Schleiermachers Kirchengeschichte 9783161540790, 3161540794

Geschichte und Geschichtlichkeit spielen in Friedrich Schleiermachers philosophischem und theologischem Denken eine groß

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German Pages 536 Year 2016

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Table of contents :
Vorrede
Inhaltsverzeichnis
1. Das Thema
2. Der historische Kontext
3. Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin
4. Die Struktur der Kirchengeschichte
5. Die Praxis der kirchengeschichtlichen Forschung
6. Die erste Periode
7. Die zweite Periode
8. Die dritte Periode
9. Die vierte Periode
10. Ausblick
11. Würdigung
Literaturverzeichnis
Register
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Schleiermachers Kirchengeschichte
 9783161540790, 3161540794

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel 177

Simon Gerber

Schleiermachers Kirchengeschichte

Mohr Siebeck

Simon Gerber, geboren 1967; 1986–93 Studium der Ev. Theologie in Tübingen, Göttingen und Kiel; 1996–98 Vikar; 1998 Promotion und Ordination; 1998–99 Lektor für Kirchen­ geschichte an der Universität Dorpat (Tartu Ülikool), Estland; seit 2000 an der Schleier­ macherforschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin; 2014 Habilitation.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT ISBN 978-3-16-154079-0 ISSN  0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2015  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi­ kro­verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt und auf alterungs­beständiges Werk­ druck­papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Otters­weier gebunden.

Vorrede Die vorliegende Studie ist aus der Editionsarbeit an zwei Vorlesungen Friedrich Schleiermachers hervorgegangen, der Kirchengeschichte und der kirchlichen Statistik. Im Wintersemester 2013/14 wurde sie von der Theologischen Fakul­ tät der Humboldt-Universität Berlin als Habilitationsschrift im Fach Kirchen­ geschichte angenommen und danach für den Druck noch einmal überarbeitet. Die Veröffentlichung gibt Anlaß, den vielen zu danken, die die Arbeit in ihrer Entstehung begleitet und gefördert haben. Mein erster Dank gebührt Frau Professor Dr. Dorothea Wendebourg (Humboldt-Universität Berlin); sie hat die Arbeit seit 2008 betreut und das Erstgutachten verfaßt. Die weiteren Gutachten kamen von Herrn Professor Dr. Andreas Arndt (Humboldt-Universität Berlin, Leiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) und Herrn Professor Dr. Martin Ohst (Ber­ gische Universität Wuppertal). Ihnen allen verdanke ich guten Rat und wert­ volle Hinweise. Hilfreich und anregend waren die Diskussionen in Frau Professor Wende­ bourgs Kolloquium der Doktoranden und Habilitanden und auf den Witten­ berger Schleiermacher-Symposien unter Herrn Professor Dr. Ulrich Barth und Herrn Professor Dr. Jörg Dierken, ebenso auch der Austausch mit den Kollegen an der Berliner Schleiermacherforschungsstelle, Herrn Professor Arndt, Frau Dr. Sarah Schmidt und Herrn Dr. Wolfgang Virmond. Die Berlin-Brandenbur­ gische Akademie der Wissenschaften stellte mich für das Jahr 2013 zur Vollen­ dung der Habilitationsschrift vom Dienst frei. Bei der Klärung einer Einzelfra­ ge half mir Herr Pfarrer Dr. Bernhard Schmidt (Kirchenkreis Falkensee). Eine seelische Unterstützung waren mir meine Frau, die Familie und die Freunde. Schließlich danke ich Herrn Professor Dr. Albrecht Beutel, Herrn Dr. Hen­ ning Ziebritzki und dem Mohr Siebeck Verlag für die Aufnahme der Arbeit unter die Beiträge zur historischen Theologie. Gewidmet sei die Arbeit dem Andenken an meinen Vater, Pastor Reinhold Gerber (8.8.1928–4.4.2007). Berlin, im Mai 2015

Simon Gerber

Inhaltsverzeichnis Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

A. Einleitung 1. Das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1. Schleiermachers Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . 3 1.2. Schleiermachers Kirchengeschichte in der Forschung . . . . 4 1.3. Schleiermachers Kirchengeschichte als Desiderat der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.4. Zum Auf bau dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Der historische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1. Protestantische deutsche Kirchengeschichtsschreibung um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1.1. Pragmatische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1.2. Kirchengeschichte an den deutschen protestantischen Universitäten . . . . . . . . . . . . 19 2.1.3. Literatur zur Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . 22 2.1.4. Konzepte der Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . 27 2.2. Geschichtsanschauung um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.1. Chladenius, Voltaire und Schlözer . . . . . . . . . . 30 2.2.2. Kant und Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2.3. Neue Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3. Schleiermachers kirchenhistorische Bildung . . . . . . . . . 46 2.4. Schleiermacher kirchengeschichtliche Vorlesungen . . . . . 53 2.4.1. Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.4.2. Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

VIII

Inhaltsverzeichnis

B.  Systematischer Teil 3. Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin . . . . . . . 63 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Organische Geschichtsanschauung . . . . . . . . . . . . . 63 Geschichte und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Religion und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Geschichte des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.4.1. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 . . . . . . . 79 3.4.2. Kurze Darstellung des theologischen Studiums . . . . 80 3.4.3. Kirchengeschichte 1821/22 . . . . . . . . . . . . . . 82 3.4.4. Kirchengeschichte 1825/26 . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4.5. Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.5. Vergleich mit Marheineke, Stolberg und Wilhelm von Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.5.1. Marheinekes Universalkirchenhistorie . . . . . . . . 91 3.5.2. Stolbergs Geschichte der Religion Jesu Christi . . . . 96 3.5.3. Wilhelm von Humboldts Vortrag über die Aufgabe des Geschichtsschreibers . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.6. Die Disziplinen der historischen Theologie . . . . . . . . . 102

4. Die Struktur der Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.1. Einheit und Teleologie der Kirchengeschichte . . . . . . . . 107 4.2. Sachliche Teilung des Gegenstandes . . . . . . . . . . . . . 116 4.2.1. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 . . . . . . . 118 4.2.2. Kurze Darstellung des theologischen Studiums . . . . 122 4.2.3. Christliche Sitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.2.4. Kirchengeschichte 1821/22 . . . . . . . . . . . . . . 126 4.2.5. Kirchengeschichte 1825/26 . . . . . . . . . . . . . . 128 4.2.6. Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.3. Die Wirklichkeit des Entwicklungsprozesses . . . . . . . . . 133 4.3.1. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 . . . . . . . 133 4.3.2. Der christliche Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.3.3. Christliche Sitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.3.4. Kurze Darstellung des theologischen Studiums . . . . 142 4.3.5. Kirchengeschichte 1821/22 . . . . . . . . . . . . . . 145 4.3.6. Kirchengeschichte 1825/26 . . . . . . . . . . . . . . 149 4.3.7. Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.4. Die Pluralität der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.5. Das Biographische in der Kirchengeschichte . . . . . . . . . 161 4.6. Die Perioden der Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . 163 4.6.1. Bestimmung der Perioden . . . . . . . . . . . . . . 163 4.6.2. Charakterisierung der Perioden . . . . . . . . . . . . 170

Inhaltsverzeichnis

IX

5. Die Praxis der kirchengeschichtlichen Forschung . . . . . . . . . 174 5.1. Darstellung und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.3. Kirchengeschichte für Theologiestudenten . . . . . . . . . 181

C.  Materialer Teil 6. Die erste Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6.1. Die erste Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte . . . 187 6.1.1. Die Eigenart der ersten Periode . . . . . . . . . . . . 187 6.1.2. Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise . . . . . . 189 6.2. Das apostolische Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.2.1. Von der Urgemeinde zur Heidenmission . . . . . . . 192 6.2.2. Verfassung, Verbreitung und inneres Leben der Kirche 199 6.2.2.1. Kirchenverfassung . . . . . . . . . . . . . . 199 6.2.2.2. Verbreitung und Ausdifferenzierung . . . . . 202 6.2.2.3. Lehre und Irrlehre . . . . . . . . . . . . . . 203 6.2.3. Bedeutung des apostolischen Zeitalters . . . . . . . . 205 6.3. Das apologetische Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 6.3.1. Von den Apostelschülern zu Konstantin . . . . . . . . 209 6.3.1.1. Erlöschen des urchristlichen Enthusiasmus . . 209 6.3.1.2. Häresie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.3.1.3. Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6.3.1.4. Verbreitung, Verfassung und inneres Leben . . 216 6.3.1.5. Erste Abspaltungen . . . . . . . . . . . . . . 220 6.3.1.6. Buß- und Ketzertaufstreit . . . . . . . . . . 225 6.3.1.7. Suche nach der Einheit, Ende der Opposition gegen Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . 227 6.3.2. Wissenschaft und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . 230 6.3.2.1. Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 6.3.2.2. Gnostizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6.3.2.3. Anfänge der Trinitätslehre . . . . . . . . . . 239 6.3.2.4. Kanonisierung und Auslegung der Schrift . . . 244 6.3.3. Bedeutende Einzelgestalten . . . . . . . . . . . . . . 246 6.3.4. Die Entwicklung der Kirche im apologetischen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 7. Die zweite Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 7.1. Die zweite Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte . . 252 7.1.1. Die Eigenart der zweiten Periode . . . . . . . . . . . 252 7.1.2. Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise . . . . . . 253

X

Inhaltsverzeichnis

7.2. Die Kirche als organisiertes gemeinsames Leben . . . . . . . 256 7.2.1. Reichskirche und ökumenische Synode . . . . . . . . 256 7.2.2. Verbreitung des Christentums, Entstehung des Abendlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 7.2.3. Einheit und Spaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 7.2.4. Religiöses Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 7.3. Wissenschaft und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 7.3.1. Die Kirche im Geistesleben ihrer Zeit . . . . . . . . . 278 7.3.2. Dogmen- und Lehrentwicklung . . . . . . . . . . . 280 7.3.2.1. Der Gang der Entwicklung . . . . . . . . . . 280 7.3.2.2. Trinitarischer Streit . . . . . . . . . . . . . . 283 7.3.2.3. Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 7.3.2.4. Erlösung und Sünde . . . . . . . . . . . . . 297 7.4. Bedeutende Einzelgestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.5. Die Entwicklung der Kirche in der zweiten Periode . . . . . 308 8. Die dritte Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 8.1. Die dritte Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte . . 310 8.1.1. Die Eigenart der dritten Periode . . . . . . . . . . . 310 8.1.2. Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise . . . . . . 311 8.2. Die Kirche als organisiertes gemeinsames Leben . . . . . . 314 8.2.1. Papstgeschichte, Transformation der Kirchenverfassung 314 8.2.2. West- und Ostkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 8.2.3. Mission und Kreuzzüge . . . . . . . . . . . . . . . . 322 8.2.4. Religiöses Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 8.3. Wissenschaft und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 8.3.1. Bis zum Auf kommen der Scholastik . . . . . . . . . . 327 8.3.1.1. Die Kirche im Geistesleben ihrer Zeit . . . . . 327 8.3.1.2. Lehrentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 329 8.3.2. Die Zeit der Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . 331 8.3.2.1. Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 8.3.2.2. Ansätze des scholastischen Denkens . . . . . . 333 8.3.2.3. Themen der scholastischen Theologie . . . . . 339 8.4. Opposition und Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . 342 8.5. Bedeutende Einzelgestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 8.6. Die Entwicklung der Kirche in der dritten Periode . . . . . 351 9. Die vierte Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 9.1. Die vierte Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte . . 353 9.2. Die Epoche der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . 354 9.2.1. Kirchengeschichte 1821/22 . . . . . . . . . . . . . . 354

Inhaltsverzeichnis

XI

9.2.1.1. Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise . . 354 9.2.1.2. Ursprung der Reformation . . . . . . . . . . 355 9.2.1.3. Verlauf der Reformation . . . . . . . . . . . 359 9.2.1.4. Bedeutende Einzelgestalten . . . . . . . . . . 363 9.2.2. Deutung der Reformation in anderen Werken Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 9.2.2.1. Texte und Themen . . . . . . . . . . . . . . 365 9.2.2.2. Ereignisse und Gestalten der Reformationszeit 370 9.2.2.3. Das bleibende Vermächtnis der Reformation . 374 9.2.2.4. Die Notwendigkeit, über das 16. Jahrhundert hinauszugehen . . . . . . . . . . . . . . . . 376 9.2.2.5. Wert und Grenze der Bekenntnisschriften . . 378 9.2.3. Bedeutung der Reformation . . . . . . . . . . . . . 383 9.2.4. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 9.2.4.1. Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . 385 9.2.4.2. Die Auf klärung – eine Epoche? . . . . . . . 388 9.3. Kirchliche Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 9.3.1. Entwicklungsstufen und individuelle Gestaltungen des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 9.3.2. Orientalische Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . 394 9.3.3. Orthodoxe Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 9.3.4. Die römisch-katholische Kirche . . . . . . . . . . . . 399 9.3.4.1. Das monarchische Zentrum . . . . . . . . . 399 9.3.4.2. Tendenzen und Spannungen im modernen Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . 401 9.3.4.3. Die religiöse Eigenart des Katholizismus . . . 404 9.3.5. Protestantische Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . 408 9.3.5.1. Der Protestantismus als eine Kirche . . . . . . 408 9.3.5.2. Protestantische Mannigfaltigkeit und Union . 410

D. Schluß 10. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 10.1. Zwischen Pragmatismus und spezialisierter Kirchengeschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 421 10.2. Vermittlung von Kirchlichkeit und historisch-kritischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 10.3. Die Kirche als Lebensgemeinschaft im Geiste Christi . . . . 426 10.4. Das Christentums als Sauerteig in der Menschheit (Neander) 433 10.5. Dogmengeschichte als Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 439 10.6. Verstehende Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

XII

Inhaltsverzeichnis

11. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 11.1. Wirklichkeit und Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 11.2. Geschichtliches Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 11.3. Geschichte im kirchenleitenden Interesse . . . . . . . . . . 463 11.4. Die sichtbare Verwirklichung des Geistes . . . . . . . . . . 466 11.5. Geschichtszeichen und verborgener Fortschritt . . . . . . . 469 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

A. Einleitung

1.  Das Thema 1.1.  Schleiermachers Kirchengeschichte „Die Vorlesungen Schleiermachers über Kirchengeschichte gehören zu den am wenig­sten gekannten des Verewigten, obwohl ihre Kenntniß zum vollständigen Verständniß seines theologischen Systems nothwendig erscheint.“

Was Eduard Bonnells in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Kirchengeschichte Friedrich Schleiermachers schreibt,1 hat bis in die Gegenwart Bestand. Schleiermacher hielt während seiner akademischen Lehrtätigkeit insgesamt drei kirchengeschichtliche Vorlesungen. Im Sommersemester 1806 las er in Halle eine einstündige Einleitung ins Studium der Kirchengeschichte, im Wintersemester 1821/22 hielt Schleiermacher in Berlin ein fünfstündiges kirchengeschichtliches Kompendium, dem noch eines im Wintersemester 1825/26 folgte. Die Manuskripte zu diesen Vorlesungen liegen im Schleiermacher-Nachlaß im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: eine kleine Gedankensammlung und die Ausarbeitung der ersten elf Stunden für die Vorlesung von 1806,2 eine Ausarbeitung der ersten 46 Stunden der Vorlesung von 1821/22,3 außerdem kurze Notizen über weitere Vorlesungsstunden 1821/22 und 1825/26 4 und schließlich eine umfangreiche Materialsammlung für die beiden Kompendien, die sog. Kollektaneen.5 Studentische Nachschriften sind nur für die Vorlesung 1821/22 erhalten; 6 doch da Bonnell seiner

1 

SW I/11, S. VII KGA II/6, S.  3 –18 (SN 67 und 63) 3  KGA II/6, S.  19–117 (SN 64/1 und 65) 4  KGA II/6, S.  117–140 (SN 64/1 und 66/2) 5 KGA II/6, S.   141–463 (SN 64/1 und 64/2). Kollektaneen 1–958 (S.  143–386) hat Schleiermacher für die Vorlesung von 1821/22 zusammengetragen. Für die Vorlesung von 1825/26 hat er diese Kollektaneen ebenfalls benutzt und zu vielen noch Ergänzungen hinzugefügt (vgl. KGA II/6, S. XLIV); neu hinzu kamen Kollektaneen 959–1223 (S.  387–463). – Vgl. zu Schleiermachers Vorlesungsmanuskripten und zur editorischen Arbeit mit ihnen auch Wolfgang Virmond: Schleiermacher als Dozent in der Berliner Universität, in: Hg. Günter Meckenstock: Schleiermacher-Tag 2005, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Jahrgang 2006, Nr.  4, Göttingen 2006, S.  269–278, bes. 271–277. 6 Vgl. Joachim Boekels: Schleiermacher als Kirchengeschichtler, Schleiermacher-Archiv 13, Berlin und New York 1994, S.  31–35; KGA II/6, S. XLIX–LIII. Die Nachschrift von Heinrich Klamroth ist zu etwa zwei Dritteln ediert in KGA II/6, S.  467–661. Die Nachschrift von Karl Rudolf Hagenbach edierte Joachim Boekels (a.a.O., S.  165–453). 2 

4

A. Einleitung

Ausgabe Nachschriften von 1825/26, die heute verloren sind, zugrunde legte,7 kennen wir auch den Verlauf dieser Vorlesung.

Die drei Vorlesungen sind der wichtigste, aber nicht der einzige Beitrag Schleiermachers zur Kirchengeschichte. Die theologische Enzyklopädie, der Gesamtentwurf der theologischen Wissenschaft und ihrer Einzeldisziplinen, vorgelegt in akademischen Vorlesungen und in einem Leitfaden dazu, der berühmten Kurzen Darstellung des theologischen Studiums, umfaßt auch Paragraphen über den wissenschaftstheoretischen Ort, den Gegenstand und die Methode der Kirchengeschichte.8 Über zwei dogmengeschichtliche Themen, die Lehre von der Erwählung und die Trinitätslehre, hat Schleiermacher recht umfangreiche Aufsätze geschrieben.9 Die kirchliche Statistik als Kirchenkunde bezieht sich auch auf die kirchliche Zeitgeschichte (die Französische Revolution, die Auflösung des Römisch-Deutschen Reichs, die Neuordnung seit dem Wiener Kongreß), geht aber öfter auch weiter in die Vergangenheit zurück (die Entstehung der morgenländischen Nationalkirchen, das west-östliche Schisma, die Entstehung der russischen Raskol).10 Die christliche Sittenlehre nimmt sich nicht selten Ereignisse aus der christlichen Vergangenheit zum Beispiel vor, am liebsten die Reformation, um anhand ihrer die Grundlagen des christlichen Handelns zu demonstrieren.11 Dasselbe tut die Praktische Theologie, wenn sie Probleme des Kirchendienstes, des Kirchenregiments und der Kirchenver­ fassung behandelt.

1.2.  Schleiermachers Kirchengeschichte in der Forschung Wie alle Disziplinen der historischen Theologie hat die Kirchengeschichte die christliche Kirche als geschichtlich-soziologisches Phänomen zum Gegenstand: 7 

Vgl. SW I/11, S. VIII f.; KGA II/6, S. XXVIII. LIII f. Ein Auszug aus Bonnells Edition steht in KGA II/6, S.  665–745. 8  Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811, bes. Historische Theologie, Einleitung; Kirchengeschichte (KGA I/6, S.  265– 271. 279–287); Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2.  Aufl., Berlin 1830, bes. §  69–102. 149–194 (KGA I/6, S.  353–365. 380–393); Theologische Enzyklopädie 1831/32, bes. §  69–102. 149–194 (hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  75–102. 143–181) 9  Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, in: Theologische Zeitschrift 1 (1819), S.  1–119 (KGA I/10, S.  145–222); Ueber den Gegensaz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität, in: Theologische Zeitschrift 3 (1822), S.  295–408 (KGA I/10, S.  223–306); Vorarbeiten zu beiden Aufsätzen (KGA II/6, S.  749–777) 10  Z. B. Kirchliche Statistik 1827, 6., 10., 11., 13.–14., 25.–26., 28.–29. und 54. Stunde (KGA II/16, S.  208 f. 224 f. 227 f. 236–238. 279–282. 289–291. 385 f.) 11  Z. B. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  121–125. 203 f.); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  206 f.)

1.  Das Thema

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Die in Jesus Christus gesetzte Offenbarung ist der Anfangspunkt einer Religionsgemeinschaft, die sich durch die Zeiten fortentwickelt; sie läßt sich aus verschiedenen Perspektiven beschreiben. So ergeben sich als historisch-theologische Einzeldisziplinen die Auslegung des Neuen Testaments, die Kirchengeschichte, die Glaubenslehre oder Dogmatik, die Sittenlehre oder theologische Ethik und die kirchliche Gegenwartskunde oder Statistik. Nach Schleiermachers Kurzer Darstellung des theologischen Studiums ist die historische Theologie „der eigentliche Körper des theologischen Studiums, welcher durch die philosophische Theologie mit der eigentlichen Wissenschaft, und durch die praktische mit dem thätigen christlichen Leben zusammenhängt.“12

Schleiermachers Leistungen in den historisch-theologischen Disziplinen fanden ein sehr unterschiedliches Interesse. Für die Glaubenslehre schuf Schleiermacher ein zweibändiges Lehrbuch,13 das für die Entwicklung der neueren prote­stantischen Dogmatik wegweisend wie kein anderes Werk wurde und stets im Zentrum der Diskussion stand. Schleiermachers Vorlesungen in dieser Disziplin sind als Ganzes noch unediert.14 Die Sittenlehre, von Ludwig Jonas aus Vorlesungsmanuskripten und Nachschriften in einer brauchbaren Ausgabe zusammengestellt,15 wird erst seit den 1950er Jahren in der Forschung stärker beachtet.16 Die anderen Disziplinen der historischen Theologie liegen noch abseits 12  Kurze Darstellung 2 , §  2 8 (KGA I/6, S.  336). Vgl. dazu auch unten Abschnitte 3.4.2. und 3.6. 13  Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Band 1–2, Berlin 1821/22 (KGA I/7,1–2); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1–2, Berlin 1830/31 (KGA I/13,1–2) 14  Passagen aus August Twestens Nachschrift des Schleiermacherschen Dogmatik-Kollegs von 1811 stehen bei Heinz Zimmermann-Stock: Schleiermachers Christologie nach seiner Vorlesung aus dem Jahre 1811, Kiel 1973, S.  277–314; Matthias Wolfes: Friedrich Schleiermacher: Einleitung zur Vorlesung über Dogmatische Theologie (Sommersemester 1811). Nachschrift August Detlev Christian Twesten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 109 (1998), S.  80–99. Vgl. Matthias Wolfes: „Ein Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung findet nicht statt.“, in: Hg. Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener: 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, Schleiermacher-Archiv 19, Berlin und New York 2000, S.  629–667. – In seiner Ausgabe der Glaubenslehre (KGA I/13) hat Rolf Schäfer auch Auszüge aus einer fragmentarischen Nachschrift der Dogmatik-Vorlesung von 1830 von Johann Hinrich Wichern mitgeteilt. 15  SW I/12. Die Vorlesung von 1826/27 hat Hermann Peiter verschiedentlich ediert: Das christliche Leben nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von Hermann Peiter, Band 1–2, Berlin-Ost 1969; Christliche Sittenlehre (Wintersemester 1826/27). Einleitung, hg. von Hermann Peiter, Stuttgart u. a. 1983; Christliche Sittenlehre (Vorlesung im Wintersemester 1826/27), hg. von Hermann Peiter, Theologie. Forschung und Wissenschaft 32, Münster 2011. 16  Z. B. Holger Samson: Die Kirche als Grundbegriff der theologischen Ethik Schleiermachers, Basel 1958; Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre im

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A. Einleitung

vom breiten Strom der Schleiermacherforschung. Die Vorlesungen zur kirchliche Statistik wurden erst 2005 herausgegeben,17 und die Auslegung des Neuen Testaments, die Schleiermacher unter den theologischen Disziplinen am häufigsten las und über die es die meisten Manuskripte und Nachschriften gibt, wurde noch nicht ediert.18 Die bisher einzige Edition der Praktischen Theologie ist in ihrem Haupttext19 eine Kompilation von Nachschriften verschiedener Jahrgänge und somit wenig brauchbar und zuverlässig. Eine Neuedition ist bei der Berliner Schleiermacherforschungsstelle in Arbeit. Die Kirchengeschichte schließlich erschien zwar 1840 als Band I/11 in den Sämmtlichen Werken, doch diese Ausgabe ist, unbeschadet ihrer Verdienste, weit weniger geglückt als etwa Jonas’ Ausgabe der christlichen Sitte: Bonnell kompilierte für den Hauptteil der Ausgabe Nachschriften aus den verschiedenen Semestern und Stundenausarbeitungen Schleiermachers zu einem fortlaufenden Text, und dieser ist dadurch redundant und oft schwer lesbar.20 Daß Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Theologische Bibliothek Töpelmann 8, Berlin-West 1964 (grundlegend); Siegfried Keil: Die Christliche Sittenlehre Friedrich Schleiermachers – Versuch einer sozialethischen Aktualisierung, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 10 (1968), S.  310–342; Hartmut Burbach: Das ethische Bewußtsein, Göttinger theologische Arbeiten 31, Göttingen 1984; Claus Müller: Ist theologische Ethik philosophisch möglich? Europäische Hochschulschriften XXIII,738, Frankfurt am Main 2002 17 KGA II/16. Vgl. Hermann Peiter: „Sitte“ bei Schleiermacher, in: Zeitschrift für Theo­logie und Kirche 72 (1975), S.  398–426; Simon Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), S.  183–214; ders.: Kirchliche Statistik als Soziologie des Christentums, in: Hg. Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, SchleiermacherArchiv 22, Berlin und New York 2008, S.  4 43–457. 18  Einige Arbeiten hat Schleiermacher selbst veröffentlicht: Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos, Berlin 1807 (KGA I/5, S.  153–242); Ueber die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch, Teil 1, Berlin 1817 (KGA I/8, S.  1–180. Die Einleitung zu Teil 2, zwischen 1817 und 1826 entstanden, wahrscheinlich schon 1817, blieb unveröffentlicht; sie ist ediert in KGA I/8, S.  181–193); Ueber Kolosser 1,15–20, in: Theologische Studien und Kritiken 5 (1832), S.  497–537 (KGA I/8, S.  195–226); Ueber die Zeugnisse des Papias von unsern beiden ersten Evangelien, in: Theologische Studien und Kritiken 5 (1832), S.  735–768 (KGA I/8, S.  227–254). Ediert wurden von den Vorlesungen die Einleitung in das Neue Testament (SW I/8) und das Leben Jesu (SW I/6). – Hilger Weisweiler: Schleiermachers Arbeiten zum Neuen Testament, Bonn 1972, berücksichtigt nur die Kurze Darstellung, die gedruckten Arbeiten und die beiden in den „Sämmtlichen Werken“ edierten Vorlesungen. Dagegen hat Johannes Conradi: Schleiermachers Arbeit auf dem Gebiete der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft, Niederlößnitz-Dresden 1907, auch eine Nachschrift zur Vorlesung über die Apostelgeschichte von 1817 benutzt. Ein Abschnitt aus der exegetischen Ausarbeitung zum zweiten Korintherbrief steht bei Simon Gerber: Geist, Buchstabe und Buchstäblichkeit – Schleiermacher und seine Vorgänger, in: Hg. Michael Pietsch und Dirk Schmid: Geist und Buchstabe. Festschrift für Günter Meckenstock zum 65. Geburtstag, Theologische Bibliothek Töpelmann 164, Berlin und Boston 2013, S.  105–129, hier 111–114. 19  SW I/13, S.  3 –728 20 Vgl. Hanna Jursch: Schleiermacher als Kirchenhistoriker, Band 1, Jena 1933, S.  10 f.;

1.  Das Thema

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Schleiermachers Kirchengeschichte wenig Beachtung fand und zunächst, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt wurde,21 dürfte auch den Mängeln der Bonnellschen Ausgabe geschuldet sein. Bis 1994 blieb sie die einzige Edition der Schleiermacherschen Kirchengeschichte. 1907 legte Hermann Mulert den ersten (und einzigen) Teil einer Studie über Schleiermachers Geschichtstheorie vor. Darin wird (neben der philosophischen Ethik, der theologischen Enzyklopädie und der Glaubenslehre) auch die Kirchengeschichte herangezogen. Mulert konstatiert in Schleiermachers Auf­ fassung der Geschichte ein wachsendes Eigengewicht der Empirie gegenüber der begrifflich-spekulativen Erkenntnis. Eine aus der Geschichte gewonnene Wahrheitsgewißheit des Christentums oder eine philosophische Konstruktion der positiven Geschichte gebe es bei Schleiermacher nicht.22 Die erste größere Arbeit zu Schleiermachers Kirchengeschichte kam von Hanna Jursch und erschien 1933. Jursch untersuchte die Grundlagen der Schleiermacherschen Geschichtsanschauung. Der zweite Band der Arbeit sollte auf dieser Grundlage Schleiermachers materiale Darstellung der Kirchengeschichte würdigen und Ergänzungen und Berichtigungen zu Bonnells Ausgabe bringen; 23 der Band ist jedoch nie erschienen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Verhältnis des Christentums zur Religions- und Geschichtstheorie der philosophischen Ethik und die Frage nach der Absolutheit des Christentums; Jursch möchte hier nicht bei Mulerts strenger Unterscheidung von Spekulation, wirklicher Geschichte und Glaubensgewißheit stehenbleiben.24 – Daß die Kirchengeschichte eine Disziplin der theologischen Wissenschaft im Interesse der Kirchenleitung ist, behandelt Jursch nur am Rande; der Zusammenhang der Kirchengeschichte mit der christlichen Glaubens- und Sittenlehre wird nicht thematisiert. Klaus Martin Beckmann untersuchte und kritisierte in seiner Dissertation Schleiermachers Häresiebegriff im Sinne der „dialektischen Theologie“ (1959). Er stellt fest, daß die Einleitung der Kirchengeschichte von 1825/26 zwar nicht auf den in der Glaubenslehre aufgestellten Begriff der Häresie verweist, sachlich aber mit der Glaubenslehre übereinstimmt. Was Schleiermacher im materialen Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Beiträge zur historischen Theo­ logie 77, Tübingen 1989, S.  51; Boekels: Schleiermacher, S.  37–42; KGA II/6, S.  X XXI– XXXIII. 21  Vgl. dazu Jursch: Schleiermacher 1, S.  52–54; Ohst: Schleiermacher, S.  51; Boekels: Schleiermacher, S.  2–5; KGA II/6, S.  XXXIV–XXXVIII. – Dagegen stießen die beiden dogmengeschichtlich-dogmatischen Abhandlungen über die Erwählungs- und Trinitätslehre auf lebhaftes Interesse, vgl. KGA I/10, S.  X LV–LXIX. 22  Hermann Mulert: Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie, Teil 1, Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus 3, Gießen 1907, bes. S.  10–14. 41–46. 74–86; vgl. Jursch: Schleiermacher 1, S.  17–22. 23  Jursch: Schleiermacher 1, S.  4. 11 24  Vgl. bes. Jursch: Schleiermacher 1, S.  45–50. 57 f.

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A. Einleitung

Teil der Kirchengeschichte über die Häresien und Kirchenspaltungen schreibt, bleibt unberücksichtigt.25 Im Jahr 1968 legte Theodor Jørgensen einen ausgezeichneten Aufsatz über Schleiermachers Kirchengeschichte und ihren Ort im System der Wissenschaften vor. Jørgensen machte darin u. a. auf die Eigenart der Vorlesung von 1806 gegenüber den späteren Entwürfen aufmerksam. Der Aufsatz wurde allerdings kaum beachtet, vielleicht deshalb, weil er auf Dänisch in einer dänischen Zeitschrift veröffentlicht worden war.26 In einem 1970 veröffentlichten Vortrag des deutsch-amerikanischen Theologen Wilhelm Pauck geht es um das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität, Empirie und Spekulation in Schleiermachers Geschichtstheorie. Pauck, der die Reden über die Religion, die Kurze Darstellung und die Glaubenslehre, aber auch die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 heranzieht, konstatiert bei Schleiermacher eine Spannung zwischen der Individualität als Zentrum der Entwicklung einerseits, der Teleologie andererseits. Gegen Ende des Vortrages lehnt Pauck eine Einbeziehung der materialen Kirchengeschichte in die Untersuchung ab: „I could also test his [Schleiermacher’s] interpretation of Church history by his own performance as a Church historian. But this would not be of general interest, for he offered only a brief survey, mostly of the history of doctrine, which he had not had time to prepare thoroughly, either by a close study of the primary sources or by a careful outline of the general structure of the Church’s development.“27

Günter Ebbrechts Dissertation über die Einleitungsparagraphen der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums (1977) berücksichtigt die Kirchengeschichtsvorlesungen im Zusammenhang der historischen Theologie: Ebbrecht charakterisiert Schleiermachers organische Geschichtsanschauung anhand der Einleitungsvorlesung von 1806, daneben werden auch u. a. die Einleitungen der Kollegs von 1821/22 und 1825/26 herangezogen, soweit sie in Bonnells Ausgabe enthalten sind.28 Daß Schleiermacher in der Kurzen Darstellung und in den drei kirchengeschichtlichen Vorlesungen jeweils verschiedene Ansätze hat, um die Wissenschaftlichkeit der historischen Theologie zu begründen (vgl. unten Abschnitt 3.4.), ist Ebbrecht entgangen. 25  Klaus Martin Beckmann: Der Begriff der Häresie bei Schleiermacher, Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus X,16, Göttingen 1959, S.  86–93. Vgl. Der christliche Glaube1 1, §  24 f. (KGA I/7,1, S.  91–96); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  667–701, bes. 683 f.). 26  Theodor Jørgensen: Schleiermacher som kirkehistoriker, in: Dansk teologisk tid­ skrift 31 (1968), S.  178–214 27  Wilhelm Pauck: Schleiermacher’s Conception of History and Church History, in: Journal for Theology and the Church 7 (1970), S.  41–67 (S.  57–67 Diskussion), hier zitiert S.  55 28  Günter Ebbrecht: Theologie als positive Wissenschaft (KD), Band 1, Heidelberg 1977, S.  353–363. Band 2, Heidelberg 1977, S.  180–186

1.  Das Thema

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Giovanni Morettos Studie über Schleiermachers ethisches Geschichts- und Kulturverständnis und dessen Kontext (1979) untersucht besonders die Begründung und Entwicklung des Individualitäts- und Freiheitsgedankens. Moretto findet bei Schleiermacher eine eigene Gestalt des (auch von Johann Gottlieb Fichte und anderen vertretenen) „storicismo giovanneo“ ( johanneischen Historismus), der die Geschichte als Menschwerdung des Absoluten und Christus als ihre zentrale Gestalt deute. Der materiale Schwerpunkt der Studie liegt auf den frühen Entwürfen und den romantischen Arbeiten; wo Moretto das späte philosophisch-theologische System behandelt, berücksichtigt er gelegentlich auch die Kirchengeschichte.29 In Wilhelm Gräbs Dissertation „Humanität und Christentumsgeschichte“ (1980) geht es noch einmal um das Problem, wie sich Schleiermachers christlich-theologische Deutung der Erscheinung Christi als Neuanfang und Zeitenwende und des Christentums als Mitte und Ziel der Geschichte zur Kulturund Geschichtstheorie der philosophisch-ethischen Güterlehre verhält. Gräb legt dar, daß Schleiermacher für das Christentum keinen geschichtsphilosophischen Wahrheitsbeweis beanspruche; trotzdem nehme das Christentum als Religion, deren Zentrum eine spezifische Anschauung und Deutung der Geschichte sei, eine Stelle innerhalb der philosophischen Geschichtsdeutung ein, die diese bewußt offenlasse.30 – Die kirchengeschichtlichen Einleitungen werden nur ab und zu zitiert; 31 den materialen Teil der Kirchengeschichte hat Gräb nicht rezipiert. Martin Ohst macht in seiner Dissertation über Schleiermachers Verhältnis zu den reformatorischen Bekenntnisschriften (1989) auf den engen Zusammenhang aufmerksam, den in Schleiermachers theologischem System Kirchengeschichte und christliche Sittenlehre haben.32 Für Schleiermachers Deutung der Reformation zieht Ohst neben der Sittenlehre, Gelegenheitsschriften und Predigten auch die Kirchengeschichte heran, und zwar einerseits die Darstellung der Reformation in der Vorlesung von 1821/22,33 andererseits die Einleitungen zur Kirchengeschichte, hier besonders die einschlägigen Paragraphen der Kurzen Darstellung und das Manuskript von 1806.34

29  Giovanni Moretto: Etica e storia in Schleiermacher, Istituto italiano per gli studi filosofici. Seria Studi 2, Neapel 1979, S.  387. 404. 413 f. 30  Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte, Göttinger theologische Arbeiten 14, Göttingen 1980; vgl. ders.: Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie bei Schleiermacher, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 54 (2012), S.  240–261. 31  Gräb: Humanität, S.  145. 159 f. 206. 208 f.; ders.: Geschichtsphilosophie, S.  243 f. 255. 259 32  Ohst: Schleiermacher, S.  59 u.ö. Auch Gräb: Humanität, S.  144–146. 206, hatte schon indirekt darauf hingewiesen. 33  Ohst: Schleiermacher, S.  70–75 34  Ohst: Schleiermacher, S.  50–69

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A. Einleitung

Die Edition der Hagenbach-Nachschrift von 1821/22 durch Joachim Boekels (1994) war ein wichtiger Schritt für die Wiedergewinnung der Kirchengeschichte Schleiermachers. Boekels’ Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Schleiermachers Manuskripten, Bonnells Ausgabe und der Nachschrift von 1821/22 und über die von Schleiermacher herangezogene Literatur 35 waren eine große Hilfe für die Ausgabe der Kirchengeschichte in der Kritischen Gesamtausgabe (Band II/6, 2006), sind im Ganzen durch diese aber jetzt überholt; die edierte Hagenbach-Nachschrift selbst behält indessen ihren Wert auch neben der Kritischen Gesamtausgabe. Über Stellung und Bedeutung der Kirchengeschichte in Schleiermachers theologischem System bringt die Arbeit kaum etwas; 36 dafür würdigt Boekels ausführlich den bisher stark vernachlässigten materialen Teil der Kirchengeschichte und rühmt seinen weiten Horizont, sein kritisches Niveau, seine Detailfülle und sein Bemühen, Ereignisse und Meinungen jeweils aus ihrer Zeit zu begreifen.37 Die Kirchengeschichten der Vorgänger und Zeitgenossen Schleiermachers werden nicht zum Vergleich herangezogen: „Wieweit die im folgenden aufgezeigte historische Kritik Schleiermachers seine eigenständig erarbeitete Position ist oder von ihm aus der Sekundärliteratur übernommen wurde, ist für unsere Fragestellung nicht entscheidend, denn auch ein übernommenes kritisches Urteil zeigt mit der Übernahme in die Vorlesung Schleiermachers betreffende Position unabhängig von der Genese der Urteilsbildung an.“38

Kurt Nowaks Schleiermacher-Biographie (2001) würdigt besonders die Einleitungsvorlesung von 1806 als bedeutenden konzeptionellen Neuansatz für die Kirchengeschichte: Hier werde die Kirchengeschichte als historische Religionssoziologie gefaßt, freilich mit einem systematisch etwas überspannten Kirchengeschichtsbegriff, denn in Wirklichkeit lasse sich das Politische eben doch nicht so sauber vom Religiösen trennen, wie es Schleiermachers Konzept erheische. Gegenüber dem Ansatz von 1806 bedeuteten die Vorlesungen der 1820er Jahre aber einen Rückschritt, sowohl die von Bonnell als „Aphorismen zur Kirchengeschichte“ edierten Manuskripte zur Einleitung von 1821/22 als auch die materiale Durchführung; das Ganze sei trotz guten Einzelbeobachtungen zu einem wenig originellen Kompendium geworden.39

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Boekels: Schleiermacher, S.  11–30. 37–106 Boekels: Schleiermacher, S.   106–113, wo die Einleitung der Vorlesung von 1821/22 nachgezeichnet wird. 37  Boekels: Schleiermacher, S.  113–156. Der Abschnitt über den materialen Teil der Kirchengeschichte enthält allerdings weniger eine Interpretation als eine affirmative Reihe von Zitaten. 38  Boekels: Schleiermacher, S.  121 39  Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, S.  246–250. 546. – Daß es Schleiermacher – jedenfalls nach dem von Bonnell edierten Text – nicht recht gelungen sei, den Stoff nach seinen methodologischen Prinzipien zu bändigen, hatte auch Ohst: Schleiermacher, S.  64 f., konstatiert. 36 Vgl.

