität«,2 in der Dia­lek­tik kommt der Terminus vor allem im Kontext der Verbindung Subjekt-Objekt bzw. Subjekt-Prädikat vor. Einen systematisch herausragenden Status also, so viel wird an diesem Befund deutlich, hat die Rede vom Subjekt bzw. der Subjektivität bei Schlei­ er­macher nicht. Ein Blick in die Entwicklungsgeschichte des Schlei­er­macherschen Denkens macht deutlich, warum das so ist. Nach einer Phase, in der er sich vorzugsweise an Kant abarbeitet,3 gerät er in den Sog des Spinozismusstreits und versucht im Ergebnis seiner Lektüre des Jacobischen ›Spinoza-Büchleins‹ 1793/94 eine Kombination von Kant und Spinoza.4 Diese läuft darauf hinaus, dass Spinoza Kants transzendentalen Idealismus durch die Voraussetzung eines bewusstseinstranszendenten Seins jenseits der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt ergänzt; Kant hingegen macht dem Spinozismus deutlich, dass dieses Sein nur als Objekt, für uns, im Rahmen der subjektiven Erkenntnisvermögen, und nicht als Sein an und für sich thematisierbar ist. Damit wird begründet, was Schlei­er­macher im Unterschied zu Kants (und später auch zu Fichtes) Fokussierung auf das Transzendentalsubjekt ein objektives Philosophieren nennen wird. Schlei­er­macher geht seither davon aus, dass unsere Begriffe und Urteile nicht nur ein objektiv gültiges Wissen im Sinne Kants begründen, sondern tatsächlich der Objektivität entsprechen. Denken und Sein sind parallel anzusetzen und stehen in einem Entsprechungsverhältnis – wie bei Spinoza Denken und Ausdehnung. Das All-Eine, Absolute oder Unbedingte jedoch ist, so Schlei­er­macher, 1 Vgl. 2

698.

KGA I/15, 299 die dort nachgewiesenen Stellen. Vgl. Friedrich Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre,

3 Vgl. 4 Vgl.

oben Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit Kant. Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 7 ff.

68 | Kontexte 

als absolute Einheit jenseits aller Entgegensetzungen nicht innerhalb dieser Entgegensetzung von Denken und Sein zu erfassen, die damit so etwas wie eine Grenze der rationalen Erkenntnisvermögen markiert. Es ist offenkundig, dass mit dieser Verschiebung der transzenden­ talphilosophischen Problematik das Subjekt einen anderen Status erhält und depotenziert wird. Es wird nicht nur die transzendentale Objektivität aufgewertet und in ein anderes Verhältnis zum Subjekt gesetzt, es wird auch ein Unbedingtes als absolute Einheit beider Seiten statuiert, das zwar nicht rational erkennbar ist, aber Subjektivität und Objektivität in sich fasst. Diese sind jetzt als Verendlichungen eines unendlichen Seins, der spinozistischen Substanz, zu verstehen. In Schlei­er­machers Spinoza-Studien nimmt daher das Pro­blem der Individuation einen bedeutenden Raum ein; gegen ­Jacobis Behauptung, Spinoza könne Individuation nicht wirklich denken, da nach ihm nur die einzige Substanz Bestand habe, versucht Schlei­ er­macher den Nachweis, dass in Spinozas Philosophie ein »Princip der Trennung der Objecte« vorhanden sei und »ein jedes einzelnes Ding seine eigene verschiedene Lebenskraft habe« (KGA I/1, 553 f.). Das, was als Subjektivität bezeichnet werden kann, ist für Schlei­er­ macher ein Fall von Individuation; Individualität aber bezieht sich nicht nur auf die Seite der Subjektivität, sondern ebenso auf die Seite der Objektivität. Mit seiner spinozistischen Reinterpretation der Transzendentalphilosophie befindet sich Schlei­er­macher auf Augenhöhe mit der nachkantischen Philosophie, obwohl er von den philosophischen Debatten weitgehend abgeschnitten war und sich als »Selbstdenker« in die Schrift Jacobis vertiefte. Nur vor diesem Hintergrund konnte Schlei­er­macher wenig später, nachdem er 1796 in Berlin die Stelle als reformierter Prediger an der Charité übernommen hatte, aufgrund der Begegnung mit Friedrich Schlegel unmittelbar Anschluss an die frühromantischen Diskurse gewinnen und zu einem der Protagonisten der Frühromantik werden. Dies und auch die Begegnung mit Fichtes Schriften verändert nicht Schlei­er­machers grundlegende Position. In einer wohl 1798 niedergeschriebenen Notiz übersetzt er Fichte in seine spinozistische Grundstruktur: »Subiect, Obiect und Subiect-Obiect als Betrachtungsarten des Ich sind nur Anwendungen der Kategorien von Eins Vieles und Alles.« (KGA Verdankte Subjektivität | 69

I/2, 23)5 Für Schlei­er­macher ist das absolute Ich Fichtes das »Alles«

im Sinne der spinozistischen All-Einheit. Im Unterschied zu Fichte und dem frühen Schelling6 versteht er diese jedoch nicht wiederum subjektiv, als Ich, sondern als Einheit jenseits der Entgegensetzung von Subjekt-Objekt bzw. Ich und Nicht-Ich. Nur eine solche Position kann für Schlei­er­macher gewährleisten, dass ein Standpunkt auch jenseits der Entgegensetzung von Idealismus und Realismus gewonnen wird. Einerseits will Schlei­er­macher, wie er Anfang 1800 im Blick auf Fichte schreibt, sich im Rahmen des Idea­lismus »die wirkliche Welt […] warlich nicht nehmen laßen« (an Carl Gustav v. Brinckmann, 4. 1. 1800, KGA V/3, 316); andererseits will er aber auch den Gegensatz des Idealen und Realen überhaupt überwinden: »Die Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist […] Man kann innerhalb des Idea­ lismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich.« (an F. H. C. Schwarz, 28. 3. 1801; KGA V/5, 73–76) Eine doppelte Brechung der Subjektivität also: sie wird erstens zugunsten der »wirk­lichen Welt«  – d. h.: der Objektivität  – depotenziert, indem sie nicht mehr nur negativ bestimmt und damit dem Ich untergeordnet wird; und zweitens wird das Absolute weder unter der Form des Subjekts noch unter der Form des Objekts gefasst, indem es als Einheit des Idealen und Realen jeder Entgegensetzung überhoben wird. Diese Auffassung prägt auch Schlei­er­machers wohl bekannteste Schrift der Berliner Zeit 1796–1802, die 1799 anonym publizierten Reden über die Religion. Die Depotenzierung der Subjektivität oder des Idealen wird hier so vollzogen, dass Schlei­er­macher gegen Fichte auf einen »höheren Realismus« (KGA I/2, 213) verweist, der den Absolutheitsanspruch des Ich bricht; hierfür steht Spinoza ein, der von Schlei­er­macher zum Kronzeugen eines religiösen Bewusstseins gemacht wird. Wir haben also zwei Ebenen zu unterscheiden: einmal den ›gewöhnlichen‹ Realismus, den sich, Schlei­er­macher zufolge, Fichtes Idealismus zu Recht unterordnet  – gemeint ist 5 Vgl.

Johann Gottlieb Fichte, »Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre«, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 7 (1798), Heft 1, 1–20, hier: 8 ff. 6 Vgl. Schelling an Hegel, 4. 2. 1795, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 1, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1969, 22. 70 | Kontexte 

offenbar eine deterministische Ansicht der ›Welt‹  –, zum anderen den ›höheren‹ Realismus, der, so Schlei­er­machers Formel, im ›Anschauen des Universums‹ besteht: Das Wesen der Religion, so heißt es, sei »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen.« (KGA I/2, 211) Das religiöse Bewusstsein wird hier als Passivität bestimmt. Die Aktivität geht von dem Angeschauten aus, einem »Handeln« des Universums auf uns, welches von dem Anschauenden »seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird« (KGA I/2, 213 f.). Das Universum ist wesentlich eine ununterbrochene Tätigkeit und Offenbarung, d. h. Selbstmanifestation.7 Hierbei darf nicht vergessen werden, dass sowohl die Aktivität des Universums als auch die passive Hingabe an das Universum sich im Rahmen der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, von Idealem und Realem bewegen; nur deshalb kann Schlei­er­macher auch von einem ›höheren Realismus‹ sprechen. Anders gesagt: auch das religiöse Bewusstsein ist, wie jedes Bewusstsein, nur ein uneigentliches Innewerden des Absoluten. Nicht das Universum selbst, sondern seine Wirkung auf uns ist demnach Gegenstand der Anschauung. Das Universum selbst liegt jenseits aller Vorstellung, die immer schon so etwas wie Objektivität bezeichnet, und kann daher nicht angeschaut werden. Angeschaut werden vielmehr die Manifestationen des Universums in den Subjekten und ihrer ›Welt‹; genauer: wir schauen sie an als Manifestationen des Universums. In der Passivität des Bewusstseins, der Anschauung, transzendieren wir unsere Subjektivität in Richtung auf einen höheren Realismus; im Anschauen aber verhalten wir uns aktiv zum Universum. Die ursprüngliche Anschauung ist demnach nicht die Einheit des Subjekts und des Objekts, des Idealen und Realen, sondern eine Einheit von Rezeptivität und Spontaneität. Es handelt sich um ein Einheitserlebnis, in dem wir mit dem Universum verschmelzen und zwischen ihm und unserem Anschauen nicht unterscheiden können: »Die 7 Bereits

in seinem Manuskript »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems« von 1793/94 führt Schlei­er­macher den Gedanken der Inhärenz »auf die Idee von dem Fluß der endlichen Dinge« zurück (KGA I/1, 564). Verdankte Subjektivität | 71

geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich meße sie, und sie spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor, und verbreitet sich wie die Röthe der Schaam und der Lust auf seiner Wange«. (KGA I/2, 221 f.) Die Fixierung der Anschauung, die mit dem Anschauen als unserer Aktivität ursprünglich eins ist, ermöglicht eine andere, nicht mehr anschauende Aktivität in Bezug auf das Angeschaute, nämlich die Reflexion (hier: das Messen). Sie wird aber begleitet von einem subjektiven Innewerden der ursprünglichen Anschauung, die hier eine Transformation ins Subjektive erfährt; das Gefühl ist als Fühlen »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« (KGA I/2, 212), zugleich aber auch Aktivität, denn es arbeitet sich aus dem Inneren (des Subjekts) empor und ist Hingabe im aktiven ebenso wie im passiven Sinne. Beim religiösen Bewusstsein der Reden handelt es sich um ein komplexes Spiel von Instanzen, das im Rückgang auf den Begriff der Subjektivität überhaupt nicht mehr beschreibbar ist, da dieser nur als Moment eines Ganzen ins Spiel kommt. Das Höchste ist weder das Subjekt noch das Objekt, weder das Ideale noch das Reale, sondern auch für Schlei­er­macher gilt: das Wahre ist das Ganze: »Nun laßt uns höher steigen, dahin wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Gözendiener?« (KGA I/2, 245)    Auch wenn Schlei­er­macher in den Reden Religion und Philoso2

phie strikt auseinanderhalten will, ist das religiöse Bewusstsein qua Bewusstsein von dem philosophischen Bewusstsein nicht grundsätzlich geschieden. Vielmehr handelt es sich um eine andere Auslegung derselben Strukturen; in der späteren philosophischen Ethik bestimmt Schlei­er­macher das Religiöse (und Künstlerische) auch als individuelles Symbolisieren, das Wissenschaftliche als identisches Symbolisieren. Auch in Schlei­er­machers Philosophie begegnet uns 72 | Kontexte 

daher das Spiel der Instanzen, in dem Subjektivität nur ein Moment ist. Dies gilt selbst für diejenige der frühromantischen Schriften, in der das Subjekt als Ich schon vom Titel her ins Zentrum gesetzt wird: die 1800 anonym publizierten Monologen. Eigentlich wollte Schlei­er­macher, wie er in einem Brief bekannte, »etwas ganz objectives machen, nicht ohne viel Polemik, und das Subjective sollte nur die Einleitung sein. Aber im Entwerfen des Plans wuchs mir das Subjective so über den Kopf, daß auf einmal die Sache wie sie jetzt ist vor mir stand« (an Henriette Herz, 16. 9. 1802, KGA V/6, 151 f.). Das bedeutet jedoch nicht, dass Schlei­er­macher dem Subjekt auch systematisch eine grundlegende Stelle einräumt, obwohl der Text von manchen Zeitgenossen in die Nähe Fichtes gerückt wurde.8 Fluchtpunkt der Transzendierung von Subjektivität in den Monologen ist nicht, wie in den Reden, das Universum, sondern die ›Welt‹; sie bleiben daher innerhalb der Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität. Gleichwohl gilt auch hier: das Individuum ist Individuation eines Allgemeinen, nämlich der Menschheit. Die »höchste Anschauung« besteht darin, »daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann« (KGA I/3, 18). Die Ausbildung der eigenen Individualität ist zugleich die Individuation der Menschheit als ganzer, die sich darin in einer ihrer unendlichen Möglichkeiten darstellt. Diese Position schließt ein, dass die anderen Individuen ebenso als Darstellungen des Unendlichen erkannt und anerkannt werden müssen, dass das Individuelle gleich gilt und als solches schon immer Darstellung des Allgemeinen, der unendlichen Menschheit ist. Das Individuum kann unter dieser Voraussetzung nur dann zureichend beschrieben und begrifflich erfasst werden, wenn es sowohl in seiner Eigentümlichkeit als auch in seiner Gemeinschaft mit Anderen als integraler Teil der Menschheit bestimmt wird: »Nur wenn der Mensch im gegenwärtigen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen; und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschdie Historische Einführung von Günter Meckenstock in KGA I/3, XXXVII ff. 8 Vgl.

Verdankte Subjektivität | 73

heit anzuschaun, und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten« (KGA I/3, 22). Hieran wird deutlich, weshalb Schlei­er­macher in seinen 1803 publizierten Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre eine wissenschaftliche Ethik nur dann für möglich erklärt, wenn von einer obersten Wissenschaft ausgegangen und dabei »objectiv philosophirt«, d. h. »von dem Unendlichen als dem einzigen nothwendigen Gegenstande ausgegangen« werde (KGA I/4, 66). Der Rekurs auf die unendliche Menschheit bedeutet demnach keine anthropologische Grundlegung der Ethik, sondern bezieht die Subjekte auf das bereits Individuierte, dessen Grund dann im Unendlichen bzw. Absoluten selbst zu suchen ist, den die oberste Wissenschaft thematisiert. Das Grundverhältnis von Eigentümlichkeit und Gemeinschaft hat Schlei­er­macher sowohl in seiner philosophischen Ethik als auch in seiner Psychologie in verschiedenen Formulierungsvarianten als »Absondern« und »In-Gemeinschaft-Treten« beschrieben, wobei dies, wie immer bei Schlei­er­macher, nur relative Gegensätze sind, da sie sich auf einen absoluten Einheitsgrund zurückbeziehen, der in den späteren Fassungen der Ethik seit 1811 aus der Dia­lek­tik vorausgesetzt wird. Die philosophische Ethik trägt intern der Forderung nach einem objektiven Philosophieren insofern Rechnung, als sie nicht vom Einzelnen, dem Individuum oder der einzelnen Handlung, sondern vom Allgemeinen, der Lehre vom höchsten Gut, ausgeht. Gegenstand dieser Lehre ist der (geschichtlich verstandene) Prozess der Einigung von Natur und Vernunft durch die Bildung der Natur zum Organ der Vernunft und den Gebrauch dieses Organs zur Darstellung der Vernunft. In dieser Darstellung werden, Schlei­er­macher zufolge, Produzieren und Produkt als Einheit betrachtet, so dass es nicht um individuelle, sondern um gesellschaftliche Handlungsprozesse geht. Wie Hegel geht Schlei­er­macher mit Aristoteles von der Gesellschaftlichkeit des Menschen als grundlegendem Faktum aus und kritisiert alle Theorien einer vertragsförmigen Vergesellschaftung atomisierter Individuen. Zugleich macht die Priorität der Lehre vom höchsten Gut gegenüber der Tugend- und Pflichtenlehre deutlich, dass Schlei­er­macher die Ethik nicht im Rückgang auf einzelne moralische Subjekte aufbaut, sondern im Rückgang auf die 74 | Kontexte 

gemeinschaftliche Sittlichkeit. Erst die Tugendlehre betrachtet dann »die Vernunft in dem einzelnen Menschen« als individualisierte Vernunft in dem Sinne, daß sie im Einzelnen eine lebendige Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft bildet, die letztlich in einer ethischen Gesinnung hervortritt.9 Durch die Vernunft ist aber auch hier das sittliche Individuum von vornherein auf das Universelle bezogen. Die Pflichtenlehre schließlich betrachtet das Individuelle nicht von der Gesinnung her, sondern vom wirklichen Handeln der Individuen. Sie zeigt die Dynamik in den einzelnen sittlichen Handlungen selbst auf und ist »Darstellung des ethischen Prozesses als Bewegung, und die Einheit also der Moment und die That«.10 Die einzelne Handlung vermittelt zwischen der individuellen Einheit von Vernunft und Natur (Tugend) und der Gesamtheit des menschlichgeschichtlichen Vernunft-Verhältnisses zur Natur (höchstes Gut). Insgesamt bestätigt die Ethik, dass das Subjekt und das Subjektive bzw. das Individuelle für Schlei­er­macher – in seiner Terminologie – nur den einen Pol im Verhältnis zum Objektiven bzw. Allgemeinen darstellt und zwischen ihnen eine Wechselwirkung (Schlei­er­macher spricht auch vom Oszillieren) statthat.11 Nun ist, wie wir bereits aus der Betrachtung der Reden wissen, diese Wechselwirkung nicht das Letzte. Die Wechselwirkung findet im Endlichen statt, d. h. innerhalb einer relativen Entgegensetzung; relativ deshalb, weil der Gegensatz überhaupt für Schlei­er­macher unter einer absoluten Einheit steht. Diese Figur wird theologischdogmatisch als frommes Selbstbewusstsein (Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit) ausgelegt,12 philosophisch als unmittelbares Selbstbewusstsein (Gefühl) in der Dia­lek­tik, auf die ich mich im Folgenden beziehe. Hierbei ist zunächst festzuhalten, dass Schlei­ er­macher zwischen einem reflektierten und dem unmittelbaren Selbstbewusstsein unterscheidet. Das reflektierte Selbstbewusstsein ist »Ich« und sagt »nur die Identität des Subjects in der Differenz der Momente« aus (KGA II/10, 1, 266). Diese Differenz besteht im Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 375. 406. 11 Vgl. zu dieser Figur generell Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen. 12 Vgl. Dietz Lange, Neugestaltung christlicher Glaubenslehre, in: Friedrich Schlei­er­macher 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, hg. v. Dietz Lange, Göttingen 1984, 85–105; bes. 96–99. 9

10 Ebd.,

Verdankte Subjektivität | 75

Verhältnis zur Objektivität überhaupt als auch im Verhältnis zu raum-zeitlich wechselnden Objekten. Es geht dabei jedoch nicht nur um die Identität des Ich, sondern auch und vor allem um die Identität des Denkens und Seins, denn anders als Kant geht Schlei­ er­macher davon aus, dass unsere Begriffe und Urteile dem gedachten Sein auch tatsächlich entsprechen. Die Überzeugung, dass diese Entsprechung gegeben ist, liegt für Schlei­er­macher im reflektierten Selbstbewusstsein; er beschreibt dies in drei Hinsichten: (1) »daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider«, (2) dass »das Wissen selbst […] uns […] nur im Sein gegeben« sei, »aber als ein von ihm verschiedenes«, und (3), dass »ein gegenseitiges Werden« von Denken und Sein »durch einander in der Reflexion und im Willen gegeben« sei und niemand glauben könne, »daß beide beziehungslos neben einander hingehen« (KGA II/10, 1, 93). Zugleich ist aber für Schlei­er­macher diese Überzeugung grundlos in dem Sinne, dass sie zwar unseren theoretischen und praktischen Umgang mit der ›Welt‹ leitet, jedoch im Reflexionsverhältnis, d. h. innerhalb der Differenz von Subjekt und Objekt, nicht begründet werden kann. Da Wissen Beziehung des Denkens auf das Sein ist, bilden Denken und Sein bzw. Ideales und Reales für das Wissen einen unhintergehbaren »höchsten Gegensaz«, der als Denkgrenze nach »oben« anzusehen und für Schlei­er­macher auf ein ungeteiltes Sein zurückzuführen ist, »welches ihn und mit ihm alle zusammengesezten Gegensäze aus sich entwikelt«; dies ist die »Idee des Seins« als Idee einer nichtrelationalen Identität (KGA II/10, 1, 101). Anders gesagt: wir können den Grund der Einheit nicht wissen. Gegen diese Auffassung, die Schlei­er­macher mit Fichte, Schelling und anderen Zeitgenossen teilt, ließe sich kritisch einwenden, dass eine vergleichende Reflexion sehr wohl in der Lage ist, relatio­ nale Identität ohne Zuhilfenahme einer als Grund vorausgesetzten unmittelbaren Identität zu denken. Wenn dieser Grund aber, wie Schlei­er­macher voraussetzt, nicht gedacht werden kann, dann kann er nur auf andere, uneigentliche Weise durch uns repräsentiert werden. Hier kommt wiederum diejenige Struktur ins Spiel, die in den Reden für den Bezug auf das Universum stand: das Analogon ist das Gefühl als »unmittelbares Selbstbewußtsein« (KGA II/10, 1, 266). Ausgangspunkt innerhalb der Dia­lek­tik ist jedoch nicht die 76 | Kontexte 

Anschauung des Universums, sondern das, was oben im Zusammenhang mit dem reflektierten Selbstbewusstsein als gegenseitiges Werden von Denken und Sein bezeichnet wurde. Beide, Denken und Sein, sind für Schlei­er­macher wechselseitig vermittelt. Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesetzt, im Wollen setzen wir unser Sein in die Dinge, indem wir einen von uns gesetzten Zweck verwirklichen. Im Nullpunkt des aufhörenden Denkens und anfangenden Wollens bleibt für Schlei­er­macher unser Sein als das Setzende übrig. Dies ist das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl, das, als Grund der Reflexion, in jedem Moment des Wissens und Wollens anwesend sein muss. Als dieser immanente Grund in seiner kontinuierlichen Anwesenheit ist das Gefühl geschieden von der Empfindung als einer momentanen Affektion des Subjekts. Für unser Problem, den Status der Subjektivität, ist entscheidend, dass dem so konstruierten Nullpunkt zwar ein unmittelbarer Gehalt zugesprochen wird, der Nullpunkt selbst aber aufgrund einer Vermittlungsstruktur, also reflexiv, konstruiert ist. Das Gefühl in seiner Unmittelbarkeit soll auf einen transzendentalen Grund verweisen, auf eine absolute, nichtrelationale Identität, es bezeichnet aber zugleich auch einen Indifferenzpunkt im Verhältnis von Subjekt und Objekt. Das Bewusstsein des transzendentalen Grundes ist uns daher, so betont Schlei­er­macher, »als Bestandtheil unseres Selbstbewußtseins sowol als unseres äußeren Bewußtseins« gegeben (KGA II/10, 1, 143). Man könnte auch sagen, dass im Gefühl empirischer Realismus (im Sinne Kants) und praktischer Idealismus (im Sinne Fichtes) vereinigt sind, denn das »Gesetztsein« der Dinge in uns ist Realismus, während das Setzen unseres Seins in die Dinge Idealismus ist. Auf diese Weise ist der »Nullpunkt« ausschließlich mit der Subjektivität, dem Selbstbewusstsein verbunden, weil das Gefühl als das unmittelbare Innewerden des absoluten Grundes nur den Subjekten, nicht aber den Dingen zukommen kann. Allerdings enthält das unmittelbare Selbstbewusstsein damit in sich auch so etwas wie Vermittlung: es ist in seinem Selbstbezug zugleich Bezug zu dem, was außerhalb des Selbst ist, und dies in einem doppelten Sinne: ! als Bezug auf ein bewusstseinstranszendentes, absolutes Sein als nichtrelationale Identität, und zugleich @ im Endlichen als Bezug auf die dem Subjekt äußere ›Welt‹. In beiVerdankte Subjektivität | 77

den Hinsichten ist Subjektivität vermittelt und verdankt sich dem Bezug auf Anderes. Sie ist kein Letztes, sondern ein von Anders her Gesetztes. Alles nur Subjektivität und Gefühl? Wohl kaum.

78 | Kontexte 

Schlei­er­macher und die ­Französische ­Revolution    Im Sommer 1799 erschien anonym Schlei­er­machers Schrift Über 1

die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, die größtenteils Anfang 1799 verfasst worden war. In der ersten der fiktiven Reden wendet Schlei­er­macher sich auch an die Engländer und Franzosen, oder vielmehr: er wendet sich, wie es heißt, von ihnen ab, denn nur auf »väterliche[m]«, deutschen Boden könne er Gehör finden für das, was er vortragen wolle: eine neue Sicht der Religion (KGA I/2, 195). Die Weisheit der »Insulaner«, also der Engländer, sei »nur auf eine jämmerliche Empirie gerichtet«, und so könne ihnen die Religion »nichts anders sein, als ein todter Buchstabe« (KGA I/2, 196). Auch von den »Franken« wendet Schlei­er­macher sich fort, freilich, wie er betont, »[a]us anderen Ursachen«, denn die Franzosen – »deren Anblik ein Verehrer der Religion kaum erträgt« – würden »in jeder Handlung, in jedem Worte fast« die »heiligsten Geseze« der Religion »mit Füßen treten« (ebd.). Dass Schlei­er­macher der französischen Aufklärung und insbesondre der in ihr vielfach zutage tretenden Religionskritik nicht wohlgesonnen war, wird kaum überraschen.1 Überraschend aber ist die Begründung, die er im Folgenden dafür gibt, dass er den Anblick der ›Franken‹ kaum zu ertragen vermag: »Die frivole Gleichgültigkeit mit der Millionen des Volks, der witzige Leichtsinn mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten That des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens bestimmt, beweiset zur Genüge wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer wahren Anbetung fähig sind.« (KGA I/2, 196) 1 Vgl.

den auf Voltaire fokussierten Überblick über die Religionsproblematik in der französischen Aufklärung bei Ulrich Barth, Religion in der europäischen Aufklärung, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schlei­er­ macher – Troeltsch – Tillich, hg. v. Ulrich Barth u. a., Berlin und Boston 2013, 91–112, hier 97–105.  79

Die ›erhabenste Tat des Universums‹, das ist – darin ist sich die neuere Forschung weitgehend einig – die Französische Revolution.2 Irreligiös ist für Schlei­er­macher, ganz im Gegensatz zur restaurativen Propaganda, wie sie auch von den Kanzeln tönte, nicht die Revolution selbst, sondern deren falsche Betrachtungsart. In einer in jeder Hinsicht – rhetorisch und inhaltlich – gewagten Wendung setzt Schlei­er­macher seine Rede unmittelbar nach dem zuletzt zitierten Satz wie folgt fort: »Und was verabscheut die Religion mehr als den zügellosen Übermuth womit die Herrscher des Volks den ewigen Gesezen der Welt Troz bieten? Was schärft sie mehr ein als die besonnene und demüthige Mäßigung, wovon ihnen auch nicht das leiseste Gefühl etwas zuzurufen scheint? Was ist ihr heiliger als die hohe Nemesis, deren furchtbarste Handlungen sie im Taumel der Verblendung nicht einmal verstehen? Wo die wechselnden Strafgerichte, die sonst nur einzelne Familien treffen durften, um ganze Völker mit Ehrfurcht vor dem himmlischen Wesen zu erfüllen […], wo diese sich tausendfältig vergeblich erneuern, wie würde da eine einsame Stimme [gemeint ist die Stimme des Redners über die Religion; A.] bis zum Lächerlichen ungehört und unbemerkt verhallen?« (KGA I/2, 196) Zunächst scheint es so, als erkläre Schlei­er­macher sich pflichtschuldigst gegen das Terrorregime der Jakobiner (das 1799 freilich schon längst überwunden war) und mahne zur Mäßigung. Wäre das alles, dann wäre aber nicht mehr zu verstehen, warum die Französische Revolution die ›erhabenste Tat des Universums‹ sein sollte. Tatsächlich ist Schlei­er­machers Einlassung auch doppelbödig. Das wird spätestens dort deutlich, wo er auf die ›hohe Nemesis‹ zu sprechen kommt, die der Religion ›heilig‹ sei. In der griechischen MyKurt Nowak, Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schlei­er­macher. Forschungsgeschichtliche Probleme und Perspektiven, in: Internationaler Schlei­e r­macher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Bd. 1, Berlin und New York 1985, 103–125, hier bes. 116 f.; vgl. auch den Überblick zum Thema »Schlei­er­macher und die Französische Revolution« bei Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schlei­er­ machers politische Wirksamkeit, Teil 1, Berlin und New York 2004, 114–131, hier bes. 124. Ferner »Welche unendliche Fülle offenbart sich da …«: die Wirkungsgeschichte von Schlei­er­machers »Reden über die Religion«, hg. v. Nico Schreurs, Assen 2003, 156 f. (Diskussionsprotokoll); Arndt, Die Reformation der Revolution. 2 Vgl.

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thologie3 ist Nemesis eine Tochter der Nacht, welche als Göttin austeilende Gerechtigkeit übt, indem sie die Maßlosigkeit (Hybris) und die Verletzung des göttlichen Rechts (Themis) ahndet und so die göttliche Weltordnung in Maß und Gleichgewicht hält. Sehr sorgfältig also hat der klassisch gebildete Schlei­er­macher als Redner seine Worte gewählt, wenn er davon spricht, dass die ›ewigen Gesetze der Welt‹ (also Themis) von den Herrschern verletzt worden seien und Maßlosigkeit (Hybris) in den politisch-gesellschaftlichen Geschehnissen des Frankenlandes walte. Der Witz dabei ist nur, dass diese Maßlosigkeit sich auf die Ausübung der Nemesis im Terror der Französischen Revolution bezieht. Anders gesagt: ihrem Wesen nach ist die Französische Revolution als ›heilige‹, göttliche Nemesis zu rechtfertigen, sofern sie – dies darf man jetzt getrost erschließen – gegenüber dem alten, von der Revolution beseitigten Regime ausgleichende Gerechtigkeit übt. In diesem Sinne ist die Revolution als die erhabenste Tat des Universums anzusehen. Der Fehler der Französischen Revolution liegt darin, dass dabei das Maß der Vergeltung nicht beachtet wurde, obwohl doch am Tempel zu Delphi neben dem vielzitierten »Erkenne Dich selbst« (gnṓthi sautón) auch das »Nichts im Übermaß« (medèn ágan) mahnte. Diese Devise ruft Schlei­er­macher auch in der zweiten Rede auf, wenn er sagt: »Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können.« (KGA I/2, 212) Prometheus ist derjenige, der sich der Nemesis und damit dem von ihr gehüteten göttlichen Gesetz nicht beugt, wobei Schlei­er­macher an die Darstellung in Aischylos’ Tragödie »Der gefesselte Prometheus« (Prometeùs desmótes) gedacht haben mag, wo Prometheus, vom Chorführer (im Schlei­er­macherschen Sinne) zur Mäßigung ermahnt, trotzig mit dem Hinweis auf den von ihm vorhergesehenen Sturz des Zeus antwortet: »Chorführer: Sich beugen vor des Schicksals Macht, ist weise nur. / Prometheus: Bet an, verehr ihn, schmeichle dem, der jeweils herrscht! Ich aber scher um Zeus mich wenger als ein Nichts. / Schalt er und walt Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, Darmstadt 1996 (Reprint der Ausgabe Leipzig 1770), s. v. Sp. 1701–1707. 3 Vgl.

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er in dieser kurzen Spanne Zeit, / Wie’s ihm behagt; lang bleibt er nicht der Götter Herr.«4 Für ›Schicksal‹ steht hier im Griechischen die Göttin Adrásteia, die gewöhnlich mit der Némesis gleichgesetzt wird.5 Auch in diesem Zusammenhang erscheint die Tat, die Prometheus den Zorn des Zeus eingebracht hat, an sich als gerechtfertigt: Prometheus, so heißt es wenig später, habe die Menschen gelehrt, die Naturmächte gegeneinander auszuspielen, und so stehe »der Mensch als Sieger lächelnd über ihrem allgemeinen Kriege« (KGA I/2, 224). Hieraus folgert Schlei­er­macher, dass man in ruhiger Sicherheit auf die Fortschritte der Menschheit vertrauen könne: »Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion, und Furcht ist nicht in der Liebe.« (ebd.) Schlei­er­macher erweist sich hier, wie auch in seinen späteren Schriften und Vorlesungen, als Vertreter eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus.6 Solches Zutrauen sei, so Schlei­er­macher, im »väterlichen Lande«, also in Deutschland, recht heimisch: »hier findet ihr alles zerstreut, was die Menschheit ziert, und alles was gedeiht bildet sich irgendwo, im Einzelnen wenigstens, zu seiner schönsten Gestalt; hier fehlt es weder an weiser Mäßigung noch an stiller Betrachtung. Hier also muß sie eine Freistadt finden vor der plumpen Barbarei [den ›Franken‹, A.] und dem kalten irdischen Sinne des Zeitalters [den Engländern, A.].« (KGA I/2, 196) Bevor ich auf die Frage eingehe, warum eigentlich das ›väterliche Land‹ sich solcher Bildung und Mäßigung rühmen darf #, möchte ich Schlei­er­machers Stellung zur Französischen Revolution in den Reden kurz in den Kontext seiner sonstigen einschlägigen Äußerungen stellen und dann vor allem danach fragen, wie sich dies zu den Positionen seiner philosophischen Zeitgenossen verhält @.    Von Schlei­er­macher sind erst relativ spät Äußerungen zu den Er2

eignissen in Frankreich überliefert; im August 1791 nimmt er Stellung gegen die »despotischen Absichten« der Reaktion, die Gott verdammen möge (an Heinrich Catel, 29. 8. 1791, KGA V/1, 229). In einem V. 936–940; Aischylos, Tragödien und Fragmente, hg. und übers. v. Oskar Werner, München 1959, 466 f. 5 Vgl. Hederich, Lexikon, s.v., Sp. 71. 6 Vgl. Arndt, Friedrich Schlei­e r­macher als Philosoph, 155–165. 4

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Brief an seinen Vater vom Februar 1793, kurz nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar, schreibt Schlei­er­macher, er müsse »gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe, freilich, wie Sie es wol ohnehin von mir denken werden, ohne Alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann – mit zu loben, und noch viel mehr ohne den unseligen Schwindel einer Nachahmung davon zu wünschen […] – ich habe sie eben ehrlich und unpartheiisch geliebt« (KGA V/1, 280). Die Hinrichtung des ehemaligen Königs kritisiert Schlei­er­macher insofern, als ein Nachweis der Schuld nicht geführt worden sei; die Todesstrafe könne aber nicht allein deshalb verwerflich sein, weil sie ein gekröntes Haupt treffe. Mit seiner Haltung stehe er quer zu den verbreiteten Positionierungen, was Schlei­er­macher dem Vater mit Selbstironie so beschreibt: »ich armer Mensch […] gelte bei den Demokraten nicht selten für einen Vertheidiger des Despotismus und für einen Anhänger des alten Schlendrians, bei den Brauseköpfen für einen Politikus, der den Mantel nach dem Winde hängt, und mit der Sprache nicht heraus will, bei den Royalisten für einen Jakobiner und bei den klugen Leuten für einen leichtsinnigen Menschen, dem die Zunge zu lang ist.« (KGA V/1, 281) Schlei­er­machers Positionierung in den Reden entspricht weitgehend dieser Selbstcharakterisierung: er sympathisiert grundsätzlich mit der Französischen Revolution, aber nicht bedingungslos, wobei er nicht nur die sogenannten ›Auswüchse‹ kritisiert, sondern offenbar auch der Meinung ist, dass die Französische Revolution ein Sonderfall und nicht übertragbar sei. An dieser Auffassung hält Schlei­er­macher auch in seiner späteren Theorie fest; noch in der Nachschrift zur philosophischen Ethik-Vorlesung von 1832 können wir Folgendes lesen: »Das ganze Staatsleben ist […] in bestimmter Bewegung begriffen […]. Wir sprechen hier nur die Duplicität aus, unter der solche Veränderungen entstehen können, entweder als Reformen oder Revolutionen. Unterschied beruht auf dem Gegensatz zwischen den gesetzgebenden & vollziehenden Functionen. Wo dieser Unterschied kein persönlicher da ist keine Revolution möglich, aber darum auch wenig Beständigkeit im Wechsel der einzelnen Acte. In jedem Moment kann sich Gesetzgebung ändern, ja Schlei­er­macher und die ­Französische ­Revolution | 83

selbst wenn Umkehrung entsteht, wenn aus Demokratie Tyranney wird, ist das keine Revolution denn gegen den Willen der zugleich Gesetzgebenden & Vollziehenden kann es nicht geschehen. Wo der Gegensatz aber ein persönlicher ist, da ist Reform Veränderung vermöge eines zusammenstimmenden gemeinsamen Bewußtseyns«.7 Mit der Französischen Revolution verbindet Schlei­er­macher Inhalte, die nicht dadurch obsolet geworden sind, dass es im revolutionären Prozess zu Auswüchsen kam, und die auch für den Weg der Reform maßgebend sind. Diese Inhalte fassen sich durchaus in dem Schlachtruf der Französischen Revolution  – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – zusammen. Nicht zufällig kreisen die ersten Entwürfe Schlei­er­machers im Anschluss an Kant um das Thema der Freiheit, und so heißt es in der 1790–1792 geschriebenen Abhandlung Über die Freiheit, die Bewertung der Sittlichkeit einer Person habe sich von einem »Gefühl allgemeiner Liebe und Gleichheit« (KGA I/1, 271) leiten zu lassen, worin unschwer Gleichheit und Brüderlichkeit wiederzuerkennen sind. Was die Freiheit betrifft, thematisiert Schlei­er­macher sie zu dieser Zeit im Horizont der Kantischen Autonomie des moralischen Subjekts;8 die Bildung zur Sittlichkeit und damit zur Freiheit sei jedoch, so wird in der Abhandlung Über die Freiheit betont, »immer auch in den äußern Verhältnißen gegründet«, die darum »überwiegend vortheilhaft eingerichtet« werden müssten (KGA I/1, 276). Die Freiheit der Subjekte als moralischer bekommt damit eine politische Dimension. In diesem Sinne heißt es in der zum Druck bestimmten, aber nicht publizierten Abhandlung Über den Werth des Lebens (1792/93), »Nein, goldne Freiheit es ist nicht möglich Dich zu geniessen, wenn man es allein thun will; wer andre von Deinem Besiz auszuschließen denkt, muß sich selbst von Dir entfernen; in dem Maaß als der Mensch Sklaven macht und Sklaven hat, wird er selbst Sklave« (KGA I/1, 432). Der Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit tritt auch 1800 in den Monologen hervor, wenn Schlei­er­macher sagt: »So bist du Freiheit mir in allem das ursprüngliche, das erste und inSchlei­er­macher, Ethik 1832, Nachschrift Schweizer, 120. Vgl. Günter Meckenstock, Deterministische Ethik; Grove, Deutungen des Subjekts, bes. 34 ff. (»Autonomie«); Andreas Arndt, Freiheit und Determinismus beim jungen Schlei­er­macher, in: Freiheit und Determinismus, hg. v. Andreas Arndt und Jure Zovko, Hannover 2012, 111–125. 7

8

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nerste […] es weichet jedes drükende Gefühl der Sklaverei, es wird der Geist sein schöpferisches Wesen inne, das Licht der Gottheit geht mir auf« (KGA I/3, 11). Kein Zweifel, für Schlei­er­macher hat die Botschaft der Französischen Revolution im Kern einen göttlichen, religiösen Gehalt – und deshalb ist sie eben auch die ›erhabenste Tat des Universums’. Diese Charakteristik verweist wiederum auf Kant, denn Kant hatte im Anschluss an Burke und Holmes das »Erhabene« nicht nur in den ästhetischen, sondern auch in den politischen Diskurs der Klassischen Deutschen Philosophie eingeführt. Erhaben ist nach Kant das, was »schlechthin«, d. h., »was über alle Vergleichung groß ist«9 und daher das »Gefühl[] eines übersinnlichen Vermögens in uns« weckt, da das Erhabene »jeden Maßstab der Sinne übertrifft«.10 Dieses Gefühl ist, weil es auf das Übersinnliche und damit rein Intelligible gerichtet ist, mit der moralischen Gemütsstimmung verwandt.11 In diesem Sinne hat Kant dann auch die Wirkung der Französischen Revolution auf die Beobachter der Ereignisse in Frankreich als an den Enthusiasmus grenzend bezeichnet, wobei der Enthusiasmus für Kant mit dem Gefühl des Erhabenen verwandt ist.12 Die Revolution habe bei den Beobachtern eine »Theilnehmung dem Wunsche nach« hervorgerufen, »die nahe an Enthusiasm grenzt«,13 wobei diese »Teilnehmung am Guten mit Affekt« ganz »aufs Idealische und zwar rein moralische geht«, nämlich den Rechtsbegriff, der keine Partikularinteressen verfolgt.14 Moralisch sei dieser Enthusiasmus schon dadurch, dass dessen »Äußerung 9 KU

80 f. (§ 25), AA 5, 248. 85 (§ 25), AA 5, 250. 11 KU 111 f., (§ 29), AA 5, 265: »Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur Cultur bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von der Cultur zuerst erzeugt, und etwa bloß conventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt; sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur, und zwar demjenigen, was man mit dem gesunden Verstande zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen.« 12 Christine Pries, Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1996, 71 f. betont diesen Zusammenhang des Erhabenen mit dem Enthusiasmus bei Kant. 13 Kant, Der Streit der Fakultäten, AA 8, 85. 14 Ebd., 86. 10 KU

Schlei­er­macher und die ­Französische ­Revolution | 85

selbst mit Gefahr verbunden war«.15 Wie Schlei­er­macher, so sieht auch Kant die Erhabenheit der Französischen Revolution unabhängig davon, ob sie »gelingen oder scheitern« würde oder mit »Greuel­ thaten« angefüllt sei. In seinem Nachruf auf Kant schrieb Schelling 1804: »Es ist nichts weniger als bloß scheinbare Behauptung, daß das große Ereignis der französischen Revolution ihm allein die allgemeine und öffentliche Wirkung verschafft hat«.16 Kants Philosophie der Freiheit als Autonomie, d. h. Selbstbestimmung im Sittlichen, begründete diese Wirkung, so dass in der Folge die Entwicklung der nachkantischen Klassischen Deutschen Philosophie nicht nur als Parallele zur Französischen Revolution, sondern geradezu als deren gedankliche Verarbeitung erscheinen konnte. Noch der späte, katholisch und politisch reaktionär gewordene Friedrich Schlegel hat dies 1812 so dargestellt: »Wie in Frankreich die alles beherrschende und alles auflösende […] Vernunft ihre zerstörenden Wirkungen ganz nach außen hin gewandt […], so nahm in Deutschland, dem Charakter der Nation gemäß, bei der äußern Gebundenheit der edelsten Kräfte, die absolute Vernunft ihre Richtung ganz nach Innen, statt der bürgerlichen Revolutionen, in metaphysischem Kampfe Systeme erzeugend und wieder zerstörend« (KFSA 6, 411). Ganz ähnlich hat Hegel dies in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gesehen, wenn auch mit einer deutlich positiveren Bewertung der Französischen Revolution: »Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist […]. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte, deren innerstes Wesen begriffen wird in der Weltgeschichte, haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk, sosehr sie entgegengesetzt sind, oder gerade weil sie entgegengesetzt sind. […] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen.«17 15 Ebd.,

85; auch das Folgende. Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. 6, 4. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der

16 Schelling,

86 | Kontexte 

Nach Hegel bleiben also die deutschen Zustände hinter der französischen Wirklichkeit zurück; ironisch merkt er an: »In Deutschland hat dasselbe Prinzip das Interesse des Bewußtseins für sich genommen; aber es ist theoretischerweise ausgebildet worden. Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei läßt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner.«18 Das ist auf den ersten Blick etwas Anderes als Schlei­er­machers Zutrauen zum ›väterlichen Lande‹, aber es wird sich zeigen, dass Schlei­er­macher und Hegel dann doch nicht so weit auseinanderliegen.    In seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in 3

Deutschland (1834) schreibt Heinrich Heine, ganz in Übereinstimmung mit den soeben zitierten Zeugnissen, mit Kants Kritik der reinen Vernunft beginne »eine geistige Revolution in Deutschland, die mit der materiellen Revolution in Frankreich die sonderbarsten Analogien bietet und dem tieferen Denker ebenso wichtig dünken muß wie jene. Sie entwickelt sich mit denselben Phasen, und zwischen beiden herrscht der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradizion wird alle Ehrfurcht aufgekündigt, wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifiziren, und wie hier das Königthum, der Schlußstein der alten socialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes.«19 Heines Charakteristik verschweigt freilich, dass Kant die poli­ tische Revolution in Frankreich (und anderswo) ausdrücklich ab­lehnt. Das Recht der Menschen, so sagt er 1794 im Streit der Fakul­täten, sei »immer nur eine Idee, deren Ausführung auf die Bedingung der Zusammenstimmung ihrer Mittel mit der Moralität

Philosophie, Bd. 3, in: ders.: Werke. Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M. 1970, Bd. 20, 314. – Zur Stellung Hegels zur Französischen Revolution vgl. Joachim Ritter, Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt/M. 1965; Jacques D’Hondt, Verborgene Quellen des Hegelschen Denkens, Berlin 1983; Rebecca Comay, Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution, Stanford 2011. 18 Hegel, Werke. Theorie-Werkausgabe, Bd. 20, 332. 19 Heinrich Heine, Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Düsseldorf 1973–1997, Bd. 8/1, 77. Schlei­er­macher und die ­Französische ­Revolution | 87

eingeschränkt ist, welche das Volk nicht überschreiten darf; welches nicht durch Revolution, die jederzeit ungerecht ist, geschehen darf.«20 Kant unterscheidet hier wie insgesamt in seiner Philosophie streng zwischen der intelligiblen und sinnlichen Welt. In der intelligiblen Welt der reinen praktischen Vernunft, also der Moral, geht es um eine »Revolution in der Gesinnung« oder eine »Revolution für die Denkungsart«, weil, so heißt es ausdrücklich, der Übergang auf den Standpunkt des Sittengesetzes »nicht durch allmählige Reform« erreicht werden könne; für die »Sinnesart« – das meint hier nicht die Gesinnung, sondern die sinnliche Welt – gilt aber, das der Widerstand, den sie der Realisierung der moralischen »Denkungsart« entgegensetzt, durch »allmählige Reform« überwunden werden müsse.21 Anders gesagt: Die Revolution vollzieht sich in der Gesinnung, die sich zur »Heiligkeit« steigern soll; diesen Prozess beschreibt Kant in der Terminologie religiöser Umkehr (Metanoia):22 »neuer Mensch«, »Wiedergeburt«, »neue Schöpfung«, »Änderung des Herzens« – das ganze Register eines Erweckungserlebnisses. Diese innere Revolution, so muss man Kant verstehen, ist Voraussetzung der äußeren Reform (in der Sinnenwelt) und eine Revolution in der Sinnenwelt – wie die Französische Revolution – beweist nur das Fehlen eines moralischen Fundaments. Positiv an der Französischen Revolution ist also nicht diese selbst und auch nicht die Denkungsart ihrer Akteure, sondern die Denkungsart ihrer Zuschauer, in denen sich angesichts dieses Ereignisses so etwas wie eine innere, moralische Revolution abspielt. Schlei­er­macher ist hier radikaler als Kant, sofern er eine Revolution nicht per se für ungerechtfertigt hält, sondern dann billigt, wenn der Weg der Reform seitens der Herrschenden blockiert wird; »jede Revolution«, so heißt es in einer Notiz, die 1801/02 geschrieben sein dürfte, sei »eine Naturbegebenheit für das politische Ganze aber eine sittliche Handlung für die ethischen Individuen«

20 Kant,

Der Streit der Fakultäten, AA 7, 87.

21 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), AA

6, 47; auch die folgenden Zitate. 22 Vgl. zu diesem Zusammenhang generell Michel Foucault, Die Regierung der Lebenden, Frankfurt/M. 2014 sowie Heinz-Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Darmstadt 1992. 88 | Kontexte 

(KGA I/3, 310).23 Dies ist in der Konsequenz auch die Position Hegels. Beide gehen dabei davon aus, dass es in Deutschland so etwas wie eine Revolution der Denkart gegeben habe, die als Fundament von Reformen dienen könne. Heinrich Heine, um ihn noch einmal zu bemühen, beschrieb diesen Prozess so: ein »methodisches Volk wie wir, mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen.«24 Das ist Hegelsch gedacht, denn die Reformation ist für Hegel – neben der Französischen Revolution – das weltgeschichtliche Ereignis der Moderne, zugleich aber auch nicht nur eine religionsgeschichtliche, sondern vor allem auch eine philosophiegeschichtliche Zäsur. Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen steht am Beginn der Moderne: »Dies«, so heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ist also »das große Prinzip, das alle Äußerlichkeit in dem Punkte des absoluten Verhältnisses zu Gott verschwindet. Alle Entfremdung seiner selbst, die Abhängigkeit und Knechtschaft ist dadurch verschwunden.«25 In philosophischer Hinsicht hat Schlei­er­macher Luther nicht in Anspruch genommen; nur wenige Andeutungen finden sich dazu, dass die Reformation weit über die Christentumsgeschichte hinaus die Moderne geprägt habe.26 Dies liegt grundsätzlich daran, dass Schlei­er­macher – im Übrigen in einer gewissen Entsprechung zu Luther – Theologie und Philosophie zwar nicht als einander ausschließend entgegensetzen, vor allem aber nicht miteinander vermischen wollte, wie es in den Reden über die Religion zuerst programmatisch verkündet wird.27 Hierin und in der Bedeutung der Innerlichkeit als Gefühl bzw. Gewissen kann Schlei­er­macher in Datierung vgl. die Historische Einführung in KGA I/3, XCV. 24 Heine, Geschichte der Religion und Philosophie, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 8/1, 117. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg. v. Pierre Garniron und Walter Jaeschke, Hamburg 1986, 64. 26 Vgl. Simon Gerber, Schlei­e r­machers Kirchengeschichte, Tübingen 2015, 376. 27 Vgl. KGA I/2, 211: »Darum ist es Zeit die Sache einmal beim andern Ende zu ergreifen, und mit dem schneidenden Gegensaz anzuheben, in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet.« 23 Zur

Schlei­er­macher und die ­Französische ­Revolution | 89

eine Entsprechung zu Luther gebracht werden.28 Aufgabe der religiösen Erziehung ist daher auch die Ausbildung der Innerlichkeit als Gesinnung, eine Erziehung, die an die Innerlichkeit, d. h. an die Gefühlsbestimmtheit der Religion anknüpft.29 Dem entspricht nach Auffassung Schlei­er­machers die Gesinnung als das »für den Menschen organisirende[] Prinzip«,30 die dann auch als Gemeingeist gefasst wird. Schlei­er­macher überblendet beides tendenziell, auch wenn er – bereits in den Reden – die Kirche nicht als Instrument zur Erziehung im Sinne einer den Staat stützenden Gesinnung mißbraucht sehen will (vgl. KGA I/2, 283); gleichwohl ist die religiöse Gesinnung für ihn nicht an sich mit dem politischen Gemeingeist kompatibel, sondern letztlich nur in ihrer protestantisch-christlichen Gestalt – z. B. unter Ausschluss des Judentums.31 Vor diesem Hintergrund hat es ein besonderes Gewicht, wenn Schlei­er­macher in den Reden, wie eingangs zitiert, die Französische Revolution mit der Frage der religiösen Gesinnung in Verbindung bringt. Dass im deutschen Vaterlande noch Empfänglichkeit für die Religion waltet, bedeutet dann eben auch, dass die unreligiöse Betrachtung der ›erhabensten Tat des Universums‹ in Frankreich hier keinen Platz hat und, aufgrund der offenkundig eingewurzelten protestantischen Gesinnung, das Vertrauen in den reformatorischen Gang des Weltgeistes noch vorhanden ist – gegen Prometheus und seine modernen Nachfahren, die Jakobiner, aber auch gegen die politische Reaktion. Die Revolution in Frankreich wird somit, in Einklang mit den Positionen der Klassischen Deutschen Philosophie, als Ergebnis verhinderter Reformen verstanden und ihrem Wesen Gerhard Ebeling, Luther und Schlei­er­macher, in: Internationaler Schlei­er­macher-Kongress Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Bd. 1, Berlin und New York 1985, 21–38. 29 Vgl. Schlei­er ­macher, Erziehungslehre, hg. v. Carl Platz, Berlin 1849 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 9), 166: »Die Kirche neben dem Staat in dem Leben, wie es uns vorliegt, als die religiöse Gemeinschaft fordert überwiegend von jedem einzelnen die religiöse Gesinnung, und zwar die bestimmte Gesinnung der christlichen Frömmigkeit. Da nun jedes Hauswesen ebensogut ein organisches Element des Staates wie der Kirche ist, so muß es auch gleich geschickt sein, die christliche Gesinnung zu entwickeln, wie den Gemeingeist.« 30 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, anonyme Nachschrift Lübeck, 305. 31 Vgl. Matthias Blum, »Ich wäre ein Judenfeind?«. Zum Antijudaismus in Friedrich Schlei­er­machers Theologie und Pädagogik, Köln u. a. 2010. 28 Vgl.

90 | Kontexte 

nach durch das Schema der Reformation bestimmt. Die Revolution wird zu einem in ihrem Wesen nur religiös zu verstehenden Ereignis umgedeutet, zur »erhabensten Tat des Universums«, wie Schlei­er­macher sagt – zur »heiligen Revolution«, wie Friedrich von Hardenberg (Novalis) sie nennt.32 Anders als in Frankreich wird die politische Revolution dabei nicht durch einen entchristlichten »neureligiösen Revolutionskult« überhöht,33 sondern die Revolution einem christlich-protestantischen Deutungsschema unterworfen. An diesem Punkt freilich scheiden sich dann die Geister. Heinrich Heine etwa erklärt, durchaus im Geiste Hegels, Reformation und philosophische Reflexion der Französischen Revolution zur Ausarbeitung des Gedankens, der auch die politische Tat nach sich ziehen soll: ein »methodisches Volk wie wir [die Deutschen, A.], mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen«.34 Hier wird, im Unterschied zu Schlei­er­macher, die Revolution nicht religiös, sondern die Religion politisch angeschaut. Das heißt, wie Hegel sagt, dass »das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradirt, – das Weltliche dagegen sein abstractes Fürsichseyn zum Gedanken und dem Principe vernünftigen Seyns und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet«.35 32 Vgl. Hermann Timm, Die heilige Revolution. Schlei­e r­macher – Novalis –

Friedrich Schlegel, Frankfurt/M. 1978; Timm lässt sich allerdings die Pointe entgehen, Schlei­er­machers Beziehung auf die Französische Revolution in diesem Zusammenhang zum Thema zu machen, obwohl er Schlei­er­machers Reden eingehend interpretiert. 33 Vgl. Wolfgang Eßbach, Religionssoziologie 1: Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, Teil 2, 379 ff., bes. 416; Schlei­ er­machers Reden werden hier in die Folgen der Französischen Revolution eingeordnet; vgl. 432 ff. 34 Heine, Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 8/1, 117; vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, GW 27, 1, 459 ff., wo der Bogen von der Reformation über die französische Aufklärungsphilosophie bis zur Französischen Revolution gespannt wird. 35 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14, 1, 281, § 360. Schlei­er­macher und die ­Französische ­Revolution | 91

TEIL II SYSTEM

Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung Zum Systembegriff in Schlei­er­machers Grundlinien einer ­Kritik der bisherigen Sittenlehre Schlei­er­macher gehört gemeinhin nicht zu den Protagonisten der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant, die als Begründer eines Systems hervorgetreten sind, jedenfalls nicht dann, wenn darunter ein in sich vollständiges oder wenigstens vollständig grundgelegtes System der philosophischen Wissenschaften verstanden wird. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Schlei­er­macher lässt sich durchgängig von der Auffassung leiten, dass es einen solchen Abschluss des Wissens in sich noch nicht gebe und – vielleicht – auch nie geben werde. Bis hin in die Vorlesungen über die Dia­lek­ tik besteht die Frage darin, wie unter der Voraussetzung einer Unentschiedenheit in den Grundsätzen des Wissens (und Handelns) gleichwohl ein Wissen, wenn auch nicht ein Wissen der Grundsätze, gerechtfertigt werden kann. Dass ein systematischer Abschluss der philosophischen Wissenschaften unter dieser Voraussetzung unmöglich ist, versteht sich von selbst. Tatsächlich spielt der Begriff des Systems bei Schlei­er­macher auch keine sonderlich prominente Rolle und wird in den frühen Schriften und Entwürfen eher umgangssprachlich für einen theoretischen Zusammenhang überhaupt gebraucht. Erst in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre kommt überhaupt die philosophische Problematik des Systembegriffs in den Blick. Warum das so ist, bedarf der Erläuterung durch den Rückgang auf Schlei­er­machers Position in den Reden über die Religion !. Im Blick auf die Grundlinien selbst ist dann zu fragen, welche Architektonik der Philosophie im Ganzen sie in den Blick nehmen @, und schließlich soll Schlei­er­machers Begriff des Systems betrachtet, also der Frage nachgegangen werden, was für ihn eigentlich die Systematizität eines Systems ausmacht #.  95

   Erstaunlich ist, dass Schlei­er­macher – auch in der Phase seines 1

Symphilosophierens mit Friedrich Schlegel in der gemeinsamen Wohnung vor dem Oranienburger Tor in Berlin1 – die Paradoxie des Systems der Systemlosigkeit, anders als Schlegel2 und Novalis, an keiner Stelle bemüht. Dabei teilt Schlei­er­macher durchaus deren grundlegende Auffassung, dass die letztlich aporetischen subjektiven Bemühungen des Denkens zur Etablierung eines Systems sich auf einen objektiven systematischen Zusammenhang beziehen. Für ein solches Bemühen steht in den Reden über die Religion paradigmatisch wiederum der Standpunkt Spinozas: »Nun laßt uns höher steigen, dahin, wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Gözendiener?« (KGA I/2, 245) Freilich ist Schlei­er­macher zugleich der Ansicht, dass eine systematische, denkend-begriffliche Erfassung des Universums nicht möglich sei. Die Metaphysik bzw. Transzendentalphilosophie – für Schlei­er­macher ist die Transzendentalphilosophie die einzig legitime Art, noch metaphysische Fragen zu thematisieren – »klaßifizirt das Universum und theilt es ab in solche Wesen und solche […] sie entspinnet aus sich selbst die Realität der Welt und ihre Geseze« (KGA I/2, 208). Anders gesagt: da sich das begreifende Denken notwendig in Gegensätzen bewegt, muss es jenes System, welches als die Vereinigung aller streitenden Gegensätze die Einheit in der Vielheit objektiv ist, nämlich das Universum, notwendig verfehlen. In den Reden fällt daher die Aufgabe der Erfassung dieses Systems als System auch nicht der Philosophie, sondern der Religion zu, die wesentlich als »Anschauen des Universums« bestimmt wird. Zwar

Andreas Arndt: Eine literarische Ehe. Schlei­e r­machers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel, in: Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schlei­er­macher in Berlin 1796–1802. Hrsg. von Andreas Arndt. Berlin und New York 2009, 3–14. 2 Vgl. Andreas Arndt: Friedrich Schlegels dialektischer Systembegriff, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg. v. Christian Danz und Jürgen Stolzenberg, Hamburg 2011, 287–300 1 Vgl.

96 | System 

kann auch die Religion das Universum nicht systematisch erfassen, aber sie vermittelt doch eine Intuition für die ursprüngliche Einheit und damit die Systematizität des All-Einen: »Ein System von Anschauungen, könnt ihr euch selbst etwas wunderlicheres denken? Laßen sich Ansichten, und gar Ansichten des Unendlichen in ein System bringen?« (KGA I/2, 215) Eben deshalb dürfe, so Schlei­er­ macher, die Religion nicht »mit Philosophie überschwemmt« und in die »Feßeln eines Systems« geschlagen werden (KGA I/2, 217). Die Religion ist kein System und darf keinem System unterworfen werden, aber sie ist der privilegierte Zugang zu einem gleichsam objektiven System, das sich bzw. seinen Grund nur in Anschauung und Gefühl zeigt, wobei das Gefühl das subjektive Innewerden dessen ist, wie sich das Universum in der Anschauung darstellt. Über den Gehalt der Anschauung oder des Gefühls kann jedoch systematisch nicht gesprochen werden, denn – wie es in der zweiten Rede heißt  –: »eine nothwendige Reflexion trennt beide [Anschauung und Gefühl; A.], und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen. […] Auch mit dem innersten Schaffen des religiösen Sinnes können wir diesem Schiksal nicht entgehen; nicht anders als in dieser getrennten Gestalt können wir seine Produkte wieder zur Oberfläche herauffördern und mittheilen.« (KGA I/2, 220 f.) Es ist dieser privilegierte Zugang, den die Religion in der ursprünglichen Einheit von Anschauung und Gefühl zur All-Einheit des Universums und damit zu dem wahren System hat, der Schlei­ er­macher vor der Paradoxie des Systems der Systemlosigkeit bewahrt. Die Religion übernimmt als eine eigene Provinz innerhalb des menschlichen Gemüts gleichsam arbeitsteilig die systematische Perspektive, die der Reflexion notwendig abgeht, da sie sich innerhalb von Trennungen und Entgegensetzungen bewegt. Nicht innerhalb der Philosophie, sondern als Gegengewicht zur Philosophie wird die Systemperspektive zur Geltung gebracht, und deshalb ist es aus der Sicht des Redners auch »verwegener Übermuth«, »Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion« (KGA I/2, 212). Und ausdrücklich heißt es dann wenig später, Religion müsse »dem Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus«, das »Gegengewicht halten« und »einen höheren Realismus« ahnden lassen, denn der Idealismus werde sonst »das Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung | 97

Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit« (KGA I/2, 213). Hieran ist zweierlei hervorzuheben. Zum einen: ein »System der Vernunft«,3 wie es nach Schlei­er­machers Auffassung wohl der Idea­ lismus erstrebt, ist für Schlei­er­macher an dem höheren Realismus der Anschauung des Universums als des All-Einen zu messen und dabei notwendig defizitär. Ein System der Vernunft bleibt subjektiv und kann unsere Beschränktheit nicht überwinden. Damit optiert Schlei­er­macher für ein systematisches Reales, welches unserem Erkennen voraus und zugrunde liegt. Zweitens aber ist dieses systematische Reale nicht durch philosophische Reflexion einzuholen und daher, so scheint es, auch nicht deren internes Moment. Das unterscheidet Schlei­er­macher radikal von Schlegels dialektischem Systembegriff, denn dort war das gleichsam objektive System unter dem Titel des Unbedingten oder Absoluten insofern internes Moment des Prozesses, als das Erkennen an der Grenze zum Absoluten zugleich über diese Grenze hinaus war.4 Für den jungen Schlei­ er­macher dagegen wird die Philosophie, jedenfalls in den Reden, durch die Religion äußerlich begrenzt.5 Sie kann und soll zwar im Lichte einer durch die Religion vermittelten Intuition operieren, ist aber selbst nicht in der Lage, diese Intuition einzuholen. Dass in den Reden die Religion einerseits in einen »schneidenden« Gegensatz zur Philosophie (»Metaphysik« und »Moral«) gebracht, andererseits aber die religiöse Position nicht nur philosophisch konstruiert wird,6 sondern auch philosophische Konsequenzen hat, wurde bereits vielfach als widersprüchlich angesehen und soll hier nicht weiter verfolgt werden. Jedenfalls ist deutlich, dass die Position der Reden nicht das letzte philosophische Wort Schlei­er­machers zum Systembegriff sein konnte. Allerdings kam Schlei­er­macher auf die Problematik erst zurück, als er zum ersten Mal daran ging, seine philosophischen Positionen zusammenhän3 Vgl. Jaeschke und Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant.

Arndt: Friedrich Schlegels dialektischer Systembegriff. Arndt, Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. 6 Vgl. Andreas Arndt: On the Amphiboly of Religious Speech. Religion and Philosophy in Schlei­er­macher’s »On Religion«, in: Interpreting Religion, edd. D. Korsch and Amber L. Griffioen, Tübingen 2011, 99–111. 4 Vgl. 5 Vgl.