1.  Das Thema

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1.3.  Schleiermachers Kirchengeschichte als Desiderat der Forschung Schleiermacher war nun in der Tat kein Kirchengeschichtler, wie es nach ihm etwa August Neander, Ferdinand Christian Baur oder Karl (von) Hase waren. Die Vorlesungen zur Kirchengeschichte hat Schleiermacher nicht zur Veröffentlichung als Buch vorbereitet oder bestimmt, und zu einer eigenständigen Aneignung und Durcharbeitung der Quellen ist Schleiermacher nur zum Teil gekommen; für die materiale Durchführung der Kirchengeschichte mußte er sich meistens auf die Arbeiten anderer stützen. Boekels’ Feststellung, „daß Schleiermacher seine Kirchengeschichte sehr quellenorientiert ausgearbeitet hat und öfter von den Quellen Gebrauch gemacht hat, als man dies erwartet“,40

hat sich bei der Auswertung der Schleiermacherschen Materialsammlung nicht bestätigt. Recht hat Boekels aber, wenn er den Umfang der genannten historischen Personen und Fakten erstaunlich nennt: 41 Das Personenregister ist fast 60 Seiten lang, und das Sachregister nennt u. a. 208 Synoden.42 Auch der Virtuose der Kirchengeschichte wird in Schleiermachers Kollektaneen manches lesen, was er bislang nicht gewußt hat. Die der Schleiermacherschen Darstellung der Kirchengeschichte nicht selten attestierten Unvollkommenheiten43 relativieren sich schon, wenn man hinter Bonnells Ausgabe zu den handschriftlichen Quellen aus der Feder Schleiermachers und seiner Nachschreiber zurückgeht. Daß die Meinungen und Urteile eines epochemachenden Theologen wie Schleiermacher über Gestalten und Ereignisse der Kirchengeschichte von Interesse sind, versteht sich von selbst. Aber nicht nur deshalb hat Schleiermachers Kirchengeschichte ihre bisherige Vernachlässigung nicht verdient. Zunächst einmal entspricht die Vernachlässigung nicht der Bedeutung, die Schleiermacher selbst dieser Disziplin zuschreibt. Von Karl Barth stammt das bekannte Bonmot, die Kirchengeschichte antworte auf keine selbständig zu stellende Frage hinsichtlich der christlichen Rede von Gott, wie das die exegetische, die dogmatische und die praktische Theologie täten; insofern sei die Kirchengeschichte auch keine selbständige theologische Disziplin, sondern eine allerdings unentbehrliche Hilfswissenschaft der drei anderen Disziplinen.44 40 

Boekels: Schleiermacher, S.  105 Boekels: Schleiermacher, S.  113 f. 42  KGA II/6, S.  833–891. 897–902 43 Vgl. oben Abschnitt 1.2., weiter auch Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, München 1934, S.  157. 263: „Derselbe Schleiermacher, der sagen kann, ‚die Geschichtsschreibung muß ganz den Charakter der Kunst an sich tragen‘, (Anm.: Schleiermacher: Geschichte der christlichen Kirche S.  624 [SW I/11, S.  624 = Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 2. Stunde, KGA II/6, S.  10]) scheint diesen Satz bei seiner eigenen unanschaulichen Darstellung vollständig vergessen zu haben.“ 44  Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Band I/1, München 1932, S.  3. Vgl. Kurt-Victor Selge: Einführung in das Studium der Kirchengeschichte, Darmstadt 1982, S.  4 f.; 41 

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A. Einleitung

Schleiermacher hingegen hat die Vorstellung, die Dogmatik sei die eigentliche Theologie, der die anderen Disziplinen als bloße Hilfswissenschaften zugeordnet seien, einen aus dem scholastischen Zeitalter überkommenen Irrtum genannt. Vielmehr hätten die exegetische Theologie und eben auch die Kirchengeschichte ihren eigenen Wert für das Geschäft der Kirchenleitung, den Endzweck der ganzen theologischen Wissenschaft, und jede dieser Disziplinen sei zugleich für die anderen unentbehrlich und eine Hilfswissenschaft.45 Das Scholastische an der Überordnung der Dogmatik über die anderen Disziplinen besteht offenbar in der einseitigen Bevorzugung der Idealität und Theorie gegenüber der lebendigen Geschichte.46 Wer das Christentum beschreiben will, darf sich nicht auf das Normative beschränken, auf Schrift und Dogma, sondern muß die ganze geschichtliche Wirklichkeit des christlichen Lebens einbeziehen. Wenn also nicht die Glaubenslehre allein, sondern erst die Disziplinen der historischen Theologie insgesamt – zusammen mit ihrer philosophisch-ethischen Grundlegung und ihrer praktisch-technischen Anwendung – Schleiermachers Anschauung des Christentums und der christlichen Kirche ergeben, so ist die Kirchengeschichte unter ihnen das alles verbindende Mittelstück,47 ja, Schleiermacher kann sie sogar die „eigentliche Vollendung“ der theologischen Disziplinen nennen.48 Eine Darstellung der Theologie Schleiermachers ohne die Kirchengeschichte ist unvollständig. Aber auch wer etwa Schleiermachers Stellung zu bestimmten dogmatischen Themen untersucht, ist gut beraten, sich nicht auf die Glaubenslehre zu beschränken, sondern auch die Erörterungen in den dogmen- und theologiegeschichtlichen Passagen der Kirchengeschichte einzubeziehen. Sodann ist die Kirchengeschichte diejenige wissenschaftliche Disziplin, in der Schleiermacher seine theoretischen Grundanschauungen auf einem um­ fassenden historisch-empirischen Gebiet durchführt. Über die Weltgeschichte, das „Bilderbuch“ und Gegenstück zu seiner philosophischen Ethik (vgl. unten Christian Uhlig: Funktion und Situation der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin, Europäische Hochschulschriften XXIII,269, Frankfurt am Main 1985, S.  24–29. 36– 38; Albrecht Beutel: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), S.  84–110, hier 84. Selge weist darauf hin, daß auch bei Barth die Kirchengeschichte implizit mehr als eine Hilfswissenschaft ist, indem die Kirche als die Größe, für die die Dogmatik bestimmt ist und auf die die normativen Vorgaben angewandt werden sollen, als eben geschichtlich gegeben immer schon mitgesetzt ist. 45  Der christliche Glaube1 1, §  1,5 (KGA I/7,1, S.  12 f.); Kurze Darstellung 2 , §  82 (KGA I/6, S.  357); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 1–3. 9. 15– 18); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  97 (hg. Sachs, S.  99 f.) 46  Barths „scholastische“ Sicht äußert sich auch darin, daß er Schleiermacher zugute halten kann, anders als andere der klügsten Köpfe nicht in die Historie geflohen zu sein, sondern auch theologisch zu denken, d. h. Dogmatik zu treiben, und daß er Schleiermachers Glaubenslehre eine „summa theologica“ nennen kann (Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2.  Aufl., Zollikon-Zürich 1952, S.  384. 393). 47  KGA II/6, S. XXXV f. Vgl. unten Abschnitt 3.6. 48  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3. Stunde (KGA II/6, S.  11)

1.  Das Thema

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Abschnitt 3.2.), hat er keine Vorlesungen gehalten. Die Philosophiegeschichte behandelt ein rein ideales Gebiet, das Leben Jesu ist eine Biographie und keine Darstellung großer historischer Zusammenhänge, und in der kirchlichen Statistik steht der gegenwärtige Gesamtzustand des Christentums unter ausführlicher Erörterung der kirchenpolitischen Probleme im Mittelpunkt, nicht die Entwicklungsgeschichte. Ob Schleiermacher Sinn und Begabung für das Gebiet der Geschichte hatte, wurde ganz unterschiedlich beurteilt.49 Gerade der materiale Teil der Kirchengeschichte kann zeigen, wie Schleiermacher historisch arbeitet, d. h. ob und wie er seiner Forderung nachkommt, in der Geschichtsschreibung müßten Spekulation und Empirie einander wechselseitig durchdringen. Schließlich aber wird sich anhand der kirchengeschichtlichen Vorlesungen auch die Frage stellen, was wir heute noch von Schleiermacher über den Gegenstand, die Funktion und die Methode der Kirchengeschichte lernen können.

1.4.  Zum Aufbau dieser Arbeit Aus dem Gesagten erhellt bereits, daß Schleiermachers Kirchengeschichte als Teil und im Zusammenhang seines Gesamtentwurfs der Theologie und überhaupt seines Systems der Wissenschaften verstanden werden muß. Schleiermachers hermeneutisches Denken, wonach der Weg des Erkennens und Verstehens weder rein deduktiv vom Ganzen zum Einzelnen geht noch rein induktiv vom Einzelnen zu den Prinzipien und zum Ganzen, sondern in der Kombination, im Ineinander von Deduktion und Induktion, spekulativer und empirischer Erkenntnis, schlägt sich auch in der polyzentrischen, elastischen Konstruktion seines Systems der Wissenschaften nieder. Dessen verschiedene Teile ergänzen sich, bedürfen einander, legen sich untereinander aus. Das Wissen wird nicht in einer obersten Wissenschaft aus einem obersten Prinzip deduziert, es wächst in einem unendlichen Prozeß der Annäherung an seinen (sich ebenfalls immer weiter entwickelnden) Gegenstand, es ist stets im Werden, auch als Dialog unter den Wissenschaften, zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen den spekulativ-deduktiven und empirisch-induktiven, den 49  Vgl. die Zusammenstellungen bei Jursch: Schleiermacher 1, S.  4 –8. 92–97; Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  179; Pauck: Schleiermacher’s Conception, S.  41–43. 56; Moretto: Etica, S.  13–48; Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Erträge der Forschung 217, Darmstadt 1984, S.  70–78. Zu den skeptischen Stimmen über Schleiermachers historischen Sinn kann man noch hinzufügen: Martin Kähler: Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, hg. von Ernst Kähler, Theologische Bücherei 16, München 1962, S.  79 f. 98; Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Band 1, 2.  Aufl., hg. von Hermann Mulert, Berlin und Leipzig 1922, S.  776 (Gesammelte Schriften 13,2, S.  155); Wolfgang Trillhaas: Schleiermachers Predigt und das homiletische Problem, Leipzig 1933, S.  170.

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reinen, kritischen, technischen und positiven Wissenschaften.50 Vieles ist Gegenstand mehrerer Disziplinen und wird in jeder auf jeweils ihre Art konstruiert und dargestellt, ohne daß die verschiedenen Disziplinen mit ihrem Wahrheitsanspruch einander ins Gehege kämen. So kann Schleiermacher das ganze menschliche Handeln als philosophische und als christlich-theologische Sittenlehre darstellen,51 so sagt er selbst, daß die Häresien in der Kirchengeschichte anders beschrieben und beurteilt würden als in der Dogmatik, ohne daß eine von beiden mehr recht hätte (vgl. unten Abschnitt 4.3.5. und 4.3.6.), so ist die Gnosis in philosophiegeschichtlicher und in kirchenhistorischer Perspektive jeweils etwas anderes (vgl. unten Abschnitt 6.3.2.2.), und so rezipiert die exegetische Wissenschaft die Apostelgeschichte anders als es die Kirchengeschichte tut (vgl. unten Abschnitt 6.1.2.). Wir setzen diesen einleitenden Teil (A) mit einem Blick auf den historischen Kontext fort, in dem Schleiermachers Kirchengeschichte steht: die protestantische kirchengeschichtliche Wissenschaft um 1800, geschichtstheoretische Entwürfe um 1800 und die Entstehungsgeschichte von Schleiermachers kirchengeschichtlichen Vorlesungen (Abschnitt 2). Ein erster systematischer Hauptteil dieser Arbeit (B) behandelt die Grundlagen von Schleiermachers Kirchengeschichtsauffassung. Dabei geht es um den Ort der Geschichte, der historischen Theologie und der Kirchengeschichte in Schleiermachers Wissenschaftssystems (Abschnitt 3), dann um die Anschauung des Verlaufs der Kirchengeschichte, also um die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten, die den Verlauf der Kirchengeschichte bestimmen, und um das Problem, das Ganze für die Darstellung in sachliche und zeitliche Abschnitte zu teilen (Abschnitt 4), und schließlich um die Praxis der kirchenhistorischen Arbeit, die Kritik und den Zweck kirchengeschichtlicher Überblicksvorlesungen (Abschnitt 5). Grundlage sind zunächst die Einleitungsvorlesung von 1806, die Einleitungen der Kompendien von 1821/22 und 1825/26 und die theologische Enzyklopädie. In Abschnitt 3 werden auch die religionsphilosophischen und religionssoziologischen Partien der philosophischen Ethik und der Glaubens50  Vgl. unten Abschnitt 3.1.–3.4. Vgl. auch Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, S.  64–70; ders.: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1995, S.  162–169. 194–198. 236–238; Nowak: Schleiermacher, S.  292 f.; Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen, Quellen und Studien zur Philosophie 67, Berlin und New York 2005, S.  308–312. 351–361; Andreas Arndt: Schleiermachers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen, in: Hg. ders.: Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807, Berlin und Boston 2013, S.  55–65, hier 60–62. 51 Vgl. Christliche Sitte 1809/10, §   2–17 (SW I/12, Beilage, S.  3–7); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  7. 24–31); Christliche Sitte 1828/29, 4.–6. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  163–166); Hermann Reuter: Ueber Schleiermacher’s ethisches System und dessen Verhältniß zur Aufgabe der Ethik jetziger Zeit, in; Theologische Studien und Kritiken 17 (1844), S.  567–632; Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  81–93; Nowak: Schleiermacher, S.  337–340; Müller: Ist theologische Ethik philosophisch möglich? S.  36– 42. 58–62. 134–144. 189–218.

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lehre berücksichtigt. Für Abschnitt 4 werden noch die Glaubenslehre und die Sittenlehre mit ihren kirchentheoretischen Abschnitten herangezogen. Der Zusammenhang im System der Wissenschaften, das seit 1805 im Wesentlichen gleich geblieben ist, ermöglicht insgesamt eine synthetische Darstellung der verschiedenen Äußerungen Schleiermachers. Oft empfiehlt es sich aber, die Positionen nicht als Synthese darzustellen, sondern je für sich. Ein zweiter, materialer Hauptteil (C) zeichnet nach, wie Schleiermacher die Perioden der Kirchengeschichte in den beiden Kompendien dargestellt hat (Abschnitt 6–9). Zu Beginn der Darstellung wollen wir jeweils betrachten, was gemäß Schleiermachers zeitlicher Einteilung der Kirchengeschichte das besondere dieser Periode ist, und wollen einen Blick auf Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise werfen. Die einzelne Darstellung gliedert sich thematisch (meist empfiehlt sich eine Einteilung nach Geschichte der Kirchengemeinschaft, Geschichte der Lehre und hervorragende Persönlichkeiten). Dabei soll Schleiermachers Vorlesung nicht einfach paraphrasiert oder nacherzählt werden, sondern herausgearbeitet werden, wo die Schwerpunkte liegen, welche Analogien, Zusammenhänge und Entwicklungen Schleiermacher herstellt, was als günstig oder schädlich bewertet wird und inwiefern Schleiermacher in der Geschichte wiederfindet, was nach seiner Theorie die grundlegenden Kräfte und strukturellen Gegebenheiten des Christentums ausmacht. Auch hier wird der Blick nicht selten über die Vorlesungen von 1821/22 und 1825/26 hinausgehen auf Disziplinen, in denen ebenfalls kirchengeschichtliche Gegenstände vorkommen: die Enzyklopädie, die Einleitung ins Neue Testament, die Glaubenslehre, die Sittenlehre, die Praktische Theologie, die Philosophiegeschichte und (besonders bei der Reformationsgeschichte) auch Schriften zur Kirchenpolitik und Predigten. – Am Schluß werden die Ergebnisse dann jeweils noch einmal zusammengefaßt. Im Schlußteil (D) wagen wir einen Ausblick über Schleiermacher hinaus auf seine Nachwirkung (Abschnitt 10) und fragen uns noch einmal, wie es Schleiermacher gelungen ist, das Gebiet der Kirchengeschichte zu bearbeiten, ohne einerseits das Ganze im Einzelnen zu verlieren und ohne andererseits dem Einzelnen aus „Systemsucht“52 Gewalt anzutun,53 und ob Schleiermachers Konzept 52 

Über die Religion, Berlin 1799, S.  63 f. (2. Rede) (KGA I/2, S.  217) einerseits Mulert: Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten 1, S.  36: „D.h. wer mit dem Romantiker Schleiermacher meint, daß jede gute historische Darstellung den Charakter einer höheren Einheit von Spekulation und Empirie an sich trage, und z. B. auch Schleiermachers eigener Kirchengeschichte, wie sie ausgearbeitet vorliegt (diese Vorlesungen sind in den zwanziger Jahren gehalten) diesen Charakter zuspricht, oder wenigstens darin das Streben nach solchem Charakter findet, der wird diese Frage überhaupt nicht aufwerfen. Aber wer unter den Worten, die Schleiermacher gebraucht, mehr versteht und der Ansicht ist, daß in dem Programm: ‚Einheit von Spekulation und Empirie‘ der Historie schwer faßbare und noch schwerer lösbare Aufgaben gestellt sind, und daß auch Schleiermachers eigene historische Werke sie nicht lösen und recht frei sind von dem spekulativen 53  Vgl.

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der kirchengeschichtlichen Arbeit auch für die Gegenwart relevant ist (Abschnitt 11).

Einschlag, den wir in manchen historischen Werken jener Zeit finden, der wird eben sagen: dieses Programm ist für Schleiermacher bloße Idee geblieben –, und auch bezweifeln, ob die kirchengeschichtlichen Vorlesungen, die er 1806 gehalten hat, dieser Idee viel mehr entsprochen haben werden als die späteren“ (Mulert war offenbar unbekannt, daß die Vorlesung von 1806 gar keine material ausgeführte Kirchengeschichte enthielt), andererseits Boekels: Schleiermacher, S.  158: „die genaue Untersuchung des positiven Teils der Kirchengeschichtsvorlesung 1821/22 erweist diese als eine vorzügliche kirchengeschichtliche Darstellung, in der Schleiermacher seinen Ansatz der organischen und kritischen Geschichtsschreibung konsequent zur Anwendung gebracht hat“.

2.  Der historische Kontext 2.1.  Protestantische deutsche Kirchengeschichtsschreibung um 1800 2.1.1.  Pragmatische Geschichte Die kirchengeschichtliche Arbeit des deutschen Protestantismus um 1800 konnte auf die Wandlungen und Errungenschaften auf bauen, die besonders mit den Namen Johann Lorenz von Mosheim und Johann Salomo Semler in Verbindung gebracht werden: die Emanzipation der Kirchengeschichtskunde von der Polemik und der Dogmatik, das Bemühen um eine unvoreingenommene Betrachtung des Gegenstandes, die Historisierung und Relativierung bisher unantastbarer Größen und die Anwendung der historischen Kritik auf die überlieferten Nachrichten und Urkunden.1 Von der Profanhistorie übernahm die Kirchengeschichte Begriff und Ideal der pragmatischen Darstellung. Der Begriff der pragmatischen Geschichte stammt von dem griechischen Historiker Polybios; 2 seit einer Programmschrift des Historikers Johann David Köhler (1714) setzte er sich in Deutschland durch für eine Geschichtsbehandlung, die zweierlei vereinigte: einerseits die Frage nach den immanenten Ursachen und Folgen historischer Ereignisse und Zustände und nach den Motiven und Zielen der handelnden Personen, also nach

1 Vgl.

dazu Karl Heussi: Die Kirchengeschichtschreibung Johann Lorenz von Mosheims, Geschichtliche Untersuchungen I,4, Gotha 1904; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 2, Gütersloh 1951, S.  354–359; Band 4, Gütersloh 1952, S.  69– 78; Gottfried Hornig: Semlers Dogmengeschichtsschreibung und Traditionskritik, in: Hg. Otto Kaiser: Denkender Glaube. Festschrift für Carl Heinz Ratschow, Berlin-West und New York 1976, S.  101–113; Klaus Wetzel: Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660–1760, Gießen und Basel 1983, bes. S.  371–381; Dirk Fleischer: Zwischen Tradition und Fortschritt, Wissen und Kritik 22, Waltrop 2006 (bes. S.  147–152. 178–195. 223–233. 260–263. 273–289. 379–390. 517–532. 633–639. 732–738. 762–774). – Wetzel hat die Marotte, die Auf klärungstheologen insgesamt als Rationalisten zu bezeichnen, die Gottes Wirken in der Geschichte nicht mehr hätten denken und aussagen können, vgl. a.a.O., S.  3 : „Die Geschichtsschreibung des Rationalismus [d. h. der Auf klärung nach Mosheim] selbst soll hingegen keine Berücksichtigung mehr finden, da sie sich dem Umfeld theologisch orientierter Kirchengeschichtsschreibung bereits weitgehend entzogen hat.“ Das ist ein Fehlurteil! 2  Polybios: Historiae I,2,8; 35,9; III,31,11–13; VI,5,2; XXXIX,1,4 u.ö.

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dem Kausalzusammenhang, andererseits den Endzweck, aus der Vergangenheit nützliche, praktisch-moralische Lehren für die Gegenwart zu ziehen.3 „Jener [Polybios] bemüht sich den von dem letztern [Thukydides] aufgestellten Satz zu beweisen, daß die Historie eigentlich zum Gebrauche im öffentlichen und Privatleben bestimmt sey, leitet daraus den Begriff einer pragmatischen Geschichtsbehandlung, d.i. einer solchen ab, welche auf die vorhergehenden und begleitenden Umstände, und auf die Folgen jeder Begebenheit ihr Augenmerk richte, und zeigt zuletzt fast mit den Worten des Thukydides, daß eine auf andere Weise geschriebene Geschichte zwar ein schönes Preisstück oder Kunstwerk seyn, nimmermehr aber den Zweck der Belehrung erfüllen könne.“4

Die pragmatische Methode ging also von der Profangeschichte auf die Kirchengeschichte über. So schrieb der Leipziger Historiker Johann Erhard Kapp schon 1734: „Rechtschaffene Lehrer der Kirchen-Historie befleißigen sich eines gründlichen, klugen und pragmatischen Vortrags.“

Das bedeute, alles anhand der Quellen zu überprüfen, unnötiger Abschweifungen zu entraten und sich aufs Wesentliche zu konzentrieren: den äußerlichen und inneren Zustand der christlichen Kirche, die Geschichte der wahren und falschen Lehre, das Leben der hervorragenden Männer und die Entwicklung des Kultus, zwischen Irrtümern aus Schwachheit und echten Ketzereien zu differenzieren, letztere als ein auch für die Gegenwart warnendes Beispiel dafür vor Augen zu stellen, was aus der falschen Philosophie entstehen könne, die Verteidiger des Glaubens und die Märtyrer mit Ruhm zu erwähnen, den Ein3 

Johann David Köhler: De historia pragmaticades, Altdorf 1714. Schon vorher waren Gerhard Johann Voß: Liber de philologia, sermonis et historiarum h.e. grammatica, rhetorica, metrica, geographia, chronologia, genealogia et historia pragmatica aliquot disputationibus, hg. von Johann Crause ( Jena 1670), und Eberhard Rudolph Roth: Historia universalis pragmatica civilis ecclesiastica litteraria ab orbe condito usque ad annum presentem 1706 (Ulm 1706) erschienen. – Vgl. zur pragmatischen Geschichte Johann August Nösselt: Anweisung zur Bildung angehender Theologen, 2.  Aufl., Band 1, Halle 1791, S.  258– 268; Manfred Hahn: Art. Geschichte, pragmatische, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3, Basel 1974, Sp.  4 01 f.; Gudrun Kühne-Bertram: Aspekte der Geschichte und der Bedeutungen des Begriffs „pragmatisch“ in den philosophischen Wissenschaften des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriffsgeschichte 27 (1983), S.  158–186, bes. 168–172; dies.: Art. Pragmatisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 7, Basel 1989, Sp.  1241–1244, hier 1243; Rudolf Vierhaus: Historisches Interesse im 18. Jahrhundert, in: Hg. Hans Erich Bödeker: Auf klärung und Geschichte, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 81, Göttingen 1986, S.  264–275; Fleischer: Zwischen Tradition, S.  305–315. 473 f. (Hahn und Fleischer datieren Köhlers Buch irrtümlich auf 1741 und kommen so zu einigen Aporien in der Zeitfolge). 4  Friedrich Creuzer: Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung, Leipzig 1803, S.  212 f. – Ähnlich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium, Tübingen 1803, 10. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  308 f.); August Wilhelm Schlegel: Enzyklopädie 1803, 33. Stunde (Kritische Ausgabe der Vorlesungen 3, S.  276).

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fluß des weltlichen Regiments auf den Zustand der Kirchen zu beachten, auf die „Fußstapfen der über die Kirche waltenden Hand GOttes“ aufmerksam zu machen, Ursprung, Fortgang und Methoden der päpstlichen Herrschaft zu zeigen und ebenso die aus ihr hervorgehende wachsende Verderbnis der Lehre, des Kultus und des Kirchenregiments.5 Am Ende des Jahrhunderts priesen Johann Matthias Schröckh und Johann August Nösselt den mannigfachen Nutzen der pragmatischen Kirchengeschichte: Sie sei unterhaltend und belehrend, mache die gute Gesinnung fest, gebe Klugheit zum geistlichen Amt, erziehe zur Toleranz, dämpfe Aberglauben und Vorurteile und lehre die Spuren der göttlichen Providenz in der Geschichte zu lesen; auch seien kirchengeschichtliche Kenntnisse für die anderen theologischen Disziplinen unentbehrlich.6 – Die aufgeklärt-pragmatische Kirchengeschichtsschreibung gab es nicht nur im Protestantismus: Seit den josephinischen Reformen behandelten auch katholische Autoren die Kirchengeschichte pragmatisch, wobei sie in der Darstellung und auch in der Beurteilung und Kritik der Dogmen und Kirchenverfassung vielfach von Protestanten wie Schröckh abhängig waren.7

2.1.2.  Kirchengeschichte an den deutschen protestantischen Universitäten An den deutschen protestantischen Universitäten wurden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Vorlesungen über die Kirchengeschichte gehalten, teilweise von Theologen, teilweise auch von Mitgliedern der philosophischen Fakultät. Bevorzugte Gegenstände der Vorlesungen waren die christlichen Altertümer und die Reformationsgeschichte. An vielen der Universitäten wurden auch eigene Lehrstühle für die Kirchengeschichte eingerichtet, angefangen mit Helmstedt 5  Johann Erhard Kapp: Vorrede, in: Nicolaus Hieronymus Grundling: Vollständige Historie der Gelahrheit, Band 1, Frankfurt am Main und Leipzig 1734, S.  1–44, hier 18 f. Vgl. zur pragmatischen Kirchengeschichte Johann Lorenz von Mosheim: Institutiones historiae ecclesiasticae, Helmstedt 1755, S.  3 : „in qua [scil. historia ecclesiastica] sic eventa cum caussis suis copulantur, ut et Dei providentiam in ea constituenda et conservanda cognoscant homines, et pietate non minus, quam sapientia, crescant“; Schröckh 12 , S.  268–293; Johann August Nösselt: Anweisung zur Bildung angehender Theologen, 2.  Aufl., Band 2, Halle 1791, S.  143–145; Ferdinand Christian Baur: Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung, Tübingen 1852, S.  153–157; Heussi: Die Kirchengeschichtschreibung, S.  34–45; Fleischer: Zwischen Tradition, S.  501–505. 6  Schröckh 12 , S.  55–130; Nösselt: Anweisung 2 2, S.   107–128. Vgl. auch Baur: Die Epochen, S.  152–157; Karl Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung der Auf klärung, Tübingen 1921, S.  26–31; Fleischer: Zwischen Tradition, S.  510–513. 7 Vgl. Emil Clemens Scherer: Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Freiburg 1927, S.  453–464; Karl Zinke: Zustände und Strömungen der katholischen Kirchengeschichtsschreibung des Auf klärungs-Zeitalters im deutschen Sprachgebiet, Bernau 1933, S.  32–150; Leo Scheffczyk: Friedrich Leopold zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi“, Münchener theologische Studien I,3, München 1952, S.  160 f.

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1650 und Gießen 1651. Die Lehrstühle gehörten entweder zur philosophischen oder zur theologischen Fakultät; ersteres war z. B. in Marburg und Leipzig der Fall, letzteres in Helmstedt, Gießen und Tübingen.8 Wie der kirchengeschichtliche Unterricht an den Universitäten um 1800 aussah, soll an drei Beispielen, Jena, Königsberg und Göttingen,9 beleuchtet werden: In Jena vertrat der Theologe Johann Jacob Griesbach vom Sommersemester 1776 an für über 30 Jahre, bis zum Wintersemester 1811/12, die Kirchengeschichte. Griesbach, der in die Theologiegeschichte vor allem durch seine Verdienste um die neutestamentliche Textkritik einging, las neben neutestamentlicher Exegese, Hermeneutik, Dogmatik und Polemik regelmäßig die Kirchengeschichte, in der Regel über drei Semester, wobei das dritte Semester die Zeit seit der Reformation behandelte. Seit dem Sommersemester 1778 nahm er Schröckhs Kompendium (vgl. unten Abschnitt 2.1.3.) als Leitfaden. Neben ihm hielten mehrere Dozenten Vorlesungen zu der damals noch neuen Disziplin der Dogmengeschichte: Johann Christoph Döderlein (1788–90), Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (seit 1794), Samuel Gottlieb Lange (1797/98, damals Ex­ traordinarius an der philosophischen Fakultät) und Johann Christian Wilhelm Augusti (seit 1799, er war Orientalist an der philosophischen Fakultät).10 – In Königsberg ruhte die Kirchengeschichte hingegen auf mehreren Schultern: Seit 1788 hielten drei theologische Ordinarien relativ regelmäßig kirchengeschichtliche Kollegien, Johann Hartmann Christoph Gräf, Johann Gottfried Hasse und Samuel Gottlieb Wald, Gräf und Hasse nach Schröckh, Wald nach einem eigenen Kompendium. Der Rektor der Königsberger Domschule und verdiente Literaturhistoriker Georg Christoph Pisanski hielt bis zu seinem Tod 1790 an der theologischen Fakultät ebenfalls kirchengeschichtliche Vorlesungen, zuletzt anhand des Spittlerschen Kompendiums (vgl. unten Abschnitt 2.1.3.).11 Hochburg nicht nur der kirchengeschichtlichen Wissenschaft, sondern der Geschichtswissenschaft überhaupt war damals zweifellos die Göttinger Universität. An der philosophischen Fakultät lehrte eine Reihe noch heute berühmter Historiker: Johann Christoph Gatterer, der u. a. als Begründer der historischen Hilfswissenschaften gilt (1759–1799), August Ludwig von Schlözer (1770– 8 Vgl. Scherer: Geschichte, S.   213–254. 262–265; Fleischer: Zwischen Tradition, S.  201–205. 9  Vgl. weiter unten Abschnitt 2.3. zu Halle zur Zeit von Schleiermachers Studium Ende der 1780er Jahre. 10  Horst Neuper: Das Vorlesungsangebot an der Universität Jena von 1749 bis 1854, Weimar 2003, S.  153–367. – Erst seit dem Sommersemester 1811 kamen in der Kirchengeschichte weitere Dozenten hinzu: Friedrich August Koethe (zunächst Extraordinarius an der philosophischen Fakultät), Johann Traugott Leberecht Danz (später selbst Verfasser eines kirchengeschichtlichen Lehrbuchs, vgl. unten Abschnitt 2.1.3.) und der Orientalist Georg Wilhelm Lorsbach. 11  Michael Oberhausen: Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720– 1804), Forschungen und Materialien zur Universitätsgeschichte I,1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S.  490–723

2.  Der historische Kontext

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1809), Ludwig Timotheus Spittler (1778–1797, Autor des erwähnten kirchengeschichtlichen Kompendiums) und Arnold Heeren (1787–1842). Neben ihnen wirkten zahlreiche Gelehrte, die sich in der Kirchengeschichte auch literarisch einen Namen gemacht hatten. Christian Wilhelm Franz Walch, Sohn des bedeutenden spätorthodoxen Theologen, Historikers und Philologen Johann Georg Walch, verfaßte mehrere kirchengeschichtliche Monographien. Er wurde 1757 Nachfolger des großen Mosheim auf dessen Lehrstuhl und las bis zu seinem Tode 1784 sowohl an der theologischen als auch an der philosophischen Fakultät die Kirchengeschichte. Grundlage des Unterrichts waren Kurse über zwei Semester, ein Semester ältere und ein Semester mittlere und neuere Kirchengeschichte (z. B. im Sommersemester 1776 und Wintersemester 1776/77 an der theologischen Fakultät). Weiter gab er Kollegien über Werke der Kirchenväter (in den Wintersemestern 1775/76, 1778/79 und 1783/84 an der philosophischen Fakultät), über die kirchliche Zeitgeschichte (z. B. im Wintersemester 1773/74 an der philosophischen und im Wintersemester 1779/80 an der theologischen Fakultät), über Methode und Literatur der Kirchengeschichte (z. B. in den Sommersemestern 1773 und 1779 an der philosophischen Fakultät) und über Religionsstreitigkeiten und dissidente Kirchenparteien (z. B. im Sommersemester 1775 an der theologischen und im Wintersemester 1776/77 an der philosophischen Fakultät). – Neben Walch hielt Spittler 1779–1784 an der philosophischen Fakultät Vorlesungen über die Kirchengeschichte, die Dogmengeschichte, die Geschichte des Kirchenrechts und die Ordensgeschichte. Er ging danach aber ganz zur Profangeschichte über, um schließlich 1797 Göttingen zugunsten des württembergischen Staatsdienstes zu verlassen. – Walchs Nachfolger wurde Gottlieb Jacob Planck. Auch er las regelmäßig über zwei Semester die Kirchengeschichte (z. B. im Sommersemester 1796 und Wintersemester 1796/97). Daneben hielt er Vorlesungen über die Reformationsgeschichte (z. B. im Sommersemester 1797 und Wintersemester 1797/98), die Kirchengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts (z. B. im Wintersemester 1799/1800) und die Dogmengeschichte (z. B. in den Sommersemestern 1799 und 1802). Planck war einer der bedeutendsten Kirchenhistoriker seiner Zeit; er schrieb mehrere noch heute wertvolle Monographien. – Im Wintersemester 1790/91 nahm Carl Friedrich Stäudlin, wie Spittler und Planck ein Schwabe, seine Lehrtätigkeit an der theologischen Fakultät der Georgia Augusta auf. Seine Hauptfächer waren die Dogmatik und Ethik; daneben las er exegetische Kollegien zum Alten und Neuen Testament. Erst mit Sommersemester 1802 fing Stäudlin an, auch in der Kirchengeschichte Vorlesungen zu halten; an seine ersten Kollegien zur Kirchengeschichte schloß er 1803/04 ebensolche über die kirchliche Geographie und Statistik (d. h. die Kirchenkunde der Gegenwart) an. Im Wintersemester 1804/05 und Sommersemester 1805 las er die Dogmatik zusammen mit der Dogmengeschichte, gab der Dogmatik damit also zugleich die Gestalt einer historischen Disziplin. Literarisch war Stäudlin für die Kirchengeschichte

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weniger fruchtbar als Walch und Planck; doch kommen aus seiner Feder ein erstes Handbuch über die kirchliche Statistik und eines über die Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung sowie Kompendien über die Kirchengeschichte und über die Dogmatik und Dogmengeschichte.12

2.1.3.  Literatur zur Kirchengeschichte Unter den um 1800 gängigen Kompendien verdient das von Spittler besondere Aufmerksamkeit. Es war nicht bloß als Studentenbuch für Vorlesungen konzipiert, sondern zugleich auch zur Belehrung und Unterhaltung der gebildeten Zeitgenossen geschrieben. Diese lobten an Spittler denn auch seinen eleganten, freilich zuweilen allzu leichtfertigen Stil, die übersichtliche Strukturierung des Stoffes und speziell die Darstellung der kirchlichen Verfassungsgeschichte. Kritisiert wurde indessen, daß der Sinn für die eigentliche Mitte der Kirchengeschichte fehle, die Religion und Sittlichkeit, und so die Kirchengeschichte einen ganz profanen Charakter annehme, zumal auch Christi Gestalt und Lehre außen vor blieben.13 Tatsächlich schreibt Spittler: „Worinn die Lehre bestanden habe, welche seine [scil. Christi] Schüler auf seinen Befehl in der Welt verkündigen sollten, darüber streitet man sich nun bald achtzehn Jahrhunderte, und dieses Streiten macht einen wichtigen Theil der nachfolgenden Erzählung aus. Der Historiker darf also hier um so weniger seine Ueberzeugungen als Geschichte angeben, da das Buch, aus dessen Nachrichten die ganze Sache beur­ 12 Vgl. die Göttinger Catalogi praelectionum; Friedrich Lücke: Dr. Gottlieb Jacob Planck, Göttingen 1835, S.  30–42; Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  13 f.; Simon Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), S.  183–214, hier 197–201 (zu Stäudlin); Fleischer: Zwischen Tradition, S.  379; Christoph Nooke: Gottlieb Jakob Planck (1751–1833), Beiträge zur historischen Theologie 170, Tübingen 2014, S.  89 f. 126–132. 320–322. – Johann Gottfried Eichhorn, einer der Bahnbrecher der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, hielt seit dem Sommersemester 1789 an der philosophischen Fakultät Vorlesungen über die Bücher des Alten und Neuen Testaments, über die Grammatiken der semitischen Sprachen und über historische Themen wie die allgemeine Literaturgeschichte, die europäische Kulturgeschichte, die neuere Geschichte seit der Völkerwanderung und die Staatengeschichte, allerdings nicht über die Kirchengeschichte. 13  Schröckh 35, S. 218; Carl Friedrich Stäudlin: Geschichte der theologischen Wissenschaften seit der Verbreitung der alten Litteratur, Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten 6, Band 2, Göttingen 1811, S.  175 f.; ders.: Lehrbuch der Encyclopädie, Methodologie und Geschichte der theologischen Wissenschaften, Hannover 1821, S.  308 f.; ders.: Geschichte und Literatur der Kirchengeschichte, Hannover 1827, S.  175 f.; Karl Rudolf Hagenbach: Neander’s Verdienste um die Kirchengeschichte, in: Theologische Studien und Kritiken 24 (1851), S.  543–594, hier 560 f.; Baur: Die Epochen, S.  162–173; Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, S.  332–342; Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, München 1934, S.  136 f.; Peter Meinhold: Geschichte der kirchlichen Historiographie, Orbis academicus III/5, Band 2, Freiburg und München 1967, S.  93–95; Ekkehard Mühlenberg: Göttinger Kirchenhistoriker im 18. und 19. Jahrhundert, in: Hg. Bernd Moeller: Theologie in Göttingen, Göttinger Universitätsschriften A 18, Göttingen 1987, S.  232–255, hier 240–244

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theilt werden muß, in jedermanns Händen ist, und von jedem eigene Untersuchung fodert, der nicht gegen die wichtigsten Angelegenheiten des Menschen ganz gleichgültig bleibt.“14

Die (vielleicht sogar bis heute) umfangreichste Darstellung der Kirchengeschichte kam von Johann Matthias Schröckh. Ihn haben wir bereits als Verfasser eines lateinischen Kompendiums erwähnt; das erschien zuerst 1777 und wurde 1786 durch ein kaiserliches Dekret zum offiziellen Lehrbuch für die katholischen Universitäten des aufgeklärten Österreich bestimmt. Als Hochschullehrer war Schröckh kein Theologe, sondern (so wie Spittler) Profanhistoriker. Er stammte aus einer österreichischen lutherischen Familie, hatte in Göttingen Theologie studiert, u. a. bei Mosheim, und wurde in Wittenberg 1767 Professor für Poesie, 1775 für Geschichte. Die zunächst auf drei Bände für gebildete Laien konzipierte Christliche Kirchengeschichte wuchs ihm unter der Hand zu einem Handbuch von ungeheuren Ausmaßen; immer neue Bände erschienen mit ausführlichsten Auszügen aus den Quellen und mit langen Biographien der Kirchenfürsten und Theologen. Schröckh war ein Bahnbrecher der Einteilung der Kirchengeschichte nach Perioden statt nach Jahrhunderten; die chronologische und sachliche Organisierung des Materials geht bei der Breite der Darstellung allerdings völlig unter. Nachdem 1803 mit dem Register in Band 35 der Abschluß der drei ersten Perioden erreicht war, fing Schröckh 1804 noch eine Kirchengeschichte seit der Reformation an; diese wurde nach seinem Tode von Heinrich Gottlieb Tzschir­ ner vollendet. – Verglichen mit dem rastlosen Kritiker Semler ist Schröckh noch mehr Sammler und Polyhistor als kritischer H ­ istoriker. Am überkommenen lutherischen Lehrbegriff übt er noch kaum Kritik, zeigt dabei aber eine weitherzige und echt irenische Haltung. Freisinnigkeit ist für Schröckh ebenso wie Bekenntnistreue Kennzeichen seiner evangelischen Religion.15 Der Rationalist Heinrich Philipp Konrad Henke, Professor der Theologie in Helmstedt und Abt von Michaelstein und Königslutter, schrieb ein kirchengeschichtliches Handbuch, das mit seinen kurzen, chronologisch angeordneten Kapiteln und knappen Belegen aus den Quellen und der Literatur noch immer instruktiv ist, besonders für die Geschichte des 16.–18. Jahrhunderts. (Die Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts wurde nach Henkes Tod von dem Orientalisten, Theologen und Sprachwissenschaftler Johann Severin Vater fortgesetzt.) Indessen störte schon die Zeitgenossen an Henkes Kirchengeschichte, 14  Ludwig Timotheus Spittler: Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche, 4.  Aufl., Göttingen 1806, S.  24 15  Schröckh 11, Vorrede (ohne Seitenzählung); Schröckh 12 , S.  1–3. – Vgl. Scherer: Geschichte, S.  4 09 f.; Zinke: Zustände, S.  48 f.; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  135 f.; Meinhold: Geschichte 2, S.  80–89; Gustav Adolf Benrath: Evangelische und katholische Kirchenhistorie im Zeichen der Auf klärung und der Romantik, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 82 (1971), S.  203–217, hier 206–208; Fleischer: Zwischen Tradition, S.  376–378. 458 f. 467–469. 512 f.

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daß sie alles am Maßstab der eigenen Vernünftigkeit messe und meist abqualifiziere.16 In der Tat äußert Henke sich über die meisten Kirchenväter abschätzig 17 und prangert klerikalen Despotismus und Dogmatismus ebenso an18 wie die philosophische Deformierung der einfachen, vernünftigen Lehre Jesu,19 den Aberglauben 20 und ein sinnloses Asketentum.21 Johann Ernst Christian Schmidt, Professor der Theologie in Gießen und ebenfalls rationalistisch gesinnt, legte ein Handbuch neuen Typs vor: Es berichtet die Begebenheiten anhand sorgfältig ausgewählter und kritisch geprüfter Quellen unter weitgehendem Verzicht auf wertende Teilnahme. Eine theologische oder geschichtstheoretische Grundlegung fehlt; Schmidt steigt direkt mit der jüdischen Umwelt des Neuen Testaments ein. Das Werk blieb unvollendet; einen siebten und letzten Band, der die Darstellung bis auf Innozenz III. voranbrachte, steuerte 1834 noch Friedrich Wilhelm Rettberg bei.22 – 1824 publizierte Johann Carl Ludwig Gieseler (Professor in Bonn, später als Nachfolger Plancks in Göttingen) den ersten Band eines noch heute nützlichen kirchengeschichtlichen Lehrbuchs. Dieses ähnelt in der Konzeption der Darstellung dem Lehrbuch Schmidts, ist aber noch konsequenter: Der Historiker nimmt sich so weit wie möglich zurück; sein Text ist nur der Rahmen, um die Quellen selbst in genau ausgewählten, ausführlichen Auszügen sprechen zu lassen.23 (Ein ähnlich angelegtes, aber viel knapperes Lehrbuch hatte ein paar Jahre vorher schon Johann Traugott Leberecht Danz in Jena vorgelegt.) Neben den Gesamtdarstellungen der Kirchengeschichte in Kompendien und Handbüchern gab es Arbeiten über einzelne Epochen (besonders die alte Kirche und die Reformation) und Gegenstände. So schrieb Ch.W. F. Walch gelehrte Werke z. B. über die Papstgeschichte, die Konziliengeschichte und die Ketzer16  Stäudlin: Geschichte der theologischen Wissenschaften 2, S.  6 81–683; ders.: Lehrbuch der Encyclopädie, S.  309 f.; ders.: Geschichte und Literatur, S.  176–179; Hagenbach: Neander’s Verdienste, S.  562 f.; Baur: Die Epochen, S.  192–197; Karl (von) Hase: Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Band 1, Leipzig 1885, S.  42 f.; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  137; Meinhold: Geschichte 2, S.  9 0–93; John Stroup: Protestant Church Historians in the German Enlightenment, in: Hg. Bödeker: Aufklärung und Geschichte, S.  169–192, hier 190–192 17  Vgl. z. B. Heinrich Philipp Konrad Henke: Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche nach der Zeitfolge, Band 1, 4.  Aufl., Braunschweig 1800, S.  135 (Irenäus). 139–141 (Tertullian). 157 (Origenes). 266 f. (Athanasius). 317 (Augustin). 427 f. (Gregor der Große). 18  Henke: Allgemeine Geschichte 14, S.  171–173. 212 f. 237–239. 242–246. 300 f. 424–426 19  Henke: Allgemeine Geschichte 14, S.  45–50. 125 f. 133 f. 236 f. 20  Henke: Allgemeine Geschichte 14, S.  142–147. 165. 222–224 21  Henke: Allgemeine Geschichte 14, S.  47 f. 230–234. 301 f. 312–317. 349 f. 22 Vgl. Hagenbach: Neander’s Verdienste, S.  566 f. 23 Vgl. Hagenbach: Neander’s Verdienste, S.   567 f.; Baur: Die Epochen, S.  232–236 (Baur findet Gieselers Lehrbuch nützlich, aber teilweise zu unkritisch); Meinhold: Geschichte 2, S.  207–210; Mühlenberg: Göttinger Kirchenhistoriker, S.  247–251; Magdalena Herbst: Karl von Hase als Kirchenhistoriker, Beiträge zur historischen Theologie 167, Tübingen 2012, S.  311–313.

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geschichte.24 Planck stellte fest, daß die historische Theologie zwei Hauptobjekte habe: die Religionsgeschichte und die Geschichte der äußeren Gesellschaft.25 Auf beiden Gebieten hat Planck bedeutende, auf umfassendem Quellenstudium beruhende Monographien geschaffen, die jeweils das Ganze der Kirchengeschichte in den Blick nehmen: eine Reformationsgeschichte bis zur Konkordienformel aus der Perspektive der Lehrentwicklung (zugleich ein Aufweis, daß die evangelische Lehre nicht erst durch die Auf klärung, sondern schon im Zuge ihrer bekenntnismäßigen Fixierung Veränderungen erfahren habe) und eine Kirchengeschichte der ersten fünfzehn Jahrhunderte aus der Perspektive der Verfassungsgeschichte.26 Insbesondere die Dogmengeschichte bildete sich als Disziplin heraus, der eigene Vorlesungen (vgl. oben Abschnitt 2.1.2.) und literarische Darstellungen gewidmet waren. Der Ausgangspunkt dazu war allerdings weniger die Kirchengeschichte als die Dogmatik und die Einsicht in die Veränderlichkeit der Glaubenslehren. Ch.W. F. Walch, der selbst fest auf dem Boden des lutherisch-orthodoxen Lehrbegriffs stand, schrieb einen Essay über die Frage, wie diese Veränderungen bei der Unveränderlichkeit der Religionswahrheiten selbst möglich seien. Was sich wandele, meint Walch, sei nicht die Wahrheit, aber ihre Erkenntnis; so wie es in der Wissenschaft generell Entwicklungen und Änderungen gebe, so verändere sich auch die Ordnung und Methodik der Theologie. Die Glaubenssätze würden immer wieder neu zusammengestellt, begrifflich expliziert und aus der Schrift (deren Auslegungsweise sich auch ändere), der Vernunft und den anerkannten kirchlichen Autoritäten bewiesen.27 Die Theologie der Auf klärung begann damit, bisherige kirchliche Bestimmungen und theologische Meinungen zu den verschiedenen dogmatischen Loci zusammenzustellen. So gab Semler der Glaubenslehre seines Lehrers Siegmund Jacob ­Baumgarten dogmengeschichtliche Einleitungen bei, und so schrieb Stäudlin ein Lehrbuch der Dogmatik und Dogmengeschichte (wobei Stäudlin mit der 24  Walchs Arbeiten zeichnen sich mehr durch die Fülle des zusammengetragenen Mate­ rials aus als dadurch, aus ihm geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen zu rekonstruieren. Vgl. Ferdinand Christian Baur: Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, Stuttgart 1847, S.  36–38; ders.: Die Epochen, S.  145–151; Meinhold: Geschichte 2, S.  30– 38; Wetzel: Theologische Kirchengeschichtsschreibung, S.  383–385; Mühlenberg: Göttinger Kirchen­h isto­r iker, S.  237–240; Fleischer: Zwischen Tradition, S.  378 f. 431–434. 25  Gottlieb Jacob Planck: Einleitung in die theologische Wissenschaften, Band 1, Leipzig 1794, S.  103; Band 2, Leipzig 1795, S.  188 f. 26 Vgl. zur Würdigung Plancks Lücke: Dr. Gottlieb Jacob Planck, S.   20–29. 54–59; Baur: Lehrbuch, S.  42 f.; ders.: Die Epochen, S.  173–191 (Baur kritisiert Plancks pragmatischen „Subjektivismus“, dem die Einsicht in das Objektive, die zu sich selbst kommende Idee, fehle); Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  137 f.; Mühlenberg: Göttinger Kirchenhistoriker, S.  244–247; Nooke: Gottlieb Jakob Planck, S.  292–308. 326–329. 334– 340. 345–354. 360–365. 27  Christian Wilhelm Franz Walch: Gedanken von der Geschichte der Glaubenslehre, 2.  Aufl., Göttingen 1764, bes. S.  1–27

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Geschichtlichkeit der kirchlichen Lehre nicht nur ihre historische Relativität, sondern auch ihre philosophische Unableitbarkeit betont).28 Der schon erwähnte Jenenser Lange wollte mit einer ausführlichen Dogmengeschichte eine lange schmerzlich empfundene Lücke schließen und zeigen, wie sich aus der einfachen Lehre Jesu und der Apostel die kirchliche Theologie und der immer kompliziertere, mit immer neuen Zusätzen versehene kirchliche Lehrbegriff entwickelt hätten; Motive dieser Entwicklung seien ebenso die notwendige Belehrung der Heidenchristen über den Eingottglauben gewesen wie philosophische Spekulationen und klerikale Unbildung und Streitsucht. Wegen der geschichtlichen Positivität der christlichen Religion könne man die Dogmengeschichte nicht aus Prinzipien deduzieren, sondern müsse von den Resultaten ausgehen.29 Lange behandelt nacheinander die einzelnen Väter und ihre Meinungen zu bestimmte Loci wie Gott, dem Logos, der Schöpfung und den Engeln. Er ist aber nur bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts gekommen.30 Der Marburger reformierte Theologe Wilhelm Münscher verfaßte auf der Grundlage souveräner Quellenkenntnis ein dogmengeschichtliches Handbuch über die patristische Periode. Er will den Gegenstand pragmatisch behandeln, d. h. Ursachen, Veranlassungen und Folgen für die Aufstellung und Veränderung der Glaubenssätze aufweisen. Daß es in der theoretischen Religionslehre des Christentums überhaupt Veränderungen und Entwicklungen gibt, erklärt Münscher damit, daß schon im Wesen des Christentums seine Vernünftigkeit liege und damit zugleich die Notwendigkeit und das Bestreben, das einmal Festgesetzte immer wieder zu durchdenken und zu verbessern. Anlaß für die Wandlungen seien veränderte Bedürfnisse der Zeit und Fortschritte der Wissenschaft und Kultur, aber auch äußere Umstände wie geographische und natio­ nale Eigentümlichkeiten und menschliche Leidenschaften und Machtinteressen.31 Münschers gern zitiertes Wort, daß die dogmatischen Vorstellungen oft ebenso schnell gewechselt hätten wie die Moden der Frauenzimmer,32 will die Dogmengeschichte nicht verächtlich machen, sondern auf ihren Nutzen hinweisen: Sie schütze vor Selbstüberschätzung und „Partheygeist“, denn der Betrachter lerne aus den Schicksalen der vergangenen Dogmen auch für den eige28 Vgl.

Carl Friedrich Stäudlin: Lehrbuch der Dogmatik und Dogmengeschichte, Göttingen 1801, S. II–V; Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  85–91; Aner: Die Theologie, S.  223–233; Hirsch: Geschichte 2, S.  349 f. 29  Samuel Gottlieb Lange: Ausführliche Geschichte der Dogmen oder der Glaubenslehren der christlichen Kirche, Band 1, Leipzig 1796, S. III–XII. 1–11 30 Vgl. Christian Friedrich Kling: Begriff, Geschichte und Litteratur der Dogmengeschichte, in: Theologische Studien und Kritiken 13 (1840), S.  1051–1152; 14 (1841), S.  749– 852, hier 1070 f. 31  Wilhelm Münscher: Handbuch der christlichen Dogmengeschichte, Band 1, Marburg 1797, S.  1–34 32  Münscher: Handbuch 1, S.  42. Vgl. z. B. Meinhold: Geschichte 2, S.  78; Karlmann Beyschlag: Grundriß der Dogmengeschichte, Band 1, 2.  Aufl., Darmstadt 1988, S.  34.

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nen Standpunkt Bescheidenheit. Weiter lehre sie die Religionslehren der Gegenwart richtig einzuschätzen, den echten Glauben von unechten Zusätzen zu reinigen und die Leistungen der Vergangenheit weder für gering zu achten noch für unumstößlich.33 Münschers Handbuch ist eine tüchtige Leistung, hat für den inneren Zusammenhang der Dogmenentwicklung aber noch kein rechtes Verständnis; die Entwicklung von der Verkündigung Jesu zum kirchlichen Dogma sieht er ähnlich skeptisch wie Lange und Henke. Das Ganze läuft für ihn auf die von der Reformation initiierte und von der altprotestantischen Orthodoxie nur vorübergehend getrübte immer freiere Behandlung der Glaubenslehren hinaus.34

2.1.4.  Konzepte der Kirchengeschichte Wie konstituiert sich nun die Kirchengeschichte innerhalb der Theologie und innerhalb der Geschichtswissenschaft als eigene Disziplin mit einem eigenen Gegenstand? Traditionellerweise hatte die Kirchengeschichte die Heilsgeschichte zum Inhalt, die Geschichte der civitas Dei, die von der Schöpfung über das alttestamentliche Israel und die jüdischen Altertümer zur Erscheinung Christi führt und sich in der christlichen Kirche fortsetzt. Dabei wurde zwischen der Kirchengeschichte des Alten Testaments und der des Neuen Testaments unterschieden.35 Die letzteren Bezeichnungen haben sich im akademischen Unterricht und in der Literatur noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gehalten.36 Die allmähliche Ablösung dieses Konzepts bedeutete natürlich 33 

Münscher: Handbuch 1, S.  36–45 Münscher: Handbuch 1, S.  72–78. – Vgl. zu Münscher Kling: Begriff, S.  1072–1096; Baur: Lehrbuch, S.  43 f.; Adolf (von) Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 1, Tübingen 1886, S.  27 f.; Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Evangelium und Dogma, Stuttgart 1959, S.  108–110; Karl Gerhard Steck: Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: Hg. Wilhelm Schneemelcher: Das Erbe des 19. Jahrhunderts. Referate vom deutschen evangelischen Theologentag 7.–11. Juni 1960, Berlin-West 1960, S.  21–66, hier 29–33; Christopher Voigt: Dogmengeschichte am Ende der Auf klärung, in: Kerygma und Dogma 51 (2005), S.  207–216. 35 Vgl. Heussi: Die Kirchengeschichtschreibung, S.   32 f.; Wetzel: Theologische Kirchengeschichtsschreibung, S.  399–402. 36  So hielten z. B. noch Johann Ludwig Schulze im Wintersemester 1788/89 in Halle und Gotthilf Christian Reccard im Sommersemester 1798 in Königsberg Vorlesungen über die Kirchengeschichte des Alten Testaments; im Wintersemester 1797/98 hatte Wald in Königsberg privatim die Kirchengeschichte des Neuen Testaments gelesen, vgl. Praelectiones in Academia Fridericiana publice et privatim per hyemem anni MDCCLXXXVIII. a die XX. Octobri habendae, Halle 1788, S.  3 ; Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 23 (1788), Nr.  83– 84 (13.10.), S.  657; Oberhausen: Vorlesungsverzeichnisse, S.  656. 662. Der Jenenser Theologe Friedrich Samuel Zickler veröffentlichte in den 1770er Jahren einen zweibändigen Entwurf zu einer Kirchengeschichte des Alten Testaments. Auch der Titel, den Schröckh seinem monumentalen Werk gegeben hat – nicht einfach Kirchengeschichte, sondern „Christliche Kirchengeschichte“ –, dürfte bedeuten, daß darin nicht die vorchristliche, alttestamentliche, sondern die Kirchengeschichte seit Christus behandelt wird. 34 

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nicht, daß die Geschichte nicht mehr heilsgeschichtlich-teleologisch gedeutet worden wäre (vgl. dazu unten Abschnitt 4.1.). Mosheim ging für die „Kirchengeschichte des neuen Bundes“ nicht mehr von der Kirche als heilsgeschichtlicher Größe und Gegenstand der göttlichen Führung aus, sondern von der Kirche als verfaßter, soziologisch faßbarer, sich verändernder Gesellschaft: „Historia Ecclesiastica novi foederis perspicua est et sincera narratio rerum illarum, quae vel societati illi hominum, cui nomen a CHRISTO est, extrinsecus acciderunt, vel intra ipsos eius fines gestae sunt“.37

Ähnlich macht es Spittler: Die Kirche ist bei ihm derart Wandeln, Wechseln und Unstetigkeiten unterworfen, daß sie als Gegenstand einer Geschichte fast zerfließt. Das Stetige in der Kirchengeschichte bleibt die Institution als solche, die äußere Gesellschaft und Organisation, zu der sich die Bekenner der christlichen Religion zusammenschlössen und die bei allen Umbrüchen und Revolutionen stets vorhanden sei.38 Planck wiederum schreibt in der Vorrede zu seiner „Geschichte der christlich-kirchlichen Gesellschafts-Verfassung“: „Es war mein Wunsch, eine reine Geschichte der christlichen Kirche, als eines äusseren gesellschaftlichen Instituts zu geben, in welcher bloß dasjenige, was zu der eigensten Geschichte dieser Gesellschaft, also ihrer Entstehung, ihrer Bildung, ihrer successiven Erweiterung, ihrer von Zeit zu Zeit sich ändernden Organisation, ihrer Polizey und Regierungs-Form, ihrer Verhältnisse zu andern Gesellschaften, besonders zu der großen Staats-Gesellschaft, und ihrer Einwürkung auf diese gehört, ausgehoben und in sein gehöriges Licht gesetzt werden sollte.“39

Einen anderen Ansatz als den beim soziologischen Kirchenbegriff haben Nösselt und Henke: Für sie ist die Kirchengeschichte ein Teil der allgemeinen Religionsgeschichte.40 Schröckh schließlich möchte, wie er in seiner etwas weitschweifigen, geschwätzigen Art darlegt, nicht bloß eine Institutionengeschichte der Kirche und ihrer Verfassung schreiben, sondern eine Geschichte der christlichen Religion – derjenigen Religion, zu deren evangelischer Gestalt er sich selbst mit Millionen anderen bekennt.41 Eine Kirchengeschichte als Staatengeschichte zu schreiben, sei nur aus der Perspektive des römischen Katholizismus möglich, der die Kirche mit der staatlich-hierarchischen Gesamtorganisation unter dem Papst gleichsetze. Mosheims Kirchengeschichte als Geschichte einer Gesellschaft und ihrer Wandlungen wiederum sei ein sehr achtbares Werk, beschäftige sich aber mehr mit dem, was die Menschen bei der Religion getan 37 

237.

38 

Mosheim: Institutiones, S.  3 ; vgl. Mühlenberg: Göttinger Kirchenhistoriker, S.  233–

Spittler: Grundriß4, S.  1–3 Gottlieb Jacob Planck: Geschichte der christlich-kirchlichen Gesellschafts-Verfassung, Band 1, Hannover 1803, S. V f. Vgl. Nooke: Gottlieb Jakob Planck, S.  354–359. 40  Nösselt: Anweisung 2 2, S.  101 f.; Henke: Allgemeine Geschichte 14, S.  1. 4 f. 41  Schröckh 12 , S.  1–3 39 

2.  Der historische Kontext

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hätten, als mit der Religion selbst.42 In der Vorrede zu Band 13 der Kirchengeschichte entschuldigt Schröckh sich dafür, noch immer im vierten Jahrhundert festzuhängen und im ganzen Band nicht mehr zu behandeln als Basilius, Apollinaris und Gregor von Nazianz: Er wolle eben nicht nur das Merkwürdige aus der Geschichte der äußeren Kirchengesellschaft und des Lehrbegriffs erzählen, das ginge auch kürzer, sondern die Religion in den Christen darstellen, und dafür müsse auch das Biographische in der gebotenen Ausführlichkeit dargestellt werden.43 Stäudlin meint, daß die Kirchengeschichte von einer höheren Idee aus betrieben werden sollte. Die Kirche als gesellschaftliche Verbindung von Menschen zu gemeinsamem Leben und Fördern von Religion und Sittlichkeit sei notwendig, um das ethische Ziel der Geschichte, das Reich Gottes, zu realisieren. Dabei sei eine Kirche aber nicht auf rein vernünftigem Weg zu konstruieren, sondern habe immer auch eine positiv-geschichtliche Grundlage; die christliche Kirche sei erst durch die Lehre und die Taten Christi gestiftet worden. Nun gehöre zum Wesen der christlichen Kirche nicht nur ihre Stiftung, sondern auch ihre (von Christus auch selbst verheißene) geschichtliche Entwicklung zum Ziel. Die Disziplin der Kirchengeschichte also beschreibe die Entstehung und die weitere Entwicklung der Kirche. Stäudlin empfiehlt nun, einer Darstellung der Kirchengeschichte die (zugleich philosophische und positiv-historische) Idee der christlichen Kirche zugrunde zu legen. Die Kirchengeschichte habe dann auch eine praktisch-kritische Funktion, denn sie prüfe, ob und wie weit die geschichtliche Wirklichkeit der Kirche, ihre Verfassung und die Sittlichkeit und Religiosität ihrer Glieder, noch mit der Idee der Kirche, mit ihrer göttlichen Stiftung und ihrem ethischen Endzweck, übereinstimmten. Möglich sei es indessen auch, die Kirchengeschichte aufgrund einer anderen Idee darzustellen, etwa einer rein philosophischen, einer praktischen oder sogar einer kirchenfeindlichen.44 Daß die Geschichte auf der Grundlage einer Idee aufgefaßt und dargestellt werden müsse, war damals ein allgemein empfundenes Anliegen geworden.

42 

Schröckh 12, S.  316–321 Schröckh 13, Vorrede (ohne Seitenzählung). Vgl. dazu Fleischer: Zwischen Tradi­ tion, S.  4 49–453. 509 f., der ein distanziertes Verhältnis des Christen und Profanhistorikers Schröckhs zur verfaßten Kirche und zum Stand der Theologen vermutet. 44  Carl Friedrich Stäudlin: Ueber den Begriff der Kirche und der Kirchengeschichte, in: Göttingische Bibliothek der neuesten theologischen Literatur 1 (1795), S.  600–653, bes. 629–653; ders.: Universalgeschichte der christlichen Kirche, 3.   Aufl., Hannover 1821, S.  1–8; ders.: Lehrbuch der Encyclopädie, S.  17. 268–276; ders.: Geschichte und Literatur, S.  181 f. 43 

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2.2.  Geschichtsanschauung um 1800 2.2.1.  Chladenius, Voltaire und Schlözer Unter „Geschichte“ verstand das 18. Jahrhundert eine einzelne Begebenheit, aber auch (als Kollektivsingular) den Inbegriff und Zusammenhang aller einzelnen Geschichten, die erzählende Darstellung dessen, was geschehen war, und die Kenntnis des Geschehenen.45 Die Bearbeitung der Geschichte in der Wissenschaft ließ allmählich die Historie als Teil der humanistischen Rhetorik hinter sich, um ein eigenes Gebiet der Forschung zu werden, in dem kritisch und zu allgemeinem Nutz und Frommen rekonstruiert werden sollte, was sich denn wirklich begeben hatte.46 Am Übergang von der rhetorisch-literarischen zur forschenden Geschichtswissenschaft steht Johann Martin Chladenius’ Allgemeine Geschichtswissenschaft von 1752. Chladenius (Chladny), Professor der Theologie, Poesie und Beredsamkeit an der neuen Universität Erlangen, legte mit ihr das vor, was wir heute eine Historik nennen: eine Grundlegung der Geschichte als Wissenschaft nebst Anleitung zur historischen Forschung und Darstellung. Das Neuartige dieses Werks bemerkten wohl schon manche Zeitgenossen.47 Chladenius geht es darum, Regeln der historischen Erkenntnis zu entwickeln: Das Reich der Wahrheiten teile sich in allgemeine und historische Wahrheiten, für die ersten gälten die allgemein bekannten und anerkannten Regeln der Logik, für die historischen (d. h. sinnlich-empirischen) fehlten die Regeln bislang. Viele Glaubenslehren verdankten sich aber der historischen Erkenntnis und würden jetzt 45 

Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2.  Aufl., Band 2, Leipzig 1796, Sp.  605 f. 1213; Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band 4,1,2, Leipzig 1897, Sp.  3859–3865; Band 4,2, Leipzig 1877, Sp.  1580; Band 14,1,1, Leipzig 1955, Sp.  1587–1590. 1603 f. – Die These von Reinhart Kosellek: Art. Geschichte, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2, Stuttgart 1975, S.  593–717, bes. 593 f. 640 f. 647–658, erst seit etwa 1800 sei „Geschichte“ auch als Kollektivsingular gebraucht worden, und bis in die Auf klärung habe das Deutsche genau zwischen der Geschichte als Geschehenem und der Historie als Erzählung des Geschehenen differenziert, läßt sich so schwerlich aufrechterhalten, schon deshalb nicht, weil sich die Bedeutung des deutschen Wortes „Geschichte“ in der Sprache der gelehrten Welt nicht so genau von denen seiner Entsprechungen im Lateinischen und Französischen (historia, histoire) isolieren läßt; vgl. Jan Marco Sawilla: „Geschichte“: ein Produkt der Auf klärung?, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S.  381–428. 46 Vgl. Kosellek: Geschichte, S.  691 f.; Wolfgang Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Historie und die Ästhetik der Darstellung, in: Hg. Reinhart Koselleck: Formen der Geschichtsschreibung, Theorie der Geschichte 4, München 1982, S.  147–191, bes. 152– 164. 181–185; Horst Walter Blanke, Dirk Fleischer und Jörn Rüsen: Historik als akademische Praxis, in: Dilthey-Jahrbuch 1 (1983), S.  185–255, hier 191–193; Jörn Rüsen: Von der Auf klärung zum Historismus, in: Hg. Horst Walter Blanke und Jörn Rüsen: Von der Auf klärung zum Historismus, Historisch-politische Diskurse 1, Paderborn 1984, S.  15–57, hier 15. 22–27. 40 f. 47 Vgl. Fleischer: Zwischen Tradition, S.  157 f.

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unter dem Hinweis darauf, daß auf diesem Wege keine Gewißheit, sondern nur Wahrscheinlichkeit zu erreichen sei, angefochten; ein Regelwerk könne indessen zeigen, daß die historisch-empirische Erkenntnis mehr hervorbringe als bloße Ungewißheit.48 Chladenius unterscheidet die Geschichte als Begebenheit und die Geschichte als Erkenntnis, Vorstellung, Erinnerung und Erzählung einer Begebenheit (als Kollektivsingular verwendet er Geschichte, soweit ich sehe, nicht); 49 er würdigt die Modifikation, die eine Begebenheit beim Erinnern und Erzählen erfährt, als notwendige konstruktive Leistung, die aus ihr erst eine Geschichte mache, und versucht, Gesetzmäßigkeiten bei der Überlieferung und Weitergabe von Geschichten aufzustellen.50 Bekannt wurde Chladenius vor allem für seine Lehre vom Sehepunkt: Je nach Standpunkt, Interesse und Perspektive stellen sich Begebenheiten verschieden dar; die Subjektivität des Zeugen, Berichterstatters und Rezipienten ist mit jeder Geschichte untrennbar verbunden, und Unparteilichkeit kann nicht Objektivität bedeuten (die eben den Zuschauer auf höbe, von dem alle historische Erkenntnis abhängt), sondern bloß den Verzicht auf mutwillige Verdrehungen.51 Chladenius, der mit seiner „Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schriften“ (1742) auch zu den Klassikern der Hermeneutik zählt, hat die unhintergehbare Relativität alles Wahrgenommenen, Erkannten, Gedachten und Mitgeteilten gezeigt und damit zugleich jede künftige Geschichtswissenschaft vor die hermeneutische Aufgabe gestellt.52 Johann Gottfried Herder, Friedrich Schlegel und andere sollten daran anknüpfen. Es war Voltaire (François Marie Arouet), der um diese Zeit den Begriff der Geschichtsphilosophie auf brachte. Voltaire veröffentlichte 1765 unter einem Pseudonym eine Art kurzer Phänomenologie der Völker und Kulturen bis zu den Römern, die den Titel „Philosophie De L’Histoire“ trug. Das Werk wurde später als Einleitung dem Essay über Sitten und Geist der Nationen vorangestellt, einer von Voltaire über lange Zeit ausgearbeiteten Betrachtung der Geschichte seit Karl dem Großen, die mit einer Beschreibung der asiatischen Völ48  Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird, Leipzig 1752, S. (XIV)–(XXVII) (Vorrede). Das Problem der historischen Wahrscheinlichkeit und Gewißheit wird dann in den Kapiteln 9 und 10 (S.  280–352) erörtert. Vgl. Viktor Lau: Erzählen und Verstehen, Epistemata Reihe Philosophie 271, Würzburg 1999, S.  49–55. 49  Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, S.  7–10 (Kap.  1, §  13–16) 50  Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, S.  115–202 (Kap.  6 f.) 51  Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, S.   37 f. 91–115. 149–153 (Kap.  2, §  17; 5; 6, §  32–34). Gottfried Arnolds Unparteiische Ketzergeschichte (vgl. unten Abschnitt 4.1.) findet der Lutheraner Chladenius nach diesem Maßstab überhaupt nicht unparteiisch. 52 Vgl. Joachim Wach: Das Verstehen, Band 3, Tübingen 1933, S.   21–32; Kosellek: Geschichte, S.  696–698; Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung, S.  154 f.; Horst Walter Blanke und Dirk Fleischer: Allgemeine und historische Wahrheiten, in: Dilthey-Jahrbuch 5 (1988), S.  258–270, bes. 264–267; Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Auf klärung, München 1991, S.  81–85; Lau: Erzählen, S.  59–63.

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ker und des frühen Christentums anhebt.53 Voltaire, der darin einen Gegenentwurf zur Geschichtstheologie des berühmten Bischofs, Kanzelredners und Prinzenerziehers Jacques-Bénigne Bossuet vorlegen will, verschmäht es, die Geschicke der Menschheit in den Rahmen einer göttlich gelenkten, biblischchrist­lichen Heilsgeschichte einzupassen, mag andererseits aber auch keine bloß datenreiche Kriegs-, Staaten- oder Dynastiengeschichten schreiben. Ihn in­ter­ essiert es, in den verschiedenen Völkern und Kulturen nach den glücklichen Fortschritten in Vernunft und Kultur, Auf klärung und Lebensgenuß zu suchen und umgekehrt nach Unglück und Rückfällen in Barbarei, Gewalt und Aberglauben (und in dieser Beziehung stünden Hebräer und Christen, angeblich die Empfänger der Offenbarungen und der bevorzugte Gegenstand der göttlichen Providenz, besonders erbärmlich da 54 ). Die unberechenbaren Fort- und Rückschritte der Zivilisation, verursacht oft durch äußerliche Zufälle, machen das eigentliche Wesen der wechselvollen menschlichen Vergangenheit und Gegenwart aus. Und zur Arbeit des Auf klärers gehört es auf der anderen Seite, die Abläufe der Ereignisse so zu rekonstruieren, daß sie der Vernunft und dem kausal-mechanischen Weltbild plausibel sind, daß also alles Mirakulöse fahrengelassen wird und als Motiv, wo es wider die Vernunft und die Moral zugeht, nur Aberglaube, Despotismus und Betrug übrigbleiben. – Die Geschichtsphilosophie und der Essay wurden schnell ins Deutsche übersetzt. Das Neuartige in ihrer Weise, die Geschichte zu beschreiben und zu deuten, wurde alsbald erkannt, erregte viel Widerspruch und war bei Anhängern wie bei lautstarken Gegnern von großem Einfluß auf die nun anbrechende Debatte über Einheit und Sinn, Ablauf und Ziel der Weltgeschichte.55 53  Die

Werke haben eine nicht unkomplizierte Entstehungs- und Druckgeschichte. Der Essay erschien als Kompilation mehrerer früherer Werke zuerst 1753 in zwei Bänden, und zwar als „Abrégé de l’Histoire universelle depuis Charlemagne, jusques à Charlequint“, dann erweitert 1756 als Band 11–17 der Voltaire-Gesamtausgabe unter dem Titel „Essai sur l’His­ toire générale et sur les Mœurs et l’Esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’à nos jours“. In neuer Fassung wurde der Essay 1769 in einer neuen Gesamtausgabe gedruckt (Band 8–10); die „Philosophie D’Histoire“ von 1765 war ihm von nun an als „Discours préliminaire“ vorangestellt, dafür wurde der „Siècle de Louis XIV.“ aus dem Werk ausgegliedert. Das Ganze hatte jetzt den Titel „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII.“ Die letzte noch von Voltaire geprüfte Ausgabe erschien 1775 als Band 14–17 einer neuen Gesamtausgabe (der sog. „Édition encadrée“). 54 Vgl. z.  B. [Voltaire (Abbé Bazin):] La Philosophie D’Histoire, Amsterdam 1765, Kap.  38–46 (Les œuvres complets 592, S.  220–248), wo die „Juden“ von den Erzvätern bis zu Josephus behandelt werden und es u. a. heißt, sie seien vor der israelitischen Königszeit Wüstenaraber und die Heloten der Phönizier und Philister gewesen; ders.: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII. (Édition encadrée, Band 14–17), Genf 1775, Kap.  8 –10 (Les œuvres complètes 22, S.  162–210), wo es um das frühe Christentum geht. 55  Die Geschichtsphilosophie wuchs in der Übersetzung Johann Jakob Harders (1768) auf das Doppelte; Harder entlarvte nicht nur Voltaire als Autor, sondern versah das Werk auch reichlich mit kritischen Anmerkungen und Gegendarstellungen. Noch im 18. Jahrhundert

2.  Der historische Kontext

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Die Eigenart der pragmatischen Geschichtsdarstellung haben wir oben vorgestellt (vgl. Abschnitt 2.1.1.). Bei ihr haben sich die zeitgenössische Geschichtstheorie und Romantheorie gegenseitig beeinflußt: Beiden ging darum, Begebenheiten so darzustellen, daß die Erzählung ästhetisch, vernünftig und moralisch befriedigte, und zwar dadurch, daß ein kausal verknüpfter, sinnvoller, psychologisch nachvollziehbarer Handlungszusammenhang konstruiert wurde; das Eingreifen eines Deus ex machina sollte aus der Romanhandlung ebenso wie aus der Historie ausgeschlossen sein. Freilich konnten die Postulate, daß die Handlung sowohl kausalgenetisch zusammenhänge als auch auf ein moralisch gerechtes Ende ziele, einander in die Quere kommen.56 Zu den bedeutenden theoretischen Arbeiten der aufgeklärt-pragmatischen Richtung gehören die weltgeschichtlichen Entwürfe Schlözers, konzipiert als Leitfaden für Vorlesungen, aber trotz mehreren Anläufen nie vollendet. Schlözer grenzt sich von der alten Universalgeschichte ab: Die sei bloß eine Hilfswissenschaft gewesen, eine Rumpelkammer und Gemengsel von aufgelesenen Einzelheiten aus der Vergangenheit (z. B. aus der Bibel, den antiken Autoren und der Geschichte der Herrscherhäuser), die noch dazu oft bloß sagenhaft waren und ohne Verbindung untereinander und ohne Kenntnis der Welt und des Weltlaufs dargestellt wurden, das Ganze eine bloße Bücherwissenschaft und Ballast für das Gedächtnis. Dagegen sei die Weltgeschichte ein zusammenhängendes Gebiet von eigenem Interesse, zugleich aber auch nützlich und gut für andere Wissenschaften und zur Förderung der Vernunft überhaupt. Sie zeige, wie der gegenwärtige Zustand aus der Vergangenheit entstanden sei, weite den Horizont auf die gesamte eine Menschheit (statt bloß auf bevorzugte Gegenstände wie die vier Weltreiche nach Daniel), habe aber auch den Mut, Unwichtiges erschienen ebenfalls zwei deutsche Übersetzungen des Essays, darunter eine von Wilhelm Christhelf Sigmund Mylius als Band 4–10 der „Sämtlichen Schriften Voltaire’s“. – Vgl. Hermann August Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts, Band 1, Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 10, Heidelberg 1917, S.  341–371; Band 2, Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 11, Heidelberg 1917, S.  508–519; Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München und Berlin 1936, S.  78–124 (Werke 3, S.  73–115); Wilhelm Weischedel: Voltaire und das Problem der Geschichte, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 2 (1947), S.  481–498; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 3, Gütersloh 1951, S.  81–85; Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953, S.  99–106; Ulrich Dierse und Gunter Scholtz: Art. Geschichtsphilosophie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3, Basel 1974, Sp.  416–439, hier 416–425; Otto Dann: Voltaire und die Geschichtsschreibung in Deutschland (Thesen), in: Voltaire in Deutschland, Stuttgart 1979, S.  463–467; Wolfgang Farr: Voltaire und die Frage nach der Geschichte, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 32 (1980), S.  104–114. 56 Vgl. Meinecke: Die Entstehung, S.  83–88. 151 f. (Werke 3, S.  7 7–82. 140 f.); Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, Germanistische Abhandlungen 40, Stuttgart 1973, S.  186–196; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst, European Cultures 7, Berlin und New York 1996, S.  59–62. 99–108.

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(wie Esaus Linsengericht) beiseite zu lassen. Statt einfach bisherige Geschichten ungeprüft weiterzuerzählen, betreibe sie kritische Forschungen und ermittle so die „TatSätze“ (Fakten) der vergangenen Zeit. – Da nun alles zum Faktor für den kulturellen Auf- oder Abstieg der Menschen werden könne, berücksichtigt Schlözer auch Gebiete wie die Veränderungen in der Natur und die Entwicklung der Technik, der Wirtschaft und des Verkehrs. Ausführlich reflektiert er die Didaktik der Geschichte, also die Frage, wie der Stoff disponiert und vorgestellt werden sollte: Die „TatSätze“ könnten chronologisch oder synchronistisch angeordnet werden; letzteres bedeute das Nebeneinanderstellen gleichzeitiger und paralleler Phänomene, die nicht kausal untereinander zusammenhingen. Insgesamt sei die Weltgeschichte einerseits die Sammlung verschiedener Einzelgeschichten, andererseits das diese (ihrerseits ursächlich zusammenhängenden) Einzelgeschichten vereinigende System der „TatSätze“. Material ausgearbeitet hat Schlözer eine kurzen Charakterisierung der Perioden sowie ein „Aggregat“ von Geschichten der „Haupt-“ und „Nebenvölker“.57 Obwohl Schlözers weltgeschichtliche Arbeiten nicht unbedingt unter die großen Kunstwerke der Geschichtsschreibung zu rechnen sind, ist Schlözer in seiner Konzeption von den ästhetischen Diskursen seiner Zeit beeinflußt: Eine Welt- oder Universalgeschichte, wie sie ihm vorschwebe, sei eben auch als Kunstwerk mehr als das Aggregat der Einzel- oder Spezialgeschichten, wäre dieses auch noch so vollständig in der Aufzählung der Begebenheiten. Man müsse aus dem Material eine Auswahl treffen, es formen und ordnen. Der allgemeine, das Ganze umfassende Blick sei die Voraussetzung für eine solche Disposition; er sei vergleichbar damit, wie sich die Seele nach Moses Mendelssohns Theorie auf einen ästhetischen Genuß vorbereite. Eine so geordnete Geschichte sei dann wieder für den Leser eine Quelle ebenso des Vergnügens wie der erhabenen Empfindungen. Die historische Kunst gewinne die Würde des Epos und sei mit der Kunst des Mosaiklegers vergleichbar, der viele kleine und vereinzelte bunte Steinchen zu einem zusammengehörigen Gesamtbild vereinige.58 Die Gemeinsamkeiten Schlözers mit Voltaire sind deutlich, aber auch die Unterschiede: Schlözer, der zugleich Politologe und Publizist im Sinne der Auf klärung war, hält sich doch mit Werturteilen über die Geschichte zurück; er möchte die Disziplin auch nicht essayistisch und leichtfertig betreiben, sondern sorgfältig und unter genauer Reflexion der Methode und Disposition. 57  August Ludwig von Schlözer: Vorstellung der Universal-Historie, 2.  Aufl., Göttingen 1775, Vorrede zur zwoten Ausgabe (ohne Seitenzählung); ders.: WeltGeschichte nach ihren HauptTeilen im Auszug und Zusammenhange, 2.  Aufl., Band 1, Göttingen 1792, S.  1–9. 60–76. Vgl. Ursula Becher: August Ludwig v. Schlözer, in: Hg. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Historiker, Band 7, Göttingen 1980, S.  7–23, bes. 12–19; Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung, S.  165–169. 58  August Ludwig von Schlözer: Vorstellung seiner UniveralHistorie, Band 1, Göttingen 1772, S.  13–25. 35–38. 44 f. Vgl. Fulda: Wissenschaft, S.  175–181.