98 | System 

gend darzulegen  – in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), deren Vortrag nach Schlei­er­macher in »schulmäßiger«, also streng wissenschaftlicher Form erfolgen sollte (an Brinckmann, 22. 3. 1800, KGA V/3, 434).    Die Eigenart der Grundlinien besteht erstens darin, dass sie 2

rein negativ verfahren: sie sagen nicht, wie eine Sittenlehre positiv beschaffen sein müsse, welche Inhalte und Grundsätze sie haben müsse, sondern nur, welche Form der Sittenlehre nicht tauge, die Aufgabe einer Wissenschaft zu erfüllen. Zweitens besteht die Eigenart der Grundlinien darin, dass sie es nicht mit der Philosophie überhaupt, sondern nur mit einer philosophischen Realwissenschaft, eben der Ethik, zu tun haben. Beides lässt zunächst nicht erwarten, dass Schlei­er­macher hier etwas zu seiner eigenen Konzeption eines philosophischen Systems sagt. Tatsächlich ist er hierzu jedoch wenigstens in Ansätzen gezwungen, denn hinsichtlich der Form ist zu erörtern, ob und in welcher Hinsicht diese überhaupt systematisch sein könne, und auch, welcher Platz der Ethik im Zusammenhang der philosophischen Wissenschaften insgesamt zukomme. Ich beginne, wie eingangs erwähnt, mit der letzteren Frage. Vorauszuschicken ist, dass Schlei­er­macher sich in der Betrach­ tung der bisherigen Sittenlehre auf diejenigen Positionen beschränkt, die selbst Anspruch auf ein System machen können, wo nämlich »ein zusammenhängendes und das Gebiet umfassendes System verheißen worden ist, welches das zufällige menschliche Handeln unter einer Idee betrachtet, nach der, was darin ihr angemessen ist, ausschließend und ohne Ausnahme als gut gesezt, als böse aber eben so Alles mit ihr unvereinbare verworfen wird.« (KGA I/4, 37) Es geht im Weiteren dann darum, »die verschiedenen Ideen, welche bisher der Ethik zum Grunde gelegt worden, in Absicht auf ihren Werth, nemlich ihre Tauglichkeit zur Aufführung eines wissenschaftlichen Gebäudes«, zu beurteilen (KGA I/4, 47). Die zentrale Idee der ethischen Betrachtung kann grundsätzlich auf verschiedenen Wegen gewonnen worden sein: (a) ausgehend von den einzelnen Sätzen auf induktivem Wege; (b) aus einem besonderen inhaltlichen Bedürfnis in Bezug auf die Ethik und (c) dadurch, dass die Ethik und ihre höchste Idee »noch einen höheren wissenschaftlichen Grund über sich« habe, zu dem sie sich ins Verhältnis Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung | 99

setzen müsse (KGA I/4, 47). Während die ersten beiden Formen der Gewinnung der leitenden Idee – Empirismus und Subjektivismus – kaum zu einer wissenschaftlichen Systematik führen können, stellt sich mit der dritten Form sogleich das Problem der systematischen Gestalt der Philosophie insgesamt und des systematischen Ortes der Ethik. Schlei­er­macher geht hier von so etwas wie einem systematischen Bedürfnis der Philosophie aus, das »seine Ruhe nirgends anders finden« könne »als in der Bildung einer – wenn hier nicht ein höherer Name nöthig ist – Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften« (KGA I/4, 47 f.). Über die Forderungen, die an den Status dieser Wissenschaft und ihre Gestalt zu stellen seien, hat Schlei­er­macher relativ klare Vorstellungen – ungeachtet der Tatsache, dass er immer wieder betont, es gebe diese »oberste« Wissenschaft noch gar nicht. »Wäre nun«, so heißt es wenig später, »jene höchste Erkenntniß bereits auf eine unbestrittene Art mit dem unmittelbaren Bewußtsein allgemeiner Uebereinstimmung gefunden: so würde aus unserem Standort die Ethik, welche sich in dieser gründete, allen übrigen vorzuziehen sein. […] Allein jene Erkenntniß ist nicht auf eine solche Art gefunden, sondern nur einige Versuche gemacht, deren keiner recht genügen will.« (KGA I/4, 48) Dies betrifft unter den Zeitgenossen namentlich Schelling und Fichte, wobei Schelling in den Grundrissen deshalb keinen Gegenstand der Auseinandersetzung bildet, weil er nach Schlei­er­machers Auffassung gar keine Ethik zu bilden imstande sei, während umgekehrt Fichte keine Naturphilosophie ausbilden könne, wie im »Beschluß« der Grundlinien noch einmal ausdrücklich (wenn auch ohne die Namen der Vertreter des »dyna­ mischen Idealismus« zu nennen) hervorgehoben wird (KGA I/4, 356). Fichtes Wissenschaftslehre bezeichnet für Schlei­er­macher daher auch nur das Programm der gesuchten obersten Wissenschaft, kann aber nicht als deren Durchführung gelten. Die Erfindung des Namens »Wissenschaftslehre« sei »vielleicht für ein größeres Verdienst zu halten […], als das unter diesem Namen zuerst aufgestellte System. Denn ob dieses die Sache selbst gefunden habe, ist noch zu bestreiten, so lange es nicht in einer ungetrennten Darstellung bis zu den Gründen aller wissenschaftlichen Aufgaben und den Methoden ihrer Auflösung herabgeführt ist.« (KGA I/4, 48) Anders gesagt: könnte Fichte zeigen, dass vom Standpunkt der Wissenschaftslehre 100 | System 

eine Naturphilosophie konstruiert werden könnte, die sich als Realwissenschaft mit der Ethik auf eine Ebene stellen und vermitteln ließe, so wäre sie tauglich zur Begründung eines Systems. Tatsächlich hat Schlei­er­macher keinen Zweifel daran, dass Fichtes Wissenschaftslehre dies nicht leisten kann.7 Aber auch sonst sind keine Kandidaten auszumachen, die Schlei­ er­machers Forderungen genügen könnten. Auch der Blick zurück zu den Griechen hilft nicht weiter, denn auch diejenigen, »welche in einem geschlossenen Zusammenhange die sogenannte Philosophie vortrugen, pflegten sie einzutheilen, in die logische, physische und ethische, ohne den gemeinschaftlichen Keim, aus welchem diese drei Stämme erwachsen sind, aufzuzeigen, noch auch höhere Grundsäze aufzustellen.« (KGA I/4, 49) Die neuere Philosophie (die mittelalterliche ist für Schlei­er­macher weitgehend terra incognita) hat hier auch nicht mehr zu bieten, denn: »Dieselbige Bewandniß hat es mit der neueren Eintheilung der Philosophie in die theoretische und praktische, welche auch mit der vorigen, bis auf die Aussonderung der Logik, ganz übereinkommt.« (KGA I/4, 49 f.) Dies gilt auch für Kant (KGA I/4, 50 ff.). In jedem Falle wird deutlich, dass Schlei­er­macher die Systemfrage historisch verortet: sie hat sich nicht immer und überall gestellt, sondern sie ist offenbar ein Produkt der nachkantischen Diskussionslage. Nun hat Schlei­er­macher, wie bereits erwähnt, durchaus eine Vorstellung davon, was die gesuchte »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften« leisten und welche Gestalt sie haben müsse. Sie dürfe, so heißt es, »selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann.« (KGA I/4, 48) Schlei­er­machers be7 »Aus

dem Idealismus sind Zwei verschiedne Theorien ausgegangen. Die Fichtesche welcher durch die ganze Anlage und Gesinnung keine Physik möglich ist, und die Schellingsche welcher auf eben die Art keine Ethik möglich ist. Zu beweisen ist demnach daß auch die Physik des lezten und die Ethik des ersten schlecht und leer sein muß, ohnerachtet der Bewundernswürdigkeit der Zurüstungen« (KGA I/3, 320, Nr. 149). Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung | 101

rühmte und vielzitierte Ausführung bedarf einer näheren Erläuterung. Offenkundig ist, dass er sich hier nachdrücklich von der sogenannten »Grundsatzphilosophie« distanziert. Weder dürfe die oberste Wissenschaft überhaupt auf einem Grundsatz beruhen, noch könne sie überhaupt begründet und bewiesen werden. Eine Letztbegründung scheidet damit aus und mit ihr die Bemühungen namentlich Reinholds und Fichtes um eine Grundlegung der Philosophie aus Prinzipien.8 Offenbar greift Schlei­er­macher hier auf ein Theorem zurück, das ihm durch Friedrich Schlegel geläufig war, der sich in seiner Rezension von Jacobis Roman Woldemar 1796 mit Jacobis These auseinandergesetzt hatte, dass jeder Erweis schon etwas Erwiesenes voraussetze. Dies gilt nach Schlegel nur für »diejenigen Denker, welche von einem einzigen Erweis ausgehn. Wie wenn nun aber ein von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie wäre?« (KFSA 2, 72) Schlei­er­macher nimmt diesen Gedanken auf in der Vorstellung eines Ganzen, »in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht«. Beide, Schlegel und Schlei­er­macher, stimmen mit der »Grundsatzphilosophie« darin überein, dass der von Jacobi kritisierte unendliche Regress des Bedingens bzw. Erweisens durch ein Unbedingtes außer Kraft gesetzt werden müsse, das nicht im Sinne eines Bedingungsverhältnisses begründet werden könne. Der alles entscheidende Unterschied besteht darin, dass Schlegel – und mit ihm Schlei­er­macher – das Unbedingte als Totalität denkt, innerhalb derer die Elemente sich wechselseitig bedingen. Während Schlegels Konzeption bereits vielfach diskutiert wurde und hier nicht weiter zu erörtern ist,9 ist die weitgehende Übereinstimmung Schlei­ er­machers mit Schlegel in diesem Punkt noch wenig thematisiert worden.10 8 Schlei­er­macher hatte für die oberste Wissenschaft auch die an Reinhold

anknüpfende Bezeichnung »Elementarphilosophie« erwogen; vgl. KGA I/3, 310, Nr. 107. 9 Vgl. zur Diskussionslage Jaeschke und Arndt: Die klassische Deutsche Philosophie nach Kant, 231 f. 10 Vgl. Andreas Arndt: Kommentar, in: Friedrich Schlei­er­macher: Schriften. Frankfurt/M. 1996, 1070 f., 1083 ff.; Grove: Deutungen des Subjekts, 243 ff. 102 | System 

Die Konsequenzen der Schlei­er­macherschen Intuition einer Wissenschaftslehre sind nicht eindeutig zu bestimmen. Offenkundig ist, dass Schlei­er­macher Philosophie als System im Sinne einer organischen Einheit denkt, wo Teil und Ganzes, Einzelnes und Allgemeines sich wechselseitig durchdringen und bedingen. In welcher Weise das durchgeführt werden soll – in der Totalität der Realwissenschaften (Physik bzw. Naturphilosophie und Ethik) oder auch für sich gestellt in einer Art Wissenschaftslehre –, wird nicht ganz deutlich. Dass die einzelnen Wissenschaften ausdrücklich auf einem Grund beruhen, besagt noch nicht zwingend, dass der Wechselerweis in eine für sich zu stellende höchste Philosophie fällt, wie Peter Grove dies kritisch gegen mich behauptet hat.11 Vielmehr kann auch zwischen den bedingten Grundsätzen der Physik und Ethik ein Wechselerweis eintreten, durch welchen sich aus den Realwissenschaften heraus eine Totalität konstituiert. Schlei­er­machers wenig später gehaltene Vorlesungen zur Ethik in Halle gehen jedenfalls so vor, dass sie Ethik und Physik direkt aufeinander beziehen, wobei sie durchaus unterschiedliche Grundsätze haben.12 Das entspricht der im Brouillon zur Ethik (1805/06) vorgetragenen Polemik gegen die »gewöhnlichen« Formen der »Transcendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissen abstrahirt von aller Individualität sezen will«.13 Eine Wissenschaft über den Realwissenschaften wird hier ausdrücklich zurückgewiesen; gleichwohl gibt es so etwas wie eine Anschauung des Ganzen, dessen Momente Natur und Geschichte (Ethik) sind. Eine abschließende Gewissheit darüber, was Schlei­er­macher 1803 genau meinte, lässt sich indessen wohl nicht gewinnen. Aufschlussreich ist jedoch, was Schlei­er­macher im Blick auf die beiden von ihm favorisierten Systeme der Ethik sagt, nämlich diejenigen Platons und Spinozas. Sie kommen darin überein, dass sie »objectiv philosophirt haben, das heißt von dem Unendlichen als dem einzigen nothwendigen Gegenstande ausgegangen sind« (KGA I/4, 66). Deutungen des Subjekts, 246, Anm. 466. Andreas Arndt: Schlei­er­machers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme. Anmerkungen zur Systemkonzeption in Schlei­er­ machers Vorlesungen zur philosophischen Ethik 1807/08, in: Archivio di Filosofia 52 (1984), 103–121. 13 Schlei­er­macher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 175. 11 Grove: 12 Vgl.

Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung | 103

Diese Perspektive auf das Unendliche, die Totalität, strukturiert die jeweilige philosophische Systematik. Platon und Spinoza kämen, so Schlei­er­macher, darin überein, »daß ihnen die Erkenntniß des unendlichen und höchsten Wesens nicht etwa erst Erzeugniß einer andern ist, vielweniger ein zu andern ersten Gründen noch hinzugeholtes Noth- und Hülfsmittel, sondern die erste und ursprüngliche, von welche jede andere ausgehen muß« (KGA I/4, 63). Der Mangel bestehe bei Spinoza darin, dass er die »einzelnen Naturen«, d. h. die Individualitäten, unterbestimmt habe; dies beruhe auf dem Fehlen »jeder Vorstellung einer Kunst oder eines Kunstwerkes. Man kann daher nicht läugnen, daß die Ethik ihm fast wider seinen Willen, und wohl nur polemisch zu Stande gekommen ist, es sei nun um die gemeinen Begriffe zu bestreiten, oder um seine Theorie vom höchsten Wesen zu rechtfertigen und zu bewähren.« (KGA I/4, 65) Bei Platon dagegen erscheine »das unendliche Wesen nicht nur als seiend und hervorbringend, sondern auch als dichtend, und die Welt als ein werdendes, aus Kunstwerken ins Unendliche zusammengeseztes Kunstwerk« (ebd.). Schlei­er­macher will hier ausdrücklich nicht entscheiden, ob »die höchste Wissenschaft selbst so logisch, als Spinoza sie aufbaut, oder so wie Platon sie nur nach einer poetischen Voraussetzung des höchsten Wesen hinzeichnet, einen festen Grund habe« (KGA I/4, 66); festzuhalten ist jedoch, dass weder Spinoza noch auch nach Schlei­er­machers Auffassung Platon über eine selbständig hervortretende oberste Wissenschaft verfügen.    Es wurde bereits gesagt, dass die philosophischen Realwissen3

schaften – Naturphilosophie und Ethik – durchaus einen Grundsatz haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass innerhalb dieser Wissenschaften ein deduktives Begründungsverfahren stattfindet. Tatsächlich setzt Schlei­er­macher den obersten Grundsatz mit einer leitenden Idee gleich; es sei »das erste Erforderniß einer jeden Ethik die leitende Idee, oder der oberste Grundsaz, welcher diejenige Beschaffenheit des Handelns aussagt, durch welche jedes Einzelne als gut gesezt wird, und welche sich überall wieder finden muß, indem das ganze System nur eine durchgeführte Aufzeichnung alles desjenigen ist, worin sie erscheinen kann« (KGA I/4, 42). In dieser Hinsicht sind »oberste Wissenschaft« und Realwissenschaften isomorph: Dem notwendigen Bezug auf das Unbedingte dort ent104 | System 

spricht hier eine Idee, deren Erscheinungsweisen nicht abzuleiten, sondern »aufzuzeichnen«, d. h. gleichsam zu protokollieren sind. Ein Blick in Schlei­er­machers Hallenser Ethik bestätigt diesen Befund. Eine »ursprüngliche Anschauung« bildet hier den Ausgangspunkt, welche man »nicht in einem Saz zusammenfassen« könne, weshalb man »unmittelbar in der Anschauung haften bleiben« müsse.14 Nach dieser Seite sei die Ethik »Beschreibung«, »schlichte Erzählung«, »Aufzeigen« der »Geseze des menschlichen Handelns« als »Naturgeseze«;15 entsprechend heißt es in den Grundlinien, die Ethik sei ein »System über das zufällige menschliche Handeln« (KGA I/4, 39). Dieses Handeln selbst ist als zufällig nicht deduktiv aus Prinzipien einzuholen, aber dies ist auch nicht die Aufgabe der Ethik, die vielmehr darin besteht, den Bezug alles möglichen Handelns auf die leitende Idee begrifflich zu sichern: »Endlich aber entsteht die Frage, ob auch die Gesamtheit dieser Begriffe die ganze Sphäre des möglichen menschlichen Handelns ausfülle, so daß nichts was darin ethisch gebildet werden könnte, ausgeschlossen, und nichts, was sich als Gegenstand sittlicher Beurteilung zeigt, unbestimmt gelassen worden; kurz, ob das System auch vollständig und geschlossen ist.« (KGA I/4, 43) Die Vollständigkeit und Geschlossenheit des Systems, die Schlei­er­macher fordert, steht der immer wieder geäußerten Auffassung entgegen, er habe genau das Gegenteil erstrebt und sich von den Systembildungsversuchen der Zeitgenossen ferngehalten.16 Die Geschlossenheit des Systems bezieht sich jedoch nicht auf einen deduktiven Zusammenhang, sondern auf die vollständige Erfassung des möglichen Felds empirischer Phänomene, hier: des zufälligen menschlichen Handelns. Allerdings gilt auch hier, dass das Handeln – wiewohl es im Einzelnen zufällig sein mag – hinsichtlich seiner grundlegenden Bedingungen sehr wohl strukturiert ist und so etwas wie einen systematischen Zusammenhang bildet. In der Hallenser Ethik bezieht sich dies auf die Handlungsräume, also, wie es dort heißt, auf das »Fachwerk« der Vernunfttätigkei14 Ebd.,

82. 15 Ebd., 80 f. 16 Vgl. den Überblick bei Gunter Scholtz: Die Philosophie Schlei­e r­machers, Darmstadt 1984, 64 ff. Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung | 105

ten.17 In den Grundlinien wird dies so zur Geltung gebracht: »Wenn aus einem ethischen Grundsatze ein System von Handlungen sich soll entwickeln lassen: so muß auch die Gesammtheit dieser Handlungen oder Zustände, damit auch die gleich einbegriffen werden, welche nicht auf ein eigentliches Handeln gehen, ein Ganzes und Gleichartiges ausmachen, welches daher auch unter Einem Begrif muß dargestellt werden können.« (KGA I/4, 100) Die Gesamtheit der Handlungen »unter einem Begriff« darstellen, diese Forderung bezieht sich demnach nicht darauf, dass die Handlungen selbst (und sei es post festum) aus einem Grundsatz abgeleitet werden, sondern darauf, dass alle möglichen Handlungsfelder in der Sphäre der leitenden Idee bzw. des obersten Grundsatzes stehen und darauf bezogen werden können. Der Grundsatz könne sich, so Schlei­er­macher, »eines vermittelnden und leitenden Begriffes« – auch »Hülfsbegrif« – bedienen, so dass »in dem durch den Hülfsbegrif gezeichneten Umriß nichts übrig bliebe, was nicht durch den Grundsaz ethisch bestimmbar wäre, und auch keine Anwendung des Grundsazes, innerhalb der menschlichen Welt nemlich, gedacht werden könne, die nicht auch durch die Anwendung des Grundsazes auf jenen Begrif sollte zu finden sein« (KGA I/4, 104). Ich will dies hier nicht weiter im Detail verfolgen. Deutlich wird, dass die Systematizität des Systems wesentlich von der Vernunft ausgeht, d. h. auf einem notwendigen Zusammenhang begrifflicher Bestimmungen beruht, denn der Grundsatz wird nicht unmittelbar auf empirische Phänomene – das zufällige Handeln – bezogen, sondern durch ein begriffliches Verfahren wird ein systematischer Zusammenhang von Handlungsfeldern konstituiert, der im Blick auf alle möglichen menschlichen Handlungen als vollständiges Beschreibungsmodell gelten kann. Hierbei handelt es sich nicht um empirische Verallgemeinerungen, sondern eher um so etwas wie eine apriorische Struktur, die in der Vernunft selbst insofern begründet ist, als es ja nach Schlei­er­macher im ethischen Handeln um ein Handeln der Vernunft geht, die Vernunft also als Subjekt desjenigen Handelns fungiert, das sie beschreibt, indem sie einen begrifflichen Rahmen konstituiert. Ausdrücklich hält Schlei­er­macher 17

Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 90.

106 | System 

fest: »Die untergeordneten Begriffe, wie verschieden sie auch sein mögen, sowohl dem Umfange nach, als in der Gestalt, können in ihrer Beziehung auf das System nicht anders gedacht werden, als daß sie durch Ableitung hervorgegangen sind aus der höchsten Idee.« (KGA I/4, 149)18 Ganz allgemein ist für Schlei­er­macher die »Idee eines Systems […] in jedem Falle eine solche, die zwar als Forderung der Vernunft im Allgemeinen von Jedem, welcher über die Natur der menschlichen Erkenntnis nachdenkt, muß zugegeben werden, deren Anwendbarkeit für einen einzelnen Fall aber gegen die Einwendungen des Skeptikers nur entweder durch ihre unmittelbare wirkliche Ausführung kann sicher gestellt werden« (KGA I/4, 267). Zwar könne, wie Schlei­er­macher immer wieder betont, die oberste Idee nicht auf induktivem Wege gewonnen werden, gleichwohl lässt sich die Vollständigkeit des aus der Vernunft begrifflich begründeten Systems auf empirischem Wege immer nur vorläufig sichern, was den Skeptizismus auf den Plan ruft. Hiermit steht die Idee des Systems selbst auf dem Spiel, denn sie ist zunächst eine Forderung der Vernunft. Tatsächlich ist sie aber nach Schlei­er­machers Auffassung nicht einmal im Blick auf die Vernunft selbst realisiert, denn dann wäre ein anerkanntes System der Vernunft vorhanden und die Philosophie tatsächlich, wie Fichte es verheißen hatte, in eine Wissenschaftslehre überführt. »Wäre«, so heißt es in den Grundrissen, »nun auch nur das Ganze der menschlichen Erkenntnis, sollte es gleich bloß im Umriß sein, als System gegeben, und dabei zugestanden, daß die Ethik einen wesentlichen Teil jenes Ganzen ausmache: so würde dann leicht sein zu zeigen, daß auch sie schon deshalb systematisch müsse gebildet werden. Jetzt hingegen wird dieses von Einigen, jenes von Anderen geleugnet, und auch wenn eine der Ethik ähnliche Erkenntnis als System vorgezeigt würde, möchte Streit entstehn über den Grund der Ähnlichkeit, indem man dabei entweder ausgehn müßte von irgend einer einzelnen, also bestrittenen Vorstellung der Ethik, oder von jener eigentlich noch gar nicht vorhandenen Idee eines Systems der ganzen Erkenntnis, worin denn freilich einzelne Teile andern entsprechen müßten.« (KGA I/4, 267) 18 Im

Folgenden grenzt Schlei­er­macher dies ausdrücklich gegen eine induktionistische Theorie ab. Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung | 107

Es scheint, fährt Schlei­er­macher fort, als habe »die ganze Forderung nicht hinlänglichen Grund« und müsste »vielmehr aufgegeben werden […], wenn sich nicht der Gedanke aufdränge, daß sie nicht unmittelbar das Ideale der Ethik betrift, sondern vielmehr ihr Reales, oder, um es anders zu sagen, nicht die Erkenntnis, sondern den Gegenstand« (KGA I/4, 267). Genau genommen geht es Schlei­er­ macher um das, was er 1801 in einem Brief als sein Hauptbestreben bezeichnet hatte: die Vereinigung des Idealismus und Realismus.19 Die Forderung der Vernunft bezieht sich auf ein ideales System, das begrifflich konstruiert wird, das aber nur im Bezug auf ein reales System beglaubigt werden kann. Ein reales System ist, wie Schlei­er­ macher näher ausführt, entweder ein organisches Ganzes, »dessen Teile nur aus dem Ganzen und durch dasselbe können verstanden werden«, wie zum Beispiel unser Sonnensystem, oder das System ist »die Gesamtheit, es sei nun der Äußerungen einer Kraft, die sich nur in einer Mannigfaltigkeit des Einzelnen offenbart, oder sonst eines Allgemeinen, welches sich vereinzelnd darstellt« (KGA I/4, 268), wie das Weltganze – der Kosmos – selbst. Aber auch für die realen Systeme gilt, »daß wir die Regel, nach welcher die Gesamtheit des Einzelnen das Ganze erschöpft, noch nicht gefunden haben« (KGA I/4, 268). Mit anderen Worten: es handelt sich für Schlei­er­macher bei dem realen System um eine denknotwendige Annahme; fast möchte man sagen: um ein regulatives Prinzip, wenn Schlei­er­macher diesen Kantischen Gedanken nicht immer weit von sich gewiesen hätte. So bleibt die Begründung des Systems bei Schlei­er­macher in der Schwebe. Das System, wie es sich durch die und aus der Vernunft bildet, ist notwendig auf ein Reales bezogen, durch das es bewahrheitet wird, zugleich aber ist die Sys19 Vgl.

an F. H. C. Schwarz, 28. 3. 1801, KGA V/5, 73–76: »Die Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist […] Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden […] Man kann innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich. […] Bei dieser großen Verschiedenheit hat es mir immer für die Philosophie leid getan, daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten […] Indes ist doch der Hauptpunkt unserer Verschiedenheit, daß ich nämlich die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne, auch im ersten Monologen schon stark genug angedeutet«. 108 | System 

tematizität des Realen immer nur darstellbar durch das Ideale. »Von einem […] systematischen Realen, muß nun unfehlbar auch die ideale Darstellung systematisch ausfallen, wenn sie anders getreu sein, und die Idee nicht verlassen will, unter welcher das Reale, worauf sie sich bezieht, wenn gleich nur problematisch ist angeschaut worden.« (KGA I/4, 268) Diese Formulierung ist bemerkenswert. Von Seiten des Idealen wird das Reale unter einer problematischen Idee betrachtet, die das Ideale selbst als Abbild (»getreue Darstellung«) des Realen ansieht. Problematisch bleibt hier beides, das ideale System und das reale System, und nur die fortgesetzte Beziehung des idealen Systems auf das Reale kann die Selbstaffirmation des idealen Systems der Vernunft sichern, ist aber – da das Reale wiederum nur in der idealen Darstellung Systematizität gewinnen kann – zugleich auch die Quelle eines sich immer wieder erneuernden Skeptizismus. Dies ist nicht weniger hart als die Paradoxie des Systems der Systemlosigkeit bei Friedrich Schlegel und Novalis, auch wenn Schlei­ er­macher die Paradoxie durch die Prozessualisierung (»werdendes System«) zu entschärfen sucht. Dass dieses frühromantische Erbe gleichwohl bis in die spätere Dia­lek­tik Schlei­er­machers hinein wirksam ist, hat Jonas Cohn schon 1923 ausgesprochen, ohne damit in der weiteren Forschung und Diskussion auf große Resonanz zu stoßen: »Die Dia­lek­tik hat bei ihm [Schlei­er­macher, A.] den Begriff des Systems selbst ergriffen. Es ist, als klinge in dem reif gewordenen Schlei­er­macher, der die Romantik längst überwunden hat, das Wort seines Jugendfreundes Friedrich Schlegel nach: ›Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden‹. Das bedeutet: ein System zu haben, das sich seines Ungenügens stets bewußt bleibt, das immer wird und nie ist.«20

20 Jonas

Cohn, Theorie der Dia­lek­tik, Leipzig 1923, 44 f. Das systematische Reale und seine ­ideale ­Darstellung | 109

Schlei­er­machers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen    Friedrich Schlei­er­machers erste Schriften und Entwürfe von 1

1787–1796, die seinen Publikationen vorausliegen und zum Teil noch in die Studentenzeit zurückreichen, sind philosophischen Themen gewidmet: der aristotelischen Ethik, der kantischen praktischen Philosophie und der Philosophie Spinozas, die Schlei­er­ macher – wie die meisten seiner Zeitgenossen – in der Darstellung Friedrich Heinrich Jacobis studierte. Die Grundposition, die Schlei­ er­macher im Ergebnis dieser Studien entwickelte – eine Kombination aus Kantianismus und Spinozismus – führte ihn auf eine Ebene mit der Avantgarde der nachkantischen Philosophie; so konnte er Friedrich Schlegel, als er ihn 1796 kennen lernte und sich mit ihm befreundete, auch philosophisch auf Augenhöhe begegnen. Bemerkenswert ist, dass Schlei­er­macher diese Entwicklung größtenteils im wahrsten Sinne des Wortes als »Selbstdenker« in der Abgeschiedenheit Drossens in der Neumark vollzog, wo er bei seinem Onkel Stubenrauch wohnte und allein über Rezensionsorgane und den Briefwechsel mit seinem Studienfreund Karl Gustav v. Brinckmann, der in Kontakt zu Reinhold stand, an den philosophischen Debatten Anteil nehmen konnte. Die Begegnung mit Friedrich Schlegel trug entscheidend dazu bei, Schlei­er­machers literarische Produktivität freizusetzen, lenkte sie aber nicht in Richtung auf die Ausarbeitung einer systematisch gerichteten Philosophie. Kritische Projekte  – wie die »Kritik der Moral«, die Schlei­er­macher erst im Stolper »Exil« 1803 vollenden sollte – und rhetorisch-poetische Annäherungen an das Unendliche – wie in den Reden über die Religion (1799) und den Monologen (1800) – bestimmten die philosophischen Bemühungen. Über deren Gravitationszentrum gibt Schlei­er­macher in seinen Briefen Auskunft. So heißt es in einem geradezu programmatischen Brief vom März 1801 an Friedrich Heinrich Christian Schwarz: »Die Ver111

einigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den Monologen« (an F. H. C. Schwarz, 28. 3. 1801, KGA V/5, 73); hierfür beruft Schlei­er­macher sich ausdrücklich auf die Übereinstimmung seiner Auffassungen mit denen Friedrich Schlegels. Und noch einen zweiten Punkt nennt Schlei­er­macher in seinem Brief, diesmal in dezidierter Abgrenzung zu Fichte und impliziter Übereinstimmung mit Friedrich Heinrich Jacobi: die Nichtanerkennung einer Trennung von Philosophie und Leben.1 Jacobi, dem er ja später noch die erste Auflage der Glaubenslehre (1821/22) widmen wollte, war für Schlei­er­macher überhaupt ein wesentlicher Bezugspunkt seines Philosophierens; ihm hätte er noch Ende 1803 zugetraut, als der »olympische Jupiter« in der Philosophie die Rolle zu spielen, die Goethe in der Literatur inne hatte (an Brinckmann, 26. 11. 1803, KGA V/7, 122). Was das Verhältnis von Philosophie und Leben betrifft, so steht das Leben für Schlei­er­macher höher als Philosophie und auch Poesie, denn das Leben besteht gerade darin, alle Gegensätze überwinden zu wollen; sein Träger ist die »lebendige Persönlichkeit«, weshalb das »Ausgehn von der Individualität« der »höchste Standpunct« ist, »da er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt. Ist denn die ganze Welt etwas anders als Individuation des Identischen?« (An Brinckmann, 14. 12. 1803, KGA V/7, 158) Als Schlei­er­macher sich zu solcher Position einer Begrenzung der Philosophie durch Poesie und Leben und zur Perspektive der Individualität bekannte, hatte er zugleich in den 1803 erschienenen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre erstmals eine philosophisch begründete Systematik des Wissens und der Wissenschaften ins Auge gefasst, nämlich – in deutlicher Anspielung an Fichte  – eine »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften«; diese dürfe jedoch »selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen«. Sie sei vielmehr »als ein Ganzes« denken, »in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht […], und so daß 1 Vgl.

ebd., 76. – Vgl. auch schon Schlei­er­macher an Brinckmann, Ende 1799; KGA V/3, 313 f. 112 | System 

sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann« (KGA I/4, 48). Schlei­er­machers Grundforderung an eine solche Wissenschaftslehre bestand darin, dass sie Physik (Naturphilosophie) und Ethik gleichermaßen ermöglichen und beide in ein Gleichgewicht setzen müsse. Während Fichte, so heißt es in den Grundlinien, »die Möglichkeit einer Naturwissenschaft bald troziger bald verzagter abgeläugnet« habe, habe Schelling umgekehrt für die Ethik »keinen Platz finden können auf dem Gesammtgebiete der Wissenschaften« (KGA I/4, 356).2 Ausdrücklich verweist Schlei­er­macher darauf, dass der Streit um die Prinzipien der Philosophie noch nicht entschieden sei (KGA I/4, 30); er selbst war sich dabei offenbar nicht im Klaren darüber, ob die ins Auge gefasste »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang der Wissenschaften« selbständig hervortreten oder in die Disziplinen der Physik und Ethik integriert werden müsse. Die Rede vom »Ganzen« der Wissenschaften legt Letzteres nahe; auch die ebenfalls 1803 erschienene Rezension zu Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums geben hier keine eindeutige Auskunft, denn sie berühren die Grundlegung des Systems im Ganzen nur am Rande (vgl. KGA I/4, 463 f.).    Damit ist die Ausgangslage für Schlei­er­machers Überlegun2 gen zur Grundlegung der Philosophie in seiner Hallenser Zeit bezeichnet. Schlei­er­macher war dort Professor der Theologie und der Philosophie und dadurch auch genötigt, der Kritik vorliegender Systeme eine systematisch gerichtete positive Darstellung seiner eigenen philosophischen Auffassungen folgen zu lassen, die er bisher vermieden hatte. Gewissermaßen im Anschluss an die Grundlinien trat Schlei­er­macher dabei in seinem ersten Semester (1804/05)  – wohl nach anfänglichem Zögern (angekündigt hatte er eine Christliche Sittenlehre) – zunächst mit seiner philosophischen Ethik hervor. 2 Vgl.

auch die Notiz 149 in dem Heft »Gedanken V« (KGA I/3, 320): »Aus dem Idealismus sind Zwei verschiedne Theorien ausgegangen. Die Fichtesche welcher durch die ganze Anlage und Gesinnung keine Physik möglich ist, und die Schellingsche welcher auf eben die Art keine Ethik möglich ist. Zu beweisen ist demnach daß auch die Physik des lezten und die Ethik des ersten schlecht und leer sein muß, ohnerachtet der Bewunderswürdigkeit der Zurüstungen.« Die Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen | 113

Über diese erste Vorlesung wissen wir nur wenig. Studentische Nachschriften sind bisher nicht bekannt und von einem Entwurf, der unter Schlei­er­machers Freunden zirkulierte und von ihnen kopiert wurde, hat sich leider nur der mittlere, auf die Güterlehre folgende Teil, die Tugendlehre, erhalten.3 Nach einem Brief seines Freundes Joachim Christian Gaß an Schlei­er­macher vom 20. 7. 1805 enthielt dieser Entwurf auch eine ausführliche Darstellung »transzendentaler Postulate«, in denen vor allem die Eigenständigkeit der Schlei­er­macherschen Position gegenüber Schelling deutlich hervortrat: »Die transcendentalen Postulate werden Sie schwerlich abkürzen können, ich dächte eher erweitern, auf allen Fall aber populärer machen müssen, für den mündlichen Vortrag nemlich. Bartholdy bemerkte besonders mit Wohlgefallen Ihre Abweichung von Schelling, deßen erste Vorlesung über das akademische Studium wir dabei zur Hand nahmen, und wünscht daß Sie sich demselben hierin nie mehr nähern mögten.« (KGA V/8, 255) Nach Kant sind Postulate praktisch begründete theoretische Sätze, die angenommen werden sollen, ohne bewiesen werden zu können;4 sie erfüllen damit genau das, was Schlei­er­macher in den Grundlinien von einer Wissenschaftslehre forderte. Was aber diese Postulate genau bezeichneten, lässt sich nur erahnen. Vermutlich bezogen sie sich auf die Einheit des Idealen und Realen, welche die Grundlage des von Schlei­er­ macher in der Ethik verfolgten Programms einer »Beseelung der Natur durch die Vernunft« bildet. Entsprechend seiner Kritik an Schelling und Fichte musste Schlei­er­macher bei seinem Unternehmen auch die Beziehung zur Naturphilosophie herstellen, die er selbst nicht vortrug und auch später niemals vortragen sollte. Wenn Physik und Ethik dabei nicht in einer gesondert hervortretenden Wissenschaftslehre verankert, sondern aus ihnen selbst heraus aufeinander bezogen werden sollten, war die Beschränkung auf die Ethik jedoch riskant, was vielleicht auch das anfängliche Zögern im Blick auf die philosophische Ethik erklärt. Schlei­er­macher musste damit rechnen können, dass eine für ihn anschlussfähige Naturphilosophie grundsätzlich möglich war. Tatsächlich fand Schlei­er­macher diese – Sarah Schmidt hat 3 Es

handelt sich um die Tugendlehre von 1804/05; vgl. Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 35–74. 4 KpV 220, AA 5, 122. 114 | System 

darüber ausführlich gehandelt5 – in den Vorlesungen seines Kollegen Henrich Steffens, mit dem er sich rasch anfreundete (vgl. an Reimer, 4. 11. 1804, KGA V/8, 18); schon bald wurden die Vorträge Steffens’ und Schlei­er­machers von allen Beteiligten als Einheit angesehen.6 In Schlei­er­machers Manuskript zur zweiten Hallenser EthikVorlesung 1805/06, dem sogenannten Brouillon zur Ethik, bestimmt Schlei­er­macher die Ethik als »die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas anders aus der andern als positiv aufnehmen […]. Sonach theilt sich alles reale Wissen in diese beiden Seiten.«7 Auf die »Frage, was man an die Spize der Sittenlehre stellen soll«, schließt Schlei­er­macher eine »Behandlung in Grundsäzen und Säzen« ausdrücklich aus und verweist auf eine »ursprüngliche Anschauung«, welche man »nicht in einem Saz zusammenfassen« könne, weshalb man »also unmittelbar in der Anschauung haften bleiben« müsse.8 Diese »sittliche Anschauung sezt nun den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und sezt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen«9, d. h. sie bezieht sich auf den Schnitt- bzw. Indifferenzpunkt von Physik und Ethik. Dabei legt Schlei­er­macher besonderen Wert darauf, dass die ursprüngliche Anschauung nicht als ein abstrakt-allgemeines transSchmidt, Analogie versus Wechselwirkung – zur »Symphilosophie« zwischen Schlei­er­macher und Steffens, in: Friedrich Schlei­er­macher in Halle 1804–1807, hg. v. Andreas Arndt, Berlin und Boston 2013, 91–114. – Vgl. auch die Beiträge in System und Subversion. Friedrich Schlei­er­macher und Henrik Steffens, hg. v. Sarah Schmidt und Leon Miodoński unter Mitarbeit von Joanna Giel, Berlin und Boston 2018. 6 Vgl. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, Bd. 2, Berlin 1871, 334, wo es über Steffens’ Vorlesungen heißt, sie zeigten »ihren höchsten Werth erst dann, wenn man sie mit den Schlei­er­macher’schen gleichsam in ein Ganzes verflocht […] und beide Männer in den Hauptsachen einverstanden und zusammenstimmend, sahen sich gern in diese Gemeinschaft gestellt, welche für die näheren und vertrauteren ihrer Jünger in aller Kraft wirklich bestand, so daß die Theologen auch Steffens hörten, und die Naturbeflissenen sich Schlei­er­macher’n anschlossen.« 7 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 79 f. 8 Ebd., 82 9 Ebd. 5 Sarah

Die Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen | 115

zendentales Prinzip verstanden wird. Vielmehr müsse »die Idee des objectiven Wissens selbst als eines irdischen individuell aufgefaßt« werden, »als Identität eines Allgemeinen und eines Besonderen«.10 Und er fügt hinzu: »Hievon weichen gänzlich ab die gewöhnlichen Formeln der Transcendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissens abstrahirt von aller Individualität sezen will, aber auf diese Art nur eine gehaltlose und unbestimmte Form erhalten kann«.11 Offenbar war Schlei­er­macher der Auffassung, dass die Philosophie sich aus den Realwissenschaften heraus – also der Naturphilosophie und der Ethik – über ihre Grundlagen zu verständigen habe und diese nicht in einer gesonderten Darstellung voranschicken dürfe, um die von ihm gerügte Abstraktion zu vermeiden. Dies entspricht seiner späteren, bis in die letzten Fassungen der Dia­lek­tik hinein verfolgten Linie, das reale Wissen zum Ausgangspunkt der Verständigung über die Prinzipien des Wissens zu machen. Gleichwohl erschien es ihm noch 1805/06 undenkbar, dass eine gesonderte Disziplin – wie seit 1811 die Dia­lek­tik – diese Aufgabe übernehmen könnte. Von dem Gedanken einer obersten Wissenschaft, wie er in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre formuliert worden war, führt offenbar kein direkter Weg zu einer gesonderten Darstellung dieser Wissenschaft.    Während für die erste Hallenser Ethik außer dem bereits er3

wähnten Manuskript zur Tugendlehre keine weiteren Zeugnisse zum Inhalt und Verlauf der Vorlesung vorliegen, ist die zweite Vorlesung von 1805/06 gut dokumentiert. Zusätzlich zu Schlei­er­ machers Manuskript, dem Brouillon zur Ethik, sind vier studentische Nachschriften bekannt.12 Die erste, sehr ausführliche, befindet sich im Schlei­er­macher-Nachlass der BBAW und stammt aus der 10 Ebd., 11 Ebd.

175

12 Ethik  –

vorgetragen vom Prof. der Theologie und Philosophie Schlei­er­ macher Halle Winterhalbejahr Von 1805–1806., Evangelisch-reformierte Gemeinde Lübeck, Bibliothek KIII 26.; Ethik 1805/06, Nachschrift August Boeckh, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Schlei­er­macher 585/1; Ethik / Nach dem Vortrage / des HE. Prof. Schlei­ er­macher. / Michaelis 1805–Ostern 1806. / Friedrich Carl Köpke, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Germ. oct. 1215; Ethik 1805/06, 116 | System 

Feder des späteren Altphilologen August Boeckh. Eine zweite, nicht minder ausführliche, in manchen Details genauere Abschrift wurde von Friedrich Karl Köpke gefertigt, der später als Germanist und Gymnasialprofessor in Berlin wirkte; sie liegt in der SBPK in Berlin. Eine dritte, mehr zusammenfassende Nachschrift stammt von dem aus Bremen gebürtigen, früh verstorbenen Mediziner Adolph Müller. Und schließlich ist in Lübeck, im Archiv der dortigen reformierten Kirche, eine anonyme, sehr ausführliche Nachschrift vorhanden, die den Gang der Vorlesung detailliert nachzeichnet. Diese Nachschriften erlauben vielfach eine viel präzisere Bestimmung der Schlei­er­macherschen Position als sein eigenhändiges Manuskript, das Brouillon zur Ethik. Schlei­er­macher wendet sich mit äußerster Schärfe gegen die Auffassung, die Ethik oder die Philosophie überhaupt könnten auf einem obersten Grundsatz beruhen. Dabei ist jedoch die Frage nach Prinzipien nicht von der Hand zu weisen, denn, so heißt es in der Nachschrift Köpke, »es soll ja doch die Wissenschaft eine nothwendige Folge, Consequenz und Demonstration aus Prinzipien seyn.  Diesem zu Folge pflegt man denn auch in der Ethik nach Grundprincipien und einem ersten Satz zu fragen, in dem gleichsam die übrigen eingeschachtelt seyn sollen. Einen solchen Satz pflegt man denn gewöhnlich einen apodiktischen zu nennen. […] Mit einem Worte, sie wollen sagen, der Satz solle nicht bewiesen sondern angeschaut werden.«13 Es ist unverkennbar, dass sich Schlei­er­macher hier auf die Diskussionen der nachkantischen Philosophie über die mögliche Grundlegung des Wissens und Handelns in einem Akt der Letztbegründung bezieht. Karl Leonhard Reinhold hatte versucht, das nicht nur von ihm angenommene Begründungsdefizit der Kantischen Philosophie durch eine Fundamentalphilosophie zu beheben, welche auf einem evidenten obersten Grundsatz als fundamentum inconcussum aufbauen sollte. Fichte sollte ihm in seiner ersten Fassung der Wissenschaftslehre hierin folgen. Dagegen hatte Friedrich Heinrich Jacobi Kant vorgeworfen, mit dem Scheitern der Vernunft, sich eines Unbedingten zu vergewissern, sei alles Wissen und Tun haltlos geworden und eine Nachschrift Adolf Müller (Winter 5/6. / Ethik. / Adolf Müller), Stadtbibliothek Bremen 134738 (Bremen b. 652 Nr. 21). 13 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Köpke, Bl. 6 recto f. Die Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen | 117

»durchgängige Unwissenheit«14 sei an seine Stelle getreten; Gewissheit sei nur unmittelbar durch einen Sprung in den – philosophisch verstandenen – Glauben zu gewinnen. Schlei­er­macher begibt sich ohne Zweifel in die Nähe Jacobis, wenn er – wiederum in den Worten der Nachschrift Köpke – feststellt: »Jener ihr erster Grundsatz ist auf jeden Fall in die Luft hinein gebaut, denn er ist ja demnach doch nicht selbst genug, nicht in sich vollendet, sondern er wird ja so nothwendig auf eine frühere Autorisation bezogen, und bekommt erst von ihr seine Vollkommenheit und Gültigkeit. Ist es nun mit diesem Satze so beschaffen, dann steht es mit den übrigen nicht besser, welche sie ja aus diesem alle herausschachteln. Auch sie schweben jämmerlich in der Luft! Es ist überhaupt in der Welt nichts leerer wie dieser traurige Streit über den ersten Grundsatz.«15 Warum das so ist, erläutert die Nachschrift Boeckh: »Wovon soll aber nun die Ethik ausgehen? Gewöhnlich sagt man, die Wissenschaft müße von einem Principium ausgehen: worunter man einen Satz versteht, von dem alle übrigen sollen abgeleitete seyn; indem man die Wissenschaft nennt eine Reihe von Sätzen, die auf dem Wege der Demonstration auf einander folgen: so daß alle Sätze demonstrativ sind, den 1ten ausgenommen, dessen Gewißheit eine apodiktische seyn soll. Wahrlich wunderlich. Denn die den Nahmen des Apodiktischen dieser Wahrheit gaben, müßen wahrlich eine ganz andere Idee damit verbunden haben: indem ἀποδεικτικὸς nichts Anderes ist, als apodiktisch, und apodiktisch also nichts heißt als demonstrativ. Ieder Begriff ist wieder in neue Begriffe zerlegbar: darauf beruht die Deductionsfähigkeit überhaupt. Folglich wird auch der erste Grundsatz wieder in andere Begriffe zerlegbar seyn sowohl seinem Subiect als Prädicat nach. Allein, wenn man so verfahren wollte, so gäbe es ein ewiges Spiel mit Begriffen, womit man nie zu Ende kommen könnte.«16 Tatsächlich geht es hierbei nicht um die Bedeutung von ἀποδεικτικὸς, sondern darum, dass ein Satz, also ein aus Subjekt- und Prädikatbegriff bestehendes Urteil, an die Spitze gestellt werden soll. In der Heinrich Jacobi, Ueber den Transcendentalen Idealismus. ­ eilage zu David Hume über den Glauben (1787), in: Werke. Gesamtausgabe, B Bd. 2, 1, 112. 15 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Köpke, Bl. 7 recto. 16 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh, Bl. 4 verso / 5 recto. 14 Friedrich

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Nachschrift Müller können wir hierzu Folgendes lesen: »Jeder Satz besteht aus 2 verschiednen Begriffen in Verschmelzung: aus Subjekt und Prädikat. Ein Satz soll aus einem frühern abgeleitet werden: heißt, es soll gezeigt werden daß diese Begriffe in einen aufgehen, daß der abgeleitete Satz in dem früheren gelegen habe. Eine solche Auflösung aber führt nicht auf einen Grundsatz sondern geht ins Unendliche, daher muß eine andere Autorisation der Begriffe vorausgehen«.17 Nun ist diese Kritik keineswegs aus sich selbst heraus plausibel. Formal gesehen handelt es sich ja bloß darum, dass ein erster Satz als Obersatz eines Schlusses fungiert, der nicht wiederum selbst als Schlusssatz durch einen anderen Syllogismus vermittelt ist. Er ist unvermittelt (ámeson) im Sinne der zweiten Analytik des Aristoteles, wo gesagt wird (Anal. post. I, 2. 72a 7), dass ein oberster Grundsatz der unvermittelte Vordersatz eines Beweises sei, dem kein anderer Satz vorausgehe. In Bezug auf die von Kant vorgegebene Problematik einer Begründung der rationalen Vermögen insgesamt in einem Unbedingten oder Absoluten greift diese aristotelische Figur jedoch nicht, denn es geht hierbei nicht um Bedingungen für irgendwelche Teilbereiche des Erkennens, sondern um die Totalität der Bedingungen überhaupt, also in der Konsequenz um einen einzigen Satz, an dem alle anderen Sätze hängen. Es geht darum, eine absolute Bedingung alles Erkennens und Tuns in der begrifflichen Struktur eines Urteils zu verankern, dessen Begriffe selbst nicht wieder von anderen Begriffen abhängen. Aus Kantischer Perspektive scheitert dies deshalb, weil das Unbedingte begrifflich nicht bestimmt werden kann, da es sich eben um keinen Gegenstand der Erfahrung handelt. Es handelt sich also um eine Grenze des Begriffs überhaupt, die hier in Rede steht, nicht um das Verhältnis vermittelter und unvermittelter Strukturen auf dem Feld des begrifflichen Erkennens. Jacobi hat dies in der zweiten Auflage (1789) seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza auf den Punkt gebracht: »wenn alles, was auf eine uns begreifliche Weise entstehen und vorhanden seyn soll, auf eine bedingte Weise entstehen und vorhanden seyn muß; so bleiben wir, so lange wir begreifen, in einer Kette bedingter Bedingungen. 17

Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Müller, 4. Die Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen | 119

Wo diese Kette aufhört, da hören wir auf zu begreifen«.18 Schlei­er­ macher, der diese Schrift gut kannte, schließt sich dieser Position weitgehend an. In der Nachschrift Boeckh heißt es: »Will man diß vermeiden, so muß man den Grund des Begriffs immer gleich in einer Anschauung suchen, womit man auf ein Mahl diesem Begriffsspiel ein Ende gemacht, und die Begriffe bis auf ihre Wurzel zurückgebracht hat. Die Anschauung läßt sich nun freylich in einen Grundsatz fassen, und daraus läßt sich die übrige Wissenschaft dialektisch deduciren: der Grundsatz selbst aber kann ohne diese Anschauung keine Realität haben.«19 Der Unterschied besteht darin, dass Jacobi das Prinzip in »Offenbarung«20 und Glauben setzt, während Schlei­er­macher auf eine Anschauung rekurriert, die dem unendlichen Regress des Begründens  – der Kette bedingter Begriffe – ein Ende setzt. Um einen Sprung handelt es sich aber auch hier: »Denken und Anschauen bleiben gegeneinander irrational. Die Begriffe sind nichts als Repräsentanten des Anschauens. Muß man am Ende damit aufhören, das Princip auf eine Anschauung zu beziehen, so kann dies nicht als Fundament der Wissenschaft angesehen werden, da es der Anschauung gehört«.21 Es versteht sich, dass die Anschauung nicht die Anschauung von Gegenständen der Erfahrung im Kantischen Sinne ist, sondern eine eher intellektuelle Anschauung der Totalität im Sinne der Anschauung des Universums in den Reden über die Religion von 1799. Irrational im Verhältnis zum (begrifflichen) Denken ist die ursprüngliche Anschauung deshalb, weil sie dem Begriff nicht zugänglich ist, wobei sie, als etwas Nichtbegriffliches, das begriffliche Erkennen allererst begründen soll. Bereits in den Reden war ja deutlich gesagt, dass der Begriff die ursprüngliche Anschauung nur unzureichend wiedergeben könne.22 Diese »Irrationalität« Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1, 260 f. Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh, Bl. 5 recto. 20 Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1, 125. 21 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Müller, 4. 22 Im Blick auf die ursprüngliche Anschauung des Universums und das Gefühl heißt es dort: »vergönnt mir […] einen Augenblik darüber zu trauern, daß ich von beiden nicht anders als getrennt reden kann […]. Aber eine nothwendige Reflexion trennt beide, und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen« (KGA I/2, 220). 18 Friedrich 19

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verhindert jedoch nicht, dass es die Anschauung ist, welche die wissenschaftlichen Verfahrensweisen begründet, denn die Anschauung ist objektiv gerichtet, während das Gefühl  – das ja in den Reden als subjektives Innewerden des Angeschauten der Anschauung zur Seite steht  – ganz der Subjektivität angehört. In den Worten der Nachschrift Adolph Müllers: das unmittelbare »Gefühl kann keiner Wissenschaft zur Stütze dienen, da es auf dem Gebiet liegt, wo sich einer nicht mit dem andern verständigen kann, auf dem innersten Grund der Persönlichkeit. – Da es kein wissenschaftliches Produciren ist – wenn ein solches Princip aufzustellen, möglich ist – wäre es doch nicht rathsam es aufzustellen. Die Ethik soll sich unmittelbar und überall an die Anschauung halten wie das menschliche Handeln sich zeige, so daß von jedem Punkt aus, das Ganze könne konstruirt werden.«23 Dies entspricht nicht nur der Forderung, dass die Ethik, wie es bereits in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) heißt, objektiv verfahren müsse – es entspricht im Übrigen auch der Verschiebung im Verhältnis von Anschauung und Gefühl, die in der zweiten Auflage der Reden über die Religion (1806) vorgenommen wird, wonach die Religion in erster Linie dem Gefühl und damit der Subjektivität zugeordnet wird, während die Anschauung das objektiv gerichtete Erkennen begründet.24 Diese Anschauung bestimmt Schlei­er­macher, da sie nicht durch das begriffliche Erkennen vermittelt ist, sondern ihm voraus und zugrunde liegt, als unmittelbar. Es ist aber, und hier kommt nun das Individualitätsprinzip zur Geltung, keine Anschauung des Universums, also der Totalität schlechthin, sondern eine Anschauung der Totalität des Menschen. Der Nachschrift Köpke zufolge gehen wir aus »von der unmittelbaren Anschauung des gesamten Menschen. Wir erhalten ihn von der theoretischen Philosophie oder besser von der Naturphilosophie welche sich bestrebt von einzelnen ausgehend zur Anschauung des Universums fortzuschreiten und wiederum von dieser aus das Einzelne in allen seinen Modifikationen und tausendfachen Beziehungen anzuschaun.«25 Innerhalb dieser Bewegung vom Teil zum Ganzen und zurück, in der das Individuelle und 23 Ethik

1805/06, Nachschrift Müller, 4 f. 24 Vgl. Hermann Süskind, Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schlei­er­machers System, Tübingen 1909, 149 ff. 25 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Köpke, Bl. 8 recto. Die Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen | 121

das Allgemeine vermittelt werden, ist für Schlei­er­macher die Per­ spektive des individuellen Allgemeinen, eben des ganzen Menschen leitend. Hierin liegt, trotz allen Insistierens auf Objektivität, die subjektivitätstheoretische Pointe der Schlei­er­macherschen Ethik. In diesem Sinne heißt es bei Köpke: »Zwar könnte man denken das vollkomne Erkennen und Anschaun des Universums stehe höher, aber der Mensch ist doch die höchste, vollkomenste Organisazion in jenem und als solche betrachtet das Ziel des Erkennens.«26 Die unmittelbare Anschauung ist als Anschauung des ganzen Menschen auch Anschauung der unmittelbaren Einheit von Natur und Vernunft, des Realen und des Idealen und  – sofern die Naturphilosophie als theoretisch qualifiziert wird – des Theoretischen und des Praktischen. »Erst die Ethik«, so heißt es nach Köpke weiter, »welche den Menschen als Organ, Produkt der Natur aus den Händen der Naturwissenschaft erhält, beseelt ihn. Hier erst wird er durch etwas weit höheres, was über Organisazion weit hinaus ist, belebt, nemlich durch das Höchste, Vernunft und Freyheit. Dieses ist schlechthin nicht durch Organisazion.«27 Die Anschauung dieser Einheit kann jedoch nicht nur deshalb nicht adäquat in Begriffe umgesetzt werden, weil sie sich irrational zum Denken in Begriffen verhält, sondern auch deshalb, weil die Einheit nicht als bereits vollzogen angeschaut werden kann, sondern nur in einem fortschreitenden Prozess der Einigung. Nicht nur Anschauung und Begriff, auch Natur und Vernunft verhalten sich insoweit irrational zueinander, als sie nicht vollständig miteinander vermittelt sind. Dies hat nach Schlei­er­macher zur Konsequenz, dass auch Naturphilosophie und Ethik defizitär bleiben und als Wissenschaften im Werden begriffen sind. Ich zitiere wiederum aus Köpke: »Es ist schon oben gesagt worden, daß zwischen Naturwissenschaft und Ethik eine Wechselwirkung statt findet und daß eine Wissenschaft die andre ergenzt. Ist jene Wissenschaft noch nicht bis in ihre kleinste Theile wissenschaftlich construirt, so wird es auch die Ethik nicht seyn. Sind in jener noch unerkannte Größen, so wird es auch in dieser der Fall seyn und das Problem wird nothwendig zur Zeit noch nicht vollkomen können gelößt werden.«28 26 Ebd.,

Bl. 5 verso / 6 recto. Bl. 8 recto / verso. 28 Ebd., Bl. 5 verso. 27 Ebd.,

122 | System 

   Deutlich wird, dass Schlei­er­macher in Anlehnung an die Grund3

linien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre eine Auffassung der philosophischen Wissenschaften im Ganzen entwickelt, in denen, wie es dort hieß, »alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht«. Von einer selbständig hervortretenden Prinzipienlehre, wie sie dann ab 1811 in der Dia­lek­tik vorliegt, ist Schlei­er­macher hier noch weit entfernt. Undenkbar wäre auch ein Unternehmen wie die »Deduction der Ethik aus der Dia­lek­ tik«, die Schlei­er­macher 1812/13 skizzierte.29 In seiner dritten EthikVorlesung, die er 1807/08 in Berlin hielt, hat Schlei­er­macher dagegen die »erste« oder »reine« Philosophie der Hallenser Position entsprechend noch in die Wechselseitigkeit von Naturphilosophie und Ethik gesetzt: »Die reine Philosophie muß aber zwischen Physik und Ethik im vollkommensten Gleichgewicht stehn, ihr Beruf ist die Identität zwischen Sein und Erkennen zu zeigen, diesen muß sie nun in physischen Formen oder ethischen üben, jetzt vorzüglich in physischen, vielleicht bald mehr in ethischen.«30 Und noch eine Abweichung gegenüber den Positionen in den späteren Entwürfen muss hervorgehoben werden. Die Gegenüberstellung der Subjektivität des Gefühls und der Objektivität der Anschauung hat zur Folge, dass das Selbstbewusstsein für das Begründungsverfahren der Philosophie keine entscheidende Rolle spielt – anders als es in der Dia­lek­tik seit 1822 der Fall ist, wo das unmittelbare Selbstbewusstsein qua Gefühl letztlich erst die Anschauung prinzipiiert. 1805/06 hingegen ist das Selbstbewusstsein – wie übrigens auch in den ersten Entwürfen zur Dia­lek­tik – wesentlich als reflektiert bestimmt; es ist sozusagen Effekt der objektiven Anschauung. In der Nachschrift Boeckh findet sich hierzu eine prägnante Formulierung: »Das Selbstbewußtseyn entsteht aber eigentlich durch das Herausgehen aus sich selbst und Anschauen seiner selbst in dem Universum und der allgemeinen Vernunft.«31

Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 47 ff. Arndt, Schlei­er­machers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme, 109; das Zitat stammt aus einer Nachschrift Varnhagen von Enses. 31 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh, Bl. 68 recto. 29

30 Andreas

Die Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen | 123

System bei Steffens und Schlei­er­macher    Als Friedrich Schlei­er­macher im Herbst 1804 seine Hallenser 1

Professur antrat  – als Professor der Theologie und der Philosophie –, schien sich noch einmal ein Symphilosophieren einzustellen wie in seiner längst vergangenen Zeit als Charité-Prediger in Berlin um 1800. Wie damals Friedrich Schlegel, so war es nun Henrich Steffens, mit dem sich eine tiefgehende Freundschaft und ein Arbeitszusammenhang auf der Basis einer gefühlten Übereinstimmung der Positionen in kürzester Zeit herstellte. Fragt man indes danach, welche Grundlagen die Übereinstimmung tatsächlich hatte und wie weit sie reichte, fällt die Antwort schwer; Sarah Schmidt hat jüngst einen gemeinsamen romantischen Spinozismus ausgemacht, hinter dem jedoch ganz unterschiedliche systematische Konzeptio­ nen stünden.1 Nun bekennt Steffens selbst, dass es gerade Schlei­er­machers Spinozismus war, der ihn anzog, gemeint ist wohl, dass Schlei­er­macher aufgrund seiner Reden über die Religion der Ruf eines Spinozisten anhing. Steffens zog dieser Spinozismus deshalb an, »weil er nicht in der Form einer Naturnothwendigkeit, vielmehr als die lebendige Quelle der unbedingten Freiheit erschien«.2 Diese Charakteristik ist bemerkenswert, sofern sie Friedrich Heinrich Jacobis Urteil über Spinozas Fatalismus geradezu widerspricht und zugleich den Grund des Jacobischen Einwandes gegen Spinoza – das Interesse an der unbedingten Freiheit – Spinoza selbst zuschreibt. Spinozismus ist nicht Fatalismus, wie Jacobi meinte, sondern eine Quelle des Freiheitsbewusstseins. Tatsächlich hatte Steffens mit Jacobis Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn3 sein philosophisches Bildungserlebnis: »Diese Schrift hat nun Epoche in meinem Leben gemacht. Sie war die erste, die Vgl. Schmidt, Analogie versus Wechselwirkung. Henrich Steffens, Was ich erlebte, Bd. 5, Breslau 1842, 143. 3 11785, 21789; Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1. 1 2

 125

alle schlummernden spekulativen Gedanken in mir konzentrierte und zum Ausdruck brachte. […] Es war mir eine neue Welt aufgeschlossen, und dennoch glaubte ich, eine alte, mir längst bekannte zu begrüßen.«4 Jacobi führte Steffens direkt zu einem Studium Spinozas, dessen Tractatus de intellectus emendatione und dessen Ethik er las; im Vergleich mit Kants Kritik der reinen Vernunft erschien ihm Spinozas Philosophie als eine »aus allen Quellen des Daseins hervorstrebende[] Speculation«,5 die mit dem Leben verbunden sei. Er trat ihm, so bekennt Steffens, nicht als Determinist entgegen, »sondern als derjenige, der mit der größten geistigen Kühnheit den Mittelpunkt der Freiheit suchte«.6 An dieser Stelle sei ein Seitenblick auf Schlei­er­macher gestattet. Die theoretischen Konstellationen ihrer philosophischen Anfänge scheinen in wesentlichen Punkten zu konvergieren. Auch Schlei­ er­ macher entwickelte sein System in Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza, wobei er sich auf Jacobis Spinozabuch bezog.7 Und auch Schlei­er­macher sah Spinoza nicht als Deterministen und Fatalisten, da er bereits in seiner frühen Auseinandersetzung mit Kant, noch vor der Bekanntschaft mit Spinoza, zu der Überzeugung gekommen war, dass Freiheit und Determinismus nur einen ab­strakten Gegensatz darstellten, der zu überwinden sei.8 Das gründliche Studium Kants, vor allem der praktischen Philosophie, unterscheidet Steffens und Schlei­er­macher, ebenso, dass Steffens sich bereits 1799 an Schelling orientierte, zu dem Schlei­ er­macher eine idiosynkratische Abneigung pflegte. Wichtig für ihr intellektuelles Verhältnis ist jedoch, dass ihre Gemeinsamkeit nicht darin wurzelt, dass ihre philosophischen Konzeptionen eine Schnittmenge mit Schellings Identitätssystem aufweisen (was zweifellos der Fall ist), sondern beide in den Anfängen ihrer spekulativen Entwürfe auf Jacobis Auseinandersetzung mit Spinoza und der Transzendentalphilosophie Kants rekurrieren. Auf diesem FundaWas ich erlebte, Bd. 3, Breslau 1841, 261. Ebd., 281. 6 Ebd., 282. 7 Vgl. Andreas Arndt, Friedrich Schlei­e r­macher als Philosoph, 76 ff.; ders., Kommentar, in: Friedrich Schlei­er­macher, Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt/M. 1996, 1032 ff.; Christoph Ellsiepen, Anschauung des Universums. 8 Vgl. Arndt, Freiheit und Determinismus beim jungen Schlei­e r­macher. 4 Steffens, 5

126 | System 

ment konnte Schlei­er­machers philosophische Entwicklung mit den Anfängen der Frühromantik konvergieren und die Symphilosophie mit Friedrich Schlegel begründet werden; auf diesem Fundament konnte sich auch instantan eine Gemeinsamkeit mit Henrich Steffens herstellen, als Schlei­er­macher seine Hallenser Professur antrat. Es bleibt die Frage, wie weit dieses Fundament wirklich trägt. Bei dem Versuch, eine Antwort zu geben, werde ich mich im Folgenden auf Henrich Steffens konzentrieren und auf Schlei­er­macher nur vergleichende Seitenblicke werfen. Aufschlussreich für mein Vorhaben sind vor allem seine Kopenhagener Vorlesungen 1802/03, deren Einleitung kürzlich in einer Übersetzung publiziert wurde;9 sie macht deutlich, dass Steffens sich von Schlei­er­machers Positionen, trotz einer grundsätzlichen Nähe, in seinen Auffassungen stark unterscheidet. Ich rekonstruiere zunächst die Systematik der Einleitung, die sich ja gewissermaßen im Vorhof der Philosophie bewegt und allererst nach der Möglichkeit einer Philosophie fragt, um mich dann in einem zweiten Schritt kurz der philosophischen Konzeption Steffens’ zuzuwenden, wie sie in seiner 1806 veröffentlichten Schrift Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft10 hervortritt, ein Kompendium, an dessen Ausarbeitung Schlei­er­macher lebhaft Anteil nahm und auf das er sich in seiner ersten Vorlesung zur Dia­lek­tik 1811 ausdrücklich berief.11    Was Steffens an Spinoza faszinierte, dass nämlich die Philoso2

phie aus dem Leben hervorgeht (eine Auffassung, die ja gerade Jacobi als Forderung in den Mittelpunkt gestellt hatte12), bildet für ihn Henrich Steffens, Einleitung in philosophische Vorlesungen, übers. und mit einer Vorbemerkung versehen von Heiko Uecker, Frankfurt/M. u. a. 2012; der Übersetzer hat den deutschen Text einer Orthographie unterworfen, die sich an Steffens’ Schreibweisen zu dieser Zeit orientiert, was, obwohl es wenig sinnvoll ist und auch inkonsequent gehandhabt wird, in den Zitaten übernommen wird. 10 Henrich Steffens, Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806. 11 Vgl. August Twesten, Vorrede, in: Friedrich Schlei­er­macher, Grundzüge der philosophischen Ethik, hg. v. A. Twesten, Berlin 1841, XCVII. 12 Vgl. Marco Ivaldo, Wissen und Leben. Vergewisserungen Fichtes im Anschluß an Jacobi, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen 9

System bei Steffens und Schlei­er­macher | 127

die Grundlage des Systems: die Philosophie müsse »ein lebendes System« sein13 – wenn es denn überhaupt eine Philosophie geben könne. Doch davon später. Ausgangspunkt ist daher auch eine Ansicht des Lebens, das auf zwei Grundtriebe zurückgeführt wird, den egoistischen Trieb einerseits, »der darauf zielt, das Daseyn des Individuums zu sichern«,14 und den »Einheitstrieb des Universums« andererseits,15 der darauf geht, eine All-Einheit zu konstituieren. Offenkundig widersprechen sich beide Triebe, und zwar nicht nur in ihrer Beziehung aufeinander, sondern auch jeder für sich betrachtet. »Nähme der egoistische Trieb überhand, dann würde das Universum in lauter getrennte Individualitäten zerfallen – und da sie selbst doch nur in dem allgemeinen Conflict mit dem ganzen Universum existiren, würden sie selbst verschwinden und alles würde vergehen. Der individualisierende Trieb steht also in offenkundigem Gegensatz zu sich selbst; er hebt sich auf, indem er sich zu erhalten versucht.«16 Nicht anders der Einheitstrieb. Indem er das Individuelle vereinigen will, tendiert er dazu, es aufzuheben, aber »er ist nur insoweit, als das Individuelle ist und ist nichts anderes als der Einheits-Ausdruck aller Individualität. Er widerspricht sich also selbst und hebt sich auf, indem er sich zu bewahren trachtet.«17 Das Leben als solches besteht nun, wie Steffens unterstreicht, »in der That in einem ewigen Kampf dieser entgegengesetzten Principien«. An dieser Stelle schaltet Steffens eine ethische Betrachtung ein, die auch deshalb bemerkenswert ist, weil er in Halle nur auf Schlei­ er­macher als Ethiker verweist; die Ausführungen in der Einleitung können aber deutlich machen, dass Steffens in dieser Hinsicht tatsächlich mit Schlei­er­machers Grundauffassung übereinkam.18 Das Verhältnis beider Triebe lässt sich auch im Blick auf die schottische Moralphilosophie als das von Egoismus und Sympathie reformulieren. Offenkundig bezieht Steffens sich hier auf Adam Smith, Bildung der Zeit, hg. v. Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen, Hamburg 2004, 53–71. 13 Steffens, Einleitung in philosophische Vorlesungen, 3. 14 Ebd., 5. 15 Ebd., 8. 16 Ebd., 6. 17 Ebd. 8; auch das folgende Zitat. 18 Vgl. Steffens, Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, XXII. 128 | System 

und zwar auf seine Theory of Moral Sentiments (11759), in der dieses Verhältnis diskutiert wird. Grundbedingung der Lösung des Konflikts ist für Smith die Sicherung der Überlebensbedürfnisse aller gesellschaftlichen Individuen, welche eine Hauptquelle des Egoismus ausschaltet; die Sympathie ist dann Quelle eines moralisches Bewusstseins – und der Arbeit, von der wiederum die Sicherung der Überlebensbedürfnisse aller abhängt. Hier, in diesem basalen Bereich der Vergesellschaftung, waltet dann, gleichsam als Garantiemacht der Moralität, eine auch aus Smith’s Wealth of Nations bekannte Instanz: »Von einer unsichtbaren Hand werden sie [die Produzenten] dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre«.19 Steffens beruft sich zentral hierauf, wenn er darlegt, dass »das Heiligste«  – die Moralität  – nicht der Willkür des Einzelnen überlassen werden dürfe: »Deswegen reicht der unwillkührliche Einheitstrieb der Natur in das freye Leben des Menschen hinein und fordert durch wechselseitigen Zwang, die Willkührlichkeit selbst auf, ihre Gesetzen [sic!] zu befolgen. Dieser Zwang, der durch den Conflict des Egoismus’ der Individuen entsteht, hemmt als eine höhere, unsichtbare Hand die willkührliche Wahl des egoistischen Triebes und der Moralität«.20 – Neben Smith steht vielleicht auch Kants Naturabsicht Pate, die dazu verhilft, egoistische Individuen, ja sogar Teufel zu vergesellschaften, und die der unsichtbaren Hand durchaus verwandt ist.21 Schlei­er­macher hat sich zur unsichtbaren Hand bei Smith zwar nicht geäußert, aber er hat das Prinzip der Sympathie ebenfalls als unzureichend angesehen, eine Moral zu begründen, die vielmehr objektiv verankert sein müsse.22 In diesem Punkt treffen sich Steffens und Schlei­er­macher durchaus. Individuations- und Einheitstrieb bestimmen aber nicht nur das gesellschaftliche Leben der Menschen, sondern auch ihr höheres geistiges, nämlich ihr wissenschaftliches Leben. Hinter allen empiSmith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1977, 316. Einleitung in philosophische Vorlesungen, 9 f. 21 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M. u. a. 1980. 22 Vgl. Arndt, Schlei­e r­macher als Philosoph, 106 f. 19 Adam

20 Steffens,

System bei Steffens und Schlei­er­macher | 129

rischen Forschungen – der Naturforschung ebenso wie der Historiographie – stehe, auch wenn sie auf Individuelles, d. h. Endliches gehen, letztlich eine Ahnung des Unendlichen, des Zusammenhangs, der Einheit. Aber in der empirischen Wissenschaft selbst verfehlen sie, so Steffens, notwendig diese Einheit: »Die Wissenschaften suchen das Unendliche durch eine stückweise Anhäufung des Endlichen. Die Historiker suchen es durch ein Aggregat von Facten, deren Verbindung, wenn sie da ist, doch nur wieder ein Endliches hervorbringt.«23 Ahnung und Poesie und schließlich auch Religion führen über die Beschränktheit des Endlichen hinaus, jedoch ist das so Geahnte, Gedichtete bzw. Geglaubte noch nicht das, was erfordert ist, um einen festen Punkt zu gewinnen, von dem aus das Individuelle und das Universelle zu einem harmonischen Ganzen sich fügt: »Wir schwimmen auf einem schwebenden Tropfen, der andauernd verschwindet und beständig wiederkehrt – unruhig zwischen Erinnerung und Ahnung. Wo ist der feste Punct, den wir alle suchen und den niemand besitzt? Sollten wir ihn niemals finden, warum sind wir verdammt, ihn zu suchen? Wer löst das ewige Rätsel des Daseyns?«24 Physik – also Naturwissenschaft – und Geschichte (für Schlei­er­macher: Ethik) bringen uns, so Steffens, diesem »tiefen Widerspruch des Lebens näher […], ohne ihn aufzulösen«, und verweisen »auf eine andere Wissenschaft«, die Philosophie, »die, indem sie das Hauptproblem zu lösen versucht, zugleich das der andern Wissenschaften lösen muss«.25 Ob diese Wissenschaft aber möglich sei, sei die Frage. Auch hier ist ein Blick auf Schlei­er­macher angebracht. Die von Steffens gesuchte Wissenschaft ähnelt auf den ersten Blick dem, was Schlei­er­macher in seinen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) als »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften« (KGA I/4, 48) über der Ethik (und Physik) konzipiert hatte. Auch Schlei­er­macher ist der Ansicht, dass es diese Wissenschaft noch nicht gebe, allerdings deshalb, weil es noch keine allgemein als verbindlich anerkannte Philosophie dieses Typs gebe. Steffens dagegen stellt die Möglichkeit einer solchen Philosophie überhaupt in Frage: sie werde gesucht, aber ob sie auch 23 Steffens, 24 Ebd., 25 Ebd.,

24. 25.