2.  Der historische Kontext

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Voltaire ist für Schlözer ein stilistisch brillanter, aber auch tendenziöser, unwahrhaftiger und oft genug unwissender Anekdotenerzähler.59

2.2.2.  Kant und Herder Bei Stäudlin deutet sich bereits der Umbruch der Geschichtstheorie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts an: von der pragmatischen Auffassung hin zu einer idealen Sicht, wonach die Geschichte nicht kontingent (wenn auch streng kausal) verläuft, sondern einer höheren Notwendigkeit folgt. Stäudlin war Kantianer; was er von der ethisch notwendigen, in der Geschichte gestifteten Gemeinschaft der Kirche schreibt, lehnt sich eng an Immanuel Kants Religionsschrift an.60 Kant selbst hatte 1784 einen geschichtstheoretischen Aufsatz veröffentlicht, wonach die Menschheitsgeschichte ihrem Gehalt nach die Entwicklung der vernünftigen Naturanlage in der menschlichen Gattung sei; anders als die anderen Naturanlagen entwickele sich nämlich die Vernunft nicht im Individuum, sondern erst in der Gattung zu ihrem Zweck und Ziel. Um nun die Menschheit dazu zu bringen, ihre Vernunftanlage in einer zu schaffenden rechtlich verfaßten bürgerlichen Gesellschaft vollständig auszubilden, bediene sich die Natur auch menschlicher Untugenden wie der Ungeselligkeit und der gegenseitigen Eifersucht. Auch die Kriege seien (so nicht von den handelnden Subjekten, aber doch von der Natur beabsichtigte) notwendige Zerstörungen des Bisherigen zur Schaffung von Besserem.61 59 Vgl. [August Ludwig von Schlözer:] Rezension zu: Voltaire: Geschichte des rußischen Reichs unter Peter dem Großen, Band 2, Frankfurt und Leipzig 1763, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 10 (1769), S.  254 f. (die russische Geschichte war ein Spezialgebiet Schlözers, seine Übersetzung und Edition der russischen Nestor-Chronik gilt bis heute als bahnbrechende Forschungsleistung), wo es u. a. heißt: „Gerade wie der erste Theil! geistreich, witzig, leicht und fließend, voller unerwarteten Remarquen und gefallender Wendungen; aber dichte mit Faux-Brillans, mit historischen Fehlern, mit historischen Lügen (denn beyde unterscheidet der Verf. selbst in der Vorrede,) und mit falschen Raisonnements besäet; die eigenthümlichen Namen äusserst verstümmelt, mit einem Worte: alles Voltairisch. Man bewundert den Witz des Geschichtmahlers; man bemitleidet seine nicht selten grobe Unwissenheit; man verabscheuet den moralischen Charakter des Geschichtschreibers, der ehedem die scandaleusesten Anecdoten von Rußland verbreitete, nun aber aus wohlbezahlter Pflicht, solche vertuschen, (aber nicht widerruffen) zu wollen, und dabey immer noch durch boshafte Wendungen dem Kenner der Geschichte und des Voltairischen Herzens stillschweigend sagt, daß er noch seine vorige Gesinnungen hege“; ders.: Vorstellung1 1, S.  3 f. 45, wo Schlözer die „Voltaires“ unter die Fabeln- und Romandichter rechnet, die nur beschreiben, wie die Welt hätte sein können, und die, statt historisch-kritisch zu forschen, die Facta selber machen oder wenigstens färben. 60  Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 2.  Aufl., Königsberg 1794, S.  110–143 (Akademie-Ausgabe 6 = I/6, S.  100–124); vgl. Stroup: Protes­ tant Church Historians, S.  188–190. 61  Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Berlinische Monatsschrift 1784, 11. Stück, S.  385–411 (Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  15–31)

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„Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“62

Die Natur legt sich also ins Mittel, weil die menschliche Vernunft allein nicht in der Lage ist, den Zustand heraufzuführen, unter dem sie sich am besten selbst entfalten kann; die Naturteleologie wird in den Bereich der Geschichte verpflanzt, um einer regulativen Idee Realität zu verleihen.63 – Unter Kants Einfluß begann die pragmatische Geschichtsauffassung, sich an einer leitenden Idee zu orientieren, und nahm einen teleologischen Charakter an.64 Auch Johann Gottfried Herder hatte Anteil an der Erneuerung der Geschichtstheorie, aber auf andere Weise als Kant. Herder griff den historischen Pragmatismus 1774 in einer Schrift an, die anonym unter dem polemischen Titel „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ erschien: Die Geschichte der Menschheit sei weder ein geradliniger Fortschritt zu dem hin, was der Gegenwart als allein preiswürdig erscheine, noch (im Sinne Voltaires) ein sinn- und zielloser Wechsel von abergläubischen Exzessen und Siegen der Vernunft.65 Vielmehr entwickle und realisiere sich in der Geschichte als Totalität – in, mit und unter den natürlich-immanenten Ursachen und Wirkungen66 – ein göttlicher Plan.67 Zu ihm gehöre auch das, in ihm habe auch das seinen Ort, seine Würde und Bedeutung, was der Gegenwart barbarisch und verächtlich scheine: die altorientalischen Reiche, die mittelalterliche Welt.68 62 

Kant: Idee, 8. Satz (Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  27) Andreas Cesana: Geschichte als Entwicklung? Quellen und Studien zur Philosophie 22, Berlin-West und New York 1988, S.  112–114. 120–122. 127–138. 155–159; Bernd Bräutigam: Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung, in: Hg. Friedrich Strack: Evolution des Geistes: Jena um 1800, Deutscher Idealismus 17, Stuttgart 1994, S.  197–212, hier 198–201; Andreas Arndt: Naturgesetze der menschlichen Bildung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S.  97–105, hier 99 f.; Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Schwabe Philosophica 8, Basel 2006, S.  310–326. 64 Vgl. Kühne-Bertram: Aspekte, S.  172 f.; dies.: Pragmatisch, Sp.  1243. 65 [Johann Gottfried Herder:] Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Riga 1774, S.  58–61. 80–84. 117–121. 133–142 (Sämmtliche Werke 5, S.  511 f. 524 f. 545–547. 554–559) 66 [Herder:] Auch eine Philosophie, S.  73–75 (Sämmtliche Werke 5, S.  520–522); vgl. ders.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Band 3, Riga 1787, Buch 13,2 (Sämmtliche Werke 14, S.  145). 67 [Herder:] Auch eine Philosophie, S.   156 f. (Sämmtliche Werke 5, S.  567). Ähnlich kann sich aber auch schon Schlözer äußern, vgl. Schlözer: WeltGeschichte2 1, S.  10 f. 68 [Herder:] Auch eine Philosophie, S.  18–32. 79–81 (Sämmtliche Werke 5, S.  4 86–494. 523–529); vgl. ders.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Band 1, Riga 1784, Vorrede (Sämmtliche Werke 13, S.  4 ): „Welches Volk der Erde ists, das nicht einige Cultur habe? und wie sehr käme der Plan der Vorsehung zu kurz, wenn zu dem, was Wir Cultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten, jedes Individuum des Menschengeschlechts geschaffen wäre?“ 63 Vgl.

2.  Der historische Kontext

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Auch Herder denkt die Geschichte als zielgerichtete Entwicklung; aber bei ihm bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die Geschichte und ihre Phänomene – also die gesamte menschlich-sittliche Welt – eben geschichtlich gedeutet werden müßten und nicht nach einem scheinbar übergeschichtlichen, überpositiven Vernunft- oder Naturrecht, daß man also den Sinn in der Geschichte suchen müsse und nicht der Geschichte von außen auferlegen.69 Den Pragmatikern wiederum gehe jedes Gefühl von Ehrfurcht vor dem großen Werk der göttlichen Führung ab, statt dessen suchten sie in der Geschichte nur das, was zu ihren Begriffen von Tugend und Vernünftigkeit passe, und gebärdeten sich dabei wie ein Hahn, der kräht, wenn er im Misthaufen ein Körnchen gefunden hat.70 Ihr Maßstab zur Beurteilung der Vergangenheit ist (mit Chladenius zu sprechen) eben auch nur ein bedingter, perspektivischer Sehepunkt.71 Den „Gang Gottes über die Nationen“72 zu übersehen und zu begreifen, sei uns freilich nicht gegeben, aber wir könnten den Spuren der göttlichen Offenbarung demütig folgen und ihnen nachdenken.73 Herder hält es für möglich, daß beim Nachdenken die eigene, begrenzte Sichtweise in eine überpersönliche Perspektive hinein aufgehoben wird; das gelingt dann, wenn der Mensch sich als Poet in seinen historischen Gegenstand fühlend hineinversetzt.74 Zehn Jahre später kam der erste Band der Herderschen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ heraus. Gegenstand dieses großen Gemäldes ist der Mensch, der Mensch als geschichtliches Wesen, und darüber hinaus die Entwicklungsgeschichte der unbelebten Materie und der belebten Natur. Herder stellt die Natur und Kultur als Gesamtheit dar, und zwar unter der Form der Geschichte. „Wer bloß metaphysische Spekulationen will, hat sie auf kürzerm Wege; ich glaube aber, daß sie, abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur, eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziele führet. Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke thätlich dargelegt hat: sie sind das heilige Buch, 69 Vgl. Klaus Scholder: Herder und die Anfänge der historischen Theologie, in: Evangelische Theologie 22 (1962), S.  425–440, bes. 429 f. 434–440; Georg Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S.  51 f.; Martin Schmidt: Das Geschichtsproblem in der Auf klärung und seine theologische Bedeutung, in: Hg. Kaiser: Denkender Glaube, S.  70–100, hier 76 f.; Cesana: Geschichte, S.  175 f. 70 [Herder:] Auch eine Philosophie, S.   134–136 (Sämmtliche Werke 5, S.  554 f.); vgl. ders.: Denkmahl Johann Winkelmanns (1778) (Sämmtliche Werke 8, S.  466 f.). 71 Vgl. Hans Dietrich Irmscher: Aspekte der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders, in: Hg. Marion Heinz: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, Fichte-Studien-Supplementa 8, Amsterdam und Atlanta 1997, S.  5 –47, hier 13–16; Lau: Erzählen, S.  128 f. 72 [Herder:] Auch eine Philosophie, S.  153 (Sämmtliche Werke 5, S.  565) 73 [Herder:] Auch eine Philosophie, S.   62 f. 142–146. 186–190 (Sämmtliche Werke 5, S.  513. 559–561. 584–586) 74  Z. B. [Herder:] Auch eine Philosophie, S.  63 (Sämmtliche Werke 5, S.  513); vgl. Irmscher: Aspekte, S.  16–19; Lau: Erzählen, S.  129–132.

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an dessen Charakteren ich zwar minder als ein Lehrling aber wenigstens mit Treue und Eifer buchstabirt habe und buchstabiren werde.“75

Das Werden und Vergehen der Menschen, Völker und Kulturen stellt sich ebenso wie das der Natur dar als Entwicklung durch einwohnende Formen, Kräfte und Ideen, die das Materielle zu ihrem Organ machen.76 Das Humane realisiert und organisiert sich im Laufe der Zeit und unter immer sich verändernden natürlichen (Herder redet besonders gern vom „Klima“) und geschichtlichen Umständen in immer neuen Gestalten.77 Die Analogie zwischen natürlich-organischer und geschichtlicher Entwicklung leistet die Gewähr dafür, daß der Betrachter die Geschichte nicht von seinem beschränkten Standpunkt aus, sondern gleichsam aus göttlicher Perspektive anschaut.78 – Für das Studium der Kirchengeschichte empfiehlt Herder, sich nicht an das Allgemeine, sondern an das Besondere, Individuelle zu halten: „Da wird sie charakteristisch: da siehet man Fußstapfen Gottes in Begegnissen, Zufällen, Gaben, Tugenden und Fehlern: da stärkt man sein Urtheil, seinen Glauben und Cha­rakter.“

Dazu eigne sich Spittlers Grundriß als ein auch in den kleinsten Zügen „reiches Gemählde voll Gelehrsamkeit und feinen Urtheils“.79 Herder gilt als selbst noch im Jahrhundert der Auf klärung verwurzelter Wegbereiter von Romantik, Idealismus und Historismus.80 Kant hat die beiden er75 

Herder: Ideen 1, Vorrede (Sämmtliche Werke 13, S.  9 ) Herder: Ideen 1, Buch 5 (Sämmtliche Werke 13, S.  167–201). Zum Begriff der Kraft vgl. auch ders.: Gott, 2.  Aufl., Gotha 1800, bes. S.  75–88. 169–171. 239–287 (Sämmtliche Werke 16, S.  451–459. 502 f. 541–570): Hier verteidigt Herder Spinozas System und Gottesbegriff, deutet dessen strengen Kausaldeterminismus aber zugleich um zu einem lebendigen Ineinander von Kräften und Wirkungen; vgl. Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Band 2, Berlin 1885, S.  289–296; Claas Cordemann: Herders christlicher Monismus, Beiträge zur historischen Theologie 154, Tübingen 2010, S.  101–113. 77  Herder: Ideen 1, Buch 4,6; Band 2, Riga 1785, Buch 7–9; 3, Buch 15 (Sämmtliche Werke 13, S.  154–165. 252–395; 14, S.  204–252) 78  Herder: Ideen 3, Buch 15,3 (Sämmtliche Werke 14, S.   225–228). Vgl. zu Herders Analogie der Geschichte mit der Natur und dem Organismus Rudolf Stadelmann: Der historische Sinn bei Herder, Halle 1928, S.  79–81; Cesana: Geschichte, S.  169–181; Cordemann: Herders christlicher Monismus, S.  15–18. 171–173. 79  Johann Gottfried Herder: Briefe, das Studium der Theologie betreffend, Band 4, Weimar 1781, 48. Brief (Sämmtliche Werke 11, S.  84 f.) 80 Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Band 1, Leipzig 1883, S. XIV (Gesammelte Schriften 1, S. XVI); Haym: Herder 2, S.  260–262; Stadelmann: Der historische Sinn, S.  24–28. 50–59. 82–84; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  151–153; Meinecke: Die Entstehung, S.  416–442. 446–458 (Werke 3, S.  386–410. 414–425); Hirsch: Geschichte 4, S.  208–220; Scholder: Herder, S.  425–427; Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S.  50–54. – Nach Stadelmann und Meinecke bedeuten die „Ideen“ insofern einen Rückschritt gegenüber der Schrift von 1774, als in ihnen das geschichtliche Verstehen des Individuellen wieder zugunsten eines pragmatischen Moralismus am Maßstab der Humanität zurückgenommen sei. 76 

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sten Bände von Herders Ideen für die Allgemeine Literaturzeitung rezensiert. Er kritisierte, daß Herder nicht in Begriffen und Grundsätzen denke, sondern in Metaphern und Allegorien (also nicht folgerichtig und nachvollziehbar, sondern assoziativ und willkürlich). Dazu mache Herder den Menschen und seine Entwicklung zu einer Analogie und einem Produkt der organischen Naturkräfte, statt ihn der Natur gegenüberzustellen. Weiter fehlte Kant in Herders Geschichtsphilosophie die teleologische Ausrichtung: Für Herder sei die Bestimmung des Menschen nicht erst in der Gattung am Ziel der Geschichte verwirklicht, sondern jeder Mensch habe das Maß seiner Glückseligkeit in sich, selbst wenn es sich um einen unzivilisierten Ureinwohner von Tahiti handele.81

2.2.3.  Neue Ansätze Im Mai 1789 hielt Friedrich Schiller seine berühmt gewordene Jenenser Antrittsvorlesung über den Sinn und Zweck der Universalgeschichte: Dem philosophischen Geist sei es eigen, den Gegenstand seines Interesses so lange zu bearbeiten, bis der sich zu einer sinnvollen Einheit füge; von solcher Art solle auch die Universalgeschichte sein, die er, Schiller, den Studenten zu halten gedenke. Was von der Vergangenheit überliefert sei, seien nun zunächst bloß zufällige, unzusammenhängende Fragmente. Der philosophische Geist aber verknüpfe sie zu einem System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen, zu einer Einheit; er beruft sich dafür auf die Gleichförmigkeit und Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts. Da greifen dann die Einzelheiten als Ursache und Wirkung ineinander, da wird das Fehlende nach dem Analogieprinzip erschlossen. Der zweite Schritt ist dann, dem dergestalt hergestellten Zusammenhang ein Ziel zu geben, ihn also nicht als blinde Notwendigkeit zu belassen, sondern die Vernunftgesetze und die Harmonie des menschlichen Verstandes nach außen in die Ordnung der Dinge zu verpflanzen. Und so bekommt die Geschichte dann ein teleologisches Prinzip: Die Entwicklung der Menschheit von ihren (nicht wie bei Herder patriarchalisch-idyllischen, sondern anarchischen und barbarischen) Kindertagen an, über Umbrüche und Katastrophen, wird ein sinnvolles Ganzes, das auf die politischen, technischen und geistigen Errungenschaften der gegenwärtigen Zivilisation zielt.82 Schiller lehnt sich also mehr an Kant als an Herders individuelle Entelechie an. Die Einheit 81 [Immanuel Kant:] Rezension zu: J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Band 1, Riga 1784, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 1 (1785), Band 1, Nr.  4 (6.1.), S.  17–20, und Beilage, S.  21 f. (Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  45–55); [ders.:] Rezension zu: J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Band 2, Riga 1785, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 1 (1785), Band 4, Nr.  271 (15.11.), S.  153–156 (Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  58–66) 82  Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Der Teutsche Merkur, November 1789, S.  105–135 (Nationalausgabe 17 = V/1, S.  359–376)

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und Teleologie der Geschichte liegen indessen für ihn nicht in der Sache an sich (den Überbleibseln aus der Vergangenheit), auch nicht in der natürlichen Ordnung; sie sind apriorische Formen der Anschauung, wie sie der Mensch immer schon mitbringt.83 Wenige Jahre später, im Sommer 1794, kam Johann Gottlieb Fichte nach Jena. Seine erste öffentliche Vorlesung hatte die Bestimmung des Gelehrten zum Gegenstand; noch im selben Jahr wurde sie gedruckt. Fichte deutet darin an, daß sich das Wesen der Geschichte rein a priori aus den Grundeinsichten der Wissenschaftslehre in das Prinzip allen Denkens, Erkennens und Handelns erschließe: Die Welt ist das Produkt des sich selbst setzenden Subjekts, das Gegenüber, an dem das Subjekt sich selbst als schöpferische Kraft verwirklicht und bewährt. Die Geschichte als Ganzes und als Inbegriff aller menschlichen Tätigkeit sei als ein stetiger Prozeß der Vervollkommnung des Menschen hin zur Autonomie seiner schöpferischen Vernunft (d. h. im Prinzip: zur allgemeinen freien Anerkenntnis der Wissenschaftslehre) anzusehen. „Nun kann man allerdings aus Vernunftgründen, unter Voraussetzung einer Erfahrung überhaupt, vor aller bestimmten Erfahrung vorher, den Gang des Menschengeschlechts berechnen; man kann die einzelnen Stufen ohngefähr angeben, über welche es schreiten muß, um bei einem bestimmten Grade der Bildung anzulangen; aber die Stufe angeben, auf welcher es in einem bestimmten Zeitpunkte wirklich stehe, das kann man schlechterdings nicht aus bloßen Vernunftgründen; darüber muß man die Erfahrung befragen“.84

Fichte ist also der Meinung, daß es zu einer die Vernunft befriedigenden Einsicht in das Wesen und Ziel der Geschichte einer Kenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit ebenso wenig bedürfe wie einer Vermittlung mit den individuellen, kontingenten Phänomenen der Geschichte. Der junge Kritiker und Philologe Friedrich Schlegel machte demgegenüber geltend, daß Idee und Ziel der Geschichte nicht außer der Geschichte, sondern in der Geschichte selbst zu suchen seien und durch ein kritisches Verfahren ausgemittelt und als Werk der Poesie dargestellt werden sollten. Kant hatte seine Gedanken von einem verborgenen Plan in der Natur noch einmal 1795 in der Schrift zum ewigen Frieden dargestellt: Daß das Endziel der Menschheitsgeschichte eine friedliche und einträchtige Konföderation von Bürgerrepubliken sei, zeige schon die „große Künstlerin Natur“: Ihr mechanischer Lauf habe die offenbare Zweckmäßigkeit, die Menschen auch wider deren Willen auf der ganzen bewohnbaren Erde zu verteilen und zu ernähren, sie im Krieg und durch Handel zusammenzubringen und sie zur besseren Wahrnehmung ihrer Interessen rechtlich verfaßte Staaten bilden zu lassen. Damit sichere die Natur, daß der Mensch eben das Ziel, das ihm auch schon der 83 Vgl. Karl-Heinz Hahn: Schiller als Historiker, in: Hg. Bödeker: Auf klärung und Geschichte, S.  388–415, hier 392–403; Bräutigam: Vergangenheitserfahrung, S.  202–207. 84  Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, Jena und Leipzig 1794, S.  81; vgl. auch 32–34 (Akademie-Ausgabe I/3, S.  37. 53)

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Gebrauch seiner Vernunft zur Pflicht mache, anstrebe und erreiche, selbst dann, wenn er, auf sich gestellt, träge sei, der Vernunft aus deren eigenem Antrieb zu folgen.85 Schlegel schrieb, so geistreich dieser Gedanke auch sei, es genüge doch nicht, bloß die Mittel der Möglichkeit zu zeigen, daß der ewige Friede herbeigeführt werde; die Frage sei schließlich, ob auch die innere Entwicklung der Menschheit dahin führe, und dazu sei die gedachte Zweckmäßigkeit der Natur gleichgültig: „nur die (wirklichen) nothwendigen Gesetze der Erfahrung können für einen künftigen Erfolg Gewähr leisten. Die Gesetze der politischen Geschichte, und die Prinzipien der politischen Bildung sind die einzigen Data, aus denen sich erweisen läßt, ‚daß der ewige Friede keine leere Idee sey, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziel beständig näher kommt;‘ (S.  104.) nach denen sich die künftige Wirklichkeit desselben, und sogar die Art der Annäherung, zwar nicht weissagen (S.  65.) – thetisch und nach allen Umständen der Zeit und des Orts – aber doch vielleicht theoretisch (wenn gleich nur hypothetisch) mit Sicherheit vorherbestimmen lassen würde.“86 Das beantwortete Kant, freilich ohne Schlegel zu nennen, im „Streit der Facultäten“ unter der zwischen Philosophen und Juristen auszutragenden Streitfrage, ob die Menschheit im beständigen Fortschreiten zum Besseren begriffen sei. Kant schrieb, es müsse nach einer Begebenheit gesucht werden, die ein solches Fortschreiten zeige und die nur aus der allgemein menschlichen (nicht bloß individuellen) Moralität zu erklären sei, nicht aus anderen Motiven. Diese Begebenheit, dieses Geschichtszeichen gebe es tatsächlich, es sei die Französische Revolution; nicht die Vorgänge selbst, aber die Par­ tei­nahme des Publikums für die gerechte Sache der Revolution.87 Schlegel war es aber nicht um einzelne Ereignisse gegangen, die die Übereinstimmung von Naturzweck und menschlicher Moralität zeigen und damit den Fortschritt verbürgen sollten, sondern vielmehr um die allgemeinen Gesetze, nach denen sich das menschliche Handeln in der Geschichte, vermittelt durch die natürlich gegebenen Bedingungen, vollzieht. Seine Kritik an Kant geht mithin in eine ähnliche Richtung wie Kants Kritik an Herder (vgl. oben Abschnitt 2.2.2.): Die geschichtliche Entwicklung des Menschen in der Natur ist kein Produkt der Natur.88 – Etwa gleichzeitig mit dem Aufsatz über den Republikanismus hatte Schlegel einen Aufsatz „Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer“ geschrieben, der unveröffentlicht blieb. Hier bescheinigt er den Teleologen eine letztlich unbefriedigende Einseitigkeit. Wenn nämlich eine Geschichte der Menschheit die ganze menschliche Bildung umfaßt, wenn diese den Kampf der Freiheit oder Kunst mit der Natur bedeutet und wenn das wissenschaftliche Erkennen sich als Wechselwirkung zwischen den Gesetzen der Freiheit und den Gesetzen der Natur vollzieht, dann kann es a priori für die Geschichte zwei Systeme geben: das natürliche System, den ewigen Kreislauf, und das künstliche System, die unendliche 85  Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, Königsberg 1795, 1. Zusatz (Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  360–368); vgl. auch ders.: Ueber den Gemeinspruch: Das mag in der Theo­ rie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Berlinische Monatsschrift 1793, 22. Stück, S.  201–284, hier Abschnitt III (Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  313). 86  Friedrich Schlegel: Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden, in: Deutschland 3 (1796), 7. Stück, Nr.  2 , S.  10– 41, hier 35 f. (Kritische Ausgabe 7, S.  23) 87  Immanuel Kant: Der Streit der Facultäten, Königsberg 1798, S.   141–145 (Akademie-Ausgabe 7 = I/7, S.  84–87). Vgl. Cesana: Geschichte, S.  151 f. 88 Vgl. dazu Andreas Arndt: „Geschichtszeichen“, in: Hegel-Jahrbuch 1995, S.   152– 159; ders.: Naturgesetze, S.  100 f.

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Fortschreitung; das eine befriedige die theoretische Vernunft des Menschen, das andere dessen praktische Vernunft. Der Übergang von der alten Bildung der Griechen und Römer zur modernen Bildung bedeute eben den Wechsel des Paradigmas von Natur und Kreislauf zur unendlichen Fortschreitung; dabei bleibe aber die Bildung der Alten die Grundlage der modernen Bildung. Der Fehler Kants und Schillers besteht also für Schlegel darin, die griechisch-römische Kultur schon nach dem modernen System der unendlichen Fortschreitung zu deuten.89 In dieselbe Zeit fällt auch Schlegels Rezension von Antoine Marquis de Condorcets postumer „Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain.“ Condorcet zeichnet hier durch zehn Epochen der menschlichen Entwicklung nach, wie sich Natur und Fähigkeiten des Menschen in der Vergangenheit immer weiter verbessert hätten und sich in der Zukunft weiter vervollkommnen würden; die Möglichkeit und Fähigkeit dazu sei unendlich. (Anders als Fichte denkt sich Condorcet die Vervollkommnung des Menschen mehr als technischen Fortschritt denn als Fortschritt der Vernunfterkenntnis.) Nachdem Isaac Newton das allgemeine Naturgesetz entdeckt habe und nachdem auf den verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaft, Technik und Medizin bedeutende Fortschritte zu verzeichnen seien, werde es vielleicht bald gelingen, den wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt des Menschen selbst zum Gegenstand der exakten Beschreibung und Berechnung zu machen.90 Auch Zeitgenossen hatten in diese Richtung gehende Erwartungen.91 Schlegel schreibt dazu, die Philosophie der Geschichte habe bislang noch kein wissenschaftliches Niveau erreicht, auch nicht durch Condorcet. Zwar gebe es, wie der schreibe, Gesetze der Geschichte, und wenn einmal ein „Newton der Geschichte“ auftreten sollte, werde man den Gang der menschlichen Bildung besser vorhersehen können als bisher; aber dabei handle es sich eben nicht um das gleichbleibende Gesetz der Natur, wie es Gegenstand der reinen Wissenschaft sei, sondern um das, was sich im Laufe der Geschichte stets selbst verändert. Condorcet wolle seine These von einer immer weiter fortschreitenden Perfektionierung der Menschheit aus der Geschichte beweisen, müsse dafür aber willkürliche Kombinationen vornehmen und scheitere an der Unregelmäßigkeit der Fortschritte und an deren Ungleichzeitigkeit auf den verschiedenen Gebieten der menschlichen Bildung.92 89  Friedrich Schlegel: Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer (1795/96) (Kritische Ausgabe 1, S.  626–642). Vgl. Bräutigam: Vergangenheitserfahrung, S.  208–212; Arndt: Naturgesetze, S.  101 f.; ders.: Prophet und Engel der Geschichte, in: Hg. Johannes Rohbeck und Herta Nagl-Docekal: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, Darmstadt 2003, S.  75–88, hier 78–82. 90  Antoine Marquis de Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, Paris 1795, 9. und 10. Epoche (hg. von Alain Pons, Paris 1988, S.  240–265; Tableau historique des progrès de l’esprit humain. Projets, Esquisse, Fragments et Notes [1772–1794], hg. von Jean-Pierre Schandeler und Pierre Crépel, Paris 2004, S.  4 02–429). Vgl. Löwith: Weltgeschichte, S.  88–91. 91  Z. B. Kant: Idee, Anfang (Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  18). Vgl. Arndt: Naturgesetze, S.  98 f.; ders.: Prophet, S.  77. 92 [Friedrich Schlegel:] Rezension zu A. Marquis de Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, Paris 1795, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 3, Heft 2 (1795), S.  161–172 (Kritische Ausgabe 7, S.  3 –10); vgl. ders.: Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer (1795/96) (Kritische Ausgabe 1, S.  628): „denn es gibt wohl eine wissenschaftlich geordnete Naturgeschichte der Tiere und der Pflanzen, aber noch gibt es keine Geschichte der menschlichen Gattung, welche den Namen einer Wissenschaft verdienen könnte.“ Vgl. dazu Klaus Behrens: Friedrich Schle-

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Schlegel denkt (in der Nachfolge Herders) das Ideale der Geschichte selbst geschichtlich. Er kritisiert etwa an Fichte und dessen Wissenschaftslehre, eben das nicht zu tun; 93 von Herder wiederum unterscheidet ihn, daß er die Entwicklung der menschlichen Bildung nicht als Parallele zur Naturentwicklung denkt.94 In verschiedenen philologischen, philosophischen und literaturkritischen Arbeiten, oft in fragmentarisch-aphoristischer Form, hat Schlegel Andeutungen und Ansätze zu seiner Geschichtsphilosophie gemacht: Sie geht nicht von einer außer dem Bedingten gesetzten, auf die Wirklichkeit anzuwendenden Idee aus, auch nicht von einem festen Endziel der Entwicklung, sondern sie besteht in einem kritischen, „cyklischen“ Verfahren, das den menschlichen Bildungsprozeß (besonders auf dem Gebiet der Philologie) als ständige Vermittlung zwischen der sich entwickenden Vernunft und den unverfügbaren Bedingungen der Natur nachvollzieht und versteht.95 Die Philosophie überhaupt kann ihre Wahrheit nur solchermaßen, also historisch, konstruieren; das kritische Verfahren der Historie fällt dabei (wie bei Chladenius) mit der Hermeneutik in eins.96 In einem Aufsatz über Lessing schreibt Schlegel: gels Geschichtsphilosophie (1794–1808), Studien zur deutschen Literatur 78, Tübingen 1984, S.  72–75. 93 Vgl. Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente (1796), Nr.   31. 34. 43–46. 51. 104. 107 (Kritische Ausgabe 18, S.  508–510. 515); ders.: Brief an Christian Gottfried Körner (30.9.1796) (Kritische Ausgabe 23, S.  333); ders.: Zur Philologie II (1797), Nr.  84 (Kritische Ausgabe 16, S.  68); ders.: Geist der Fischtischen Wissenschaftslehre (1797/98), Nr.  138. 141. 148. 172. 214 (Kritische Ausgabe 18, S.  32 f. 35. 38); ders.: Zur Philosophie (1797), Nr.  671. 752. 756. 759. 792. 799. 1021. 1030 f. (Kritische Ausgabe 18, S.  85. 92. 95. 114 f.). Vgl. dazu Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S.  69–72. 118–124. 94 Vgl. Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S.  75–79. 95  So bes. F. Schlegel: Zur Philologie I (1797), Nr.  8 f. 11. 18. 27. 87–89. 107–110. 118– 121. 127. 143. 147. 189. 193. 217–220 (Kritische Ausgabe 16, S.  35–37. 42–45. 47. 51 f. 54); ders.: Zur Philologie II (1797), Nr.  34–65. 90. 134. 137. 142 (Kritische Ausgabe 16, S.  62– 66. 68. 73 f.); vgl. auch ders.: Gespräch über die Poesie, in: Athenaeum 3, 1. Stück (1800), S.  58–128; 2. Stück (1800), S.  169–187, hier 67 (Kritische Ausgabe 2, S.  290): „Die Kunst ruht auf dem Wissen, und die Wissenschaft der Kunst ist ihre Entwicklung.“ Vgl. Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S.  93–96; Andreas Arndt: „Philosophie der Philologie“, in: Editio 11 (1997), S.  1–19, bes. 3–8. 96 Vgl Friedrich Schlegel: Transzendentalphilosophie 1800/01 (Kritische Ausgabe 12, S.  98). Vgl. dazu auch unten Abschnitt 5.2. – Zum „Wechselerweis“ nach Schlegel, wonach das Philosophieren nicht mit einem als unbedingt gesetzten Prinzip anfängt, aus dem alles deduziert wird, sondern (wie in Platos darin vorbildlichen Dialogen) einen beliebigen Satz zum Ausgangspunkt nehmen kann (diese Form haben auch Schlegels Fragmentencorpora) und wonach es kein für sich Unbedingtes gibt, sondern nur die Totalität des sich untereinander Bedingenden, vgl. [Friedrich Schlegel:] Rezension zu F. H. Jacobi: Woldemar, Neue Ausgabe, Band 1–2, Königsberg 1796, in: Deutschland 3 (1796), 8. Stück, Nr.  9, S.  185–213, hier 206 f. (Kritische Ausgabe 2, S.  72); ders.: Philosophische Fragmente (1796), Nr.  2 (Kritische Ausgabe 18, S.  505); ders.: Zur Logik und Philosophie (1796), Nr.  22 (Kritische Ausgabe 18, S.  520 f.); ders.: Philosophische Fragmente (1797), Nr.  93 (Kritische Ausgabe 18, S.  26 f.); ders.: Geschichte der europäischen Literatur 1803/04, Charakteristik des Plato (Kritische Ausgabe 11, S.  118 f.); dazu Manfred Frank: „Wechselgrundsatz“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), S.  26–50; ders.: „Unendliche Annäherung“, Frankfurt am Main

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„Wollt Ihr zum Ganzen, seid Ihr auf dem Wege dahin, so könnt Ihr zuversichtlich annehmen, Ihr werdet nirgends eine natürliche Gränze finden, nirgends einen objectiven Grund zum Stillstande, ehe Ihr nicht an den Mittelpunct gekommen seid. Dieser Mittelpunct ist der Organismus aller Künste und Wissenschaften, das Gesetz und die Geschichte dieses Organismus. Die Bildungslehre, diese Physik der Fantasie und der Kunst, dürfte wohl eine eigne Wissenschaft sein, ich möchte sie Encyklopädie nennen: aber diese Wissenschaft ist noch nicht vorhanden.“97

Dabei ist diese Wissenschaft selbst Teil des schaffenden, poietischen Prozesses, den sie beschreibt.98 Dessen Ende ist offen; ein Abschluß wäre gleichbedeutend mit dem Ende der Welt als menschlicher Bildung.99 – Die diesem Verständnis des menschlichen Bildungsprozesses entsprechende literarische Form ist nach einem bekannten Athenaeum-Fragment die „romantische Poesie“; damit ist zunächst einfach die Romandichtung gemeint, darüber hinaus aber und allgemeiner eine solche Literatur, die unter dem modernen Paradigma der unendlichen Progressivität (vgl. oben) das Ganze zu ihrem Gegenstand macht. Die romantische Poesie also sei eine „progressive Universalpoesie“, sie stelle eine Verbindung aller Gattungen der Poesie sowie der Philosophie und Rhetorik dar und sei als Kunstform ihrem Wesen nach unfertig und unabschließbar. Ein Roman könne „frey von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion“ ein Bild seines Zeitalters werden, und die Reflexion könne sich in ihm wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln immer wieder potenzieren und vervielfachen.100 Unter den Hörern der Jenenser universalhistorischen Vorlesungen Schillers war Friedrich Creuzer gewesen, der 1804 als Althistoriker zum Ordinarius nach Heidelberg berufen wurde und dem dortigen Romantikerkreis angehörte. 1803 hatte er, noch Professor in Marburg, eine Arbeit über die Geschichtsschreibung der Griechen veröffentlicht. Creuzer nimmt das altphilologische Thema zum 1997, S.  860–872. 881–897. 921–929; Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen, Quellen und Studien zur Philosophie 67, Berlin und New York 2005, S.  39–52. 97  Friedrich Schlegel: Ueber Lessing, in: August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken, Band 1, Königsberg 1801, S.  170–281, hier 259 (Kritische Ausgabe 2, S.  410 f.). Vgl. zur „Encyclopädie“ auch ders.: Zur Philologie II (1797), Nr.  59. 92. 200 (Kritische Ausgabe 16, S.  65. 69. 79): Sie ist letztlich identisch mit der Philologie; in ihr ist die Methode weder ausschließlich analytisch noch ausschließlich synthetisch, sondern (wie schon der Begriff sagt) zyklisch. 98 Vgl. F. Schlegel: Zur Philologie I (1797), Nr.  210 (Kritische Ausgabe 16, S.  53); ders.: Zur Philosophie (1797), Nr.  927 (Kritische Ausgabe 18, S.  106); [ders. u. a.:] Fragmente, in: Athenaeum 1, 2. Stück (1798), S.  3 –146, hier 20 (Nr.  80) (Kritische Ausgabe 2, S.  176) = ders.: Zur Philosophie (1797), Nr.  667 (Kritische Ausgabe 18, S.  85); dazu Arndt: Prophet, S.  75 f. 83 f. 99  F. Schlegel: Philosophische Fragmente (1796), Nr.  15 (Kritische Ausgabe 18, S.  507); ders.: Ueber die Unverständlichkeit, in: Athenaeum 3, 2. Stück (1800), S.  337–354, hier 350 f. (Kritische Ausgabe 2, S.  370); ders.: Transzendentalphilosophie 1800/01 (Kritische Ausgabe 12, S.  42. 101–105); vgl. Frank: „Unendliche Annäherung“, S.  872–881. 100 [F. Schlegel u. a.:] Fragmente, S.  2 8–30 (Nr.  116) (Kritische Ausgabe 2, S.  182 f.)

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Anlaß, über das Problem der literarischen Geschichtsdarstellung überhaupt zu reflektieren. Dabei treffen sich Schillers zusammenhängende Universalhistorie und Schlegels Ideal einer Literatur, die als Kunstwerk zur Deutung und zum Spiegel der menschlichen Bildung in einem Zeitalter wird. Creuzer schreibt also, noch bei Herodot habe die Geschichtsschreibung denselben Zweck gehabt wie die epische Dichtung, nämlich Unterhaltung der Zuhörer und Pflege des Patriotismus. Mit Thukydides und später Polybios und ihrer Pragmatik träten aber Dichtung und Historie auseinander. Nach Aristoteles sei die Poesie philosophischer und nützlicher als die Geschichte, weil jene auf das Allgemeine und dessen Beschaffenheit gehe, diese aber auf das Besondere, bloß durch Zufall Gegebene.101 Creuzer plädiert aber dafür, nicht bei dieser Entzweiung stehenzubleiben, sondern die Historie zur höheren Einheit von Poe­sie und Geschichte zu führen. Die Historie sei nun keine freie Kunst wie die Poesie, sondern sei an die realen Erscheinungen gebunden: die erscheinende Notwendigkeit (die Natur), die erscheinende Freiheit (den Menschen) und das Einwirken der Freiheit auf die Notwendigkeit in der Zeit (eben den Verlauf der Geschichte). Der Verstand bringe die Erscheinungen nach Ursache und Wirkung in einen Zusammenhang; das scheinbar Zufällige, dessen Ursache noch verborgen sei, bewahre die Geschichte auf.102 „Den Geist befriedigt es aber nicht, die Reihe von Handlungen, Thaten und Begebenheiten als Ursachen und Wirkungen in einander gegründet, durch einander bedingt zu wissen. Er fragt nach einem Grunde dieses Bedingens und Bedingtseyns überhaupt, er sucht ein Höchstes, um dessentwillen alles Andere vorhanden ist […] In der einen Hinsicht [dem Zeitverhältnis] sowohl als in der andern [dem Kausalverhältnis] erheben wir uns nicht über die Natur, sondern hängen mit ihr zusammen. […] Der Geist sucht eine Einheit, die höher liegt als der Caussalnexus selbst, die jene erstere [‚bedingte sinnliche Einheit‘, die von einem bestimmten Faktum ausgehend dessen Ursachen oder Wirkungen darstellt] als bloßen Stoff ihrem eignen Gesetze unterwerfe, und folglich selbst nicht sinnlich bedingt sey: eine übersinnliche Einheit. Diese Einheit allein kann eine historische (Anm.: oder die Einheit einer Idee. Der Verfasser, da er diese Sätze bloß hermenevtisch hinlegt, enthält sich aller Bemerkungen über die bisherigen Versuche zur Auffindung derselben. […]) heißen, weil es die Aufgabe der Historie ist, die Natur geistig darzustellen, folglich den Geist über die Natur zu erheben.“103 101  Creuzer: Die historische Kunst, S.   199–224. – Schon Friedrich Schlegel: Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, Band 1,1, Berlin 1798 (Kritische Ausgabe 1, S.  460 f. 544 f.), hatte geschrieben, daß die griechische Historiographie ihre Wurzel im Epos habe. 102  Creuzer: Die historische Kunst, S.  2 25–229 103  Creuzer: Die historische Kunst, S.  2 29 f. – Vgl. Karl Bernhard Stark: Friedrich Creuzer, sein Bildungsgang und seine bleibende Bedeutung, Heidelberg 1875, bes. S.  8 –11; Arnaldo Momigliano: Studies in Historiography, London 1966, S.  78–84; Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik, Fundamenta historica 3, Stuttgart-Bad

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Gleichzeitig mit Creuzer machten auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Schlegels älterer Bruder August Wilhelm in Vorlesungen geltend, daß die eigentliche Geschichtsschreibung erst da anfängt, wo der Betrachter aufgehört hat, das Vergangene in seinem subjektiven Maßstab zu bespiegeln, und wo er von der bedingten Notwendigkeit des Kausalzusammenhangs zur höheren Notwendigkeit der Idee und zur Identität der Realität und Idealität gelangt sei; eine so aufgefaßte Geschichte sei ein Werk der epischen Kunst.104 – Zu denen, die versuchten, in diesem Sinne die Geschichte und speziell die Kirchengeschichte als höhere Einheit von Kausalnexus und Idee, Empirie und Geist zu erfassen, gehörte auch Friedrich Schleiermacher.