Einleitung in philosophische Vorlesungen, 21.

130 | System 

gefunden werden könne, stehe dahin. Während Schlei­er­macher die oberste Wissenschaft in Anlehnung an Friedrich Schlegels Theorem des Wechselerweises begründen will, sucht Steffens nach einem »Grundsatz«,26 den Schlei­er­macher gerade nicht in Anspruch nehmen möchte. Dies betrifft dann auch das Verhältnis zu den einzelnen Wissenschaften: die gesuchte Wissenschaft dürfe, so heißt es, »selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann.« (KGA I/4, 48) In der Konsequenz bedeutet dies für Schlei­er­macher, dass Naturphilosophie (Physik) und Ethik sich auch wechselseitig begründen können, ohne eine gesonderte oberste Wissenschaft hervorbringen zu müssen.27 Um an die gesuchte Philosophie heranzuführen – eben deshalb sind die Vorlesungen ihrem Titel nach nur als Einleitung in philosophische Vorlesungen konzipiert –, geht Steffens den Weg, sich ihr ex negativo zu nähern. Er will zeigen, dass die »theoretisierende Empirie«, wie er es nennt, sich selbst widerlegt und damit eine das Endliche überschreitende Perspektive zwingend sei.28 Diesen Beweis tritt er im Durchgang durch die Theorie der anorganischen und organischen Natur sowie die Theorie der Geschichte an. Gezeigt werden soll, dass ohne eine Konzeption von Totalität die Empirie Zusammenhänge nur willkürlich konstruieren könne. Es komme darauf an, die empirischen Differenzen in der Identität des Ganzen zu begreifen und umgekehrt die Identität in den Differenzen: »Die Idee, die allein die Differenzen in der Identität und die Identität in den Differenzen zu begreifen vermag, enthält den Schlüssel zu jeder Naturtheorie und ist niemals auf empirischem Grund entstanden. Die absolute Identität aller Differenzen ist, wie die Freyheit in der intelligiblen Welt, das ewig Vorausgesetzte, das niemals verstanden wird, wenn es nicht ursprünglich angesehen wird.«29 Und weiter: 26 Ebd.,

127.

27 Vgl. oben Schlei­e r­machers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser

Vorlesungen. 28 Steffens, Einleitung in philosophische Vorlesungen, 28. 29 Ebd., 88.

System bei Steffens und Schlei­er­macher | 131

»Können wir die Sonne erkennen, die alles erleuchtet? Können wir die ewige Grundmauer erkennen, durch die alles fest und sicher und evident ist, ohne welche alles wackelt, unbegreiflich entsteht, verschwindet, ohne verstanden zu werden?«30 Ganz offenkundig geht Steffens mit diesen Formulierungen auf den Generaleinwand Jacobis gegen die Kantische (und Fichtesche) Transzendentalphilosophie zurück. In seinem Spinoza-Buch hatte Jacobi gezeigt, dass die Reflexion in der Sphäre des Bedingten oder Endlichen sich nur in einem unendlichen Regress zu bewegen vermag; wir können innerhalb der Sphäre der Endlichkeit – für Steffens gleichbedeutend mit der Sphäre der Empirie – nur »Aehnlichkeiten (Übereinstimmungen, bedingt nothwendige Wahrheiten) demon­ strieren, fortschreitend in identischen Sätzen. Jeder Erweis setzt etwas schon Erwiesenes zum voraus, dessen Prinzipium Offenbarung ist.«31 Genau dies will Steffens dadurch zeigen, dass die empirischen Wissenschaften der Natur und Geschichte in sich selbst inkonsistent sind, indem sie Zusammenhänge aus sich selbst heraus nicht erklären können. Die Kette des Bedingten hängt, wie bei Jacobi, in der Luft, solange ein fester Grund nicht vorhanden ist, der sich dem Bedingtsein und der Endlichkeit entzieht. Identität und Freiheit sind für Jacobi nur durch einen Sprung, ein unmittelbares Wissen im Modus des Glaubens, zu gewinnen, und auch hierin folgt Steffens ihm. Das ewig Vorausgesetzte, woran das Endliche oder Bedingte seinen Halt findet, kann nicht in der Weise der Empirie gewusst werden. Es gründet im Ewigen, welches in seiner vollen Klarheit zu fassen dem menschlichen Geist nicht möglich sei.32 »Das Wesen des Ewigen«, so Steffens, bestehe in der »Idee, in der das Endliche und das Unendliche zu Einem, Ewigen verschmelzen, wie in einem heiligen Abgrund, in dem sich alles Endliche verlirt und gerade dadurch ewig besteht.«33 Steffens vollzieht Jacobis Sprung in die Unmittelbarkeit, aber er interpretiert diese Unmittelbarkeit spinozistisch als Inhärenz des Endlichen und Unendlichen – als der heilige 30 Ebd.,

89. Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1, 124. 32 Vgl. Steffens, Einleitung in philosophische Vorlesungen, 125. 33 Ebd., 124. – Der Herausgeber sieht in Steffens’ Sprung in die Unmittelbarkeit eine Antizipation Kierkegaards (XVII); der Jacobische Kontext entgeht ihm offenbar. 31 Jacobi,

132 | System 

Abgrund –, worin dann Jacobis in seinem Sprung antispinozistisch gesicherte Freiheit ihren Grund gerade in einem spinozistischen System der All-Einheit findet. Blicken wir hier noch einmal auf Schlei­er­macher. Wie bekannt, hegte er zeitlebens größte Verehrung gegenüber Jacobi und suchte trotz aller Differenzen seine Nähe. Auch ist er schließlich mit Jacobi der Auffassung, dass nur der Rückgang auf einen unmittelbaren, d. h. relatlos mit sich identischen und insofern nicht begreiflichen Grund, den transzendentalen Grund, das Wissen und die Freiheit zu sichern vermag. In der Hallenser Ethik, die in die Zeit seiner Zusammenarbeit mit Steffens fällt, hat er dies einer ursprünglichen Anschauung überantwortet und bewegt sich damit in größter Nähe zu Steffens. Erst später, in seinen Vorlesungen über die Dia­lek­tik, hat er das Innewerden dieses Grundes in die Struktur des (unmittelbaren) Selbstbewusstseins eingetragen und damit die Möglichkeit der Beziehung des Endlichen auf das Unendliche näher zu bestimmen versucht. In Halle war er aber in dieser Hinsicht nicht weiter als Steffens mit seinen Andeutungen auf das Göttliche in uns, die Ahnung und die Poesie.    Nachdem wir gleichsam den Vorhof der Philosophie durchquert 3

haben, möchte ich nun, wenn auch nur kurz, einen Blick ins Innere der Philosophie selbst werfen. Die These, dass das Wesen des Ewigen in der Idee bestehe, greift Steffens in seiner Darstellung der Philosophie in den Grundzügen der philosophischen Naturwissenschaft auf, in denen es nicht mehr um eine Einleitung in die Philosophie und die Frage nach ihrer Möglichkeit, sondern um ihre Durchführung als Naturphilosophie geht, die freilich prinzipieller Überlegungen zur Grundlegung der Philosophie überhaupt nicht entbehren kann. Dort heißt es: »Das, wodurch eine relative Differenz des Wesens und der Form in Rücksicht auf das Ganze gesetzt wird, nennen wir die bestimmte Potenz […] Das, wodurch die Potenz als dem ewigen Wesen gleich gesetzt wird, nennen wir Idee. Die Philosophie ist die Wissenschaft der Ideen.«34 Schlei­er­macher greift dies in den Notizen zu seiner ersten Dia­lek­tik-Vorlesung 1811 auf und übersetzt es für sich als »Zurükführung aller Verknüpfungen aus Gegensäzen 34 Steffens,

Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, 14 f. System bei Steffens und Schlei­er­macher | 133

zur Indifferenz« (KGA II/10, 1, 8). Eben dies sagt Steffens am Beginn der Einleitung zu seiner Schrift: »Wissenschaft ist Vernichtung eines Gegensatzes, Wiedervereinigung des ursprünglich Vereinigten.«35 Die absolute Einheit, die auf diesem Wege in der »Wissenschaft der Ideen« angeschaut werden soll, wird Steffens zufolge nicht gesucht und auch nicht postuliert, »sie ist vielmehr das ewig daseiende, nicht-gesuchte, nicht-gefundene, sondern absolut geschenkte Organ aller lebendigen Untersuchung, alles wahrhaften Erkennens, welches das Ganze des Erkennens und einen jeden Punkt desselben gleich klar bezeichnet«.36 Anders gesagt: Idee ist weder ein Postulat noch ein regulatives Prinzip, sondern konstitutives Prinzip des Seins und zugleich methodisches Prinzip seines Erkennens. Insofern begründet sie auch die Identität des Denkens und Seins, die Steffens »Anschauung« nennt: »Das Erkennen der Identität des ewigen Denken und ewigen Seyns ist die Selbstanschauung der Vernunft schlechthin – intellektuelle Anschauung.«37 In diesen und anderen Formulierungen  – auch Schlei­er­macher nivelliert Kants Unterscheidung konstitutiver und regulativer Prinzipien und macht die Einheit von Denken und Sein zur Voraussetzung des Wissensprozesses – lassen sich unschwer Grundpositionen Schlei­er­machers wiederfinden, wie er sie bis in seine erste, vielfach mit Schellings Identitätsphilosophie konvergierende Dia­lek­tik-Vorlesung hinein vertreten hat. Diese hat er, wie bekannt, gehalten, nachdem es ihm nicht gelang, Steffens nach Berlin berufen zu lassen, um dadurch die Hallenser Symphilosophie wiederzubeleben (vgl. KGA II/10, 1, XVI ff.). Offenbar stand er aber 1811 doch noch stark in einer Symphilosophie per Distanz mit Steffens, was die starke identitätsphilosophische Tendenz der ersten Vorlesung erklärt, die sich danach verliert; war es doch Steffens, der in seinen Grundzügen ganz unbefangen und Schlei­er­machers Aversionen gegen Schelling ignorierend beide als Bezugspunkte seines Philosophierens stark gemacht hatte. Während Schelling das Verdienst zugeschrieben wird, die Spekulation überhaupt wieder zum Leben erweckt und auf die Überwindung aller Gegensätze orientiert zu haben,38 fun35 Ebd., 36 Ebd.,

37 Ebd., 38 Ebd.,

IX .

3. 5.

XVII.

134 | System 

giert Schlei­er­macher als Verkörperung des Sittlichen, wobei der gemeinsame Bezugspunkt des als Fundierung der Freiheit gedachten Spinozismus herausgestellt wird: »Wie die Freiheit oder das göttliche Gemüth sich selbst findet in der Nothwendigkeit oder in der göttlichen Natur, so findet sich die Nothwendigkeit auch selbst in der Freiheit, und wie die Nothwendigkeit in ewiger Verbindung mit der Freiheit lebendig, so ist die Freiheit in ewiger Verbindung mit der Nothwendigkeit sittlich.«39 Schlei­er­macher habe dies zu seinem innersten Prinzip gemacht: »Seine Bestrebungen mögen wir uns eigen machen; denn nur dem gereinigten Gemüthe ergiebt sich die göttliche Natur.« Bei aller Gemeinsamkeit, die Schlei­er­machers und Steffens’ systematische Entwürfe in und um die Hallenser Zeit aufweisen, ist jedoch nicht zu übersehen, dass im Vergleich mit Schlei­er­ machers schon in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) und auch in den Hallenser Ethik-Vorlesungen sehr differenzierten und detaillierten Überlegungen zur Systemstruktur und zum Prozess des wissenschaftlichen Erkennens Steffens nur sehr allgemein auf eine intellektuelle Anschauung rekurriert, die gleichsam mit einem Schlage alle Probleme löst, weshalb dann unmittelbar zur Naturtheorie geschritten wird. Der Unterschied ließe sich, etwas zugespitzt, so formulieren: Zwar geht auch Schlei­ er­macher davon aus, dass das Erkennen in einem Unmittelbaren, was selbst nicht Gegenstand begrifflichen Erkennens sein kann, begründet werden muss, jedoch ist Schlei­er­macher dann doch am Prozess dieses begrifflichen Erkennens so stark interessiert, dass er ihn umfassend thematisiert und die Ergebnisse dieser Thematisierung auch in die Methode z. B. der Ethik selbst einträgt, die nicht nur in dem fortlaufenden Bezug auf eine ursprüngliche Anschauung besteht. Steffens dagegen verfällt, wie Sarah Schmidt gezeigt hat, in eine Konstruktion per Analogie, und zwar offenbar deshalb, weil er aus der Anschauung heraus keine Methodologie des Erkennens (und Handelns) im Endlichen entwickelt. Die weit über Steffens hinausgehende Seite der Schlei­er­macherschen Theorie ist ebenfalls schon in Halle vorhanden. In den Reflexionen zum Wissensprozess in den Ethik-Vorlesungen findet sich der 39 Ebd.,

XXII; auch das folgende Zitat. System bei Steffens und Schlei­er­macher | 135

Prozess des werdenden Wissens, wie ihn die Dia­lek­tik entwickelt, in nuce. Dies herauszuarbeiten, ist noch ein Desiderat der Forschung.40

40 Eilert

Herms hat dies nur im Blick auf den späten Schlei­er­macher durchgeführt und mit der (m. E. irrigen) These verbunden, die Ethik sei Basiswissenschaft für die Dia­lek­tik. Vgl. Die Ethik des Wissens beim späten Schlei­er­macher, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schlei­er­macher, Tübingen 2006, 1–48. 136 | System 

TEIL III DIA­L EK­T IK

Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System  1 In der ohnehin eher spärlichen Literatur zu Schlei­er­machers Dia­lek­tik – bei der die philosophischen Untersuchungen noch spärlicher sind als die theologischen – wird der Begriff des Systems in seiner Bedeutung für Schlei­er­macher, wenn überhaupt, ganz unterschiedlich, ja sogar entgegengesetzt bewertet und gewichtet. Dies gilt bereits für die Diskussionen des 19. Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Erscheinen der von Ludwig Jonas verantworteten Ausgabe der Dia­lek­tik im Rahmen der Sämmtlichen Werke (1839).1 Ich kann diese Diskussionen hier nicht im Einzelnen nachzeichnen, sondern möchte nur einige exemplarische Beobachtungen mitteilen.2 Der Hegel-Schüler Karl Ludwig Michelet rechnete bereits 1838 Schlei­er­ macher ganz selbstverständlich unter die »letzten Systeme der Philosophie in Deutschland«, auch wenn er ihm systematische Inkonsequenz vorwirft.3 Auf der anderen Seite machte Schlei­er­machers Schüler, der Philosophiehistoriker August Heinrich Ritter, geltend, Schlei­er­macher habe eine »Scheu vor systematischer Con­struction« gehabt.4 Nicht anders sind maßgebliche Positionen im 20. Jahrhundert verteilt. Falk Wagner etwa diskutiert Schlei­er­machers Dia­lek­tik im Blick auf systematische Begründungsansprüche der Philosophie, um ihm dann einen »Ausfall der Vernunft im System des Wissens« Schlei­er­macher, Dia­lek­tik, aus Schlei­er­machers handschriftlichem Nach­ lasse hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1839 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 4, 2). 2 Vgl. hierzu die instruktive Zusammenfassung bei Gunter Scholtz, Die Philosophie Schlei­er­machers, Darmstadt 1984, 64 ff. 3 Karl Ludwig Michelet, Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel, Berlin 1838, 46–112; zur Dia­lek­tik urteilt Michelet aufgrund seiner (nicht überlieferten) Mitschriften der Vorlesungen über die philosophische Ethik, deren Einleitung in der Tat eine Art Kurzversion der Dia­lek­tik bietet. 4 August Heinrich Ritter, Die christliche Philosophie nach ihrem Begriff, ihren äußeren Verhältnissen und ihrer Geschichte bis auf die neuesten Zeiten, Bd. 2, Göttingen 1859, 751. 1

 139

zu attestieren, also wiederum systematische Inkonsequenz.5 Demgegenüber bestreitet Wolfgang Hagen Pleger rundheraus, »daß Schlei­ er­macher […] ein philosophisches System entwickelt hätte […]. Das Zentrum der Philosophie Schlei­er­machers liegt in seiner Dia­lek­tik, die selbst aber nicht als System, sondern als ›Kunstlehre des Streitens‹ auftritt.«6 Eine dritte Position nehmen diejenigen Interpreten ein, die Schlei­er­macher einerseits eine Systemabsicht zusprechen, ihm andererseits jedoch einen Vorbehalt gegenüber allen abschließenden Systematisierungen zusprechen, die gewissermaßen immer wieder von der Skepsis durchkreuzt werden. Hierher gehören z. B. Fritz Weber7 und Jonas Cohn. Letzterer verweist, m. E. durchaus zutreffend, auf die Quelle des Schlei­er­macherschen Systembegriffs, wenn er schreibt: »Die Dia­lek­tik hat bei ihm den Begriff des Systems selbst ergriffen. Es ist, als klinge in dem reif gewordenen Schlei­er­ macher, der die Romantik längst überwunden hat, das Wort seines Jugendfreundes Friedrich Schlegel nach: ›Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden‹. Das bedeutet: ein System zu haben, das sich seines Ungenügens stets bewußt bleibt, das immer wird und nie ist.«8 Tatsächlich, so meine These, ist Schlei­er­machers Dia­lek­tik auch im Blick auf den Systembegriff als Ausarbeitung der frühromantischen Auffassungen aus der Zeit der philosophischen Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel zu verstehen. Die Dia­lek­tik setzt in dieser Hinsicht die sich bereits in den Grundlinien einer Kritik der bisheriWagner, Schlei­er­machers Dia­lek­tik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974, 277. Die schon im Untertitel pointiert gegen Wagner gerichtete Interpretation von Hans-Richard Reuter (Die Einheit der Dia­lek­tik Friedrich Schlei­er­machers. Eine systematische Interpretation, München 1979) lässt sich auf die Bedeutung des Systembegriffs für Schlei­er­macher so gut wie gar nicht ein. 6 Wolfgang H. Pleger, Schlei­e r­machers Philosophie, Berlin und New York 1988, 9 f. – In diesem Sinne argumentiert auch Friedrich Kümmel, Schlei­er­ machers Dia­lek­tik. Die Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnisgründen und Wissensgrund, Hechingen 2008, der »System« letztlich mit dem Systementwurf Hegels gleichsetzt und infolgedessen Schlei­er­machers Dia­lek­tik als Kritik am Systemdenken verstehen will. 7 Fritz Weber, Schlei­e r­machers Wissenschaftsbegriff. Eine Studie aufgrund seiner frühesten Abhandlungen, Gütersloh 1973, 57. 8 Cohn, Theorie der Dia­l ek­tik, 44 f. 5 Falk

140 | Dia­lek­tik 

gen Sittenlehre (1803) abzeichnende Position nahtlos fort.9 Grundlage der scheinbaren Paradoxie in Schlegels Athenaeum-Fragment 46 (KFSA 2, 172), das Cohn zitiert, ist die Spannung und Wechselwirkung zwischen dem System der Vernunft auf der einen und dem ›objektiven‹ System der ›Welt‹ auf der anderen Seite.10 Da der Systemzustand der ›Welt‹ sich ständig ändert und ebenso der des Wissens, das ihn unendlich in immer neuen Anläufen einzuholen versucht, treten die Systeme der Vernunft und der Welt nie nahtlos zusammen, sondern die Prozessualität der ›Welt‹ geht über alle Systemversuche immer wieder hinaus; die prozessierende Einheit des subjektiven und objektiven Systems vollzieht damit genau jene Bewegung, die Schlegel der Ironie zuschreibt, nämlich den »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« (KFSA 2, 172), wobei es die Aufgabe des Erkenntnis- und Wissensprozesses ist, diese Selbstvernichtung als Moment der Skepsis in sich aufzunehmen.11 Schlei­er­machers Dia­lek­tik mag, wie Jonas Cohn meint, das frühromantische Spiel mit Paradoxien (wie auch die Ironie12) längst hinter sich gelassen haben, jedoch bleibt er in der Sache denjenigen Positionen verpflichtet, die aus dem Symphilosophieren mit Friedrich Schlegel erwachsen waren. Dabei setzt Schlei­er­macher in der Dia­lek­tik einen starken eigenen Akzent dadurch, dass er – vor aller Wechselwirkung mit der Empirie im realen Wissensprozess – ein kategoriales System der Begriffe und Urteile voraussetzt, auf dessen Basis sich erst der Wissensprozess konstituiert. Ich werde im Folgenden zunächst dieses System darstellen @ und dann in einem weiteren Schritt dessen Beziehung auf das ›objektive‹ System der ›Welt‹ thematisieren #. Zum Schluss werde ich dann kurz auf die Frage eingehen, wie Schlei­er­machers Konzeption sich zu denen seiner Zeitgenossen und namentlich zu Hegels Systemkonzeption verhält $. oben Das systematische Reale und seine ideale Darstellung. Blick auf Schlei­er­machers Dia­lek­tik vgl. hierzu Schmidt, Die Kon­ struktion des Endlichen, 200 ff. 11 Während Schlegel den Skeptizismus – allerdings eher im Hegelschen Sinne des ›sich vollbringenden Skeptizismus‹ – zum Ingredienz des Wissensprozesses macht, verhandelt Schlei­er­macher bei grundsätzlicher Polemik gegen den Skeptizismus die Problematik unter dem Terminus ›Kritik‹. 12 Vgl. oben Schlei­e r­machers Ironieverzicht. 9 Vgl.

10 Im

Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System | 141

   Wenn eingangs die Kontinuität zwischen den 1803 eingenom2

menen Positionen Schlei­er­machers und denen der Dia­lek­tik sehr stark betont wurde, dann darf das nicht darüber hinweg täuschen, dass Schlei­er­macher sich zu dieser Kontinuität gewissermaßen erst durchringen musste. Auch wenn das Projekt der Dia­lek­tik ihm, wie er sagte, schon lange im Kopfe herumgespukt sein mochte (vgl. an Gaß, 29. 12. 1810, KGA V/11, 536), so bedurfte es doch einer erneuten und vertieften Reflexion, um das Gespenst zu materialisieren. Zweifel daran, dass das Ganze sich auch systematisch fügen müsste, hatte Schlei­er­macher noch während der Niederschrift seiner vorbereitenden Notizen zur ersten Vorlesung 1811: »Das Wissen als gemeinsames sezt eine Einheit in Allem und eine Ergänzung, so daß jedes mit dem andern zusammenstimmen muß. Aber auch daß das Ganze ein System bildet?« (KGA II/10, 1, 20) Hier ist allerdings schon ausdrücklich vom Wissen die Rede, also von einer Einheit des Denkens und Seins, die sich, wie sich zeigen wird, für Schlei­er­macher schließlich als Wechselwirkung zweier Systeme darstellt. Der Beginn der Vorlesung 1811 lässt dann keinen Zweifel mehr daran, dass das Wissen im Ganzen, als Wissenschaft, ein System bildet; hier ist von dem »Systeme coordinirter Wissenschaften« die Rede, jedoch beruhe die »Architectonic« dieser Wissenschaften nicht auf einheitlichen Prinzipien aller dieser Wissenschaften selbst (KGA II/10, 2, 5). Diesen Bemerkungen lässt sich entnehmen, dass Schlei­er­macher die Totalität des Wissens – von ihrer Prozessualität ist hier freilich noch nicht die Rede – als System ansieht, dieser Systemcharakter des Wissens überhaupt sich aber noch nicht in einheitlichen, selbst wiederum systematisch abzuleitenden und darzustellenden Prinzipien niederschlägt. Hier setzt die Aufgabe der Dia­lek­tik als »Kunstlehre« des werdenden Wissens ein. Da diese Bestimmung, wie erwähnt, gern benutzt wird, um die Dia­lek­tik einem Systemdenken gegenüberzustellen (gemeint ist meist Hegel), lohnt es sich jedoch, hier kurz innezuhalten und die verschiedenen Ebenen zu klären, von denen bei Schlei­er­macher die Rede ist. Da ist zunächst die objektive Seite des Wissens, das zu wissende und gewusste Sein. Offenbar ist die Totalität des Seins (das, was er an späterer Stelle unter der Idee der Welt fassen wird) für Schlei­er­ 142 | Dia­lek­tik 

macher als die Voraussetzung der Totalität des Wissens – des Ganzen der Wissenschaft – selbst systematisch strukturiert, wenn jene auch systematisch ist. Nicht umsonst betont er ja von Anfang an die durchgängige Parallelität des Denkens und Seins. Was bedeutet es dann aber, dass die Prinzipien des Wissens, ungeachtet der systematischen Gerichtetheit des Wissens im Ganzen, weder gesichert noch auf allgemein anerkannte Weise systematisch hergeleitet sind? Diese Frage ist nicht schon dadurch zu beantworten, dass die Kunstlehre ein solches Wissen um die Prinzipien des Wissens noch nicht hervorgebracht habe, denn es gibt für Schlei­ er­macher keine »specifische Verschiedenheit der Principien des Wissens und der Construction« (KGA II/10, 2, 10). Im Wissen um das Werden und die Konstruktion des Wissens in der Kunstlehre sind also die gesuchten Prinzipien des Wissens bereits präsent und wirksam, und insofern die dialektische Hervorbringung des Wissens nicht ohne Bewusstsein über das dabei geübte Verfahren erfolgen kann, schließt sie auch ein Bewusstsein über die Prinzipien des Wissens und der Wissenschaften ein. Worin liegt dann aber der Mangel an allgemein anerkannten Prinzipien des Wissens und der Wissenschaften begründet, der doch den Ausgangspunkt der Dia­ lek­tik bildet: den Zustand des streitigen Wissens? Die Antwort auf diese Frage werde ich noch zurückstellen müssen, da zuvor einige weitere Klärungen vonnöten sind. Nur so viel sei als These vorweggenommen: Der Mangel der Prinzipien liegt gar nicht in ihrer systematischen Herleitung durch die Betrachtung des Prozesses des werdenden Wissens, sondern in ihrer systematischen Bewährung in der Hervorbringung des realen Wissens. Anders gesagt: Die Kunstlehre der Dia­lek­tik würde sich erst dann in ein gesichertes und allgemein anerkanntes System der Prinzipien des Wissens aufheben lassen, wenn das reale Wissen vollendet wäre. Dies aber ist nach Schlei­er­macher nie der Fall, denn sonst wäre die Idee der Welt, die Totalität dessen, was überhaupt real gewusst werden kann, nicht transzendental. Das hindert aber nicht, dass die Dia­lek­tik im Bewusstsein der Unabschließbarkeit des Wissensprozesses als Methodenlehre auftreten kann, welche – mit Kant zu sprechen – die »Bestimmungen der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System | 143

Vernunft« enthält.13 Die Kunstlehre ist darum Kunstlehre, weil sie sich auf die »Form des Wissens« bezieht und dabei »vom Inhalt« abstrahiert (KGA II/10, 2, 11), jedenfalls von den bestimmten empirischen Gehalten. Dies entspricht wiederum dem Kantischen Programm der transzendentalen Logik, die es »bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu thun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird«.14 In diesem Sinne kann Schlei­er­macher laut der Nachschrift zur Vorlesung 1811 auch behaupten, seine Betrachtung der Formen des Begriffs und des Urteils seien eine Betrachtung des Denkens, »rein abgesehen vom Wissen«; diese Bestimmung der Form des Begriffs und des Urteils sei aber zugleich »das Prinzip des Denkens im Allgemeinen« (KGA II/10, 2, 19). Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist keineswegs so zu verstehen, als verfolge Schlei­er­macher das Programm eines reinen, voraussetzungslosen Denkens wie etwa Hegel in seiner Wissenschaft der Logik. Der Unterschied besteht darin, dass Schlei­er­macher das Denken hier nicht in der Weise selbstreflexiv macht, dass die Form ihr eigener Inhalt wird, wie es in der Selbsterfassung des Begriffs bei Hegel der Fall ist. Das Kantische Programm eines Systems der Vernunft wird in der Dia­lek­tik vielmehr so verstanden, dass die subjektiv den Menschen einwohnende Vernunft sich zugleich als Totalität des mit und durch die Vernunft zu wissenden realisiert – als ein System des Wissens und der Wissenschaften. Aber auch die subjektiv den Menschen einwohnende Vernunft bildet, wenn auch nur auf einer formalen Ebene, ein System. In den eigenhändigen Notizen zur Vorlesung 1811 heißt es zur Begriffsbildung: »Richtig wird gebildet wenn der Gegenstand ein Glied im System der Begriffe abbildet. Dieses System ist angeboren d. h. es wohnt uns ein als eine Thätigkeit um vermittelst der Einigung mit der realen Seite zum Bewußtsein zu kommen. Wie ein erstes Zusammentreffen dieser Art könne Erinnerung heißen.« (KGA II/10, 1, 56) Entscheidend hierbei ist, dass das »angeborene«, d. h. apriorisch mit der Vernunft vorausgesetzte System nicht dadurch zum Bewusstsein kommt, dass die Vernunft sich als formale selbst re13 KrV

14 KrV

B 735 f., AA 3, 465 f. B 81 f., AA 3, 78.

144 | Dia­lek­tik 

flektiert, sondern dadurch, dass dieses System im Blick auf reale Wissensprozesse in Aktion tritt, d. h. sich als Wissen realisiert. Das ›Wiedererkennen‹ der formalen Bestimmungen im realen Wissen bedeutet zugleich, dass sich das angeborene System der Begriffe und Urteile als formale Bestimmung von Objektivität bewährt, d. h. Bestimmungen des Seins selbst zum Ausdruck bringt. Diese Bewährung ist in der formalen Erfassung dieses Systems – des Denkens als Denken – nicht gesichert, und deshalb bleibt die Ungewissheit der Prinzipien des Wissens bis zur vollständigen Realisierung des Wissens überhaupt auch dann bestehen, wenn das formale System als solches in der Dia­lek­tik bereits entwickelt ist. Man darf sich aber hierbei nicht täuschen: Trotz aller Bescheidenheitsrhetorik gegenüber konkurrierenden philosophischen Positionen ist Schlei­er­macher sich der von seiner Kunstlehre immer schon in Anspruch genommenen Prinzipien bereits auf der formalen Ebene sehr sicher. Hierzu heißt es in der Nachschrift zum Kolleg 1818/19: »Die Erforschung dieser Regeln [der Konstruktion des Wissens, A.] ist nichts als das Erforschen und Suchen des Wissens. Es wird also etwas entstehen, was den philosophischen Systemen völlig adäquat ist.« (KGA II/10, 2, 113) Dass die formalen Bestimmungen des Denkens als Denken ein System bilden (bzw. die Systeme des Begriffs und des Urteils), hat eine doppelte Funktion. Zum einen geht es um die Einheit der Vernunft in allen Denkenden. Ohne diese Voraussetzung wäre ein Wissen für Schlei­er­macher ebenso wenig möglich wie ohne den Bezug des Denkens aufs Sein. Letzteres erfordert jedoch auch, dass die formalen Bestimmungen zugleich objektive Bedeutung haben, d. h., dass sie nicht nur äußerlich an Gegenstände herangetragene Formen, sondern allgemeine Formen nicht nur des Denkens, sondern ebenso des Gedachten sind. Entsprechend ordnet Schlei­er­macher die logischen Formen des Begriffs und des Urteils auch den von ihm im Rückgang auf die Konstellation von Parmenides und Heraklit unterschiedenen Seinsweisen des ›stehenden‹ und ›fließenden‹ Seins zu: »Das System der Begriffe bildet das stehende Gerüst, das System von Urtheilen die lebendige Ausfüllung.« (KGA II/10, 1, 40) Der Syllogismus ist bekanntlich für Schlei­er­macher keine eigene logische Form (und damit auch keine Form des Seins), sondern nur eine Kombination von Urteilen (KGA II/10, 1, 102). Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System | 145

An dieser Auffassung ändert sich in der weiteren Entwicklung der Dia­lek­tik nach 1811 grundsätzlich nichts. In den Aufzeichnungen zur Dia­lek­tik 1814/15 wird ausdrücklich festgehalten: »Es kann also eine Allen gemeinsame Begriffsproduction nur geben inwiefern diese in der Einerleiheit der Vernunft gegründet ist. D. h. Giebt es ein Wissen so muß das System aller das Wissen constituirenden Begriffe in der Allen einwohnenden Einen Vernunft auf eine zeitlose Weise gegeben sein« (KGA II/10, 1, 114). Und auch hier konstituieren die formalen Systeme des Begriffs und der Urteile das reale Wissen in der Weise, dass ihnen die Modifikationen des Seins als stehend bzw. fließend entsprechen: »das System der Begriffe ist ein stehendes Sein, wenn man sie nemlich als vollendet sezt, und eben so das System der substantiellen Formen jede auf ihrer Stuffe betrachtet ist unveränderlich. Und dagegen das System der Urtheile ist in beständigem Fluß; kein Prädicat wird dem Subject als dauernd beigelegt, die Beilegung muß immer erneuert werden; eben so ist das System der Ursachen und Wirkungen im Fluß.« (KGA II/10, 1, 131) Wie eine Zusammenfassung dieser Überlegungen liest sich folgende Passage in der anonymen Nachschrift zum Kolleg 1818/19: »Ist es wahr, daß das ganze System der Gesetze der Gedankenverbindung nichts anderes sein kann, als die Darstellung der Art und Weise, wie das Sein selbst getheilt und verbunden ist, so sind jene selbst wieder nichts, als das Aufsuchen des einen im andern.« (KGA II/10, 2, 109) Erst in der Wechselseitigkeit des Denkens und Seins im realen Wissensprozess tritt das formale System des Denkens als Denken ins Bewusstsein und bewährt es sich als Prinzip des Wissens. Dieser Wechselseitigkeit wende ich mich jetzt zu.    Das System der formalen Vernunftbestimmungen – Begriff und 3

Urteil – sichert die Selbigkeit der Vernunft in allen Denkenden und in allen Denkakten, die auf ein Wissen zielen. Sie bilden zugleich ein kategoriales Gerüst, um die zwei grundlegenden Formen des Seins  – das stehende und das fließende Sein  – erfassen und darstellen zu können. Die formalen Bestimmungen haben insofern, kantisch gesprochen, einen Bezug auf mögliche Gegenstände der Erfahrung überhaupt, aber nicht auf bestimmte Gegenstände. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Schlei­er­macher mit Kant die Voraussetzung zweier Stämme der Erkenntnis teilt, die 146 | Dia­lek­tik 

er intellektuelle und organische Funktion nennt. Zu dem angeborenen System der formalen Denkbestimmungen tritt die ›Organisation‹ der Denkenden, d. h. ihre körperlich-sinnlichen Funktionszusammenhänge, die mit der intellektuellen Funktion koordiniert sind: »Wenn und sofern jedes Denken ein gemeinschaftliches Product der Vernunft und der Organisation des Denkenden ist, ist das Wissen dasjenige Denken welches Product der Vernunft und der Organisation in ihrem allgemeinen Typus ist« (KGA II/10, 1, 91). Im Blick auf diese organische Seite des Erkennens spricht Schlei­ er­macher in der Nachschrift zur Vorlesung 1811 auch von einem »System der organischen Functionen«, womit gemeint ist, dass jeder Mensch ein Glied dieses Systems, des »Inbegriff[s] aller organischen Functionen«, ist und dadurch auch die Selbigkeit im sinnlichen Erkennen der ›Welt‹ gewährleistet ist (KGA II/10, 2, 16). Dem organischen System kommt also eine vermittelnde Funktion zwischen dem formalen intellektuellen System der Begriffe und dem objektiven System der ›Welt‹ zu. Beide Funktionen sind in jedem Moment des Bewusstseins gegenwärtig und stehen in Wechselwirkung miteinander: »Da nun das Bewußtseyn ein Continuum ist, so müssen wir in jedem Moment eine doppelte Thätigkeit setzen, eine des Sinnes, die nach außen geht, und mit den Dingen zusammen das Organische gibt, und eine der Vernunft, rein nach innen, welche das ganze System, alle formalen Elemente des Denkens und Wissens enthält.« (KGA II/10, 2, 57) Auch hier gilt, wie in Kants Kritik der reinen Vernunft: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«.15 In diesem Sinne heißt es in der Nachschrift zu dem Kolleg 1822 über das System der Begriffe: »Das Angeborensein geht dem Denken voraus, und es kann nichts andres damit gemeint sein, als daß dieselbe Richtung auf dasselbe System von Begriffen in allen angelegt ist, denn sonst würde aus allen organischen Impressionen kein Denken.« (KGA II/10, 2, 466) Umgekehrt gilt aber auch: wäre »in dem einen […] dasselbe System von Begriffen angelegt wie im andern, aber er empfinge keine organischen Impressionen, die jenen Begriffen gemäß wären, so könnte er auch nicht denken« (ebd.). 15 KrV

B 75, AA 3, 75. Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System | 147

Die Beziehung zur ›Welt‹ vermitteln demnach zwei Systeme, die im Wissensprozess einander bedingen und ergänzen: das formale System der Begriffe in der intellektuellen Funktion einerseits und das System der organischen Funktionen andererseits. Die Welt ist dann, wie es in der Nachschrift zur Vorlesung 1822 heißt, »die Gesammtheit dessen, woraus die organischen Vorstellungen entstehn, und allen muß es dasselbe sein, woraus ihre organischen Vorstellungen entstehn« (KGA II/10, 2, 466). Dies gilt, nebenbei bemerkt, sowohl für das theoretische als auch für das praktische Verhalten zur Welt, denn nach Schlei­er­machers Auffassung sind Handeln und Wissen letztlich gleichzusetzen: »Wissen ist Handeln und Handeln Wissen (Passivität ist nicht Wissen und Bewußtlosigkeit nicht Handeln)« (KGA II/10, 1, 210). Nun ist die ›Welt‹ für Schlei­er­macher nicht eine formlose Masse als tote Grundlage des Denkens und Handelns, sondern selbst schon immer gestaltet, d. h. intellektuelle und organische Funktion in ihrer den Weltbezug vermittelnden Einheit finden darin ihre Entsprechung in der Einheit und wechselseitigen Durchdringung des Idealen und Realen. Sofern sich aber in dem primär durch die organische Funktion vermittelten Weltbezug erst das Miteinander von intellektueller und organischer Funktion als Wissen realisiert, gilt, dass die Einheit beider Funktionen erst dann vollständig wäre, wenn der Wissensprozess abgeschlossen, mithin die Totalität des Wissbaren in das Wissen aufgenommen wäre. Hierzu heißt es in der Nachschrift zum Kolleg 1811: »Nur in der Totalität alles einzelnen Erkennens hätten wir die reine Identität der organischen Function und des formalen Elements. In der höchsten Vollendung können wir nie dahin kommen; wir sind daher immer im Bilden des Wissens vom höchsten begriffen, aber ohne es vollenden zu können.« (KGA II/10, 2, 38) Dies gilt in einer doppelten Hinsicht. Zum einen wäre die reine Identität der formalen bzw. intellektuellen Funktion mit der organischen Funktion eine vollständige Einigung des Idealen und Realen. Dies ist im Wissen, um das es hier geht, nicht erreichbar, denn das Wissen setzt nach Schlei­er­macher den Gegensatz des Denkens und des Gedachten voraus. Das Absolute als die diesem Gegensatz voraus- und zugrundeliegende Einheit sei deshalb auch wissensmäßig nicht vollziehbar, sondern bleibe für das Wissen transzendent. Hier 148 | Dia­lek­tik 

tritt, wie bekannt, das unmittelbare Selbstbewusstsein als Analogon des transzendentalen Grundes bzw. der Idee Gottes ein; der Idee, worin alles Wissen, sofern es auf die Einheit des Idealen und Realen zielt, gründet und von wo es seinen Ausgang nimmt. Dies bedeutet, dass das Wissen von seinem Ursprung her gewissermaßen entelechetisch auf eine Einheit aller Entgegensetzungen gerichtet ist, die Einheit der Welt als Totalität. Diese Vorstellung der Totalität, die allem Wissen vorschweben muss, ist gleichbedeutend mit der Vorstellung eines systematischen Ganzen. Im Anschluss an die eben zitierte Stelle aus der Nachschrift zur Vorlesung 1811 heißt es dazu: »Wie können wir zum Wissen der Totalität kommen? […] indem wir unser Erkennen des Endlichen in einen Grundriß zusammenzufassen suchen, eine Vorstellung der Totalität zu erlangen suchen; es giebt kein wahres einzelnes Wissen, als was sogleich mit dem Streben nach dem Systematischen, nach der Totalität unternommen ist.« (KGA II/10, 2, 38) Eine systematische Tendenz ist daher nach Schlei­er­macher dem Wissen überhaupt und auf allen Ebenen eingeschrieben. Näher betrachtet stellt sich dies so dar, dass das formale bzw. intellektuelle System der angeborenen Begriffe zusammen mit dem System der organischen Funktionen die subjektive Seite des menschlichen Erkennens bildet, die sich dann als Bewusstsein und Wissen realisiert, wenn sie die Welt als Totalität zum Objekt hat. Im eigentlichen Sinne systematisch, d. h. zur vollkommenen Einheit gebracht, wären diese Teilsysteme erst dann, wenn sie vollständig miteinander konvergierten, d. h. formale und organische Funktion im Wissen der Totalität der Welt identisch wären. Weil dieser Zustand nicht erreichbar ist, tritt an die Stelle des vollendeten Wissens der Totalität die Vorstellung der Totalität als Ziel des Prozesses. Anders gesagt: das System als die Totalität der Welt kann nicht gewusst werden, aber es gibt gleichwohl dem Wissensprozess eine systematische Struktur. Auch nach Schlei­er­macher muss man sich daher – ohne dass er diese Paradoxie ausdrücklich machen würde – dazu entschließen, System und Systemlosigkeit zu verbinden, damit ein Wissen zustande kommen kann. Die Annäherung an die Totalität der Welt ist dabei nicht nur auf die Vorstellung eines abschließenden Systems hin geordnet und gerichtet, sie kann durch Teilsysteme vermittelt sein (wie durch Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System | 149

das System der Begriffe und der organischen Funktionen) und sich auch durch Teilsysteme bewegen, die untergeordnete Einheiten im Rahmen des obersten Gegensatzes, des Idealen und des Realen, darstellen. Jedes System, so heißt es in der Nachschrift zum Kolleg 1818/19, »hat wieder ein Zusammensein mit einem andern System, dem es coordinirt ist, und mit dem es gemeinschaftlich unter einem höhern steht. Sehe ich nun auf ein Sein im System a, das rein durch das System a bestimmt ist, so ist es gleich, ob ich es empirisch oder speculativ fasse. Ist es aber auch durch das System b begründet, so muß ich erst auf das System c, das über a und b hinaufliegt sehen. Das System c hat aber wieder ein höheres über sich, und so komme ich bis auf das Höchste hinauf, wo die Totalität gegeben ist; ist die ein unmittelbarer Gegenstand des Wissens, so findet die Durchdringung des Speculativen und Empirischen Statt.« (KGA II/10, 2, 224)     Schlei­er­machers Dia­lek­tik ist nach dem, was bisher gezeigt 4

wurde, nicht antisystematisch oder als Kritik des Systemdenkens in der Klassischen Deutschen Philosophie aufzufassen. Wer Schlei­ er­macher in dieser Richtung stilisieren will, ignoriert, dass der Systemgedanke vielmehr eine entscheidende Voraussetzung der Dia­ lek­tik ist, ohne den sie – um es in Anlehnung an ihren Urheber zu formulieren – ein bloßes Aggregat von Observationen zum Wissensprozess wäre. Auch, dass sich das Wissen gleichwohl nicht als System realisieren lässt, diese Überzeugung, die Friedrich Schlegel zum Paradox zugespitzt hatte, ist eine Konsequenz des Systembegriffs und seiner spezifischen Voraussetzungen. Wenn Schlei­er­machers Dia­lek­tik aber nicht aus einem Gegensatz zur Systemphilosophie heraus zu verstehen ist, ist es für ihr Verständnis umso wichtiger, die Unterschiede zu anderen Positionen des Systemdenkens näher zu bestimmen. Ich möchte dies zum Schluss im Blick auf Friedrich Schlegel und Hegel wenigstens andeuten. Was Schlegel betrifft, so muss er in vielerlei Hinsicht als Ideen­ geber für Schlei­er­machers Dia­lek­tik gelten, auch für deren Systembegriff. Soweit Schlegels weithin fragmentarisch vorgetragene Konzeption sich rekonstruieren lässt,16 gibt es jedoch vor allem einen

Jaeschke und Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, 230–244. 16 Vgl.

150 | Dia­lek­tik 

Punkt, an dem beide – auch unter der Voraussetzung, dass sich das Absolute begrifflich nicht denken lässt  – nicht übereinstimmen. Während Schlegel, kurz gesagt, das Transzendentale historisieren will, weshalb es in der widersprüchlichen Form ironischer Selbstbrechung der Reflexion zugleich eingeholt und verfehlt, jedoch nicht außerhalb der Bewegung der Reflexion gestellt wird, entzieht Schlei­er­macher es der Reflexion, die lediglich einen auf diese Voraussetzung hinführenden Charakter hat. Soweit Friedrich Schlegel sich mit seiner Konzeption von Dia­ lek­tik in einer großen sachlichen Nähe zu Hegel bewegt, ist damit auch schon eine entscheidende Differenz zwischen Schlei­er­macher und Hegel bezeichnet. Während Schlegel und Hegel den Begriff der Identität, der mit dem Gedanken des Absoluten als absoluter Einheit notwendig verbunden ist, selbst nicht im Sinne eines formalen absoluten Prinzips fassen, sondern das Absolute – wenn auch auf unterschiedliche Weise – als Totalität bestimmen, setzt Schlei­ er­macher die Identität als relationslose, schlechthinnige Identität sowohl der Reflexion als auch der Totalität, der Idee der Welt, entgegen. Hegel dagegen setzt dort an, wo Schlei­er­macher ein angeborenes formales System der Begriffe qua intellektuelles Vermögen voraussetzt, indem er die reinen Gedankenbestimmungen aus der Selbstreflexion des Denkens abzuleiten versucht. Dies führt nach seiner Auffassung zugleich auf den Begriff des Absoluten, weil die Formen der Selbsterfassung des Begriffs im reinen Denken, d. h. dem Denken des Denkens, nicht von außerhalb des Denkens liegenden Faktoren bestimmt und in sich systematisch ableitbar sind. Sie sind in einem technischen Sinne absolut, weil sie von nichts anderem dependieren. Dass diese Selbstreflexion des Denkens ein Wissen sei, sofern die Form sich dabei zu ihrem eigenen Inhalt macht, liegt jedoch außerhalb dessen, was Schlei­er­macher interessiert. Ihm geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass das Denken erst dann ein inhaltsvolles Wissen werden kann, wenn die formalen Denkbestimmungen durch das System der organischen Funktionen mit der ›Welt‹ vermittelt werden. Seine Dia­lek­tik als Kunstlehre versteht sich vor allem als Theorie des werdenden Wissens in der Realisierung dieser Vermittlung. Vermutlich hätte Schlei­er­macher in Hegels Programm – wobei offen bleiben muss, ob und wieweit er die Wissenschaft der Logik Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System | 151

jemals wirklich zur Kenntnis genommen hat17 – nicht mehr gesehen als eine Abstraktion des Transzendentalen gegenüber der ›Welt‹, eine Abstraktion, aus der dann im Nachhinein der Bereich des realen Wissens abgeleitet werden soll. In diesem Sinne jedenfalls hat Schlei­er­macher die philosophischen Systeme seiner Zeitgenossen auf dem Boden der Klassischen Deutschen Philosophie verstanden und sich von ihnen abgrenzen wollen. Die Nachschrift zum Kolleg 1818/19 erläutert dies ausführlich: »Wenn wir unser Wissen des endlichen Seins ableiten von einem Wissen des unendlichen als seines Grundes, so können wir nicht weiter sagen, daß unser Wissen des Einen ein anderes sei als das des andern, denn das Wissen des Endlichen ist dann nur eine Fortsetzung der Thätigkeit wodurch wir das Ursprüngliche wissen. Diese Aufgabe haben sich die meisten neuern Systeme gestellt, das Wissen in solche Gesammtheit zu vereinigen, daß unser Wissen um das, was einer Begründung bedarf, und dasjenige was die Begründung ist, dasselbe sei, oder mit anderen Worten das Reale von dem Transcendenten abzuleiten. So wenig die Dialectik die Aufgabe der Logik ist, so wenig ist sie die Aufgabe dieser regenerirten Metaphysik. Sowenig wir uns begnügen bloß ein gegebenes Denken zu beurtheilen, eben so wenig macht die Dialectik den Anspruch die Gegenstände des realen Wissens, das Sein und Thun aus dem Jenseits des Gegebenen Liegenden, als ursprünglich Vorausgesetztem, in einer und derselben Reihe abzuleiten.« (KGA II/10, 2, 124 f.) Nun lässt sich der Entschluss, rein denken zu wollen, den Hegel für seine Logik voraussetzt, tatsächlich als Abstraktion verstehen, die dann im Blick auf die Natur (und den Geist) wieder zurückgenommen wird,18 jedoch ist damit bei Hegel nicht das Programm einer Ableitung verbunden, gegen das Schlei­er­machers allgemein gehaltene Polemik sich richtet. Vielmehr ist auch Hegel der Auffassung, dass die reinen Denkbestimmungen, das kategoriale System der Wissenschaft der Logik, sich im realen Wissensprozess (bei Hegel: den Realwissenschaften der Natur und des Geistes) bewähren müsse. In seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 213–225. 18 Vgl. Andreas Arndt, Wer denkt absolut? Die absolute Idee in Hegels »Wissenschaft der Logik«, in: Revista Eletrônica Estudos Hegelianos Ano 9, nº 16, Junho 2012, 22–33; http://ojs.hegelbrasil.org/index.php/reh/article/view/93/76. 17 Vgl.

152 | Dia­lek­tik 

im Grundrisse heißt es hierzu, dass im Durchgang durch Natur und Geist »das Logische« wieder erreicht werde, aber »mit der Bedeutung, daß es die im concreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit« ist.19 Hierzu gehört auch, dass das Absolute für Hegel keine für sich zu stellende Entität ist, wie häufig angenommen, sondern Methode: das Absolute ist die absolute Idee als dialektische Methode. Hier so scheint mir, liegt dann doch auch eine sachliche Beziehung auf die Dia­lek­tik als Kunstlehre, die in Übereinstimmung und Verschiedenheit mit Hegel allererst auszuloten wäre, eine Beziehung, die aber überhaupt nicht in den Blick tritt, wenn Schlei­er­machers Konzeption als Gegensatz zum Systemdenken seiner Zeitgenossen aufgefasst wird.

19 § 574

(1817).

in der 2. und 3. Auflage (1827 und 1830) und § 474 in der 1. Auflage

Schlei­er­machers Dia­lek­tik und die Frage nach dem System | 153

Schlei­er­machers Dia­lek­tik Ein Projekt der Klassischen Deutschen Philosophie    Schlei­er­machers Vorlesungen über die Dia­lek­tik fallen in die 1

Zeit seines Wirkens an der neu gegründeten Berliner Universität, wo er seit der Eröffnung 1810 einen theologischen Lehrstuhl innehatte. Ebenfalls 1810 war Schlei­er­macher auch zum Mitglied der Philosophischen Klasse der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin berufen worden. Dies gab ihm das Recht, an der Universität auch philosophische Vorlesungen zu halten. Hiervon machte Schlei­er­macher erstmals im Sommersemester 1811 Gebrauch, als er über die Dia­lek­tik las.1 Der Entschluss dazu schien durch die Konkurrenzsituation mit Fichte motiviert gewesen zu sein, den Schlei­er­macher zwar achtete, dessen Philosophie jedoch überwiegend Gegenstand seiner Kritik und Polemik war.2 Das erste überlieferte Dokument, in dem das Projekt einer Dia­lek­tik erwähnt wird, ist Schlei­er­machers Brief an Gaß vom 29. 12. 1810, worin es heißt: »Ich bin schon angesprochen worden um die Ethik allein ich habe einmal verschworen so lange Fichte der einzige Professor der Philosophie ist kein philosophisches Collegium zu lesen; und sollte sich das bis Ostern ändern so hätte ich Lust erst als Einleitung zu meinen philosophischen Vorlesungen die Dia­lek­tik zu versuchen die mir lange im Kopfe spukt.« (KGA V/11, 536) Die Dia­lek­tik hatte 1 Schlei­ er­macher

las in der Folge noch fünfmal über diese Disziplin: 1814/15, 1818/19, 1822, 1828 und 1831; 1832/33 befaßte er sich, gestützt auf die im Zusammenhang mit der Vorlesungstätigkeit entstandenen Aufzeichnungen, mit einer Ausarbeitung der Dia­lek­tik für den Druck, die aber über die ersten fünf Paragraphen der Einleitung nicht hinauskam. Die vollständige, kritische Edition aller einschlägigen Manuskripte Schlei­er­machers und der Vorlesungsnachschriften liegt in KGA II/10 vor. 2 Vgl. Andreas Arndt, Fichte und die Frühromantik (F. Schlegel, Schlei­e r­ macher), in: Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, hg. v. J. Stolzenberg und O.-P. Rudolph, Amsterdam und New York 2010 (Fichte-Studien 35), 45–62.  155

demnach zunächst die Funktion, als »Einleitung« mit dem philosophischen Standpunkt Schlei­er­machers vertraut zu machen. Sie ist daher – auch wenn Schlei­er­macher sich auf philosophische Polemik grundsätzlich nicht einlassen mag3 – wenigstens implizit eine Standortbestimmung auf dem Boden der nachkantischen Philosophie. Weshalb aber musste Schlei­er­macher sich in dieser Weise von Fichte abgrenzen? Tatsächlich war Schlei­er­macher ja bereits nicht nur mit philosophischen Publikationen hervorgetreten – darunter mit den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), in denen er sich scharf von Fichte distanziert hatte (KGA I/4, 27– 357) –, er hatte auch als Professor der Theologie und Philosophie an der Hallenser Universität (1804–1806) und, nach der Schließung der Universität durch Napoleon, privatim in Berlin bereits philosophische Vorlesungen über die Ethik, die Geschichte der Philosophie, der Theorie des Staates und die Hermeneutik gehalten, ohne eine allgemeine Standortbestimmung im Sinne der Dia­lek­tik voranzuschicken.4 Hierzu sah Schlei­er­macher sich erst in Berlin veranlasst, als er sich vor Ort gegen Fichte behaupten musste. Um ein Gegengewicht zu der befürchteten Einseitigkeit der Fichteschen Philosophie zu schaffen, hatte Schlei­er­macher im Frühjahr 1810 die Berufung seines Freundes und vormaligen Hallenser Kollegen, des Mineralogen und Naturphilosophen Henrich Steffens, betrieben, zu dem er bereits in Halle eine enge, auch philosophische Beziehung angeknüpft hatte.5 Schlei­er­macher begründete seinen Vorstoß zugunsten Schlei­er­macher an Friedrich Lücke, Anfang 1821, in: Aus Schleier­­ macher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, Berlin 1863, 272: »In philosophische Pole­mik kann ich mich gar nicht einlassen, weil ich sie als einen Unsinn ansehe.« – Schlei­er­macher war der Auffassung, dass jede philosophische Polemik fehlgehen müsse, weil es kein gesichertes, objektiv gültiges Wissen über die Prinzipien des philosophischen Wissens geben könne; dies gehört zu den Grundvoraussetzungen seiner Dia­lek­tik. 4 Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Schlei­e r­machers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin und New York 1992, 300 ff. 5 Vgl. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, Bd. 2, Berlin 1871, 334, wo es über Steffens’ Vorlesungen heißt, sie zeigten »ihren höchsten Werth erst dann, wenn man sie mit den Schlei­er­macher’schen gleichsam in ein Ganzes verflocht […] und beide Männer in den Hauptsachen einverstanden und zusammenstimmend, sahen sich gern in diese Ge3 Vgl.