2.3.  Schleiermachers kirchenhistorische Bildung Im Juni 1790 legte Schleiermacher in Berlin sein erstes theologisches Examen ab. In seinem Examenszeugnis steht als Note zur Kirchengeschichte: sehr gut. Damit hat Schleiermacher in der Kirchengeschichte besser abgeschnitten als etwa in philosophischer Kenntnis, Griechischlesen des Neuen Testaments und Dogmatik.105 Wo hatte Schleiermacher seine sehr guten Kenntnisse in der Kirchengeschichte erworben? Am Seminar der Brüdergemeine in Barby, wo Schleiermacher vom September 1785 bis Ostern 1787 drei Semester studierte, gab der aus Basel stammende Professor Johann Jakob Bossart den Unterricht in Geschichte, Kirchengeschichte und Kirchenrecht, Logik und Metaphysik. In der Kirchengeschichte las er Kurse über zwei Semester nach Mosheims Kompendium. Bossart soll ein kindlich-frommer Herrnhuter gewesen sein, zu Schleiermachers Zeit in Barby schon kränklich und kraftlos. Da Schleiermacher Barby vor Ende der sechssemestrigen Studienzeit wieder verlassen hat, ist ungewiß, ob er bei Bossart Kirchengeschichte gehört hat.106 Cannstatt 1991, S.  184–188; Jürgen Paul Schwindt: Sinnbild und Denkform, in: Hg. Frank Engehausen, Armin Schlechter und Jürgen Paul Schwindt: Friedrich Creuzer 1771– 1858, Archiv und Museum der Universität Heidelberg, Schriften 12, Heidelberg 2008, S.  41– 58, hier 45–47. 104  August Wilhelm Schlegel: Kunstlehre 1801/02, Einleitung (Kritische Ausgabe der Vorlesungen 1, S.  187–190); ders.: Enzyklopädie 1803, 33. Stunde (Kritische Ausgabe der Vorlesungen 3, S.  273 f.); Schelling: Vorlesungen über die Methode, 10. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  309–312). – Vgl. Rudolf Haym: Die romantische Schule, Berlin 1870, S.  848 f.; Albert Poetzsch: Studien zur frühromantischen Politik und Geschichtsauffassung, Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte 3, Leipzig 1907, S.  62–95. 105  Heinrich Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, hg. von Hermann Mulert, Berlin und Leipzig 1934, S.  47 f. 106  Hermann Plitt: Das theologische Seminarium der evangelischen Brüder-Unität in seinem Anfang und Fortgang, Gnadau 1854, S.  29–36. 54; E. Rudolf Meyer: Schleiermachers und C. G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine, Leipzig 1905, S.  170 f. 176 f.

2.  Der historische Kontext

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Nach seinem Bruch mit der Brüdergemeine und dem Abschied von Barby bezog Schleiermacher zum Sommersemester 1787 für vier Semester die Universität Halle. Hier wohnte er zunächst bei seinem Onkel und Taufpaten Ernst Stubenrauch und dessen Familie. Schleiermacher schreibt rückblickend über ihn: „Seine Verdienste um mich sind zu groß und zu mannigfaltig, um einzeln erwähnt zu werden, und nichts schmerzt mich mehr, als daß das Bewußtsein, seine Freundschaft nicht hinlänglich benutzt zu haben, mich hindert, statt alles Rühmens zu ­sagen: Seht, was ich geworden bin, ich habe es ihm zu danken.“107

Stubenrauch war seit 1768 Professor am reformierten Gymnasium der Stadt und hielt in dieser Funktion auch an der Universität Vorlesungen über die historia sacra.108 Wissenschaftlich hatte Stubenrauch sich besonders durch eine ergänzte Neuausgabe des klassischen reformierten Kompendiums zur Kirchengeschichte des Alten Testaments hervorgetan, der Introductio ad chronologiam et historiam sacram von Friedrich Spanheim.109 In einer lateinischen Abhandlung legte Stubenrauch – auch anhand der frühen Kirchengeschichte – dar, daß es ein unrealistisches Ziel wäre, Glaubenseinheit als Übereinstimmung in allen dogmatischen Einzelfragen anzustreben. Er warnte auch davor, den Glauben dadurch zu überfremden, daß man philosophisch-spekulative Sätze als Glaubensgesetz aufstelle; zur wahren Glaubenseinigkeit genügten wenige Fundamentalsätze, die der Vernunft und dem Geist Christi entsprächen.110 Eine andere Abhandlung beschäftigt sich mit den Christenverfolgungen der beiden ersten Jahrhunderte. Sie prüft die Martyriumsberichte kritisch auf ihre Glaubwürdigkeit, fragt nach den Ursachen der religiösen Intoleranz bei Juden und Heiden und meint, daß zuweilen auch das unvernünftige Eifern einiger Christen den Obrigkeiten den Anlaß zum Einschreiten gegen das Christentum gab.111 Eine briefliche Äußerung Stubenrauchs über die Kirchengeschichte an den Neffen (im Zusammenhang der Frage, wie tolerant die Herrnhuter seien) könnte auch von Spittler, Henke oder Münscher kommen: – Kurt Nowak: Theorie der Geschichte, in: Hg. Günter Meckenstock und Joachim Ringleben: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Theologische Bibliothek Töpelmann 51, Berlin und New York 1991, S.  419–439, hier 423, vermutet, Bossart habe seinem Kirchengeschichtsunterricht nicht etwa eine der Ausgaben von Mosheims Kompendium zugrunde gelegt, sondern Johann August Christoph von Einems neunbändige deutsche Bearbeitung der Mosheimschen Institutiones; das dürfte aber schwerlich zutreffen 107  Selbstbiographie (1794) (Briefe 12 , S.  12) 108 Vgl. Hermann Hering: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch und sein Neffe Friedrich Schleiermacher, Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 23,3–4, Gütersloh 1919, S.  38 f. – Die Vorlesungen der reformierten Gymnasialprofessoren, die ja keine Glieder der lutherischen theologischen Fakultät waren, sind erst vom Sommersemester 1788 an in den hallischen Lektionskatalogen verzeichnet. 109 Vgl. Hering: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, S.  38. 110 Vgl. Hering: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, S.  18–32. 111 Vgl. Hering: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, S.  39–45.

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„Wenn Sie dereinst Kirchengeschichte hören und studiren werden: so werden Sie gewiß den großen Schaden einsehen lernen der aus dem frühzeitig aufgekommenen Extra ecclesiam nulla salus durch alle Jahrhunderte entstanden ist.“112

In Schleiermachers Hallenser Semestern gab es in der Kirchengeschichte ein solides Lehrangebot: Der schon über 60jährige Semler kündigte für das Sommersemester 1787 ein Kolleg über die ersten vier Jahrhunderte an, allerdings mit der Kautel „wenn sich eine zureichende Zahl von Zuhörern dazu finden sollte“. Nösselt las vom Sommersemester 1787 bis zum Sommersemester 1788 einen dreisemestrigen Kurs der Kirchengeschichte nach dem Kompendium von Mosheim und Johann Peter Miller. Im Sommersemester 1788 und Wintersemester 1788/89 hielt Georg Christian Knapp über zwei Semester Vorlesung über die Kirchengeschichte nach Schröckh. Johann Ludwig Schulze las im Wintersemester 1787/88 die Geschichte der Konzile.113 – Ob Schleiermacher eine dieser Vorlesungen gehört hat, ist ungewiß. Das einzige theologische Kolleg, von dem wir wissen, daß Schleiermacher es in Halle besucht hat, war eines über die Apostelgeschichte im Sommersemester 1787 oder im Wintersemester 1787/88; 114 dies hielt jedoch keiner der theologischen Ordinarien, sondern vielleicht Stubenrauchs Schwager und älterer Kollege Samuel Mursinna. In Briefen erwähnt Schleiermacher ansonsten philosophische Kollegien bei Johann August Eberhard und ein philologisches bei Friedrich August Wolf, die er besucht habe, sowie private Studien zu Aristoteles und Kant.115 (Daß er die theologischen 112  Brief 33 (19.11.1785) von Ernst Stubenrauch (KGA V/1, S.  3 0). Vgl. Hering: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, S.  53–55. 113 Vgl. die hallischen Catalogi praelectionum und die deutschen Vorlesungsankündigungen: Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 22 (1787), Nr.  33–34 (23.4.), S.  221 f.; Nr.  83– 84 (15.10.), S.  621 f.; 23 (1788), Nr.  23–24 (17.3.), S.  177 f.; Nr.  83–84 (13.10.), S.  657 f. – Nösselts kirchengeschichtliche Vorlesungen werden in Christian Friedrich Bernhard Augustins anonymen Erinnerungen an das Studium in Halle besonders gerühmt, vgl. [Christian Friedrich Bernhard Augustin:] Bemerkungen eines Akademikers über Halle und dessen Bewohner, in Briefen, Quedlinburg 1795, S.  145 f. 114  Brief 79 (vor dem 14.8.1787) von Johann Gottlieb Adolph Schleyermacher (KGA V/1, S.  9 0). In der Selbstbiographie von 1794 schreibt Schleiermacher, er habe keinen exegetischen Kurs besucht (Briefe 12, S.  12), das kann aber nicht stimmen. – Vgl. Brief 82 (2.12.1787) von Johann Baptist von Albertini aus Barby (KGA V/1, S.  94): „Die Dogmatik nehme ich mir eben nicht sehr zu Herzen, obgleich Baumeister ein schönes Collegium darüber ließt; und es that mir wohl, da ich aus Deinem Briefe sah, daß Du Dein dogmatisches Colleg nicht unterstrichen hattest.“ 115  Brief 79 (vor dem 14.8.1787) von J. G. A. Schleyermacher (KGA V/1, S.  8 8); Brief 80 (14.8.1787) an Schleyermacher (KGA V/1, S.  92); Brief 82 (2.12.1787) von J. B. Albertini (KGA V/1, S.  94); Brief 92 (26.3.1788) von Albertini (KGA V/1, S.  102 f.); Brief 94 (12.6.1788) von Albertini (KGA V/1, S.  105); Brief 100 (17.9.1788) von Albertini (KGA V/1, S.  110). Vgl. Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, S.  33–35; KGA I/1, S. XVII–XIX. XXXII–XXXVI; KGA V/1, S. XXIX f.; Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, S.  32–39. Meisner schreibt, Schleiermacher habe Mursinna über die Apostelgeschichte und Dogmatik gehört und dessen Privatissima besucht. Das hat er vielleicht Mursinnas Abgangszeugnis für Schleiermacher entnommen. – In der Selbstbiographie von 1794 berichtet Schleiermacher, er sei in Halle

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Kollegien sonst gar nicht besucht habe,116 wird man aber auch kaum annehmen, immerhin stand er ja unter der Aufsicht des Onkels.) Es ist mithin ungewiß, ob Schleiermacher Vorlesungen des großen Neologen Semler besucht hat; in einem Brief macht er sich über Semlers Vorliebe für Hypothesen und Konjekturen in der Kirchengeschichte lustig.117 Trotzdem wird das negative Urteil Wilhelm Diltheys über die Frage, ob Schleiermacher von Semler wichtige Impulse für sein Denken empfangen hat,118 von der neueren Forschung so nicht mehr geteilt.119 Tatsächlich gibt es zwischen Semlers und Schleiermachers Auffassung der Christentumsgeschichte auffällige Übereinstimmungen, die vermuten lassen, daß Schleiermacher von Semlers Meinungen woher auch immer (vielleicht auch aus dem Gespräch mit Onkel Ernst Stubenrauch) Kenntnis gehabt habe: Für beide ist das Alte Testament Urkunde einer dem Christentum fremden Religion, beide halten das Urchristentum ausdrücklich nicht für makellos und unübertrefflich, für beide ist das kirchliche Trinitätsdogma kein Ausdruck der unmittelbaren Religion, und beide meinen, daß die Reformation nicht auf dem Stand von 1550 zu konservieren sei, sondern weitergehen müsse.120 vor allem Autodidakt gewesen; die Geschichte, besonders diejenige der menschlichen Meinungen, habe er als notwendig zu wissen erkannt und in ihren beiden Zweigen (meint er die Philosophie- und Religionsgeschichte?) studiert, z.T. anhand der Quellen (Briefe 12, S.  12). 116  Vgl. in diesem Sinne Haym: Die romantische Schule, S.  394–396; Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Band 1, 2.  Aufl., hg. von Hermann Mulert, Berlin und Leipzig 1922, S.  41–45 (Gesammelte Schriften 13,1, S.  39–42). 117  Brief 179 (24.5.1792) an Heinrich Catel (KGA V/1, S.  247). Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 9. Stunde (KGA II/6, S.  490), wonach Semler für die historisch-kritische Rekonstruktion der apostolischen Zeit aus den biblischen Quellen viel geleistet habe, aber mit seiner Kritik teilweise über das Ziel hinausgeschossen sei, teilweise auch zu seiner Zeit manches noch nicht habe aussprechen dürfen. 118  Dilthey: Leben Schleiermachers 12 , S.  42 (Gesammelte Schriften 13,1, S.  4 0) 119 Vgl. Gottfried Hornig: Schleiermacher und Semler, in: Hg. Kurt-Victor Selge: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Teilband 2, Schleiermacher-Archiv 1,2, Berlin-West und New York 1985, S.  875–897, hier 875–881; Wolfgang Sommer: Die Stellung Semlers und Schleiermachers zu den reformatorischen Bekenntnisschriften, in: Kerygma und Dogma 35 (1989), S.  296–315, hier 302–304; Dietz Lange: Schleiermachers Christologie und die Auf klärung, in: Hg. Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener: 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, Schleiermacher-Archiv 19, Berlin und New York 2000, S.  698–713, bes. 703–710; Nowak: Schleiermacher, S.  33; Klaus Beckmann: Die fremde Wurzel, Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 85, Göttingen 2002, S.  47 f. 120  Vgl. zu Semler Gottfried Hornig: Der Perfektibilitätsgedanke bei J. S. Semler, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 72 (1975), S.  381–397, hier 383–387; Beckmann: Die fremde Wurzel, S.  49–51; Fleischer: Zwischen Tradition, S.  669–671. 681–685. 716–720; Marianne Schröter: Johann Salomo Semler und das Alte Testament, in: Hg. Roderich Barth, Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener: Christentum und Judentum. Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, Schleiermacher-Archiv 24, Berlin und Boston 2012, S.  125–140, bes. 138–140; Martin Ohst: Dogmenkritik bei Semler und Schleiermacher, in: Hg. Ulrich Barth, Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf und Wilhelm Gräb: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme, Theologische

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Im Frühjahr 1789 verließ Schleiermacher die Universität Halle und ging nach Drossen, wo Stubenrauch inzwischen eine Pfarrstelle angetreten hatte. Schleiermacher setzte in der gut sortierten Bibliothek des Onkels zunächst seine philosophischen und philologischen Studien zu Aristoteles, Kant und anderen fort121 und arbeitete an verschiedenen Aufsätzen und einer Aristoteles-Übersetzung.122 Schließlich veranlaßte ihn der Onkel, sich trotz Widerwillen in die theologischen Bücher zu vertiefen und sich auf die erste Prüfung vorzubereiten.123 Ende 1789 schrieb Schleiermacher an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann: „Studir’ ich ja etwas so ists theologischer Wust mit dem ich mich wieder bekannt mache, weil ich mich geliebts Gott in Berlin examiniren lassen will – (eine ekelhafte Bekanntschaft; und doch komt viel darauf an – denn es fehlt nur noch daß dieses Examen unglüklich abläuft, so seh ich mich genöthigt – weil es doch nicht erlaubt ist auszugehn – bei dem ersten besten Bärenführer der durch Droßen komt als Dudelsakpfeifer zu engagiren, denn meine Lunge ist noch erträglich. Eine lustige Affaire!)“124

Dem Vater schrieb Schleiermacher, er sei seit einiger Zeit mit einer gründlichen Revision seiner eigentlich theologischen Kenntnisse beschäftigt.125 – Nicht zuletzt diesem autodidaktischen Bücherstudium war es wohl zu verdanken, daß Schleiermacher im ersten Examen in der Kirchengeschichte eine gute Note

Bibliothek Töpelmann 165, Berlin und Boston 2013, S.  617–645, hier 621 f. Vgl. zu Schleiermacher unten Abschnitt 4.1., 4.6.2., 6.2.3., 7.3.2.2. und 9.2.2.3.–9.2.2.5. – Hornig: Schleiermacher, S.  884–894 sieht auch in der Religionsauffassung der Reden über die Religion und in der Zentralität des Erlösungsgedanken für den Christentumsbegriff der Glaubenslehre Parallelen zu Semler. 121  Brief 114 (27.5.1789) an Carl Gustav von Brinckmann (KGA V/1, S.  119); Brief 118 (26.6.1789) von Brinckmann (KGA V/1, S.  127); Brief 123 (28.9.1789) an Brinckmann (KGA V/1, S.  152 f.); Brief 131 (23.12.1789) an J. G. A. Schleyermacher (KGA V/1, S.  184) 122 Brief 114 (27.5.1789) an C.  G. von Brinckmann (KGA V/1, S.   119); Brief 116 (10.6.1789) an Brinckmann (KGA V/1, S.  121); Brief 118 (26.6.1789) von Brinckmann (KGA V/1, S.  127. 132); Brief 119 (22.7.1789) an Brinckmann (KGA V/1, S.  139–142); Brief 121 (8.8.1789) an Brinckmann (KGA V/1, S.  146); Brief 122 (26.9.1789) von Brinckmann (KGA V/1, S.  147); Brief 124 (Oktober 1789) an Brinckmann (KGA V/1, S.  156); Brief 126 (18.11.1789) an Brinckmann (KGA V/1, S.  161 f.); Brief 127 (4.12.1789) von Brinckmann (KGA V/1, S.  167). – Vgl. Haym: Die romantische Schule, S.  396–403; Hering: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, S.  70–76; Dilthey: Leben Schleiermachers 12, S.  50–52. 138– 151 (Gesammelte Schriften 13,1, S.  48–50. 133–144); Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, S.  37–42; KGA I/1, S. XIX–XXII. XXVI–LI; KGA V/1, S. XXXI; Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik, Arbeiten zur Kirchengeschichte 9, Weimar 1986, S.  70–78; ders.: Schleiermacher, S.  42–46. 123  Vgl. Brief 1131 (19.8.1802) an Eleonore Grunow (KGA V/6, S.  87) 124  Brief 128 (9.12.1789) an C. G. von Brinckmann (KGA V/1, S.   178). Vgl. Brief 134 (3.2.1790) an Brinckmann (KGA V/1, S.  191): „Du mußt wissen, daß ich jezt ziemlich fleißig in den traurigen und finstern Abgründen der Theologie herumirre“. 125  Brief 131 (23.12.1789) an J. G. A. Schleyermacher (KGA V/1, S.  184 f.). Vgl. Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, S.  42 f.

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bekam. Die Bibliothek hat Schleiermacher dem Onkel später kurz vor dessen Tod abgekauft.126 Während seiner Zeit als Hauslehrer im preußischen Schlobitten, die sich an das erste Examen anschloß (1790–93), fragte Schleiermacher den Onkel brieflich, welchen Teil der Theologie er ihm als Spezialfach empfähle. Stubenrauch antwortete, dazu müsse Schleiermacher sich zunächst entscheiden, ob es ihn mehr auf die Kanzel oder aufs Katheder ziehe. Weiter schrieb er: „Eigentliche Dogmatik ist so eben nicht Ihre Sache; es würde also meines Erachtens wol Exegese und Kirchenhistorie übrig bleiben. Die lezte ist nun an und für sich ein sehr weitläuftiges Studium, erfordert aber auch sehr viele Hülfsmittel und eine zahlreiche Bibliothek.“127

Im September 1793 ging Schleiermacher als Schulamtskandiat ans Gedikeschen Seminar in Berlin. Wohl noch gegen Ende des Jahres schrieb er eine erste Abhandlung historischen Inhalts. Die Kandidaten waren verpflichtet, alle Vierteljahre solche aus der Praxis erwachsenen Werkstücke vorzulegen und in der monatlich tagenden „pädagogischen Societät“ aller Mitglieder des Seminars zur Diskussion zu stellen.128 In Schleiermachers Abhandlung geht es um die zunächst pädagogische Frage, wie man den schulischen Geschichtsunterricht verbessern sollte, damit er ersprießlich wird.129 Doch dieses Problem ist für Schleiermacher auch mit der Theorie der Geschichte insgesamt verbunden: Eine unzusammenhängende Ansammlung einzelner Fakten (Chronik) könne man noch ebensowenig als Historie betrachten wie eine kausale Erklärung bestimmter Vorgänge und Zustände (Pragmatik), sei sie nun lehrhaft trocken vorgetragen oder mit Rhetorik und Theatralik, innerlich unbeteiligt oder mit der Begeisterung des Lehrers für seinen Lieblingsgegenstand. Auch seien Vergnüglichkeit und praktische Nützlichkeit des historischen Wissens noch keine hinreichende Begründung dafür, daß der Geschichtsunterricht Teil der Bildung 126  Brief

1794 (31.7.–3.8.1804) von Ernst Stubenrauch (KGA V/7, S.  414); Brief 1845 (4.–5.11.1804) von Stubenrauch (KGA V/8, S.  19); Brief 1870 (28.11.1804) von Georg Reimer (KGA V/8, S.  56); Brief 1876 (6.12.1804) an Reimer (KGA V/8, S.  59); Brief 1901 (17.–21.1.1805) von Stubenrauch (KGA V/8, S.  95. 97); Brief 2221 (18.7.1806) von Stubenrauch (KGA V/9, S.  68 f.); Brief 2230 (26.7.1806) an Reimer (KGA V/9, S.  86); Brief 2231 (30.7.1806) von Reimer (KGA V/9, S.  87); Brief 2240 (15.8.1806) von Stubenrauch (KGA V/9, S.  98 f.); Brief 2271 (vor dem 17.9.1806) von Stubenrauch (KGA V/9, S.  144) 127  Brief 154 (3.2.1791) von E. Stubenrauch (KGA V/1, S.  214) 128  Vgl. KGA I/1, S. LXX–LXXII. 129  Vgl. dazu auch Schleiermachers Erinnerung an seinen Geschichtsunterricht (Selbst­ bio­g raphie [1794], Briefe 12, S.  5 –8): Der Breslauer Unterricht (bis 1778) habe ihn tödlich gelangweilt; dagegen sei der Lehrer Hilmer am Pädagogium in Niesky (hier weilte Schleiermacher 1783–85) mit philosophischem Geist und pädagogischem Talent gesegnet gewesen und habe im Geschichtsunterricht den Verstand der Schüler in meisterhafter Weise gebildet und angefüllt. Als Schüler und Pensionist des Lehrers Schubert in Pleß (um 1780) habe er, Schleiermacher, die antiken Schriftsteller gelesen und sei plötzlich auf den Gedanken geraten, die alte Literatur und mit ihnen die ganze alte Geschichte seien bloß untergeschoben.

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sei. Erst da bekomme die Historie den Rang einer Wissenschaft, erst da könne man in den Schülern Liebe zur Sache und Verständnis wecken, erst da werde den Schülern nicht nur Merkstoff, sondern auch tieferes Verständnis vermittelt, wo das Materiale der Geschichte auf eine allgemeine Formel bezogen und in eine systematische Form gebracht werde. Und dieses Allgemeine könnten die Schüler unter pädagogischer Anleitung selbst entdecken: Ausgehen müsse man von einer Anschauung der gegenwärtigen Hauptmomente in der bürgerlichen Gesellschaft, dann könne man sich anhand ihrer ein Schema für das Ganze und seine Teile entwickeln und es auf die Vergangenheit anwenden; „die Geschichte ist jezt würklich die Wissenschaft dessen, was ist, denn alles vorige erscheint ihm [dem auch nur mäßig begabten Kopf ] nun als Grund des gegenwärtigen. Auch an der Einsicht in die Form des Ganzen kann es nun nicht mehr fehlen. Indem man ihnen die Hauptmomente jenes großen Abstandes zeigt, so werden sie mit leichter Mühe das ganze Skelet der Wissenschaft finden. Man stelle ihnen nach den verschiedenen Gesichtspunkten aus denen sich der Zustand der Menschen betrachten läßt, die verschiedenen Arten der Geschichte vor, und laße sie diejenige, welche mit ihnen abgehandelt werden soll näher betrachten.“130

Von dieser frühen Abhandlung führt ein direkter Weg zu Schleiermachers Geschichtsauffassung innerhalb des philosophisch-theologischen Systems, wonach die Geschichte nichts anderes ist als die Gesamtheit des menschlichen Kulturschaffens, des Einwirkens der Vernunft auf die Natur in der Zeit, und somit die historisch-empirische Darstellung der Formeln und Prinzipien, die die philosophische Sittenlehre für die Gegenwart und die Vergangenheit aufstellt (vgl. unten Abschnitt 3.1. und 3.2.). Insofern kann Schleiermacher später sagen, daß es die Aufgabe der Kirchengeschichte sei, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären.131 Am 31. März 1794 legte Schleiermacher in Berlin sein zweites theologisches Examen ab. Zu den Aufgaben der schriftlichen Prüfung gehörten die Frage, welches die Quellen der Kirchengeschichte der ersten vier Jahrhunderte seien, und eine Übersetzung aus Justins erster Apologie. Abermals bekam Schleiermacher in der Kirchengeschichte die Note sehr gut.132

130  Über den Geschichtsunterricht (1793) (KGA I/1, S.  4 87–497; zitiert wird 493 f.). Vgl. Hanna Jursch: Schleiermacher als Kirchenhistoriker, Band 1, Jena 1933, S.  98–101; Nowak: Theorie, bes. S.  424–426. 433. 436–439; Stefan Jordan: Schleiermachers Geschichtsbegriff und seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, in: Hg. Dieter Burdorf und Reinold Schmücker: Dialogische Wissenschaft, Paderborn 1998, S.  187–205, hier 189–194. 131  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  690); Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2.  Aufl., Berlin 1830, §  186 (KGA I/6, S.  391) 132  Meisner: Schleiermachers Lehrjahre, S.  6 6

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2.4.  Schleiermacher kirchengeschichtliche Vorlesungen 2.4.1. Halle Nach dem zweiten Examen ging Schleiermacher zunächst als Hilfsprediger nach Landsberg an der Warthe (1794–96), dann wurde er reformierter Prediger an der Berliner Charité (1796–1802) und Hofprediger im hinterpommerschen Stolp (1802–04). 1804 berief ihn die preußische Regierung zum außerordentlichen Professor der Theologie und der Philosophie (Anfang 1806 wurde Schleiermacher Ordinarius an der theologischen Fakultät) und zum Universitätsprediger nach Halle. Der Schwerpunkt in Schleiermachers akademischer Tätigkeit in Halle (1804– 06) war die Grundlegung und Entfaltung des philosophisch-theologischen Systems; gegenüber dem bisherigen theologischen Curriculum setzte es neue Akzente.133 Zwei Grunddisziplinen des Systems, die philosophische Ethik und die theologische Enzyklopädie, las Schleiermacher je zweimal, außerdem hielt er drei dogmatische Kollegien, (als Fortsetzung der philosophischen Ethik) eines zur christlichen Ethik und (als Grundlegung für die danach begonnenen exegetischen Kurse zum Neuen Testament) eines zur Hermeneutik. Für das Wintersemester 1806/07 kündigte er u. a. eine Vorlesung über die Grundsätze der Praktischen Theologie an, doch sie kam wegen des Krieges und der Schließung der Universität durch die Franzosen nicht zustande.134 – Auch zwei der Form nach mehr schöngeistige Werke aus Schleiermachers Hallenser Zeit behandeln Grundfragen des Systems: Die Weihnachtsfeier kreist um das Problem, in wiefern die Erscheinung Christi ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit ist; die zweite Auflage der Reden über die Religion gestaltet die zweite Rede über das Wesen der Religion neu zu einer Abhandlung über das Gefühl als unmittelbares Selbstbewußtsein des Menschen und Beziehung zu Gott.135 – Eine Reform des Theologiestudiums hatte Schleiermacher schon 133 Vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers 12 , S.   750–757 (Gesammelte Werke 13,2, S.  131–138); Jursch: Schleiermacher 1, S.  59; Nowak: Schleiermacher, S.  149–153; Eilert Herms: Schleiermacher als christlicher Theologe, in: Hg. Andreas Arndt: Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807, Berlin und Boston 2013, S.  17–30, hier 26–30; Hermann Patsch: „… mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen“, ebd. S.  31–54, hier 34–43. 134  Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Schleiermacher-Archiv 11, Berlin und New York 1992, S.  300–302 135 Vgl. Hirsch: Geschichte 4, S.  559–574; ders.: Schleiermachers Christusglaube, Gütersloh 1968, S.  7–52, bes. 7–10. 37–47; Friedrich Wilhelm Graf: Ursprüngliches Gefühl unmittelbarer Koinzidenz des Differenten, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 75 (1978), S.  147–186; Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte, Göttinger theologische Arbeiten 14, Göttingen 1980, S.  156–158. 208; Bernd-Holger Janssen: Die Inkarnation und das Werden der Menschheit, Marburger theologische Studien 79, Marburg 2003, S.  109–122; Patsch: „… mit Interesse“, S.  43–52; Ulrich Barth: Jesus-Bild und Ge-

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kurz bevor er nach Halle ging in einem Reformentwurf für die preußische Kirche gefordert: Als positiv-praktisches Studium solle es sich mehr an den tatsächlichen Erfordernissen des Amtes orientieren.136 Schleiermachers erste kirchengeschichtliche Vorlesung, die Einleitung in die Kirchengeschichte vom Sommersemester 1806, war also Teil dieses Reformprogramms und Teil der Ausarbeitung seines Systems; sie gehört zur enzyklopädischen und methodischen Grundlegung der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen. Angekündigt wurde sie als Kolleg „Ueber Zweck und Methode des Studiums der Kirchengeschichte“ bzw. „de methodo et fine studii historiae ecclesiasticae“. Die Vorlesung war einstündig, erstreckte sich wohl über 18 Stunden und hatte immerhin 57 Hörer.137 Unter den Hörern saßen August Neander (vgl. unten Abschnitt 10.4.) und – ausweislich eines Zeugnisses, das in der Sammlung Varnhagen, seit dem Zweiten Weltkrieg in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau, auf bewahrt wird – auch Friedrich Carl Köpke, der spätere langjährige Professor und Bibliothekar am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. Der jung verstorbene Philologe und Historiker Hans Karl Dippold schickte Schleiermacher 1810 seine Biographie Karls des Großen und schrieb dazu: „Wohl würde ich jetzt selbst manches hinausstreichen, vieles verbeßern, wenns noch möglich wäre: aber der Wurf ist geschehen. Ich glaube seitdem in meinen Ansichten fester, in meinem Urtheile weiser geworden zu seyn, und das durch Ihre Skizze über die Idee der Kirchengeschichte welche aus der dritten oder vierten Hand in die meine gekommen ist, und welche ich mehr, als einmal durchdacht habe.“138

Die entscheidenden äußeren Impulse und Anregungen zu dem Kolleg hat Schleiermacher nicht aus der theologischen Literatur empfangen, sondern aus der Philosophie: Zu der Beschäftigung mit Aristoteles und Kant kamen Studien zu Baruch Spinoza (vermittelt über Friedrich Heinrich Jacobis Buch über Spinoza), dann die Diskurse im Frühromantikerkreis um die Brüder Schlegel, in den Schleiermacher in Berlin eingetreten war, gemeinsame Plato- und LeibnizStudien und die Auseinandersetzung mit den Systemen Fichtes und Schellings hinzu. Auch Schleiermachers erste große wissenschaftliche Arbeit, die in Stolp entstandenen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, behandelte ein philosophisches Thema, nämlich die Ethik von Plato bis Fichte.139 Die akschichtsdeutung, in: Hg. Christian Danz: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, S.  45–62, hier 53–57. 136 Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, S.  165–171 (KGA I/4, S.  4 48– 451) 137  Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S.  3 01; KGA II/6, S. XVIII f. 138  Brief (20.2.1810) von Hans Karl Dippold (SN 270, fol.  1) 139 Vgl. Haym: Die romantische Schule, S.   269. 410–417. 725–728; Dilthey: Leben Schleiermachers 12, S.  182–188. 263–407 (Gesammelte Schriften 13,1, S.  174–179. 249–382); Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974, S.   119–163. 236–264; KGA I/1, S. LXXVI–LXXXII; Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Erträge der Forschung 217, Darmstadt

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tuelle Literatur und die Debatten der Theologie kannte Schleiermacher hingegen kaum, als er seine Professur in Halle antrat – trotz dem nun etwa 15 Jahre zurückliegenden Bücherstudium im Hause des Onkels. An seinen Freund Joachim Christian Gaß schreibt Schleiermacher: „Sie sehen […] lieber Freund, wie wenig ich eigentlich mit der theologischen Litteratur bekannt bin, und wenn Sie den Mangel in seinem ganzen Umfang kennten würden Sie erschrekken. Er ist aber bei meiner Denkungsart und Lage ganz natürlich. Denn ehe ich hieher kam war ich gar nicht in Verlegenheit um einzelne theologische Kenntnisse, und als Ganzes aus freier Liebe zog mich weniges an und ich ließ mich um Alles gern unbekümmert. Denn es giebt keinen schlechteren Spaß als Bücher ohne Noth und Beruf zu lesen über interessante Gegenstände, wo aber das Rechte überall verfehlt ist, und die keinen andern Genuß gewähren als das πρῶτον Ψεῦδος, das man beim ersten Anblikk findet, sich in tausend verschiedenen Gestalten im Einzelnen offenbaren zu sehn. Daher habe ich von je her wenig theologisches gelesen. Jezt da ich das Einzelne brauche, thäte ich es gern; aber ich habe noch nicht Zeit gehabt nachzuholen und es ist mir also sehr erwünscht mich an einen Freund wenden zu können der mehr litterarische Kenntnisse hat als ich.“

Als speziellen Grund seines bisherigen Desinteresses nennt Schleiermacher den Mangel an religiösem Sinn bei den meisten wissenschaftlichen Theologen; wer aber religiösen Sinn habe, dem fehle es an Einsicht ins Wesen des Christentums und der positiven Religion überhaupt.140 – Schleiermacher ließ sich mehrmals von Gaß brieflich über die theologische Literatur beraten und auf klären.141 Mit Hilfe seines Freundes, Verlegers und Buchhändlers Georg Reimer baute er sich in Halle allmählich eine theologische Bibliothek auf. Unter den Büchern, die er bei Reimer bestellt, sind Werke zur neutestamentlichen Exegese, zur Hermeneutik und zur Dogmatik, ein paar praktisch-erbauliche Schriften und auch kirchengeschichtliche Werke: Schmidts Handbuch der christlichen Kirchengeschichte und Münschers Dogmengeschichte, Henkes Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche und Stäudlins Dogmatik und Dogmengeschichte.142 1984, S.  45–53; ders.: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1995, S.  20–27; Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik, S.  84–92. 107–118; ders.: Schleiermacher, S.  62–68. 81–95; KGA I/14, S. XX–XXIII. XXVII–XXIX; Andreas Arndt: Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, S.  31–41. 140  Brief 2026 (6.9.1805) an Joachim Christian Gaß (KGA V/8, S.  3 05). – Immerhin hatte Schleiermacher Gaß zu Beginn des Wintersemesters 1804/05 geschrieben, er lese, um seinem bislang noch nicht so fließenden Vortrag über die theologische Enzyklopädie aufzuhelfen, „allemal etwas aus unseres ehrlichen Nösselts Anweisung oder Planks nicht minder geschwäziger Einleitung“ (Brief 1851, 13.11.1804, an Gaß, KGA V/8, S.  24). 141  Brief 1908 (25.1.1805) von J. C. Gaß (KGA V/8, S.  109); Brief 1994 (20.7.1805) von Gaß (KGA V/8, S.  253 f.); Brief 2026 (6.–13.9.1805) an Gaß (KGA V/8, S.  305. 308 f.) 142  Brief 1835 (20.10.1804) an G. Reimer (KGA V/8, S.   10); Brief 1844 (4.11.1804) an Reimer (KGA V/8, S.  17); Brief 1848 (11.11.1804) an Reimer (KGA V/8, S.  21); Brief 1876 an Reimer (KGA V/8, S.  59 f.); Brief 1898 (14.1.1805) an Reimer (KGA V/8, S.  92 f.); Brief 1927 (Februar 1805) an Reimer (KGA V/8, S.  147); Brief 1950 (6.4.1805) an Reimer (KGA V/8, S.  181); Brief 2045 (8.10.1805) an Reimer (KGA V/8, S.  333); Brief 2061 (25.10.1805)

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A. Einleitung

Schleiermachers Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 stellt also keinen Beitrag zu den zeitgenössischen theologischen Debatten über die Kirchengeschichte dar und ist nicht von ihnen her zu verstehen, sondern aus Schleiermachers Arbeit an einem System des Wissens und der Wissenschaft und einer neuen Grundlegung der Theologie und des Theologiestudiums. Schleiermacher eröffnet sie mit der Bemerkung: „Wer eine eigene Ansicht hat, will sie auch, da sie doch organisch sein und durch das ganze hindurchgehn muß, in den Zweigen mittheilen, die er nicht selbst genau bearbeiten kann. Solche Winke sollen diese Vorlesungen sein.“143

Tatsächlich wollte Schleiermacher diesen „Zweig“ des Ganzen damals „nicht selbst genau bearbeiten“.144 Als er Ende 1804 Gaß seine Pläne für die nächsten theologischen Kurse auseinandersetzte, schrieb er: „Auf Kirchengeschichte werde ich mich vor der Hand gar nicht einlassen, sondern nur auf Exegese, praktische Theologie und kritische Behandlung der Dogmatik.“145

2.4.2. Berlin Diesem Vorsatz wurde Schleiermacher erst fünfzehn Jahre später als Professor an der Berliner Universität untreu. Für das Wintersemester 1821/22 kündigte er ein fünfstündiges „compendium historiae rerum Christianarum“ bzw. einen „kurzen Abriß der Kirchen- und Dogmengeschichte“ an. Vier Jahre später, im Wintersemester 1825/26, hielt Schleiermacher eine zweite fünfstündige Überblicksvorlesung zur Kirchengeschichte über ein Semester, ein „historiae ecclesiasticae compendium in uno absolvendum semestri“ bzw. einen „kurzen Inbegriff der Kirchengeschichte“ (die Dogmengeschichte wird dieses Mal im deutschen Titel also nicht eigens erwähnt). Das erste Kompendium hatte 51 Hörer, das zweite ihrer 61.146 Schleiermacher hatte 1810 zu der von der Sektion des öffentlichen Unterrichts ins Leben gerufenen Kommission gehört, die sich mit der Besetzung der Professuren an der in Berlin zu eröffnenden Universität befaßte. Für die Kirchengeschichte hatte er zunächst den Gießener J. E. C. Schmidt gewinnen wollen (und

an Reimer (KGA V/8, S.  348 f.); Brief 2142 (10.2.1806) an Reimer (KGA V/8, S.  465 f.); Brief 2148 (21.2.1806) an Reimer (KGA V/8, S.  473). 143  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1. Stunde (KGA II/6, S.  9 ) 144  Dies taten damals unter seinen Kollegen Vater, Nösselt und Georg Christian Knapp, Vater und Knapp nach Schröckhs Kompendium, Nösselt nach Mosheims Kompendium in der Bearbeitung von Henke; vgl. die Hallenser Catalogi praelectionum. 145  Brief 1881 (17.12.1804) an J. C. Gaß (KGA V/8, S.  67) 146  Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S.  317. 321 f.; Wolfgang Virmond: Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, Berlin 2011, S.  257. 394

2.  Der historische Kontext

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schon 1809 deshalb bei Schmidt anfragen lassen147). Nach dessen endgültiger Absage schrieb Schleiermacher ihm sein großes Bedauern und fuhr fort: „Mein Hauptgedanke ist, daß unsere theologische Fakultät in Ermangelung eines größeren Reichthums, der ihr für den Anfang wenigsten gewiß versagt ist, mit einer solchen Trias von Lehrern beginnen müsse, durch welche die drei Hauptfächer, Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik, soweit es sich thun läßt, doppelt besetzt wären. Ich meines Theils werde mich der Exegese und der Dogmatik widmen; in der Kirchengeschichte würde es mir in den ersten Jahren unmöglich sein Studien zu machen, die mich irgend befriedigen könnten.“