156 | Dia­lek­tik 

Steffens’ mit der Absicht, »Vorlesungen über die ethischen Wissenschaften« zu halten, »für welche ich, da ich selbst allgemeine Philosophie nie vortragen werde, keine Haltung finde und sie daher lieber unterlasse« (KGA V/11, 475). Schlei­er­machers Hervortreten mit der Dia­lek­tik verdankt sich also dem Umstand, dass er auch nach dem Scheitern der Berufungsaussichten für seinen Freund Steffens auf eine philosophische Lehrtätigkeit nicht verzichten wollte. Und weiter wird aus der unmittelbaren Vorgeschichte der Vorlesung 1811 deutlich, dass die »Dia­lek­tik« im Kontext der Epoche vor allem als kritische Auseinandersetzung mit der Fichteschen Wissenschaftslehre verstanden werden muss, die für sich in Anspruch nahm, Philosophie in Wissenschaft überführt zu haben. Schlei­er­machers Verhältnis zu Fichte war sowohl durch Nähe als auch durch Distanz geprägt; man könne, so schrieb er bereits am 28. März 1801 an F. H. C. Schwarz, »innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich. Wir beide sind uns dessen auch bewußt« (KGA V/5, 75). Trotz dieses Gegensatzes konnten in der Außenwirkung vielfach die Gemeinsamkeiten überwiegen, so dass Schlei­er­macher sogar beklagen musste, »daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten«, was zum Beispiel bei den Monologen (1800) der Fall war (KGA V/5, 76). Das Verhältnis zu Fichte war aber wohl nur ein Motiv, mit etwas hervorzutreten, was Schlei­er­macher schon lange »im Kopfe spukte«. Worum es sich dabei handelte, lässt sich im Kern bereits den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre entnehmen; dort geht es um eine »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften«; diese dürfe jedoch »selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen« (KGA I/4, 48). Hierbei handelt es sich um eine deutliche Anspielung auf Fichtes »Wissenschaftslehre«, welche einen »absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsaz« (FGA I, 2, 255) an die Spitze stellt. Dagegen möchte Schlei­er­macher die von meinschaft gestellt, welche für die näheren und vertrauteren ihrer Jünger in aller Kraft wirklich bestand, so daß die Theologen auch Steffens hörten, und die Naturbeflissenen sich Schlei­er­macher’n anschlossen.« – Ob die Gemeinsamkeiten zwischen Schlei­er­macher und Steffens tatsächlich so weit reichten, kann bezweifelt werden. Vgl. Schmidt, Analogie versus Wechselwirkung. Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 157

ihm geforderte Wissenschaft »als ein Ganzes« denken, »in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht […], und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann. Eine solche höchste und allgemeinste Erkenntniß würde mit Recht Wissenschaftslehre genannt, ein Name, welcher dem der Philosophie unstreitig weit vorzuziehen ist, und dessen Erfindung vielleicht für ein größeres Verdienst zu halten ist, als das unter diesem Namen zuerst aufgestellte System.« (KGA I/4, 48) Weshalb diese »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften« dann erst in Berlin ausgearbeitet wurde, erklärt sich aus der unmittelbaren Konfrontation mit Fichte, nicht jedoch, weshalb diese dann unter dem Titel einer Dia­lek­tik hervortrat. In Schlei­er­machers bisherigem Wortgebrauch deutete nichts hierauf hin. Es ist also zu fragen, weshalb 1811 dieser Titel gewählt wurde. Die Beantwortung dieser Frage lässt mit seiner Vorgeschichte bei Schlei­er­macher selbst die Verbindung des Projekts der Dia­lek­tik mit der Problem- und Diskussionslage der nachkantischen Philosophie hervortreten.    Schlei­er­machers Konzeption einer obersten Wissenschaft in den 2

Grundlinien von 1803 orientiert sich offenbar an Friedrich Schlegel. Gegen die Grundsatzphilosophie Reinhold-Fichtescher Prägung, die die Philosophie im Ausgang von einem unbedingten obersten Grundsatz begründen wollte, setzt Schlegel in seiner 1796 geschriebenen Rezension von Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar die Konzeption eines »Wechselerweises«. Sei nicht etwa, so heißt es – verkleidet in eine rhetorische Frage – ein »von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie«? (KFSA 2, 74) Schlegel denkt damit das Unbedingte – also den Grund der Philosophie – nicht als Prinzip und telos außerhalb des von ihm Bedingten, sondern als Totalität wechselseitigen Sich-Bedingens.6 Schlei­er­macher drückt dies

Zum Theorem des Wechselerweises vgl. Manfred Frank, »Wechselgrundsatz«. Friedrich Schlegels philosophischer Ausgangspunkt«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 26–50; ders., »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997, 858–882; Guido Naschert, Friedrich Schlegel über Wechselerweis und Ironie, in: Athena6

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so aus, dass das Ganze wechselseitiger Bestimmungen nur als ein Ganzes angenommen oder verworfen werden könne, also, so wird man sagen können, in diesem Sinne auch unbedingt sei. Bei Friedrich Schlegel verweist das Theorem des Wechselerweises auf seine Konzeption der Dia­lek­tik, die er seit 1796 ausbildet.7 Ein Anknüpfungspunkt ist Kants transzendentale Dia­lek­tik in der Kritik der reinen Vernunft, nach der die Totalität der Bedingungen selbst das Unbedingte ist. Kant ist für Schlegel Bezugspunkt seiner eigenen Konzeption von Dia­lek­tik, deren erste Formulierung aus dem Jahr 1796 überliefert ist: »Sehr bedeutend ist der Griechische Nahme Dia­lek­tik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey Kant), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen (so bey Plato Gorgias – cfr. Aristoteles); ist ein Theil der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen.« (KFSA 18, 509) Wie in Platons Gorgias (486e) die Gesprächsführung der »sogenannte[n] Redekunst« gegenübersteht, so steht die Dia­lek­tik dem Schein  – dem rhetorischen und auch dem transzendentalen  – entgegen. Schlegel begründet das affirmative Dia­lek­tik-Verständnis der nachkantischen Philosophie, indem er sie zum Organon des Findens und Mitteilens der Wahrheit macht. Schlei­er­macher, der zu dieser Zeit in einer Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel lebte,8 hatte Ende 1797/Anfang 1798 Schlegels philosophische Notizhefte gelesen, um sie auf Fragmente für das Athenaeum hin abzuklopfen. So hatte er am 15. Januar 1798 an August Wilhelm Schlegel berichtet, Friedrich habe ihm, »da er mir einen Spaziergang durch seine philosophischen Papiere erlaubte, das onus aufgelegt daß ich sie, wie ein Trüffelhund habe abtreiben müßen, um Fragmente oder Fragmentensamen aufzuwittern« (KGA V/2, 250). Es dürfte auch kein Zweifel daran bestehen, dass eum. Jahrbuch für Romantik 6 (1996), 47–91 und 7 (1997), 11–37; Birgit RehmeIffert, Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg 2001, 31 ff. 7 Vgl. Andreas Arndt, Zum Begriff der Dia­ lek­tik bei Friedrich Schlegel 1796–1801, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), 257–273; ders., Perspektiven frühromantischer Dia­lek­tik; Marcus Böhm, Dia­lek­tik bei Friedrich Schlegel. Zwischen transzendentaler Erkenntnis und absolutem Wissen, Paderborn u. a. 2020. 8 Vgl Arndt, Friedrich Schlei­e r­macher als Philosoph, 31–41. Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 159

Schlei­er­macher mit dem Freund bei ihren philosophischen Gesprächen, auch über gemeinsame Projekte, über Schlegels Konzeption sehr gut unterrichtet war. Als er 1811 über Dia­lek­tik las, mag er sich der Konzeption seines früheren Weggefährten Friedrich Schlegel erinnert haben. Die Formulierungen in der Nachschrift zur Vorlesung von 1811 lassen Schlegels Skizze von 1796 noch erkennen: »Unter Dia­lek­tik verstehn wir […] die Prinzipien der Kunst zu philosophieren. […] Das Höchste und Allgemeinste des Wissens also und die Prinzipien des Philosophierens selbst sind dasselbe. […] Konstitutive und regulative Principe lassen sich also nicht mit Kant unterscheiden. Diesem Begriffe ganz angemessen ist der Name der Dia­lek­tik, welcher bei den Alten gerade diese Bedeutung hatte. […] Der Name bezieht sich auf die Kunst, mit einem Andren zugleich eine philosophische Konstruktion zu vollziehen. […] Die Dia­lek­tik […] kann mit Recht das Organon aller Wissenschaft heißen.« (KGA II/10, 2, 5–7) Bis dahin hatte Schlei­er­macher, im Gefolge der rhetorischen Tradition, Dia­lek­tik weitgehend mit Virtuosität im Argumentieren gleichgesetzt, und nichts – auch seine Interpretation der platonischen Dia­lek­tik nicht  – hatte darauf hingedeutet, dass er ihr den Rang einer obersten Wissenschaft zusprechen wollte. Das einzige Vorbild, was hierfür in Frage kommt, ist Friedrich Schlegels Konzeption transzendentalphilosophischer Dia­ lek­ tik. Josef Körner hatte bereits 1934 die These vertreten, Schlei­er­machers Dia­lek­tik lasse »gewisse Gedanken der Jenaer Transzendentalphilosophie [Friedrich Schlegels] aufscheinen«,9 eine These, die sich in der Forschung erst heute zunehmend durchsetzt, denn hierfür bedurfte es zunächst der Wiederentdeckung und Rekonstruktion der Schlegelschen Dia­lek­tik-Konzeption. Dass die oberste Wissenschaft nicht von einem obersten Grundsatz ausgeht, aber auch nicht von einem in sich geschlossenen System (etwa einem System kategorialer Bestimmungen, wie später Hegels Wissenschaft der Logik), hat seinen Grund darin, dass Schlei­er­macher die Philosophie grundsätzlich als ein Projekt im Werden ansieht, die eines systematischen Abschlusses gar nicht fäSchlegel, Neue Philosophische Schriften, hg. v. J. Körner, Frankfurt/M. 1935, 51. 9 Friedrich

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hig sei. Anders als Kant nämlich10 (und mit Friedrich Schlegel11) ist Schlei­er­macher der Auffassung, dass das System gleichsam etwas Objektives sei, d. h. die Systematizität der empirischen Erkenntnis der »Welt« betreffe, die im beständigen Wandel begriffen sei, so dass ein systematischer Abschluss des Wissens in sich nie erreicht werden könne. Wenn nun aber auch das Wissen nicht in einem obersten Grundsatz gründet, sondern in der Wechselseitigkeit bedingter Sätze, dann lässt sich auch das Verfahren, in dem das Wissen geschichtlich konstituiert wird, nicht abschließend unter Prinzipien bringen. Für Schlei­er­macher besteht die Frage daher darin, wie unter der Voraussetzung einer Unentschiedenheit in den Grundsätzen des Wissens (und Handelns) gleichwohl ein Wissen, wenn auch nicht ein Wissen der Grundsätze, gerechtfertigt werden kann. Er reagiert damit auch auf das Faktum der um 1800 sich in rascher Folge überbietenden Systemversuche, deren Ansprüchen auf einen Abschluss des Wissens in sich er skeptisch gegenübersteht. »Vielleicht«, so heißt es bereits in der Vorrede der Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, »möchte bei dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaften, und dem immer noch obwaltenden Streit über die ersten Principien, eine solche Art der Kritik, wie diese, auch für andere Zweige der Erkenntniß sich nüzlich erweisen, um von einem Punkt aus, der außerhalb des streitigen Gebietes liegt, dasselbe zu vermessen.« (KGA I/4, 30) Ebenso hat dann später die Dia­lek­tik als eine gemeinsame Konstruktion des Wissens die Aufgabe, zunächst eine Verständigung darüber herbeizuführen, wie der Streit über die Prinzipien des Philosophierens auszutragen sei, um von dort aus den realen Prozess des werdenden Wissens unter (provisorische) Regeln zu stellen. 10 Dass

wir die ›Welt‹ systematisch ansehen, ist für Kant eine Leistung unserer Vernunft: »Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Principien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen zusammen zu stehen.« (KrV B 502, AA 3, 329) An anderer Stelle heißt es kurz: »Die Vernunfteinheit ist die Einheit des Systems.« (KrV B 708, AA 3, 448) 11 Vgl. Andreas Arndt, Friedrich Schlegels dialektischer Systembegriff; zur Bedeutung des Kantischen Systembegriffs für die nachkantischen Diskurse vgl. Jaeschke und Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 161

Schlei­er­machers Rückwendung von einem »System der Vernunft« zu einem objektiven Systemverständnis hängt mit einer weiteren, grundlegenden Problematik der nachkantischen Philosophie zusammen. Er will auf diesem Wege eine Einheit des Idealismus und Realismus ins Werk setzen, an der auch die anderen Vertreter der Klassischen Deutschen Philosophie arbeiten. Bereits Kant, der sich ja selbst als »transzendentalen« oder »kritischen« Idealisten bezeichnete, hatte dennoch nicht nur eine »Kritik des Idealismus« zum Thema der Kritik der reinen Vernunft gemacht, er bezeichnete den kritischen Idealismus zugleich auch als »empirischen Realismus«.12 Auch Fichte, der einen praktischen Idealismus des Sollens vertritt, will im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre einen »Mittelweg zwischen Idealismus und Realismus« aufzeigen.13 In der Auseinandersetzung mit Kant und besonders auch Fichte wird dann vor allem das Unzureichende der Vereinigung von Idealismus und Realismus betont. Schellings Frage nach der »Subjektobjektivität« jenseits der für die Alternative von Idealismus und Realismus konstitutiven Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie auch Hegels Wendung gegen den »subjektiven Idealismus« Kants und Fichtes, wobei Hegel in seiner Wissenschaft der Logik schließlich erklärt, der »Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie« sei »ohne Bedeutung« (GW 21, 142). Schlei­er­macher reiht sich programmatisch in diese Bewegung ein: »Die Vereinigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den Monologen; aber freilich liegt der Grund davon sehr tief, und es wird nicht leicht sein, beiden Parteien den Sinn dafür zu öffnen. Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden, und meine Sachen hat man wohl anderwärts noch gar nicht darauf angesehen.« (An F. H. C. Schwarz, 28. 3. 1801, KGA V/5, 73) Tatsächlich hatte Schlei­er­macher bereits in den Reden über die Religion (1799) erklärt, die Religion müsse »dem Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus«, das »Gegengewicht 12 KrV

B 274 ff., AA 3, 190 ff.; KrV A 371, AA 4, 233. Gottlieb Fichte, Werke, hg. v. I. H. Fichte, Bd. 1, Berlin 1971, 173.

13 Johann

162 | Dia­lek­tik 

halten« und »einen höheren Realismus« ahnden lassen (KGA I/2, 213). Diese Funktion übernimmt dann innerphilosophisch das »Reale« oder das Sein als Totalität alles empirisch Seienden im Verhältnis zum Idealen. Bei dieser Vereinigung des Idealismus und Realismus kommt es für Schlei­er­macher vor allem darauf an, die Begründungsebene der Philosophie so zu gestalten, dass die philosophischen Realwissenschaften – Physik (Naturphilosophie) und Ethik (Geschichtsphilosophie) – gleichermaßen in ihr verankert werden können. Hieran mangelt es seiner Ansicht nach den bisherigen Versuchen der nachkantischen Philosophie. Der »siegreiche dynamische Idealismus« – gemeint sind Fichte und Schelling – könne, so heißt es in den Grundlinien, »wohl schwerlich die Ahnenprobe seiner Abstammung von einer Idee der höchsten Erkenntniß bestehen […] Denn von beiden Darstellungen desselben […] hat die eine zwar eine Ethik aufgebaut, dagegen aber die Möglichkeit einer Naturwissenschaft bald troziger bald verzagter abgeläugnet, und die andere dagegen die Naturwissenschaft zwar hingestellt, für die Ethik aber keinen Platz finden können auf dem Gesammtgebiete der Wissenschaften.« (KGA I/4, 356) Bemerkenswert ist, dass Schlei­er­macher hierbei als Vorbild nicht auf die von ihm später Platon zugeschriebene antike Einteilung der Philosophie in Dia­lek­tik, Physik und Ethik verweist (die tatsächlich von Xenokrates stammt), sondern ausdrücklich behauptet, die antike Philosophie habe den »gemeinschaftliche[n] Keim« dieser Disziplinen nicht aufzeigen können (KGA I/4, 49). Für Schlei­er­macher bleibt zunächst offen, ob die Begründung der Philosophie überhaupt gesondert von den Realwissenschaften erfolgen solle und könne, ob also die Realwissenschaften Physik und Ethik einander wechselseitig stützen oder aber beide in einer obersten Wissenschaft verankert werden sollten. Ein verloren gegangener Entwurf der ersten Hallenser Ethikvorlesung (1804/05) enthielt nach einem brieflichen Zeugnis eine ausführliche Darstellung »transzendentaler Postulate«,14 das sind nach Kant praktisch 14 Vgl.

Gaß an Schlei­er­macher, 20. 7. 1805: »Die transcendentalen Postulate werden Sie schwerlich abkürzen können, ich dächte eher erweitern, auf allen Fall aber populärer machen müßen für den mündlichen Vortrag nemlich. Bartholdy bemerkte besonders mit Wohlgefallen Ihre Abweichung von Schelling, deßen erste Vorlesung über das akademische Studium wir dabei zur Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 163

begründete theoretische Sätze, die angenommen werden sollen, ohne bewiesen werden zu können. Sie entsprechen damit dem, was Schlei­er­macher in den Grundlinien von der obersten Wissenschaft sagt. Diese Postulate waren der Ethik integriert und auch in den späteren Vorlesungen zur Ethik bis 1808 geht Schlei­er­macher davon aus, dass eine gesonderte Darstellung der obersten Wissenschaft dann nicht erfolgen müsse, wenn Ethik und Physik so konstruiert seien, dass sie im Gleichgewicht zueinander ständen.15 Noch in den Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808) heißt es: »Der wissenschaftliche Geist als das höchste Prinzip, die unmittelbare Einheit aller Erkenntniß kann nicht etwa für sich allein hingestellt und aufgezeigt werden in bloßer Transcendentalphilosophie, gespensterartig, wie leider Manche versucht und Spuk und unheimliches Wesen damit getrieben haben.« (KGA I/6, 37) Dass die »reine Transzendentalphilosophie« eine eigene Darstellung erfahre, war für Schlei­er­macher zwar möglich, aber nicht zwingend. Aber auch bei einer solchen gesonderten Darstellung musste die oberste Wissenschaft mit den Realwissenschaften und der ihnen zugrundeliegenden Empirie vermittelt sein. Es war daher wohl die besondere Situation an der Berliner Universität, die Schlei­er­macher veranlasste, mit einer eigenen Grundlegung der Philosophie hervorzutreten. Da er, anders als in Halle, nicht an eine seiner Ethik adäquate Naturphilosophie anschließen konnte, die selbst vorzutragen er nicht wagen wollte,16 blieb ihm (neben dem ja auch erwogenen Verzicht auf philosophische Vorlesungen) nur der Versuch, seine Ethik an allgemeine Grundsätze anzuschließen, die zugleich zur Naturphilosophie vermitteln sollen. Die Dia­lek­tik bekommt damit in Bezug auf die Realwissenschaften Physik und Ethik einen schwer fixierbaren, gleichsam schwebenden Status. Sie ist kein reales Wissen von Prinzipien, sondern Kunstlehre bzw. Organon des realen Wissens. Eben dies hatte Friedrich Hand nahmen, und wünscht, daß Sie sich demselben hierin nie mehr nähern mögten.« (KGA V/8, 255) 15 Vgl. oben Schlei­e r­machers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen. 16 Schlei­er­macher hatte schon 1807 erklärt, er könne, »da seine Bestrebungen auf einem anderen Felde als dem der eigentlichen Naturforschung liegen, kein Naturphilosoph heißen« (KGA I/5, 150). 164 | Dia­lek­tik 

Schlegel in seiner Konzeption von Dia­lek­tik in Anknüpfung an Platon und Kant in den Mittelpunkt gestellt. Hierauf konnte Schlei­er­ macher umso eher zurückkommen, als er zwar unter »Dia­lek­tik«, in Übereinstimmung mit der Tradition der neueren Philosophie, vor allem die logisch-rhetorische Seite des Philosophierens verstanden, sie aber in Übereinstimmung mit der antiken Auffassung als Technik des Philosophierens angesehen hatte. In seiner neuen Konzeption musste Schlei­er­macher jedoch – ebenso wie Schlegel – in der Reflexion auf die Gehalte der philosophischen Techniken und besonders der logischen Formen des Begriffs und des Urteils zugleich auch die letzten Gründe und den Zusammenhang alles Wissens und in Bezug darauf die Grenzen des Erkennens thematisieren. Die Dia­ lek­tik bezieht sich daher auch auf diejenige Problematik, die Kant zum Thema der transzendentalen Dia­lek­tik in der Kritik der reinen Vernunft gemacht hatte, nämlich das Verhältnis des Endlichen oder Bedingten zum Unbedingten.17    Schlei­er­machers Dia­lek­tik erwächst aus dem Boden der nach3

kantischen Klassischen Deutschen Philosophie. Sie reagiert nicht nur auf die Systeme und Systembildungsversuche um 1800, indem sie eine vermittelnde Position jenseits des Streits um die Begründung der Philosophie sucht, sondern sie zielt auch auf die Lösung eines der zentralen Probleme der nachkantischen Philosophie, der Vermittlung von Idealismus und Realismus.18 Hierbei schließt Schlei­er­macher vor allem an die frühromantische Philosophie an,

ist dagegen ein Einfluss Hegels. Die Phänomenologie des Geistes hatte Schlei­er­macher nicht zur Kenntnis genommen; sie war in seiner Bibliothek offenbar nicht vorhanden (vgl. KGA I/15). Die Wissenschaft der Logik begann erst nach Schlei­er­machers erster Vorlesung über die Dia­ lek­tik zu erscheinen. Hegels Schrift über die Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems (1801), die Schlei­er­macher kannte, verwendet dagegen die Termini »Dia­lek­t ik« oder »dialektisch« nicht. 18 Vgl. dazu grundlegend Valentin Pluder, Die Vermittlung von Idealismus und Realismus in der Klassischen Deutschen Philosophie. Eine Studie zu Jacobi, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013.  – Michael Theunissen hat dagegen die These vertreten, Schlei­er­machers philosophische Bedeutung bestehe darin, dass er »mitten im Idealismus nachidealistisches Denken auf den Weg gebracht« habe (»Zehn Thesen über Schlei­er­macher heute«, in: Schlei­er­macher’s Philosophy and the Philosophical Tradition, ed. S. Sorrentino, Lewiston u. a. 1992, IV); ebenso ordnet Manfred Frank Schlei­ 17 Auszuschließen

Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 165

die er in seiner philosophischen Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel entscheidend mit ausgearbeitet hatte. Seine Konzeption von Dia­lek­tik ist in erster Linie als eine Transformation der frühromantischen Philosophie zu verstehen. Sie steht in bewusster Konkurrenz vor allem zu Fichtes Wissenschaftslehre, während Hegels Philosophie an ihr »beinahe spurlos vorbeigegangen«19 zu sein scheint. Es ist jedoch zu zeigen, dass die Dia­lek­tik sachlich gleichwohl in einer großen Nähe zu Hegels Wissenschaft der Logik sich bewegt, denn beide verfolgen das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik. Die Gliederung der Dia­lek­tik blieb seit der ersten Vorlesung 1811 im Wesentlichen unverändert. In einer »Einleitung« werden Begriff und Aufgabe der Dia­lek­tik erörtert, während in einem grundlegenden »transzendentalen Teil« der Grund alles Wissens und Handelns aufgesucht wird; hier ist das realisiert, was Schlei­er­macher auch als »reine Transzendentalphilosophie« vorgeschwebt hatte. Daran schließt sich ein zweiter, »technischer« oder »formaler« Hauptteil an, der die Konstruktion und Kombination des realen Wissens behandelt; dieser Teil erfüllt die für Schlei­er­machers Konzeption unverzichtbare Aufgabe, die Vermittlung der transzendentalen Erörterungen mit den Realwissenschaften zu sichern und aufzuzeigen. Dieser Teil der Dia­lek­tik hat in der Forschung, die sich zumeist auf den transzendentalen Teil konzentriert, nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, obwohl er im Blick auf die realistisch-empirische Orientierung zentral ist. Dass Schlei­er­machers Dia­lek­tik oft als eine Art selbständige prima philosophia angesehen und ihre Einheit mit den Realwissenschaften verkannt wird, hat wesentlich auch damit zu tun. Der technische Teil, der von Schlei­er­macher zumeist nur abgekürzt vorgetragen wurde und auch im Manuskript nur als Skizze überliefert ist, erfuhr in der Folge keine nennenswerten Veränderungen. Dagegen wurden die Einleitung und der transzendentale Teil vielfach und in entscheidenden Punkten umgearbeitet. Was die er­machers Philosophie ein; vgl. Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 2007. 19 Bruno Weiß, Untersuchungen über Friedrich Schlei­e r­macher’s Dia­lek­tik, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 74 (1879), 36. – Zum Verhältnis der Schlei­er­macherschen Dia­lek­tik zu Hegel vgl. Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 213–239. 166 | Dia­lek­tik 

Einleitung betrifft, so standen zunächst die Fragen nach den Prinzipien und dem Zusammenhang alles Wissens im Zentrum, während 1822 das Problem der Gesprächsführung den Anknüpfungspunkt bildet. In den Vorlesungen 1828 und 1831 dagegen geht Schlei­er­ macher von dem Gegensatz von Gewissheit und Ungewissheit aus, um die Aufgabe des Philosophierens zu bestimmen. Für die späte Ausarbeitung der Einleitung zum Druck kam Schlei­er­macher wieder auf den Ansatz von 1822 zurück. Im transzendentalen Teil werden vor allem die Passagen über die Vergewisserung des transzendentalen Grundes einschneidenden, auch konzeptionellen Veränderungen unterworfen. In der Vorlesung 1811, die deutlich identitätsphilosophische Züge tritt, die wohl noch aus dem gemeinsamen Philosophieren mit Henrich Steffens in Halle erwachsen, haben wir diesen Grund »nur als gemeinsames formales Element aller Acte des Erkennens« (KGA II/10, 1, 43); 1814/15 wird der transzendentale Grund dann in die relative Identität des Denkens und Wollens als Gefühl gesetzt (KGA II/10, 1, 142). Erst die Vorlesung 1822 bestimmt das Gefühl dann – parallel zur Bestimmung des religiösen Bewusstseins in der Glaubenslehre  – als unmittelbares Selbstbewusstsein (KGA II/10, 1, 166 f.); hieran knüpfen auch die 1828 und 1831 gehaltenen Vorlesungen über die Dia­lek­tik an. Hieraus wird deutlich, dass die Dia­lek­tik keine abschließende Gestalt gefunden hat, sondern als work in progress anzusehen ist: sie selbst unterliegt der Figur des werdenden Wissens, die sie thematisiert. Die immer wieder unternommenen Versuche – sei es durch Kompilation mehrerer Kollegien, sei es durch Privilegierung einzelner Entwürfe –, eine systematisch geschlossene Gestalt der Dia­lek­ tik herzustellen, unterlaufen diesen Befund. Im Folgenden werden daher auch nur grundlegende Aspekte zur Sprache kommen können, die dann im Einzelnen wieder entwicklungsgeschichtlich zu modifizieren wären. Mit der unabgeschlossenen Gestalt der Dia­lek­ tik hängt es wohl auch entscheidend zusammen, dass die Dia­lek­tik in der philosophischen Diskussion bisher nur wenig präsent ist und vor allem im theologisch-philosophischen Grenzbereich diskutiert wird.20 zur Forschungslage Jaeschke und Arndt, Die Klassische deutsche Philosophie nach Kant, 283–287. 20 Vgl.

Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 167

Schlei­er­macher geht, wie bereits erwähnt, davon aus, dass der Streit um eine Begründung der Philosophie trotz der intensiven Diskussionen um 1800 noch nicht entschieden sei und sich vermutlich auch gar nicht entscheiden lassen werde. Ein objektiv gültiges, »reales« Wissen sei, so heißt es in einer Nachschrift zur Vorlesung 1818/19, nur auf den Gebieten der Physik und Ethik möglich; zugleich gelte aber, dass »von demjenigen, was der letzte Grund der Natur als des Objects der Physik und der Bestimmtheit des Geistes als Subjects der Ethik sei, ein eigentliches Wissen nicht Statt finde« (KGA II/10, 2, 124). Dies ruft den Skeptizismus auf den Plan, der für Schlei­er­macher in den Vorlesungen über die Dia­lek­tik zu einem Hauptgegner avanciert.21 Hiergegen richten sich, »weil alles Wissen auf dem realen Gebiet doch einen Halt haben muß, […] die neueren Versuche, welche den Zweck haben, den Grund desjenigen, was Gegenstand der Physik und Ethik ist, als solchen in einem eigentlichen Wissen darzustellen.« (KGA II/10, 2, 124) In einem späten Entwurf zum Paragraphen 2 der »Einleitung« in die Dia­lek­tik von 1833, einer für den Druck bestimmten Ausarbeitung seiner Vorlesungen, hat Schlei­er­macher bekräftigt, dass der Streit über die Prinzipien der Philosophie fortbestehe. Man müsse, »statt eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen […] eine Kunstlehre des Streitens« aufstellen, »in der Hofnung dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Ausgangspunkte für das Wissen zu kommen« (KGA II/10, 1, 372). Dies sei der Weg, den die alte Philosophie schon einmal begonnen, der aber zu zeitig aufgegeben worden sei: auf ihm behalte die »Wissensliebe« das letzte Wort und nicht ein Wissen, »daß man am Ende auch wol ohne Liebe muß besizen können« (KGA II/10, 1, 373). Anknüpfungspunkt hierfür ist das reale Wissen, dessen Möglichkeit nicht zur Disposition steht, womit nach Schlei­er­machers Auffassung auch der Skeptizismus abgewehrt ist, der im Übrigen den Selbstwiderspruch begehe, ein Wissen des Nichtwissenkönnens zu behaupten (KGA II/10, 1, 87). Durch den Bezug auf das reale Wissen ist die Dia­lek­tik für Schlei­er­macher nicht nur rein formal, sondern sie thematisiert – grundsätzlich im transzendentalen Teil, 21 Zur

Virulenz des Skeptizismus in der nachkantischen Philosophie vgl. Klaus Vieweg, Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das ›Gespenst des Scepticismus‹, München 1999. 168 | Dia­lek­tik 

im Blick auf das werdende Wissen im technischen Teil – auch den Bezug des Wissens auf das Sein, welches Gegenstand der (empirisch gerichteten) Realwissenschaften ist. Wie Hegel in der Wissenschaft der Logik verfolgt Schlei­er­macher in seiner Dia­lek­tik demnach das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik. So heißt es in Schlei­er­machers Aufzeichnungen zur Dia­lek­tik-Vorlesung 1814/15: »Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transcendentale Philosophie ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkührliche und fantastische.« (KGA II/10, 1, 77) Ohne metaphysisches Fundament gibt es für Schlei­er­macher kein Wissen. Die Logik, so heißt es, könne nur »auf Metaphysik beruhen. Beruht sie darauf nicht, so beruht sie auf dem Gefühl. Sie soll dann alles andere Wissen begründen, und ruht selbst auf einem Nichtwissen.« (KGA II/10, 1, 110) Hierbei orientiert sich Schlei­er­macher, wie Hegel, an Kants Programm einer transzendentalen Logik in der Kritik der reinen Vernunft, die ja in der Analytik die vormalige Ontologie mit thematisiert, in der Dia­lek­tik die vormalige metaphysica specialis (rationale Psychologie, Kosmologie und rationale Theologie). Obwohl er im Unterschied zu Kant an einem ontologischen Realismus festhält, indem er eine durchgängige Entsprechung von Denken und Sein annimmt, geht es Schlei­er­macher mit Kant in der Dia­lek­tik um unsere Erkenntnisart von den Gegenständen, d. h. um die objektive Bedeutung unserer Denkformen (Begriff und Urteil) überhaupt. Auf diese Weise ist »die Einsicht von der Bewährung des Zusammenhanges zwischen dem Denken und Sein überhaupt […] die sogenannte Metaphysik« (KGA II/10, 1, 110). Diese Metaphysik, als Beziehung der Denkformen auf das Sein überhaupt und nicht auf ein bestimmtes Sein, steht damit aber unter dem Primat der Logik. In Schlei­er­machers Notizen zur Dia­lek­tik-Vorlesung 1818/19 heißt es: »Identität von Logik und Metaphysik unter der Form der Logik« (KGA II/10, 1, 211). Im Unterschied zu Hegels Wissenschaft der Logik tritt die Dia­lek­tik jedoch selbst nicht als Wissenschaft, sondern als eine »Kunstlehre« auf, die darauf gerichtet ist, »den innern Zusammenhang alles Wissens« zu »machen« (KGA II/10, 1, 75). Sie verfügt über kein abschließendes Wissen der Gründe und des Zusammenhangs des Wissens. Ziel der Dia­lek­tik ist daher auch die Konstruktion des realen Wissens, wie sie im zweiten, technischen Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 169

Teil reflektiert wird, und nicht die Vollendung des reinen oder philosophischen Denkens in sich. Während Schlei­er­macher in Bezug auf das Sein der Realwissenschaften den ontologischen Realismus stark macht, stimmt er mit Kant darin überein, dass eine objektiv gültige Erkenntnis der Vernunftgegenstände nicht möglich sei. Der Vorbildcharakter der Kritik der reinen Vernunft kommt auch im Aufbau der Dia­lek­tik zum Ausdruck. Parallel zur Kantischen Analytik wird zunächst in der Theorie des Begriffs und des Urteils, welche sich auf das wissbare Sein bezieht, die Ontologie thematisiert, sodann kommen mit der Präsenz des transzendentalen Grundes im (unmittelbaren) Selbstbewusstsein und mit den Ideen der Welt und Gottes die traditionellen Vernunftgegenstände ins Spiel. Der transzendentale Teil der Dia­lek­tik hat die Aufgabe, den Grund und den Zusammenhang des Wissens ausgehend von den Bestimmungen des realen Wissens aufzusuchen. Er beginnt mit der Unterscheidung des Denkens überhaupt vom Wissen. Wissen ist dasjenige Denken, welches (a) »von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise produciert« und welches (b) »vorgestellt wird als einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend« (KGA II/10, 1, 90). Entsprechend den zwei Stämmen der Erkenntnis bei Kant  – Sinnlichkeit und Verstand – unterscheidet Schlei­er­macher in jedem Denken zwei Seiten, die organische und die intellektuelle, die untrennbar sind und nur zusammen ein Denken bilden. »Mit der Idee des Wissens ist gesezt eine Gemeinsamkeit der Erfahrung und eine Gemeinsamkeit der Principien unter Allen, mittelst der Identität der Vernunft und der Identität der Organisation in Allen« (KGA II/10, 1, 98). Auf diese Weise sind Ideales und Reales miteinander vermittelt, denn die Tätigkeit der Vernunft ist nach Schlei­er­macher im Idealen gegründet, die organische Tätigkeit dagegen »als abhängig von den Einwirkungen der Gegenstände im Realen: so ist das Sein auf ideale Weise eben so gesezt wie auf reale, und Ideales und Reales laufen parallel neben einander fort als modi des Seins.« (KGA II/10, 1, 100) Hierbei geht Schlei­er­macher davon aus, dass beide Seiten – Ideales und Reales, Organisches und Denken – nicht abstrakt einander entgegengesetzt, sondern miteinander vermittelt sind. So ist das Ideale ist nicht das Denken selbst, sondern – zusammen mit dem Orga170 | Dia­lek­tik 

nischen – Moment des Denkens und modus des Seins, und ebenso ist nicht das Organische das Sein selbst, sondern nur ein modus des Seins und Moment des Denkens. Die Unterscheidung beider Momente, die Schlei­er­macher zufolge den »höchsten Gegensaz« bilden, beruht auf einer im Denken vorgenommenen Abstraktion, die sich der »Gesinnung« oder »Anschauung des Lebens« (KGA II/10, 1, 101) verdankt, in der eine solche Trennung spontan vorausgesetzt wird. Dieser höchste Gegensatz ist die Denkgrenze nach »oben«, an der Transzendenz und Immanenz geschieden sind; die behauptete Parallelität des Idealen und Realen kann aber nur gesichert werden, wenn der höchste Gegensatz auf ein einiges und ungeteiltes Sein zurückgeführt wird, »welches ihn und mit ihm alle zusammengesezten Gegensäze aus sich entwikelt« (KGA II/10, 1, 101). Dies ist die »Idee des Seins« als Idee einer Einheit jenseits aller Entgegensetzung. Der spinozistische Hintergrund dieser Gedankenentwicklung ist deutlich. Die Idee des Seins nimmt den Platz der einen Substanz ein, die als Einheit von Denken und Ausdehnung konzipiert ist, womit sich dann der durchgängige Parallelismus dieser Attribute ergibt. Dass diese (bei Schlei­er­macher: Modi) nicht nur parallel laufen, sondern miteinander so vermittelt sind, dass am Idealen das Reale »mitgesetzt« ist und umgekehrt, verdankt sich freilich offenbar nicht Spinoza selbst, sondern dem Einfluss des Schellingschen Identitätssystems,22 der besonders in der ersten der Vorlesungen über die Dia­lek­tik 1811 deutlich hervortritt. 22 Der

Bezug auf Schelling in diesem Zusammenhang ist sachlich begründet, auch wenn Schlei­er­macher aus eher idiosynkratischen Gründen auf Dis­tanz zu Schelling blieb. Für Schelling war der Spinozismus ein Realismus, der sich nicht dem Idealismus (als Idealrealismus der Wissenschaftslehre) unterordnen ließ, sondern diesem im angestrebten Realidealismus das Gleichgewicht hielt. In der »Vorerinnerung« der Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) charakterisierte er den »Spinozismus« als »den Realismus in seiner erhabensten und vollkommensten Gestalt« (Schelling, Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4, Stuttgart und Augsburg 1859, 110). Dies erinnert, bis in die Formulierung hinein, an die bekannte Stelle der Reden über die Religion, wo dem »Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus«, die Religion als »Gegengewicht« zur Seite gestellt wird, welche »ihn einen höhern Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet« (KGA I/2, 213), und für diesen Realismus ist dann der »heilige verstoßene Spinosa« der Zeuge. Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 171

Die Formen des Wissens, die sich innerhalb der Entgegensetzung des Idealen und Realen ergeben, bestimmt Schlei­er­macher als Begriff und Urteil, während ihm der Schluss  – anders als in der traditionellen formalen Logik – nicht als eine eigenständige logische Form gilt, sondern nur als eine Komplexion von Urteilen.23 Dabei ist jedoch zu beachten, dass es Schlei­er­macher hier gar nicht um eine formale, sondern um eine transzendentale Logik bzw. die Einheit von Logik und Metaphysik geht. Die »gewöhnliche Logik«, so heißt es bereits in der Vorlesung 1811, sei unzureichend, um den wissensmäßigen Charakter eines Gedankens zu bestimmen; dies gelingt nicht formal, sondern nur in der Beziehung auf die Allgemeinheit des Denkens und die Totalität des Seins: »Jeder einzelne Act des Denkens kann ein Wissen seyn nur im Zusammenhang mit allen übrigen. In die Totalität alles übrigen hineingesetzt wird erst etwas ein Wissen« (KGA II/10, 2, 53). Die gewöhnliche Logik dagegen habe es nur mit einzelnen Gedanken zu tun. Für Schlei­ er­macher lässt sich die Sphäre des Wissens durch Begriff und Urteil  – ohne Zuhilfenahme des Schlusses  – vollständig ausmessen. Die Grenzen des Begriffs und des Urteils markieren die Grenzen des Wissens. Die Grenze des Begriffs »nach unten« auf der ontologischen Skala vom Einzelnen zum Allgemeinen ist »die Möglichkeit einer Mannigfaltigkeit von Urteilen«, d. h. die unstrukturierte und »unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des Wahrnehmbaren« (KGA II/10, 1, 104). Dem entspricht auf der Seite des Urteils das Setzen einer »Unendlichkeit von Prädicaten, für welche es keine bestimmten Subjecte giebt d. h. einer absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins« (KGA II/10, 1, 108). Die Grenze des Begriffs »nach oben« ist ein Begriff, der nichts mehr ausschließen würde. Dieser wäre jedoch kein Begriff mehr, weil in der »Idee der absoluten Einheit des Seins« der für das Wissen konstitutive »Gegensaz von Gedanke und Gegenstand aufgehoben ist« (KGA II/10, 1, 105). Auch hier fällt die Grenze des Begriffs mit der Grenze des Urteils zusammen, denn die absolute Einheit des Seins ist zugleich auch »das absolute Subject, dessen Sezen alles Urtheil begrenzt« (KGA II/10, 1, 108). hierzu kritisch vgl. Friedrich Ueberweg: System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, Bonn 41882, 61–63. 23 Vgl.

172 | Dia­lek­tik 

Die Dia­lek­tik bezieht sich mit dem Wissen auch auf das Wollen, da auch dem Wissen ein Wissenwollen zugrunde liegt, während das Handeln umgekehrt ein Wissen über dessen Bedingungen und Ziele voraussetzt. Der Grund der Gewissheit im Wissen und Handeln ist daher derselbe und Schlei­er­macher verortet ihn »in der relativen Identität des Denkens und Wollens nemlich im Gefühl« (KGA II/10, 1, 142). Im Gefühl verhalten sich Wissen – das »Gesetztsein« der Dinge in uns – als Realismus und Handeln – das Setzen unseres Seins in die Dinge – als praktischer Idealismus indifferent zueinander. Es steht daher für ein nichtbegriffliches Innewerden einer wissensmäßig nicht vollziehbaren differenzlosen Identität. In der Vorlesung 1822 wird das Gefühl dann als »unmittelbares Selbstbewußtsein« angesprochen, das in »Analogie« zum transzendenten Grunde stehe (KGA II/10, 1, 266).24 Den transzendentalen Grund als das Unbedingte oder Absolute bestimmt Schlei­er­macher als Idee Gottes; ihr Korrelat ist die Idee der Welt als Idee der Totalität des Bedingten, in der alles »unter der Form des Gegensazes« steht (KGA II/10, 1, 49). Auch sie liegt, da die Totalität nie abgeschlossen ist, »außerhalb unseres realen Wissens« und ist »transcendental auf eigene Weise« (KGA II/10, 1, 147 f.). Während die Idee Gottes als terminus a quo des Wissens bestimmt ist, ist die Idee der Welt der »transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden« (KGA II/10, 1, 149). Der transzendentale Teil der Dia­lek­tik behandelt die Themenfelder der traditionellen Metaphysik im Rahmen der Frage nach dem Begriff und der logischen Form des Wissens. Während Begriff und Urteil sich auf den Bereich des uns zugänglichen Seins beziehen und damit, wie Kants transzendentale Analytik, an die Stelle der vormaligen Ontologie oder metaphysica generalis treten, werden die Gegenstände der metaphysica specialis – Seele, Welt, Gott – mit dem Gefühl als unmittelbarem Selbstbewusstsein sowie den Ideen Gottes und der Welt thematisiert. Dabei unterzieht Schlei­er­macher die traditionelle Metaphysik durch seine subjektivitätstheoretische Position jedoch einer tiefgreifenden Revision. Der Platz der ehemaligen rationalen Psychologie wird von dem unmittelbaren SelbstKritik dieser Unmittelbarkeitsfigur vgl. Arndt, Friedrich Schlei­er­ macher als Philosoph, 198 ff. 24 Zur

Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 173

bewusstsein als Gefühl eingenommen, welches auch die Ontologie unter sich fasst, »weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist« (KGA II/10, 1, 153). Gegenstand der so transformierten rationalen Psychologie ist dann »die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen« (KGA II/10, 1, 152 f.).25 In der Konsequenz werden Kosmologie und Theologie mit der rationalen Psychologie verschmolzen. Der zweite, technische Hauptteil der Dia­lek­tik betrachtet das bewusste Hervorbringen des Wissens in Konstruktion und Kombination. Die Konstruktion behandelt die Begriffs- und Urteilsbildung im Blick auf das reale Wissen, die Kombination behandelt Heuristik und Architektonik des Wissens und klärt, wie das Wissen zu erweitern (Heuristik) bzw. in welchen inneren Zusammenhang es zu bringen sei (Architektonik). Konstruktion und Kombination sind dabei nur relativ unterschieden und greifen in der Praxis des Wissensprozesses ständig ineinander. Da der auf die Idee der Welt gerichtete Prozess nicht abschließbar ist, bleibt der jeweilige Stand des Wissens relativ. Sofern der Wissensprozess zugleich durch endliche Individuen bedingt ist, tritt dabei auch Individualität als ein »irrationales« Moment auf, das kritisch ausgeglichen werden muss: »Die Irrationalität der Einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache nur durch die Einheit der Vernunft.« (KGA II/10, 1, 190) Die Kombination des Wissens bewegt sich von der chaotischen Mannigfaltigkeit zur erfüllten und in sich gegliederten Totalität als Idee der Welt; sie erfordert die Heuristik26 zur Vervollständigung des Wissens ebenso wie die Architektonik zu dessen Systematisierung. Die »Construction der Gesammtheit alles Wissens« (KGA II/10, 1, 392) als das eigentliche Ziel der Philosophie kann jedoch nicht erreicht werden: »Wir müssen uns nach dem gegenwärtigen Stande des Wissens freilich begnügen, unsere Kunst mehr auf das Gebiet des Realen anzuwenden: aber immer mit jener Hinsicht auf das PhiloHiermit korrespondiert Schlei­er­machers Psychologie; vgl. Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 379–394. 26 Zu Schlei­er­machers Theorie der Heuristik vgl. Werner Hartkopf, Dia­ lek­tik – Heuristik – Logik, Frankfurt/M. 1987, 119–130. 25

174 | Dia­lek­tik 

sophische Ziel. Der wäre kein Philosoph zu nennen, dem dies fremd bliebe« (KGA II/10, 1, 394).     Zusammenfassend: Schlei­er­machers Dia­lek­tik ist ein Projekt auf 4

dem Boden der nachkantischen Klassischen Deutschen Philosophie, auf deren Diskussionslage – die Schlei­er­macher als unentschiedenen (und unentscheidbaren) Streit über die Begründung der Philosophie ansieht – sie mit einer »Kunstlehre« der Hervorbringung des Wissens reagiert, die sich konzeptionell an Friedrich Schlegels Verständnis von »Dia­lek­tik« anlehnt, das dieser seit 1796 entwickelt hatte. Unmittelbarer Gegner der Dia­lek­tik ist Fichtes Wissenschaftslehre, wobei Schlei­er­macher an die Kritik der Grundsatzphilosophie anknüpft, die er mit Friedrich Schlegel geteilt hatte. Auch in dieser Hinsicht stellt die Dia­lek­tik sich als Transformation einer frühromantischen Position dar. Das Programm der Dia­lek­tik, die Vereinigung von Idealismus und Realismus, teilt Schlei­er­macher darüber hinaus mit der ganzen nachkantischen Philosophie, wobei er sich in der Umbildung des spinozistischen Programms in die Nähe von Schellings Identitätssystem stellt. Kants Kritik der reinen Vernunft bildet einen zentralen Bezugspunkt der Dia­lek­tik. Dies gilt zunächst für die Gliederung: Parallel zur Kantischen Analytik wird in der Theorie des Begriffs und des Urteils die Ontologie thematisiert, sodann kommen in Parallele zur transzendentalen Dia­lek­tik mit der Präsenz des transzendentalen Grundes im (unmittelbaren) Selbstbewusstsein und mit den damit verbundenen Ideen der Welt und Gottes die traditionellen Vernunftgegenstände ins Spiel. Der Bezug auf die transzendentale Logik in der Kritik der reinen Vernunft bringt Schlei­er­machers Dia­lek­ tik als Einheit von Logik und Metaphysik auch in eine Entsprechung zu Hegels Wissenschaft der Logik. Schlei­er­machers Annahme eines unmittelbaren Selbstbewusstseins als Analogon des transzendentalen Grundes als einer unmittelbaren, relationslosen Identität trennt ihn dabei zugleich von Hegel. Übereinstimmung und Konkurrenz ergeben sich aus der gemeinsamen Problemlage der nachkantischen Philosophie.

Friedrich Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 175

Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik    Schlei­er­machers Dia­lek­tik wurde vor gut vierzig Jahren einmal 1

als ein »noch immer wartendes Buch« bezeichnet.1 Daran hat sich seither, was die philosophische Diskussion angeht, nicht sehr viel geändert  – obwohl inzwischen ein kritisch gesicherter Text der Schlei­er­macherschen Entwürfe und Vorlesungen vorliegt. Tatsächlich hatten Schlei­er­machers Vorlesungen, aber auch die 1839 im Rahmen der Sämmtlichen Werke erfolgte Nachlassedition,2 im 19. Jahrhundert eine kaum zu überschätzende Wirkung, besonders auf dem Gebiet der Logik. Bereits 1825 hatte August Twesten, damals Professor in Kiel, der 1811 Schlei­er­machers erste Dia­lek­tik-Vorlesung gehört hatte, in seiner Logik eine über die Analytik hinausgehende höhere Logik ins Auge gefasst, welche eine ebenso transzendentalphilosophisch wie logisch gerichtete Wissenschaftslehre sein sollte: »Eine solche höhere Logik würde Schlei­er­machers Dia­lek­tik seyn, in Ansehung deren mir der gewiß von vielen getheilte Wunsch gestattet sey, daß sie uns nicht zu lange vorenthalten werden möge!«3 Twesten war einer der akademischen Lehrer von Adolf Trendelenburg, der – wohl auf Empfehlung Twestens – Kontakt zu Schlei­er­macher gesucht hatte4 und dessen Logische Untersuchungen – auch wenn sie sich zwar respektvoll, aber eher distanziert zu Schlei­er­machers Dia­lek­tik äußern5 –

Rothert, Die Dia­lek­tik Friedrich Schlei­er­machers. Überlegungen zu einem noch immer wartenden Buch, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 67, 183–214. 2 Schlei­er­macher, Dia­l ek­tik, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1839 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 4, 2). 3 August Detlef Christian Twesten, Die Logik, insbesondere die Analytik, Schleswig 1825, XXXIX . 4 Vgl. Andreas Arndt, Einleitung, in: Schlei­er ­macher, Dia­l ek­tik (1811), Hamburg 1986, XXXVIII. 5 Adolf Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2 Bde., Leipzig 31870, 486–491; Trendelenburg bezieht sich ausdrücklich positiv auf Twestens Logik, 1 Hans-Joachim

 177

im 19. Jahrhundert einer Schlei­er­macherschen Schule zugerechnet wurden, so z. B. bei Friedrich Überweg.6 Vor allem in der Auseinandersetzung mit Hegels Wissenschaft der Logik war Schlei­er­machers Dia­lek­tik in der Philosophie des 19.  Jahrhunderts lange Zeit präsent. Schlei­er­macher wurde dabei zum Teil als Vermittler zwischen Kant und Hegel gesehen, so etwa bei Georg Hagemann: »Der schroffe Gegensatz zwischen kantischer und hegel’scher Logik rief naturgemäß eine vermittelnde Richtung hervor. Schlei­er­macher suchte die Denkformen aus dem Wissen als dem Zwecke des Denkens abzuleiten, und einen Parallelismus derselben mit den realen Existenzformen aufzuweisen.«7 Leopold George dagegen versucht in seinem »Den Manen seines verklärten Lehrers Friedrich Schlei­er­macher« gewidmeten Werk Die Logik als Wissenschaftslehre8 eine Vermittlung Schlei­er­machers und Hegels. Kant habe, so führt er dort aus, das Problem der Vereinigung des Idealen und des Realen hinterlassen. Fichte und Hegel hätten es in Richtung auf eine absolute Identität von Denken und Sein bearbeitet und dabei die Logik in die Metaphysik aufgelöst; eine andere Richtung, für die Schlei­er­macher und Trendelenburg ständen, hätte versucht, »einerseits die ursprüngliche Einheit in der Differenz von Denken und Sein nachzuweisen und damit die Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt zu begreifen, andrerseits die richtige Methode der Erkenntniss, durch welche auf jener Grundlage eine wirkliche Uebereinstimmung zwischen Denken und Sein erreicht wird, darzulegen; und so zertheilt sich die Aufgabe der Wissenschaftslehre in einen metaphysischen und einen logischen Theil, welche aber auf das Engste zusammengehören, da nur durch diese Untersuchungen nach beiden Richtungen hin das Problem der Wissenschaft zu lödie er eine »scharfsinnige und consequente« Darstellung und »anerkannte Schrift« nennt (ebd., 16). 6 Ueberweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, 63. 7 Georg Hagemann, Elemente der Philosophie 1: Logik und Noetik, Münster 21870, 18; Hagemann verweist mit Überweg auf Heinrich Ritter, Leopold George, Eduard Beneke, Adolf Trendelenburg und Rudolf Hermann Lotze, die in dieser Hinsicht von Schlei­er­macher beeinflusst seien. 8 Leopold George, Die Logik als Wissenschaftslehre, Berlin 1868; vgl. bereits Leopold George: Princip und Methode der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf Hegel und Schlei­er­macher, Berlin 1842. 178 | Dia­lek­tik 

sen ist.«9 Dabei betont George ausdrücklich, dass beide Richtungen als Konsequenzen der Kantischen Problemstellung zu verstehen seien. Anknüpfend an Twestens Forderung nach einer neuen wie logisch ausgerichteten Wissenschaftslehre vollzieht Trendelenburg eine erkenntnistheoretisch-logische Wende in der Wissenschaftstheorie, in der Schlei­er­machers Dia­lek­tik von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, wie Klaus-Christian Köhnke nachgewiesen hat.10 Dabei wird jedoch die Metaphysik, die bei Schlei­er­macher einen integralen Bestandteil der Dia­lek­tik bildet, zunehmend ausgeblendet. Wilhelm Dilthey, der in Schlei­er­machers Dia­lek­tik »die erste erkenntnistheoretische Logik« erblickte,11 wollte sie als solche nur gelten lassen, wenn alle vorkritischen, seiner Auffassung nach auf Platon zurückgehenden Auffassungen einer Abbildung des Seins im Denken aus ihr getilgt seien.12 Dilthey versuchte, die Dia­ lek­tik als eine erfahrungsmäßig begründbare, rein prozedurale Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zu lesen, die – ohne metaphysische Voraussetzungen und Implikationen – allein den Vollzug des werdenden Wissens zum Thema habe. Im Grunde genommen wird damit die Dia­lek­tik auf ihren zweiten, technischen Teil zurechtgestutzt, der bei Schlei­er­macher nur unter der Voraussetzung eines transzendentalen Grundes überhaupt thematisierbar war.13 Und auch Trendelenburg hatte, was oft übersehen wird, den Vollzug des Wissens letztlich an eine Idee Gottes gebunden: »Die Wissenschaft 9 George:

Die Logik als Wissenschaftslehre, 6.

10 Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus.

Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. 1986, Teil 1. Vgl. auch die ausführliche Darstellung der Rezeption und Wirkung der Dia­lek­tik bei Ingolf Hübner, Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis. Eine Untersuchung zu Schlei­er­machers Dia­lek­tik, Berlin und New York 1997, 204 ff. 11 Wilhelm Dilthey, Leben Schlei­e r­machers, hg. v. Martin Redeker, Bd. 2, 1: Schlei­er­machers System der Philosophie und Theologie, Berlin 1966 (Gesammelte Schriften 14, 1), 157; vgl. Gunter Scholtz, Schlei­er­machers Dia­lek­tik und Diltheys erkenntnistheoretische Logik, in: Dilthey-Jahrbuch 2 (1984), 171–189. 12 Vgl. Dilthey, Leben Schlei­e r­machers, Bd. 2, 1, 158. 13 Vgl. Andreas Arndt, Die Metaphysik der »Dia­lek­tik«, in: Schlei­e r­machers Dia­lek­tik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, hg. v. Christine Helmer, Christiane Kranich und Birgit Rehme-Iffert, Tübingen 2003, 135–149. Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 179

vollendet sich allein in der Voraussetzung eines Geistes, dessen Gedanke Ursprung alles Seins ist. […] Das Princip der Erkenntniss und das Princip des Seins ist Ein Princip.«14 Nun ist die Flucht vor der Metaphysik, welche die nachklassische deutsche Philosophie im 19. Jahrhundert zunehmend antritt, nur vordergründig eine Strategie zur Vermeidung eines Rückfalls in vorkritisches Denken. Was in vielen postklassischen Kant-Adaptionen – bis auf die Gegenwart – als kritisches Denken gilt, verdankt sich vielmehr weitgehend auch der Reinigung Kants von seinem Programm einer Erneuerung der Metaphysik und von den Untiefen der transzendentalen Dia­lek­tik in der Kritik der reinen Vernunft, die ein metaphysisches Ausgreifen auf ein Unbedingtes als unabweisbar ansieht. Was Metaphysik für Schlei­er­macher bedeutet, ist also keinesfalls durch den Verweis auf Platon ausgemacht, sondern im Spannungsfeld der nachkantischen Philosophie und im Blick auf Kant zu erörtern.15 Gleiches gilt für die Logik. Schlei­er­macher selbst stellt klar – und so wurde er auch von seinen Schülern verstanden –, dass er nicht die »gewöhnliche« (aristotelisch geprägte) Schullogik meint, wenn er in seiner Dia­lek­tik logische Formen thematisiert. Dies ergibt sich schon aus dem Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik, wie es z. B. in dem Entwurf zur Dia­lek­tik-Vorlesung 1814/15 formuliert wird: »Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transcendentale Philosophie ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkührliche und fantastische.« (KGA II/10, 1, 77) Offenbar knüpft Schlei­er­macher hier an das Kantische Programm einer transzendentalen Logik an: die Logik ist gerade deshalb mit der Metaphysik verbunden, weil sie nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert, sondern nur von bestimmten empirischen Inhalten, indem sie es »bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu thun hat, aber lediglich, 14 Trendelenburg, Logische

Untersuchungen, 510. – Vgl. Josef Schmidt, Hegels Wissenschaft der Logik und ihre Kritik durch Adolf Trendelenburg, München 1977. 15 Überhaupt scheint es mir unangemessen zu sein, die Platon-Rezeption nach Kant nicht in erster Linie als Rückgriff (und teilweise Projektion) aufgrund der durch Kant geschaffenen Problemlage zu verstehen; zu Schlei­er­ macher vgl. Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 263–274. 180 | Dia­lek­tik 

sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird«.16 Dies ermöglicht allererst die Thematisierung metaphysischer Gegenstände in ihrem Rahmen, wobei sie jedoch voraussetzt, dass jeder Inhalt in der Anschauung gegeben sein muss, weshalb sie zugleich zur Kritik der objektiven Geltungsansprüche der traditionellen Metaphysik gerät. Die transzendentale Analytik und die transzendentale Dia­ lek­tik als die beiden Bestandteile der transzendentalen Logik behandeln demgemäß Themen der vormaligen metaphysica generalis oder Ontologie bzw. der metapysica specialis, aber nicht mehr mit der Anmaßung »von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben«.17 Vor diesem Kantischen Hintergrund ist, so meine grundlegende These, Schlei­er­machers Dia­lek­tik zu verstehen. Ich möchte sie in drei Schritten präzisieren. Zuerst frage ich nach Schlei­er­machers Auseinandersetzung mit der »gewöhnlichen« Logik @, sodann nach dem Status der logischen Formen in der Dia­lek­tik # und schließlich danach, was dies für Schlei­er­machers Verständnis von »Metaphysik« bedeutet $.    In seiner philosophischen Ethik definiert Schlei­er­macher die 2

Logik »als empirische Beschreibung des intellektuellen Prozesses«.18 An anderer Stelle heißt es: »Die Logik ist, empirisch behandelt, zur Psychologie gehörig, speculativ behandelt gehört sie (nur mit Ausnahme des Transcendenten) auf die Naturseite, weil sie die Theorie des Bewußtseins ist.«19 Um dies zu verstehen, muss man Schlei­er­ machers Konzept der Psychologie hinzuziehen, die er als »Bruchstück« der An­ thro­ po­ lo­ gie, der empirischen Beschreibung der menschlichen Natur, versteht; sie ist nur ein Bruchstück, sofern sie die Naturseite nur von der Seelentätigkeit aus in den Blick nimmt und nicht als solche thematisiert.20 Erst im Gegenstandsbezug jedoch kann von einem Bewusstsein gesprochen werden, in dem die logischen Formen einen Inhalt haben. Nach dieser Seite gehört die Logik zum »natürlichen Bewusstsein«, d. h. zum Bewusstsein der 16 KrV

B 81 f., AA 3, 78. B 303, AA 3, 207. 18 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 506. 19 Ebd., 632. 20 Vgl. Arndt, Friedrich Schlei­e r­macher als Philosoph, 363–378. 17 KrV

Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 181

Gegenstände der Erfahrung. Sie ist dann insofern spekulativ und nicht mehr bloße Beschreibung vorgefundener logischer Formen, als sie die Einheit des Intellektuellen und Organischen bzw. Idealen und Realen zum Thema hat. Davon wiederum ist der Bezug auf das Transzendente zu unterscheiden, der sich auf die Begründung dieser Einheit im transzendentalen Grund bezieht, den die Dia­lek­ tik aufsucht. Schon hieraus wird deutlich, dass Schlei­er­macher sich für die logische Problematik auf der rein formalen Ebene eigentlich nicht interessiert, sondern allein auf der Ebene dessen, was Kant als transzendentale Logik bezeichnet hatte. Dieser Befund wird durch die Dia­lek­tik bestätigt. Schlei­er­macher ordnet dort die logische Frage der Frage nach dem Wissen unter, wobei Wissen für Schlei­er­macher ein Denken ist, das zugleich zwei Anforderungen erfüllt: die Allgemeingültigkeit für alle Denkenden und die Übereinstimmung mit einem Sein. Um festzustellen, ob ein Denken ein Wissen ist, ist jedoch – so führt es Schlei­er­macher schon in der Vorlesung 1811 (in der Nachschrift von August Twesten) aus – die »gewöhnliche Logik« unzureichend: »Die Logik handelt gewöhnlich von Begriffen, Urtheilen, Schlüssen. Diese können höchstens Anleitung geben, einen einzelnen Gedanken zu untersuchen, aber nicht um von einem ein Wissen zu machen. Dazu bedarf es einer Regel des Fortschreitens.« (KGA II/10, 2, 52) Das Fortschreiten wäre eben die Beziehung auf die Allgemeinheit des Denkens und die Totalität des Seins: »Jeder einzelne Act des Denkens kann ein Wissen seyn nur im Zusammenhang mit allen übrigen. In die Totalität alles übrigen hineingesetzt wird erst etwas ein Wissen. Wir nehmen also keinen Gegenstand für sich, sondern setzen seinen Ort in der Allgemeinheit des Seyns, und den Ort seines Begriffs in der Allgemeinheit des Wissens.« (KGA II/10, 2, 53) Die gewöhnliche Logik dagegen bleibt, wenn diese Hegelsche Redeweise hier erlaubt ist, bei isolierten, abstrakten Verstandesbestimmungen stehen: »Die Logik ist nur für das Gebiet des fragmentarischen Wissens gemacht, worin man sich über gewisse Dinge schon versteht. […] Die Logik ist Kanon des Raisonirens geworden, und hat grade die Zerrissenheit des Wissens begünstigt. Die bisherige Logik darf uns daher nicht irren.« (KGA II/10, 2, 54) Wissen – und das ist für Schlei­er­macher immer werdendes Wissen – ist unter diesen Voraussetzungen nur als Einheit von Logik 182 | Dia­lek­tik 

und Metaphysik zu realisieren, wie es in einer Nachschrift zur Dia­ lek­tik-Vorlesung 1818/19 deutlich gemacht wird: »die Kenntniß des Grundes von der Verknüpfung des Denkens für sich betrachtet ist die sogenannte Logik; und die Einsicht von der Bewährung des Zusammenhanges zwischen dem Denken und Sein überhaupt ist die sogenannte Metaphysik. Allein je mehr man Logik und Metaphysik getrennt hat, um so leerer sind beide geworden« (KGA II/10, 2, 110). Tatsächlich setzen sich beide nach Schlei­er­macher gegenseitig voraus. Die Metaphysik setzt die Logik voraus, sofern sie auf »Gesetze über die Verbindung der Gedanken« angewiesen ist; diese allein würden jedoch dazu führen, dass man die Metaphysik »ausspinnt in Argumentationen« (ebd.) – eine deutliche Anspielung auf Kants Kritik an den Verfahrensweisen der vormaligen Metaphysik, der Schlei­er­macher hier beitritt. Umgekehrt dürfen die logischen Formen für Schlei­er­macher nicht einfach als gegeben unterstellt und aufgenommen werden, sondern es ist zu fragen, worin sie gegründet sind. Die Antwort lautet: im Wissen, d. h. im allgemeingültigen Zusammenhang des Denkens mit dem Sein: »woher kommt denn die Kenntniß der Gesetze selbst? Das Richtige ist doch nur das mit dem Sein Zusammenstimmende. Also kann die Logik nur wieder auf Metaphysik beruhen. Beruht sie darauf nicht, so beruht sie auf dem Gefühl. Sie soll dann alles andere Wissen begründen, und ruht selbst auf einem Nichtwissen.« (ebd.) Die Zurückweisung der Berufung auf ein Gefühl an dieser Stelle bedarf der Erläuterung, wenn man sich erinnert, dass wir nach Schlei­er­macher den transzendentalen Grund alles Wissens und Handelns nur im unmittelbaren Selbstbewusstsein als Gefühl haben. Tatsächlich geht es hier aber nicht um den Grund, sondern um den Vollzug des Wissensprozesses, in dem sich die Logik in einem Wissen und nicht in einem Nichtwissen begründet. Die Dia­lek­tik ist nicht das Organon eines für sich zu stellenden transzendenten oder transzendentalen Wissens, sondern Organon des realen Wissens (KGA II/10, 2, 127):21 »wir wollen nur die letzten Gründe alles Wissens als die Gesetze, wie wir überhaupt zu einem Wissen auf 21 Vgl. Andreas Arndt, »Die Dialectic … will ein wahres Organon des realen