Schleiermacher dachte dann an Münscher und an Philipp Marheineke.148 Marheineke hatte 1806, damals Extraordinarius und Universitätsprediger in Erlangen, den Anfang einer Universalkirchenhistorie veröffentlicht, deren Ausrichtung teilweise mit Schleiermachers Anliegen übereinstimmte (vgl. unten Abschnitt 3.5.1.). Diese und andere Arbeiten brachten Marheineke 1807 eine Berufung nach Heidelberg ein; dort stand er mit Carl Daub, Creuzer, Joseph Görres, Clemens Brentano und anderen in Verbindung und schrieb den ersten Band seiner wegweisenden Symbolik.149 Marheineke folgte dem Ruf nach Berlin. Vom Wintersemester 1810/11 bis zum Wintersemester 1818/19 kündigte er regelmäßig Vorlesungen über zwei Semester über die Kirchengeschichte nach Schröckhs Kompendium an (allerdings sind nach den Ministerialakten wohl nicht alle Vorlesungen wirklich zustande gekommen), ferner hielt er Kollegien zur Symbolik und zur Dogmengeschichte. Im theologischen Seminar hatte er die Abteilung für Kirchen- und Dogmengeschichte inne.150 – Zum Reformationsjubiläum (vgl. unten Abschnitt 9.2.2.1.) veröffentlichte Marheineke eine an den Quellen erarbeitete, für ein breites Publikum bestimmte Geschichte der deutschen Reformation. Die Reformation ist für ihn eine Angelegenheit des deutschen Volkes und Geistes, sie stellt die Blütezeit des deutschen Glaubens dar; ein neuer Luther werde im gegenwärtigen Jahrhundert aufstehen, das Werk des ersten Luther vollenden und die Konfessionsgrenzen im „ächtchristlichen“ Geist überwinden.151 Schleiermacher hat Marheinekes Reformationsgeschichte bald nach deren Erscheinen gelesen, sich aber gegenüber seinem Freund Gottfried Ludwig Blanc, reformierter Domprediger und romanistischer Philologe in Halle, wenig günstig über sie geäußert: 147 

15v)

Vgl. Brief (3.4.1809) von Friedrich Heinrich Christian Schwarz (SN 390, fol.  14–

148  Brief

(23.6.1810) an Johann Ernst Christian Schmidt (Alfred Bock: Aus einer kleinen Universitätsstadt, Band 1, Gießen 1896, S.  72–74, irrtümlich auf den 20.6. datiert) 149 Vgl. Gerber: Schleiermacher, S.  2 01–203. 150  Virmond: Die Vorlesungen, S.  5. 15. 26. 38. 49 f. 60 f. 70 f. 79 f. 88. 99. 109. 119. 129. 139 f. 149. 162. 172 151  Philipp Marheineke: Geschichte der teutschen Reformation, Band 1, Berlin 1816, S.  XXII–XXV

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A. Einleitung

„Ich size also und warte auf die noch fehlende Inspiration [für die lateinische Festrede zum Reformationsjubiläum], und habe nun indeß Zwingli’s Leben von Heß und Marheineke’s Reformationsgeschichte gelesen. Die lezte gefällt mir beim ordentlichen Lesen weit weniger als beim ersten Blättern. Es ist doch gar zu wenig eigentliche Composition darin, und in den Auszügen wiederum zu viel fremdartiges mit aufgenommen. Das politische und literarische ist fast ganz vernachlässigt; und im Stil ist auch der gute Vorsaz sich dem volksthümlichen anzunähern auf der einen Seite ins abenteuerliche hineingetrieben, auf der andern nichts weniger als treu gehalten. Das erste Buch [scil. Heß’ Leben Zwinglis] ist auch höchst oberflächlich und würde ohne den literarischen Anhang von Usteri fast gar keinen Werth haben.“152

Nach 1819 behielt Marheineke die Symbolik und die Dogmengeschichte in seinem Programm, ansonsten konzentrierte er sich aber auf die systematischen Fächer (Enzyklopädie, Dogmatik, Moral) und die Praktische Theologie. Als vierter theologischer Ordinarius nach Schleiermacher, dem Exegeten Wilhelm Martin Leberecht de Wette und Marheineke wurde am Jahreswechsel 1812/13 der 24jährige August Neander nach Berlin berufen. Durch seine theologische Habilitationsschrift über Clemens von Alexandrien und noch mehr durch eine Monographie über Kaiser Julian und sein Zeitalter hatte er sich als Kirchenhistoriker mit dem Schwerpunkt auf der alten Kirchengeschichte ausgewiesen. Neander wurde der frommen, erweckten Richtung zugerechnet; er sollte Schleiermacher und Marheineke in den Fächern Dogmatik und Kirchengeschichte zur Seite treten.153 – Neander las regelmäßig die Kirchengeschichte, zuerst über zwei, seit dem Sommersemester 1827 über drei Semester. Weiter hielt er Kollegien über die Dogmengeschichte, das apostolische Zeitalter, die kirchlichen Altertümer und Leben und Werke der Kirchenväter; hinzu kamen seit 1817 exegetische Kurse zum Neuen Testament und Kollegien über Moral und Dogmatik (seit 1827), in den 30er Jahren auch über Symbolik. Neanders Vorlesungen fanden ein großes Echo: In den Semestern, als Schleiermacher Kirchengeschichte las, hatten Neanders kirchengeschichtliche Vorlesungen 56 bzw. 120 Hörer, die Dogmengeschichte von 1821/22 ihrer 86.154 Noch größeren Zulauf hatte Neander, wenn er über das Neue Testament las: Im Wintersemester 1825/26 kamen 240 Hörer zu seinen Vorträgen über das apostolische 152 

Brief (15.9.1817) an Gottfried Ludwig Blanc (Briefe 4, S.  222). Die Rede ist die „Oratio in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi die III. Novembris A. MDCCCXVII. habita“ (KGA I/10, S.  1–15). 153 Vgl. Karl Theodor Schneider: August Neander, Schleswig 1894, S.   44 f.; Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band 1, Halle 1910, S.  477–481; Kurt-Victor Selge: August Neander – ein getaufter Hamburger Jude der Emanzipations- und Restaurationszeit als erster Berliner Kirchenhistoriker (1813–1850), in: Hg. Gerhard Besier und Christof Gestrich: 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, Göttingen 1989, S.  233–276, hier 233–235; ders.: Zu Neanders Berufung nach Berlin, in: Hg. Andreas Arndt und Kurt-Victor Selge: Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?, Berlin und New York 2011, S.  121–123; Nowak: Schleiermacher, S.  343. 154  Virmond: Die Vorlesungen, S.  257. 394

2.  Der historische Kontext

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Zeitalter und zur Vorlesung über die Paulusbriefe sogar 290.155 – Als Privatdozenten lasen in den 1820er Jahren Georg Rudolf Wilhelm Böhmer und Georg Friedrich Heinrich Rheinwald Kirchengeschichte. Warum nun Schleiermacher in den 1820er Jahren überhaupt Vorlesungen über die materiale Kirchengeschichte hielt (und zwar gegen den usus als einsemestrige Kompendien), läßt sich nur mutmaßen. Daß er sich 1821 Synergieeffekte zwischen einer Bearbeitung der Kirchengeschichte und seiner gleichzeitigen Arbeit an der Glaubenslehre und dem Aufsatz über die Trinitätslehre versprach, wie Joachim Boekels vermutet, liegt zumindest nicht nahe, da weder die Aufzeichnungen zur Kirchengeschichte auf die Glaubenslehre und den Aufsatz zurückgreifen noch umgekehrt diese auf jene.156 So bleibt es am wahrscheinlichsten, daß Schleiermacher alle historisch-theologischen Disziplinen einmal nach seinen Grundsätzen durchgeführt haben wollte und speziell für die Kirchengeschichte zeigen wollte, wie bei ihr Christlichkeit einerseits, Wissenschaftlichkeit und Kritik andererseits in Übereinstimmung gebracht werden konnte.157 Die Aneignung und Bearbeitung der materialen Kirchengeschichte war für Schleiermacher mit erheblichem Arbeitsaufwand verbunden; davon zeugen nicht nur seine umfänglichen Aufzeichnungen, sondern auch etliche briefliche Äußerungen. Schleiermacher schreibt im Sommer 1821 an Gaß, er müsse auf alles Reisen verzichten, u. a. wegen der Studien, die das neue Kolleg zur Kirchengeschichte im kommenden Semester heische;158 Blanc gegenüber deutet Schleiermacher kurz vor Semesterbeginn an, daß ihn aber auch das Interesse gepackt habe, tiefer in die Sache einzudringen: „Die Kirchengeschichte macht mir viel Pein. Ueberall entsteht mir die größte Versuchung zu großen Studien und zu neuen Untersuchungen der Gegenstände, und doch muß ich alles von der Hand schlagen. Wäre ich noch zehn Jahr jünger: so könnte es wol sein, daß ich mich auf mehrere Jahre ganz ausschließend in dieses Fach würfe. Zu thun ist gewiß noch viel mehr darin, auch recht im Großen, als man gewöhnlich meint.“159

Zu „großen Studien und neuen Untersuchungen der Gegenstände“ ist der in seiner Berliner Zeit chronisch überlastete Schleiermacher nicht mehr gekommen. – Über den Zeitaufwand bei der Präparation hat er auch im Zusammen155  Virmond: Die Vorlesungen, S.  394. Vgl. Schneider: August Neander, S.  4 6–48. 81 f. 159; Selge: August Neander, S.  246. 156 Vgl. Joachim Boekels: Schleiermacher als Kirchengeschichtler, Schleiermacher-Archiv 13, Berlin und New York 1994, S.  10 f.; KGA II/6, S. XXVI f. Nur in Kollektaneum 980 von 1825 (KGA II/6, S.  393) scheint Schleiermacher auf seinen Aufsatz über die Trinitätslehre zurückgegriffen zu haben. 157 Vgl. Kurt Victor Selge: Neander und Schleiermacher, in: Hg. Arndt/Selge: Schleiermacher, S.  101–118, hier 109. Vgl. auch unten Abschnitt 3.1., 3.4.2. und 5.3. 158  Brief ( Juli 1821) an J. C. Gaß (Briefe 4, S.  273) 159  Brief (Oktober 1821) an G. L. Blanc (Briefe 4, S.  2 80)

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A. Einleitung

hang der Vorlesung von 1825/26 geklagt; nun aber meint er, daß er alles das, was er sich in mühevollen Nachforschungen über die Kirchengeschichte aneigne, am wenigsten wirklich brauche.160 In seinen letzten Jahren hat Schleiermacher die Kirchengeschichte nicht wieder gelesen; dafür trug er noch zweimal die kirchliche Statistik vor, die von ihm postulierte letzte Disziplin der historischen Theologie und Fortsetzung der Kirchengeschichte.161 – 1830 erschien die letzte Ausgabe der enzyklopädischen Kurzen Darstellung des theologischen Studiums. Schleiermacher hat in zwei eigenen Kompendien über die Kirchengeschichte erfahren, wie uferlos das Gebiet ist und wie leicht man darin untergeht, und schreibt: „Bedenken wir, wieviel Hülfskenntnisse erfordert werden, um diese verschiedenen Zweige der Kirchengeschichte zu verfolgen: so ist dieses Gebiet ein offenbar unendliches, und postulirt einen großen Unterschied zwischen dem, was Jeder inne haben muß, und dem was (vergl. §. 92) nur durch die Vereinigung aller Virtuosen gegeben ist.“162

160  Brief (19.11.1825) an J. C. Gaß (Briefe 4, S.  339 f.); Brief (März 1826) an Gaß (Briefe 4, S.  344); Brief (1825/26) an Henriette Herz (Briefe 22, S.  433) 161 Vgl. Gerber: Schleiermacher, S.  183–187. 195–201. 162  Kurze Darstellung 2 , §  184 (KGA I/6, S.  390)

B.  Systematischer Teil

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin 3.1.  Organische Geschichtsanschauung Die Geschichte des Christentums ist ein Teil der Geschichte überhaupt. Wie läßt sich die Geschichte auffassen und darstellen? Wie kann man Geschichtskunde wissenschaftlich betreiben? Die Geschichte läßt sich für Schleiermacher nicht begreifen als eine ungeordnete Ansammlung einzelner Fakten. Das wohl älteste Manuskript Schleiermachers zur Kirchengeschichte, ein Blatt mit Notizen für die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806, beginnt damit, der „mythologische Ursprung der Geschichte“ zeige, daß nicht bloße Neugierde am Vergangenen die Ursache davon sei, daß der Mensch sich mit der Geschichte beschäftige, sondern „der Trieb, die Ideen lebendig und zeitlich anzuschauen“. Dieser Trieb habe sich zunächst mythologisch und dichterisch äußern müssen, da die Verwirklichung der Ideen in der Zeit erst ein Werdendes sei: 1 In den Anfängen, im mythologischen und epischen Zeitalter der Menschheit, sei die Entwicklung eben noch nicht so weit vorgedrungen, daß die Ideen in der Wirklichkeit hätten angeschaut werden können. Diesen Ansatz hat Schleiermacher dann in den verschiedenen kirchengeschichtlichen Vorlesungen entfaltet. Er nennt ihn das „organische Verfahren“ und die „organische Betrachtung der Geschichte“.2 Der Begriff des Organischen ist der Naturanschauung entlehnt. Nach Immanuel Kant ist ein Organismus ein Produkt der Natur, bei dem das Ganze und seine Teile einander gegenseitig bedingen, hervorbringen und bestimmen: Die Teile sind füreinander wechselseitig Mittel (Werkzeug, Organ) und Zweck, Ursache und Wirkung; auf diese Weise bilden sie das Ganze und sind ihrerseits nur möglich durch ihre Beziehung auf das Ganze.3 Auf die Geschichte angewandt heißt das, daß die einzelnen Momente in der Zeit einen den Prozessen in der belebten 1  Zur Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 (KGA II/6, S.  5 ); vgl. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 2. Stunde (KGA II/6, S.  10 f.). – Daß der historische Sinn sich zuerst in der epischen Dichtung geäußert habe, ist eine Erkenntnis Friedrich Schlegels, vgl. oben Abschnitt 2.2.3. 2 Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1. Stunde (KGA II/6, S.   10); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  126. 670) 3  Immanuel Kant: Critik der Urtheilskraft, 2.  Aufl., Berlin 1793, §  65 f. (Akademie-Ausgabe 5 = I/5, S.  372–377)

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B.  Systematischer Teil

Natur analogen Zusammenhang bilden. Die Geschichte wird angeschaut und dargestellt als eine Entwicklung; deren Beweggrund sind Ideen, die nach Verwirklichung streben,4 und umgekehrt lassen sich die Ideen und Kräfte in den zeitlichen Ereignissen und Entwicklungen auffinden und anschauen. Das Wesen der Geschichte „ist das Aufgehn der Zeit in der Idee.“5 Erst wenn der Betrachter das Äußere und das Innere, Wirklichkeit und Idee, das Einzelmoment und das untrennbare, sich entwickelnde Ganze verknüpfe und identisch setze, erst da werde aus einer Begebenheit der Zeit Geschichte, und erst da beginne die geschichtliche Anschauung als eine freie geistige Tätigkeit.6 Im Kolleg von 1806 heißt es in diesem Sinne noch, daß die rechte Geschichtsschreibung ganz den Charakter der Kunst an sich tragen müsse7 – so äußerten sich damals auch August Wilhelm Schlegel, Friedrich Creuzer und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (vgl. oben Abschnitt 2.2.3.). Nach den Erfahrungen des preußischen Zusammenbruchs schreibt Schleiermacher seiner vertrauten Freundin Henriette Herz zu Anfang 1807, wenn man die mancherlei menschlichen Einzelschicksale nicht im Einzelnen, sondern im Großen anschaue, finde man auch in ihnen den überall in der Geschichte waltenden 4 „Bei einem partiellen Ganzen, wenn nur im Anfangspunkt das Innerliche des agens aufgefaßt ist, die Formel wie hat sich a in der Erscheinung weiter entwickelt.“ (Kirchen­ geschichte 1825/26, KGA II/6, S.  126, vgl. 669 f.). – Vgl. auch Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 34): Die Idee ist der Impuls unter der Form eines Gedankens. 5  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1. Stunde (KGA II/6, S.  10). Vgl. Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  33v. 34), wo Schleiermacher im Zusammenhang des Unterschieds zwischen Prosa und Poesie sagt: „Ein Wort nähert sich uns bald mehr der Allgemeinheit des Begriffs, bald mehr der Einzelheit [des Bildes]. […] Zwar kann man sagen, der Dichter trägt immer etwas seines Eignen mit hinein, das thut aber auch der Geschichtschreiber und beide auf gleiche Weise bald bewußt, bald unbewußt. Worin wird er Unterschied zwischen beiden bestehen? […] In der Geschichtschreibung muß sich alles doch auf eine Idee beziehen und das kann nur seyn, in wie fern allenthalben der Begriff herrscht. Im Gedicht soll nichts seyn als eine sich aus sich selbst entwikelnde Reihe von Bildern und diese sollen hervorgerufen werden. Der Geschichtschreiber soll von allen Begebenheiten die Beziehung auf die Idee darstellen und darum muss er bloss in Begriffen bleiben. Man denke an die Ueberschrift: Ueber den Verfall des Römischen Reichs, so muß alles sich auf diesen Begriff beziehen. Dabei werden wir nicht leugnen können, daß in einem guten Geschichtswerke sich von manchen Dingen eine Reihe von lebendigen Bildern gestalten läßt, aber das muß doch immer das Zurüktretende seyn.“ 6  Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2.   Aufl., Berlin 1830, §   150–152 (KGA I/6, S.   380 f.). Vgl. Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  150–152 (hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  143–147); dazu Theodor Jørgensen: Schleiermacher som kirkehistoriker, in: Dansk teologisk tidskrift 31 (1968), S.  178–214, hier 194–196; Günter Ebbrecht: Theologie als positive Wissenschaft (KD), Band 1, Heidelberg 1977, S.  354–359. Band 2, Heidelberg 1977, S.  180–183. – In der Dialektik unterscheidet Schleiermacher dementsprechend zwischen der Kraft und der Erscheinung: In den Erscheinungen kommt die Kraft zur Wirklichkeit und zum Bewußtsein, die ihrerseits der produktive Grund der Erscheinungen und Aktionen ist; vgl. Dialektik 1814/15, 24. Stunde (§  181 f.) (KGA II/10,1, S.  118 f.); Ethik, Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §  51 f. (Werke 2, S.  533 f.); Dialektik 1822, 40.–41. Stunde (KGA II/10,1, S.  254 f.; II/10,2, S.  528–530). 7  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 2. Stunde (KGA II/6, S.  10)

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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Genius der Menschheit, das Walten der Vorsehung: Auf Erschlaffung folgten Zerstörung und Todeskampf, aber währenddessen entwickelten die schöpferischen Kräfte des Menschen Gutes und Neues.8 – In den Reden über die Religion war die Geschichte eine der Formen, unter denen die Religion das Universum anschaut.9 Die Anschauung der Geschichte hat also für den frühen Schleiermacher nicht nur einen mythologischen Ursprung, sondern bleibt eine Sache der intuitiven, religiösen Deutung. Allerdings hat Schleiermacher schon in seiner Schelling-Rezension von 1804 (vgl. unten Abschnitt 3.2.) kritisiert, daß Schelling die Historie „auf die gleiche Stufe mit der Kunst“ stellen wollte: Auf diese Weise verschwinde die Historie aus der Reihe der realen Wissenschaften und werde zu einem Objekt, das Religion und Kunst je auf ihre Weise und in ihrer Form bearbeiten könnten.10 Wenn die Geschichtsschreibung den „Charakter der Kunst“ haben soll, meint das also nicht die freie, rein subjektive Kunst als Gegensatz zu der an ihren Gegenstand gebundenen Wissenschaft, sondern die Kunst im Sinne der τέχνη, also Kunst bei der Anfertigung und beim Verständnis eines Werkes des menschlichen Geistes.11 In diesem Sinne fährt Schleiermacher fort, daß eine wissenschaftliche Darstellung nur dann Kunst sei, wenn sie die historische Form habe, also die kunstreiche Zusammenschau von Idee und Realität.12

Daß sich Wissen, Erkennen und Verstehen dadurch entwickeln, daß Deduktion und Induktion, Spekulation und Empirie, Ganzes und Einzelnes, Begriff und Urteil einander durchdringen und auslegen, ist eine Grundfigur des Schleiermacherschen Denkens; 13 sie verdankt sich offenbar dem Symphilosophieren mit

8  Brief 2409 (2.2.1807) an Henriette Herz (KGA V/9, S.  336). Vgl. auch Über die Religion, 2.  Aufl., Berlin 1806, S.  143–145 (2. Rede) (KGA I/12, S.  104 f.). 9  Über die Religion, Berlin 1799, S.  9 9–104 (2. Rede) (KGA I/2, S.  2 32–234) 10  Rezension zu F. W. J. Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium, Tübingen 1803, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1 (1804), Band 2, Nr.  96– 97 (21.–23.4.), Sp.  137–151, hier 145 (KGA I/4, S.  475). Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, Tübingen 1803, 10. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  310). 11  Vgl. Kurze Darstellung 2 , §  132 (KGA I/6, S.  375): „Das vollkommne Verstehen einer Rede oder Schrift ist eine Kunstleistung, und erheischt eine Kunstlehre oder Technik“. 12  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 2. Stunde (KGA II/6, S.  10) 13  Vgl. Brouillon zur Ethik 1805/06, 44.–49. und 54. Stunde (Werke 2, S.  152–161. 170 f. – Das Wort „organisch“ hat hier noch eine andere Bedeutung: Zur Erkenntnis müsse die „organische“, d. h. sinnliche, Wahrnehmung mit der „höheren“ kombiniert werden); Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, Berlin 1808, S.  38–40 (KGA I/6, S.  37 f.); Allgemeine Hermeneutik 1809/10, Einleitung, §  13. 23–30; Teil 1, §  19; Teil 2, §  2 f. 13 (KGA II/4, S.  75–79. 82. 101. 104); Geschichte der alten Philosophie 1811/12, 1. Stunde (SW III/4,1, S.  15); Dialektik 1814/15, 42. und 50.–62. Stunde (§  233–235. 256–289) (KGA II/10,1, S.   156–158. 168–185); Ethik, Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §  109 (Werke 2, S.  549 f.); Kirchengeschichte 1821/22, 1. Stunde (KGA II/6, S.  470 f.); Dialektik 1822, 47., 56.–57. und 62.–70. Stunde (KGA II/10,1, S.  273 f.; II/10,2, S.  554 f. 589–592. 608–644); Ueber den Begriff der Hermeneutik. Zweite Abhandlung (22.10.1829) (KGA I/11, S.  625–634); Kurze Darstellung 2, §  32. 59. 136. 140 (KGA I/6, S.  338. 348. 376 f.); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  2 ,2 (KGA I/13,1, S.  16–18)

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B.  Systematischer Teil

Friedrich Schlegel am Ende der 1790er Jahre.14 Schleiermacher schreibt im Kolleg von 1806: „Wie kann man also bange sein […] daß bei der höheren Behandlung die Geschichte der lebendigen Fülle entbehren und die Bewegungen des Einzelnen nicht darstellen werde? Dies scheint nur möglich zu sein wenn man die höhere Ansicht als eine spätere von der Philosophie aus eingeschlichene ansieht, die einen fremden Zwekk unterschiebt und also das Wesen verderben kann. Das ist aber nicht; sondern auch historisch angesehen ist die höhere Ansicht die ursprüngliche. […] Auch läßt sich ja das Werden des Ganzen nicht darstellen ohne Darstellung des Einzelnen weil das Ganze nur im Einzelnen erscheint, und es gehört grade zur Form seines Wesens auch die Abwechselung zwischen Verbreitetsein des inneren Geistes in der ganzen Masse und starkem Hervortreten desselben im Einzelnen, welche wiederum nicht anders als in einzelnen Theilen kann gezeigt werden. Daher ist es grade das Amt der Geschichte den einzelnen unsterblich zu machen, sowol indem sie ihn heraushebt, als indem sie ihn in der Masse begraben läßt.“15

Die organische Anschauung ist nichts sekundär in die Geschichte Eingeschmuggeltes, das die lebendige Fülle des Einzelnen und Individuellen einebnet und vernichtet. Vielmehr bekommt – wie bei einem physischen Organismus – das Einzelne erst dadurch sie seine Bedeutung, daß es als Träger und Gestalt des Ganzen und der Idee aus seiner Kontingenz emporgehoben wird. Daß es dabei eine „Abwechselung zwischen Verbreitetsein des inneren Geistes in der ganzen Masse und starkem Hervortreten desselben im Einzelnen“ gibt, ist für Schleiermachers Theorie der geschichtlichen Entwicklung und des Fortschritts von großer Bedeutung (vgl. dazu unten Abschnitte 4.3.3. und 4.5.). Innerhalb der Geschichte als eines eigentlich unteilbaren Gesamtzusammenhangs läßt sich nun dann ein Ausschnitt machen, läßt sich „ein System der Lebensactionen von den übrigen absondern“, wenn es sich um eine Entwicklung handelt, die von einer gemeinsamen Idee bestimmt und getragen wird; ein solcher Ausschnitt ist dann ebenfalls organische Geschichte, ein geschichtliches Ganzes.16 Schleiermacher grenzt das organische Verfahren ab vom rein empirischen oder „atomistischen“ Verfahren, der „Chronik“: Diese zähle bloß unzusammenhängende Einzelheiten, Ereignisse oder auch Personen, auf, von denen jedes und jede zufällig und ersetzbar erscheine. Eine Chronik eigne sich lediglich 14 Vgl. Hermann Patsch: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), S.  434–472, bes. 462–465; Giovanni Moretto: Etica e storia in Schleiermacher, Istituto italiano per gli studi filosofici. Seria Studi 2, Neapel 1979, S.  327–330; Andreas Arndt: Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, S.  36–41. Vgl. zu Schlegel oben Abschnitt 2.2.3. und unten Abschnitt 5.2. 15  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 2. Stunde (KGA II/6, S.  10 f.); vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 1. Stunde (KGA II/6, S.  470 f.). Vgl. Hanna Jursch: Schleiermacher als Kirchenhistoriker, Band 1, Jena 1933, S.  76–79. 16  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3.–4. Stunde (KGA II/6, S.  11 f.)

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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als Materialsammlung für eine Darstellung der Geschichte, könne aber keinen Anspruch darauf erheben, selbst schon Geschichtsschreibung zu sein; auch sei sie keineswegs so unparteiisch, wie sie vorgebe, denn auch der Chronist müsse ja aus der Fülle der Ereignisse eine Auswahl treffen.17 Das organische Verfahren unterscheidet sich sodann von der Pragmatik: Diese forsche nach immanenten Ursachen und Wirkungen in der Geschichte, um den gegenwärtigen Zustand aus der Vergangenheit abzuleiten. Die Vorlesung von 1806 nennt die Pragmatik auch die psychologische Ansicht: Sie erkläre alles aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken der Motive und Interessen Einzelner.18 „Die pragmatische KirchenGeschichte ist gemißbraucht worden, um die Dogmatik zu dekreditiren“,

heißt es auf Schleiermachers ältestem Blatt zur Kirchengeschichte.19 Schleiermachers Kritik an der herrschenden pragmatische Kirchengeschichtsschreibung (vgl. zu ihr oben Abschnitt 2.1.1. und 2.2.1.) bezieht sich unter deren zwei Hauptmomenten nicht so sehr auf den moralisch-belehrenden Endzweck als auf das Genügen im Forschen nach Ursachen und Wirkungen in der Geschichte und auf die damit verbundene Relativierung alles Historischen: Mit ihrer Ursachenforschung kommt die Pragmatik eben über Kausalketten und Zufälligkeiten nicht hinaus, und so meint sie, wenn sie die kleinen innerweltlichen Ursachen für die Aufstellung christlicher Glaubenssätze meint gefunden zu haben (z. B. persönliche Antipathien oder die spätantike kaiserliche Religionspolitik), die Glaubenssätze selbst seien auch nichts anderes als die Folgen kontingenter oder wenigstens sachfremder Ursachen und damit ebenfalls kontingent.20 17 

Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1.–2. Stunde (KGA II/6, S.  9 f.); Kirchengeschichte 1821/22, 1. Stunde (KGA II/6, S.  21 f. 471); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  126. 668 f.). In der Kirchengeschichte 1825/26 sagt Schleiermacher, das chronistische Verfahren bestehe eben darin, zwischen zwei Zeitpunkten beliebig viele Zwischenpunkte anzugeben. Vgl. zur Chronik auch Kurze Darstellung 2, §  153. 256 (KGA I/6, S.  381. 415); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  152–154 (hg. Sachs, S.  145–147); Leben Jesu 1832, 1. Stunde (SW I/6, S.  1–3). Im Brouillon zur Ethik 1805/06, 54. Stunde (Werke 2, S.  171) heißt es: „Die Virtuosen der Empirie haben oft eine bestimmte Idee unbewußt in sich.“ 18  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1.–2. Stunde (KGA II/6, S.  9 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  126. 669 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  65. 179 (hg. Sachs, S.  69. 167 f.); vgl. auch oben Abschnitt 2.3. zur frühen Abhandlung über den Geschichtsunterricht. – Vgl. Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  193 f.; Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Beiträge zur historischen Theologie 77, Tübingen 1989, S.  57. – Klaus Martin Beckmann: Der Begriff der Häresie bei Schleiermacher, Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus X,16, Göttingen 1959, S.  87, schreibt, Schleiermacher setze sich statt des chronistischen Verfahrens „für eine pragmatisch-organische Betrachtung der Geschichte“ ein. Tatsächlich grenzt Schleiermacher eben Pragmatik und Organik gegeneinander ab. 19  Zur Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 (KGA II/6, S.  5 ) 20  Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  179 (hg. Sachs, S.  167 f.). – Vgl. z. B. Heinrich Philipp Konrad Henke: Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche nach der Zeitfolge, Band 1, 4.  Aufl., Braunschweig 1800, S.  21: „Daß aber eine ursprünglich so unbedeutende

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B.  Systematischer Teil

Im Kolleg von 1806 vergleicht Schleiermacher das Verhältnis seiner „wahren“ Ansicht zur chronistischen und pragmatischen mit dem Verhältnis der „organischen Potenz“ zur mechanischen und chemischen.21 Mechanische Einwirkungen und chronistisch aufgezeichnete Begebenheiten sind das vergleichsweise Einfachste: Die einzelnen Tatbestände sind klar voneinander abgegrenzt und werden auch so beschrieben. Komplizierter sind Chemie und Pragmatik: Die Wechselwirkungen verschiedener Substanzen bzw. Motive untereinander sind im Einzelnen nicht vorhersehbar und lassen sich erst beschreiben, wenn das Experiment durchgeführt und das Ergebnis eingetreten ist.22 Bei der organischen Potenz schließlich handelt es sich darum, daß ein Keim sich entwickelt: Schon im ersten Keim ist die ganze spätere Pflanze vorhanden, und doch bedarf sie der Entwicklung, damit das im Keim Angelegte Wirklichkeit wird. Der Gang dieser Entwicklung ist im Keim zwar schon enthalten, aber nicht so prädestiniert, daß er im Voraus zu konstruieren wäre. Andererseits ist die Pflanze nicht einfach das Produkt von Boden, Wind und Wetter; wenn auch äußere Faktoren ihre wirkliche Gestalt mitbestimmen, ist doch entscheidend, was in ihr am Anfang zur Entfaltung angelegt ist.23 Und schließlich will Schleiermacher wohl auch auf die Analogie hinweisen, die zwischen der Bildung der geschichtlichen Phänomene und dem Werden und Vergehen der Organismen in der Natur besteht, die sich aber eben nur der höheren Sicht auf die Geschichte erschließt. In diesem Sinne hat Friedrich Schlegel die durch keine Zufälle oder künstlichen Eingriffe getrübte schöne, natürlich-organische Regelmäßigkeit in der Entwicklungsgeschichte der griechischen Poesie herausgestellt,24 und für Johann Gottfried Herder folgt die sich durch Umbrüche und Katastrophen voll-

und unbemerkte Begebenheit [gemeint ist das Christentum!] gar bald einen so großen, weltkundigen Fortgang hatte, davon ist die Ursache zwar zunächst in der Geschicklichkeit und dem Eifer derjenigen Personen zu suchen, die sich dabey vorzüglich geschäftig bewiesen; aber auch in der Lage der Sachen, welche sie vorfanden und benutzten, und in dem Zusammentreffen vieler günstigen Umstände der Menschen, unter welchen sie wirkten.“ Vgl. dazu auch Karl Heussi: Die Kirchengeschichtschreibung Johann Lorenz von Mosheims, Geschichtliche Untersuchungen I,4, Gotha 1904, S.  4 0–42. 21  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1. Stunde (KGA II/6, S.  10). Vgl. dazu auch Moretto: Etica, S.  4 05–409. 22  Zu Schleiermachers chemischen und naturwissenschaftlichen Interessen vgl. Ursula Klein: Der Chemiekult der Frühromantik, in: Hg. Andreas Arndt: Wissenschaft und Geselligkeit, Berlin und New York 2009 S.  67–92; Sarah Schmidt: Éthique et physique chez Schleiermacher, in: Archives de Philosophie 77 (2014), S.  301–320, hier 302. 23  Vgl. auch Predigt 160 (7.11.1830) über Phil 1,6–11 (Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, S.  193; KSP 3, S.  137): Alles in der geistigen Welt besteht nur fort durch die Kräfte, denen es auch seinen Ursprung verdankt. 24  Friedrich Schlegel: Die Griechen und Römer, Band 1, Neustrelitz 1797 (Kritische Ausgabe 1, S.  293. 305–308)

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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ziehende Entwicklung der Menschheit von der Rohheit zur Humanität den Gesetzen der sich stets verändernden unbelebten und belebten Natur.25 In den späteren Entwürfen grenzt Schleiermacher seine Auffassung schließlich auch von einem rein spekulativen Verfahren ab, das die Grundlagen, das Ziel und die wirksamen Ideen und Kräfte der Geschichte a priori konstruieren will, so aber nie zur äußeren Geschichte vordringt.26 Johann Gottlieb Fichtes „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“, „die erste idealistische Konstruktion des Geschichtsprozesses als eines Ganzen, das nach erschaubaren Werdegesetzen durch zielgerichtete Freiheit mit schöpferischer Lebendigkeit sich vollzieht“,27

bedachte Schleiermacher deshalb mit einer geradezu höhnischen Rezension; 28 in einem Brief nannte er sie ekelhaft.29

3.2.  Geschichte und Ethik Schleiermacher war nicht der Einzige seiner Zeit, der mit der pragmatischen Geschichtsschreibung unzufrieden war und ihr entgegenhielt, die Darstellung der Geschichte bestehe in der Zusammenschau der zeitlichen Erscheinungen mit einem idealen Inhalt und müsse ein Kunstwerk sein. Auch andere gebrauchten das Bild vom Organismus für die wechselseitige Durchdringung von Idee und Wirklichkeit in der Geschichte; 30 Schleiermachers Unterscheidung von 25  Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Band 3, Riga 1787, Buch 15 (Sämmtliche Werke 14, S.  204–252) 26  Kirchengeschichte 1821/22, 1. Stunde (KGA II/6, S.  471); Kurze Darstellung 2 , §  255 (KGA I/6, S.  415); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  32 (hg. Sachs, S.  34 f.). Schon Anfang 1806 schrieb Schleiermacher seiner Rügener Freundin (und späteren Schwägerin) Charlotte von Kathen über den jungen ästhetischen Schriftsteller Johann Erichson: „Mir erscheint er als ein ohne Rettung verlorener Mensch von einem recht tiefen Verderben ergriffen, […] der in Idee und Speculation leben will und es doch nicht herzhaft angreift in Geschichte und Natur hineinzusehn und tüchtig zu lernen, sondern mit verschlossenen Augen Alles in sich und aus sich ergrübeln will“ (Brief 2124 [17.1.1806] an Charlotte von Kathen, KGA V/8, S.  437). – Vgl. dazu auch Moretto: Etica, S.  345–348. 27  Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 4, Gütersloh 1952, S.  4 02 28  Rezension zu J. G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1806, in: Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 4 (1807), Band 1, Nr.  18–20 (21.–23.1.), Sp.  137–160, hier 137–140. 143. 145–149. 155 (KGA I/5, S.  122. 124 f. 129. 131–136. 144). Vgl. z. B. Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1806, S.  3 –11 (Akademie-Ausgabe I/8, S.  196–199). 29  Brief 2392 (12.1.1807) an Friedrich von Raumer (KGA V/9, S.  310) 30 Vgl. Albert Poetzsch: Studien zur frühromantischen Politik und Geschichtsauffassung, Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte 3, Leipzig 1907, S.  96–111; Klaus Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794–1808), Studien zur deutschen Litera-

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mechanischer, chemischer und organischer Potenz erinnert an den Dreischritt Friedrich Schillers und Friedrich Creuzers, nach denen der Historiker von den Einzelheiten ausgeht und sie zuerst kausal, dann ideal miteinander verknüpft. 31 Schleiermachers höhere Sicht der Geschichte dürfte besonders von Schelling beeinflußt sein. Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums hat Schleiermacher für die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung rezensiert und zu diesem Zweck 1803/04 durchstudiert.32 Für Schelling ist die notwendige Voraussetzung jeglicher Wissenschaft die Annahme eines Absoluten, einer obersten Einheit und Identität des Idealen und des Realen; diesem entspricht das Urwissen, das an sich selbst unbedingte, ungeteilte Wissen dieses Absoluten, Inbegriff alles Wissens und aller Wissenschaft vor deren Spaltung in die Idealität und die Realität und in die verschiedenen Zweige der Erkenntnis und Wissenschaft.33 Im System der Wissenschaften stellt Schelling der Philosophie als der idealen Darstellung des Urwissens die realen Wissenschaften gegenüber, die beschrieben, wie die Ideen als Geschichte und äußere Organismen real würden. Das Absolute objektiviere sich als Natur und als Intelligenz, und so seinen die realen Wissenschaften zunächst die Naturwissenschaft und die Geistes- oder Geschichtswissenschaft. Erst die Kunst aber bewirke die vollkommene Ineinsbildung des Idealen und Realen, des Subjekts und des Objekts, und erst durch sie werde die Philosophie in ihrer Totalität objektiviert. – Da nun aber der Staat als allgemeinster der Organismen, in denen sich die Ideen äußerlich realisierten, die Wissenschaft organisiert, und zwar in den bekannten vier Fakultäten, muß auch der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin ihr Ort zugewiesen werden. Die Theologie als dritte reale Wissenschaft, die Wissenschaft vom absoluten göttlichen Wesen, wird am Indifferenzpunkt von Natur und Intelligenz lokalisiert. Die Jurisprudenz wiederum wird der Geistes- und Geschichtswissenschaft zugeschlagen, die Medizin der Naturwissenschaft: Sie seien jeweils das Positive in der Geschichte und der Naturwissenschaft.34 Schleiermacher kritisiert, daß Schelling das innere System des Wissens und der Wissenschaft nicht von der faktischen Organisation der Wissenschaft in den vier Fakultäten unterscheidet. Er widerspricht namentlich der Einordnung der Theologie unter den realen Wissenschaften: In denen herrschten Trennung und tur 78, Tübingen 1984, S.  48 f.; Stefan Jordan: Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main und New York 1999, S.  146–148. 31  Vgl. dazu insgesamt oben Abschnitt 2.2.2., 2.2.3. und 3.1. und unten Abschnitt 3.5. 32 Vgl. Brief 1612 (14.12.1803) an Carl Gustav von Brinckmann (KGA V/7, S.   154 f.); KGA I/4, S. LXXXV f. 33  Schelling: Vorlesungen, vgl. besonders die 1., 4., 6., 7., 10. und 11. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  215–220. 248–250. 267–270. 281 f. 306 f. 317–319). 34  Schelling: Vorlesungen, besonders die 7. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  279– 285); vgl. z. B. auch die 2., 8. und 10. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  225. 229. 286 f. 306 f.).