Wissens sein«. Eine neu zugängliche Nachschrift zu Schlei­er­machers Dia­lek­tikVorlesung 1818/19, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 9 (2002), 1–25. Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 183

dem realen Gebiet in uns kommen; in dem Gebiete des Gegebenen wollen wir nur ein wirkliches Wissen construiren, im Gegensatz gegen das bloße Meinen« (KGA II/10, 2, 125). Nach Schlei­er­machers Auffassung ist die transzendentale Logik also nicht nur so etwas wie eine Erweiterung der logischen Theorie, sondern vielmehr deren Grundlegung. Nur in dem Wissensprozess – und Wissen schließt den Gegenstandsbezug notwendig ein  – lassen sich die logischen Formen begründen, und insofern haben sie auch eine, vorsichtig formuliert, metaphysische Bedeutung. Auf welche Weise aber bilden Logik und Metaphysik eine Einheit? Hierzu notiert Schlei­er­macher im Zusammenhang mit dem Kolleg 1818/19: »Identität von Logik und Metaphysik unter der Form der Logik   Unterschied von Logik – und von Aggregat von Logik und Metaphysik. – Beides unter der Form der Logik.« (KGA II/10, 1, 211) In der Nachschrift zu dieser Vorlesung heißt es an der entsprechenden Stelle: »Allerdings ist also Dialectik ihrem Inhalte nach Logik und Metaphysik, aber nicht als Aggregat von beiden, sondern beides in der Form der Logik. Dagegen sind neuerdings Versuche gemacht beides zu vereinigen in der Form der Metaphysik, d. h. als ein Wissen, worin zugleich die Regeln des Verfahrens liegen, und woraus sie abgeleitet werden.« (KGA II/10, 2, 123)22 Man muss sich hierbei deutlich machen, dass die Form der Logik nicht eine formale Logik indiziert, sondern eine transzendentale; hieraus erklärt sich auch erst die scheinbare Tautologie, in der Manuskript und Nachschrift übereinstimmen: Dass die Logik unter der Form der Logik steht, heißt, dass die formale Logik ein untergeordnetes Moment der Dia­lek­tik als transzendentaler Logik ist. Hierzu heißt es in der Vorlesung: »Keinesweges ist die Dialectik nur eine critische Disciplin, wie die Logik eben nur eine solche ist. Denn mit der Logik componirt man nicht, sondern man wendet sie nur an, wenn eine Gedankenreihe gegeben ist. Das ist nur eine große Nebensache in der Dialectik […] Der Zweck unserer Untersuchung ist also nicht bloß solche Regeln auszumitteln, wodurch man ein gegebenes Denken beurtheilen kann, wie es die Logik thut.« (ebd.) 22 Hiermit

ist wohl Fichte gemeint, der 1799 gegen Kant erklärt hatte, die Wissenschaftslehre sei nicht die Logik, sondern die Transzendentalphilosophie oder Metaphysik selbst (FGA III, 4, 75 f.). 184 | Dia­lek­tik 

Entscheidend ist jedoch die andere Seite: dass nämlich die Metaphysik unter der Form der Logik steht. Dies bedeutet, dass wir es in der Dia­lek­tik nicht mit einem Wissen von Gegenständen als solchen zu tun haben, also des Seins (Ontologie) sowie der Vernunftgegenstände der speziellen Metaphysik (Seele, Welt, Gott), sondern, Kantisch gesprochen, mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen. Die Dia­lek­tik ist »das System der Anweisungen, nach welchen das Denken erzeugt wird, d. h. sie fragt danach, »wie wir überhaupt zu einem Wissen auf dem realen Gebiet in uns kommen« (KGA II/10, 2, 125). Hierbei kommt es auf das »in uns« an. Entsprechend sind die transzendentallogischen Formen in ihrer metaphysischen Bedeutung nichts anderes als die Formen, unter denen die Subjekte ein objektiv gültiges Denken, d. h. ein Wissen, vollziehen. Es bleibt dann aber noch immer die Frage, welches in Ansehung der metaphysischen Gegenstände der Bereich eines objektiv gültigen Denkens ist.    Um diese Frage und damit die Frage nach der Bedeutung der lo3

gischen Formen in Schlei­er­machers Dia­lek­tik beantworten zu können, ist kurz auf Schlei­er­machers Verhältnis zu Kant einzugehen, das schon insofern von großer Bedeutung ist, als Schlei­er­macher sich in seiner Dia­lek­tik ausdrücklich im Blick auf die von Kant geschaffene Problemlage positioniert. Nach Kant, so heißt es, finde »von demjenigen, was der letzte Grund der Natur als des Objects der Physik und der Bestimmtheit des Geistes als Subjects der Ethik sei, ein eigentliches Wissen nicht Statt«, was im Gegenzug zu Versuchen geführt habe, »den Grund desjenigen, was Gegenstand der Physik und Ethik ist, als solchen in einem eigentlichen Wissen darzustellen« (KGA II/10, 2, 124). Schlei­er­macher stimmt Kant hier grundsätzlich zu; seine Vernunftkritik habe zu Recht dagegen gearbeitet, dass die philosophische Kunst »im constructiven Gebrauch […] über die Combinationsregeln hinaus geht« (KGA II/10, 1, 82). Schlei­er­macher bestreitet auch, dass es ein Wissen des Grundes der Natur und des Geistes geben könne, also, Kantisch gesprochen, ein Wissen des Unbedingten. Mit anderen Worten: er affirmiert das Ergebnis der transzendentalen Dia­lek­tik, nämlich die Beschränkung des objektiv gültigen Denkens auf den Bereich der Erfahrungsgegenstände. Dies bedeutet für Schlei­er­macher indes, dass man sich bei der VerstänDie Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 185

digung über die Grundlagen des Wissens an das nicht streitige reale Wissen halten müsse.23 In Bezug darauf, wie davon ausgehend ein Streit über die Grundlagen des Wissens zu führen sei, beabsichtige die Dia­lek­tik »eine Kunstlehre des Streitens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Ausgangspunkte für das Wissen zu kommen« (KGA II/10, 2, 372). Die Dia­lek­tik tritt daher selbst auch nicht als Wissenschaft auf, sondern als »Kunstlehre«, die darauf gerichtet ist, »den innern Zusammenhang alles Wissens« zu »machen« (KGA II/10, 1, 75), den sie aber noch nicht besitzt. Sie ist werdendes Wissen im doppelten Sinne: des realen Wissens und des Wissens des Wissens. Ihr eigentliches Ziel ist daher die Kon­ struktion des realen Wissens, wie sie im zweiten, technischen Teil entwickelt wird,24 und nicht der Abschluss des reinen oder philosophischen Denkens in sich. Wissen ist für Schlei­er­macher dasjenige Denken, welches (a) »von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise produciert« und welches (b) »vorgestellt wird als einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend« (KGA II/10, 1, 90). In jedem Denken seien zwei Seiten, die organische und die intellektuelle, zu unterscheiden, die eine Einheit bilden.25 Beides, Ideales und Reales, sind Modi des Seins (KGA II/10, 1, 100) und bilden den »höchsten Gegensaz«, der als Denkgrenze nach »oben« anzusehen und auf ein ungeteiltes Sein zurückzuführen ist, »welches ihn und mit ihm alle zusammengesezten Gegensäze aus sich entwikelt«; dies ist die »Idee des Seins« als Idee einer nichtrelationalen Identität (KGA II/10, 1, 101). Da alles Denken und Wissen jedoch relational verfasst ist, bedeutet dies notwendig, dass die Idee des Seins nicht gewusst werden kann, das Wissen ist auf den Bereich der Entgegensetzung beschränkt. Als solches steht es unter den Formen des Begriffs und des Urteils.26 Die Grenzen des Begriffs und des Urteils markieren die Grenzen 23 Vgl. dazu KGA II/10, 1, 83; die Möglichkeit des realen Wissens wird nach

Schlei­er­macher nur vom Skeptizismus bestritten, der dabei den Selbstwiderspruch begehe, ein Wissen des Nichtwissenkönnens zu behaupten (ebd., 87). 24 Ebd., 89. 25 Hierin sind unschwer Kants Stämme der Erkenntnis – Sinnlichkeit und Verstand – wiederzuerkennen sowie die notwendige Beziehung der Begriffe auf Erfahrung bei Kant. 26 Der Schluss gilt Schlei­er­macher, anders als in der traditionellen formalen Logik, nicht als eine eigenständige Form, sondern nur als Kombination 186 | Dia­lek­tik 

des Wissens. Die Grenze des Begriffs »nach unten« ist die unstrukturierte und »unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des Wahrnehmbaren« (KGA II/10, 1, 104). Dem entspricht auf der Seite des Urteils das Setzen einer »Unendlichkeit von Prädicaten, für welche es keine bestimmten Subjecte giebt d. h. einer absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins« (KGA II/10, 1, 108). Die Grenze »nach oben« ist die »Idee der absoluten Einheit des Seins«, die aber nicht als Begriff gefasst werden kann, weil in ihr »der Gegensaz von Gedanke und Gegenstand aufgehoben ist« (KGA II/10, 1, 105); die absolute Einheit ist »zugleich das absolute Subject, dessen Sezen alles Urtheil begrenzt« (KGA II/10, 1, 108). Während die untere Grenze als ungeordnete Mannigfaltigkeit »Basis aller Erfahrung« und »Grundstoff für die organische Funktion unseres Denkens ist«, ist die Idee der absoluten Einheit des Seins »der Grund der intellectuellen Thätigkeit die in unserm Denken und Wissen« (KGA II/10, 2, 174). Damit ist zunächst der Bereich des Wissens als eines allgemein und objektiv gültigen Denkens abgesteckt. Innerhalb dieser Grenzen sind Begriff und Urteil die beiden grundlegenden Formen des Denkens; der Syllogismus wird von Schlei­er­macher nicht als eine eigenständige Form anerkannt, sondern nur als eine Komplexion von Urteilen im Sinne eines abgeleiteten Wissens, wobei der Wissensgehalt allein in den Urteilen liegt, aus denen der Syllogismus besteht (vgl. KGA II/10, 1, 102 und KGA II/10, 2, 167 f.).27 Man kann diese Einschränkung der logischen Formen auch im Blick auf Kants Kritik der reinen Vernunft verstehen: wie dort im Bereich des objektiv gültigen Verstandesdenkens, nämlich im Rahmen der transzendentalen Analytik, Begriff und Urteil thematisiert werden, während der Syllogismus der Vernunft zugehört, die auf objektive Gültigkeit ihrer Schlüsse keinen Anspruch machen kann, so wird auch bei Schlei­er­macher der Schluss nicht als Form des Wissens anerkannt. Alle Begriffe enthalten für Schlei­er­macher organische Tätigkeit (vgl. KGA II/10, 1, 94 f.). Hierbei unterscheidet er reale und formale Begriffe. Die realen subsumieren Gegenstände und rufen deren von Urteilen; hierzu vgl. Ueberweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, 61–63. 27 Überwegs Behauptung, Schlei­ er­macher spreche dem Syllogismus im technischen Teil durchaus Bedeutung zu, trifft nicht zu (vgl. Ueberweg, System der Logik, 63; dagegen. KGA II/10, 1, 194). Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 187

sinnliche Vorstellungen zurück; auch die allgemeinen formalen Begriffe entstehen nur mit der organischen Tätigkeit: »In dem Begriff Subject z. B. sind alle Thätigkeiten welche einen Gegenstand fixiren zusammengefaßt, die offenbar eine organische Seite haben« (KGA II/10, 1, 95). Auch für allgemeine Denkformen wie den Satz der Identität (A=A) gelte dies, denn er sei »entweder Identität des Gedachten und des Seins also Form des Wissens; oder Identität des Subjects also Bedingung des Wissens. Ohne organische Thätigkeit ist es [A=A] nichts als die bloße Wiederholbarkeit des Gedankens, also leer.« (KGA II/10, 1, 95)28 Es geht hierbei nicht um die Ableitung des Begriffs aus organischen Funktionen, sondern um das Mitgesetztsein der organischen Funktion in allen Begriffen beim Überwiegen der intellektuellen Funktion, durch die das Denken charakterisiert ist (KGA II/10, 1, 96). Auch hiermit geht Schlei­er­ macher wieder auf Kant zurück: Sinnlichkeit und Verstand bilden nur zusammen ein objektiv gültiges Erkennen. Der Begriff ist konstitutiv für das Urteil, denn das Urteil setzt den Begriff voraus, sofern es nichts anderes ist als die Beziehung von Subjekt- und Prädikatbegriff, und das Urteil ist umso vollkommener, je genauer diese Begriffe bestimmt sind (vgl. KGA II/10, 1, 102–104; KGA II/10, 2, 168–170). Das Urteil ist aber darum nicht nur eine Komplexion von Begriffen, wie der Schluss nur eine Komplexion von Urteilen ist. Vielmehr bedingen sich Begriff und Urteil wechselseitig: »Sehen wir aber auf den Begriff, so kommen wir leider auf dasselbe; denn so wie das Urtheil den Begriff voraussetzt, so umgekehrt der Begriff das Urtheil. Im vollkommenen Begriff soll enthalten sein alles, was dem Gegenstande zukommt; und so findet man: daß jeder Begriff auf einer Mannigfaltigkeit von Urtheilen beruht« (KGA II/10, 2, 169). Hinsichtlich der Urteile unterscheidet Schlei­er­macher eigentliche und uneigentliche Urteile, womit er die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile bei Kant unterlaufen will, denn analytische seien letztlich identische Urteile und daher nur »leere Bedeutung von »Identität« in Schlei­er­machers Dia­lek­tik vgl. Manfred Frank, Identität, Korrespondenz und Urteil. Fragen an Schlei­er­machers Dia­lek­tik, in: Schlei­er­machers Dia­lek­tik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, hg. v. Christine Helmer, Christiane Kranich und Birgit RehmeIffert, Tübingen 2003, 3–22. 28 Zur

188 | Dia­lek­tik 

Formeln« (KGA II/10, 1, 106), d. h. tautologisch wie das A = A. Eigentliche Urteile seien diejenigen, »welche im Prädicat etwas aussagen, das im Begriff des Subjects nur seiner Möglichkeit nach gesezt ist, und uneigentliche welche etwas aussagen was im Begriff des Subjects bestimmt gesezt ist« (ebd.). Aufgrund dieser modallogischen Bestimmung der eigentlichen Urteile sind sie für Schlei­er­ macher als »Identität von Sein und Nichtsein« anzusehen, denn im Subjektbegriff sei ein Sein fixiert, während »in dem Prädicat etwas gesetzt ist, das noch nicht zum Sein und Wesen des Subjects gehört« (KGA II/10, 2, 177; vgl. KGA II/10, 1, 107). Hier taucht eine reflexionslogische Figur auf, die Schlei­er­macher hinsichtlich des logischen Verhältnisses von Identität und Nichtidentität jedoch nicht weiter verfolgt. Sein Thema ist die objektive Bedeutung der logischen Formen und nur in diesem Rahmen auch ihr Verhältnis zueinander, nicht jedoch deren Verhältnis zueinander als »reine Wesenheiten« im Sinne Hegels.

4     Ich möchte es hier bei dieser Darstellung der Grundzüge der

Bedeutung der logischen Formen in der Dia­lek­tik bewenden lassen, obwohl Schlei­er­macher auch im Detail durchaus noch einiges zu sagen hat, etwa hinsichtlich bestimmter Urteilsformen. Entscheidend aber ist, dass die logischen Formen durchgängig unter der Prämisse ihrer Zusammenstimmung mit einem Sein thematisiert werden, weil sie nur so in den Bereich des Wissens gehören. Schlei­er­macher versteht dies auch als Vereinigung des Idealismus und Realismus, was überhaupt sein zentrales philosophisches Anliegen darstellt und worin er sich mit seinem frühromantischen Weggefährten Friedrich Schlegel einig weiß. Die Überzeugung der Zusammengehörigkeit von Denken und Sein ist nach Schlei­er­macher bereits im reflektierten (im Unterschied zum unmittelbaren) Selbstbewusstsein vorhanden, denn darin sei uns dreierlei gegeben: (1) »daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider«, (2) dass »das Wissen selbst […] uns […] nur im Sein gegeben« sei, »aber als ein von ihm verschiedenes«, und (3), dass »ein gegenseitiges Werden« von Denken und Sein »durch einander in der Reflexion und im Willen gegeben« sei und niemand glauben könne, »daß beide beziehungslos neben einander hingehen« (KGA II/10, 1, 93). Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 189

Die Entsprechung von Denken und Sein erscheint hier als eine Tatsache des (Selbst-)Bewusstseins auf der Ebene des endlichen Seins. Weil wir uns im reflektierten Selbstbewusstsein selbst Gegenstand sind, tragen wir von dorther die Überzeugung einer Entsprechung von Denken und Sein mit uns. Die Überzeugungskraft dieses Verweises auf das reflektierte Selbstbewusstsein dürfte nicht sehr hoch zu veranschlagen sein; es handelt sich eigentlich eher um einen Appell an den common sense. Auch die Auskunft, der Zweifel an der Übereinstimmung rühre nur daher, »daß man nicht glaubt zu begreifen wie so Einheit und Vielheit in beiden auf gleiche Art müsse vertheilt sein« (KGA II/10, 1, 93), hilft nicht weiter. Gemeint ist, dass die Organisation des Einzelnen, auf die sich sein Selbstbewusstsein mit bezieht, nicht isoliert, sondern mit der Totalität des Seins vermittelt und darum der Allgemeinheit fähig ist. Tatsächlich erfolgt die eigentliche Begründung auch erst im Bezug auf den transzendentalen Grund alles Wissens, der zugleich der Grund alles Wollens ist, da auch dem Wissen ein Wissenwollen zugrunde liegt, während das Handeln umgekehrt ein Wissen über dessen Bedingungen und Ziele voraussetzt. Der Grund der Gewissheit im Wissen und Handeln ist daher derselbe und Schlei­er­macher verortet ihn »in der relativen Identität des Denkens und Wollens nemlich im Gefühl« (KGA II/10, 1, 142). Im Gefühl verhalten sich Wissen – das »Gesetztsein« der Dinge in uns – als Realismus und Handeln – das Setzen unseres Seins in die Dinge – als praktischer Idealismus indifferent zueinander. Es steht daher für ein nichtbegriffliches Innewerden einer wissensmäßig nicht vollziehbaren differenzlosen Identität. In der Vorlesung 1822 wird das Gefühl dann als »unmittelbares Selbstbewußtsein« angesprochen, das in »Analogie« zum transzendenten Grunde stehe (KGA II/10, 1, 266).29 Den transzendentalen Grund als das Unbedingte oder Absolute bestimmt Schlei­er­macher als Idee Gottes; ihr Korrelat ist die Idee der Welt als Idee der Totalität des Bedingten, in der alles »unter der Form des Gegensazes« steht (KGA I/10, 1, 49). Auch sie liegt, da die Totalität nie abgeschlossen ist, »außerhalb unseres realen Wissens« und ist »transcendental auf eigene Weise« (KGA I/10, 1, 147 f.). Wäh29 Ob diese Unmittelbarkeit in Wahrheit Reflexionsleistungen einschließt,

ist strittig. Zur grundlegenden Kritik an Unmittelbarkeitsfiguren vgl. Andreas Arndt, Unmittelbarkeit, Berlin 22013; speziell zu Schlei­er­macher 27 f. 190 | Dia­lek­tik 

rend die Idee Gottes als terminus a quo des Wissens bestimmt ist, ist die Idee der Welt der »transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden« (KGA I/10, 1, 149). Das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl tritt bei Schlei­ er­macher an die Stelle der transzendentalen Dia­lek­tik, denn es stellt den Bezug auf das Unbedingte, den transzendentalen Grund, her. Damit ist zugleich gesagt, dass die Vermittlungsfigur des Vernunftschlusses im Rahmen der transzendentalen Logik für Schlei­ er­macher durch die Figur der Unmittelbarkeit ersetzt wird. In logischer Hinsicht ist daher in Bezug auf das Verhältnis zum Unbedingten kein weiteres Problem zu bearbeiten. Die Erläuterungen zum unmittelbaren Selbstbewusstsein geben jedoch Auskunft über Schlei­er­machers Kritik der vormaligen Metaphysik und damit auch über den metaphysischen Status der transzendentallogischen Formen Begriff und Urteil. Den Rekurs auf das unmittelbare Selbstbewusstsein versteht Schlei­er­macher als Überwindung einer »Spaltung des Transcendentalen« in Ontologie, rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie (KGA II/10, 1, 152). Diese Spaltung wird von ihm subjektivitätstheoretisch aufgehoben, wodurch jetzt die rationale Psychologie ins Zentrum rückt und die anderen metaphysischen Disziplinen unter sich subsumiert. Ihr Gegenstand ist »die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen« (KGA II/10, 1, 152 f.). Kosmologie und Theologie werden also unter den Titeln der Ideen der Welt und Gottes der rationalen Psychologie zugeordnet. Im Bezug auf diese Ideen könne in der Ontologie »nichts enthalten sein als a. das jene beiden Ideen constituirende Entsprechen des Seins zur Form des Wissens und somit auch [b.] die Entwiklung der Relativität aller Gegensäze« (KGA II/10, 1, 153). Beide Disziplinen – rationale Psychologie und Ontologie – seien »correlata die nicht zu trennen sind, die leztere aber wesentlich unter die erstere subsumirt weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist.« (ebd.) Die Entsprechung von Denken und Sein gründet quasi-spinozistisch in einer substantiellen, absoluten Identität, der wir uns im Die Logik in Schlei­er­machers Dia­lek­tik | 191

unmittelbaren Selbstbewusstsein inne werden, die uns aber nicht als ein Wissen gegeben ist. In dieser Hinsicht gründet zwar die Logik in einem Wissen und nicht in einem Nichtwissen, aber das Wissen selbst gründet in einem Nichtwissen. Mit der Transformation der rationalen Psychologie in eine transzendentale Subjektivitätstheorie stellt sich dabei jedoch weiterhin die Frage, welchen Status das Sein im Wissen hat. Hat es einen ontologischen Status außerhalb des Wissens? Oder ist es nur eine Bestimmung desjenigen Denkens, welches ein Wissen ist? Schlei­er­machers Antwort ist bestenfalls uneindeutig. Vor allem die Annahme, dass das System des Wissens nicht im Kantischen (und Hegelschen) Sinne in einem System der Vernunft terminiert, sondern in einer Idee der Welt, einem »objektiven« System also, spricht dafür, dass Schlei­er­macher – wenn auch mit Schwankungen – letztlich an einem ontologischen Realismus festhält.

192 | Dia­lek­tik 

TEIL IV ETHIK, RECHT UND BILDUNG

Der Begriff des Rechts in Schlei­er­machers Ethik-Vorlesungen    Schlei­er­macher und das Recht – dieses Thema bezeichnet nicht 1

nur ein Desiderat der Forschung, sondern auch bei Schlei­er­macher selbst. Es gibt meines Wissens bisher nur einen einzigen ernsthaften Versuch, Schlei­er­machers Rechtstheorie zu rekonstruieren, nämlich das Kapitel »Rechtstheorie« in Miriam Roses 2011 erschienener Habi­litationsschrift zu Schlei­er­machers Staatslehre.1 Dieser Versuch ist m.E. im Einzelnen vielfach gelungen, was die Rekonstruktion angeht, aber insgesamt misslungen, was die Bewertung angeht, welche die Widersprüche bei Schlei­er­macher in apologetischer Absicht zu überspielen versucht. Schlei­er­macher, so lesen wir, habe in seiner »Theoriearchitektur« dem Recht eine »fundamentale Funktion« gegeben, denn Staat und Recht bedingten sich in ihrer Genese wechselseitig; zugleich aber sei festzustellen, dass »Probleme der Rechtstheorie« bei Schlei­er­macher »kaum eine Rolle« spielten.2 Zur Erklärung dieses Widerspruchs verweist Rose erstens darauf, dass Schlei­er­macher wohl nur geringe Kenntnisse der Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie hatte.3 Dem ist zuzustimmen. Der zweite Grund, den Rose nennt, ist dagegen historisch nicht nachvollziehbar. Sie behauptet, gerade die reformorientierten Kräfte hätten nur über die Verwaltungsreform und nicht über Verfassung und Recht debattiert. Es gehört schon einige Blindheit dazu, die Preußische (und gesamtdeutsche) Verfassungsdiskussion im Gefolge der antinapoleonischen Kriege, die nicht nur im Kreis der politisch aktiven Reformer stattfand, so zu marginalisieren; eine Diskussion, in der übrigens Schlei­er­machers Freund Ernst Moritz Arndt nachdrücklich die Einlösung des Verfassungsversprechens forderte.4 Auch der dritte Schlei­er­machers Staatslehre, 212–235. 212. 3 Ebd., 234; auch das Folgende. 4 Vgl. u. a. Stefan Nienhaus, Vaterland und engeres Vaterland. Deutscher und preußischer Nationalismus in der Tischgesellschaft, in: Die Erfahrung an1 Rose, 2 Ebd.,

 195

Erklärungsversuch Roses steht, vorsichtig gesagt, auf schwachen Füßen: »Da er [Schlei­er­macher] weder den preußischen Staat auf den Begriff bringen noch die allgemeingültige Ordnung eines idealen Staates entwerfen will, sind eingehende Reflexionen auf Grundprobleme der Rechtsphilosophie für seine Staatslehre weder nötig noch angemessen«; vielmehr wolle Schlei­er­macher das Recht »möglichst allgemein und voraussetzungsarm« so beschreiben, »dass damit die Rechtsordnungen aller nur möglichen Staaten sich verstehen lassen«, weshalb »das Wesen des Rechts als solches« ihn nichts angehe.5 Wie man einen allgemeinen Rechtsbegriff ohne Wesensbestimmung des Rechts entwerfen können soll, bleibt Roses Geheimnis. Tatsächlich sind Schlei­er­macher Verfassung und Recht im Blick auf die Bestimmung des Staates herzlich gleichgültig. Für die Verfassung ist dies evident: sie gilt als ein entbehrliches Stück Papier. So heißt es in der Vorlesung 1833 zur Staatslehre: »Die Entwicklung des Staats ist sein Zustand; und dieser ist eigentlich die Constitution; gewöhnlich aber versteht man darunter ein Papier, (worauf ich gar wenig Werth lege).« (KGA II/8, 855)6 Schon in dem »Brouillon« zur Ethik 1805/06 hatte Schlei­er­macher diese Auffassung vertreten: »Die Constitution macht nicht den Staat; weit weniger ihre äußere Form, ob monarchisch u. s. w. […] Wenn die Constitution den Staat machte, so wäre England ein bloß negativer Staat. Der Staat ist aber weit älter als die Constitution; er lebt in dem Associations-Corporationswesen, den improving Societies, der ostindischen Compagnie, Bank u. s. w. und in der Gesezgebung«.7 Was auf den ersten Blick bizarr wirkt, die Gleichsetzung des Staates mit ökonomischen Institutionen, die funktional in einer Reihe mit der Gesetzgebung derer Länder. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim, hg. v. Heinz Härtl und Hartwig Schultz, Berlin und New York 1994, 127–151; generell vgl. Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 2  Bde., Stuttgart 1958; Jürgen Luh, Der kurze Traum der Freiheit. Preußen nach Napoleon, München 2015. – Roses Erklärung, gerade der Bruch des Verfassungsversprechens habe die Diskussion auf Verwaltungsfragen verlagert (Staatslehre, 213), überzeugt nicht, denn das besagt nur, dass die Grundsatzdebatte nicht in politische Praxis überführt werden konnte. 5 Rose, Schlei­e r­machers Staatslehre, 234 f. 6 Dies ist die Formulierung der Nachschrift Waitz zur Vorlesung 1833; vgl. das dazugehörige Manuskript Schlei­er­machers ebd., 191. 7 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 145. 196 | Ethik, Recht und Bildung 

stehen, entspricht, wie wir gleich sehen werden, Schlei­er­machers Staatsverständnis: seine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, den Naturbildungsprozess zu organisieren, liegt also im Bereich der Ökonomie. Dass Staat und Recht für Schlei­er­macher genetisch zusammenhängen, trifft zwar zu, jedoch macht er immer klar, dass der Staat nicht in erster Linie für das Recht und die Erhaltung eines rechtlichen Zustandes da sei;8 in diesem Sinne heißt es in dem Manuskript zur Ethik 1812/13, man dürfe den Staat nicht »in eine bloße Rechtsanstalt verwandeln«.9 Theoriearchitektonisch ist das Recht für die Staatstheorie daher weniger zentral, als Rose meint: nicht das Recht konstituiert den Staat, sondern das (private) Eigentum: »Wer im Bilden eines Eigenthums begriffen ist, der ist auch im Stiften eines Staates begriffen«.10 Das Recht ist Effekt des Eigentums und Zweck des Staates nur insofern, als das Privateigentum nach Schlei­er­macher für die Erfüllung des Staatszwecks  – die Bildung der Natur – unerlässlich ist: »Durch den Staat entsteht zuerst die lezte vollständige Form für Vertrag und Eigenthum in allgemein gültiger Bestimmung der Kriterien ihres Dasein [sic!] und ihrer Verlezung«.11 Recht kommt daher im Wesentlichen auch nur als Eigentums- und Vertragsrecht zur Sprache (von einigen Andeutungen zum Strafrecht abgesehen). Dies lässt sich kaum als allgemeine Beschreibung des Rechts ausgeben. Ein Rechtsstaatsgedanke ist Schlei­er­macher, wie schon seine Einlassungen zur Verfassung zeigen, fremd. Dass das Recht in Schlei­er­machers Staatsdenken kaum eine Rolle spielt, hat deshalb durchaus Methode. Dass die Forschung das Problem des Rechts bei Schlei­er­macher nicht gesehen hat, spiegelt daher zwar das fehlende Problembewusstsein Schlei­er­machers wider, aber ebenso auch das mangelnde Problembewusstsein vieler Interpreten, die ihn  – ohne das Defizit auch nur anzusprechen  – zum »Ahnherren der freiheitlichen Demokratie« ausrufen.12 8 Vgl.

KGA II/8, 210 (Kolleg 1817, Nachschrift Varnhagen); er grenzt sich dort explizit von der Auffassung ab, der Staat sei »Sicherungs-Anstalt gegen Unrecht von aussen und von innen; also die Hervorbringung und Erhaltung des blos rechtlichen Zustandes«. 9 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 338. 10 Ebd., 143. 11 Ebd., 338. 12 Matthias Wolfes, Sichtweisen. Schlei­e r­machers politische Theorie zwischen dem autoritären Nationalstaatsethos der Befreiungskriegszeit und dem Der Begriff des Rechts in den Ethik-Vorlesungen | 197

Mit der Transkription der Nachschriften zu Schlei­er­machers Vorlesungen über die philosophische Ethik im Rahmen des laufenden Akademienvorhabens an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stehen jetzt – zusätzlich zu den eigenhändigen Manuskripten zur Ethik, die größtenteils in einer zuverlässigen Gestalt ediert sind, und zu der Kritischen Ausgabe der Vorlesungen über die Lehre vom Staat13  – neue Quellen zur Verfügung, die eine weitergehende Rekonstruktion des Schlei­er­ macherschen Rechtsdenkens erlauben. Ich werde im Folgenden zunächst einen Überblick über Schlei­er­machers Begriff des Rechts geben, soweit er in seinen Manuskripten zur Ethik und in seiner Staatslehre greifbar wird, und dann darauf eingehen, in welcher Hinsicht die Vorlesungsnachschriften zur Ethik Präzisierungen und Ergänzungen hierzu bieten.    Da Schlei­er­macher die Lehre vom Staat als technische Diszi­ 2

plin behandelt hat, bildet die philosophische Ethik ihre eigentliche Grundlage.14 In ihr werden Begriff und Aufgabe des Staates systematisch begründet und damit auch dem Recht sein Ort zugewiesen, soweit es bei Schlei­er­macher einen Ort findet. Die Ethik bestimmt den Staat als eine der Gemeinschaftssphären des »identischen Organisierens«, womit er als Institution neben Familie, Akademie und Kirche tritt. Ausdrücklich wendet sich Schlei­er­macher bereits 1805/06 gegen eine Ansicht, welche »den Staat als die höchste Idee anpreist«, während dieser nichts anderes sei »als die zur höchsten Potenz erhobene Kultur«.15 Als Nationalstaat repräsentiert er da-

deliberativen Konzept einer bürgerlichen Öffentlichkeit, in: Christentum  – Staat – Kultur, hg. v. Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb, Berlin und New York 2008, 375–393. Vgl. auch Matthias Wolfes, Konstruktion der Freiheit. Die Idee einer bürgerschaftlichen politischen Kultur im staatstheoretischen Denken Friedrich Schlei­er­machers, in: Krise, Reformen – und Kultur, hg. v. Bärbel Holtz, Berlin 2010, 227–248. In Wolfes’ großer Monographie (Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft) wird die Rechtsthematik nicht angesprochen. 13 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre und KGA II/8. Einige wenige Manuskripte zur philosophischen Ethik sind bei Braun nicht ediert, einige zudem falsch datiert; vgl. Hans-Joachim Birkner, Schlei­er­ macher-Studien, hg. v. Hermann Fischer, Berlin und New York 1996, 215–222. 14 Vgl. z. B. KGA II/8, 208 (Kolleg 1817 Varnhagen). 15 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 110. 198 | Ethik, Recht und Bildung 

bei gemäß dem Volkscharakter immer »eine individuelle Idee der Kultur«.16 Mit »Kultur« ist hier die bildende Tätigkeit der Vernunft, d. h. die Entwicklung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, bezeichnet. Träger dieses Prozesses sind die einzelnen Privateigentümer, die gleichwohl zum Staat generell im Verhältnis der Untertanen zur Obrigkeit stehen. Den Gedanken der Volkssouveränität kennt Schlei­er­macher nicht. Mit dieser Auffassung wird der Staat, unabhängig von seiner Form, zum notwendigen Produkt und Inbegriff eines bestimmten und jeweils individuell (auf der Ebene der Nation) definierten Kulturniveaus erklärt. Es wird vorausgesetzt, dass in ihm, ungeachtet der politischen Teilhabe der Bürger, d. h. der Privateigentümer, ihre Rechte als Privateigentümer gewahrt sind. Dieses Schema wird in der Lehre vom Staat näher ausgeführt. Schlei­er­macher gliedert sie in Staatsverfassung, Staatsverwaltung und Staatsverteidigung, wobei das Voranstellen der Verfassung nicht ein Primat der Konstitution bedeutet; vielmehr zeigt Schlei­ er­macher hier den quasi naturwüchsigen Prozess der Staatsentstehung anhand der Verfestigung und Verrechtlichung der Sitte im Kulturbildungsprozess. Für Schlei­er­macher ist der Staat »Vereinigung der Kräfte zur Naturbildung für die Vernunft«, wobei er »Bestimmungsgrund« und »Gränzen in dem Angeborenen der Menschen« hat, d. h. in der durch Klima und Boden sowie körperliche und geistige Konstitution hervorgebrachten »Volksthümlichkeit« als »Eigenthümlichkeit einer Masse« (KGA II/8, 213; Nachschrift Kolleg 1817). Diese naturbestimmte Eigentümlichkeit pflanzt sich durch Erziehung und Sprache in einer sittlichen Gemeinschaft fort, die den Volkscharakter bildet. Der Staat und mit ihm das Recht entsteht dann, wenn der allgemeine Wille, der im vorstaatlichen bzw. vorbürgerlichen Zustand unbewusst war, in einen bewussten Zustand übergegangen ist. Hier findet nun das Recht seinen Ort: Gesetz ist »der zum Bewußtseyn gekommene Wille oder die Vereinigung der Kräfte als bewußter Wille« (KGA II/8, 213). Es handelt sich hierbei nicht um die freie Selbstbestimmung der Einzelnen, vielmehr ist der bewusste Wille gerade der Allgemeinwille, der in Gegensatz zum individuel16 Ebd.,

140. Der Begriff des Rechts in den Ethik-Vorlesungen | 199

len Willen geraten kann. Staats- und rechtstheoretisch denkt Schlei­ er­macher das Individuum von einer vorausgesetzten, natürlich bestimmten Volksgemeinschaft her. Das Gesetz hat daher auch nicht etwa die Aufgabe, den Individuen Freiräume zu sichern, sondern den gemeinschaftlichen Naturbildungsprozess – d. h. in erster Linie: den ökonomischen Prozess – zu sichern: »so haben die Gesezze keinen andern Zwek, als die Thätigkeit zu entwikkeln.« (KGA II/8, 391) Die bewusste Willensbestimmung bezieht sich demnach ausschließlich auf den gemeinschaftlichen, staatlich organisierten Naturbildungsprozess und die Funktion des Rechts besteht, wie Rose treffend bemerkt, nicht darin, dass der Einzelne vom Recht geschützt wird, »sondern die Gemeinschaft in ihrer konkreten Bestimmtheit«.17 Die Gesetzgebung ist demnach, Schlei­er­macher zufolge, »die Aufstellung gewisser Normen […], wie die allgemeine Thätigkeit gehandhabt wird« (KGA II/8, 241). Als Beispiel führt er an, dass eine »Commune«, die gewohnheitsmäßig die Weinlese zu einem bestimmten Zeitpunkt betreibt, diesen dann gesetzförmig fixiert (KGA II/8, 773; Nachschrift Kolleg 1833).18 Die Grundlage des Gesetzes ist demnach die Sitte, denn Sitte ist nichts anderes als »die einer Masse angehörige Art und Weise, gewisse Thätigkeiten zu verrichten« (KGA II/8, 511; Nachschrift Kolleg 1829). Rose ist daher zuzustimmen, wenn sie pointiert sagt: »Das Gesetz ist die durch die Regierung ausgesprochene und sanktionierte Sitte.«19 Gemäß dieser Logik, die Recht als Ausdruck der Gemeinschaft fasst, steht das Volk »am Anfang der gesetzgebenden, am Ende der vollziehenden, die Regierung aber am Ende der gesetzgebenden und am Anfang der vollziehenden Gewalt«; hierbei gründe die Gesetzgebung »in dem Verstande und dem Gemüthe des Volkes« und »erreicht endlich ihren Endpunkt in dem gehorchenden Willen des Volkes« (KGA II/8, 247; Nachschrift Kolleg 1817). 17 Rose,

Staatslehre, 225 f.

18 Schlei­er­macher befindet sich damit in einer auffälligen Nähe zur Histo-

rischen Rechtsschule (Friedrich Carl v. Savigny). Vgl. Gunter Scholtz, Philosophisches und historisches Rechtsdenken. Schlei­er­macher und Savigny, in: ders., Ethik und Hermeneutik. Schlei­er­machers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, 170–192; Scholtz konzentriert sich freilich in erster Linie auf den Staatsbegriff und weniger auf den Rechtsbegriff als solchen. 19 Rose, Staatslehre, 221. 200 | Ethik, Recht und Bildung 

Nicht von Demokratie ist hier die Rede, sondern – in Schlei­er­ machers Terminologie – von einer Wechselwirkung von Obrigkeit und Untertanen, bei der die Obrigkeit und ihre Gesetze dadurch legitimiert werden, dass sie von den Untertanen schließlich durch Gehorsam als bewusster Ausdruck des allgemeinen Willens oder der Sitte anerkannt werden. Letztlich beruht diese Einheit (und damit der Staat überhaupt) auf der Übereinstimmung der allgemeinen Gesinnung, des Gemeingeistes, mit den Gesetzen. Das Recht hat daher eine der Gemeinschaft dienende Funktion und richtet sich an dem letztlich volkhaft begründeten allgemeinen Willen aus. Wer aus dieser Willensgemeinschaft ausschert, schließt sich nach Schlei­er­machers Logik selbst aus der Rechtsgemeinschaft aus. Eine Konsequenz dieser Auffassung besteht dann z. B. darin, dass Schlei­er­macher die rechtliche Gleichstellung der Juden von einer Anpassung ihrer Glaubensinhalte an die herrschende Sitte abhängig macht, wobei er an die Aufgabe des Zeremonialgesetzes und des Messiasglaubens denkt.20    In den Nachschriften zur Hallenser Ethik-Vorlesung 1805/06 – 3

zur ersten Vorlesung 1804 sind keine studentischen Nachschriften überliefert und es hat sich auch kein einschlägiges eigenhändiges Manuskript Schlei­er­machers erhalten – kommt das Recht vor allem im Zusammenhang mit der Pflichtenlehre als Rechtspflicht zur Sprache. Zuvor allerdings wird der Zusammenhang von Staat und Recht im Zusammenhang mit der Frage, ob das Eigentum als ursprünglich gelten könne oder erst durch das Recht konstituiert werde, angedeutet. Diese Frage, die Schlei­er­macher durchgehend als unsinnig zurückweist, zielt auf das Naturrecht und vor allem die Auffassung einer vertragsförmigen Vergesellschaftung, die ein ursprüngliches Eigentum und die Vertragsfähigkeit der Individuen voraussetzt.21 In der Nachschrift Müller heißt es hierzu: »Schwierig20 Vgl.

hierzu Blum, »Ich wäre ein Judenfeind?«

21 In der anonymen Nachschrift (Lübeck) heißt es hierzu: »Alle Schwierig-

keiten die man in Theorie des Vertrags hat, beziehen sich auf die bestimmte Form der Handlung. Man hat nun gefragt was wohl früher wäre ob der Staat durch einen Vertrag oder der Vertrag erst durch den Staat sanctionirt wird. Allein setzt man den Staat ohne Vertrag so läßt sich keine Art denken wie der Staat realisirt sey und so scheint der Vertrag früher da gewesen zu seyn, setzt Der Begriff des Rechts in den Ethik-Vorlesungen | 201

keit: ob Eigenthum ursprünglich Sanction der Natur oder aus der Gemeinschaft entspringt? Diese entspringt aus widernatürlichen Ansichten des Naturrechts, welches stehend auf dem Standpunkt der Persönlichkeit nur das Ideal des Eigenthums […] ponirt und die Gemeinschaft negirt.«22 Für Schlei­er­macher resultiert die Aporie vertragsförmiger Vergesellschaftung aus einer unsittlichen Betrachtungsweise, nämlich der Isolierung der Individuen gegen die Gemeinschaft. In dieser Hinsicht ist er von Aristoteles’ Auffassung des Menschen als zoón politikón geprägt.23 Sittlich sind nur diejenigen Zustände bzw. Handlungen, in denen Gemeinschaftlichkeit und Eigentümlichkeit letztlich unmittelbar konvergieren; in den Worten der Nachschrift Müller: »Wodurch Gemeinschaft gestiftet wird ist: Rechtspflicht worin indem Gemeinschaft gestiftet wird zugleich Eigenthümlichkeit. Ebenso das Gegentheil, ohne beides kein sittliches Handeln.«24 Genau betrachtet ist es daher nicht das Eigentum als solches, welches in Bezug auf das Recht im Mittelpunkt steht, sondern die Wechselseitigkeit von Eigentum und Gemeinschaft. In dieser Hinsicht sind die Formulierungen in der Vorlesung 1805/06 jedoch nicht ganz präzise. So lesen wir in der Nachschrift von August Boeckh: »es begibt sich niemand in den Staat, ohne seine Individualität zu bewahren, d. h. ohne Rechte und Eigenthum; und wo einer im Staat ist ohne Recht und Eigenthum, da hat er seine Sittlichkeit aufgegeben, indem seine Individualität [aufgegeben wurde].«25 Dies legt nahe, dass Recht unabhängig von der Gemeinschaft an Eigentum gebunden sei. Entsprechend heißt es in der Nachschrift Müller, die »eigenthümliche Sphäre in Beziehung auf Staat« sei »realiter: das Eigenthum idealiter: Rechte. Das Sittliche im Staat insofern man den Vertrag früher so fragt sich wodurch waren die Formen des Staats bestimmt? So findet man beide Materien im Streit so bald man aus dem sittlichen Gesichtspunct herausgeht, steht man auf diesem so sieht man daß der Trieb auf Gemeinschaft Grund des Vertrags im Einzelnen, und des Staats im Großen ist.« (Schlei­er­macher, Ethik 1805–1806, anonyme Nachschrift, 85) 22 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Müller, 26. 23 Vgl. die Einleitung des Bandherausgebers (Walter Jaeschke) in KGA II/8, XX sowie Schlei­er­machers Notizen zu Aristoteles: Politik von 1793/94 in KGA I/14, 25–47. 24 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Müller, 118. 25 Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh, Bl. 80 verso. 202 | Ethik, Recht und Bildung 

sich einer hineinbegibt nur insofern einer Eigenthum und Rechte« hat.26 Die Rechtspflicht allerdings, in deren Kontext dies gesagt wird, bezeichnet Schlei­er­macher drei von vier überlieferten Nachschriften zufolge auch als »Gesellschaftspflicht« – er spricht von »Rechtspflicht oder Gesellschaftspflicht«.27 Hier bezieht sich das Recht also nicht mehr auf das Eigentum als solches, sondern, wie bereits angedeutet, auf die Wechselwirkung von Gemeinschaftlichkeit und Eigentum bzw. Eigentümlichkeit; die Formel, die dem zugrunde liegt, wird in der Nachschrift von August Boeckh am prägnantesten formuliert: »Wo der Einzelne sich in eine Gemeinschaft begibt, da thut er es mit dem Vorbehalt, sich daraus eine eigenthümliche Sphäre anzueignen, und seine Individualität beyzubehalten: und Wo der Einzelne sich eine eigenthümliche Sphäre aneignet, da thut er es mit Vorbehalt seiner Wirksamkeit aufs Ganze und des Gemeinschaftlichmachens seiner Sphäre.«28 Das erinnert auffällig an die weitgehend vergessene und wirkungslose Klausel zur Sozialbindung des Eigentums in Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Schlei­er­macher ist allerdings vollständig davon überzeugt, dass zwischen Privateigentum und Gemeinschaft nicht einmal ein Konflikt möglich sei, sondern vertraut in dieser Hinsicht blind der unsichtbaren Hand, wie folgende Passage aus der Nachschrift Boeckh deutlich macht: »Das Verhältniß des Menschen ist im Staate nicht ein Aufgeben des Eigenthums an die Gemeinschaft sondern eine Harmonie beyder. Siehe oben. Eine Collision ist hier nicht mehr möglich zwischen Eigenthum und Gemeinschaft.«29 Erst in der Wechselwirkung von Eigentum und Gemeinschaft, die als harmonisch und konfliktfrei unterstellt wird, konstituiert sich, einer anonymen Nachschrift zufolge, das Rechtsverhältnis, das demnach weniger das Eigentum als solches, sondern das gesellschaftliche Verhältnis des Eigentums bezeichnet: »Im Staate. Der Einzelne eignet sich da seine eigne Sphäre an, sein Eigenthum seine 26

Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Müller, 120. 119; ebenso Nachschrift Boeckh, 80 verso und Anonymus Lübeck,

27 Ebd.,

393.

28

Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh, 80 verso. 81 recto.

29 Ebd.,

Der Begriff des Rechts in den Ethik-Vorlesungen | 203

bestimmten Rechte. Also kein Hineintreten in den Staat ist sittlich wo der Einzelne nicht bestimmte Rechte und Eigenthum gewinnt, ohne daß beim Hingeben in die Gemeinschaft seine eigenthümliche Thätigkeit vernichtet denn hiedurch wäre das sittliche aufgehoben. So fern also ist das Eingehen sittlich, als die Verbindung der Individualität nicht aufgehoben wird. Gäbe es also einen Zustand im Staate, wo der Einzelne ohne Eigenthum und Rechte wäre, wo wäre dies ein Unsittliches.«30 Auf der Linie dieser Überlegungen entwickelt Schlei­er­macher dann den Rechtsbegriff in seinen Berliner Vorlesungen weiter. Da wir von der ersten Berliner Vorlesung 1807/08 – noch vor der Gründung der Universität  – nur eine unvollständige Nachschrift aus der Feder Karl August Varnhagens besitzen, lässt sich nicht genau sagen, ob dort bereits eine Revision erfolgte (Varnhagen gab das Nachschreiben bald auf, da die Vorlesungen ihn, wie er später sagte, zunehmend langweilten31). In einer Nachschrift zu Schlei­er­machers erster Ethik-Vorlesung an der neu gegründeten Universität im Wintersemester 1812/13 erfolgt dann jedoch die fällige Korrektur: »Man denkt sich sehr oft Recht und Eigenthum als zusammengehörig und das als Gegenstand des Rechts. War aber nicht das was wir das sittliche Recht nennen. Denn da kann keiner mein Eigenthum wollen, weil es an einer Begriffbildung hängt, da kann also von Recht nicht geredet werden. Denn das Recht setzt Ansprüche voraus das liegt im Verkehr. Also nicht Recht und Eigenthum sondern Recht und Verkehr sind correlata der Gegenstand ist was sich einer angeeignet zeitlich und räumlich nicht qualitativ. Z. E. Wenn wir einen Einzelnen denken abgesehen von der qualitativen Verschiedenheit in seiner organisirenden Thätigkeit aber von anderen abgeschieden, so ist hier kein Recht, denn es sind keine Ansprüche da. Denn wo keine Ansprüche sind ist auch kein Recht.«32 Der Zusammenhang von Recht und Verkehr besagt, dass Recht über die wechselseitigen Ansprüche von Personen in Austauschver30 Schlei­e r­macher,

Ethik 1805/06, anonyme Nachschrift Lübeck, 293 f. Vgl. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, 3. Auflage, Bd. 2, Berlin 1871, 85. Vgl. Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 137 ff. 32 Schlei­er­macher, Ethik 1812/13, anonyme Nachschrift Fröbel-Museum Keilhau, 153 recto/verso. 31

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hältnissen, also über die Zirkulation konstituiert wird. Das Recht wird demnach, so scheint es zunächst, mit dem subjektiven Recht als Privatrecht bzw. Zivilrecht weitgehend gleichgesetzt; tatsächlich behandelt Schlei­er­macher andere Bereiche des Rechts höchstens andeutungsweise, auch wenn er – folgt man der zitierten Nachschrift zur Ethik-Vorlesung 1812/13 – beiläufig feststellt: »Sehr dürftig wenn die Obrigkeit bloß das Privatrecht begründen sollte«.33 Gleichwohl bleibt dies folgenlos für die Definition des Rechtszustandes: »Der Rechtszustand ist nichts anderes als die Gemeinschaft der Dinge im nothwendigen Zusammenhang der Erwerbung derselben«; dieser Rechtszustand reicht, Schlei­er­macher zufolge, »über die ganze Erde«.34 Die letzte Berliner Ethik-Vorlesung 1832 kehrt sogar zum Ausgangspunkt von 1805/06 zurück, indem sie den »Rechtszustand« als »Sicherheit des Besitzstandes« definiert.35 Erst vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch Schlei­er­ machers pointierte Behauptung im Brouillon zur Ethik von 1805/06 verständlich (wenn auch wohl kaum wahrheitsfähig machen), der Staat lebe in den Banken und Handelsgesellschaften, also in den Institutionen des Waren- und Geldverkehrs, und habe daher eine Konstitution – die, wie es später heißt, ohnehin nur ein Stück Papier sei – nicht nötig. Der Begriff der Person, der für die Subjekte in den Rechtsverhältnissen zentral ist, ist nämlich keineswegs auf natürliche Personen beschränkt, sondern umfasst ebenso individualisierte kollektive Einheiten, d. h. Einheiten, die gegenüber anderen eine ausgeprägte Eigentümlichkeit besitzen. In diesem Sinne ist z. B. ein Volk, »das ein vollkommenes Rechtsverhältniß hat, […] eben eine wahre Person im höheren Sinn, welche nemlich eine ursprüngliche Identität von Vernunft und Natur – eine Einheit von Seele und Leib und mit dem uneingebildeten Leibe, der Natur«, ist.36 Es lässt sich vermuten, dass Schlei­er­macher solche höherstufigen ›Personen‹ – 33 Ebd., 34 Ebd.

191 verso.

Schlei­er­macher, Ethik 1832, Nachschrift Alexander Schweizer, Zentralbibliothek Zürich, Archiv der Handschriften, Nachlass Alexander Schweizer VIII-28, 89. 36 Schlei­er­macher, Ethik 1812/13, anonyme Nachschrift, 160 verso; vgl. zum Begriff der Person bei Schlei­er­macher Arndt, Schlei­er­macher als Philosoph, 167–177. 35

Der Begriff des Rechts in den Ethik-Vorlesungen | 205

nicht nur den Staat, sondern eben auch Finanz- und Handelsgesellschaften – als Träger des Rechtszustandes im globalen Verkehr betrachtet hat. Sie erhalten ihren rechtlichen Status und damit ihre faktische Konstitution im internationalen Verkehr. Hierbei wird freilich vorausgesetzt, dass die Institutionen dieses Verkehrs natio­ nal organisiert sind und insofern dem Nationalstaat zugeschlagen werden können. Dieser selbst ist jedoch gerade deshalb, weil er als Staat zwar Rechtsverhältnisse fixiert und auch nach außen in Rechtsverhältnisse eingebunden ist, nicht nur eine »bloße Rechtsanstalt«, was Schlei­er­macher wörtlich für eine »idiotische Ansicht« hält,37 sondern Kristallisationskern einer letztlich im Naturverhältnis wurzelnden Nationaleigentümlichkeit. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Schlei­er­macher zwar die Resultate der identischen symbolisierenden Tätigkeit (u. a. Gedanken, Wissen etc.) von den »Dingen« als Eigentum unterscheidet, den ›Verkehr‹ dieser Resultate der symbolisierenden Tätigkeit jedoch nach Analogie des Warenverkehrs versteht und infolgedessen z. B. Geld und Sprache als Mittel des Verkehrs parallelisiert.38 Noch in der Vorlesung 1827 wird in diesem Sinne das ganze Gebiet der Rechtspflicht und damit des Rechtsverhältnisses definiert: »Das ganze Gebiet der Rechtspflicht erscheint nun als ein Complexus von concentrischen Kreisen, wo jeder engere eine in den weitern vorbehaltene Individualität hat; der innerste Kreis ist die Person selbst, der weiteste eine ganze Menschenrace.«39 Es bleibt hier jedoch eine Zweideutigkeit. Recht wird, so Schlei­er­ macher, »ursprünglich nur in dem Gebiete des Staates gebraucht«;40 infolgedessen könne man auch nicht im eigentlichen Sinne des Rechtsbegriffs von einem Völkerrecht sprechen: »So ist das Völkerrecht recht eigentlich eine Einbildung. […] Freilich gibt es Entwicklungsstufen, in denen sich allgemeine Vorstellungen so festsetzen, daß keiner gegen sie handeln kann und da mag man sagen das ist das Völkerrecht. Dann ist es das aber nicht nach dem Buchstaben, Schlei­er­macher, Ethik 1812/13, anonyme Nachschrift, 191 verso. Arndt, Schlei­er­macher als Philosoph, 117–136. 39 Schlei­er­macher, Ethik 1827, Nachschrift Stolpe, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Dep. 42, Schlei­er­macherArchiv I, K.4, C.8, 153. 40 Schlei­er­macher, Ethik 1812/13, anonyme Nachschrift, 79 verso. 37

38 Vgl.

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sondern vermöge der inneren Nothwendigkeit, aber das ist nicht mehr ein Recht, sondern es ist die gemeinsame Sittlichkeit der Völker. Es ist dieses am Meisten im Großen der Fall, wovon wir erkennen, daß es ein sittliches Handeln nur gibt unter Voraussetzung einer gemeinsamen Anerkennung.«41 Hier ist ein entscheidender Punkt genannt. Die Grundlage des Rechts, die ihrerseits über den eigentlichen Zustand der förmlichen Verrechtlichung hinausreicht, ist die Sittlichkeit als Anerkennung der Eigentümlichkeit in Bezug auf die Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist im weitesten Sinne die der Menschheit auf dem Erdkörper (wobei Schlei­er­macher die Möglichkeit anderer Welten immer in Betracht zieht). Der von Schlei­er­macher verwendete Anerkennungsbegriff ist freilich nicht im Sinne des modernen sozialphilosophischen Anerkennungsbegriffs zu verstehen, also als reziprokes Verhältnis zwischen Gleichen.42 Vielmehr besteht Anerkennung gerade darin, die Eigentümlichkeit des Anderen anzuerkennen, die auch in prinzipiell asymmetrischen Verhältnissen zum Tragen kommen kann. Dies gilt nach Schlei­er­macher gerade für das aus seiner Sicht staatskonstitutive Verhältnis von Obrigkeit und Untertan: Dass jemand »Obrigkeit oder Herr wird, ist immer dem Willen oder Bewußtseyn der Andern gemäß, und es ist eine Zustimmung da, aber kein Vertrag; es war sein Bewußtseyn gewesen, aber unter der Form von ihm ausgegangenen, und so constituirt sich die Autorität, die aber mit dem Willen der Menschen zusammenstimmen muß.«43 Die Ungleichheit in dem Verhältnis von Obrigkeit und Untertan – gleich in welcher Staatsform – könne »nur seyn unter der Form der Anerkennung, als ein gemeinsam Gesetztes d. h. es werden Einige eine Autorität ausüben, aber nur als etwas, das durch das Anerkenntniß der Andern gilt, also übertragen ist.«44 Dass das Rechtsverhältnis bei Schlei­er­macher auf Anerkennungsverhältnisse basiert ist, die letztlich weiter reichen als das Recht im eigentlichen Sinne, führt zurück auf die eingangs bereits Schlei­er­macher, Ethik 1827, anonyme Nachschrift, Archiv der BBAW, Nachlass Schlei­er­macher 586, 698. 42 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992. 43 Schlei­er­macher, Ethik 1827, anonyme Nachschrift, 507. 44 Ebd., 508. 41

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genannte These, dass Schlei­er­macher Recht als Ausdruck und Fixierung sittlicher Verhältnisse versteht. Dies hat freilich eine problematische Konsequenz: Da die Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft im eigentlichen Sinne die des Nationalstaates ist, dieser Nationalstaat aber in der Eigentümlichkeit des Volkscharakters wurzelt, bekommt der Begriff der Rechtsgemeinschaft völkische Konnotationen. Damit lässt sich kein Rechts- und Verfassungsstaat im Sinne eines Vernunftstaates machen. Die immer wieder durchbrechende Tendenz Schlei­er­machers, das Recht mit dem bürgerlichen Recht zu identifizieren und öffentliches Recht und Strafrecht nur marginal zu thematisieren, macht seine Rechtstheorie darüber hinaus insgesamt defizitär. Aus dieser Not lässt sich kaum eine Tugend machen. $  Zum Schluss meiner Ausführungen möchte ich kurz auf die Frage zurückkommen, woraus sich die Defizite der Schlei­er­macherschen Rechtstheorie erklären lassen. Es liegt sicher nicht nur an den wohl eher rudimentären rechtsphilosophischen Kenntnissen Schlei­er­ machers und ganz sicher nicht daran, dass er die Funktionen des Rechts möglichst allgemein beschreiben wollte, wie Miriam Rose dies behauptet. Der Grund liegt vielmehr in seiner Auffassung des Rechtes selbst. Wir hatten schon gesehen, dass Recht als Ausdruck von Sittlichkeit gilt. Sittlichkeit in Bezug auf die Tätigkeit des Einzelnen geht indes aus der Gesinnung hervor, dies gilt auch für die Sphäre des identischen Organisierens, in der die individuell gebildeten Produkte zirkulieren und die für Schlei­er­macher bei der Betrachtung des Rechts im Mittelpunkt steht. Die Gesinnung, so Schlei­er­macher nach der anonymen Nachschrift der Vorlesung 1805/06, ist »für den Menschen organisirendes Prinzip« bis hin zur »Gesinnung als eigenthümlicher Geist unsers Weltkörpers«.45 Das organisierende Prinzip der Gesinnung durchdringt damit die ganze Sphäre der Rechtspflicht und Rechtlichkeit. Im eigentlichen Sinn hängt das Recht für Schlei­er­macher damit von der Gesinnung ab und ist im Kern nichts anderes als die fixierte Gesinnung. Sofern nämlich das Gebiet der Pflichtenlehre das eigentliche Gebiet des Rechts ist – in diesem Sinne setzt Schlei­er­macher ja Recht und Ansprüche (Verpflichtungen) miteinander in Beziehung –, insofern 45

Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, anonyme Nachschrift, 305.

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gilt auch in Bezug auf das Recht, was Schlei­er­macher generell sagt: »Die Pflichtenlehre kann abgesondert von der Gesinnung nicht die Formeln des sittlichen aufstellen, sondern sie sind stets nur mit der Gesinnung möglich. […] Daß die Ethik die Gesinnung ersetzen kann ist ein thörichter Wahn. Die Legalität und Moralität von Kant ist im sittlichen Gefühl nichts.«46 Letztlich, so werden wir sagen müssen (um eine seiner Lieblingsformeln zu gebrauchen)  – verschleift Schlei­er­macher nicht nur Recht und Gesinnung, sondern stellt das Recht unter den Primat der Gesinnung. Von Seiten des Einzelnen ist diese Gesinnung identisch mit dem Gemeingeist, sofern die Person sich in der sittlichen Gesinnung als individuelle Eigentümlichkeit – und rechtlich: mit dem individuellen (Privat-)Eigentum – auf die Gemeinschaft bezieht und mit ihr vermittelt. Die Gemeinschaft als Allgemeinheit wird jedoch selbst wieder als Persönlichkeit gefasst: »Überall, wo wir den Begriff der Persönlichkeit auf ein größeres Ganze anwenden, liegt uns dies vor, was wir im Allgemeinen Gemeingeist nennen«; es ist das die den Teilen »einwohnende Eigenthümlichkeit«, die sich in ihnen »nur untergeordnet modificirt weiterverbreitet«.47 Die Gesinnung, und zwar gerade die, welche dem Recht zugrunde liegt (das immer an den Nationalstaat gebunden ist), bezieht sich also nicht auf eine Allgemeinheit, in der die Menschen als Personen gleich gelten, sondern auf eine Allgemeinheit, welche auf der Identität eines bestimmten Volkscharakters beruht. Wer dazu nicht gehört, wird auch aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen.48 Der für das moderne Recht konstitutive Gedanke der Allgemeinheit und Gleichheit wird damit aufgegeben. Rechtfertigen lässt sich diese Auffassung nicht.