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Absonderung, der Indifferenzpunkt von Geist und Natur könne also gar nicht Gegenstand einer realen Wissenschaft sein.35 Doch Schelling wie Schleiermacher unterscheiden zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, rechnen dabei aber mit einer letzten Identität von Natur und Geist (vgl. unten). Und beide ordnen die empirisch-historischen und die spekulativen Wissenschaften einander zu: Die hätten ihren Gegenstand gemeinsam, aber konstruierten ihn auf verschiedene Weise. Auch Schelling weist den historischen Pragmatismus zurück, ebenso wie die rein empirische Naturanschauung und den Dualismus zwischen Subjekt und Objekt.36 Die empirisch-historische Wissenschaft ist also die historische Konstruktion eines idealen Gegenstandes; sie beschreibt die Wirklichkeit als Entwicklung und Realisierung der ihr zugrundeliegenden Idee.37 Schleiermachers System der Wissenschaften kennt als reine Wissenschaften die Dialektik als Wissenschaft vom Wissen und Kunst des Gesprächs und die beiden realen Wissenschaften der Natur und des Geistes, Physik und Ethik ( jeweils im weiteren Sinne). Hinter den Dualismus von Natur und Vernunft kann für Schleiermacher keine Wissenschaft auf eine höhere reale Einheit zurückgehen. – Die beiden realen Wissenschaften teilen sich dann jeweils in einen spekulativen und einen empirischen Teil. Der Ethik (im engeren Sinne) als spekulativer Wissenschaft vom menschlichen Handeln entspricht die Geschichtskunde: Beide beschreiben den Prozeß der Aneignung der Natur durch den Geist, die Ethik mehr deduktiv nach seinen Prinzipien, die Geschichtskunde mehr induktiv nach seiner Wirklichkeit in der Zeit. (Die Identität von Natur und Vernunft ist also keine spekulative höhere Einheit, sondern vielmehr das Ziel des ethisch-vernünftigen Weltprozesses.) 38 So kann Schleiermacher sagen, die 35 Rezension

zu Schelling: Vorlesungen (KGA I/4, S.  461–484). Vgl. Hermann Süskind: Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909, S.  93–98; Andreas Arndt: Schleiermachers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme, in: Archivio di filosofia 52 (1984), S.  103–121, hier 110–113; Jörg Dierken: Das Absolute in den Wissenschaften, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), S.  307– 328, hier 309–319; Ingolf Hübner: Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis, Schleiermacher-Archiv 18, Berlin und New York 1997, S.  79–85. 36  Schelling: Vorlesungen, 6., 8., 10. und 11. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  271– 275. 291 f. 307–309. 319–325) 37 Vgl. Schelling: Vorlesungen, 7. und 10. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  2 80. 306 f.) 38  Ethik 1812/13, Einleitung, §  19–56 (Werke 2, S.  247–252); Neufassung der Einleitung (vermutlich 1813), §  4 0–49 (Werke 2, S.  495–497); Dialektik 1814/15, 29.–30., 33.–34. und 71. Stunde (§  197. 209–213. 341–343) (KGA II/10,1, S.  133. 139–141. 196 f.); Ethik, Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §  1 f. 27–61 (Werke 2, S.  517–520. 526– 537); Dialektik 1822, 43. und 47. Stunde (KGA II/10,1, S.  262; II/10,2, S.  541. 556 f.); Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.  732). Die Ethik der Hallenser Zeit unterscheidet schon zwischen Physik und Ethik, sieht aber noch nicht die Dialektik als eigene Wissenschaft vor (Brouillon zur Ethik 1805/06, 1.–2. und 6.–7. Stunde, Werke 2, S.  79–81. 86 f.; vgl. Andreas Arndt: Schleiermachers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen, in: Hg. ders.: Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807, Berlin und Boston 2013, S.   55–65, hier 58 f. 65). – Vgl. zu Schleiermachers System der Wissenschaften

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B.  Systematischer Teil

Ethik sei die Wissenschaft von den Prinzipien der Geschichte39 und das Formelbuch der Geschichte, die Geschichtskunde wiederum das Bilderbuch der Sittenlehre.40 In der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 faßt Schleiermacher sein System zusammen: „Die Geschichte ist alles das was die Wissenschaft enthält in der Zeit angeschaut. Also die Organisation der Natur als ein Werdendes, Naturgeschichte; die Organisation des Geistes als ein Werdendes Sittengeschichte; die Identität von beiden als ein Werdendes Weltgeschichte. Ihr Wesen ist das Aufgehn der Zeit in der Idee. Also in ihr aller Gegensatz zwischen Empirie und Speculation aufgehoben und volle Beruhigung überall nur in der historischen Ansicht.“41

Geschichte ist hier also zunächst im umfassendsten Sinne gemeint als Inbegriff alles Realen und alles Wissens vom Realen, insofern das Reale als Zeitliches in der Zeit angeschaut wird. Dabei ist es sowohl dem Wissen vom Realen als auch dem Realen selbst wesentlich, daß kraft der geschichtlichen Entwicklung der Zwiespalt zwischen Natur und Vernunft, zwischen Idee und Wirklichkeit und zwischen spekulativem und empirischem Wissen schließlich aufgehoben wird.42 – Eigenartig ist, daß Schleiermacher statt der Zweiteilung der realen Wissenschaft eine Dreiteilung andeutet (Naturgeschichte, Sittengeschichte und Weltgeschichte). Das könnte so gemeint sein, als gäbe es jenseits dessen, was Schleiermacher sonst Ethik und Geschichte nennt, also der Beschreibung, wie der Geist sich die Natur aneignet (hier Weltgeschichte), noch eine Wissenschaft, die die Organisation des Geistes abgesehen von diesem Aneignungsprozeß darstellt (Sittengeschichte). Doch wahrscheinlich ist hier mit Weltgeschichte die oberste Identität zwischen Geist und Natur gemeint, der Inbegriff und das Ineinsfallen alles natürlichen und geistig-ethischen Wissens, aber eben nicht als Gehalt anHans-Joachim Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, Theologische Bibliothek Töpelmann 8, Berlin-West 1964, S.  30–39; Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späten Schleiermacher, Beiträge zur historischen Theologie 53, Tübingen 1977, S.  7–24; Eilert Herms: Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 73 (1976), S.  471–523; Dierken: Das Absolute, S.  319–327; Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen, Quellen und Studien zur Philosophie 67, Berlin und New York 2005, S.  324–343. 39 Kurze Darstellung 2 , §   35 (KGA I/6, S.  339). Vgl. Ethik 1812/13, Einleitung, §  50 (Werke 2, S.  251); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  28 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  35 (hg. Sachs, S.  39). 40 Ethik, Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §   108 (Werke 2, S.  549). Vgl. dazu Friedrich Jacob: Geschichte und Welt in Schleiermachers Theologie, Theologische Arbeiten 24, Berlin-Ost 1967, S.  12 f. 114 f.; Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte, Göttinger theologische Arbeiten 14, Göttingen 1980, S.  12–15. 181 f. 41  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1. Stunde (KGA II/6, S.  10) 42 Vgl. Jursch: Schleiermacher 1, S.  59–61; Wilhelm Pauck: Schleiermacher’s Conception of History and Church History, in: Journal for Theology and the Church 7 (1970), S.  41–67, hier 44–46.

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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geschaut, sondern als Verwirklichung in der Zeit.43 Damit ist Weltgeschichte die Vereinigung und Krönung alles sonst getrennten Wissens aus Natur und Geisteswelt.44

3.3.  Religion und Kirche Das organische Verfahren ist nun auch für eine Geschichte des Christentums unerläßlich.45 Werde die Kirchengeschichte ohne die Einheit zwischen Spekulation und Empirie behandelt, so legt Schleiermacher es in der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 dar, dann entstehe ein Zwiespalt auch zwischen der theologischen Wissenschaft und dem kirchlichen Leben, der für beide Seiten verheerend sei: Die Praktiker interessierten sich nicht mehr für die Dogmatik, den Gelehrten werde der praktisch-empirische Zweck der Kirchenleitung gleichgültig, die gebildeten Laien fingen an, das kirchliche Leben zu verachten und zögen sich in eine reine Innerlichkeit zurück, und die, die die Kirche nur für einen Kulturträger hielten, sähen den Zweck der Kirche für bald erfüllt an und meinten, die Kirche selbst könne dann auch auf hören. Ohne die Einheit mit dem jeweils anderen verlören in der Kirche sowohl die wissenschaftliche Theologie als auch die Praxis ihren Halt, denn keine könne ohne die andere sein.46 43 Vgl. Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  188 f.; Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Erträge der Forschung 217, Darmstadt 1984, S.  77. Die Übereinstimmung des Sittengesetzes mit dem Naturgesetz nennt Schleiermacher in der Dialektik „Weltordnung“ (Dialektik 1822, 50. Stunde, KGA II/10,1, S.  264 f.; II/10,2, S.  564). 44  In diesem Sinne heißt es auch, der Geschichtssinn sei die vollständige Ineinanderbildung der Selbstbetrachtung und der Weltbetrachtung, und diejenige Religion, der diese höchste Anschauung zugrunde liege, sei das Christentum mit seiner Idee des Reiches Gottes (Ueber die Religion, 3.  Aufl., Berlin 1821, S.  248 [Erläuterung 5 zur 3. Rede], KGA I/12, S.  179). 45  Vgl. Kurze Darstellung 2 , §  27. 32 (KGA I/6, S.  336. 338); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  32 (hg. Sachs, S.  34 f.): Die historische Theologie müsse jeden Zeitpunkt in seinem wahren Verhältnis zur Idee des Christentums darstellen; das Wesen des Christentum lasse sich weder rein wissenschaftlich (d. h. spekulativ) konstruieren noch bloß empirisch auffassen. 46  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3. Stunde (KGA II/6, S.  11 f.); vgl. Kurze Darstellung 2, §  9 –12. 258 (KGA I/6, S.  329 f. 417). Dasselbe Problem, daß nämlich theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis (und hier auch die Verhandlungen der ökumenischen Diplomatie) zum Nachteil aller unverbunden nebeneinander hergehen, stellt für die Gegenwart Paul Metzger: Alte Probleme und neue Fronten in der Ökumene, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 62 (2011), S.  1–3, hier 1, fest: „Die alten Probleme und die abstrakt geführten Dialoge leiden demnach unter demselben Phänomen, das die Theologie als Wissenschaft insgesamt betrifft. Während z. B. die Erkenntnisse von Rudolf Bultmann in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch gesellschaftliche Wirkungen entfalteten und Diskussionen – zumindest innerhalb der Kirche – herausforderten, etwa die Debatte um die sogenannte ‚Entmythologisierung‘ der biblischen Texte, so erreicht die theo­ logische Forschung gegenwärtig kaum noch Kirche und Gesellschaft. Dies allein der Aus­

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B.  Systematischer Teil

Die Ethik ist bei Schleiermacher der spekulative Inbegriff der Geschichte überhaupt, sie umfaßt als theoretisches Schema alle menschliche Vernunfttätigkeit, alles vernünftige Erkennen der Natur und Einwirken auf die Natur. Die innere Seite einer organischen Geschichte, also die Idee, deren zeitliche Verwirklichung anschaut wird, hat immer in der Ethik ihren Ort (wenn sie auch als Individualität nicht aus dem Schema der Ethik konstruierbar ist). Auch eine organische Geschichte des Christentums muß sich fortwährend auf ethische Sätze beziehen.47 Zur Weltgeschichte gehört die Entwicklung des Christentums freilich nur, wenn anders Christentum und Religion nicht widervernünftige Irrtümer sind, die im Fortschreiten der Geschichte verschwinden. Das ist aber natürlich nicht Schleiermachers Meinung.48 In Schleiermachers Ethik ist die Kirche – d. h. zunächst: die Religionsgemeinschaft – eine der vollkommenen ethischen Formen. Die Religion ist für Schleiermacher immer etwas Geselliges: Auf der Grundlage eines gemeinsamen Gefühls treten Menschen zu einem geordneten Aufeinander- und Miteinanderwirken zusammen, eben zu einer Kirchengemeinschaft. Von einer bestimmten Kulturstufe und einem bestimmten Entwicklungsgrad an differenziert sich eine solche Gemeinschaft dann funktional aus nach denen, die dabei vor allem spontan tätig sind, den Klerikern, und denen, die sich überwiegend rezeptiv verhalten, den Laien.49 Unter „Gefühl“ ist dabei das „unmittelbare Selbstbewußtsein“ differenzierung und Spezialisierung der theologischen Wissenschaft anzulasten, greift nicht unbedingt zu kurz, verdeckt aber auch die Beobachtung, dass die Theologie schon lange nicht mehr die Rolle spielt, die sie in früheren Zeiten eingenommen hat.“ 47  Vgl. Kurze Darstellung 2 , §  29 (KGA I/6, S.  337); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  29 (hg. Sachs, S.  29). 48  Vgl. Kurze Darstellung 2 , §  2 2 (KGA I/6, S.  334); dazu Hartmut Burbach: Das ethische Bewußtsein, Göttinger theologische Arbeiten 31, Göttingen 1984, S.  33 f. 113. – In der zweiten Stunde der Kirchengeschichte 1821/22 weist Schleiermacher die „unchristliche weil irreligiöse“ Meinung, die Bildung von Dogma und Verfassung sei eine Korruption, ebenso zurück wie die „antichristliche“ Ansicht, der gute Kern im Christentum, an den sich im Laufe der Geschichte allerlei Böses gehängt habe, seien nur allgemeine Moral und Menschenliebe. Allerdings bezeichnet er diese Meinungen hier nicht als Abweichungen in der Ethik, sondern im Glauben (KGA II/6, S.  22. 471 f.). Im Entwurf der Einleitung zur Kirchengeschichte von 1825/26 notiert Schleiermacher, auch eine Darstellung, die einen Ausgangspunkt a setzt und das Weitere als Entwicklung der zugrundeliegenden Kraft betrachtet, also eine organische Darstellung, eigne sich dann nicht für eine theologische Kirchengeschichte, wenn sie das Christentum oder die Religion überhaupt als Krankheit ansehe (KGA II/6, S.  125). 49  Vgl. Über die Religion1, S.  177–187 (4. Rede) (KGA I/2, S.  2 67–271); Die Weihnachtsfeier, Halle 1806, S.  123–131 (Eduards Rede) (KGA I/5, S.  94–97); Ethik 1812/13, Güterlehre, Vollkommene ethische Formen, §  196–209 (Werke 2, S.  359–361); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  2v. 3); Ueber die Religion 3, S.  311–316 (Erläuterungen 3–6 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  220–223); Christliche Sitte 1828, 6. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  165); Der christliche Glaube2 1, §  6,4 (KGA I/13,1, S.  57 f.); Band 2, Berlin 1831, §  133 (KGA I/13,2, S.  342–346); dazu Wilhelm Gräb: Die sichtbare Darstellung der Versöhnung, in: Hg. Dietrich Korsch und Hartmut Ruddies: Wahrheit und Versöhnung, Gütersloh 1989, S.  232–256, hier 239–244; Konrad Cramer: Die Eine Frömmigkeit und

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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verstanden, das jedem Wissen, Denken und Wollen zugrunde liegt, die vorreflexive Selbstwahrnehmung des Ich als im Zusammenhang des Ganzen stehend. Im Gefühl haben Welt-Anschauung und Frömmigkeit ihren Ort.50 Das Gefühl ist individuell und unübertragbar, es drängt aber zugleich nach außen, zur Mitteilung und zur gemeinschaftlichen Darstellung. Das Mittel für die Darstellung des Gefühls ist die Kunst, und die Gemeinschaft der Darstellung ist, wie gesagt, die Kirche.51 In der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 heißt es: „Das Gefühl, die eine Form unter der sich die Vernunft in der Organisation offen­ bart[,] durchbricht zufolge seiner Natur die Schranken der Persönlichkeit um sich als Eins in Allen darzustellen, durch Bildung eines gemeinsamen Lebens. Dies ist die Kirche. Jede Erregung wird eine gemeinsame; jeder Einzelne verhält sich im Empfinden und im Darstellen als Organ des Ganzen. In der Kirche selbst[,] auch wie sie erscheint[,] ist nichts anderes gegeben als dieses. Denn ihr ostensibles Thun ist Erregung des Gefühls in welchem sich das Verhältniß des Menschen zu Gott ausspricht. Dies ist aber die Totalität aller andern Verhältnisse und ist auch wieder nichts andres als diese Totalität. Jede Empfindung die ursprünglich auf ein einzelnes Verhältniß sich bezieht[,] ist und wird dadurch fromm daß dieses in die Totalität aufgenommen ist.“52

Das Gefühl ist also einerseits die Gestalt, unter der sich die Vernunft in der Vielheit des Ganzen als Einheit offenbart, andererseits der Ort in der menschlichen Subjektivität, wo das Gottesverhältnis seinen Ort hat. Und indem im Gefühl beides zusammenfällt, ist das Gottesverhältnis identisch zu setzen mit der Totalität aller anderen Verhältnisse und sind alle Verhältnisse durch das Ge-

die Vielen Frommen, in: Hg. Niels Jørgen Cappelørn, Richard Crouter, Theodor Jørgensen und Claus-Dieter Osthövener: Schleiermacher und Kierkegaard. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, Schleiermacher-Archiv 21 = Kierkegaard Studies, Monograph Series 11, Berlin und New York 2006, S.  313–334. 50  Über die Religion 2 , S.  4 4–78 (2. Rede) (KGA I/12, S.  43–64); Dialektik 1814/15, 35. Stunde (§  214 f.) (KGA II/10,1, S.  141–143); Ethik, Güterlehre, Letzte Bearbeitung (vermutlich 1816/17), Grundzüge, §  52–54 (Werke 2, S.  589–591); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  14v. 15. 17. 17v); Ueber die Religion 3, S.  181–183. 197 f. (Erläuterungen 5 und 18 zur 2. Rede) (KGA I/12, S.  133 f. 144 f.); Dialektik 1822, 40. und 50.–51. Stunde (KGA II/10,1, S.  253. 265–267; II/10,2, S.  526. 565–571); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), S.  255–284. 481–532, hier 262–269 (1. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  316–321); Psychologie 1830, 42.–45. Stunde (SW III/6, S.  195–216. 520–522); Der christliche Glaube2 1, §  3 –5; 32–35 (KGA I/13,1, S.  19–53. 201–217) 51  Vgl. Brouillon zur Ethik 1805/06, 15.–17. Stunde (Werke 2, S.  97–102); Ethik 1812/13, Güterlehre, Einzelne Ausführung, §  217–251; Vollkommene ethische Formen, §  212 (Werke 2, S.  312–318. 362); Psychologie 1818, 41.–43. Stunde (SW III/6, S.  469–471); Ueber die Religion 3, S.  4 42 (Erläuterung 13 zur 5. Rede) (KGA I/12, S.  308); Christliche Sitte 1828/29, 6. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  165); Der christliche Glaube2 1, §  6,2–4; 15,1 (KGA I/13,1, S.  54–58. 127 f.); dazu Th. Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis, S.  80–90. 52  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 4. Stunde (KGA II/6, S.  12 f.)

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B.  Systematischer Teil

fühl ins Verhältnis zu Gott gesetzt.53 – Schleiermacher will die Menschheitsgeschichte nicht auf die Fortschritte der Wissenschaft und der technischen Naturbeherrschung reduzieren; die religiöse Bildung hat nach ihm zentrale Bedeutung für die geschichtliche Existenz und die Entwicklung der Menschheit.54 Schleiermachers Ethik ordnet das menschlich-vernünftige Einwirken auf die Natur (also den idealen Gehalt der Geschichte) in ein vierfaches Schema ein: Die Vernunft eigne sich die Natur einerseits an, indem sie sie zu ihrem Organ heranbilde, andererseits indem sie sie erkenne und erkennend zu ihrem Symbol mache. Beide Funktionen der Vernunft, die organisierende und die erkennende oder symbolisierende, gebe es dann jeweils unter dem Charakter der Identität oder Allgemeinheit und unter dem Charakter der Individualität.55 Diese große Gewichtung der Individualität ist charakteristisch für Schleiermachers Ethik. Kant und Fichte wirft Schleiermacher vor, daß sie ihre ethischen Systeme als allgemeine, identische Pflichtenlehren konstituierten, ohne zu berücksichtigen, daß sich der Mensch gerade als Individuum ethisch verwirkliche; jeder Mensch 53 Vgl. Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  2 00. – Schleiermachers Theorie vom unmittelbaren Selbstbewußtsein und religiösen Gefühl gehört zu den Hauptgebieten der neueren Schleiermacherforschung, vgl. Th. Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis, S.  50–78. 213–246; Konrad Cramer: Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: Hg. Dietz Lange: Friedrich Schleiermacher 1768–1834, Göttingen 1985, S.   129–162; Jörg Dierken: Das zwiefältige Absolute, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 1 (1994), S.  17–46; ders.: Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, Beiträge zur historischen Theologie 92, Tübingen 1996, S.  339–348. 357–378; Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, Schleiermacher-Archiv 15, Berlin und New York 1994; Peter Grove: Deutungen des Subjekts, Theologische Bibliothek Töpelmann 129, Berlin und New York 2004; Jörg Lauster: Religion as Feeling, in: Hg. Dietrich Korsch und Amber L. Griffioen: Interpreting Religion, Religion in Philosophy and Theology 57, Tübingen 2011, S.  73–84. Ein Problem für das Verständnis ist die Frage, in wiefern das unmittelbare Selbstbewußtsein als Indifferenzpunkt von Denken und Wollen, als apriorische Grundlage und transzendentaler Einheitsgrund des Bewußtseins überhaupt mit dem religiösen Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit als positiv qualifiziertem, von anderen Erlebnissen unterschiedenem Bewußtseinsinhalt identifiziert werden kann. Stehen sie einander als Begriff und Urteil gegenüber, die in einem hermeneutischen Verfahren gegenseitiger Auslegung und Annäherung immer mehr in Übereinstimmung gebracht werden sollen? Ein anderes Problem ist, ob Schleiermacher das religiöse Gefühl als reine Passivität und Rezeptivität denkt, oder ob es auch schon Elemente der deutenden Selbsttätigkeit umfaßt. 54  Vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  29) 55  Vgl. zu Schleiermachers Viererschema der Ethik: Ethik 1812/13, Güterlehre, Einleitung (Werke 2, S.  258–262); Güterlehre, Vorletzte Bearbeitung (vermutlich 1814/15), Einleitung, §  5 –11 (Werke 2, S.  425–427); Güterlehre, Letzte Bearbeitung (vermutlich 1816/17), Einleitung (Werke 2, S.  561–570); Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung (24.6.1830), in: Philosophische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1830, Berlin 1832, S.  21–42, hier 26–31 (KGA I/11, S.  664– 668); dazu Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  39–46; Th. Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis, S.  25–42; Moretto: Etica, S.  370–378; Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1995, S.  35–52. 59–64. 128–132.

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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sei dazu berufen, auf die ihm eigene Art die ganze Menschheit darzustellen. Die ganze Welt sei eine Individuation des Identischen.56 Das eine Viertel in dem ethischen Schema, das individuelle Symbolisieren, machen die künstlerischen und religiösen Äußerungen des Gefühls aus. Sie sind zugleich die individuelle Darstellung der allen gemeinsamen Vernunft, die gemeinsame Darstellung einer individuellen Gestalt des Allgemeinen und die das Ziel des gesamten Vernunftprozesses antizipierende Anschauung des Geist und Natur umfassenden Ganzen. Die Kirche oder Religionsgemeinschaft ist diejenige ethische Form, die der erkennenden oder symbolisierenden Funktion der Vernunft unter dem Charakter der Individualität zugeordnet ist. Im Gegensatz zu den anderen ethischen Formen strebt diese Gemeinschaft über den eigenen Kreis und über die Volksgrenzen hinaus zu einer universalen gemeinsamen Darstellung des Gefühls.57 Die Geschichte der christlichen Kirche gehört also zum historisch-empirischen Gegenstück des individuellen Symbolisierens, zur Religionsgeschichte. Schon in den Reden über die Religion hat Schleiermacher betont, daß nicht nur die Entwicklung der Religion in der Zeit Geschichte sei, sondern daß alle wahre Religion schon ihrem Ursprung nach individuell und geschichtlich-positiv sei, daß sie also nicht auf rein vernünftigem Wege abzuleiten und zu konstruieren sei, sondern nur in der Geschichte vorzufinden. Gegenüber der lebendigen Fülle der geschichtlichen Religion sei die von den Auf klärern gepriesene

56  Monologen, Berlin 1800, S.  35–55 (KGA I/3, S.  16–23); Rezension zu J. G. Fichte: Die Bestimmung des Menschen, Berlin 1800, in: Athenaeum 3, 2. Stück (1800), S.  281–295, hier 286–288 (KGA I/3, S.  240–242); Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1803, S.   83–91. 150–153. 293–296 (KGA I/4, S.   93–99. 137–139. 231  f.); Brief 1612 (14.12.1803) an C. G. von Brinckmann (KGA V/7, S.  157 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  56 f.) 57  Brouillon zur Ethik 1805/06, 58.–64. Stunde (Werke 2, S.  176–190); Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 4. Stunde (KGA II/6, S.  13); Ethik 1812/13, Güterlehre, Einzelne Ausführung, §  204–251; Vollkommene ethische Formen, §  209 (Werke 2, S.  310–318. 361); Güterlehre, Letzte Bearbeitung (vermutlich 1816/17), Einleitung (Werke 2, S.  561–570); Ueber den Begriff des höchsten Gutes, Zweite Abhandlung (KGA I/11, S.  674–677); dazu Hans Reuter: Zu Schleiermachers Idee des „Gesamtlebens“, Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche 21, Berlin 1914, S.  17–29; Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  114 f.; Gräb: Humanität, S.  46–48. 189 f.; Burbach: Das ethische Bewußtsein, S.  34–36. 113–115; Scholtz: Ethik, S.  54–58; Dierken: Das zwiefältige Absolute, S.  33–37. – Zum Problem, ob Schleiermachers ethischer Kirchenbegriff und damit die Güterlehre überhaupt von der empirisch gegebenen christlichen Kirche abhängt, die philosophische Ethik also nicht nur der kultur- und geschichtstheoretische Rahmen ist, in dem das Christentum aufgefaßt und dargestellt wird, sondern seinerseits nur als Theorie unter christlichen Voraussetzungen möglich ist, vgl. Gräb: a.a.O., S.  148 f. 161–179. 207. 210 f.; ders.: Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie bei Schleiermacher, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 54 (2012), S.  240–261, bes. 241 f. 252. 258–260; Bernd-Holger Janssen: Die Inkarnation und das Werden der Menschheit, Marburger theologische Studien 79, Marburg 2003, S.  2 –5.

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B.  Systematischer Teil

natürliche oder Vernunftreligion nur eine matte, moralisierende Abstraktion.58 (Obwohl jede positive Religion ein unableitbarer Neueinsatz ist, kann Schleiermacher aus den verschiedenen Religionen auch eine zusammenhängende Entwicklungsgeschichte konstruieren, an deren Spitze das Christentum steht.59 ) Die christliche Religion hängt aber nicht nur insofern mit der Geschichte zusammen, als sie – wie alle Religion – Teil der ethisch-vernünftigen Weltentwicklung ist und einen geschichtlich-positiven Ursprung hat; sie gehört auch zu den Vernunftreligionen, d. h. zu denjenigen Religionen, die zwar nicht auf spekulativem Weg konstruierbar sind, bei denen aber die ethisch-geschichtliche, vernünftige Welt (und eben nicht die Natur) der Hauptgegenstand der frommen Weltanschauung und des Gefühls ist.60

3.4.  Geschichte des Christentums Ist nun die Geschichte des Christentums lediglich ein Teil und Ausschnitt von etwas Größerem, Übergeordnetem (also etwa der Geschichte der Religionen insgesamt), oder ist sie ein eigener Teil, ein „organisches, eigenthümliches Element“61 der Geschichte? Oder anders ausgedrückt: Ist die Geschichte des Christentums eine in sich selbst abgeschlossene Entwicklung hin zum höchsten Gut, zum Ziel der Geschichte? Dieses Problem hat Schleiermacher wiederholt erörtert. Während seine Zeitgenossen die Geschichte des Christentums oft wirklich als Ausschnitt aus der Religionsgeschichte ansahen,62 hat Schleiermacher sich bemüht, die Eigenständigkeit der Kirchengeschichte nachzuweisen. 58  Über

die Religion1, S.  99 f. 242–244. 282 (2. und 5. Rede) (KGA I/2, S.  232 f. 296 f. 313). Vgl. z. B. Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Band 1, Berlin 1821, §  20,2 (KGA I/7,1, S.  79–81); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  503–506 (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  360–363); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 10 f.). 59  Der christliche Glaube2 1, §  7 f. (KGA I/13,1, S.  6 0–73). Vgl. Moretto: Etica, S.  4 04 f., der meint, die größte Schwierigkeit bei Schleiermachers Konzeption der Geschichte sei es, die Originalität der geschichtlichen Individualitäten mit deren gegenseitigem Zusammenhang in Übereinstimmung zu bringen. 60  Ethik 1812/13, Vollkommene ethische Formen, §  2 03 (mit Zusatz von 1816). 226–230 (Werke 2, S.  360. 364 f.); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  23. 23v); Der christliche Glaube1 1, §  16 (KGA I/7,1, S.  54–58). – „Der [christliche] Glaube steht im Verhältnis zur Geschichte, bekommt seinen Inhalt aus ihr und wird von ihr verifiziert.“ (Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  198, Übersetzung: Simon Gerber). 61  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 4. Stunde (KGA II/6, S.  12) 62  So etwa Johann August Nösselt: Anweisung zur Bildung angehender Theologen, 2.  Aufl., Band 2, Halle 1791, S.  101 f.; Henke: Allgemeine Geschichte 14, S.  1. 4 f.; Carl Friedrich Stäudlin: Kirchliche Geographie und Statistik, Band 1, Tübingen 1804, S. IV f. 4–8; ders.: Universalgeschichte der christlichen Kirche, 3.  Aufl., Hannover 1821, S.  2 f. Daß man die historische Theologie des Christentums als eigenes Fach betreibt, beruht nach Nösselt und Stäudlin nur darauf, daß das Gebiet der gesamten Religionsgeschichte uferlos und noch vielfach unbekannt sei.

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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3.4.1.  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 In der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 begründet es Schleiermacher mit der ethischen Idee der Kirche, daß die Geschichte des Christentums, unbeschadet dessen, daß in der Geschichte alles untrennbar eins und ein Organismus sei, sich doch als ein eigenes „System der Lebensaction“ absondern und für sich betrachten lasse. Empirisch gesehen sei die christliche Kirche nichts als eben ein Verein der Christen zur Erhaltung ihrer Religiosität, und beides, Religiosität und die Vereinigung, erscheine als etwas Zufälliges. Ethisch betrachtet aber sei das religiöse Gefühl eine Form der Vernunft, und es strebe auch immer nach Gemeinschaft und gemeinsamer Darstellung, eben nach einer Kirche. Insofern sei also die Kirche ein notwendiges Element in der Entwicklung des menschlichen Geistes. Als das, was Schleiermacher später eine „vollkommene ethische Form“ nannte, sei die Kirche oder Religionsgemeinschaft aber erst mit dem Christentum hervorgetreten; erst die christliche Kirche sei nämlich eine von den anderen ethischen Formen, insbesondere vom Staat, unabhängige, übergreifende Religionsgemeinschaft, eine Kirche im vollen Sinne geworden.63 Die Geschichte der christlichen Kirche ist also darum kein untergeordneter, organisch unselbständiger Teil der Religionsgeschichte, weil erst die christliche Kirche dem ethischen Begriff der Kirche ganz entspricht und somit erst die Geschichte der christlichen Kirche eigentlich Religionsgeschichte ist.64 Freilich ist damit nur ein Teil des Beweises erbracht: Wenn auch die eigentliche Religionsgeschichte erst mit dem Christentum anfängt, so heißt das ja noch nicht, daß sie sich nicht in einer noch vollkommeneren Form als der christlichen Kirche fortsetzt. Schleiermacher zeigt sich in diesem genialen frühen Entwurf noch stärker von Schelling und vom frühromantischen Diskurs beeinflußt. Für Schelling unterscheidet sich die höhere Sicht der Geschichte von der Pragmatik gerade dadurch, daß der Betrachter in ihr frei wird von seiner Subjektivität und die Geschichte stattdessen in der höheren Notwendigkeit der ihr innewohnenden Idee anschaut.65 In diesem Sinne fordert Schleiermacher, die Kirchengeschichte

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Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3.–4. Stunde (KGA II/6, S.  11–13) die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 stützt also die These von Bernd-Holger Janssen: Die Inkarnation, S.  2 –5 und passim, daß Schleiermachers philosophisch-ethische Güterlehre mit ihrem Religions- und Kirchenbegriff das historisch-soziologische Phänomen der christlichen Kirche bereits voraussetze und von ihm her konstruiert sei; Janssen hat diesen Text aber nicht in seine Untersuchung einbezogen. – Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, S.  247, meint, daß im Kirchenverständnis der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 noch das Konzept aus der fünften Rede „Über die Religion“ (1.  Aufl., S.  309–312, KGA I/2, S.  325 f.) nachwirkt, wonach das Christentum die „Religion der Religionen“ ist. 65  Schelling: Vorlesungen, 10. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.   309–311). Vgl. auch oben Abschnitt 2.2.3. und 3.1. und unten Abschnitt 3.5. 64  Gerade

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vom „höheren Standpunkt der Geschichte“ aus zu behandeln.66 Er unterscheidet nicht wie sonst zwischen einer geschichtstheoretischen (ethisch-religionsphilosophischen) Außenperspektive auf das Christentum und einer christlichen Binnenperspektive,67 sondern betrachtet die Religion ganz vom allgemeinen ethischen Standpunkt aus. Es ist auch die Zeit der Hallenser philosophischen Ethik, in der Schleiermacher sagt, Religion und Kunst seien im Grunde identisch, die Kunst sei ethisch betrachtet nichts anderes als das Äußerlichwerden des religiösen Gefühls.68 Religion und Kunst werden also als die innere und die äußere Seite des individuellen Gefühls aufgefaßt; das ganze, der Religionstheorie und Ästhetik gemeinsame Gebiet wird, ohne auf die Standpunkte der unterschiedlichen Religionen einzugehen, rein von der allgemeinen Geschichts­theo­ rie aus dargestellt.

3.4.2.  Kurze Darstellung des theologischen Studiums Die Kurze Darstellung des theologischen Studiums von 1811 hat direkte Ableitung der Geschichte des Christentums aus der philosophischen Ethik aufgegeben. Sie bleibt zwar dabei, daß die Stiftung und das Bestehen religiöser Vereine für die Ethik ein „nothwendiges Element in der Entwikkelung des Menschen“ sei,69 stellt es dabei aber als zwei mögliche Auffassungen nebeneinander, die Geschichte des Christentums als „eine einzelne Periode in der Religionsgeschichte überhaupt“ darzustellen oder auch als „ein eignes geschichtliches Ganzes“.70 Die historische Theologie kann für Schleiermacher zwar nur die zweite Auffassung haben, also die geschichtliche Entwicklung des Christentums als etwas Eigenes ansehen; aber dies wird nicht mit der ethischen Idee der Kirche oder Religionsgemeinschaft begründet, sondern mit dem christlichen Standpunkt, den die historische Theologie notwendig hat.71 Schleiermacher beruft sich darauf, daß die Theologie eine positive Wissenschaft sei, d. h. eine Wissen66 

Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 4. Stunde (KGA II/6, S.  12) z. B. Der christliche Glaube2 1, §  2 (KGA I/13,1, S.  13–19), wonach die Einleitungsparagraphen der Glaubenslehre einen anderen Standpunkt einnehmen müssen als die materiale Darstellung der christlichen Glaubenssätze. 68  Brouillon zur Ethik 1805/06, 16. Stunde (Werke 2, S.  98–100) 69  Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811, Einleitung, §  23 (KGA I/6, S.  252) 70  Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Einleitung, §  8 f. (KGA I/6, S.  2 66). Vgl. Kurze Darstellung 2, §  78 f. (KGA I/6, S.  356 f.): Jedes kleinere geschichtliche Ganze könne in seinem Hervortreten als „Entstehen eines neuen noch nicht dagewesenen“ oder als „Ausbildung eines schon irgendwie vorhandenen“ angesehen werden; der „Verlauf des Christenthums“ könne also behandelt werden als „eine einzelne Periode eines Zweiges der religiösen Entwiklung“ oder als „ein besonderes geschichtliches Ganzes, das als ein neues entsteht, und abgeschlossen für sich […] verläuft“. 71  Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Einleitung, §  10 (KGA I/6, S.  2 66). Zu den Aufgaben der Apologetik gehört es, diesen Anspruch des Christentums auf geschichtliche Eigenständigkeit anhand der Entstehung des Christentums zu begründen, vgl. Philoso67  Vgl.

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schaft, die Elemente anderer (reiner, kritischer oder technischer) Wissenschaften zur Lösung einer praktischen Aufgabe, hier der Kirchenleitung, vereinigt. Ohne das kirchenleitende Interesse, ohne den christlichen Zweck fällt die positive Wissenschaft Theologie in ihre Bestandteile auseinander,72 und das heißt in unserem Falle: ohne das fallen die kirchengeschichtlichen Kenntnisse der allgemeinen Geschichtswissenschaft anheim.73 Erst das kirchenleitende Interesse konstituiert die Geschichte des Christentums als Disziplin, denn für die Kirchenleitung bedarf es einer Kenntnis dessen, was man zu leiten hat, der Kirche, und diese ist eben ein geschichtlicher Gegenstand.74 Die notwendige Kenntnis beschränkt sich nicht auf die der christlichen Kirche vorgegebenen Normen, auf Schrift und Dogma; die Normen sind für Schleiermacher weniger ein Gegenüber zur geschichtlichen Wirklichkeit der Kirche als vielmehr selbst Teil dieser Wirklichkeit.75 – Die zweite Auflage der Kurzen Darstellung fügt noch hinzu, daß Studium und Behandlungsweise bei einer historisch-theologischen und bei einer allgemein geschichtskundlichen Behandlung je nach dem Zweck zwar verschieden seien, daß aber die „Masse von Thatsachen“ aus der inneren Seite der neueren Geschichte selbst ebenso dieselbe sei wie auch die Grundsätze phische Theologie, Grundsätze der Apologetik, §  5 (KGA I/6, S.  260); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  45. 80 (hg. Sachs, S.  51 f. 84). 72  Kurze Darstellung1, Einleitung, §  1–5 (KGA I/6, S.  249). Zum Konzept der positiven Wissenschaft vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  50–52; ders.: Schleiermacher-Studien, hg. von Hermann Fischer, Schleiermacher-Archiv 16, Berlin und New York 1996, S.  291–294; Ebbrecht: Theologie 1, S.  162–215. 2, S.  93–119; Gräb: Humanität, S.  64–75. 193 f.; Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Schleiermacher-Archiv 14, Berlin und New York 1994, S.  4 4–64. 73  Kurze Darstellung1, Einleitung, §  6 (KGA I/6, S.  250). – Vgl. auch Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1. Stunde (KGA II/6, S.  9 ): „Um aber der KirchenGeschichte ihren recht Plaz anzuweisen müssen wir sie erst unter der Idee der Geschichte überhaupt betrachten. Alle theologischen Wissenschaften wurzeln so in einem andern Gebiet; ihre Einheit ist nur die religiöse Beziehung.“ Ebd., 3. Stunde (KGA II/6, S.  12): „Denn die theologische Gelehrsamkeit wird nur zusammengehalten in Bezug auf die Kirche.“ 74  Kurze Darstellung1, Einleitung, §   33 f.; Historische Theologie, Einleitung, §  3 (KGA I/6, S.  254. 265) 75  Insofern kann Schleiermacher in der Praktischen Theologie sagen, die Kompetenz des Klerikers gegenüber dem Laien bestehe eben in seiner geschichtlichen Kenntnis der Kirche und der sich daraus ergebenden Urteilskraft (Praktische Theologie 1821/22, Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  59v. 93v). Eckehart Stöve: Kirchengeschichte zwischen geschichtlicher Kontinuität und geschichtlicher Relativität, Band 1, Heidelberg 1978, S.  134–136; Band 2, Heidelberg 1978, S.  115–117, stellt sie Sache falsch dar: Schleiermacher habe einfach den Fächerkanon des 18. Jahrhunderts fortgeschrieben und die theologische Wissenschaft von der realen Kirche und ihren praktischen Bedürfnissen gelöst. – Daß die Kenntnis und wissenschaftliche Erforschung der Geschichte des Christentums für die Leitung der christlichen Kirche notwendig sei, hatte Schleiermacher auch schon in der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 betont, hatte damit aber nicht begründet, daß es im Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen eine historische Theologie geben müsse, sondern daß für die historische Theologie die organische Geschichtsschau als Einheit von Spekulation und Empirie unerläßlich sei (Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3. Stunde, KGA II/6, S.  11 f., vgl. oben Abschnitt 3.1.).