46

Ebd., 391 f. Schlei­er­macher, Ethik 1827, Nachschrift Stolpe, 103. 48 »Ist […] das religiöse Princip nicht rein, sondern theocratisch und will das geistliche Princip als Sanction des bürgerlichen Zustands sich geltend machen, so ist der Gemeingeist dieser in Widerspruch mit dem des Volks […]. So ist das Judenthum stets eine solche Form gewesen und kann nur durch völlige Änderung aufhören es zu sein.« (KGA II/8, 915 f.; Nachschrift Kolleg 1833) 47

Der Begriff des Rechts in den Ethik-Vorlesungen | 209

Gemeinschaft und Gesinnung Schlei­er­machers rechtliche und politische Ausgrenzung des Judentums Friedrich Daniel Ernst Schlei­er­macher ist bekannt als Freund der Henriette Herz und anderer jüdischer Salonieren in Berlin um 1800. Ihm eine prinzipielle Judenfeindlichkeit vorzuwerfen, wäre abwegig, denn schließlich musste er sich  – damals reformierter Prediger an der Berliner Charité – von seinem Vorgesetzten, dem Oberhofprediger Friedrich Samuel Gottfried Sack, bereits 1798 Vorhaltungen wegen seines ›jüdischen Umgangs‹ anhören, die sich vor allem auf seine Besuche in den Salons bezogen.1 Schlei­er­machers Stellung zum Judentum ist jedoch, so die im Folgenden entwickelte These, zutiefst ambivalent.2 Auf der einen Seite ließ er sich, trotz Sacks Ermahnungen, den jüdischen Umgang nicht nehmen, auf der anderen Seite betrachtete er das Judentum – so in den Reden über die Religion (1799) als »tote« Religion und »Mumie«. In der von David Friedländer angestoßenen Debatte über die bürgerliche Emanzipation der Juden bezieht er 1799 zwar Stellung zugunsten einer rechtlichen Gleichstellung der Juden, macht diese jedoch da1 Vgl.

an Charlotte Schlei­er­macher, 4. 8. 1798, KGA V/2, 371: »Mit Sack habe ich auch dieser Tage eine Herzenserleichterung über meinen jüdischen Umgang gehabt. Er sagte mir offenherzig er hätte auch deswegen gewünscht daß ich nach Schwedt gegangen wäre weil er fürchte meine Art zu existiren möchte meiner Beförderung hier hinderlich seyn […]. Er sei, wie ich wiße, nicht pedantisch genug gegen den Umgang mit Juden zu seyn […] aber für diese Bureaux d’Esprit […] habe er doch keinen Sinn«. 2 Einen Überblick über den Forschungsstand gibt Blum, »Ich wäre ein Judenfeind?«, 10–16; dass es einen bestimmenden Antijudaismus bei Schlei­ er­macher gebe, wie Blum meint, habe ich in meiner Rezension des Buches bezweifelt (Journal for the History of Modern Theology/Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 18, 2011, 173 f.).  – Vgl. auch Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schlei­er­macher-Gesellschaft in Halle, März 2009, hg. v. Roderich Barth, Ulrich Barth und Claus Osthövener, Berlin und Boston 2012. 211

von abhängig, dass die Juden das Ritualgesetz dem geltenden Recht anpassen und der Hoffnung auf den Messias entsagen. Vor allem aber fürchtete er durch Konvertiten eine »Judaisierung« des Christentums. Diese Ambivalenz prägt auch die späteren Stellungnahmen Schlei­er­machers. Theologisch sieht er zwar den besonderen historischen Zusammenhang von Judentum und Christentum, versteht das Christentum jedoch als radikalen Neuanfang gegenüber dem Judentum. Politisch rückt bei Schlei­er­macher immer stärker die Frage der Gesinnung in den Mittelpunkt, während Verfassung und Recht in ihrer Eigenbedeutung zunehmend marginalisiert und in den Vorlesungen über die Lehre vom Staat der Gesinnung nachgeordnet werden. Da Schlei­er­macher die Erziehung im Geist des Christentums auch für die Ausbildung des »Gemeingeistes« für wesentlich hält, vermag er eine Pluralität von Religionen im Staat und eine gleichberechtigte Rolle des Judentums nicht zu denken. Die Folge ist eine rechtliche und politische Ausgrenzung des Judentums.    Schlei­er­machers explizite öffentliche Äußerungen zum Juden1

tum setzen ein mit seiner 1799 anonym publizierten Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit der darin vollzogenen Subjektivierung der Religion – Religion ist Anschauung des Universums und Gefühl des Unendlichen3 – scheint die Tür für eine Thematisierung der Pluralität der Religionen und damit auch ein angemessenes und vorurteilsfreies Verständnis des Judentums weit geöffnet zu sein. Tatsächlich verengt Schlei­er­ macher jedoch im Verlauf der Reden zunehmend den Blick und endet in einer Apologie des Christentums als Religion der Religionen. Goethes Lektüreeindruck, über den Friedrich Schlegel im Oktober 1799 berichtet, bringt dies auf den Punkt: »Goethe hat sich mein prächtiges Exemplar geben lassen, und konnte nach dem ersten begierigen Lesen von zwey oder drey Reden […] die Bildung und die Vielseitigkeit dieser Erscheinung nicht genug rühmen. Je nachläßi3 Das Wesen der Religion, so lauten die bekannten Worte, »ist weder Den-

ken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen.« (KGA I/2, 211) 212 | Ethik, Recht und Bildung 

ger indessen der Styl und je christlicher die Religion wurde, je mehr verwandte sich dieser Effekt in sein Gegentheil« (KGA V/3, 312). In der zweiten Rede über das Wesen der Religion beschreibt Schlei­ er­macher das feindselige Konkurrenzverhältnis der Religionen als Verfehlen des Unendlichen und damit des Wesens der Religion; es werde hier nur »das Einzelne wieder auf etwas Einzelnes und End­ liches bezogen«; im Unendlichen aber »steht alles Endliche ungestört neben einander, alles ist Eins und alles ist wahr« (KGA I/2, 217). Es geht nicht mehr um die wahre Religion (vera religione), sondern um den wahren religiösen Sinn, der in allen Religionen den Bezug auf das Unendliche zu erkennen vermag. Gegen den Dogmatismus des Papstkirchentums bringt Schlei­er­macher daher selbst die Praxis des imperialen Roms ins Spiel, das alle Gottheiten im Pantheon vereinte: »Das neue Rom, das gottlose aber konsequente schleudert Bannstrahlen und stößt Kezer aus; das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Styl war gastfrei gegen jeden Gott, und so wurde es der Götter voll.« (KGA I/2, 217) Bezogen auf seine Gegenwart heißt dies: »Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige [Religion] nur ein Theil des Ganzen ist, daß es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affiziren; Ansichten giebt, die eben so fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden« (KGA I/2, 216 f.). Gleichwohl gibt es eine Vergesellschaftung der individuellen reli­ giö­sen Erregungen in der wahren Kirche, die an die Stelle der wahren Religion tritt und die religiösen Verschiedenheiten anerkennt. Bereits hier aber ist zweifelhaft, ob diese mit den bestehenden konfessionellen und religiösen Institutionalisierungen nicht identische ›Kirche‹ mehr umfasst als die Christenheit. Eindeutig wird Schlei­er­macher dort, wo er in der fünften Rede »Über die Religionen« handelt, dabei aber den Gedanken einer Pluralität und Gleichwertigkeit der Religionen aufgibt. Er behandelt nur Christentum und Judentum, wobei »der Judaismus schon lange eine todte Religion« sei, »und diejenigen, welche jetzt noch seine Farbe tragen, sizen eigentlich bei der unverweslichen Mumie« (KGA I/2, 314). Mit dem Gestus, davon jetzt absehen zu wollen, schiebt er die politische Dimension des Judentums beiseite (»ein Orden […], gegründet auf eine alte Familiengeschichte, aufrecht erhalten durch die Priester«; KGA I/2, 315) und fragt nach dem religiösen Gehalt, wie er ihn versteht: »welches ist die überall hindurchschimmernde Idee Gemeinschaft und Gesinnung | 213

des Universums? Keine andere, als die von der allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkühr hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird.« (KGA I/2, 315) Dem Judentum wird damit vorgeworfen, eine falsche Vorstellung des Universums und damit Gottes zugrunde zu legen, indem Gott als verendlichte Seinsmacht erscheint. Damit aber ist implizit doch wieder die Unterscheidung von wahrer und falscher Religion installiert. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass Jesus nach Schlei­er­machers Auffassung mit dem Judentum vollständig gebrochen hatte; an dieser Auffassung eines radikalen Neubeginns durch das Christentum wird Schlei­er­ macher zeitlebens festhalten. Das Christentum dagegen habe »die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet« und sei »so gleichsam eine höhere Potenz derselben« (KGA I/2, 317), nämlich »Religion der Religionen«. Dies bedeutet indessen nicht, dass das Christentum die einzig mögliche Religion wäre. Vielmehr sei das Christentum als Religion der Religionen so beschaffen, dass es »nicht nur in sich die Mannigfaltigkeit bis ins Unendliche erzeugen, sondern sie auch außer sich anschauen« wolle (KGA I/2, 325). Die Abqualifizierung des Judentums als »tote Religion« verträgt sich nur schwer mit dieser Auffassung, sofern das Christentum in Schlei­er­machers Verständnis die anderen Religionen als lebendigen Spiegel braucht, um es selbst sein zu können, nämlich Religion der Religionen.    Schlei­er­machers Position zum Judentum lässt sich gleichwohl 2

nicht allein mit antijudaistischen Stereotypen erklären. Schlei­er­­ machers Stellungnahme zu David Friedländers 1799 anonym publiziertem Sendschreiben … von einigen Hausvätern jüdischer Religion,4 die – ebenfalls 1799 – anonym unter dem Titel Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter erschien, lässt erkennen, dass es auch andere Motive gibt.5 Friedländer wollte die vom Staat verweigerte bürgerliche Gleichstel4 Abgedruckt

in KGA I/2, 381 ff. 5 Vgl. zu dieser Diskussion zusammenfassend Blum, »Ich wäre ein Judenfeind«?, 30 ff.; Hans-Martin Kirn, Friedrich Schlei­er­machers Stellungnahme zur Judenemanzipation im »Sendschreiben« David Friedländers. Die ›Briefe 214 | Ethik, Recht und Bildung 

lung der Juden dadurch unterlaufen, dass er auf der Basis der Vernunftreligion – also letztlich einer alle bestimmten Religionen überwölbenden Konstruktion6 – einen Übertritt zum Christentum für möglich hielt, ohne sich auf dessen bestimmte Dogmen einlassen zu müssen. Schlei­er­machers Ablehnung der Vernunftreligion, die in den Reden in der Trennung der Religion einerseits und Metaphysik und Moral andererseits zum Ausdruck kommt, führt konsequenterweise dazu, dass er die Vernunftreligion nicht als vereinigendes Band der Religionen ansieht, sondern als tote Abstraktion, aus der das Lebendige der Religion – Anschauung und Gefühl – sich verflüchtigt hat. Mehr noch musste es Schlei­er­macher befremden, dass Vertreter des Judentums ihre eigene Religion als eine solche natürliche bzw. Vernunftreligion zu interpretieren bereit waren, womit sie diese selbst als eine tote Religion behandelten. Freilich blendet Schlei­er­macher dabei ganz aus, dass die innere Widersprüchlichkeit dieser Position der Verzweiflung über die verweigerte bürgerliche Gleichstellung der Juden entsprang. In dieser Hinsicht empfiehlt er, weiter den Weg der rechtlichen Gleichstellung zu gehen: »Die Vernunft fordert, daß Alle Bürger sein sollen, aber sie weiß nichts davon, daß Alle Christen sein müßen, und es muß also auf vielerlei Art möglich sein, Bürger, und Nichtchrist zu sein.« (KGA I/2, 335) Hieraus resultiert Schlei­er­ machers Vorbehalt gegenüber dem Weg zum Bürgerrecht über die Konversion zum Christentum: »Es ist unmöglich, daß Jemand, der Eine Religion wirklich gehabt hat, eine andere annehmen sollte; und wenn alle Juden die vortrefflichsten Staatsbürger würden, so würde doch kein einziger ein guter Christ« (KGA I/2, 347). Wie man eine »tote« Religion als Religion wirklich »haben« kann, wird nicht gesagt. Es wird jedoch deutlich, dass Schlei­er­macher hier Religion und Staatsbürgerrecht getrennt halten will; der Einwand gegen die Konversion kann auch nicht generalisierend verstanden werden, sondern bezieht sich auf einen formalen Übertritt zum Christentum, wobei Schlei­er­macher jedoch betont, dass die »Grundsäze[] und Gesinnnungen« des Judentums »nothwendig antichristlich« seien, weshalb »alles Unheil in den alten und neuen Zeiten des bei Gelegenheit […]‹ von 1799«, in: Christentum und Judentum, hg. v. Roderich Barth u. a., 193–212. 6 Vgl. Eßbach, Religionssoziologie 1, 156 ff. Gemeinschaft und Gesinnung | 215

Christenthums gänzlich aus dieser Quelle entsprungen« sei (KGA I/2, 347). Hierin lässt sich durchaus ein antijudaistisches Ressentiment erkennen. Wenn die Juden nicht Christen, wohl aber Bürger werden sollen, wie Schlei­er­macher versichert (KGA I/2, 351 f.), dann gilt das freilich nicht ohne Vorbehalt. Schlei­er­macher verlangt nicht weniger als die Anpassung der jüdischen Religion an die Bedürfnisse des Staates: »ich verlange, daß die Juden, denen es Ernst ist, Bürger zu werden, das Ceremonialgesez  – nicht durchaus ablegen, sondern nur den Gesezen des Staats unterordnen […]. Ich verlange ferner, daß sie der Hofnung auf einen Meßias förmlich und öffentlich entsagen; ich glaube, daß dies ein wichtiger Punkt ist, den ihnen der Staat nicht nachlaßen kann.« (KGA I/2, 352) Zur Begründung führt Schlei­er­ macher an, dass mit dem Messiasglauben die Hoffnung auf einen eigenen, jüdischen Staat verbunden sei, wodurch die Juden von ihrer Gesinnung her gewissermaßen nur Staatsbürger auf Widerruf werden würden, sollten sie daran festhalten. Schlei­er­machers Forderung berührt ein auch aktuell vor allem im Blick auf den Islam vielfach diskutiertes Problem. Hier wird von Migranten islamischen Glaubens vielfach ein Bekenntnis zur Rechtsordnung und zu den Werten des Einwanderungslandes verlangt. Eine solche Forderung ist, unabhängig von der Religion, an die sie sich richtet, insofern eine Selbstverständlichkeit, als ein säku­larer Staat – der sich gegenüber den Religionen tatsächlich nur als »irdischer Gott« behaupten kann – die Rechtsordnung nicht einer Religion unterwerfen darf.7 Wenigstens Schlei­er­machers erste Forderung nach der Unterordnung des religiösen Gesetzes unter das staatliche lässt also nicht unbedingt von vornherein auf antijudaistische Vorurteile schließen. Das Problem ist, dass Schlei­er­ macher nicht konsequent das Konzept eines säkularen Rechtsstaates verfolgt, der den Religionen unter der Bedingung Freiräume verschafft, dass sie sich der bestehenden Rechtsordnung unterordnen und innerhalb dieser Ordnung miteinander koexistieren. Seine zweite Forderung, die Preisgabe des Messiasglaubens, macht vielmehr deutlich, dass Schlei­er­macher für die Religionen jenseits der den Problemen dieser Konzeption vgl. Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott, Tübingen 2015. 7 Zu

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rechtlichen Konformität noch ein Gesinnungselement ins Spiel bringt, welches das Recht als solches jedoch gar nichts angehen sollte, da rechtlich nicht Gesinnungen, sondern nur Handlungen zu sanktionieren sind. Hierin, in diesem Beharren auf dem Gesinnungsmoment der Religionen im Verhältnis zum Staat, liegt – wie sich in der Folge auch zeigen wird – das eigentliche Problem Schlei­ er­machers, denn in der Konsequenz wird er das Recht als Ausdruck der Gesinnung fassen – mit der Folge, dass sich diejenigen, welche die normgebende Gesinnung nicht teilen, außerhalb der Rechtsordnung stellen.    Für den späteren Schlei­er­macher in seiner Berliner Zeit als 3

Prediger an der Dreifaltigkeitskirche (seit 1809) und Professor der Theologie an der neugegründeten Berliner Universität (seit 1810), wo er als Mitglied der Akademie der Wissenschaften auch das Recht hatte, philosophische Vorlesungen zu halten, gilt – nach dem Zeugnis der Nachschriften seiner Vorlesungen über die Lehre vom Staat – ebenfalls, »daß es religiöse Zustände giebt, die antipolitisch sind im Allgemeinen und solche, die sich mit gewissen Staatsformen nicht vertragen, woraus hervorgeht daß der Staat diese nicht begünstigen kann, sondern nur soweit, als sie nicht solche gegen den Staat gerichtete Principien in sich schließen« (KGA II/8, 618; Kolleg 1829). Im Kontext der zitierten Vorlesungsnachschrift nennt Schlei­er­ macher namentlich Quäker und Mennoniten, die der Staat aber als unbedeutende Sekten dulden könne (KGA II/8, 620); unabhängig davon sei die »gänzliche Sonderung des Politischen und Religiösen« das Ziel, um die im Verlauf der europäischen Geschichte bereits abnehmenden »Reibungen zwischen dem politischen und Religiösen Element« zu überwinden (KGA II/8, 621). Das Christentum, so behauptet Schlei­er­macher in diesem Zusammenhang, habe »das religiöse und politische von Anfang an gesondert und hat durchaus kein theokratisches Princip während doch alle diese Reibungen von theokratischen Principien ausgehn, die sich immer wieder eingeschlichen haben« (ebd.). Dies ist eine deutliche Anspielung auf das Judentum, dem Schleiermacher im Zusammenhang mit dem Messiasglauben eine solche theokratische Tendenz unterstellt. Deutlich wird Schlei­er­macher in dem Kolleg 1833: »Ist […] das religiöse Princip nicht rein, sondern theocratisch und will das geistliche Princip Gemeinschaft und Gesinnung | 217

als Sanction des bürgerlichen Zustands sich geltend machen, so ist der Gemeingeist dieser in Widerspruch mit dem des Volks […]. So ist das Judenthum stets eine solche Form gewesen und kann nur durch völlige Änderung aufhören es zu sein.« (KGA II/8, 915 f.) Es muss hier nicht weiter diskutiert werden, dass diese Auffassung von antijudaistischen Vorurteilen geprägt ist, welche die erzwungene Sonderexistenz des Judentums zu dessen Wesensmerkmal erklären.8 Schlei­er­macher geht auch nicht darauf ein, dass die Landesgesetze in den Interpretationen der jüdischen Gelehrten als verbindlich anerkannt wurden. Unabhängig davon ist entscheidend für Schlei­er­machers Position, dass er einen Unterschied zwischen der religiösen Gesinnung und dem Recht gar nicht machen kann, da er generell Recht und Gesinnung miteinander verschleift.9 An dieser Stelle ist es daher erforderlich, kurz auf die in diesem Zusammenhang interessierenden Punkte der Schlei­er­macherschen Rechtstheorie (soweit man von einer solchen sprechen kann) einzugehen. Für Schlei­er­macher ist der Staat »Vereinigung der Kräfte zur Naturbildung für die Vernunft«, wobei er »Bestimmungsgrund« und »Gränzen in dem Angeborenen der Menschen« hat, d. h. in der durch Klima und Boden sowie körperliche und geistige Konstitution hervorgebrachten »Volksthümlichkeit« als »Eigenthümlichkeit einer Masse« (KGA II/8, 213; Nachschrift Kolleg 1817). Diese naturbestimmte Eigentümlichkeit pflanzt sich durch Erziehung und Sprache in einer sittlichen Gemeinschaft fort, die den Volkscharakter bildet. Der Staat und mit ihm das Recht entsteht dann, wenn der allgemeine Wille, der im vorstaatlichen bzw. vorbürgerlichen Zustand unbewusst war, in einen bewussten Zustand übergegangen ist: Gesetz ist »der zum Bewußtseyn gekommene Wille oder die Vereinigung der Kräfte als bewußter Wille« (KGA II/8, 217). Hervorzuheben ist, dass diese Willensbestimmung – anders als etwa bei Hegel – nicht als freie Selbstbestimmung im Sinne auch der subjektiven Freiheit verstanden wird, vielmehr ist der bewusste Wille gerade der Allgemeinwille, der in Gegensatz zum individuellen Willen geraten kann. Staats- und rechtstheoretisch denkt Schlei­er­macher Kirn, Schlei­er­machers Stellungnahme«, 208 f. zur Rechtstheorie oben Der Begriff des Rechts in Schlei­er­machers Ethik-Vorlesungen; ferner Rose, Schlei­er­machers Staatslehre, 212 ff. 8 Vgl.

9 Vgl.

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das Individuum von einer vorausgesetzten, natürlich bestimmten Volksgemeinschaft her. Das Gesetz hat daher auch nicht etwa die Aufgabe, den Individuen Freiräume zu sichern, sondern den gemeinschaftlichen Naturbildungsprozess – d. h. in erster Linie: den ökonomischen Prozess – zu sichern: »so haben die Gesezze keinen andern Zwek, als die Thätigkeit zu entwikkeln.« (KGA II/8, 391) Die bewusste Willensbestimmung bezieht sich demnach ausschließlich auf den gemeinschaftlichen, staatlich organisierten Naturbildungsprozess und die Funktion des Rechts besteht, wie Rose treffend bemerkt, nicht darin, dass der Einzelne vom Recht geschützt wird, »sondern die Gemeinschaft in ihrer konkreten Bestimmtheit«.10 Die Gesetzgebeng ist demnach, Schlei­er­macher zufolge, »die Aufstellung gewisser Normen […], wie die allgemeine Thätigkeit gehandhabt wird« (KGA II/8, 241, Nachschrift Kolleg 1817). Als Beispiel führt er an, dass eine »Commune«, die gewohnheitsmäßig die Weinlese zu einem bestimmten Zeitpunkt betreibt, diesen dann gesetzförmig fixiert (KGA II/8, 773, Nachschrift Kolleg 1833). Die Grundlage des Gesetzes ist demnach die Sitte, denn Sitte ist nichts anderes als »die einer Masse angehörige Art und Weise, gewisse Thätigkeiten zu verrichten« (KGA II/8, 511, Nachschrift Kolleg 1829). Rose ist daher zuzustimmen, wenn sie pointiert sagt: »Das Gesetz ist die durch die Regierung ausgesprochene und sanktionierte Sitte.«11 Gemäß dieser Logik, die Recht als Ausdruck der Gemeinschaft fasst, steht das Volk »am Anfang der gesetzgebenden, am Ende der vollziehenden, die Regierung aber am Ende der gesetzgebenden und am Anfang der vollziehenden Gewalt«; hierbei gründe die Gesetzgebung »in dem Verstande und dem Gemüthe des Volkes« und »erreicht endlich ihren Endpunkt in dem gehorchenden Willen des Volkes« (KGA II/8, 247, Nachschrift Kolleg 1817). Nicht von Demokratie ist hier die Rede, sondern – in Schlei­er­ machers Terminologie – von einer Wechselwirkung von Obrigkeit und Untertanen, bei der die Obrigkeit und ihre Gesetze dadurch legitimiert werden, dass sie von den Untertanen schließlich durch Gehorsam als bewusster Ausdruck des allgemeinen Willens oder der Sitte anerkannt werden. Letztlich beruht diese Einheit (und da10

Ebd., 225 f. 221.

11 Ebd.,

Gemeinschaft und Gesinnung | 219

mit der Staat überhaupt) auf der Übereinstimmung der allgemeinen Gesinnung, des Gemeingeistes, mit den Gesetzen. Das Recht hat daher eine der Gemeinschaft dienende Funktion und richtet sich an dem letztlich volkhaft begründeten allgemeinen Willen aus. Wer aus dieser Willensgemeinschaft ausschert, schließt sich nach Schlei­ er­machers Logik selbst aus der Rechtsgemeinschaft aus. Hierin besteht der eigentliche Grund dafür, dass der Messiasglaube als Selbstausschluss des Judentums aus der Volks-, Rechts- und Staatsgemeinschaft angesehen wird. Tatsächlich impliziert aber Schlei­er­ machers fragwürdige Theorie des Rechts diesen Ausschluss. Dass Schlei­er­macher das Recht der Gesinnung unterwirft, zeigt auch sein Verhalten in der sogenannten Brogi-Klaatsch-Affäre von 1812.12 Der jüdische Student Josef Leyser Brogi wurde u. a. von dem Studenten August Klaatsch öffentlich und offenkundig aus antijudaistischen Motiven misshandelt und zeigte seine Peiniger beim Rektor der Berliner Universität – damals Fichte – an. Während Fichte die Angreifer bestraft sehen wollte und, als der Akademische Senat stattdessen Brogi als Opfer von der Universität verweisen wollte, vom Rektoramt zurücktrat, votierte Schlei­er­macher für die Angreifer, deren Gesinnung er pries, während Brogi, wie er in seinem Votum schrieb, als Jude die »Gemeinschaft der Gesinnung«, wie sie unter der Majorität der Studierenden vorherrsche, fremd sei.13 Vor dem Hintergrund der Schlei­er­macherschen Rechtstheorie ist diese Verkehrung von Recht und Unrecht freilich nur konsequent, denn das Recht ist Recht nur in jenem Vollzug, der es als Ausdruck der Sitte, des Gemeingeistes anerkennt.     Mit der Bildung des Staates und der nach seiner Auffassung 4 unmittelbar damit gegebenen Duplizität von Obrigkeit und Unter­ tanen ist, wiewohl diese Staatsbildung auf der Bewusstmachung des instinktiven allgemeinen Willens beruht, für Schlei­er­macher die Möglichkeit einer Trennung des Gemeinwillens vom privaten oder individuellen Willen gegeben: »Das Privatinteresse fängt nun wesentlich bei den Unterthanen an; das gemeinsame Interesse hat in der Obrigkeit seinen Sitz« (KGA II/8, 246, Nachschrift Kolleg 1817). 12 Vgl. 13 Zit.

Blum, »Ich wäre ein Judenfeind«?, 76 ff. ebd., 79.

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Es ist daher erforderlich, in den Untertanen immer wieder den Gemeingeist gegen das Privatinteresse zu stärken. Hierbei kommt, ungeachtet der Trennung von Staat und Religion, der Religion eine wesentliche Funktion zu. Das theokratische Prinzip beruhte für Schlei­er­macher auf dem im Kern durchaus richtigen, wenn auch erst dunklen Bewusstsein, »daß, wenn das politische Bewußtsein entstanden ist und das politische Interesse entsteht, das religiöse Gefühl hier ein Nothwendiges zur Stärkung des Gemeingeistes gegen das Privatinteresse sei. Dies Bewußtsein wirkt noch immer, und stets findet sich ein Interesse der Regierung an der religiösen Gemeinschaft, so daß es ein wichtiger Gegenstand ist, daß jeder einer religiösen Gemeinschaft angehört, damit die Prinzipien dieser seinen Gemeingeist gegen das Privatinteresse unterstützen können.« (KGA II/8, 912, Nachschrift Kolleg 1833) Hierbei geht es aber nicht um eine Staatsreligion, sondern darum, dass »der Staat seine Hülfe von dem religiösen Prinzip selbst erwartet, daß dies selbst wirkt, religiöse Gesinnung denen mitzutheilen, die keine haben« (KGA II/8, 914). In diesem Zusammenhang kommt es dann freilich auf die richtige Gesinnung an, denn nur diejenige religiöse Gesinnung kann als staats- und rechtskonform gelten, die mit dem bewussten allgemeinen Willen der Gemeinschaft, wie ihn die Obrigkeit vertritt, übereinkommt.14 An dieser Stelle greift der politische Ausschluss des Judentums, wie es vor allem in Schlei­er­machers Erziehungstheorie deutlich wird, die diesen Prozess der Ausbildung religiöser Gesinnung zum Thema macht. Für Schlei­er­macher besteht die Aufgabe der öffentlichen Schulen darin, nicht nur Kenntnisse zu vermitteln, sondern die geistigen Kräfte zu entwickeln, »auch der übereinstimmenden allgemeinen Richtung aller oder der Gesinnung«, welches vor allem durch den Religionsunterricht zu geschehen habe: »Hiezu giebt es nun keinen andern Gegenstand als das Christenthum in wie fern es lehrbar ist. Denn der Mittelpunkt aller Gesinnung ist Religiosität, und der Staat von welchem die Einrichtung der öffentlichen Erziehungsanstalten ausgeht erkennt das Christenthum für die unter seinen Bürgern Recht spricht Blum (»Ich wäre ein Judenfeind«?, 180) davon, dass Schlei­er­macher religiöse Freiheit und Vielfalt »nicht in einem religionspluralistischen Sinn, sondern nur vor einem interkonfessionellen christlichen Hintergrund« denke. 14 Zu

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allgemein verbreitete und gültige Form der Religion« (KGA II/12, 75 f.). Dies bedeutet für Schlei­er­macher – der im Übrigen nur auf verschiedene christliche »Parteien« Rücksicht nehmen will, sofern hier im Unterricht keine Polemik stattfinden dürfe, nicht aber auf andere Religionen –, dass auch nur christlicher Religionsunterricht auf öffentlichen Schulen Platz habe: »Es ist daher eine falsche […] Tendenz wenn man um der etwanigen jüdischen Zöglinge willen dem Religionsunterricht das christliche benehmen und ihn in das Gebiet einer sogenannten allgemeinen Religion hinüberspielen würde« (KGA II/12, 76). Dem liegt die in den Vorlesungen über die Pädagogik ausdrücklich geäußerte Ansicht zugrunde, die jüdische Religion stehe dem Interesse des Staates an der Entwicklung des ›Gemeingeistes‹ dadurch entgegen, dass sie im Gegenteil den sinnlichen Eigennutz befördere: »Man hat in neuerer Zeit […] die Ansicht aufgestellt, die Kinder müßten in religiöser Hinsicht den Gang des ganzen menschlichen Geschlechts durchmachen, sie müßten erst Heiden sein und so die Naturanschauung auffassen, dann durch Belohnung und Bestrafung zum sittlichen getrieben zum gesezlichen Monotheismus übergehen, und dann erst Christen werden«; Letzteres sei als solches abzulehnen: »Noch schlimmer aber wäre sie in den gesezlichen Monotheismus hineinzuführen und durch dessen Belohnungen und Strafen zu lokken und zu schrekken: dann würden sie aus dem geistigen religiösen Element gehoben und in das eigennüzige sinnliche hineingetaucht.«15 Aber nicht nur in der öffentlichen Erziehung wird Gesinnung durch christliche Religion gestützt, auch in der Familie soll dies geschehen, womit der Erziehungsauftrag bis in den privaten Bereich hinein an das Christentum gebunden ist: »Die Kirche neben dem Staat in dem Leben, wie es uns vorliegt, als die religiöse Gemeinschaft fordert überwiegend von jedem einzelnen die religiöse Gesinnung, und zwar die bestimmte Gesinnung der christlichen Frömmigkeit. Da nun jedes Hauswesen ebensogut ein organisches Element des Staates wie der Kirche ist, so muß es auch gleich geschickt sein, die christliche Gesinnung zu entwickeln, wie den Gemeingeist.«16 Dies gilt, wohlgemerkt, für das Hauswesen überhaupt, denn nach Schlei­er­macher, Erziehungslehre, hg. v. Carl Platz, Berlin 1849 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 9), 349 f. (Kolleg 1826). 16 Ebd., 166. 15

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Schlei­er­macher ist die jüdische Religion inhaltlich nicht in der Lage, die vom Staat geforderte Gesinnung, den ›Gemeingeist‹, zu stützen. Es ist wahr, dass Schlei­er­macher deshalb keine Verfolgung und Unterdrückung derer fordert, die sich zur jüdischen Religion bekennen. Es ist aber auch wahr, dass er das Judentum rechtlich und politisch aus derjenigen Gemeinschaft ausschließt, für die er den Gemeinsinn wecken will.

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»Verderblich,   wenn die Universitäten nur fort­gesetzte Schulen werden« Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über ­Universitäten in deutschem Sinn Im März 1987 hielt der Berliner Religionsphilosoph Klaus Heinrich – einer der studentischen Mitbegründer der Freien Universi­tät Berlin – an der Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Universität einen vielbeachteten Vortrag mit dem provozierenden Titel »Zur Geistlosigkeit der Universität heute«.1 Klaus Heinrich sprach in diesem Zusammenhang von einer »verspätete[n] Bonapartisierung des Bildungswesens« in der damaligen Bundesrepublik durch »die technologische Reform der Universität in den späten 60er und 70er Jahren – ihre Überführung in ein planerisches Polytechnikum, ihre Bürokratisierung zur Behördenuniversität«.2 Fast 180 Jahre zuvor hatte Friedrich Schlei­er­macher in seiner 1808 erschienenen Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn die Gefahr einer geistlosen Universität ganz ähnlich beschrieben: »Verderblich, wenn die Universitäten […] in der That nur fortgesezte Schulen werden, indem sie zwar voreiligerweise Akademien vorstellen und vollendete Gelehrte treibhäuslich bei sich ausbilden wollen durch immer tieferes Hineinführen in das Detail der Wissenschaften, dabei aber, was ihnen eigentlich obliegt, nemlich den allgemeinen wissenschaftlichen Geist zu wekken und ihm eine bestimmte Richtung zu geben, darüber vernachlässigen.« (KGA I/6, 39) Schlei­er­machers Einspruch gegen die Verschulung der Universität zielt auf das, was Klaus Heinrich »Bonapartisierung« genannt hat; »Universitäten in deutschem Sinn«, das ist für Schlei­ er­macher keine völkisch-deutschtümelnde Romantik, sondern der Heinrich, der gesellschaft ein bewußtsein ihrer selbst zu geben, Frankfurt/M. und Basel 1998 (Reden und kleine Schriften 2), 69–87. 2 Ebd., 75. 1 Klaus

 225

Gegensatz zu den Bildungsreformen des nachrevolutionären Frankreich, in deren Mittelpunkt die Spezialschulen standen. In einem Brief vom 1. März 1808 erklärt er sich hierüber eindeutig: »Meine Hauptabsicht […] war nur den Gegensaz zwischen den deutschen Universitäten und den französischen Spezialschulen recht anschaulich und den Werth unserer einheimischen Form einleuchtend zu machen ohne eben gegen die andere direct zu polemisiren« (KGA V/10, 67). Schlei­er­machers Universitätsschrift, so scheint es, ist in ­einer his­ torischen Konstellation entstanden, die der gegenwärtigen durchaus vergleichbar ist, jedenfalls dann, wenn die eingangs zitierte Diagnose Klaus Heinrichs zutrifft, die ja eine Entwicklung beschreibt, die sich durch die Bologna-Reformen nur beschleunigt hat. In dieser Übereinstimmung der grundlegenden Problematiken wird auch deutlich, dass Schlei­er­machers Universitätsidee sich ausdrücklich gegen Reformkonzeptionen richtete, die im Großen und Ganzen das verfolgten, was heute im Mittelpunkt der durch den BolognaProzess angestoßenen Umstrukturierung der Universität steht: die Orientierung der Hochschulen auf Berufsausbildung und praktischen Nutzen. Nicht in Unkenntnis solcher Anforderungen, sondern in ihrer dezidierten argumentativen Zurückweisung wurde das preußische Universitätskonzept Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt. So gesehen ist »Humboldt« – das Konzept der 1810 neu gegründeten Berliner Universität, das wesentlich durch Schlei­er­ machers Universitätsschrift beeinflusst wurde – nicht tot, wie gerne erzählt wird, sondern von größter Aktualität. Im Folgenden wende ich mich zuerst ! den Debatten im Vorfeld der Berliner Universitätsgründung zu, in die Schlei­er­macher mit seiner Schrift eingreift;3 im nächsten Schritt gehe ich auf Schlei­er­ machers Universitätskonzeption selbst näher ein @, um schließlich # die mögliche Antiquiertheit bzw. Aktualität dieser Konzeption zu erörtern.

3 Ich

greife hierbei weitgehend auf Ausführungen in meinem folgenden Aufsatz zurück: »Universitäten in deutschem Sinn«. Schlei­er­machers Universitätsschrift (1808) im Kontext, in: Krise, Reformen – und Kultur. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, hg. v. Bärbel Holtz, Berlin 2010, 191–202. 226 | Ethik, Recht und Bildung 

   Im Frühjahr 1808 erschien in Berlin die Schrift Gelegentliche 1

Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, von F. Schlei­er­macher (KGA I/6, 15–100). Unter den zahlreichen Stellungnahmen, Eingaben und Denkschriften zur Universitätsreform in Preußen am Beginn des 19. Jahrhunderts nahm Schlei­er­machers Beitrag schon bald eine Sonderstellung ein. Die darin formulierten Gedanken konnten sich gegenüber konkurrierenden Vorschlägen in der Praxis weitgehend durchsetzen und bestimmten (zum Teil bis in die Formulierung der Universitätsstatuten hinein) Geist und Organisation der neuerrichteten Berliner Universität in ihrer Anfangsphase. Die Gelegentlichen Gedanken verbanden Schlei­er­machers Namen dauerhaft mit der preußischen Bildungsreform und begründeten seine herausragende Stellung in der Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts.4 Der »deutsche Sinn« im Titel der Universitätsschrift richtet sich, wie bereits erwähnt, vor allem gegen das französische System der Spezialschulen. Dieses war in der Diskussion um eine höhere Lehranstalt in Berlin schon vor der preußischen Niederlage 1806 sowohl von Gutachtern wie Johann Jakob Engel als auch vom zuständigen Minister von Massow verfochten worden; Letzteres erklärt wohl auch Schlei­er­machers Verzicht auf eine direkte Polemik, denn er wollte es mit dem von ihm wenig geschätzten Minister doch nicht ganz verderben. Was war, in aller Kürze, das französische Modell?5 Seit 1793/94 wurden, zunächst vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, Fach- bzw. Fachhochschulen errichtet, die als Ecole bzw. Ecole Nationale Supérieure mit Zusatz des jeweiligen Faches firmierten. 1794 kam die Ecole Normale Supérieure (ohne Zusatz) als Anstalt für die staatliche Ausbildung des Lehrernachwuchses hinzu. Die Universitäten wurden durch diese Fach(hoch)schulen in ihrem Kade, Schlei­er­machers Anteil an der Entwicklung des Preußischen Bildungswesens von 1808–1818, Leipzig 1925; Rudolf Vierhaus, Schlei­er­machers Stellung in der deutschen Bildungsgeschichte, in: Internationaler Schlei­e r­ macher-Kongreß 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1985, 3–19. 5 Eugène Dubarle, Histoire de l’Université: depuis son origine jusqu’à nos jours, Bd. 2, Paris 1829, 282–374; Auguste Vallet de Viriville, Histoire l’instruction publique en Europe et principalement en France depuis le christianisme jusque’a nos jours, Paris 1849, 277–350. 4 Franz

Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über Universitäten | 227

Rang beschnitten bzw. sogar praktisch ersetzt, zumal die bedeutendste Universität, die Pariser Sorbonne, für viele Jahre geschlossen wurde. Die französischen Reformen waren aber nicht nur der Versuch, das Bildungswesen vollständig unter staatliche Kontrolle zu bekommen und die Ausbildung des wissenschaftlich-technischen Nachwuchses und der Lehrer zu sichern; sie waren auch Konsequenz einer praktischen Orientierung der Aufklärungsphilosophie nicht nur in Frankreich, die den Fortschritt vor allem in dem Bereich der Wissenschaften und (mechanischen) Künste sah und befördern wollte.6 Die Errichtung von Fachschulen bzw. fachbezogenen Akade­ mien hatte auch in der preußischen Hauptstadt schon vor der Fran­zösischen Revolution begonnen. Den Anfang machte 1717 das »ana­to­mische Theater«, dem weitere Spezialschulen im Bereich der Medizin und Tiermedizin, des Bergbaus, des Militärwesens, des Ackerbaus, Handels usw. folgten. Im Umkreis dieser Einrichtungen sowie der Institute der Königlichen Akademie entwickelte sich ein vielfältiger und differenzierter Betrieb von öffentlichen und Privatvorlesungen, wie sie im Bereich der Philosophie z. B. von den Kantianern Kiesewetter und Markus Herz, aber auch von Fichte und Schlei­er­macher gehalten wurden. Fach(hoch)schulen, auf die eine am französischen Vorbild orientierte Reform hätte aufbauen können, gab es also genug, und es gab sie schon vor dem preußischen Zusammenbruch. Bereits 1801/02 erfolgten zwei Reformvorstöße; der erste ging von dem Justizminister Julius Eberhard Wilhelm Ernst von Massow (1750–1816) aus, zu dessen Zuständigkeitsbereich seit 1798 auch die Universitäten Duisburg, Frankfurt/Oder, Halle und Königsberg gehörten. In einem Ministerialbericht vom 16. 2. 1801 hatte er bereits festgehalten, »daß die Universitäten […] zum jetzigen Bedürfnis der moralischen, scientifischen und praktischen Bildung nicht bloß künftiger spekulativer Gelehrter, sondern für die dem bürgerlichen Leben in privaten und öffentlichen Verhältnissen ebenfalls brauchbaren Staatsbürgern nicht passen«.7 Ansatzpunkt seiner Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, Frank­ furt/M. und New York 1987, 130 ff. 7 Rudolf Köpke, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Uni6 Vgl.

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Reform nach französischem Vorbild sollte die Medizinerausbildung werden, die weitgehend auf die klinische Praxis konzentriert werden sollte; hiermit scheiterte Massow jedoch.8 Einen zweiten Vorstoß unternahm 1802 der Geheime Kabinettsrat Karl Friedrich von Beyme (1765–1838), als er den Berliner Spätaufklärer Johann Jakob Engel mit der Ausarbeitung einer Denkschrift über die Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin beauftragte, die dieser am 13. März 1802 einreichte.9 Auch diese »Lehranstalt« sollte ausdrücklich keine Universität sein, sondern vielmehr auf eine eigene Gerichtsbarkeit, akademische Würden, Disputationen und ein Rektorat verzichten. Engel dachte an eine eher lockere Vereinigung und den Ausbau der Spezialschulen unter dem Dach einer Lehranstalt, wobei er offen ließ, ob auch an eine theologische Fakultät zu denken sei.10 Für eine praxisorientierte, an der sinnlichen Erfahrung statt der bloßen Theorie orientierte Ausbildung sei Berlin aufgrund der vorhandenen Einrichtungen – bis hin zu den königlichen Bildersammlungen – der geeignete Ort. Die spätaufklärerisch-popularphilosophische Orientierung auf Praxis und common sense tritt bei Engel – wie auch bei Massow – deutlich hervor. Die akademische Ausbildung wurde nach dem Gesichtspunkt des praktischen Nutzens und nicht nach dem der Bildung zur Urteilsfähigkeit angesehen, wie es uns heute ja auch (wieder) wohlvertraut ist. Auch der Gesichtspunkt des ökonomischen Nutzens spielte bereits eine erhebliche Rolle; so stellte der Jurist und Nationalökonom Johann Christoph Erich Springer (1727– 1798) den »Cameralnutzen« der Universitäten in den Mittelpunkt.11 Schlei­er­macher war mit solchen Positionen nicht erst seit seiner Kritik der Spätaufklärung, die er in zum Teil ätzend polemischen versität zu Berlin nebst Anhängen über die Geschichte der Institute und den Personalbestand, Berlin 1860, 14. 8 Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1, Halle 1910, 36–64. 9 Johann Jakob Engel, Denkschrift über die Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin, in: Gelegentliche Gedanken über Universitäten, hg. v. Ernst Müller, Leipzig 1990, 6–17. 10 Ebd., 14. 11 [Johann Christoph Erich Springer], Über die protestantischen Universitäten in Deutschland neues Raisonnement von einigen Patrioten, Strasburg 1769 (anonym). Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über Universitäten | 229

Rezensionen vorgetragen hatte,12 wohl vertraut. Die Orientierung auf die praktische Philosophie findet sich auch bei dem Gründer der Brüdergemeinen, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760). In seinem Gang durch die Bildungsanstalten der Brüdergemeine13 von 1783–1787 hatte Schlei­er­macher diese Position in einer gegenüber der aufklärerischen Kritik verhärteten Gestalt kennen gelernt: während die praktisch orientierten Wissenschaften und auch die Naturkunde – wegen der von ihr erwarteten Beiträge zum physikotheologischen Gottesbeweis – sich eines hohen Ansehens erfreuten, war die Lektüre der neuesten Literatur und besonders der kritischen Philosophie den Zöglingen verboten, so dass Schlei­er­macher Kant heimlich studieren musste. Wenn ich es richtig sehe, hat Schlei­er­macher seither durchgehend die Orientierung der Wissenschaften an praktischen Nützlichkeitserwägungen abgelehnt, weil damit der Zusammenhang des Wissens und die kritische Reflexion des Wissensprozesses ausgeblendet werde. Dies bezieht sich sowohl auf die theologische als auch staatliche bzw. »cameralistische« Indienstnahme der Wissenschaften. In den Gelegentlichen Gedanken heißt es, der Staat sei »von dem unmittelbaren Nutzen der Kenntnisse überzeugt und ergriffen. Ausgebreitete Bekanntschaft mit Tatsachen Erscheinungen und Erfolgen aller Art sucht er zu begünstigen, und wenn er sich der wissenschaftlichen Anstalten annimmt, sie vorzüglich hierauf zu lenken. Denjenigen hingegen, welche sich zum Behuf der Wissenschaft freiwillig vereinigen, kommt es auf ganz etwas anderes an […]. Was sie vereiniget ist das Bewußtsein von der notwendigen Einheit alles Wissens, von den Gesetzen und Bedingungen seines Entstehens, von der Form und dem Gepräge wodurch eigentlich jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, ein eigentliches Wissen ist.« (KGA I/6, 28) Dass die wissenschaftliche Wahrheit für sich steht, das Wissen in sich selbst begründet werden muss und sich kritisch zum Nützlichkeitsstreben verhält, verbindet Schlei­er­macher mit Kants Position in dessen Schrift Der Streit der Fakultäten (1798). Nach Kant 12 KGA

I/3, 63–72;225–234. Rudolph Meyer, Schlei­er­machers und C. G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine, Leipzig 1905. 13 Ernst

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ging es darum, das Verhältnis der »unteren«, philosophischen Fakultät zu den »oberen« Fakultäten (medizinische, juristische und theologische Fakultät) umzukehren und dadurch die philosophischen Wissenschaften aus der Vormundschaft der Theologie einerseits sowie den in den oberen Fakultäten zur Geltung gebrachten Nützlichkeitsinteressen des Staates andererseits zu befreien.14 Nach dem Vorgang der Französischen Revolution hatte sich das »Obere« vor den »Unteren« zu rechtfertigen, welches als freie, d. h. keinen fremden Zwecken unterworfene Wissenschaft das Vernunftprinzip repräsentierte und nun das geistige Zentrum und einigende Band der Universität bilden sollte. Im Kantischen Sinne hatte auch dessen Schüler, der Arzt und radikale Demokrat Johann Benjamin Erhard (1766–1821), in seiner Schrift Über die Einrichtung und den Zweck der höhern Lehranstalten (1802)15 argumentiert. Wie Schlei­er­macher lehnt auch Kant die Nützlichkeit als Kriterium zur Organisation des Hochschulwesens ab und es ist daher kein Zufall, dass die »Universitäten in deutschem Sinn« unabhängig von Schlei­er­macher 1808 auch Schützenhilfe von einem französischen Kantianer erhielten. Charles François Dominique de Villers (1765–1815) legte sie mit seiner Schrift Über die Universitäten und öffentlichen UnterrichtsAnstalten im protestantischen Deutschland insbesondere im Königreiche Westphalen16 seinen Landsleuten auf französisch und den Deutschen zugleich in ihrer Sprache ans Herz. Dass die Wissenschaften ihr Gravitationszentrum in sich selbst haben, d. h. autonom sind und nicht äußerlichen Zwecken untergeordnet werden dürfen, ist die grundlegende Einsicht des Schlei­ er­macher-Humboldtschen Universitätsmodells, welche auch seine Organisationsform bestimmt. Diesem Modell wende ich mich nun zu.

Reinhard Brandt, Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants »Streit der Fakultäten«, Berlin 2003. 15 In: Gelegentliche Gedanken über Universitäten, 18–42. 16 Lübeck 1808; ders., Coup-d’oeil sur les universités et le mode d’instruction publique de l’Allemagne protestante, en particulier du royaume de Westphalie, Kassel 1808. – Eine 1808 erschienene anonyme Rezension in den »Neuen Theologischen Annalen« besprach diesen Text zusammen mit Schlei­er­machers Universitätsschrift; vgl. KGA I/6, XXIII. 14 Vgl.

Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über Universitäten | 231

   Im eigentlichen Sinne ist für Schlei­er­macher die philosophische 2

Fakultät dazu berufen, die Autonomie der Wissenschaft zu bewahren und eine Selbstreflexion der Wissenschaften zu leisten.17 Dies ist, wie gesagt, nicht seine Erfindung, sondern folgt der Kantischen Universitätsidee, die unter den Zeitgenossen auch für Johann Gottlieb Fichte leitend war. Fichtes Denkschrift Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, welche er auf Anforderung des Ministers von Beyme am 8. Oktober 1807 vorgelegt hatte,18 stellt die Philosophie in den Mittelpunkt der Ausbildung und Organisation. Für Fichte ist die höhere Lehranstalt »eine wissenschaftliche Kunstschule«, in der nicht das besondere Wissen der besonderen Wissenschaften, die wissenschaftliche Kunst selbst, ihr methodischer Vollzug, im Mittelpunkt zu stehen habe: »Nun ist dasjenige, was die gesamte geistige Tätigkeit […] wissenschaftlich erfaßt, die Philosophie: von philosophischer Kunstbildung aus müßte sonach den besondern Wissenschaften ihre Kunst gegeben […] werden […]; der Künstler in einer besondern Wissenschaft müßte vor allen Dingen ein philosophischer Künstler werden«.19 Hierbei dachte Fichte an eine bestimmte Philosophie, nämlich seine eigene, die ausschließlich zu lehren und schulmäßig zu verbreiten sei. Damit die Philosophie ihr Licht auf alle besondere Wissenschaften werfen könne, müsse sich jede Disziplin dem Rationalitätsprinzip unterwerfen; für die Theologie bedeutet dies, dass sie nach Fichtes Auffassung keinen Platz an der Universität finden kann, solange sie an einem Offenbarungsglauben festhält.20 Fichtes Lehranstalt, die in sich hierarchisch organisiert ist, sollte eine der Wissenschaft verschworene Gemeinschaft von Meistern und Lehrlingen darstellen und somit allein am reinen Geist der Wissenschaft orientiert werden, wie ihn Fichtes Wissenschaftslehre zu bestimmen versuchte. Fast wirkt es wie bewusste Ironie, wenn Schlei­er­macher im Titel seiner Schrift dem »deduzierten Plan« Fichtes seine »gelegentKonzeption insgesamt vgl. Jan Rohls, Schlei­er­macher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin 2009. 18 Gelegentliche Gedanken über Universitäten, 57–158. 19 Ebd., 81. 20 Vgl. ebd., 89 f., § 22. 17 Zur

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lichen Gedanken« entgegenstellt. Dass er Fichtes Denkschrift gelesen hatte, ist nicht anzunehmen (wie auch Fichte erst sehr viel später Schlei­er­machers Buch zur Kenntnis genommen hat); wohl aber wusste Schlei­er­macher um die Tatsache der Denkschrift und er kannte Fichte und sein Denken gut genug, um sich einen Reim auf dessen Positionen zu machen. Die »gelegentlichen« Gedanken signalisieren jedenfalls, dass es Schlei­er­macher nicht um Deduk­ tionen aus Prinzipien und Prinzipienreiterei geht, sondern um eine pragmatische Sicht auf das Berliner Universitätsprojekt. Das erste Kapitel der Gelegentlichen Gedanken nimmt mit dem »Verhältnis des wissenschaftlichen Vereins zum Staate« ein Thema auf, das Schlei­er­macher aus anderer Perspektive bereits 1805 in seiner Rezension von Johann Friedrich Zöllners Ideen über Natio­ nalerziehung behandelt hatte (KGA I/5, 3–25). Wie bereits dort, so vertritt Schlei­er­macher auch 1808 vehement die Autonomie der Wissenschaft gegenüber jeder Form staatlicher Reglementierung. Die Grundlage dafür bildet Schlei­er­machers philosophische Ethik, wonach Staat, Akademie (also Wissenschaft), freie Geselligkeit und Kirche voneinander unabhängige und gleichberechtigte Gemeinschaftssphären darstellen, so dass nicht nur Staat und Kirche, sondern auch Staat und Wissenschaft zu trennen seien. Die Unabhängigkeit des wissenschaftlichen Vereins vom Staat widerstreitet auch der utilitaristischen Unterordnung der Wissenschaften und Künste unter äußerliche (Staats-)Zwecke (zu denen nach Schlei­er­macher auch der Naturbildungsprozess, also die Ökonomie, gehört), wie sie in dem Konzept der Spezialschulen zum Tragen kam. Im Weiteren unterscheidet Schlei­er­macher zwischen Schule, Universität und Akademie (Kapitel 2), wobei der Universität eine Mittelstellung zwischen der wissenschaftlichen Propädeutik in den Schulen und der rein wissenschaftlichen Forschung in den Akademien zukommt. Während dort die besonderen Wissenschaften sich auf die Detailprobleme konzentrieren können, ist es Aufgabe der Universität, die Einsicht in den Umfang und die Zusammenhänge eines jeden Fachs zu vermitteln. »Universität« steht hier für die in der Vernunft begründete Einheit der Wissenschaften, welche durch die spekulative Philosophie erschlossen wird. Dementsprechend wehrt sich Schlei­er­macher im dritten Kapitel (»Nähe­re Betrachtung der Universität im Allgemeinen«) auch geSchlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über Universitäten | 233

gen eine vorzeitige Spezialisierung und die Absonderung des wissenschaftlichen Nachwuchses von den übrigen Studierenden. Die Universitäten werden vor allem als Hochschulen begriffen, in denen wissenschaftlicher Geist eingeübt wird. Dies geschieht nach Schlei­ er­machers Überzeugung am besten durch die seinerzeit schon in Misskredit geratene Vorlesung, in der »Lebendigkeit und Begeisterung« mit »Besonnenheit und Klarheit« vereint sein müssten (KGA I/6, 49). Hierdurch werde der Lehrende »lehrend immer lernen, und immer lebendig und wahrhaft hervorbringend dastehn vor seinen Zuhörern.« (ebd.) Vor allem dies, nebenbei gesagt, versteht Schlei­er­macher unter der Einheit von Forschung und Lehre. Diese erschöpft sich nicht in Vorlesungen, sondern reicht – wie dies von Schlei­er­macher auch praktiziert wurde – bis zum geselligen Umgang der Lehrenden und Lernenden. Dass die Philosophie den Mittelpunkt der Universität bildet, bestimmt auch das Verhältnis der Fakultäten zueinander (Kap. 4). Von der philosophischen Fakultät aus müsse eine lebendige Einheit des spekulativen Wissens mit den besonderen Wissenschaften hergestellt werden, wozu auch eine wechselseitige Durchlässigkeit in der Lehre über die Fach- und Fakultätsgrenzen hinaus institutionalisiert werden müsse. Zugleich folgt hieraus die Forderung, die Lehrenden nicht auf ihre Spezialgebiete zu beschränken und durch Lehrpläne zu reglementieren. Die Selbstbestimmung im Rahmen der akademischen Freiheit ist unverzichtbarer Bestandteil der von Schlei­er­macher intendierten philosophischen Durchdringung der Universität. Sie ist zugleich symptomatisch für die wechselseitige Offenheit des Spekulativen und Empirischen, wie Schlei­er­macher sie in seiner eigenen Philosophie programmatisch verfocht. Der Gegensatz zu Fichte könnte kaum stärker sein. Während Fichte von der Wahrheit einer, nämlich seiner spekulativen Philosophie – der Wissenschaftslehre – ausgeht, aus der nicht nur die Idee der Universität zu deduzieren, sondern die auch den Eleven im Rahmen hierarchischer Strukturen nachhaltig zu vermitteln sei, setzt Schlei­er­macher auf eine wechselseitige Durchdringung von Spekulation und Empirie, in der Wissenschaft, Lehre und Lernen mit dem Leben verbunden sind. In diesem Sinne hatte Schlei­er­ macher schon 1801 hervorgehoben, dass er »die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des 234 | Ethik, Recht und Bildung 

Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne« (an F. H. C. Schwarz, 28. 3. 1801, KGA V/5, 76). Hierin ist das begründet, was ich als Schlei­er­machers Pragmatismus charakterisiert habe. Schlei­er­macher ist nicht nur im spekulativen Denken gegen eine Grundsatzphilosophie, die sich auf unerschütterliche Prinzipien berufen möchte, sondern tritt auch dafür ein, das spekulative und wissenschaftliche Denken mit der Lebenspraxis zu vermitteln. Eine solche Vermittlungsfunktion kommt der Universität schon durch ihre Zwischenstellung zwischen Schule und Akademie zu. Sie ist keineswegs und ausschließlich eine Pflanzstätte der reinen Wissenschaft, die auf den Akademien und in deren Instituten gepflegt werden soll, sondern zugleich eine Stätte der Ausbildung, denn, so Schlei­er­macher, es sei »unvermeidlich, daß Viele zur Universität kommen, die eigentlich untauglich sind für die Wissenschaft im höchsten Sinne, ja daß diese den größeren Haufen bilden, weil in der That dies weit weniger nachtheilig sein kann, als wenn ein einziges großes und entschiedenes Talent die wohlthätigen Einflüsse dieser Anstalt ganz entbehren müßte« (KGA I/6, 44). Dabei geht Schlei­er­macher davon aus, dass »die Meisten« der Studierenden sich von selbst »auf die untergeordnete Stuffe treuer und tüchtiger Arbeiter stellen« würden: »Darum müssen die Universitäten so eingerichtet sein, daß sie zugleich höhere Schulen sind, um diejenigen weiter zu fördern, deren Talente, wenn sie auch selbst auf die höchste Würde der Wissenschaft Verzicht leisten, doch sehr gut für dieselbe gebraucht werden können.« (ebd.) Dies hat Konsequenzen auch für die Organisation der Universität, die als vermittelnde Institution zwischen Schule und Akademie eben auch zu den angewandten Wissenschaften vermitteln muss. Die Universität enthält für Schlei­er­macher daher auch Elemente der Spezialschulen. Der Staat, so führt er an, bedürfe »von diesen Köpfen der zweiten Klasse. Er kann sehr wohl einsehen, daß die obersten Geschäfte in jedem Zweige nur denen mit Vortheil anvertraut werden, welche von wissenschaftlichem Geiste durchdrungen sind, und wird doch danach streben müssen, daß ihm auch der größte Theil von jenen untergeordneten Talenten anheim falle, welche auch ohne diesen höheren Geist ihm durch wissenschaftliche Bildung und eine Masse von Kenntnissen brauchbar sind. Daher muß er nun aus demselben Grunde dafür sorgen, daß die Universitäten Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über Universitäten | 235

zugleich höhere Specialschulen sein für alles dasjenige, was von den in seinem Dienst nutzbaren Kenntnissen zunächst mit der eigentlichen wissenschaftlichen Bildung zusammenhängt« (KGA I/6, 45). Die Spitze von Schlei­er­machers Argumentation richtet sich daher nicht gegen das Fach- bzw. Spezialschulwesen an sich, wie es in Frankreich institutionalisiert und von vielen Zeitgenossen auch den preußischen Reformern anempfohlen worden war. Sie richtet sich vielmehr gegen die Verselbständigung der angewandten Wissenschaften gegenüber den sie grundlegenden Wissenschaften. Nach seiner Überzeugung muss die Spezialisierung und wissenschaftliche Arbeitsteilung an den Gesamtzusammenhang der Wissenschaften zurückgebunden bleiben, den darzustellen Aufgabe der Philosophie ist. Das bedeutet nicht, dass jeder Studierende, Lehrende und Forschende Philosoph sein müsse, aber – so Schlei­er­macher – es bedeutet, dass »der allgemeine Sinn für die Einheit und den durchgängigen Zusammenhang alles Wissens, der systematisch philosophische Geist« (KGA I/6, 31) in ihnen vorhanden sein müsse – gepaart mit dem Sinn für den Gegenstand der besonderen Wissenschaft. Es wäre sicher zu einfach, hierin nur den Abglanz eines neuhumanistischen Bildungsideals sehen zu wollen. Die Autonomie der Wissenschaft verlangt, dass das Wissen der Wissenschaften tatsächlich auf einen Wissenschaftsbegriff bezogen werden kann. Es geht also im Kern um die, auch gesellschaftliche, Verantwortung der Wissenschaft, die Erweiterung des Horizontes über die Grenzen der besonderen Wissenschaften und Teildisziplinen hinaus. Nach Schlei­er­machers Überzeugung haben nicht nur die besonderen und angewandten Wissenschaften eine für Staat und Gesellschaft nutzbringende Funktion, sondern auch und gerade das Zusammenhangwissen, welches die spekulative Seite aller Tätigkeit an der Universität darstellt und in der Philosophie im Blick auf seine Grundlegung reflektiert wird. Wollte der Staat diese Seite aus Nützlichkeitserwägungen heraus beschneiden, so würde er, so Schlei­ er­macher, »sich selbst auf die Länge der wesentlichsten Vortheile« berauben, »welche ihm die Wissenschaften gewähren, indem es ihm je länger je mehr an solchen fehlen muß, die Großes auffassen und durchführen, und mit scharfem Blikk die Wurzel und den Zusammenhang aller Irrthümer aufdekken können.« (KGA I/6, 42) Die 236 | Ethik, Recht und Bildung 

Selbstreflexionskompetenz der Wissenschaft ist Bedingung ihrer öffentlichen Wirksamkeit. Nun besteht kein Zweifel, dass seit Schlei­er­machers Tagen die Arbeitsteilung in den Wissenschaften und damit die Verselbständigung der Disziplinen und auch der Teildisziplinen gegeneinander beschleunigt und unumkehrbar fortgeschritten ist. Der Zerfall der Philosophischen Fakultäten, deren Einheit Schlei­er­macher um jeden Preis gewahrt wissen wollte, ist nur ein Symptom dieser Entwicklung. Wo, so ist die Frage, sollte die Reflexionskompetenz da noch mit Aussicht auf Erfolg installiert werden können? Kann dies überhaupt noch von der Universität geleistet werden?    Klaus Heinrich hat in seinem eingangs zitierten Vortrag 1987 da3

von gesprochen, die Studentenbewegung in der alten Bundesrepu­ blik der 60er Jahre habe der Universität »unter heftigem Rütteln und Schütteln eine Liebeserklärung« gemacht; seither aber habe es eine »Enterotisierung« dieser Beziehung gegeben.21 Das ist sicher auch, wenn auch gewiss nicht ausschließlich, die Folge einer verschmähten Liebe. Die Ordinarienuniversität warf sich angesichts der ihr unheimlichen Liebe allzu bereit in die Arme des Staates, um Privilegien zu retten, die dann doch in den sich rasch ablösenden technokratischen Reformen verloren gingen. Gewiss war vieles von dem, was in den 60er und Anfang der 70er Jahre von studentischer Seite vorgetragen und lautstark eingefordert wurde, unausgegoren und ambivalent. Es war jedoch auch ein Angebot, das auf Seiten der Ordinarienuniversität weitgehend ignoriert wurde. »Kritische Wissenschaft« und autonome Seminare, um deren Anerkennung gerungen wurde, waren ja noch immer inspiriert von der Idee der Autonomie der Wissenschaft – auch gegenüber wirtschaftlichen und staatlichen Interessen – und von der Idee einer Einheit des Forschens, Lehrens und Lernens. Wir waren damals nicht nur, wie es so schön hieß, die Kinder von Karl Marx und Coca-Cola, sondern – meist, ohne uns dessen bewusst zu sein  – auch von Humboldt und Schlei­er­macher. Aber: lässt sich Schlei­er­machers Universitätskonzeption unter den heutigen Bedingungen noch als realistisch ansehen? Oder ist 21 Heinrich,

der gesellschaft ein bewußtsein ihrer selbst zu geben, 70 f.

Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über Universitäten | 237

Schlei­er­machers Universitätsidee nur noch eine, wenn auch schöne, Utopie? Ich habe eingangs zu zeigen versucht, dass Schlei­er­macher auf Positionen reagierte, die mit den heute in der Universitätspolitik vorherrschenden durchaus vergleichbar sind. Zugleich ist es eine Ironie der Geschichte, dass seine Ideen – trotz des auch hier Schlei­ er­macher eigenen Pragmatismus – bereits in der Gründungsphase der Berliner Universität von der Politik vielfach ignoriert wurden und somit keinen Ort der Realisierung fanden – eben im Wortsinne Utopie blieben. Zwar fanden Schlei­er­machers Formulierungen Eingang in die vorgeschlagenen Statuten der Universität, wurden in wesentlichen Punkten jedoch schon bald dem Kompromiss mit der Reaktionspartei geopfert. Nachdem sich Wilhelm von Humboldt im April 1810 zum Rücktritt gezwungen sah, konnte nicht verhindert werden, dass unter dem Ministerium Schuckmann (seit November 1810) die Autonomie der Universität zu Fall gebracht und in der Folge eine Zensur des Staates über Forschung und Lehre installiert wurde. Die Idee der Universität, um die Schlei­er­macher, Humboldt und andere gestritten hatten, konnte in dieser Weise nicht in der Praxis erprobt werden, und als die gesellschaftlich-politischen Bedingungen dies erlaubt hätten, war der neuhumanistische Gedanke einer philosophisch begründeten Einheit der Wissenschaften schon aufgrund der veränderten wissenschaftshistorischen Problemlage nicht mehr im ursprünglichen Sinne zu realisieren. Ist also Schlei­er­machers Universitätsidee nie mehr gewesen als eine schöne Utopie? Eine wirkliche Antwort auf diese Frage habe ich, ehrlich gesagt, nicht. Dass sich die Aufgabe der Reflexion von Zusammenhängen an meist bloß additiv mit Wissensbeständen umgehende inter- oder auch transdisziplinäre Projekte delegieren lässt, deren Funktion meist in der Generierung von Drittmitteln besteht, glaube ich nicht. Auch die Etablierung von Politikberatungsgremien, meist im Bereich der Akademien, scheint mir keine Lösung zu sein, zumal dort der Anspruch und die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung zumeist in einem krassen Missverhältnis zur tatsächlichen öffentlichen Wirkung stehen. Auf der anderen Seite gibt es außerhalb der Wissenschaften offenkundig ein breites Bedürfnis nach ganzheitlichem Denken und ganzheitlicher Orientierung, das zumeist im nicht- oder sogar para­ wissenschaftlichen Bereich befriedigt wird. Es spricht nicht für die 238 | Ethik, Recht und Bildung 

Universitäten, dass sie hierauf weder Einfluss nehmen noch mit dem darin sich artikulierenden Bedürfnis etwas anfangen können. Für Klaus Heinrich wäre dies sicher auch ein Beleg für die Geistlosigkeit der heutigen Universität. Ob diese sich in Zeiten der Ent­ poli­tisierung, des verinnerlichten Konkurrenzdrucks und der Jagd auf knappe Mittel, die bevorzugt ja nicht den Reflexionswissenschaften zugesprochen werden, überhaupt noch ändern lässt, kann bezweifelt werden. In seiner Oldenburger Rede von 1987 empfahl Heinrich, das kritische Bewusstsein dort zu retten, wo es sich noch zeigt. Das muss nicht die Universität sein. Vielleicht geht diese auch nur den allgemeinen Weg der Entgeistung unserer Gesellschaft mit, den der österreichische Autor Robert Menasse in seiner Phänomenologie der Entgeisterung geschildert hat.22 Er erzählt darin die Hegelsche Phänomenologie des Geistes rückwärts – vom absoluten Wissen zur sinnlichen Gewissheit des Hier und Jetzt  – die alles vergessen hat, was sie einmal zum Moment geistiger Entwicklung machte. Das gesellschaftlich ortlos und darum eben utopisch gewordene kritische Bewusstsein, zu dem gewiss auch Schlei­er­machers Universitätsidee gehört, könnte immerhin noch darauf hoffen, dass der Bann des Vergessens doch noch einmal gebrochen wird und die sinnliche Gewissheit derjenigen Dia­lek­tik anheimfällt, in der sich der Geist zum Bewusstsein seiner selbst emporarbeitet.

Menasse, Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens, Frankfurt/M. 1994. 22 Robert

Schlei­er­machers Gelegentliche Gedanken über Universitäten | 239

TEIL V HERMENEUTIK

Hermeneutik und Einbildungskraft    Ich habe gleich mit einem Geständnis zu beginnen: Der Begriff 1

der Einbildungskraft kommt in Schlei­er­machers Vorlesungen über die Hermeneutik und Kritik, soweit ich sehen kann, gar nicht vor. Auch sonst spielt er in Schlei­er­machers Theoriehaushalt eigentlich kaum eine Rolle, selbst in den Vorlesungen über die Ästhetik nicht.1 Die Psychologie allerdings belehrt uns darüber, dass »Gefühl auch durch Sprache mitgetheilt wird, […] in sofern es sich durch ein inneres Gedankenspiel kund giebt, welches auf der mit dem Namen Einbildungskraft bezeichneten Thätigkeit beruht« (KGA II/13, 62 f.). Hier wird über die Versprachlichung des Gefühls eine Brücke zur Hermeneutik immerhin angedeutet. Gleichwohl: weshalb stelle ich meine Ausführungen unter den Titel »Hermeneutik und Einbildungskraft«? Ich will durch die Einführung des Begriffs der Einbildungskraft keineswegs Schlei­er­macher besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat, wiewohl das nach den Regeln seiner Hermeneutik durchaus legitim wäre. Vielmehr stütze ich mich darauf, dass in Schlei­er­machers Hermeneutik ein Begriff auftaucht, der zwar meist übel beleumdet ist, aber doch eine nicht zu unterschätzende Funktion spielt, und dieser Begriff hängt historisch und systematisch mit dem der Einbildungskraft nicht nur zusammen, sondern wird teilweise identisch mit ihm gebraucht. Es ist dies der Begriff der Divination. Hans-Georg Gadamer hat dieses Konzept distanziert betrachtet, steht es ihm doch für eine eher fragwürdige Voraussetzung der sogenannten psychologischen Interpretation, die eine Einfühlungshermeneutik begründe. Schlei­er­machers Voraussetzung sei, »daß jede Individualität eine Manifestation des Allebens ist und daher« – hier zitiert er Schlei­er­macher – »›jeder von jedem ein Minimum in Friedrich Schlei­er­macher, Ästhetik, hg. v. R. Odebrecht, Berlin und Leipzig 1931; vgl. jetzt Friedrich Daniel Ernst Schlei­er­macher, Ästhetik (1832/33). Über den Begriff der Kunst (1831–33), hg. v. Holden Kelm, Hamburg 2018. 1

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sich trägt und die Divination wird sonach aufgeregt durch Vergleichung mit sich selbst‹. [KGA II/4, 158] So kann er sagen, daß die Individualität des Verfassers unmittelbar aufzufassen ist, ›indem man sich selbst gleichsam in den anderen verwandelt‹.«2 Gadamer sieht darin eine »ästhetische[] Metaphysik der Individualtät«3 und den Kern des Schlei­er­macherschen Romantizismus. Zu einer entgegengesetzten Auffassung kommt Gunter Scholtz, der ich mich auch deshalb anschließen möchte, weil sie meinen Titel rechtfertigt. »Erläuterungsbedürftig«, so schreibt er, »ist […] immer aufs neue die Divination, da man hier den Irrationalismus eines Schleier-Macher vermutet. Sie ist aber nichts als eine Leistung der Einbildungskraft, auf die keiner verzichten kann. Jeder diviniert schon, wenn er in einem Brief ein undeutlich geschriebenes Wort entziffert […] ja, die Erfassung der Werkform, der ›Structur des Ganzen‹ […], ist in der Kunst nur durch die Leistung der Phantasie möglich«.4 Scholtz sieht zutreffend eine Technik am Werk, wo Gadamer metaphysischen Tiefsinn vermutet. Dies entspricht in der Tat dem systematischen Status, den die Hermeneutik bei Schlei­ er­macher hat: sie ist eine technische, an die Ethik anschließende Disziplin, deren psychologischer Teil (im Unterschied zum grammatischen) von Schlei­er­macher auch als technischer Teil bezeichnet wird. Ich werde im Folgenden zunächst die Verwendungsweisen des Begriffs der Divination in Schlei­er­machers Hermeneutik kurz beleuchten @ und dann auf die historischen und systematischen Kontexte dieses Begriffs eingehen #. Es wird sich zeigen, dass Schlei­er­ macher keineswegs in eine schlechte Metaphysik abgleitet, sondern ein Verfahren reflektiert, das unverzichtbar gerade zum historischen Verstehen gehört. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, 193. Das zweite Zitat ist in der KGA nicht identifizierbar; vgl. Schlei­er­macher, Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, hg. v. Friedrich Lücke, Berlin 1838 (Schlei­er­macher, Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 7), 146 f. 3 Gadamer, Wahrheit und Methode, 193. 4 Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schlei­e r­machers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, 116; das Zitat aus Schlei­er­ macher, Hermeneutik und Kritik, 256. 2 Hans-Georg

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   Der Begriff des Divinierens taucht erstmals im Zusammen2

hang mit der »Anwendung der Kenntniß der Eigentümlichkeit des Schriftstellers auf die Interpretation« im ersten Entwurf von 1805 auf, und zwar geht es hier um die Nebenvorstellungen des Schriftstellers, die »nie von Anfang herein nach Auswahl und Art zu erra­ then« seien, da sie auch beim Schriftsteller erst »successive angeregt« würden (KGA II/4, 67). Das Divinieren, das diese »Nebenabsichten« zu erschließen suche, müsse den Charakter des Schriftstellers auf dessen Kenntnisse und persönlichen Umstände beziehen, sich dabei aber »auf das nächste erstrekken« (ebd.). Dies ist offenbar als Warnung gerade an eine überschwängliche Einfühlungshermeneutik zu verstehen. Schlei­er­macher weist hier übrigens auch darauf hin, dass das Divinieren nicht die Eigenart einer wissenschaftlich begründeten Auseinandersetzung mit Texten, sondern im »gemeinen Leben […] weit gewöhnlicher« sei, aber »doch in mancher Hinsicht schwerer« (ebd.). Schlei­er­macher zielt offenbar darauf, dass wir im alltäglichen Leben Nebenabsichten einer Person weit eher nach ersten, in der Regel unzureichenden Eindrücken über deren Charakter und Umstände bestimmen, während im Umgang mit Texten die Grundlagen des Divinierens kritisch zu bestimmen sind. Dies weist bereits auf eine Eigenart des divinatorischen Verfahrens hin: Es ist zwar für sich genommen kein nach wissenschaftlichen Regeln durchkalkulierbares Verfahren, aber es ist deswegen nicht irrational oder der Wissenschaft entgegengesetzt. Die divinatorische Methode ist damit, wie bereits erwähnt, Bestandteil der technischen Interpretation, die es im Unterschied zur grammatischen mehr mit der subjektiven Seite der Interpretation zu tun hat (und daher auch als psychologische Interpretation bezeichnet wird). Schlei­er­macher unterscheidet hier das »comparative« vom »divinatorischen« Verfahren, »welche aber« – so fügt er hinzu – »wie sie aufeinander zurükweisen auch nicht dürfen voneinander getrennt werden« (KGA II/4, 157). Betrachten wir zunächst das komparative Verfahren. Nach Schlei­er­macher sucht es das Besondere zum Allgemeinen durch Vergleich der unter das (zu verstehende) Allgemeine gefassten Eigentümlichkeiten. Hiermit ist das Verhältnis des Ganzen und der Teile angesprochen. Da das Ganze hier nicht als ein Aggregat, sondern als eine organische Totalität Hermeneutik und Einbildungskraft | 245

angesehen wird, in der Ganzes und Teile sich wechselseitig bedingen, tritt das Mangelhafte der komparativen Methode sofort hervor. Sie »gewährt keine Einheit; das allgemeine und besondre müssen einander durchdringen und dies geschieht immer nur durch die Divination« (KGA II/4, 158). Hier wird eine zentrale Leistung des Divinatorischen angesprochen, das Synthetisieren der Elemente zu einer Totalität. Diese synthetische Leistung kommt mit dem überein, was seit Kant die Funktion der reinen produktiven Einbildungskraft ist. Ich komme darauf zurück. Im vorliegenden Fall – ich habe aus Schlei­er­machers Manuskript von 1819 zitiert – ist von Bedeutung, dass mit der Totalität – das »Allgemeine« des komparativen Verfahrens – die Individualtät des Urhebers einer Rede oder Schrift gemeint ist, also die Subjektivität des Autors. Es wäre m.E. jedoch einseitig und falsch, das divinatorische Verfahren allein auf diese Totalität zu beziehen, die vielmehr nur einen, wenn auch für Schlei­er­macher sicher ausgezeichneten Fall von Ganzheit unter denen darstellt, die in der Hermeneutik eine Rolle spielen. Die divinatorische Methode – und diese Bestimmung hat Gadamer in den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung gestellt – »ist die welche indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das individuelle unmittelbar aufzufassen sucht« (KGA II/4, 157). Diese unmittelbare Anverwandlung der Individualität eines Anderen sei, wir haben das schon von Gadamer gehört, dadurch möglich, dass jeder Mensch dadurch, dass er selbst ein Individuum ist, empfänglich für fremde Individualität sei und diese im Vergleich mit sich selbst sich erschließen könne. Das ist mit Sicherheit problematisch. Gadamer ist zunächst darin Recht zu geben, dass Schlei­er­macher die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs zur Individualität des Autors letztlich durch die weitergehende, hier allerdings nicht angesprochene, Annahme begründet, Alles sei Individuation eines Allgemeinen – des Universums oder des einigen, relationslosen »Seins« – und dadurch, ungeachtet aller Eigentümlichkeiten, im Kern miteinander identisch. Ob diese Annahme, die auf eine systematische Einheit der »Welt« als einer organischen Totalität zielt und ein Ganzes an die Stelle des einzelwissenschaftlich fragmentierten, durch Arbeitsteilung erworbenen Wissens setzt, auf schlechter Metaphysik beruht, möchte ich hier nicht im Detail erörtern. Nur so viel sei angemerkt: das 246 | Hermeneutik 

Totalisieren oder, wie Novalis es nennt, das »Verganzen«, hat mit Sicherheit auch eine eminent kritische Funktion gegenüber den Bornierungen arbeitsteilig betriebener und gegeneinander verselbständigter Spezialdisziplinen. Um solche weitergehenden Fragen nach den Chancen und Grenzen der Konstruktion von systematischen Einheiten geht es aber bei den angeführten Zitaten gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass wir, nach Schlei­er­machers Auffassung, intuitiv wissen, was eine Individualität ist, und daher – gemäß dem alten Satz, nur Gleiches könne Gleiches erkennen – auch eine fremde Individualität erfassen können. Ob diese Intuition und mit ihr das Sich-Hineinversetzen in die fremde Individualität schlechthin unmittelbar ist, wie Schlei­er­ macher behauptet, möchte ich jedoch bezweifeln. Dass wir mit uns schon immer in der Weise vertraut sind, dass wir uns als Individuum verstehen und von daher auch Anderen Individualität zuschreiben, könnte genauso gut (und nach meiner Auffassung besser) als eingeschliffene Erfahrung und damit als vermittelte Unmittelbarkeit erklärt werden. Dass die divinatorische Synthesis selbst, jenseits dieser Voraussetzung, Unmittelbarkeitscharakter habe, dementiert Schlei­er­macher selbst eigentlich dadurch, dass er das Sich-Hineinversetzen in den Anderen als Komparation des Fremden mit sich selbst versteht. Hierin realisiert sich die wechselseitige Bedingtheit und Durchdringung von Komparation und Divination. Keineswegs steht die Komparation erst, wie Schlei­er­macher dies an einer Stelle nahe zu legen scheint, am Ende des Verfahrens, wenn die Divination »ihre Sicherheit erst durch die bestätigende Vergleichung« erhält, »weil sie ohne dieses immer fantastisch sein kann« (KGA II/4, 158). Was Schlei­er­macher hier gegen den möglichen Überschwang des Divinierens einschärft, wäre dem divinatorischen Verfahren von Anfang an eingeschrieben, wenn es nicht durch die Behauptung einer Unmittelbarkeit belastet wäre. Das divinatorische Vermögen, so hatten wir gesehen, ist wesentlich ein Vermögen, das auf die synthetische Einheit eines Ganzen, also die Einheit eines Mannigfaltigen, gerichtet ist. Einer der in den Vorlesungen erörterten Fälle betrifft dann auch die Ergänzung einer Gedankenreihe auf ihre zukünftige Entwicklung hin: »Hat einer das Talent, sich in die GedankenWeise eines Einzelnen hineinzubilden, so wird daraus ein divinatorisches Vermögen, wenn man den GeHermeneutik und Einbildungskraft | 247

dankenGang bis auf einen Punkt kennt, den künftigen GedankenGang zu ahnen.« (KGA II/4, 369; Kolleg 1826/27) Auf dieser Basis kann Schlei­er­macher in seinem Manuskript von 1819 »prophetisch« und »divinatorisch« synonym gebrauchen.5 Damit ist, über den eben zitierten Zusammenhang hinaus, eine wesentliche Dimension des von Schlei­er­macher vorgefundenen Bedeutungsfeldes von »Divination« angesprochen, nämlich ihr geschichtsphilosophischer Kontext. »Divination« – ich komme darauf zurück – hat etwas zu tun mit dem, was Kant wahrsagende Geschichtsschreibung nennt, also mit der Extrapolation der Tendenzen künftiger Entwicklung aus dem Gegebenen. Das Verhältnis des Geschichtlichen und Divinatorischen wird in Schlei­er­machers Vorlesungen – hier dem Kolleg 1826/27 in der Nachschrift Braune – ebenfalls angesprochen. Das Geschichtliche, so erfahren wir hier, sei »das Rückwärtsgekehrte«, das Divinatorische »das VorwärtsGekehrte« (KGA II/4, 486 f.). Wie aber das Kombinatorische und Divinatorische aufeinander verweisen und nur zusammen bestehen können, so auch das Geschichtliche und Divinatorische. Die Blickrichtung, die Schlei­er­macher zur Unterscheidung anführt, enthält ja auch zumindest den versteckten Hinweis auf Friedrich Schlegels bekanntes Athenaeum-Fragment »Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet« (KFSA 2, 176, Nr. 80). Das meint: auch der Historiker braucht die »Sehergabe«, um aus den Fragmenten der Überlieferung ein genetisches Ganzes zu bilden, das das Jetzt aus dem erklärt, was gewesen ist. Ein »reines Ineinander des geschichtlichen und divinatorischen« ist jedoch für Schlei­er­macher die Ausnahme (KGA II/4, 490). Generell gilt für Schlei­er­macher: »Das Wirkliche aus dem Möglichen zu finden ist die divination« (KGA II/4, 609). Sie ist die Fähigkeit, ein Ganzes aus den gegebenen mannigfaltigen Elementen zu bilden und diese wiederum aus dem Ganzen zu erklären. In diesem zweiten Schritt, wenn das Einzelne als enthalten im Allgemeinen gedacht wird, vollendet sich zugleich das Geschäft der Kombination, die aber für sich allein genommen unfähig ist, ein organisches Ganzes zu konstituieren. Die Diviniation ist damit wesentlich Moment eines totalisierenden Verfahrens. Dass Schlei­er­macher sie als 5 Vgl.

KGA II/4, 128, Textapparat zu Zeile 21.

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Unmittelbarkeitsfigur modelliert, hat daher offenbar damit zu tun, dass er den Bezug auf die vorausgesetzte unmittelbare Einheit generell als unmittelbares Innewerden des Ganzen ansieht, so z. B. in den Reden über die Religion Gefühl und Anschauung, so in der Dia­ lek­tik das unmittelbare Selbstbewusstsein. Unabhängig von dieser Unmittelbarkeitsfigur ist aber das Divinatorische in seiner Einheit mit dem kombinatorischen Verfahren rational legitimierbar als Methode des Totalisierens. Ich breche die Rekonstruktion der Verwendungsweisen des Begriffs der »Divination« in der Hermeneutik hier ab, obwohl ich keineswegs bereits alle Details erschöpft habe. Es kam mir aber vor allem darauf an, dem Konzept der Divination gegen den Anschein einer fragwürdigen Metaphysik und eines rational nicht kontrollierten Verfahrens einen rational ausweisbaren Sinn zuzusprechen. Dabei wurden systematische Voraussetzungen und Kontexte angesprochen, denen ich mich jetzt ausdrücklich zuwende.    Eine Begriffsgeschichte von »Divination« bzw. »divinieren« 3

scheint, soweit ich sehen kann, noch nicht geschrieben zu sein.6 Von allen Autoren, von denen Schlei­er­macher sich bei seiner Verwendungsweise des Begriffs mutmaßlich hat inspirieren lassen, ist an erster Stelle sein Freund und langjähriger Weggefährte Friedrich Schlegel zu nennen. Für Schlegel ist die Divination eine auch in Bezug auf die Geschichte im Ganzen zu vollziehende Totalisation, ein Totalisieren, das dem poetischen Gesetz der Einbildungskraft folgt. So heißt es zum Schluss der programmatischen Rede über die Mythologie im Gespräch über die Poesie: »Alles Denken ist ein Divinieren, aber der Mensch fängt erst eben an, sich seiner divinatorischen Kraft bewußt zu werden. Welche unermeßliche Erweiterungen wird sie noch erfahren; und eben jetzt. Mich däucht wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der goldnen Zeit die noch kommen wird, entsprechende Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 272 f. geht auf die philosophische und hermeneutische Bedeutung des Begriffs überhaupt nicht ein und bleibt völlig unbefriedigend. 6 Der

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zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne. Dieses ist es, was ich mit der neuen Mythologie meine.« (KFSA 2, 322) Die »neue Mythologie« hat genau diese Aufgabe, eine poetische Verganzung gegen das fragmentierte Wissen zu stellen. Hierin kommt sie mit Friedrich Schlegels transzendentalphilosophischer Dia­lek­tik überein, die auf eine systematische Einheit der geschichtlich konstituierten und sich entwickelnden »Welt« zielt, diese aber auch immer verfehlt, weil sie – als sich entwickelnd – abschließend nicht zu bestimmen ist. Die poetische Synthesis der »Neuen Mythologie« – die Divination – ist daher Komplement der Dia­lek­tik, die auf der begrifflichen Ebene operiert und deren – im Letzten immer wieder scheiternden – Bezug zur Totalität reflektiert. Nur nebenbei sei bemerkt, dass die Auffassung der Dia­lek­tik als Ausgreifen auf die Totalität den modernen, Kantischen Typus von Dia­lek­tik bezeichnet und auch Schlei­er­macher in seiner Dia­lek­tik, die ja im Hintergrund auch seiner Hermeneutik steht,7 sich dieser Auffassung anschließt. Das Divinatorische steht damit in einem systematischen Zusammenhang mit den dialektischen Verfahren, ein Zusammenhang, der bisher in der Literatur, soweit ich sehen kann, noch nicht ausgeleuchtet wurde. In Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie (KFSA 16, 35– 81), seiner Theorie der Hermeneutik und Kritik, spielt übrigens der Begriff des Divinatorischen gar keine Rolle. Dies dürfte daran liegen, dass Schlegel den hermeneutisch-kritischen Prozess, der beim historisch bedingten Einzelnen einsetzt und von ihm aus das geschichtliche Ganze erfasst, als eine »Totalisazion von unten herauf« (KFSA 16, 68) ansieht. Indem mit kritischen Verfahren die historischen Bedingungen des Verstehensprozesses ins Spiel kommen, erweitert sich der Prozess schrittweise zu einer Enzyklopädie, welche die Geschichte überhaupt zum Gegenstand hat. Die »vollendete, absolute Philologie«, wie Schlegel sie nennt, »annihilirt« (KFSA 16, 38) sich schließlich selbst und geht in Philosophie über, d. h. in die transzendentalphilosophische Dia­lek­tik. Eine solche »Totalisation von unten herauf« (die stark empiristische Züge trägt), ist Schleier­­ 7 Vgl

Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 299 ff.

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macher fremd. Für ihn ist das Ganze ein Voraus- und Zugrunde­ liegendes, das als ein Ganzes nur einer unmittelbaren Erfassung zugänglich ist. Für Schlegel sind dagegen sowohl die poetische Einbildungskraft, die Divination, als auch die dialektische Konstruktion der Totalität Reflexions-, nicht Unmittelbarkeitsfiguren. Nun hat die Divination unter den Zeitgenossen Schlegels und Schlei­er­machers meist keinen guten Ruf. Wilhelm Traugott Krug definiert sie noch 1838 in seinem Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften wie folgt: »Divination […] etwas nach göttlicher Weise voraussehn, entweder vermöge unmittelbarer göttlicher Eingebung, oder vermöge gewisser Zeichen, die man als göttliche Andeutungen betrachtet, sie wenigstens so auslegt; wobei denn natürlich eine Menge willkürlicher Voraussetzungen gemacht werden, in welche sich theils das Spiel der Einbildungskraft theils die Kunst der Betrügerei mischt.«8 Divination ist demnach, kurz gesagt, wenn es der Herr den Seinen im Schlaf gibt, sofern nicht – was ein aufgeklärter Geist immer unterstellen wird  – Betrug im Spiel ist. Indessen hatte bereits Immanuel Kant den Begriff des Divinatorischen aus seiner Engführung befreit. In seiner An­thro­po­lo­gie handelt er unter dem Titel »Von dem Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und Künftigen durch die Einbildungskraft« eben auch vom (rückwärts gerichteten) Erinnerungs- und dem auf die Zukunft gerichteten Divinationsvermögen; Schlei­er­machers Charakteristik des Geschichtlichen und Divinatorischen ist hier vorgebildet, und es ist zu betonen, dass Kant beides unter den Titel der Einbildungskraft stellt.9 So prekär für Kant auch das divinatorische Vermögen sein mag, so hat es doch außerordentliche Bedeutung, »weil es die Bedingung aller möglichen Praxis und der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner Kräfte bezieht«.10 Als Form der Einbildungskraft stellt sie Zukünftiges durch eine Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit vor, indem sie »das, was nicht mehr ist, mit dem, was noch nicht ist, durch das, was gegenwärTraugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 5, Leipzig 1838, 301. 9 Kant, An­thro­po­lo­g ie, AA 7, 182. 10 Ebd., 185. 8 Wilhelm

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tig ist, in einer zusammenhängenden Erfahrung« verknüpft.11 Kant, wie gesagt, bleibt hier äußerst misstrauisch, was die Verlängerung der Erfahrung in die Zukunft angeht, er hat sich dem aber auch nicht entziehen können. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden hatte Kant die Idee einer Naturabsicht bemüht, um den dadurch bezeichneten weltbürgerlichen Zustand zwar nicht zu weissagen  – dafür gebe es keine Sicherheit –, es uns aber doch zur Pflicht zu machen, »zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten«.12 Friedrich Schlegel hatte dies für ungenügend erklärt und in seinem Republikanismus-Aufsatz – ganz gemäß seiner Auffassung der Divination – eine Antwort darauf gefordert, durch welche Gesetze und empirischen Fakten der geschichtliche Fortschritt als gewährleistet angesehen werden könne.13 Kant reagierte hierauf im Streit der Fakultäten und gab Schlegel darin Recht, dass man »Daten«, »Erfahrungen« und »Begebenheiten« finden müsse, welche sowohl auf eine Ursache des Fortschritts »hinweisen« als auch auf die wahrscheinlichen Wirkungen dieser Kausalität in der Geschichte, also nach empirischen »Zeichen« für den Fortschritt suchen müsse.14 Eine solche Erfahrung, an welche eine »wahrsagende Geschichte des Menschengeschlechts angeknüpft werden« könne, nennt Kant ein »Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon)«. Ein solches Geschichtszeichen sei der Enthusiasmus der Beobachter der Französischen Revolution. Schlei­er­macher hält sich sowohl zu Schlegels Versuch einer Totalisierung der Geschichte im Medium einer neuen Mythologie als auch zu Kants Zugeständnissen an eine prognostische Geschichtsschreibung auf Distanz. Das Divinatorische ist ihm in einer im engeren Sinne geschichtstheoretischen Perspektive nicht von Bedeutung. Er berührt diese Problematik nur in der Hinsicht, dass die Bildung eines Autors und die Umstände, unter denen er schreibt, eine Prognose darüber erlauben können, in welche Richtung seine Gedankenentwicklung sich fortsetzt und dadurch auch 11 Ebd.,

182. AA 9, 226 f. 13 Vgl. Andreas Arndt, »Geschichtszeichen«. Perspektiven einer Kontro­ verse zwischen Kant und F. Schlegel, in: Hegel-Jahrbuch 1995, Berlin 1996, 152–159. 14 Kant, AA 9, 356 f. 12 Kant,

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Überlieferungslücken geschlossen und Korruptelen am Text aufgespürt werden können. Eine solche Divination bezieht sich auf einen vergleichsweise bescheidenen Bereich und ist zudem durch die Rückbindung an kombinatorische Verfahren gegenüber einem Selbstlauf der Phantasie abgesichert. Dass aber auch dies nicht immer schützt, musste Schlei­er­macher selbst erfahren, der mit seinen hermeneutischen Annahmen bei der Bestimmung der Abfolge der Platonischen Dialoge, wie Wolfgang Virmond gezeigt hat, gründlich danebengriff und von der historisch-philologischen Forschung zu Recht kritisiert wurde.15 Die eigentliche Leistung der Divination scheint bei Schlei­er­ macher in der generellen Funktion der Synthesis des Mannigfaltigen zu einem organischen Ganzen zu bestehen. Hier schließt er sich offenkundig an Kant an, der die Einbildungskraft dadurch aufgewertet hatte, dass er ihr als reine, produktive Einbildungskraft eine ursprüngliche synthetische Funktion vor aller begrifflichen Bestimmung der Einheit zuschrieb: »Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschaffet.«16 Die reine Einbildungskraft, so heißt es in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, sei »ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntniß a priori zum Grunde liegt. Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits mit der Bedingung der nothwendigen Einheit der reinen Apperception andererseits in Verbindung. Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transcendentalen Function der Einbildungskraft nothwendig zusammenhängen«.17 15 Wolfgang Virmond, Der

fiktive Autor. Schlei­er­machers technische Interpretation der platonischen Dialoge (1804) als Vorstufe seiner Hallenser Hermeneutik (1805), in: Archivio di Filosofia 52, 1984, 225–232. 16 KrV B, AA 3, 117. 17 KrV A, AA 4, 91. Hermeneutik und Einbildungskraft | 253

Schlei­er­machers Einsatz dieser synthetisierendenden bzw. totalisierenden Funktion der Einbildungskraft qua Divination erfolgt nun aber nicht im Bereich einer transzendentalphilosophischen Fundamentalphilosophie  – das wäre die Dia­lek­tik  –, sondern im Bereich einer technischen Disziplin, der Hermeneutik. Entsprechend zugeschnitten ist auch das, was hier als Totalität in den Blick kommt: die Einheit des Autors bzw. des Werks. Das ist weniger als das, was Schlegels Neue Mythologie umspannen wollte, und es ist nüchterner als das, was Niebuhr, Ranke und Droysen als Divination in den Historismus einführten, ein Verfahren, das letztlich – so bei Ranke – dazu beitragen sollte, Geschichte aus der Perspektive Gottes wahrzunehmen, in der Alles gleich unmittelbar zu Gott sei. Aber auch unbelastet von solchen, nun in der Tat schlecht-metaphysischen Annahmen bleibt das Geschäft der Divination eine riskante Technik. Schlei­er­macher wusste darum und ist diesen Risiken z. T. auch erlegen. Aber wer darf auch im unendlichen Geschäft des Verstehens absolute Sicherheit erwarten? Ohne das Spiel der Einbildungskraft, auch der divinatorischen, würde es die Interpretation wohl kaum über Wortregister hinausbringen.

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TEIL VI AN­T HRO­P O­L O­G IE UND ­P SYCHOLOGIE

Zwischen Natur und Vernunft Zur systematischen Stellung der An­thro­po­lo­gie bei Schlei­er­macher »An­thro­po­lo­gie« ist bei Schlei­er­macher kein prominenter Begriff; eine entsprechende Disziplin wird gelegentlich erwähnt – am häufigsten in den Vorlesungen über die Psychologie – jedoch hat Schlei­er­ macher sie nicht als solche explizit bearbeitet und sogar gemutmaßt, sie sei auch noch keiner Bearbeitung fähig. Ist also von einer Leerstelle die Rede, wenn nach der systematischen Stellung und Bedeutung der An­thro­po­lo­gie bei Schlei­er­macher gefragt wird? Oder darf man sich gar nicht an diesen Begriff halten, sondern sollte einfach alles, was mit dem menschlichen Wesen und der menschlichen Natur im weitesten Sinne zu tun hat, der An­thro­po­lo­gie zuschlagen? Das ließe sich auf den ersten Blick dadurch rechtfertigen, dass der Begriff der An­thro­po­lo­gie im Allgemeinen ohnehin stark variiert. Eine wissenschaftliche Disziplin »An­thro­po­lo­gie« gibt es, mit ganz unterschiedlichen Methoden und Zielsetzungen, in mehreren besonderen Wissenschaften (Naturwissenschaften einschließlich Medizin, Sozial­wissenschaften, Kulturwissenschaften, Rechtswissenschaften) und in Theologie und Philosophie. Ein gemeinsamer Nenner ist dabei nicht immer zu erkennen. In der Philosophie ist die Rede von »An­thro­po­lo­gie« noch weniger trennscharf, denn alles, was die Philosophie zu sagen hat, zielt ja seit jeher auf eine Selbstvergewisserung des Menschen in der »Welt«, das Γνῶθι σαυτόν, wie es über dem Apollon-Tempel in Delphi stand. Von dorther konnte auch die These vertreten werden, philosophische An­thro­po­lo­gie habe es  – wenn auch nicht unter diesem Namen – schon immer gegeben, während andere sie im eigentlichen Sinne erst dem postmetaphysischen Denken nach der Klassischen Deutschen Philosophie zuschreiben.1 Odo Marquard, An­thro­po­lo­g ie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 1, Darmstadt 1971, 362–374; ders., Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »An­thro­po­lo­g ie« seit dem Ende des 1 Vgl.

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Diese Sichtweise wurde jüngst von Ernst Tugendhat griffig formuliert: An­thro­po­lo­gie statt Metaphysik.2 Nun unterliegt es keinem Zweifel, dass Schlei­er­machers Verständnis von »An­thro­po­lo­gie« sich weder auf die eine noch auf die andere Weise sinnvoll bestimmen lässt. Um mit Letzterem anzufangen: Zwar spielt Schlei­er­macher in der anthropologischen Wende im Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie bei Feuerbach eine nicht zu unterschätzende Rolle,3 jedoch hat er selbst eine solche Wende nie und schon gar nicht in antimetaphysischer Absicht vollzogen. Seine Position ist zwar im Anschluss an Kant metaphysikkritisch, zielt jedoch im Ergebnis auf eine transzendental begründete Einheit von Logik und Metaphysik.4 Und auf der anderen Seite ist Philosophie für Schlei­er­macher nicht je schon immer An­ thro­po­lo­gie, auch wenn sie ihre Gegenstände aus der menschlichen Perspektive thematisiert; vielmehr gebraucht er »An­thro­po­lo­gie« zur Bezeichnung einer von ihm selbst nicht im Ganzen bearbeiteten Unterdisziplin und grenzt sie dabei von anderen Disziplinen ab. Im Folgenden möchte ich zunächst diesem spezifischen Verständnis von An­thro­po­lo­gie bei Schlei­er­macher nachgehen, indem ich zeige, welche systematischen Schwierigkeiten Schlei­er­macher in der Herausbildung eines An­thro­po­lo­gie-Konzepts zu lösen hat !. Zweitens möchte ich dann, ausgehend von der Psychologie, das An­thro­po­lo­gie-Konzept seit 1818 rekonstruieren @ und schließlich danach fragen, was dieses Konzept für Schlei­er­machers Philosophie insgesamt und ihre Stellung im zeitgenössischen Diskurs der nachkantischen Philosophie bedeutet #.    Kants An­thro­po­lo­gie in pragmatischer Hinsicht, 1798 publiziert, 1 ist nach Odo Marquards Befund der Schlüsseltext in der philosophischen Wendung zur An­thro­po­lo­gie als Theorie der Lebenswelt; ob

achtzehnten Jahrhunderts«, in: ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1982, 122–144. 2 Ernst Tugendhat, An­thro­po­lo­g ie statt Metaphysik, München 2007. 3 Vgl. Ludwig Feuerbach: Zur Beurteilung der Schrift »Das Wesen des Christentums«, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, 30. 4 Vgl. Arndt, Friedrich Schlei­e r­macher als Philosoph, 226–239. 258 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

es sich tatsächlich so verhält, mag hier dahingestellt bleiben.5 Schlei­ er­macher hat diesen Text kurz nach seinem Erscheinen studiert und hierzu 1799 im Athenaeum der Brüder Schlegel eine anonyme Rezension veröffentlicht, die zu einem einigermaßen vernichtenden Urteil kam: Kants Werk sei »vortreflich […], nicht als An­thro­po­ lo­gie, sondern als Negation aller An­thro­po­lo­gie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist« (KGA I/2, 366). Dieses Urteil zielt darauf, dass Kant, wie er in seiner Vorrede darlegt, physiologische und pragmatische An­thro­ po­lo­gie unterscheidet. Er nimmt damit nicht nur die tradi­tio­nelle Unterscheidung in der Aufklärungsphilosophie von »anthropologia physica« und »anthropologia moralis« wieder auf, sondern bekräftigt damit zugleich auch die für seine kritische Philosophie konstitutive Unterscheidung von sinnlicher (physischer) und intelligibler (moralischer) Welt.6 Insofern kann Schlei­er­macher völlig zu Recht behaupten, der von Kant aufgestellte Gegensatz gründe ganz und gar »in Kants Denkart« (ebd.). Schlei­er­machers Gegenposition, wie er sie in seiner Rezension formuliert, lässt bereits seine späteren Auffassungen erkennen. Sie basieren darauf, dass er Kants Unterscheidung von sinnlicher und intelligibler Welt grundsätzlich ablehnt7 und  – in Übereinstimmung nicht nur mit der Frühromantik, sondern mit dem mainstream der nachkantischen Philosophie – nach einer Position sucht, die beide Seiten des Gegensatzes in einer Einheit vermittelt: »alle Willkühr im Menschen ist Natur, […] alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber An­thro­po­lo­gie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existiren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung« (KGA I/2, 366). – Nur nebenbei sei an dieser Stelle festgehalten, dass in Schlei­er­machers zu seinen Lebzeiten gedruckten Schriften die Ausdrücke »An­thro­po­lo­gie«/»anthropologisch«, abgesehen von dieser Rezension, so gut wie nicht vorkommen; nur in der Glaubenslehre wird darauf hingewiesen, dass An­thro­po­lo­ Vgl. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »An­thro­po­lo­ gie«, in: ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 126 f. 6 Kant, Der Streit der Fakultäten, AA 7, 119. – Vgl. Walch, An­thro­po­lo­g ie. 7 Vgl. oben Schlei­e r­machers Auseinandersetzung mit Kant. 5

Zwischen Natur und Vernunft | 259

gie integraler Teil der Dogmatik und keine gesonderte Disziplin sei (KGA I/7, 1, 121 und KGA I/13, 1, 15). Am ausführlichsten äußert sich Schlei­er­macher in seinen Vorlesungen über die Psychologie über die An­thro­po­lo­gie, denn die Psychologie wird als »Bruchstück der An­thro­po­lo­gie« eingeordnet; ich komme hierauf gleich zurück. Diese Vorlesungen hielt Schlei­er­ macher bekanntlich seit dem Sommersemester 1818, und es ist auffällig, dass auch in seinen Vorlesungen über die philosophische Ethik, die ja vielfach den Grundriss des Systems des Wissens erörtern, die An­thro­po­lo­gie kaum ausdrücklich thematisiert wird. Erst in der vermutlich 1813 entstandenen Fassung der »Einleitung« – die von Otto Braun irrig auf 1816 datiert worden war – wird die An­thro­po­lo­ gie als Disziplin erwähnt.8 Die betreffende Stelle ist etwas kryptisch. Schlei­er­macher geht hier davon aus, dass Physik und Ethik die »Einigung des Idealen und Realen« im Endlichen »ausdrücken«, wobei die Einheit des Idealen und Realen in der jeweils anderen Disziplin vorausgesetzt, aber innerhalb der Ethik bzw. der Physik nicht erreicht wird, da es sich jeweils um besondere Disziplinen handelt. Hieraus folgert Schlei­er­macher: »Die Kunde der menschlichen Natur kann also in der Ethik nur als empirisch gegeben vorausgesezt werden, und die Ethik kann den intellectuellen Prozeß nicht so als geworden darstellen, wie die Physik ihn voraussezen muß.« Was damit gemeint ist, erhellt erst aus dem folgenden Satz: »Beide also Logik als empirische Beschreibung des intellectuellen Prozesses und An­thro­po­lo­gie als empirische Beschreibung der menschlichen Natur vermitteln den Gegensaz zwischen Physik und Ethik als beiden angehörig auf verschiedene Weise.« Leider helfen Vorlesungsnachschriften hier zum Verständnis nicht weiter, denn in der Vorlesung 1812/13, die der Niederschrift der »Einleitung« vorausgeht, kommen, wie auch in den früheren Vorlesungen, weder An­thro­po­lo­gie noch Logik vor; zu den nachfolgenden Vorlesungen 1824 und 1826 sind keine Nachschriften überliefert und in den späteren Vorlesungen (1827 und 1832) wird die An­thro­po­lo­gie nicht in dieser Weise bestimmt. Festzuhalten ist in jedem Falle, dass Schlei­er­macher nicht nur annimmt, dass sich Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 487 ff., hier: 506 – auch die folgenden Zitate –; zur Datierung vgl. Hans-Joachim Birkner, Schlei­er­macher-Studien, 216–219. 8

260 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

Physik und Ethik wechselseitig voraussetzen  – was in Halle noch im öffentlichen Symphilosophieren mit Henrich Steffens sichtbar wurde9  –, sondern dass er darüber hinaus zwei zwischen Physik und Ethik vermittelnde Disziplinen behauptet, nämlich die An­ thro­po­lo­gie als Kunde von der menschlichen Natur und die Logik als Kunde des intellektuellen Prozesses. Es handelt sich dabei um eine Präzisierung der 1805/06 in Halle vorgetragenen Position; im Brouillon zur Ethik heißt es, die Ethik sei »die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas aus der andern als positiv aufnehmen«.10 Dieses »etwas aus der andern« ist für die Ethik die An­thro­po­lo­gie als natürliches Gewordensein des Menschen und für die Physik die Logik als geschichtliches Gewordensein des intellektuellen Prozesses. Die An­thro­po­lo­gie zeigt, wie Leib und Seele, Reales und Ideales in der menschlichen Natur als Natur schon zusammen sind, und die Logik zeigt, wie das Ideale und Reale eine Einheit bilden und folglich auch die Natur im Ganzen den Denkformen entspreche. Da die Naturwissenschaft nicht Logik und die Ethik nicht Naturwissenschaft treibt, wird das jeweils Andere »positiv« oder empirisch aufgenommen. Bei näherer Betrachtung ergeben sich indes Probleme. Was das Verhältnis der Ethik zur Physik betrifft, so leuchtet auf den ersten Blick ein, dass der Mensch als Akteur des ethischen Naturbildungsprozesses – der Beseelung der Natur durch die Vernunft – im Anfang dieses Prozesses selbst als Naturwesen zur Natur ins Verhältnis gesetzt werden muss. Auf den zweiten Blick wird allerdings deutlich, dass die An­thro­po­lo­gie die angestrebte Vermittlung allein gar nicht leisten kann, weil es gar nicht nur um die menschliche Natur geht. Der ethische Prozess setzt nämlich durchgehend voraus, dass das Ideale im Realen der Naturwissenschaft schon überall mitgesetzt ist und ihm entspricht, weil sonst eine Beseelung der Natur durch die Vernunft mit dem (virtuellen) Ziel einer Identität des Idealen und Realen gar nicht möglich wäre. Vorausgesetzt wird mithin von Sarah Schmidt, Naturbegriff und Naturerkenntnis bei Steffens und Schlei­er­macher, in: System und Subversion. Friedrich Schlei­er­macher und Henrik Steffens, hg. v. Sarah Schmidt und Leon Miodonski unter Mitarbeit von Joanna Giel, Berlin und Boston 2018, 93–117. 10 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 79 f. 9 Vgl.

Zwischen Natur und Vernunft | 261

beiden Realwissenschaften, dass Ideales und Reales vollständig ineinander aufgehen. Dies gilt auch umgekehrt. Die Physik kann nur dann als Wissenschaft etabliert werden, wenn die Natur erkennbar, d. h. den Formen des Idealen zugänglich, ist. Im Grunde erfordert dies nicht eine besondere, vermittelnde Wissenschaft, sondern eine übergreifende Einheitswissenschaft, wie sie seit 1811 ja auch in Schlei­er­machers Vorlesungen über die Dia­lek­ tik konzipiert wird. Das Programm, den Gegensatz von Physik und Ethik und mit ihm zugleich den Gegensatz des Idealen und Realen zugunsten ihrer Identität zu überwinden, verfolgte Schlei­er­macher freilich schon sehr viel länger, nämlich seit der Zeit seiner philosophischen Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel in der ersten Berliner Periode. Sachlich bewegt er sich dabei, was angesichts seiner Problemstellung nur konsequent ist, in großer Nähe zu Schellings Identitätsphilosophie. Nun ist aber auch bekannt, dass Schlei­er­ macher eine eher idiosynkratisch motivierte Abneigung gegenüber Schelling pflegte, während Schelling umgekehrt Schlei­er­macher immer wieder umwarb und mit ihm kooperieren wollte. Die sachliche Nähe zu Schelling tritt in der ersten Fassung der Dia­lek­tik jedoch deutlich hervor. In dem Notizheft zur Vorlesung 1811 heißt es etwa, die Philosophie habe es »zu thun mit der Zurükführung aller Verknüpfungen aus Gegensäzen zur Indifferenz« (KGA II/10, 1, 8). Dabei versteht Schlei­er­macher die Dia­lek­tik als eine formale Philosophie, für die jedoch gilt: »Formale [allgemeine Philosophie; A.] und gemeinsames der Ethik und Physik fällt ineinander.« (ebd.) Ich will hier der Frage nicht weiter nachgehen, wieweit Schlei­ er­macher – wofür vieles spricht – in den späteren Fassungen der Dia­lek­tik die identitätsphilosophische Konzeption nur abgeschattet hat. Er hat jedoch, und dies ist meines Erachtens für sein späteres An­thro­po­lo­gie-Konzept entscheidend, im Unterschied zur ersten Vorlesung, in der »Selbstbewusstsein« gar keine systematische Rolle spielt (nicht einmal der Terminus kommt vor), in den späteren Versionen der Dia­lek­tik das Selbstbewusstsein der menschlichen Subjekte als einen singulären Einheitsort im Endlichen, genauer: als den Ort des Innewerdens der Indifferenz aller Gegensätze, herausgehoben. Von hier aus führt eine Brücke zum Verständnis des späteren An­thro­po­lo­gie-Konzepts, während die in dem Ethik-Entwurf von 1813 erwogene Vermittlung von Physik und Ethik durch die Lo262 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

gik ausschließlich in der Dia­lek­tik thematisiert wird, die, als Einheit von Logik und Metaphysik, grundsätzlich die Einheit des Idealen und Realen unter der logischen Form thematisiert. Der privilegierte Ort des Bewusstseins der Einheit des Idealen und Realen ist zunächst das reflektierte und nicht das unmittelbare Selbstbewusstsein; ich zitiere aus dem Heft zur Dia­lek­tik 1814/15:11 »Allein im Selbstbewußtsein ist uns gegeben […] daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider«; hierbei gilt, dass »die Totalität des Seins« in einer »reale[n] Beziehung […] mit der Organisation steht«, also mit der physischen Verfasstheit der Menschen, so dass sich im Denken als Wissen »die Beziehungen eines bestimmten Seins zur Organisation« richtig ausdrücken (KGA II/10, 1, 93). Das Wissen um die natürliche Vermittlung des menschlichen Seins mit der Totalität des Seins überhaupt macht dieses Sein zum privilegierten Ort der Erkenntnis der Identität von Sein und Denken überhaupt. Auf dieser Grundlage – ich übergehe hier die spezifische Form des unmittelbaren Selbstbewusstseins, weil sie in dieser Hinsicht nichts ändert – wird dann in der Psychologie nicht das Wissen um die Einheit des Idealen und Realen, aber der Totalitätsbezug des bestimmten, also des menschlichen Seins thematisiert.    Beim Blick in die vorbereitenden Notizen zur ersten Vorlesung 2

über die Psychologie wird schnell deutlich, dass der erwähnte Totalitätsbezug zentral für Schlei­er­machers Bestimmung dieser Disziplin als »Bruch (nämlich Theil der An­thro­po­lo­gie)« ist, denn sie ist auf der anderen Seite nicht nur Bruch, sondern »Unendliches (nämlich Theorie der Pflanzen Thiere Menschen Erde und Weltseelen« (KGA II/13, 7). Darin liegt offenkundig auch ein Abgrenzungsproblem: »Die Psychologie in ihrer unendlichen Ausdehnung kann Physik, Ethik und Dia­lek­tik verschlingen.« (ebd.) Das gilt ganz offenkundig nicht nur für die genannten drei Disziplinen, sondern auch für die Psychologie im Verhältnis zur An­thro­po­lo­gie insgesamt. Diese Schwierigkeit entsteht daraus, dass der Mensch als Subjekt, als Ich (also als Selbstbewusstsein) Träger derjenigen Totalitätsperspektive ist, welche die Dia­lek­tik philosophisch begründet und darlegt. Von 11 Vgl.

dazu Arndt, Die Metaphysik der Dia­lek­tik, 142 ff. Zwischen Natur und Vernunft | 263

der internen Differenz innerhalb der An­thro­po­lo­gie einmal abgesehen, welche die Psychologie zu deren Bruch macht, steht die An­thro­ po­lo­gie im Blick auf die Dia­lek­tik in einer weitgehenden systematischen Entsprechung zum reflektierten Selbstbewusstsein. Hierfür steht einerseits der Ausgangspunkt, die leibseelische Einheit, also die Einheit von Physiologie und Psychologie, welche die Psychologie voraussetzt und damit Kants Kritik an den Vorstellungen der rationalen Psychologie von einer Seelensubstanz affirmiert. Andererseits steht hierfür die Tatsache, dass die »höchste Seelenkunde« aufgrund der Einheit des Physischen und Ethischen, also der transzendentale Grund und sein Korrelat, die Idee der Welt, selbst nicht Thema der Psychologie sind, die im Blick darauf, wie Schlei­er­macher betont, nur eine »vorbereitende« Wissenschaft ist (KGA II/13, 15). Entsprechend zurückhaltend ist Schlei­er­macher auch  – bis in die letzte Vorlesung hinein – bei seinen Darlegungen zum religiösen Gefühl: »Ueber das religiöse Gefühl als das lezte und höchste auf der Seite des SelbstBewußtseins ist schwer etwas zu sagen aus dem Standpunkt einer allgemeinen psychischen Thatsache, also ohne falsches und wahres zu sondern.« (KGA II/13, 188) Ich möchte hier nicht ausführlicher auf meine bekannte Kontroverse mit Eilert Herms zum systematischen Status der Psychologie eingehen,12 aber diese Grenzziehungen machen meines Erachtens deutlich, dass im Blick auf die Psychologie von einer fundamentalen Disziplin bei Schlei­er­macher nicht die Rede sein kann. Zugleich, so scheint mir, bestätigt sich aber auch, dass sie Empirisches (An­ thro­po­lo­gie) und Spekulatives (Totalitätsbezug) vom Empirischen aus verbindet und damit durchaus als das Vierte zu Dia­lek­tik, Physik und Ethik angesehen werden kann.13 Dass Schlei­er­macher dies nicht selbst sagt, hängt offenbar damit zusammen, dass er den systematischen Ort der An­thro­po­lo­gie im System des Wissens und der Wissenschaften nie ausdrücklich bestimmt hat. Wir sind dazu auf eine Spurensuche angewiesen, die ich anhand der Psychologie und Ethik hier noch ein Stück weiter fortsetzen möchte, um ein klareres Bild zu gewinnen. Herms, Menschsein im Werden, 173–199; Arndt, Friedrich Schlei­er­ macher als Philosoph, 363–394. 13 Kritisch dazu Hermann Fischer, Friedrich Schlei­e r­m acher, München 2001, 84. 12 Vgl.

264 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

Zunächst fällt auf, dass – obwohl sie ja ein »Bruch« der An­thro­ po­lo­gie ist – eine systematische Verortung dieser Disziplin in der Psychologie gar nicht erfolgt. In allen Fassungen ist nur davon die Rede, dass An­thro­po­lo­gie Einheit von Physiologie und Psychologie ist, hier – in der Psychologie – jedoch das Interesse am Geistigen (und also die Pneumatologie) im Mittelpunkt stehe. Die vielfach variierte Begründung hierfür ist eher pragmatisch als systematisch: »Es ist nicht das rechte An­thro­po­lo­gie zu theilen in Psychologie und Physiologie, sondern An­thro­po­lo­gie muß das geistige und körperliche in jedem Moment zusammenfassen. Warum wollen wir also diese Trennung und die Psychologie isoliren? Es kann keinen vernünftigen Grund geben als um das geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht auf einer bestimten Stufe, der einzigen die uns wirklich gegeben ist anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen. Die speculativen Blike sind also der eigentliche Hauptzwek der Psychologie.« (KGA II/13, 16) In der Nachschrift zur Vorlesung 1821 heißt es hierzu, man könne sich eine Vorstellung der Seele nicht »anders als in der Identität mit dem Leibe« machen, wobei Schlei­er­macher hinzufügt: »Aber davon will diese Lehre ab­ strahiren«; dies jedoch bringe, wie er sogleich einräumt, die Schwierigkeit mit sich, dass »in dem Maaß wie [wir] von der Identität mit dem Leibe abstrahiren, unser Gegenstand keine Wissenschaft sein könne.« (KGA II/13, 477 f.) Schlei­er­macher möchte diese Schwierigkeit dadurch lösen, dass er den Prozess des Wissens und dabei vor allem der menschlichen Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt stellt, wobei er betont, dass in »ihrer Vollendung […] Physiologie und Psychologie wieder Eins werden«, was auch bedeute, auf dem Weg dorthin überall die Punkte anzugeben, »wo der Zusammenhang der geistigen Funktionen durch die leiblichen bedingt ist und umgekehrt« (KGA II/13, 482). Mit diesem Verweis auf das werdende Wissen ist zumindest die Psychologie systematisch in dem Prozess situiert, der theoretisch in der Ethik und Dia­lek­tik bearbeitet wird. Da indessen jedes Wissen – egal welcher Wissenschaft – in diesen Prozess fällt, ist über den spezifischen systematischen Status der An­thro­po­lo­gie damit noch nichts gesagt. Tatsächlich zeigt sich hier auch eine große Unsicherheit bei Schlei­er­macher selbst. In der Nachschrift zur Psychologie-Vorlesung 1830 heißt es: »Die Psychologie bleibt allein auf dem menschlichen Zwischen Natur und Vernunft | 265

Gebiete, ohne eine Fortsetzung nach unten hin zu haben, wie die Physiologie.« (KGA II/13, 630) Hierzu ist zweierlei anzumerken. Einmal ist es keineswegs selbstverständlich, dass das Psychische auf das menschliche Gebiet beschränkt sein soll. Schlei­er­macher geht, im Unterschied zu anderen Zeitgenossen, entschieden davon aus, dass es auf diesem Gebiet keinen Übergangsbereich zwischen Mensch und Tier gibt: »Das Interesse unserer Aufgabe treibt uns also zu der Ansicht, daß alles im Menschen menschlich sei, und also daß wir die Differenz zwischen Mensch und Thier auf allen Punkten also als eine unendliche sezen müssen, und menschliches und thierisches nur in ihrer Differenz vollkommen verstehn können.« (KGA II/13, 22) Nur unter dieser Voraussetzung erschließt sich die Behauptung, mit dem Psychischen bleibe man ganz auf menschlichem Gebiet. Im Unterschied dazu erkennt Schlei­er­macher einen physiologischen Übergangsbereich zwischen Tier und Mensch an. Für die An­thro­po­lo­gie ist aber, nach seinem eigenen Bekunden, die physiologische Seite unverzichtbar. Die Seelentätigkeit steht daher, wiewohl sie im strengen Sinne nur dem Menschen zukommt, auch in Verbindung mit dem Tierischen auf der physiologischen Seite, wodurch das Tierische zugleich »ein menschliches wird« (KGA II/13, 23). In der Konsequenz dieser Auffassung wären nicht nur An­thro­po­lo­gie und Psychologie identisch, weil nur die menschlich beseelte Physis auch menschlich wäre, sondern die An­thro­po­lo­ gie hätte auch ihre vermittelnde Funktion im Übergang zwischen Physik und Ethik verloren, weil die Seelentätigkeit unvermittelt am Anfang des ethischen Prozesses gesetzt wäre. Auf dieser Grundlage erfolgt dann in den späten Ethik-Vorlesungen eine Verortung der An­thro­po­lo­gie. In der Nachschrift zur Vorlesung 1827 lesen wir, An­thro­po­lo­gie sei »die Analyse des Allen zum Grunde Liegenden von dem Seyn der Vernunft in der Natur«,14 d. h., erst mit dem Auftreten des Menschen kommt – woher auch immer – der Einschlag der Vernunft. In diesem Punkt bleibt Schlei­er­macher bewusst unbestimmt, denn, so erfahren wir weiter: »Eben deshalb, weil die Naturwissenschaft und die An­thro­po­lo­gie noch im Werden begriffen sind, können wir nicht auf den Zusammenhang der Wissenschaft, sondern auf Einzelnes, wie wir es zu besonderen Momen14

Schlei­er­macher, Ethik 1827, anonyme Nachschrift, 168.

266 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

ten der Voraussetzung brauchen, zurückgehen.«15 Diese Auskunft ist schon deshalb wenig überzeugend, weil die Wissenschaften – bis hin zur obersten Wissenschaft, der Dia­lek­tik – für Schlei­er­macher grundsätzlich immer im Werden begriffen sind, da die Vollendung der Wissenschaft erst dann erreicht wäre, wenn die Idee der Welt realisiert wäre, die jedoch im strikten Sinne transzendental ist. Viel näherliegender ist die Vermutung, dass Schlei­er­macher hier deshalb ausweicht, weil er nur über die Erkenntnis besonderer Momente der Naturwissenschaften verfügt und die entsprechende Literatur nur sehr eingeschränkt zur Kenntnis genommen hat. Um nur einige wenige Standardwerke zu nennen: Autenrieths Physiologie, Blumenbachs Naturgeschichte, Cuvier, Lamarck – nichts davon scheint er aus erster Hand zu kennen.16 Das Fehlen einer Naturphilosophie, für die er sich in Halle auf Steffens berufen hatte und für die er in seinen Berliner Vorlesungen keinen wirklichen Anknüpfungspunkt fand, zeigt hier seine Wirkungen. Eigentlich, so Schlei­er­macher, müsse man für die Ethik die »Kenntniß der menschlichen Natur voraussetzen, so auch die der ganzen Natur«, jedoch könne »die Ethik nicht warten, bis die Naturkunde durch die Naturwissenschaft ganz zur wissenschaftlichen Dignität erhoben ist«, so dass hier selektiv zu verfahren sei, wobei jedoch »ein anderes Verhältniß ist des Gebrauchs, den wir von der An­thro­po­lo­gie, und dessen, dem wir von der Kenntniß der äußeren Natur machen«; die An­thro­po­lo­gie sei nämlich »der ursprüngliche Ort der Vernunft in der Gesammtheit der menschlichen Natur«, an dem wir »das Zusammenkommen der verschiedenen Functionen vor uns haben, dagegen die äußere Natur sich mehr vereinzelt an die einzelnen Theile unserer Aufgabe anknüpft, doch ist der Unterschied nur einer des Mehr oder Minder«.17 Nach dieser Erklärung findet die An­thro­po­lo­gie dort ihren Ort, wo die verschiedenen Funktionen der Vernunfttätigkeit in Bezug auf die Natur ihren empirischen Ursprung haben. Sie beschreibt den ausgezeichneten Ort der Vermittlung von Natur und Vernunft, Idealem und Realem – 15 Ebd.,

211. vergleiche etwa das Literaturverzeichnis zu Hegels Psychologie, der Philosophie des subjektiven Geistes (GW 25, 3, 1611 ff.) mit dem der Schlei­ er­macherschen Psychologie (KGA II/13, 1050 ff.). 17 Schlei­er­macher, Ethik 1827, anonyme Nachschrift, 170 f. 16 Man

Zwischen Natur und Vernunft | 267

aber nicht der Disziplinen Physik und Ethik untereinander, sondern von Seiten der wissenschaftlich konstituierten Ethik aus.    Die An­thro­po­lo­gie bleibt bei Schlei­er­macher eine irrlichtern3

de Disziplin. Sie ist unausgearbeitet und es bleibt unklar, ob sie überhaupt mehr wäre als das, was die Psychologie als angeblicher »Bruch« der An­thro­po­lo­gie zu sagen hat. Fest steht, dass sie den Anfangspunkt des Naturbildungsprozesses darstellt, wie er in der Ethik thematisiert wird, wobei dieser Anfangspunkt eine reflexive Selbstvergewisserung des Menschen hinsichtlich seiner grundlegen­ den organischen und intellektuellen Funktionen und seines Totalitätsbezugs einschließt. Deutlich wird auch, dass die An­thro­po­lo­gie keine Basiswissenschaft in dem Sinne ist, wie sie sich im 19. Jahrhundert als Alternative zur Metaphysik herausbildet. Die An­thro­ po­lo­gie ist bei Schlei­er­macher vielmehr in den spekulativen Fundamenten seines Wissenschaftssystems verankert, wie schon daran deutlich wird, dass ihre fehlende realwissenschaftliche Vollendung durch den Vorgriff auf die spekulativ begründete Einheit des Physischen und Ethischen soll kompensiert werden können. Welche Stellung nimmt Schlei­er­machers Konzeption von An­ thro­po­lo­gie dann im philosophischen Diskurs ein? Offenkundig folgt Schlei­er­macher auch nicht der sogenannten »romantischen An­thro­po­lo­gie«, wie sie gewöhnlich mit Schellings Naturphilosophie in Verbindung gebracht wird, denn diese führt in der Verfolgung der Frage, was die Natur aus dem Menschen macht, zu einer Aufwertung der physiologischen An­thro­po­lo­gie, die Schlei­ er­macher, wie gezeigt, marginalisiert und im Blick auf die Ethik vernachlässigen zu können meint.18 Trotz der sachlichen Übereinstimmungen mit Schelling in der identitätsphilosophischen Kon­ struk­tion des Systems gibt es hier keine Übereinstimmung. Vielmehr zeigt sich auf dem Boden der nachkantischen Philosophie hinsichtlich der An­thro­po­lo­gie bzw. Psychologie einmal mehr die größere Nähe zu Hegel,19 dessen Philosophie des subjektiven Geistes ja ebenfalls als An­thro­po­lo­gie bzw. Psychologie firmiert. Diese

Vgl. Odo Marquard, An­thro­po­lo­gie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 362–374, hier: 366 f. 19 Vgl. unten Schlei­e r­machers Psychologie – eine Philosophie des subjektiven Geistes? 18

268 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

((darstellt – wg. 3x »bildet/bildung« im Absatz))

Nähe ergibt sich daraus, dass Hegel einen vergleichbaren Startpunkt im Blick auf das Verhältnis des Geistes (bei Schlei­er­macher: der Vernunft) zur Natur annimmt. Für Hegel ist die Seele zunächst noch in ihrer »unmittelbaren Naturbestimmtheit« befangen als »die nur seyende, natürliche Seele« (GW 20, 390, § 390).20 Von hier aus wird über die Empfindung eine komplexe psychische Struktur entwickelt, die  – wie bei Schlei­er­ macher – als leiblich-seelische Einheit konzipiert ist. Hierbei unterscheidet Hegel äußere und innere Empfindung so, dass die äußere von der Seele verinnerlicht oder erinnert wird, während die innere die Bestimmtheiten des Geistes verleiblicht (GW 20, 398 f., § 401). Der Hauptunterschied zu Schlei­er­macher besteht darin, dass Hegel nicht nur die Physiologie, sondern auch elementare Seelentätigkeiten der An­thro­po­lo­gie voraussetzt, d. h., dass er einen Übergangsbereich zwischen Tier und Mensch annimmt. Bereits die Tiere haben bei Hegel so etwas wie Selbstbezug; weil das Tier bereits »Selbst für das Selbst« ist, ist »die Bestimmung der Empfindung […] die differentia specifica« und diese wesentlich »Selbstgefühl«.21 Das Tier bezieht sich auf sich selbst, indem es sich von den »Dingen« und die Dinge untereinander unterscheidet. Das sinnlich vermittelte Selbstgefühl ist dann Grundlage des praktischen Verhaltens, in dem die Dinge konsumiert und dadurch »negiert« werden. So weit geht Schlei­er­macher nicht, was jedoch nicht hindert, dass er sich auch mit seiner Konzeption von An­thro­po­lo­gie in einer großen Nähe zu Hegel bewegt.

Hegels Psychologie vgl. Hermann Drüe, Psychologie aus dem Begriff, Berlin und New York 1976; Hegels philosophische Psychologie, hg. v. Dieter Henrich, Bonn 1979; Hegels Theorie des subjektiven Geistes, hg. v. Lothar Eley, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Psychologie und An­thro­po­lo­gie oder Philosophie des Geistes, hg. v. Franz Hespe und Burghard Tuschling, Stuttgart 1991; Hermann Drüe, Philosophie des Geistes, in: Hegels »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830)«. Ein Kommentar zum Systemgrundriß, hg. v. Hermann Drüe u. a., Frankfurt/M. 2000, 206–289; Dirk Stederoth, Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar, Berlin 2001. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Theorie-Werkausgabe, Bd. 9, 432, Zusatz zu § 351. 20 Zu

Zwischen Natur und Vernunft | 269

Hellsehen in preußischblauer Nacht Schlei­er­macher über Spiritismus, Medien und ­Wahrsagekunst Der Titel meiner Ausführungen spielt an auf Bertolt Brechts 1939 geschriebenes Sonett über Kleists Der Prinz von Homburg: »O Garten, künstlich in dem märkischen Sand! / O Geistersehn in preußischblauer Nacht!« Heinrich von Kleists Zeitgenosse Friedrich Daniel Ernst Schlei­er­macher jedenfalls mag in preußischblauen oder trüben Nächten auch vom Geistersehen heimgesucht worden sein. Seine Frau Henriette, eine geb. von Mühlenfels und verwitwete von Willich, hatte sich 1816 mit der sächsischen Offizierswitwe Karoline Fischer angefreundet, die von sich behauptete, über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen. Diese Frau zog bald mit ihrer Tochter Luise bei Schlei­er­machers ein und übernahm das Kommando im Haus. Henriette hielt ihre Kinder an, die Fischerin als die wahre geistige Mutter anzusehen und ihren Weisungen zu folgen. Schlei­ er­macher war bald fremd im eigenen Haus. Tatsächlich war die damit offenkundig gewordene eheliche Katastrophe vorhersehbar. Henriette war gerade neunzehn Jahre alt und wurde zum zweiten Mal Mutter, als ihr Mann, der schwedische Regimentsarzt Ehrenfried von Willich, ein Freund Schlei­er­ machers, starb. Zwei Jahre später, 1809, heiratete sie den 20 Jahre älteren Schlei­er­macher, den sie zuvor in ihren Briefen immer als »Vater« angeredet hatte. Eine Beziehung auf Augenhöhe war das nicht, und auch sonst gab es Trennendes. Henriette wollte ihren geliebten, verstorbenen Mann in einer besseren, jenseitigen Welt wissen und dort auch wieder finden: »mit welcher Ahndung einer unaussprechlichen Seeligkeit schaue ich hinüber in jene Welt wo er lebt – Welche Wonne für mich zu sterben« (an Schlei­er­macher, 13. 3. 1807, KGA V/9, 371). Schlei­er­macher war es nicht, der seine Frau von dieser Jenseitssehnsucht befreien konnte. Schon recht früh wandte Henriette sich dem in Berlin von vielen Frauen der Gesell 271

schaft umschwärmten Alexander von der Marwitz zu, was Schlei­er­ macher wusste und zu ertragen versuchte.1 Nachdem Marwitz 1814 im Kampf gegen Napoleon gefallen war, lebte die Sehnsucht nach dem Jenseits bei Henriette wieder auf. Mit Karoline Fischer hatte sie ein Medium gefunden, von dem sie Bestätigung erhoffte. Von da an regierten vermeintliche Weisungen aus dem Jenseits das Schlei­ er­machersche Hauswesen. Henriette war sogar zum »Martyrium« bereit: eher wollte sie ihren Mann verlassen, als auf die Fischer und deren Hellseherei zu verzichten. Schlei­er­macher blieb von seinem »Hauskreuz«, wie er es nannte, nicht unberührt. Sein chronisches Magenleiden wurde davon jedenfalls nicht besser, im Gegenteil. Karoline Fischer war in der Praxis von Karl Christian Wolfart (1778–1832) als Helferin tätig, in der Schlei­er­macher sich magnetischen Kuren unterzog, um seinen Magen zu kurieren. Wolfart war übrigens seit Anfang 1817 ganz offiziell Professor für Pathologie, Therapie, Mesmerismus und Magnetismus an der Berliner Universität. Den von ihm so genannten »animalischen Magnetismus« hatte vor allem der Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) therapeutisch fruchtbar zu machen versucht. Dabei wurden hypnotische Zustände durch Handauflegen und sogenannte »Luftstriche« erzeugt, um das »Fluidum« – ein immaterielles Lebensprinzip – zu beeinflussen. Das Verfahren war umstritten. Die Mehrheit der Wissenschaftler lehnte es ab, weil es keine wissenschaftliche Grundlage habe, jedoch gab es auch Befürworter aufgrund offensichtlicher Heilerfolge. Zu ihnen gehörte auch Schlei­ er­macher, der das Phänomen theoretisch zu rechtfertigen suchte. Auch mit dem Hellsehen und anderen paranormalen Phänomenen setzte er sich auseinander, wenn auch deutlich kritischer – vor allem in seinem Bemühen, seine Frau zur Vernunft zu bringen. Schlei­er­ machers theoretisches Interesse an diesen Gegenständen war aber philosophischer Natur: Es handelte sich für ihn um Phänomene, die in den Bereich der Psychologie oder Seelenlehre fielen und dort zu erklären waren. Ich möchte im Folgenden Schlei­er­machers Positionen zum Magnetisieren und zum Hellsehen zunächst kurz vorstellen ! und dann Auf frischen, kleinen, abstrakten Wegen. Unbekanntes und Unveröffentlichtes aus Rahels Freundeskreis, hg. v. Friedhelm Kemp, München 1967, 6–15; KGA V, Kommentarband 1, 152 f. 1 Vgl.

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auf seine theoretischen Überlegungen zu diesen Phänomenen eingehen @, um schließlich noch einen kurzen Blick auf den philosophiehistorischen Kontext zu werfen #.    In Schlei­er­machers Rügener Bekanntenkreis stieß das Magne1

tisieren offenbar auf starke Vorbehalte und man schien, da er sich einer solchen Behandlung unterzog, um Schlei­er­machers geistige Gesundheit zu fürchten. Jedenfalls schrieb Schlei­er­macher am 9. Januar 1817 einen langen Rechtfertigungsbrief, den er als »eine ordentliche Abhandlung«, ja fast als »ein ordentliches Buch« ansah.2 Um »die Sache […] aus dem rechten Gesichtspunkt anzusehen«,3 verweist Schlei­er­macher auf die Erfahrungsgrundlage der Magnetisierung, wobei es auch andere Heilmittel gebe, »von denen man nicht genau vorhersagen kann, was für Nebenwirkungen sie im Körper und auch im Gemüth hervorbringen«; jedenfalls seien die »sogenannten höheren Zustände« (im Zustand der Hypnose) größtentheils völlig vorübergehend auf den Zeitraum des jedesmaligen Schlafs beschränkt«. Es komme alles darauf an, dass ein qualifizierter Arzt die Behandlung leite. Das gelte auch für die Fremddiagnose durch Magnetisierte während ihres »Schlafes«. Schlei­er­macher selbst, so deutet er an, kam jedenfalls durch eine solche Fremddiagnose der Karoline in die Behandlung Prof. Wolfarts.4 Zu den »geistigen Erscheinungen« oder »Nebenwirkungen« des Magnetismus gehören demnach auch somnambule, »höhere« Zustände, die Hellsehen hervorbringen, »also«, wie Schlei­erma­cher erläutert, »vorzüglich das Sehen des Entfernten oder des Zu­künf­ tigen«.5 Beim Magnetisieren müsse daher  – hier argumentiert Schlei­er­macher wie eine Ethik-Kommission  – gewährleistet sein, dass der Arzt die Nebenwirkungen im Auge behält und das Einverständnis des Patienten vorliegt, dass der Arzt in somnambulen Zuständen mit ihm Versuche anstellt. Auf die Frage, warum man sich überhaupt mit derartigen Dingen beschäftigen solle, hat Schlei­er­macher eine zunächst entwaffSchlei­er­macher, Aus Schlei­er­macher’s Leben. In Briefen, Bd. 2, 318–324 (an Charlotte von Kathen). 3 Ebd., 318. – Die folgenden Zitate 319. 4 Vgl. ebd., 320. 5 Ebd., 321; auch das folgende Zitat. 2

Hellsehen in preußischblauer Nacht | 273

nende Antwort: »Alles, was uns in der Natur vorkommt, soll erfaßt werden«. Tatsächlich ist der Naturbegriff bei Schlei­er­macher jedoch so weit gefasst, dass er jede wissenschaftliche Bedeutung verliert: »Von einem Gegensaz zwischen natürlich und übernatürlich, begreiflich und unbegreiflich, weiß ich überhaupt nichts. Alles ist natürlich in dem einen Sinne und übernatürlich in dem andren. Selbst daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, muß in einem höheren Sinne natürlich sein.«6 Schlei­er­macher ist also durchaus geneigt, Übersinnliches von vornherein als in einem höheren Sinne natürlich anzusehen. Die beim Magnetisieren bewirkte Veränderung »physischer Verhältnisse«, so seine Überzeugung, könne »auf eine Zeitlang Schranken des geistigen Vermögens, denen es gewöhnlich unterworfen ist«, aufheben.7 Allerdings beruhte die wissenschaftliche Kritik des Mesmerismus schon Ende des 18. Jahrhunderts darauf, dass körperliche Reaktionen sich gar nicht nachweisen ließen, es sich mithin nur um eine psychisch bedingte Placebo-Wirkung handele. Schlei­er­macher blendet diese Untersuchungsergebnisse jedoch aus und ist sich sicher, dass hier physische Veränderungen stattfinden, die auch zu geistigen Veränderungen führen: »Das höchst interessante der höhern magnetischen Erscheinungen ist ja eben, daß sie, wenn man sie erst recht verstehen wird, unsre Vorstellungen von dem ursprünglichen und wesentlichen Umfang des geistigen Vermögens des Menschen erweitern werden, und damit zugleich auch gewiß manches aus der heiligen und dunklen Zeit aller Völker aufschließen.«8    Schlei­er­macher erhoffte sich durch die Aufklärung der mag2

netischen Erscheinungen vorzugsweise Aufschlüsse über das »Höhere und Göttliche der alten prophetischen Offenbarungszeit«. Er hoffte also, mit dem Mesmerismus die Weissagungskunst erklären zu können. In dem zitierten Brief an Charlotte von Kathen macht Schlei­er­macher deutlich, dass es ihm dabei nicht vordergründig um die Wahrheit der Prophezeiung geht, sondern um den psychischen Zustand des Wahrsagens. Es gebe, so schreibt er, nämlich 6 Ebd.,

323. – Eine entsprechende Notiz hierzu findet sich in dem Gedankenheft 1817 bis 1819, KGA I/14, 275, 4–8. 7 Schlei­er­macher, Aus Schlei­e r­macher’s Leben. In Briefen, Bd. 2, 323. 8 Ebd., auch das nächste Zitat. 274 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

»eben so wenig einen gänzlichen Gegensaz zwischen Wahrheit und Irrthum, als zwischen natürlichem und übernatürlichem. […] Dies gilt auch von den alten Propheten.«9 Besonders die Visionen, das Sehen in Bildern, seien anfällig für Irrtum, denn diese müssten bei der Mitteilung des Gesehenen ja in Worte übersetzt werden, und dies – so Schlei­er­macher – »war schon nicht mehr jene ursprünglich hohe Thätigkeit, und konnte einen Irrthum oder Mißverstand enthalten«.10 An dieser Stelle muss ich eine kurze Abschweifung machen, denn was Schlei­er­macher hier sagt, erschließt sich erst vor dem Hintergrund seiner Philosophie und Religionstheorie. Bereits in seinen Reden über die Religion von 1799 geht er davon aus, dass die Religion auf einem ursprünglichen, unmittelbaren »Anschauen des Universums« (KGA I/2, 213) beruhe, das sprachlich nicht mitteilbar sei: »vergönnt mir […] einen Augenblik darüber zu trauern, daß ich von beiden nicht anders als getrennt reden kann […]. Aber eine nothwendige Reflexion trennt beide, und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen« (KGA I/2, 220). Das geistige Prinzip überhaupt, der Grund unseres Erkennens und Handelns, ist für Schlei­er­macher in dieser Weise unmittelbar gegeben, d. h. als etwas, was in der Mitteilung schon immer nur gebrochen erscheint und strenggenommen unsagbar ist. Dies wird u. a. sowohl in den philosophisch grundlegenden Vorlesungen zur Dia­lek­tik als auch in den Vorlesungen über die Psychologie ausgeführt, deren Hauptzweck nach Schlei­er­macher eben darin besteht, spekulative Blicke auf das geistige Prinzip zu werfen.11 Wir können uns über die Bedeutung dieses Prinzips für uns und unser Erkennen und Handeln verständigen, aber wir können es selbst nicht begrifflich ausbuchstabieren und mitteilen.

9 Ebd.

10 Ebd. 11

»Es kann keinen vernünftigen Grund geben, als um das geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht auf einer bestimten Stufe, der einzigen, die uns wirklich gegeben ist anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen. Die spekulativen Blike sind also der eigentliche Hauptzwek der Psychologie.« (KGA II/13, 16) Hellsehen in preußischblauer Nacht | 275

Ebenso sieht es offenbar mit dem aus, was Propheten und andere Medien in irgendeinem Sinne »sehen«. Sie ringen nach Ausdrücken für das, was ihnen in der – wie Schlei­er­macher es nennt – ursprünglichen, »hohen Thätigkeit« unmittelbar gegeben ist, was aber in der Mitteilung übersetzt werden muss. Hierin liegt die Möglichkeit des Irrtums. Wir sind also mit der erstaunlichen Tatsache konfrontiert, dass Schlei­er­macher dem Zustand des prophetischen ›Sehens‹ selbst offenbar von vornherein eine größere Wahrheit zuschreiben will als der Mitteilung. Die naheliegende Frage, ob nicht dieser Zustand selbst eher als pathologisch einzustufen ist, stellt er gar nicht erst. Was von der Prophetie gilt, gilt auch von den somnambulen Zu­ständen beim Magnetisieren. Ich zitiere wiederum aus Schlei­er­ machers Brief: »Ebenso ist es mit den Magnetisirten. Sie sehen fast Alles in Bildern; daß sie diese in Worte fassen, ist schon nicht mehr jene ursprüngliche Thätigkeit, in der die gewöhnlichen Schranken aufgehoben sind, sondern größtentheils schon eine von dem gewöhnlichen menschlichen Vermögen ausgehende Auslegung, und also ist Irrthum darin in höherem Grade möglich als in jenem. Ja man wird bei fleißiger Beobachtung wohl bestimmen lernen, was jeder Magnetisirte, der treu und redlich zu Werke geht, mit der größten Sicherheit, und was mit der geringsten auslegen und mittheilen kann.«12 Außer Frage steht für Schlei­er­macher dabei jedoch, dass die »ursprüngliche Thätigkeit« des ›Sehens‹ im somnambulen Zustand Wahrheit enthalten müsse, und zwar mehr Wahrheit als die Auslegung. Das kann aber, vorsichtig gesagt, nur eine bloß subjektive Überzeugung Schlei­er­machers sein, denn der ursprüngliche Zustand des ›Sehens‹ hat seine Eigenart ja gerade darin, dass er nicht mitteilbar ist. Schlei­er­machers Überzeugung von der Wahrheit des Geschauten ist demnach weder in irgendeiner Weise nachprüfbar noch gibt es Kriterien, den somnambulen Zustand von pathologischen Geisteszuständen zu unterscheiden. Ich zitiere noch einmal aus Schlei­er­machers Brief: »Die ursprüngliche erhöhte Thätigkeit muß aber nothwendig [!], so gewiß sie eine Aufhebung sonst stattfindender Schranken enthält, und so gewiß das Wesen des menschlichen Geistes in allen seinen Thätigkeiten Wahrheit ist, auch eine größere Wahrheit enthalten, als die gewöhnlichen Thätig12

Schlei­er­macher, Aus Schlei­er­macher’s Leben. In Briefen, Bd. 2, 323 f.

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keiten. Auch dieses aber nur unter der Bedingung, wenn man den Zustand ungestört walten läßt. Darum ist alles bestimmte Fragen immer schon eine Entheiligung des Zustandes […], sondern, wenn man ein reines Resultat haben will, muss man sich ihn nur aussprechen lassen.«13 Tatsächlich hat Schlei­er­macher sich in dieser Weise auch den Visionen der Karoline Fischer, der Freundin (und dem bösen Geist) seiner Frau, genähert. In einem Notizheft aus den Jahren 1817 bis 1819 finden wir – eingestreut zwischen Werkstattnotizen zu Reden, Abhandlungen, Predigten und Vorlesungen – drei Aufzeichnungen zu Mitteilungen aus somnambulen Zuständen, niedergeschrieben wohl 1818 und 1819. »Am 20t May«, so heißt es dort, »bestätigte Caroline daß Napoleon fort sei. Gesehn habe sie ihn zuerst wie von einem hohen Berge herab auf einem englischen Schiff in der Ferne; das Wort sei aber eher da gewesen als die Anschauung. Als ich berechnete, daß wenn es noch im März gewesen wäre, wir es in 14 Tagen wissen müßten, meinte sie, sie sähe es so nahe nicht. – Hernach sah sie in der Nähe des russischen Kaisers einen liebenswürdigen Liefländer von den besten Entwürfen für das Wohl des Landes, der sich aber wieder zurückziehen werde. – Sehr [dik] für Preußen sah sie die Nähe Rußlands und das russisch geworden sein von Polen, und ganz innig die Verbindung von Princeß Charlotte, die wie über einem mit Rosen bestreuten Abgrund stände aber durch ein sehr strenges Gefühl für ihre Pflicht gehalten werde.  – Nach des russischen Kaisers Rede hinzu sehn war ihr gräulich, es müsse etwas grauenvolles einwirken aber nahe sah sie es noch nicht. – Im künftigen Jahre sah sie sich ein Feuer zwischen England und Rußland – entzünden woran auch Deutschland würde, das wäre aber wol nicht der grauenvolle Krieg.« (KGA I/14, 283) Beginnen wir beim Faktencheck mit dem russischen Teil der Visionen. Dass das auf dem Wiener Kongress etablierte Königreich Polen (das auch unter dem Namen »Kongresspolen« in die Geschichtsbücher einging), dessen König der russische Zar war, nur formell ein selbständiges Reich war, war nicht nur im Zustand des Somnambulismus offenkundig zu ›sehen‹. Tatsächlich jedoch wurde Kongresspolen 1867 auch direkt ins Zarenreich integriert. Wer mag, 13 Ebd.,

324. Hellsehen in preußischblauer Nacht | 277

kann die Vision der Fischerin also darauf beziehen. Dass Prinzessin Charlotte von Preußen (1798–1860) den russischen Großfürsten und späteren Zaren (seit 1825) Nikolaus 1817 geheiratet hatte, war kein Geheimnis, ebenso wenig wie die Tatsache, dass es sich – trotz der dynastischen Interessen – um eine Liebesheirat gehandelt hatte. Der Abgrund soll dann wohl eher auf Spannungen zwischen Preußen und Russland hindeuten. Der vorhergesagte Krieg mit England fand nicht statt. – Was Napoleon betrifft, so starb er 1821 auf St. Helena, ohne 1818 die Insel mit einem englischen Schiff verlassen zu haben. Unbeirrt vom Nichteintreffen der Napoleon betreffenden Vorhersage – an die sie sich vielleicht gar nicht mehr erinnerte – hat Karoline Fischer am 4. Mai 1819 eine ähnliche Vision offenbar sogar zu Papier gebracht; in Schlei­er­machers Wiedergabe liest sie sich als eine Art Verschwörungstheorie finsterer Mächte. »Am 4. Mai hat Karoline geschrieben Napoleon sei fort, auf einem englischen Schiffe – der Gouverneur sei mit darin verwikelt – Nicht Wenige von der englischen Marine wußten darum – es sei ein tief angelegter Plan – geleitet von einem jungen Mann der im Oesterreichen an der türkischen Grenze geboren sei, sehr weit herumgekommen, und seine wichtigsten Verbindungen in England habe« (KGA I/14, 295). Im Weiteren heißt es dann, es werde aus der Türkei »binnen 50 Jahren ein neues mächtiges von Deutschland aus entstehendes Reich sich bilden« und »Napoleon werde später wol noch nach Amerika kommen – werde getödtet werden« (ebd.). Ich erspare mir weitere Details, und auch ein Faktencheck erübrigt sich hier, ebenso wie bei der wohl auf den 10. Juni 1818 zu datierenden Prophezeiung der Karoline Fischer, »in fünf Jahren werde einer von uns beiden ich oder sie todt sein aber dann werde ein noch viel helleres Band zwischen uns bestehen« (KGA I/14, 287). Schlei­er­macher hat diese Aufzeichnungen wohl nicht in der Absicht gemacht, seine Frau auf sanfte Weise davon zu überzeugen, dass ihre Freundin  – die im Begriff war, die ganze Familie unter ihre Herrschaft zu bringen – ihr Handeln keineswegs aus direkten Eingebungen durch Jesus Christus legitimieren konnte, der aus dem Hellen ihr Botschaften schickte, wie sie vorgab und vielleicht sogar selbst glaubte. Vielmehr hoffte Schlei­er­macher wohl, etwas zu finden, was seine 1817 geäußerte Auffassung stützen könnte, es müsse 278 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

in den somnambulen Zuständen einen Wahrheitsgehalt geben, der sich, wenn man es nur richtig anstelle, noch aus den Mitteilungen des im Hellen Gesehenen oder Gehörten erheben lasse. Die zunehmend ins Auge springende Unsinnigkeit der Visionen mag Schlei­ er­macher von diesem Glauben abgebracht haben. Jedenfalls sind weitere Aufzeichnungen zu Karoline Fischers Gesichten nicht überliefert und auch das Medium, die Fischerin selbst, wurde Schlei­er­ macher zunehmend zur Last. Es scheint, als sei Schlei­er­macher in späteren Jahren, belehrt durch eigene Erfahrungen, von seiner anfänglichen Begeisterung für das Magnetisieren und die dadurch hervorgerufenen »höheren« Zustände gründlich kuriert worden. In einer Nachschrift zu der Psychologie-Vorlesung von 1830 werden gegenüber dem Brief an Charlotte von Kathen ganz andere Töne angeschlagen. Der Schlaf – auch der künstlich erzeugte somnambule Zustand – wird nun nicht mehr als Entgrenzung des Geistes, sondern als Ausschaltung des Willens und damit als Regression auf einen Naturzustand angesehen: »So bald der Wille ganz Null geworden ist, erscheint der Mensch auch in allen seinen Erscheinungen als Naturwesen und eben deßwegen tritt hier auch dasselbe Verhältniß ein. Der Wahnsinn ist ein aufgehobener Freiheitszustand und Beides in dieser Analogie könnte [als] das eine eben so gut als das Andere, der Traum als ein zurückgehender Wahnsinn, der Wahnsinn als ein fortgesetzter Traum betrachtet werden. Die Unsicherheit der ganzen Vorstellung hat sich auch seit der ältesten Zeit zu erkennen gegeben in einer Klassifikation der Träume, indem die einen dargestellt wurden als Offenbarung der Gottheit, die andern, wo die Götter ihr Spiel treiben wollten mit den Menschen. In neuern Zeiten hat sich dieselbe Erscheinung häufig wieder hervorgethan.« (KGA II/13, 851) Jetzt, 1830, behauptet Schlei­er­macher aber keineswegs, dass eine solche Betrachtensweise statthaft sei. Im Gegenteil: er will das, was im somnambulen Zustand verkündet wird, als Projektion dessen verstanden wissen, der diesen Zustand hervorbringt, wie aus einer nicht mehr erhaltenen Nachschrift zu dieser Vorlesung hervorgeht: »In neuerer Zeit hat sich die Erscheinung wieder hervorgethan, und wir kennen sie unter dem Namen des magnetischen Schlafs oder des Somnambulismus.« (ebd.; Sachapparat) Es sei zwar nicht zu leugnen, »daß es eine Menge von Relationen über diese Zustände giebt, die sich Hellsehen in preußischblauer Nacht | 279

durch einen größern Mangel an Kritik auszeichnen. Alles Einzelne an und für sich betrachtet verliert doch seine Glaubwürdigkeit und man kann nicht sagen, was darin Wahrheit und Täuschung sei ist. […] Denken wir uns die persönliche Individualität theils für die Vorstellungsbildung zurücktretend zeigt sich darin von selbst der Einfluß einer andern Persönlichkeit auf die Vorstellungsbildung. Die Vorstellungsbildung scheint mehr demjenigen anzugehören, welcher den Zustand des künstlichen Schlafs hervorgebracht hat.« (KGA II/13, 851) Das Zurücktreten des Individuellen durch die Ausschaltung des Willens im somnambulen Zustand macht Schlei­er­macher nun auch für das Hellsehen verantwortlich: »Wenn wir aber gesagt haben, bei diesem Zurücktreten des Individuellen erscheint das psychische mehr unter der Potenz des allgemeinen Lebens, können wir auch sagen, es läßt sich hier als ein Motiv wie sich Vorstellungen bilden auch ansehen als das Interesse an dem Gesammtleben […]. Dies kann den Inhalt der Vorstellungen bestimmen. Daß nun alles, was sich als ein solcher Inhalt manifestirt, aber mit der Gegenwart nicht übereinstimmt als Zukunft angesehen wird, liegt ganz in der Natur der Sache, aber dies ist keine Wahrheit. Die Beschaffenheit der Vorstellungen in dieser Beziehung ist ein Zufälliges.« (KGA II/13, 851) Die Zufälligkeit könne jedoch dann überwunden werden, wenn die produktive Einbildungskraft sich – sei es im Wachen oder im Traum – als »Ahnungsvermögen« (KGA II/13, 852) zeigt. Schlei­er­ macher geht davon aus, dass wir bei Zwecksetzungen schon immer antizipieren, d. h. mit den Bedingungen einer Handlung deren erwartetes Resultat verknüpfen und so eine »Vorstellung von dem Künftigen« (ebd.) bilden. Sofern wir also in einem Zustand, der mehr auf das Allgemeine und nicht so sehr auf das Individuelle geht, auf das »Gesammtleben« oder das »Gattungsbewußtsein«, die bestehenden Verhältnisse mit realen Entwicklungsmöglichkeiten in Verbindung bringen, kann auch Wahrheit in dem Ahndungsvermögen liegen: Wir, so Schlei­er­macher, »werden Alles prophetisch nennen, was sich in solchen durchgehenden Vorstellungen und in solchen Äußerungen des Ahnungsvermögens als Wahrheit zeigt« (ebd.). Die Prophetie entspringt dem Schlaf der Vernunft und ist – wie der Traum  – dem Wahnsinn verschwistert: »keinesweges ist hieraus zu schließen, daß dies ein erhöhter Seelenzustand sei, es 280 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

bleibt ein untergeordneter weil die Willensthätigkeit aufgehoben ist.« (KGA II/13, 853) Der späte Schlei­er­macher findet zu einer Position zurück, die er schon 1804 vertreten hatte. Damals verdeutschte er das Griechische mantike techne – die Wahrsagekunst – in seiner Übersetzung von Platons Phaidros mit »Wahnsagekunst«.14    Schlei­er­macher stand mit seinem Interesse am Mesmerismus 3

nicht allein.15 Bekanntlich hat die naturphilosophische Strömung um 1800 sich, ungeachtet der Skepsis und Ablehnung seitens der Mehrheit der Ärzte und Naturwissenschaftler, besonders um das Phänomen des sogenannten animalischen Magnetismus bemüht. Der Grund hierfür ist leicht zu erkennen: Man versprach sich Aufschlüsse über das Zusammenspiel von Leib und Seele, über die Einheit des Idealen und Realen. Schelling, Eschenmayer, Gotthilf Heinrich Schubert, Friedrich Schlegel und andere beschäftigten sich intensiv damit. Im Hintergrund steht dabei die Ablösung der sogenannten rationalen Psychologie durch die empirische, auch experimentelle Psychologie (wie Karl Philipp Moritz’ »Erfahrungsseelenkunde«16). Der rationalen Psychologie, welche die Seele (und hier vor allem ihre Unsterblichkeit) als Gegenstand der speziellen Metaphysik thematisiert hatte, hatte Kant den Todesstoß versetzt, indem er zeigte, dass dem Schluss auf eine eigene Seelensubstanz ein Paralogismus, ein Fehlschluss, zugrunde liege. Damit war, zumindest im Bereich der kritischen Philosophie, von »Seele« nicht mehr an sich, sondern nur im Zusammenhang mit dem Leib zu sprechen.17 Das Problem des Verhältnisses von Leib und Seele erwies sich damit als Scheinproblem, aber es kam nun darauf an, innerhalb der leibseelischen Einheit das Verhältnis der Momente näher zu bestimmen. Hierfür bot das Phänomen des animalischen Magnetismus einen Zugang. 14 Phaidros

244 b–d; siehe Schlei­er­machers Übersetzung (zuerst 1804) in

KGA IV/3, 187. 15 Vgl. Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus, hg. v. Gereon Wolters, Konstanz 1988. 16 ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsselenkunde, hg. v. Karl Philipp Moritz, Berlin 1783–1793. 17 Vgl. Michael Wolff, Kants Auflösung des Leib-Seele-Problems, in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 11 (2015), 49–75. Hellsehen in preußischblauer Nacht | 281

Auch Schlei­er­macher geht davon aus, dass eine rationale Psychologie nicht mehr möglich ist. In seinen Aufzeichnungen zur zweiten Stunde seiner ersten Psychologie-Vorlesung 1818 heißt es programmatisch, die Seele sei »uns nur mit dem Leibe gegeben«; die Psychologie als Wissenschaft sei somit »ein Bruch […] der An­thro­po­lo­gie« (KGA II/13, 16). Auch Schlei­er­machers philosophischer Kontrahent Hegel behandelt die Psychologie in Verbindung mit der An­thro­po­ lo­gie im Rahmen seiner Philosophie des subjektiven Geistes. Für Hegel allerdings geht es nicht nur um die körperlich-seelische Einheit, sondern er unterscheidet »zwei Seiten der Körperlichkeit, eine seelenhafte und eine zweite die dem Geist unterworfen ist« (GW 25, 1, 317).18 Die seelenhafte Körperlichkeit bezeichnet hier das fühlende Subjekt in seiner Unmittelbarkeit, also denjenigen Zustand, in dem die Seele gleichsam schläft und daher den leiblichen Empfindungen passiv ausgeliefert ist. Dieser Zustand hat durchaus Ähnlichkeit mit demjenigen, den Schlei­er­macher als Regression durch Ausschaltung des Willens bezeichnet. Die dem Geist unterworfene Körperlichkeit dagegen ist für Hegel das Sich-geltend-Machen des Geistes in der Leiblichkeit, das Sich-Anbilden des Körpers durch den Geist. Zwischen beiden Seiten der Körperlichkeit könne, so Hegel, eine Entzweiung entstehen, welche einen Krankheitszustand anzeige, d. h. eine Pathologie des Seelenlebens. Somnambule Zustände, Hellsehen und Ahnungsvermögen haben für Hegel in diesem Auseinandertreten der zwei Seiten des Körperlichen (oder, was dasselbe ist, der Seele und des Geistes) ihren Grund. »Dergleichen Fälle«, so Hegel, »kommen besonders im Zustande des magnetischen Somnambulismus häufig vor. Hierher gehört dann auch das Wissen von Entfernten. […] Unpartheiisch kann man nicht auf die leichte Weise abkommen, daß man es für Einbildung, Märchen pp erklärt.« (GW 25, 1, 331) Hegel beschäftigt sich besonders mit Todesahnungen, die er dadurch erklärt, dass der Tod »etwas fertiges« sei, das schon immer »zum Bereich der Wirklichkeit des Individuums« gehöre: »Die Gegenwart ist praegnant mit der Zukunft d. h. daß diese schon an sich darin bestimmt ist.« (GW 25, 1, 336) Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt/M. 1992. 18 Vgl.

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Im »magnetischen Rapport« dagegen sei der Zusammenhang zwischen der fühlenden Seele und dem besonnenen Bewusstsein künstlich unterbrochen und das fühlende Subjekt in sich selbst eingeschlossen (GW 25, 1, 337 f.). In diesem Zustand sei der Magnetisierte dem Magnetiseur ausgesetzt (auch Schlei­er­macher hatte in dieser Weise den Einfluss des Arztes hervorgehoben): »Der Rapport ist so ein Zusammenhang daß beide Personen eine Gefühlsidentität construiren, er ist zu vergleichen mit dem Zusammenhange des Kindes im Mutterleibe und der Mutter, es sind zwei und doch ist substantielle Einheit beider, obgleich sie darin besondert sind.« (GW 25, 1, 342) Im Verhältnis des Magnitiseurs zum magnetisierten Subjekt wiederholt sich gleichsam die Entgegensetzung beider Seiten der Körperlichkeit, sofern der Magnitiseur das besonnene Bewusstsein darstellt. Das Hellsehen, soweit es sich auf eigene Krankheiten des Probanden bezieht, beruht dann darauf, dass der Magnetiseur die Rolle des Bewusstseins für die bloß fühlende Seele übernimmt, wobei allerdings Täuschung in hohem Maße möglich sei (vgl. GW 25,1, 346). Ich möchte es hierbei bewenden lassen. Schlei­er­macher, so können wir dem entnehmen, ist weder in seiner Faszination für das Hellsehen noch in seinem Erklärungsansatz allein. Mit seinen späten Positionen kommt er ausgerechnet mit Hegel, der gern als sein philosophischer Antipode angesehen wird, vielfach überein. Dafür jedenfalls ist keine geheimnisvolle Seelenverwandtschaft verantwortlich, sondern schlicht die Tatsache, dass beide nach dem Sturz der rationalen Psychologie durch Kant Körper und Seele als eine in sich unterschiedene Einheit betrachten.

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Schlei­er­machers Psychologie Eine Philosophie des subjektiven Geistes?    »Die schöne Seele«, so war der letzte Tag des Internationalen 1

Schlei­er­macher-Kongresses 2015 an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster im Programm überschrieben. Unwillkürlich drängt sich dabei das wenig schmeichelhafte Bild auf, das von der schönen Seele in Hegels Phänomenologie des Geistes gezeichnet wurde. »Die wirklichkeitslose schöne Seele«, so heißt es dort, sei »zur Verrücktheit zerrüttet, und zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht« (GW 9, 360). Gut ein Jahrzehnt später, 1818, notiert Schlei­er­ macher zur 36. Stunde seiner Vorlesungen über die Psychologie: »Auf dem ethischen Gebiete kann eine Seele schön sein« (KGA II/13, 83); als schön gilt hier »das Aufgehobensein der Gegensäze in einem bestimmten Spiel lebendiger Kräfte und die unendliche Fülle in diesem Spiel« (KGA II/13, 82). Es wäre nun gewiss reizvoll, die schöne Seele bei Hegel mit derjenigen bei Schlei­er­macher zu vergleichen, jedoch würde dies vermutlich nur wieder in bekannte polemische Konfrontationen hineinführen. Zwar möchte ich, wie schon der Titel meines Vortrags deutlich macht, Schlei­er­macher und Hegel durchaus aufeinander beziehen, wobei ich allerdings Hegels Philosophie im Hintergrund lassen und nur als Interpretationsfolie für eine systematische Konjektur bei Schlei­er­macher benutzen werde. Dabei betone ich vor allem die Gemeinsamkeiten. Deren Liste ist lang. Sie beginnt schon mit der systematisch leitenden Grundüberzeugung, dass die Trennung von Seele und Leib eine Abstraktion sei: »Die Seele ist uns nur mit dem Leibe gegeben« (KGA II/13, 16), heißt es bei Schlei­er­macher, und auch Hegel argumentiert in diesem Sinne im Paragraphen 389 der Enzyklopädie (1830).1 Schon das legt die Vermutung nahe, dass die Psychologien beider nicht nur in einzelnen materialen Aussagen miteinander ver1 Vgl.

Wolff, Das Körper-Seele-Problem. 285

gleichbar sind, sondern auch in ihrer systematischen Begründung beträchtliche Schnittmengen sich aufweisen lassen. Auch hiervon kann man sich schon vorab leicht überzeugen. Hegel hat seine Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes im Haupt­titel mit »An­thro­po­lo­gie und Psychologie« bzw. (die letzten beiden Vorlesungen) »Psychologie und An­thro­po­lo­gie« angekündigt. Beides ist nicht deckungsgleich. Die An­thro­po­lo­gie im eigentlichen Sinne bezieht sich auf die erste Stufe der Philosophie des subjektiven Geistes, die Naturseele; es folgen die Stufen des Bewusstseins (Phänomenologie) und, wie Hegel in einer Vorlesung ausführt, der »Geist als Subjekt, Gegenstand der sonstigen Psychologie« (GW 25, 1, 208 f.). Die Psychologie bezeichnet demnach im engeren Sinne den Geist als Subjekt oder den »Geist für sich als Geist betrachtet, der sich auf sich selbst bezieht, in sich auf sich thätig ist« (GW 25, 1, 8). Sie greift aber insofern über An­thro­po­lo­gie und Phänomenologie über, als diese Stufen des Werdens des Geistes zu sich bezeichnen. Die Architektonik und systematische Vorortung der Psychologie bei Schlei­er­macher entspricht dem weitgehend. Sie ist »ein Bruch« der An­thro­po­lo­gie, nämlich so weit, wie das Geistige im Körperlichen erscheint, wobei dieses geistige Moment isoliert und als »Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie« betrachtet wird (KGA II/13, 16). Diese Verwendung des Terminus »Pneumatologie« ist, soweit ich sehen kann, bei Schlei­er­macher singulär und auf diese Stelle in dem Manuskript 1818 zur Psychologie beschränkt. Er ist als philosophischer Begriff aus der Tradition der älteren metaphysica specialis hervorgegangen und bezeichnet ursprünglich die Lehre von Gott, den Engeln und den Seelen der Menschen, wobei er im 18. Jahrhundert schließlich weitgehend mit der rationalen Psychologie gleichgesetzt wird.2 Mit Kants Kritik der Pneumatologie als einer Lehre der von der körperlichen getrennten Geisterwelt wird der Terminus zunehmend aus der Philosophie verdrängt und durch »Geist« im Sinne von mens, Bewusstsein, ersetzt, was auch den Brückenschlag zur empirischen Psychologie ermöglicht. Schlei­er­macher hält an dem Ausdruck »Pneumatologie« an dieser Stelle seines Manu­skripts Theodor Mahlmann, Pneumatologie, Pneumatik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 996–999. 2 Vgl.

286 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

1818 wohl deshalb fest, weil er die Perspektive über die menschliche Seele hinaus erweitern und damit genau das tun will, was Kant durch seine Entgegensetzung von Psychologie und Pneumatologie kritisiert; diese »spekulativen Blicke« seien sogar »der eigentliche Hauptzweck der Psychologie« (KGA II/13, 16). Man kann unschwer annehmen, dass das »Allgemeine«, das Schlei­er­macher in diesem Zusammenhang anspricht, das Vernunft-Prinzip meint, das ja im ethischen Prozess als die Natur beseelend vorgestellt wird. Ich glaube nicht, dass es zu weit hergeholt ist, wenn man dies in eine Entsprechung zu Hegels Philosophie des Geistes setzt. Seine unter dem Titel Psychologie vorgetragene Philosophie des subjektiven Geistes zielt ja ebenfalls darauf, den Geist für sich als Geist bereits auf der Ebene der Psychologie zu thematisieren, weshalb Hegel seine Vorlesungen seit 1825 auch mit dem Zusatz »i.e. philosophiam mentis« bzw. »sive philosophiam mentis« ankündigt, obwohl der Begriff des Geistes sich in der Psychologie natürlich nicht erschöpft. Hegels Schüler, u. a. Erdmann und Rosenkranz, haben daher auch für den dritten Teil der Philosophie des subjektiven Geistes den Ausdruck »Pneumatologie« verwendet.3 Der vergleichende Blick auf Hegel, so meine These, kann deutlich machen, womit wir es eigentlich bei Schlei­er­machers Psychologie zu tun haben, die ja systematisch bei ihm gewissermaßen in der Luft hängt, da er ihren Ort im Kosmos seiner philosophischen Disziplinen nicht genau bezeichnet hat. Ich werde hierauf jedoch erst zum Schluss zu sprechen kommen und dabei auch die Frage beantworten, was es denn mit den schönen Seelen bei Schlei­er­macher und Hegel auf sich hat. Beginnen möchte ich jedoch mit der Frage, weshalb eigentlich Schlei­er­macher eine Disziplin wie die Psychologie scheinbar aus dem Nichts hervorzaubern konnte, denn vor dem Beginn der Vorlesungen 1818 erwähnt er diese Disziplin nur einmal, Ende 1816, als Desiderat, ohne über ihren Inhalt und systematischen Ort etwas zu sagen.    Schlei­er­macher erwähnt die Psychologie – neben der Ästhetik – 2

erstmals in einem Brief an Joachim Christian Gaß vom Dezember 1816, ohne dass die Notwendigkeit oder der Platz dieser Disziplin Eckart Scheerer, Psychologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, 1612. 3 Vgl.

Schlei­er­machers Psychologie | 287

näher bezeichnet werden; als Schlei­er­macher dann 1818 mit seinen Vorlesungen beginnt, bekennt er, sie eigentlich ohne Vorbereitung halten zu müssen und von der Hand in den Mund zu leben.4 Nun wird man allerdings kaum annehmen können, Schlei­er­macher habe die Psychologie im Verlaufe seiner Vorlesungen erst »erfunden«; die Möglichkeit einer solchen Disziplin stand ihm ja schon 1816 vor Augen, auch wenn er sie als eine von ihm zu bearbeitende erst spät in den Blick nimmt. Tatsächlich ist natürlich auch vorher schon von psyché, Seele – und auch von Psychologie – die Rede, die für Schlei­er­macher ganz selbstverständlich zum traditionellen Kosmos philosophischer Disziplinen gehört, wobei er sich jedoch auf den zeitgenössischen Diskussionsstand bezieht. Die deutsche Schulphilosophie hatte, beginnend mit Christian Wolff, die empirische Psychologie oder »Erfahrungsseelenkunde« von der rationalen Psychologie der metaphysica specialis unterschieden. Sie wird einerseits in die Nähe der Naturlehre gestellt, andererseits als Bewusstseinslehre in den Rang einer grundlegenden philosophischen Disziplin erhoben. In dieser Form hatte der junge Schlei­er­macher die Psychologie wohl auch bei seinem akademischen Lehrer Johann August Eberhard, dem damaligen Vertreter der Hallischen Schulphilosophie, kennengelernt.5 Der Gegenstand der empirischen Psychologie sind vornehmlich 4 An

Joachim Christian Gaß, 29. 12. 1816 (KGA V/13, 505). Als Schleier­­ macher dann das Thema aufgriff, war der Gegenstand noch keineswegs durchgearbeitet und seine systematische Stellung noch unklar (vgl. an Gaß, 11.  5.  1818, in: Schlei­er­macher, Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg. v. W. Gaß, Berlin 1852, 149; dort heißt es, er schreibe sich die Vorlesungen im Nachhinein auf: »Dasselbe thue ich auch mit der Psychologie, einem ganz funkelnagelneuen Collegio, dem stärkstbesezten, was ich noch gehabt habe, so lange ich hier bin, denn ich habe 130 Zuhörer. Wie es recht werden wird, weiß ich noch nicht, bis jezt ist es leidlich gegangen«). Am 23. 3. 1818 heißt es in einem Brief an den Philologen und Prediger Ludwig Gottfried Blanc: »dann soll ich nun noch meinen ganzen Leisten und Zuschnitt für die Psychologie erfinden. Diese Tollheit, auf die ich gar nicht recht weiß wie ich gerathen bin, werde ich schwer büßen müssen« (Aus Schlei­er­macher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, 233). Gegenüber August Twesten bekannte Schlei­er­macher, dass er »ohne bestimmte Vorbereitung« an die Vorlesung gegangen sei und nun »aus der Hand in den Mund lebe« (11. 6. 1818; C. F. Georg Heinrici, D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, 318). 5 Vgl. Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wis288 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

die »Vermögen« des Menschen; in letzter Instanz Gefühl, Verstand und Wille, die jeweils in höhere und niedere differenziert werden. Kant radikalisierte die Trennung von rationaler und empirischer Psychologie, indem er die rationale auf Fehlschlüsse (Paralogismen) der reinen Vernunft zurückführte und aus dem objektiv gültigen Wissen ausschloss. Zugleich aber wertete Kant auch die empirische Psychologie ab. Als »historische« Naturlehre des »inneren Sinnes« bleibe sie »jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt«, wie es in der Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) heißt.6 Weil Mathematik und Experiment hier nicht anwendbar seien, wird die empirische Psychologie bei Kant schließlich als Gegenstand der pragmatischen An­thro­po­lo­gie behandelt, die es – im Gegensatz zur Physiologie – mit dem Menschen als einem frei handelnden und sich selbst gestaltenden Wesen zu tun hat.7 Mit dieser Auffassung setzt sich Schlei­er­macher in seiner 1799 anonym im Athenaeum der Brüder Schlegel publizierten Rezension der Kantischen An­thro­po­lo­gie in pragmatischer Hinsicht kritisch auseinander. Hier formuliert Schlei­er­macher eine Position, die sich dann durch seine Ethik bis hin zu seiner Psychologie durchzieht. Schlei­er­machers Kritik an Kant ist von ätzender Polemik: Kants Werk, so schreibt er, sei »vortreflich […], nicht als An­thro­po­lo­gie, sondern als Negation aller An­thro­po­lo­gie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist«.8 Unmöglich wird eine An­thro­po­lo­gie für Schlei­er­macher schon durch Kants Prämisse der Unterscheidung von physiologischer und pragmatischer An­thro­po­lo­gie, die freilich der überkommenen von anthropologia physica und anthropologia moralis entspricht9 Schlei­er­ macher sieht darin einen Gegensatz aufgestellt, der ganz »in Kants Denkart« gründe (KGA I/2, 366), womit letztlich die Kantische Trennung von mundus intelligibilis und mundus sensibilis gemeint senschaften bei Schlei­er­macher; Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit, Kap. 2. 6 AA 4, 471. 7 Kant, An­thro­po­lo­g ie, AA 7, 119. 8 KGA I/2, 366. 9 Kant, An­thro­po­lo­g ie, AA 7, 119. – Vgl. Walch, An­thro­po­lo­g ie. Schlei­er­machers Psychologie | 289

ist. Naturbestimmtheit und Freiheit müssten, so Schlei­er­macher, auch in anthropologischer Perspektive als Einheit gedacht werden: »alle Willkühr im Menschen ist Natur, […] alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber An­thro­po­lo­gie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existiren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung« (KGA I/2, 366). Damit ist ein Programm vorgegeben, das in der Konsequenz auch darauf zielt, die Kantische Verflüchtigung der empirischen Psychologie in die pragmatische An­thro­po­lo­gie als »Weltkunde« zu widerrufen. Der Gedanke der Einheit von Natur- und Selbstbestimmung – den Schlei­er­macher übrigens schon 1789 in seinem Freiheitsgespräch in Bezug auf das Verhältnis psychologischer Gesetze zu Naturgesetzen formuliert hatte10 – verlangt die Annahme einer psycho-physischen Einheit als Ausgangspunkt des menschlichen Naturverhältnisses. Man kann daher in Schlei­er­ machers Kritik an Kants An­thro­po­lo­gie durchaus die Grundrisse seiner späteren Psychologie erkennen. Zumindest erklärt diese Kritik, weshalb für Schlei­er­macher die Möglichkeit einer solchen Disziplin 1816 keiner weiteren Begründung bedurfte. Allerdings war Schlei­er­macher seither einen Weg gegangen, der ihn von der Realisierung dieser Möglichkeit wegführte. Während in den Hallenser Vorlesungen zur Ethik die Idee einer Psychologie sehr deutlich hervortritt – ich werde darauf noch zurückkommen – wird sie später zugunsten einer Deduktion der Ethik aus der Dia­ lek­tik in den Hintergrund gedrängt. Dabei ist jedoch festzustellen, dass in der ersten ausführlichen, kompendienartig ausgearbeiteten Fassung der Dia­lek­tik 1814/15 die rationale Psychologie jenseits der Kantischen Kritik eine Erneuerung erfährt. Im § 228 des Transzendentalen Teils äußert sich Schlei­er­macher über das »Aggregat von Disciplinen« der ehemaligen Metaphysik, also Ontologie, rationale Psychologie, Kosmologie und rationale Theologie (KGA II/10, 1, 152 f.). Letztere  – in Schlei­er­machers Transformation der metaphysica specialis die Ideen Gottes und der Welt – werden der 10 Siehe

KGA I/1, 137: »so sehr auch die psychologischen Geseze von den physischen unterschieden seyn müsten, so gehörten sie doch ebenfals so fern unsre Handlungen nothwendig unter denselben stünden zu dem allgemeinen Naturmechanismus«. 290 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

rationalen Psychologie als deren Fluchtpunkt zugeordnet: »In der rationalen Psychologie kann nichts anderes enthalten sein wenn sie nicht fantastisch werden oder ins empirische streifen soll als die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen.« (KGA II/10, 1, 152 f.) Aber auch die Ontologie ist auf die Ideen Gottes und der Welt bezogen, genauer: »das jede beiden Ideen constituirende Entsprechen des Seins zur Form des Wissens und somit auch […] die Entwiklung der Relativität aller Gegensäze   Also diese beiden Disciplinen sind correlata die nicht zu trennen sind, die leztere aber wesentlich unter die erstere subsumirt weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist.« (KGA II/10, 1, 153) Die rationale Psychologie, wie Schlei­er­macher sie in seiner Dia­ lek­tik 1814/15 skizziert, erhält ihre besondere Funktion dadurch, dass sie gewissermaßen die Stelle der transzendentalen Subjektivität einnimmt. Sie bezeichnet zunächst das Innesein der (transzendenten) Ideen Gottes und der Welt als der termini a quo und ad quem des Wissens und Handelns. Insoweit betrifft sie das unmittelbare als dasjenige Selbstbewusstsein, welches des transzendentalen Grundes inne ist. Nun gibt es daneben aber noch ein reflektiertes Selbstbewusstsein, welches in einer vermittelten Beziehung zum unmittelbaren Selbstbewusstsein steht, indem es die Einheit des Idealen und Realen zwar nicht im Absoluten verankert, aber doch auf diese Einheit bezogen ist und deren Folgen für das empirische Selbst- und Weltverhältnis beschreibt. Im reflektierenden Selbstbewusstsein ist uns, Schlei­er­macher zufolge, ein Dreifaches gegeben: (1) »daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider«, (2) dass »das Wissen selbst […] uns […] nur im Sein gegeben« sei, »aber als ein von ihm verschiedenes«, und (3), dass »ein gegenseitiges Werden« von Denken und Sein »durch einander in der Reflexion und im Willen gegeben« sei und niemand glauben könne, »daß beide beziehungslos neben einander hingehen« (KGA II/10, 1, 93). Die Einheit und Entsprechung von Denken und Sein erscheint hier als eine Tatsache des (Selbst-)Bewusstseins auf der Ebene unseres endlichen Seins. In diesem Sinne bezeichnet Schlei­er­macher auch in der Dia­lek­tik-Vorlesung 1811 das durch unSchlei­er­machers Psychologie | 291

ser Sein gesetzte Selbstbewusstsein als »Keim alles realen Wissens« (KGA II/10, 2, 85).11 In dieser Funktion taucht das reflektierte Selbstbewusstsein der empirischen Subjekte (das als Grundlage des realen Wissens und Handelns zugleich Weltbewusstsein ist) nur in den ersten beiden Dia­lek­tik-Vorlesungen 1811 und 1814/15 auf. In der Vorlesung 1818/19 verweist Schlei­er­macher für die Zusammenstimmung des Denkens und Seins ausdrücklich auf das unmittelbare Selbstbewusstsein, welches befragt werden müsse (KGA II/10, 2, 146). Dies geschieht proleptisch. Erst im Ausgang vom unmittelbaren Selbstbewusstsein werden dann Formen und Funktionen des Selbst- und Weltverhältnisses im Kontext des realen Wissens und Handelns beschrieben. Dabei bleibt es dann. Aus der transzendentalphilosophischen Perspektive der Dia­lek­ tik ist dies konsequent. Der begründende Rekurs auf das reflektierte Selbstbewusstsein für das Zusammenstimmen von Denken und Sein trägt ein empirisches Element in den Begründungszusammenhang der Dia­lek­tik. Die Erklärung der Leistungen des empirischen Selbst- und Weltverhältnisses aus dem unmittelbaren Selbstbewusstsein als dem Innesein des transzendentalen Grundes beseitigt diesen Fremdkörper. In der letzten Bearbeitung der Einleitung zur Ethik (1816/17) heißt es, die Dia­lek­tik sei »nicht sowol die Durchdringung […] von Ethischem und Physischem, Beschaulichem und Empirischem, als vielmehr keines von beiden, […] das gehaltlose Abbild des höchsten Wissens, welches nur Wahrheit hat, inwiefern es in den beiden andern«, also Physik und Ethik ist.12 Wenn die Psychologie, Schlei­er­macher zufolge, spekulative Blicke auf die Prinzipien unserer Seelentätigkeit wirft, dann wirft die Dia­lek­tik jetzt 11 An

dieser Stelle – im technischen Teil der Vorlesung 1811 – heißt es weiter: »Nun aber finden wir eben in uns die Gegensätze von Seyn und Thun, (eine Identität des Seyns zieht sich in unserm Bewußtseyn durch die ganze Reihe des Thuns) und des Idealen und Realen, des Seyns und Begriffs (ohne den eben so wenig irgend ein Moment des Daseyns bestehn kann; denn es wird zum Bestehn ja immer Action und Seyn erfordert)[.] Dieses unser durch unser Seyn nothwendig gesetzte Selbstbewußtseyn ist der Keim alles realen Wissens. Das Resultat dieses Beysammenseyns ist die Bildung des Gegensatzes, als dessen Identität wir das Absolute setzen, in welcher es uns nicht mehr etwas bloß leeres ist.« 12 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 537. 292 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

gewissermaßen in einer gegenläufigen Bewegung empirische Blicke auf diese Seelentätigkeit vom spekulativen Standpunkt aus. Auffällig ist, dass dieser Wechsel in der Begründungsstruktur der Dia­lek­tik genau dann erfolgt, als Schlei­er­macher zum ersten Mal die Disziplin der Psychologie ins Auge fasst. Man kann diesen Befund nach meiner Auffassung durchaus so interpretieren, dass Schlei­er­ macher den Rekurs auf die empirische Psychologie (denn darum handelt es sich letztlich beim reflektierten Selbstbewusstsein) zugunsten der Reinheit der transzendentalen Begründung aus der Dia­lek­tik ausgegliedert und der Psychologie als einer gesonderten Disziplin zugewiesen hat, die dann als Komplement und empirischer Gegenpol zur Dia­lek­tik zu verstehen ist.13 Das bedeutet indessen auch, dass die rationale Psychologie, der Schlei­er­macher, wie gesehen, eine besondere Rolle innerhalb seiner Transformation der metaphysischen Tradition zuweist, nicht mit der Psychologie als Einzeldisziplin konfundiert werden darf, und es bedeutet weiter, dass diese Einzeldisziplin für ihre spekulativen Blicke eben jenen spekulativen Gehalt voraussetzt, den Dia­lek­tik und Ethik begründend erschließen.    Wie steht es in diesem Zusammenhang mit der Ethik? Wäre die 3

Ethik, als kritische Disziplin, deren Aufgabe es ist, das Empirische mit dem Spekulativen zu vermitteln, nicht eigentlich der natürliche Ort für die Psychologie, zumal die Ethik ja – als der Physik koordiniert – genau dort einsetzt, wo auch die Psychologie sich verortet, nämlich an der Schnittstelle zwischen Physik (bzw. Natur) und Ethik (bzw. Geschichte)? Tatsächlich stand die Psychologie einmal an dieser Stelle, nämlich in der Hallenser Ethik 1805/06 (über die Ethik 1804 lässt sich mangels überlieferter Zeugnisse nichts sagen). Ich zitiere aus der Nachschrift Köpke: »Die ganze Menschennatur erscheint uns […] zuvörderst als Leib für die Vernunft. Zu jenem gehört alles, was er vermöge seiner physischen Beschaffenheit mit sich in Verbindung bringen kann. Auch das Psychische denken wir uns als Organ für die Vernunft. […] Eine vollkomne Harmonie soll zwischen den Psychischen Kräften mit den Qualitäten der Natur statt finden. Die einzelne Kraft in der Natur soll auch ihre einzelne 13 Vgl.

Arndt, Friedrich Schlei­er­macher als Philosoph, 379–394. Schlei­er­machers Psychologie | 293

in dem Menschen haben; welche ihr gleichsam korrespondirt. Hier zeigt sich alsdann das Talent welches in einer besondern Vereinigung des physischen und psychischen im Menschen besteht«.14 In seinem Manuskript zu dieser Vorlesung, dem sogenannten Brouillon zur Ethik, bestimmt Schlei­er­macher die Ethik als »die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas anders aus der andern als positiv aufnehmen […]. Sonach theilt sich alles reale Wissen in diese beiden Seiten.«15 Auf die »Frage, was man an die Spize der Sittenlehre stellen soll«, verweist Schlei­er­macher auf eine »ursprüngliche Anschauung«, welche man »nicht in einem Saz zusammenfassen« könne, weshalb man »also unmittelbar in der Anschauung haften bleiben« müsse.16 Diese »sittliche Anschauung sezt nun den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und sezt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen«17, d. h. sie bezieht sich auf den Schnitt- bzw. Indifferenzpunkt von Physik und Ethik. Das Vermögen der Ideen sei die den Menschen einwohnende Vernunft, in der ihre Freiheit von der unmittelbaren Naturbestimmtheit gründe.18 Die den Menschen beseelende Vernunft sei Teil eines universellen, sich durch alle Gestaltungen und Stufen des lebendigen Seins hindurchziehenden Prinzips. Mit der »alten Philosophie« könne das ganze Universum »als ein Lebendes und Beseeltes« gesetzt und (in Anlehnung an Anaxagoras) der nous als beseelendes Prinzip gesetzt werden.19 Der Ausdruck für die Beziehung der menschlichen Seele auf ein höheres geistiges Prinzip sei dann die zu »ahndende« Gottebenbildlichkeit des Menschen.20 Der Ausgangspunkt der Psychologie entspricht dem, was Schlei­ er­macher 1805/06 zu Beginn der Ethik ausführt. Er ist die leib-seelische Einheit, die – und darin besteht das unterscheidende Merkmal Schlei­er­macher, Ethik 1805/06, Nachschrift Köpke, Bl. 22 recto / verso. Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 79 f. 16 Ebd., 82 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., 84. 20 Ebd.; vgl. zur Bindung der Vernunft in der Natur auch 88. 14

15

294 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

zur An­thro­po­lo­gie überhaupt  – im Blick auf das geistige Prinzip thematisiert wird und durch diese Perspektive nur einen »Bruch« der An­thro­po­lo­gie darstellt. Die dort erwähnte »Reihe der Pneumatologie« (KGA II/13, 16) entspricht der Beziehung der menschlichen Seele auf das geistige Prinzip. Die »höchste Seelenkunde« (KGA II/13, 15) wäre erst die, welche diese Reihe der Pneumatologie abgeschritten und somit die vorausgesetzte leib-seelische Einheit an ihre spekulativen Voraussetzungen gebunden hätte. Die Psychologie bleibt daher nach Schlei­er­macher »vorbereitende« Seelenkunde, die erst in der vollständigen Durchdringung des Physischen und Ethischen vollendet wäre (KGA II/13, 15). Der Anfang der Psychologie ist demnach empirisch; sie beginnt mit der »Darlegung der verschiedenen Thätigkeiten der Seele aus der Beobachtung« (KGA II/13, 16), um die Beobachtungen mit den spekulativen Voraussetzungen – den geistigen Prinzipien – zu vermitteln. Sie ist daher eine Verbindung empirischer bzw. aposteriorischer Elemente einerseits und spekulativer bzw. apriorischer Elemente andererseits.21 Die ursprüngliche Konzeption der Ethik umfasste demnach wenigstens den Ausgangspunkt der Psychologie und verfolgte von dort aus den Prozess der Durchdringung des Physischen und Ethischen. Dass diese Konzeption aufgegeben wurde, hängt mit den besonderen Umständen zu Beginn des Lehrbetriebs der neugegründeten Berliner Universität zusammen und hat also eher einen äußerlichen Grund. Nachdem die Berufung seines Freundes aus Hallenser Zeiten, Henrich Steffens, misslang, konnte Schlei­er­macher seine Ethik nicht mehr an dessen Naturphilosophie (in Schlei­er­machers Terminologie: Physik) anschließen, was ihn veranlasste, seine Wissenschaftskonzeption zunächst als Dia­lek­tik voranzuschicken, um sich auch deutlich von der Konkurrenz der Fichteschen Wissenschaftslehre abzusetzen; dies geschieht ausdrücklich, um auf den Standpunkt der Ethik vorzubereiten.22 In der Ethik selbst wird dies dann so durchgeführt, dass – erstmals in der Vorlesung 1812/13 – eine »Deduction der Ethik aus der Dia­lek­tik«23 an die Stelle der ursprünglichen Anschauung tritt. Lemma 9 lautet: »Der Gegensaz ist uns eingeboren unter der Form von Seele und Leib, Idealem und 21 Vgl.

dazu auch KGA II/13, 134 f. das Manuskript zur Vorlesung 1830. die Historische Einführung in KGA II/10, 1, VIII–X . 23 Schlei­er­macher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 247. 22 Vgl.

Schlei­er­machers Psychologie | 295

Realem, Vernunft und Natur«.24 Damit wird unterstrichen, dass die Psychologie in der Weise, wie sie 1818 Gegenstand einer besonderen Disziplin wird, zumindest in ihren Anfangsgründen in der Dia­lek­ tik verortet und aus ihr vorauszusetzen ist. Wie dies innerhalb der Dia­lek­tik geschieht und dass Schlei­er­ macher diese Behandlungsweise aus offenbar systemlogischen Gründen der Vereinheitlichung des transzendentalen Begründungsverfahrens wieder aufgibt, habe ich bereits ausgeführt. Dies führt jedoch nicht dazu, dass die Psychologie der Ethik wieder integriert werden würde, sondern es führt zur Auslagerung der Thematik in eine eigene Disziplin, deren Ort im System des realen Wissens unklar bleibt, denn schließlich behauptet Schlei­er­macher ja weiterhin durchgehend, dass Physik und Ethik das gesamte reale Wissen erschöpfen und alle besonderen, sei es kritischen, sei es technischen Disziplinen als Unterdisziplinen der Ethik zu konzipieren seien. Genau dies ist mit der Psychologie jedoch nicht ausdrücklich der Fall. Sie schwebt nicht nur ortlos zwischen Physik und Ethik, sondern auch zwischen Empirie und Spekulation. 1832 hat Schlei­er­macher sie in seinen Aufzeichnungen zur Ethik näher zu bestimmen versucht. »Die Erklärung der Ethik als Wissen um das gesamte Thun des Geistigen wäre zu weit, weil Logik und Psychologie auch darunter gehören würden.«25 Hier scheint, wenn auch nur negativ, kurz die Möglichkeit auf, Psychologie und Ethik in einer integrativen Geistesphilosophie zusammenzuführen, eine Möglichkeit, die auf der Linie der Hallenser Ethik liegt. Umso mehr Interesse verdienen Schlei­er­machers Argumente dafür, dass diese Möglichkeit nicht realisiert werden soll. An der zuletzt zitierten Stelle fährt Schlei­er­macher fort: »Die Psychologie entspricht der Naturlehre und Naturbeschreibung, ist also empirisches Wissen um das Tun des Geistigen«. Naturlehre und Naturbeschreibung sind hier offenbar im Sinne der rein empirischen Naturkunde zu verstehen, da wenig später die Physik ausdrücklich als Naturwissenschaft vorgestellt und die Psychologie als Teil des rein empirischen Wissens dadurch begrenzt wird, dass die empirische Seite erst durch die Geschichtskunde – das Pendant zur Naturkunde – erschöpft werde.26 24 Ebd.,

248. 632. 26 Ebd., 633. 25 Ebd.,

296 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

Dieser Abgrenzungsversuch von Psychologie und Ethik ist in sich inkonsistent und offenbar missglückt. Er unterläuft den erklärten Hauptzweck der Psychologie, die spekulativen Blicke auf das geistige Prinzip zu richten, also die Vermittlung des Empirischen und Spekulativen bzw. Aposteriorischen und Apriorischen zu leisten, indem die Psychologie einseitig der rein empirischen Naturkunde zugeschlagen wird. Zugleich soll damit das Tun des Geistigen wenigstens basal gefasst werden, das Voraussetzung dessen ist, was in der Geschichtskunde beschrieben wird. Die Verwirrung wird noch größer, wenn Schlei­er­machers hieraus gefolgerte Definition der Ethik hinzugenommen wird; sie lautet: »Sittenlehre ist also speculatives Wissen um die Gesamtwirksamkeit der Vernunft auf die Natur«.27 Der Gegensatz von spekulativ und empirisch, auf den Schlei­er­macher seine Definition gründet, kollidiert nicht nur mit dem genannten Hauptzweck der Psychologie, er sagt auch gar nichts aus zu der zunächst leitenden Fragestellung, ob die Ethik das Wissen um das geistige Tun erschöpfe. Ginge es nur um den Gegensatz von Empirie und Spekulation, dann müsste, sofern die Seele ja auch ethisch als eingeborene Vernunft bestimmt wird, zur vollständigen Beschreibung des geistigen Tuns auch eine spekulative oder wenigstens spekulativ gerichtete Psychologie etabliert werden – innerhalb der Ethik oder in Ergänzung zu ihr.     Schlei­er­machers Psychologie bleibt in ihrem Verhältnis zu den 4

anderen Disziplinen auf eine eigentümliche Weise ortlos und unbestimmt. Das hat offenbar vor allem damit zu tun, dass Schlei­er­ macher das ihr zugehörige Themenfeld mehrfach verschiebt. Dieses scheint 1799 zuerst in der Rezension von Kants An­thro­po­lo­gie auf und findet dann seinen natürlichen Ort zunächst im Schnittfeld zwischen Natur und Menschheitsgeschichte am Beginn der Hallenser Ethik, wo es in die ursprüngliche Anschauung des sittlich handelnden Menschen integriert wird. Von dort wandert es im Zuge der Umstrukturierung des Systems der Wissenschaften in den Berliner Vorlesungen in die neu geschaffene Disziplin der Dia­lek­tik, wo es in dem Verhältnis des reflektierten, empirischen zu dem unmittelbaren Selbstbewusstsein erscheint. Mit der Beseitigung dieses 27 Ebd.

Schlei­er­machers Psychologie | 297

empirischen Elements aus dem Begründungszusammenhang der Dia­lek­tik wird dann die Psychologie verselbständigt, ohne dass vor allem das Verhältnis zur Ethik geklärt würde. Schlei­er­machers späte Intuition von 1832, man könne Ethik und Psychologie in eine umfassende Geistesphilosophie integrieren, scheint mir der Stellung der Psychologie sowohl zur Physik als auch zum ethischen Prozess am meisten gerecht zu werden. So hatte bereits Gunter Scholtz vorgeschlagen, dass man Schlei­er­machers Psychologie »als Ergänzung zu seiner Ethik« lesen solle.28 Der elementarische Teil der Psychologie behandelt ja mit dem individuellen seelischen Dasein die Träger des ethischen Prozesses und deren Tätigkeits- und Bewusstseinsformen, die – bis hin zum Gattungsbewusstsein – im Ausgang vom ursprünglichen Naturverhältnis im Tier-Mensch-Übergangsbereich entwickelt werden. Die Ethik – namentlich die Güterlehre – schließt hieran an, indem sie den Gattungsprozess im gesellschaftlichen Naturverhältnis als Natur- und Vernunftbildungsprozess entwickelt, bis in die in die institutionali­ sierten Formen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in Staat, Akademie, Kirche und freier Geselligkeit bzw. Ökonomie, Eigentum, Wissenschaft, Kunst und Religion hinein. Sofern dieser Prozess als fortschreitende Durchdringung von Empirie und Spekulation verstanden wird, thematisiert er zugleich auch die geschichtliche Seite des Wissens, dessen spekulative Voraussetzungen die Dia­lek­tik erschließt, die von daher auch rückläufig die spekulative Tendenz der ursprünglichen Seelentätigkeit begründet, die dort nur vorausgesetzt werden kann. In dem Titel meiner Ausführungen habe ich gefragt, ob Schleier­­ machers Psychologie eine Philosophie des subjektiven Geistes sei. Von Schlei­er­macher aus lässt sich das nicht abschließend beantworten. Die Frage lässt sich nur dann bejahen, wenn durch eine Konjektur am System Psychologie und Ethik integriert werden, wie ich es soeben angedeutet habe. Dem Einwand, ob eine solche Konjektur überhaupt berechtigt sein könne, würde ich durch den Hinweis darauf begegnen, dass ein systematischer Umgang mit der Psychologie ohne solche Konjekturen ohnehin nicht auskommen könne. Die von mir vorgeschlagene Konjektur hätte aber den Vorzug, Schlei­er­ 28 Scholtz,

Die Philosophie Schlei­er­machers, 165.

298 | An­thro­po­lo­gie und ­Psychologie  

machers Psychologie und Ethik mit Hegels Philosophie des Geistes ins Gespräch zu bringen und dabei unter anderem auch deutlich zu machen, dass in der Epoche der Klassischen Deutschen Philosophie wohl nur Schlei­er­macher über ein vergleichbares Konzept verfügt, das – von Hegel aus gesehen – den subjektiven, objektiven und absoluten Geist im Prozess seiner geschichtlichen Selbstbildung umfasst – ungeachtet der Unterschiede in der Auffassung der Erkenntnis des Absoluten. Über die schöne Seele würden Hegel und Schlei­er­macher sich dabei nicht entzweien lassen. Denn wirklichkeitslos, nur in ihrem Gemüt sich hin- und herwendend, kann nach Schlei­er­machers die Seele im ethischen Prozess gar nicht sein, wenn sie denn nicht als unethisch  – und damit jedenfalls auch nicht als schön  – angesehen werden soll. Ethisch ist nur dasjenige, in dem Individualität mit Welthaltigkeit sich verbinden und auch der Gegensatz gegen die Welt aufgehoben ist, den Hegel dem romantischen Bewusstsein zu Unrecht generell zuschreibt.

Schlei­er­machers Psychologie | 299

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