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der geschichtlichen Forschung.76 Auch das Interesse der Kirche und der Frömmigkeit entrücken die Geschichte des Christentums nicht in eine übernatürliche, der geschichtlichen Forschung unzugängliche Sphäre. Die historische Theologie, die Erforschung und Darstellung des Christentums als eines historisch-soziologischen Phänomens, ist der „eigentliche Körper des gesammten theologischen Studiums“.77 Ihr zugrunde liegt die philosophische Theologie; sie stellt den Zusammenhang zur reinen Wissenschaft (vgl. oben Abschnitt 3.2.) her, indem sie die den Ort des Christentums innerhalb der Religionsgeschichte und der menschlichen Kulturtätigkeit überhaupt bestimmt, dabei aber Christentum und Kirche eben nicht a priori aus der Idee des Wissens konstruiert – die Gestalt Christi und das Christentum als positive Religion gehören eben in den Bereich der Geschichte und der Individualität – und die daher das Materiale der historischen Theologie auch immer schon voraussetzt.78 Aus der historischen Theologie folgt schließlich die Praktische Theologie als technische Wissenschaft, deren praktischer Endzweck aber umgekehrt auch für die philosophische und historische Theologie konstitutiv ist.79

3.4.3.  Kirchengeschichte 1821/22 Die Einleitung der Kirchengeschichte von 1821/22 rekurriert nicht explizit auf die Ethik und die Weltgeschichte. Das Kolleg wurde in zeitlicher Nachbarschaft zur ersten Auflage der Glaubenslehre, zur Dialektik von 1822 und zur christlichen Sitte von 1822/23 gehalten, die alle die Eigenständigkeit des christlichen Glaubens und der Religion überhaupt gegenüber dem philosophischen System betonen.80 Dies scheint auch hier Schleiermachers Intention zu sein. Das philosophisch-ethische Geschichts- und Religionsverständnis bleibt freilich die kate76  Kurze Darstellung 2 , §  69 f. (KGA I/6, S.  353 f.). Vgl. Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §  50–52 (KGA I/6, S.  287), wonach das wissenschaftlich-historische und das praktisch-kirchenleitende Interesse einander beim Studium der Geschichte des Christentums nicht gegenseitig in den Weg treten können. Vgl. auch unten Abschnitt 5.2. zur historischen Kritik. 77  Kurze Darstellung1, Einleitung, §  36 (KGA I/6, S.  254) 78 Kurze Darstellung1, Philosophische Theologie, Schluß, §   2; Historische Theologie, Schluß, §  6 –12 (KGA I/6, S.  264. 298 f.); vgl. Ethik 1812/13, Vollkommene ethische Formen, §  231 (Werke 2, S.  365); Der christliche Glaube2 1, §  2 ,2 (KGA I/13,1, S.  15–18); Theo­ logische Enzyklopädie 1831/32, §  24. 65 (hg. Sachs, S.  23 f. 69); dazu Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  180–185; ders.: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis, S.  206– 212; Rössler: Schleiermachers Programm, S.  65–67. 79–81. 135 f.; Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, Beiträge zur historischen Theologie 96, Tübingen 1996, S.  110–123. 79 Diesen Zusammenhang hat Schleiermacher auch in der Praktischen Theologie ausführlich dargestellt, vgl. Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 29–42). 80  Der christliche Glaube1 1, §  1,4; 2,2; 31,1; 38 (KGA I/7,1, S.  12. 15 f. 109–112. 127 f.); Dialektik 1822, 50.–51. Stunde (KGA II/10,1, S.  265–267; II/10,2, S.  565–571); Christliche

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goriale Grundlage der Anschauung; aber besonders gegenüber dem identitätsphilosophischen Entwurf von 1806, für den sich die der Kirchengeschichte wie auch der Geschichte überhaupt zugrundeliegende Idee aus der Geschichte selbst erschließt und in künstlerischer Intuition erfaßt und dargestellt wird, ist Schleiermachers Ansatz nun stärker positiv und subjektiv.81 Herder, Schelling und andere hatten als Antwort auf die Pragmatik gefordert, sich über alle subjektiven Maßstäbe und Interessen zur Idee der Geschichte aufzuschwingen. Dieses Ideal scheint Schleiermacher jetzt aufgegeben zu haben: Die höhere Geschichtsschau ist nicht mehr die über alle Individualität und Subjektivität erhobene Anschauung, sondern die Vermittlung zwischen Wirklichkeit und ethischer Idee. Die geschichtliche Ansicht hänge immer vom Glauben ab, sagt Schleiermacher, und nicht umgekehrt der Glaube von der Geschichtsbetrachtung; das sei in der Religionsgeschichte noch stärker der Fall als in der politischen Geschichte. Wer dem Christentum ganz fern stehe, der sei wegen seiner Gleichgültigkeit gegen den Gegenstand nicht geschickt, die Geschichte des Christentums darzustellen; wer aber im christlichen Glauben stehe, sei mit seinen Sympathien und Antipathien immer auch in den innerchristlichen Gegensätzen befangen und fasse die Geschichte dementsprechend auf. Erst in der Vollendung werde es ein allumfassendes, nicht mehr umstrittenes Christentum ohne Gegensätze geben, und erst dann sei eine unparteiische, „vollkommen wahrhafte Geschichte des Christenthums“ möglich. Daher müsse man bei einer Darstellung der Kirchengeschichte zuerst immer den Standpunkt des Darstellenden kennenlernen, und im Gegensatz zu vielen Kollegen wolle er, Schleiermacher, damit auch nicht hinter dem Berg halten. Sein Glaubensbekenntnis sei: 1) Christus sei nicht ein Fortsetzer außerchristlicher Anfänge im Judentum oder im Heidentum; das Christentum fange erst mit dem an, was in Christus als Ursprüngliches gesetzt gewesen sei. 2) Dieses Ursprüngliche in Christus sei etwas Göttliches, eine neue Offenbarung, dazu bestimmt, zum Eigentum der ganzen Menschheit zu werden. Es gebe das Christentum weder vor noch außer Christus.82 Schleiermacher grenzt sich also gegen das alte heilsgeschichtliche Schema ab, wonach die Kirchengeschichte auch die Epoche des alten Bundes umfaßt (vgl. Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  30 f. 75. 87–93). Vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  54–64. 81 Vgl. Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  196–201. 82  Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (KGA II/6, S.  2 2. 471–474). – Vgl. demgegenüber Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, S.  67 (KGA I/4, S.  4 01): „Der Lehrer der Kirchengeschichte muß den Thatsachen treu bleiben, und wäre ein schlechter Lehrer, wenn er sie zum Behuf irgend einer Confession entstellte. Hat man also nur gehörig untersucht, ob er ein ächter Historiker ist und ein tüchtiger Lehrer: so wird die Frage nach seinen eignen Meinungen sehr überflüßig.“ Hier geht es Schleiermacher freilich darum, daß man im Fach Kirchengeschichte die Lehrer nicht nach lutherisch und reformiert scheiden solle, was selbst der freisinnige Karl von Hase noch tut (Karl von Hase: Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Band 1, Leipzig 1885, S.  39–55).

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oben Abschnitt 2.1.4.). Auffällig ist auch Schleiermachers Vorliebe für den Begriff der Offenbarung, den er in der Glaubenslehre eher sparsam verwendet und der in der Einleitung des Kirchengeschichtskollegs von 1825/26 gar nicht vorkommt.83 Aus der (wie gesagt mit dem Kolleg von 1821/22 etwa gleichzeitigen) ersten Auflage der Glaubenslehre erhellt, daß mit Offenbarung – einem Begriff, den Schleiermacher für das „streng dogmatische Gebiet“ für wenig geschickt hält – nicht etwas Übernatürliches, von Gott unmittelbar und außer dem Kausalzusammenhang der Natur Gewirktes, unfehlbar Wahres gemeint ist; Offenbarung meint vielmehr so etwas wie religiöse Originalität. Das Ursprüngliche in Christus ist insofern Offenbarung, als es nicht aus der natürlichen Entwicklung und der gegenseitigen Einwirkung der Menschen aufeinander erklärt werden kann; auch der Ursprung anderer Religionen kann Offenbarung genannt werden.84 Den Gedanken hat Schleiermacher schon in den Reden über die Religion geäußert: „ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen [hier zwischen Judentum und Christentum], ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich“.85

Im weiteren Sinne kann Schleiermacher dann auch die Äußerungen und wechselseitigen Mitteilungen des Gefühls Offenbarung nennen: Eine Offenbarung kann, weil sie auf das Gefühl geht, „nicht anders aufgenommen werden als selbst wieder offenbarend“.86 Schleiermachers Glaubensbekenntnis, das dem Kolleg von 1821/22 zugrunde liegt, meint also keinen exklusiven, übernatürlichen Offenbarungscharakter der christlichen Religion, sondern zweierlei: 1) die religiöse Originalität und 2) die Universalität Christi und der durch ihn gestifteten, auf ihm gründenden Glaubensgemeinschaft; mit Christus beginnt etwas Neues, und dieses Neue, das nur in ihm ist, ist dazu bestimmt, sich über die ganze Menschheit zu verbreiten.87 83 

Kirchengeschichte 1821/22, 2.–3. Stunde (KGA II/6, S.  22. 473–476); vgl. Der christliche Glaube2 1, §  10, Zusatz; 13 (KGA I/13,1, S.  86–93. 106–114). 84 Der christliche Glaube1 1, §   19,2 f. (KGA I/7,1, S.  72–77). Vgl. Über die Religion 2, S.  158 f. (2. Rede) (KGA I/12, S.  114); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  517 f. (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  374–376); Der christliche Glaube2 1, §  13,1 (KGA I/13,1, S.  107–109); dazu Th. Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis, S.  301–308. 322–325; Rössler: Schleiermachers Programm, S.  172–176; Birkner: Schleiermacher-Studien, S.  83–97. 85  Über die Religion1, S.  2 87 (5. Rede); vgl. auch 118–120 (2. Rede) (KGA I/2, S.  240 f. 314). 86  Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde (KGA II/6, S.  474) 87  Vgl. auch polemisch Ueber die Religion 3, S.  4 42 f. (Erläuterung 14 zur 5. Rede) (KGA I/12, S.  309): „Wie aber ein jüdischer Rabbi mit menschenfreundlichen Gesinnungen, etwas sokratischer Moral, einigen Wundern, oder was wenigstens Andre dafür nahmen, und dem Talent artige Gnomen und Parabeln vorzutragen, denn weiter bleibt doch nichts übrig, ja einige Thorheiten wird man ihm nach den andern Evangelisten [scil. den Synoptikern] immer auch noch zu verzeihen haben, wie sage ich, einer der so gewesen, eine solche Wirkung

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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Wenn Schleiermacher beide Sätze als Glaubensbekenntnis bezeichnet, so hält er sie offenbar für nicht allgemein evident.88 Gegenüber dem Entwurf von 1806 betont er jetzt mehr, daß es eine Vergewisserung über die Idee anhand der Geschichte erst in der Zukunft geben werde, wenn die Wirklichkeit ganz von der Idee durchdrungen ist (vgl. dazu auch unten Abschnitt 4.1.). – Die Kirchengeschichte als Disziplin der theologischen Wissenschaft (und ebenso die gesamte historische Theologie) begründet sich rein aus diesem Glaubensbekenntnis: Sie beschreibt seinen Inhalt als Geschichte, die Ausbreitung der in Christus ursprünglich gesetzten göttlichen Offenbarung über die Menschheit.

3.4.4.  Kirchengeschichte 1825/26 Die Kirchengeschichte von 1825/26 eröffnet Schleiermacher mit der Frage, inwiefern sich die Kirchengeschichte als Teil oder Fragment der Weltgeschichte und die Kirchengeschichte als theologische Disziplin mit kirchenleitendem Interesse vereinigen lasse. Beides lasse sich allerdings miteinander vereinbaren, sagt Schleiermacher, und zwar auf der Grundlage des christlichen Glaubens, und da fielen Weltgeschichte und Kirchengeschichte sogar in eins zusammen. Für den Christen stehe es ja außer Zweifel, daß nichts anderes als das Christentum das Ziel der menschlichen Entwicklung sei; alles sei entweder Vorbereitung Christi oder Wirkung Christi und „Organ für das Leben, welches in und durch das Christentum gebildet wird“. Der Unterschied zwischen einer Weltgeschichte aus christlicher Perspektive und einer Kirchengeschichte bestehe dann nur darin, daß die Kirchengeschichte kirchlichen Themen wie der Dogmatik und der praktischen Theologie mehr Gewicht gebe.89 Für die Legitimität einer solchen christlichen Weltgeschichte – die Geschichte als solche sei ja keine theologische Disziplin – weist Schleiermacher darauf hin, daß der höheren, organischen Geschichtsschreibung immer eine Idee zugrunde liege. Wenn etwa für Jean Jacques Rousseau die Kultur keinen Fortschritt, sondern Entfremdung bedeute, wenn der Staat nur als Zusammenschluß zur besseren Wahrnehmung der Eigeninteressen verstanden werde oder auch wie eine neue Religion und Kirche habe hervorbringen können […]: dieß zu begreifen überläßt man uns selbst.“ Ähnlich Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  491 (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  347 f.). 88  Zur philosophischen Theologie, der Apologetik, gehört es, den ersten Satz zu begründen, vgl. Kurze Darstellung 2, §  45 (KGA I/6, S.  343); Der christliche Glaube2 1, §  11,4–12,3 (KGA I/13,1, S.  98–106); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  45. 80 (hg. Sachs, S.  51 f. 84). 89  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  126. 667 f.); vgl. Der christliche Glaube2 2, §  164,2 (KGA I/13,2, S.  496): Der ganze Verlauf der menschlichen Begebenheiten teilt sich durch das Erscheinen Christi in einen Zeitraum der Vorbereitung und einen Zeitraum der Erfüllung. Vgl. dazu auch Wilhelm Maurer: Das Prinzip des Organischen in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: Kerygma und Dogma 8 (1962), S.  265–292, hier 269 f.

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B.  Systematischer Teil

die Religion als Irrweg gelte oder allenfalls als Mittel zur Beförderung der äußeren Sittlichkeit, dann komme immer eine ganz andere Geschichte heraus als das historische „Bilderbuch“ zu Schleiermachers Ethik (vgl. oben Abschnitt 3.2.). Selbst auf christlicher Grundlage gebe es Differenzen: Okzidentalen und Orientalen, Katholiken und Protestanten, Orthodoxe und Neologen, Rationalisten und Supranaturalisten müßten bestimmte Entwicklungen jeweils anders deuten und darstellen.90 Besonders in Zeiten, wo um Lehre und Theologie gestritten werde, spiegelten sich die Kontroversen immer in der Kirchengeschichte wider. Eine neutrale Geschichtsschreibung oder eine erst aus den „reinen Tatsachen“ entwickelte theologische Ansicht gebe es nicht, andererseits aber auch keine fundierte theologische Überzeugung ohne eine Kenntnis der geschichtlichen Ereignisse; vielmehr müsse sich beides in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander entwickeln. Nur der Glaube selbst liege „auf einem tiefern Gebiete als dem wissenschaftlichen“ und hänge weder an der geschichtlichen Kenntnis noch an der theologischen Ansicht.91 Diese Differenzierung zwischen der theologischen Vorstellung und dem Glauben ist neu gegenüber der Vorlesung von 1821/22; sie entspricht aber Schleiermachers Nachordnung von Lehre und Theologie gegenüber der Frömmigkeit. Sein theologisches Glaubensbekenntnis von 1821/22 wiederholt Schleiermacher: Mit Christus beginnt etwas Neues in der Entwicklung der Menschheit, und die Kirchengeschichte beschreibt die Verbreitung dieses neuen Prinzips über die ganze Menschheit.92 Tatsächlich ist Schleiermachers Kirchengeschichte von 1825/26 dann freilich doch keine christliche Weltgeschichte: Nicht die Bedeutung des Christentums für die menschliche Kulturentwicklung insgesamt wolle er darstellen, sagt er, sondern nur „sehen, wie diese Kraft in dem Organismus, den sie aus sich selbst herausgebildet hat, in der christlichen Kirche[,] sich entwikkelt hat“;

90  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  125 f. 668–671). Vgl. auch Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  27 (hg. Sachs, S.  26 f.). 91  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  671–673); vgl. dazu auch den Entwurf der Einleitung (KGA II/6, S.  125 f.): „6. Ob Geschichte aus Ansicht, oder Ansicht aus Geschichte. – Rousseau als politischer Geschichtschreiber. – Goethe vor den Thatsachen des Christenthums. 7. Beides geht zurück auf inneren Zustand. Gleichförmig in Allen nur nach den Geschichten wenn kein Kampf mehr ist. 8. Der meinige beschrieben in der Dogmatik daraus also muß sich das ganze Verfahren bilden.“ – Wilhelm Maurer: Das Prinzip, S.  269, schreibt: „Damit wird die ‚organische Betrachtung der Geschichte‘ unter die Voraussetzung gestellt, daß der Betrachter und die, die er überzeugen will, ‚einen und denselben Glauben haben‘“ (er zitiert Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  670). 92 Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   673. 679). Hier verweist Schleiermacher auch auf seine Dogmatik; vgl. Der christliche Glaube1 1, §  18,1; 22 (KGA I/7,1, S.  61–63. 88 f.).

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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er will sich also auf die Kirche beschränken, auf die der Religion eigene ethische Form.93 Möglich wäre für Schleiermacher beides: eine christliche Weltgeschichte, da sich das Christentum ja über die ganze Menschheit verbreiten und die ganzen menschliche Vernunfttätigkeit durchdringen soll, ebenso wie eine Geschichte der christlichen Kirche, da auch in der Vollendung Religion und Kunst die anderen Bereiche der menschlichen Vernunfttätigkeit nicht aufsaugen und die Kirche die anderen ethischen Formen nicht ablöst.94 Schleiermacher wiederholt also im Wesentlichen den subjektiven, positiven Ansatz von 1821/22. Und während das Kolleg von 1806 bewiesen hat, daß die Kirchengeschichte als Religionsgeschichte ein organischer Teil der Weltgeschichte sei, wird nun die ganze Weltgeschichte aus christlicher Sicht zur Kirchengeschichte.95 Das erinnert – trotz dem Glaubensbekenntnis zu Christi Neuheit und Originalität – dann doch an das vorauf klärerische heilsgeschichtliche Paradigma, wonach die Kirchengeschichte nicht erst mit Christus, sondern mit der Schöpfung beginnt und der ganze Zeitverlauf an der Erscheinung Christi in seiner Mitte orientiert ist (vgl. oben Abschnitt 2.1.4.). – Aber kann man das Christentum zur inneren Mitte der Weltgeschichte machen, obwohl es doch nicht von Anfang an da war? Daß das möglich ist, begründet Schleiermacher damit, daß das Verhältnis des Inneren zum Äußeren ein Zwiefaches sein könne, je nachdem, ob es sich um ein Phänomen der Natur oder der Geschichte handle: Das Innere könne das Äußere erst bilden, das sei so in der natürlichen Erzeugung, oder es könne das Äußere schon vorfinden und es dann durchdringen. Dies Letztere mache die nicht natürliche, sondern ethische, geschichtliche Erzeugung aus, und in diesem Sinne wirke der mit Christus in die Welt gekommene christliche Geist als inneres Zentrum der ethisch-geschichtlichen Welt auf die von ihm schon vorgefundene Menschheit.96 Ohne christliche Überzeugung ließe sich die Geschichte des Christentums natürlich auch erforschen. Nur wäre sie dann entweder Teil eines übergeordneten Gegenstandes wie der Entwicklungsgeschichte der monotheistischen Religionen, oder sie wäre (wie z. B. die Geschichte von Einzelstaaten des alten Deutschen Reiches) ein mehr oder weniger zufälliges Konglomerat von Fragmenten verschiedener Geschichten: der antiken Geistesgeschichte, der Byzantinistik, der europäischen Staaten- und Kulturgeschichte, der Geschichte der mittelalterlichen Philosophie usw. Damit also die Entwicklung der christlichen Kirche ein eigener und abgeschlossener geschichtlicher Gegenstand ist, muß

93 

Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  677 f.) dazu auch Gräb: Humanität, S.  134–136. 167–169. 204; Janssen: Die Inkarnation, S.  318 f. 95 Vgl. Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  198–204. 96  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  678). Vgl. Th. Jørgensen: Schleiermacher, S.  201–203; Gräb: Humanität, S.  145. 206. 94  Vgl.

88

B.  Systematischer Teil

man sowohl die Einzigartigkeit Christi als auch die weltgeschichtliche Notwendigkeit des von ihm gestifteten Organismus anerkennen.97

3.4.5.  Versuch einer Synthese Fassen wir zusammen: 1. Für Schleiermacher wird nur eine organische Anschauung und Darstellung der Geschichte dem Wesen der Geschichte gerecht. Damit das Christentum nun der Gegenstand einer organischen Geschichte sein kann, muß es aufgefaßt werden als ein eigener Teil der menschlichen Geschichte, als ein eigenes, welthistorisch notwendiges Element des ethisch-vernünftigen Wirkens auf die Natur. 2. Daß das Christentum ein solches eigenes Element der Weltgeschichte sei, folgt für Schleiermacher zunächst direkt aus dem Kirchenbegriff der ethischen Güterlehre.98 In den späteren Darstellungen leitet Schleiermacher aus der Ethik nur noch den theoretischen Rahmen für Geschichte des Christentums ab: das menschliche Bedürfnis nach religiöser Offenbarung und die Notwendigkeit und ethische Selbständigkeit einer Gemeinschaft, in der die Religion gelebt wird.99 3. Die der Geschichte des Christentums zugrundeliegenden und in ihr angeschauten Ideen sind also in den späteren Entwürfen keine rein ethisch-wissenschaftlichen Sätze, sondern in der Ethik verankerte, ethisch verantwortete christliche Glaubenssätze.100 Den Übergang von der allgemeinen Geschichtstheorie zum christlichen Standpunkt kann Schleiermacher mit dem Begriff „Offenbarung“ markieren: Offenbarung ist der Einsatzpunkt der originellen und individuellen religiösen Anschauung. Die ist nicht allgemein-wissen­ schaftlich und ethisch abzuleiten oder zu demonstrieren, widerstreitet der allgemeinen Geschichtstheorie aber auch nicht, zu der es ja gehört, daß sich die menschliche Vernunft auch unter der Form des individuellen, religiösen und 97 

Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  678 f.), wo es u. a. heißt: „Unsere ursprüngliche Voraussezung, daß durch Christum ein neues Princip in die menschliche Natur gekommen sei, beruht darauf, daß das nothwendig war, wenn das menschliche Geschlecht seine Bestimmung erreichen sollte. Nämlich das Bedürfniß der menschlichen Natur, durch die Stiftung eines neuen geistigen Gesammtlebens erlöst zu werden, konnte auf zweierlei Weise erfüllt werden, 1) wie es geschehen ist, von einem einzigen Punkte anfangend, oder 2) auf mehreren Punkten ursprünglich, entweder gleichzeitig oder auf einander folgend.“ 98  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3.–4. Stunde (KGA II/6, S.  11–13) 99  Kurze Darstellung1, Einleitung, §  2 3 (KGA I/6, S.  252); Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde (KGA II/6, S.  474); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  679). – Ob der einzigartige Entwurf von 1806 Schleiermachers alleinige Auffassung zu Beginn der Ausarbeitung seines Systems darstellt oder ob er damals auch schon ähnliche Gedanken wie 1811 hatte, wissen wir nicht, solange wir keine Dokumente für die ersten Vorlesungen zur theologischen Enzyklopädie haben. 100  Vgl. zur zunehmenden christlich-religiösen Subjektivität in Schleiermachers Ansatz der Kirchengeschichte auch Simon Gerber: Geschichte und Kirchengeschichte bei Schleiermacher, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 17 (2010), S.  34–55, bes. 53–55.

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künstlerischen Erkennens und Deutens betätigt und auf dieser Grundlage Gemeinschaften ausbildet. 4. So wird die Geschichte des Christentums von einer (im Sinne Schellings) realen Wissenschaft zu einer positiven Wissenschaft, d. h. von einer Wissenschaft, die sich aus der Idee des Wissens selbst ableitet und die ein organisches Element der allgemeinen Kulturgeschichte zum Gegenstand hat, zu einer theologischen Disziplin, einem Teil der Selbstexplikation des Christentums.101 Statt vom latent christlichen Standpunkt der philosophischen Ethik aus betreibt Schleiermacher die historische Theologie nun aus einem explizit christlichkirch­lichen Standpunkt heraus. 5. Der christliche Standpunkt schließt zugleich den Zweck der Kirchenleitung ein, der überhaupt Begründung und Ziel der theologischen Wissenschaft ist. Der Kirchenhistoriker steht also auch immer in einer bestimmten Kirche, einer bestimmten Gestalt der christlichen Gemeinschaft. Das religiöse Interesse an seiner Kirche kann aber nie in Konflikt mit dem wissenschaftlichen Interesse und mit der für den Historiker ebenfalls nötigen Unparteilichkeit geraten.102 6. Auch wenn es für Schleiermacher keinen wissenschaftlich-philosophischen Wahrheitsbeweis des Christentums gibt, steht für ihn – wie für seine Zeitgenossen103 – doch fest, daß das Christentum den epochalen Wendepunkt von der antiken zur neuen Geschichte und Kultur darstellt: Schleiermacher als Philosophiehistoriker unterscheidet zwischen der antiken und der christlichen Philosophie als den beiden je in sich abgeschlossenen Perioden der Philosophiegeschichte, er rechnet die „neuere Geschichtskunde“ von der Entstehung des Christentums an,104 und er unterscheidet in der Ästhetik zwischen der antiken Kunst, in der das Natürliche dominiert, und der modernen Kunst seit dem Christentum, in der das Ethische dominiert.105 Auch in Predigten klingt das an.106 Wenn Schleiermacher umgekehrt sagen kann: 101  Freilich hat Schleiermacher die Kirchengeschichte auch schon in der Vorlesung von 1806 ausdrücklich zu den theologischen Disziplinen gerechnet und ihre Notwendigkeit für die Kirchenleitung betont, ersteres, weil eben allgemeine Religionsgeschichte und christliche Kirchengeschichte eins seien, letzteres, weil und sofern sie in der historischen Ansicht die Einheit zwischen Spekulation und Empirie gegen allen zerstörerischen Zwiespalt bewahre; vgl. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3. Stunde (KGA II/6, S.  11 f.). 102 Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §   50–52 (KGA I/6, S.  287) 103 Vgl. Emanuel Hirsch: Christentum und Geschichte in Fichtes Philosophie, Tübingen 1920, S.  54–58; ders.: Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation, Göttingen 1930, S.  4 0 f.; ders.: Geschichte 4, S.  4 02–405; Walter Rehm: Griechentum und Goethezeit, 3.  Aufl., Bern 1952, S.  281–318; Moretto: Etica, S.  439–448; Ulrich Barth: Jesus-Bild und Geschichtsdeutung, in: Hg. Christian Danz: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, S.  45–62, hier 46–53. 104  Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  69 (hg. Sachs, S.  75) 105  Ästhetik 1819, 32.–33. Stunde (hg. von Rudolf Odebrecht, Das Literatur-Archiv 4, Berlin und Leipzig 1931, S.  120–124) 106  Vgl. bes. Predigt 211 (25.12.1820) über Apg 17,30 f. (Predigten. Siebente Sammlung,

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„unser sittliches und geschichtliches Bewußtseyn ist vom Christenthum so durchdrungen, dass wenn wir uns so gar nicht auf einem Gebiet befinden, wo das eigen­ thümlich Christliche scharf ins Bewußtseyn tritt, so sind doch auch viele Bestand­ theile unseres Bewußtseyns von dem eigenthümlich Christlichen durchdrungen“,107

so erhellt daraus, daß für ihn die Grenzen zwischen einer explizit christlichen Geschichtsdeutung und einer philosophisch-ethischen Geschichtsdeutung auf dem Boden einer von der christlichen Religion geprägten Geistigkeit auch nach 1806 nicht scharf gezogen werden kann. 7. Da das Christentum von Christus gestiftet wurde, ist die organische Geschichte des Christentums nichts anderes als die Anschauung der von Christus ausgegangenen Offenbarung in der Zeit, die Anschauung der Wirkungen und Kräfte dieser Offenbarung. 8. Das von Christus ausgegangene neue Prinzip in der Menschheitsgeschichte ist seinem Wesen nach gemeinschaftsstiftend, Geschichte des Christentums ist also immer Kirchengeschichte (Kirchengeschichte hier noch nicht speziell im Sinne der theologischen Disziplin Kirchengeschichte genommen), Anschauung zeitlichen Entwicklung derjenigen (immer auch äußerlich organisierten) Lebensgemeinschaft, die sich auf der Grundlage der Offenbarung Christi gebildet hat. 9. Über die ethische Form der Kirche hinaus läßt sich vom christlichen Standpunkt aus auch das gesamte menschliche Vernunft- und Kulturhandeln als Geschichte des Christentums darstellen. Schleiermacher hat dies in der christlichen Sittenlehre getan,108 aber nicht in der Disziplin Kirchengeschichte.

Berlin 1833, S.  74–99; KSP 3, S.  190–204), wonach die Erscheinung Christi nicht nur die Erlösung des Einzelnen bewirkt, sondern auch ein neues auch geistig-kulturelles Gesamtleben der Menschheit (dazu vgl. Janssen: Die Inkarnation, S.  161–179); Predigt 362 (13.4.1823) über Joh 1,1–5 (KGA III/7, S.  711–714), wonach die Menschheit bis zur Erscheinung Christi in Finsternis und Verkehrtheit lebte, aber auch im vereinzelten Aufleuchten des Lichtes der Verheißung einer kommenden Erlösung; Predigt 161 (27.11.1831) über Joh 8,56 (Predigten. Siebente Sammlung, S.  13; SW II/2, S.  278), wonach das Auftreten Christi der Wendepunkt der Geschichte ist, der die Menschheit zum höheren Dasein erhebt. In den Augustana-Predigten heißt es, die Erscheinung Christi sei insofern eine geschichtliche Zeitenwende, als sie den Wirkungskreis des menschlichen Geistes erweitert habe, damit aber zugleich dem menschlichen Übermut die Bahn eröffnet habe, der von sich meine, der Wirksamkeit Christi nicht zu bedürfen (Predigt 154 [18.7.1830] über Gal 2,19–21 [Predigten in Bezug auf die Feier, S.  76–79; KSP 3, S.  60–63]). 107  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  2 3v) 108 Vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.   81–87. 107–112. 127–141; Gräb: Humanität, S.  142–145. 169. 206; Burbach: Das ethische Bewußtsein, S.  90–98. 122–124.

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3.5.  Vergleich mit Marheineke, Stolberg und Wilhelm von Humboldt 3.5.1.  Marheinekes Universalkirchenhistorie Als Schleiermacher im Sommer 1806 in Halle seine Einleitung in die Kirchengeschichte las, ließ der etwas jüngere Philipp Marheineke (vgl. oben Abschnitt 2.4.2.) in Erlangen die ersten drei Lieferungen seiner „Universalkirchenhistorie des Christenthums“ erscheinen. Schleiermacher und Marheineke standen seit 1805 in losem brieflichem Austausch; Marheineke hatte Schleiermacher geschrieben, wie viel er dessen Reden über die Religion verdanke.109 Im April 1806 schickte er Schleiermacher ein Exemplar der gerade erschienenen Universalkirchenhistorie und schrieb dazu: „Tragen Sie also Geduld und Nachsicht mit der Form und dem Inhalte dieses Buches. Ich kenne das Bedenkliche meines Unternehmens; es ist gefährlich genug, in gegenwärtiger Zeit mit einem Buche voll Ansichten unter die Partheyen zu gehen. Aber Sie wissen am besten, wo es der edlen Wissenschaft fehlte, von der ich hier einen kurzen Abriß gab und es gebe der Himmel, daß Sie uns bestimmt und kräftig sagen, was ich zum Theil gar nicht, zum Theil nur wie aus weiter Ferne hier geahndet habe.“110

In die Theologiegeschichte ist Marheineke vor allem als orthodoxer Schüler Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Dogmatiker in dessen Geiste eingegangen.111 Bis etwa 1820, also weit in seine Berliner Jahre hinein, stand Marheineke aber mehr unter dem Einfluß Schellings und bearbeitete vorzugsweise die historischen Fächer. Gemeinsam ist Marheineke und Schleiermacher (dessen Kolleg von 1806 vielleicht auch Anregungen von Marheineke verarbeitet), daß sie danach streben, die herrschende Pragmatik zu überwinden und zu einem Neuansatz, einer höheren, idealen Ansicht der Geschichte und speziell der Kir109  Brief 2012 (9.8.1805) von Philipp Marheineke (KGA V/8, S.  2 85): „Seitdem ich Sie gelesen, ist eine starke und ich denke auch sehr wohlthätige Veränderung mit mir vorgegangen. Es war mir längst so, als müsse so etwas, was Sie erst clar gemacht haben, an demjenigen seyn, was man mir als Religion gegeben hatte; der Scholastizismus hatte mir nie in diesem Puncte Genüge geleistet und schon früher hatte die Poesie mir heimlich und dunkel offenbart, was Sie nachher mir so bestimmt und kräftig gesagt haben. Ich glaube fast, daß ich erst da, als ich Sie über die Religion reden hörte, zum erstenmahle in meinem Leben mit voller Besinnung religiös und from gewesen bin; denn es war wahrhaftig etwas mehr, als die Reflexion die ich wahrnahm in meinem Gemüthe, als ich auf diese Weise Ihre Bekantschaft machte. Und wen man in solchen Stunden als einen Propheten göttlicher Offenbarung kennen gelernt hat – wie sollt’ ich es Ihnen nicht sagen dürfen, daß ich Sie von ganzem Herzen liebe?“ 110  Brief 2179 (24.4.1806) von Ph. Marheineke (KGA V/9, S.  8 ) 111 Vgl. Werner Elert: Der Kampf um das Christentum, München 1921, S.   111–113; Elise Ihle: Philipp Konrad Marheineke. Der Einfluß der Philosophie auf sein theologisches System, Leipzig 1938, S.  10–13; Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2.  Aufl., Zollikon-Zürich 1952, S.  4 42–449; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 5, Gütersloh 1954, S.  366–372; Peter Meinhold: Geschichte der kirchlichen Historiographie, Orbis academicus III/5, Band 2, Freiburg und München 1967, S.  199 f.

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chengeschichte zu gelangen. Beide verwahren sich gegen den Vorwurf, dadurch die wirkliche Geschichte und die mit der Auf klärung errungene strenge Wissenschaftlichkeit zu verlassen, wieder in religiös-philosophische Vorurteile und willkürliche Spekulationen, Kombinationen und Deutungen zurückzufallen und der Fülle der geschichtlichen Einzelheiten nicht gerecht zu werden.112 Die Aufgabe der Geschichte ist es nach Marheineke, „die Welt oder den in der Zeit befindlichen Stoff des Einzelnen mit Freyheit des Gemüthes nach einer höheren Idee zu bilden für die geistige Betrachtung.“

Der Kirchengeschichte liegt als Idee die Religion zugrunde.113 Gott selbst, die „natürliche Religion“ oder Religion an sich, das Heilige im Menschen sind überzeitlich und haben weder Geschichte noch Evolution; aber sie äußern sich, objektivieren sich, treten in die Welt ein, werden geschichtlich, werden zum positiven Glauben. Eine solche positiv objektivierte Gestalt der Religion hat Christus neu in die Welt gebracht; sie unterschied sich von den bisherigen heidnischen und jüdischen Objektivierungen der Religion, und somit hebt die Geschichte des Christentums, die Kirchengeschichte, mit Christus an. Die christliche Religion objektiviert sich einerseits als unmittelbare Tat, als Kultus und Kirchenverfassung, andererseits als Begriff, als Dogma und Sittenlehre. In seiner Geschichte tritt das Christentum in Wechselwirkung mit der es umgebenden Sphäre, der Welt. Die Kirchengeschichte ist also die Reproduktion und Nachkonstruktion der Religion Christi unter den Beschränkungen der Welt.114 112  Philipp Marheineke: Universalkirchenhistorie des Christenthums, Erlangen 1806, Vorrede (ohne Seitenzählung); vgl. oben Abschnitt 3.1. 113  Marheineke: Universalkirchenhistorie, S.  1 f. 13 114  Marheineke: Universalkirchenhistorie, S.  1–6. Marheineke führt dies weiter bei seiner Darstellung des Auftretens Jesu aus: Jesus Christus hat der Religion, die an sich end- und anfangslos sei, einen bestimmten Anfang in der Zeit gegeben und das, was zu allen Zeiten Übersinnliches und Göttliches war, wie zerstreute Lichtstrahlen gebündelt und zu einer bestimmten Erscheinung gebracht. Diese überwindet den nationalen Partikularismus des Judentums, den Aberglauben des Heidentums (der darin besteht, das Übersinnliche mit dem Sinnlichen zu verschmelzen und darin untergehen zu lassen) und die den beiden bisherigen Objektivationen der Religion eigene Priesterherrschaft. In Jesu Religion kommen Sinnliches und Übersinnliches ins rechte Verhältnis: Als Übersinnliches äußert sich das Heilige im Begriff, als Sinnliches, Sichtbares in der geschichtswirksamen Tat. Zur bisherigen objektivierten Religion und zur geschichtlichen Welt stellt sich die Religion Jesu ins Verhältnis der Antithesis. Schon indem die Apostel unter gewandelten Bedingungen die Religion Jesu nachkonstruierten, nahm sie andere Formen an (Universalkirchenhistorie, S.  50–70). – Vgl. weiter den Philipp Marheineke: Ueber den Ursprung und die Entwickelung der Orthodoxie und Heterodoxie in den ersten drey Jahrhunderten des Christenthums, in: Studien 3 (1807), S.  96–200, hier 97–100 (§  2 –4): Die Idee der Kirche fällt zusammen mit der Idee der Religion. Die Kirche als sichtbare Gemeinde aber ist durch die äußeren Verhältnisse beschränkt; sie nimmt einen bestimmten Lehrbegriff an und zur Weitergabe der Lehre auch eine äußerliche Organisation. Verglichen mit der Universalkirchenhistorie gewinnt bei der Objektivierung der Religion die Lehre immer mehr das Übergewicht gegenüber Kult und Verfassung. Das zeigt weiter Philipp Marheineke: Christliche Symbolik oder historischkritische und dogmatischkomparative Darstellung des katholischen, lutherischen, reformirten

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Das Vergangene erscheint zunächst als unstrukturierte Masse von Einzelheiten. Um sich bei der Geschichtsbetrachtung von der Herrschaft dieser Materie frei zu machen, muß der Historiker aus dem Material zunächst das auswählen, was sich kausal nach Ursache und Wirkung verknüpfen läßt, und das Allgemeine vom Besonderen scheiden. Indem er sich an den Kausalzusammenhang und das Allgemeine hält, erreicht er die Stufe der Pragmatik. Über dem Kausal­ nexus und allen Wechselfällen findet der Historiker aber schließlich die Idee, die der Geschichte zugrunde liegt, die Religion; er schaut die Entwicklung an als den sich vollziehenden Plan eines Geistes, für den Notwendigkeit und Kausalität nur die Zügel sind, um das Ganze zu lenken. Die religiöse Deutung der Geschichte ist damit zugleich die Theodizee; sie bringt in die Geschichte die Klarheit, die Einheit, das Ziel.115 Die Schritte der geschichtlichen Erkenntnis vom Einzelnen zur Idee wiederholt Marheineke in der ersten Fassung seiner Dogmatik: Nach ihr gibt es drei Stufen des Erkennens: die sinnliche Wahrnehmung (dem entspricht das Vorfinden der archivierten Einzelheiten durch den Historiker), die Erkenntnis des Verstandes (kausale und logische Verknüpfung des Einzelnen, Begriffs- und Urteilsbildung) und die Erkenntnis der Vernunft (Erkenntnis der Ideen, des Allgemeinen).116 Dasselbe Schema für die Erkenntnis und Darstellung der Geschichte hatten wir auch bei Schiller und Creuzer gefunden (vgl. oben Abschnitt 2.2.3.).

Der Historiker verfehlt sein Ziel, wenn er sich durch fremde Zwecke irreführen läßt. Dies bescheinigt Marheineke sowohl der konfessionellen als auch der aufgeklärt-pragmatischen Kirchengeschichtsschreibung: Jene stelle sich in den Dienst der eigenen Kirchenpartei und gehe nicht über deren Perspektive hinaus. Diese suche nicht die Idee, sondern moralische Lehren aus der Vergangenheit oder frage nach den Ursachen des gegenwärtigen Zustands; auch halte sie ihre Gegenwart für allein weise, wolle alles nach ihr beurteilen und merke nicht, daß die Gegenwart wie jede Zeit nur ein Abschnitt des unendlichen Ganzen sei. und socinianischen Lehrbegriffs; nebst einem Abriß der Lehre und Verfassung der übrigen occidentalischen Religionspartheyen, wie auch der griechischen Kirche, Band 1,1, Heidelberg 1810, S.  4 –15 (vgl. dazu auch Simon Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 [2004], S.  183–214, hier 201–203): Die Symbole (öffentlichen Glaubensbekenntnisse) sind das Bindeglied zwischen der Religion an sich und ihren positiven Objektivierungen; in den Symbolen spricht sich der Geist der Religion auf bestimmte Weise aus, sie beanspruchen, mit dem ursprünglichen Christentum und der Schrift übereinzustimmen, und um sie sammeln sich die Gläubigen. – Zu Marheinekes Unterscheidung zwischen der Religion an sich und der objektivierten Religion vgl. auch noch Philipp Marheineke: Die Grundlehren der christlichen Dogmatik, Berlin 1819, S.  460 (§  579); Eva-Maria Rupprecht: Kritikvergessene Spekulation, Beiträge zur rationalen Theologie 3, Frankfurt am Main u. a. 1993, S.  76. 115  Marheineke: Universalkirchenhistorie, S.  7–17 116  Marheineke: Die Grundlehren1, S.  11–13 (§  16–19); vgl. Friedrich Zoeller: Marheinekes „Grundlehren der christlichen Dogmatik“ in ihrer Abhängigkeit von Schelling, Erlangen 1909, S.  13–17; Ihle: Philipp Konrad Marheineke, S.  85 f.

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Stattdessen will Marheineke die Geschichte aus dem Geist der Zeiten erklären, durch welche sie gegangen ist, und aus der Beschränktheit einer Kirchenpartei heraustreten, um sich an die freie, allumfassende christliche Religion an sich zu halten.117 Für Marheineke wie für Schleiermacher besteht die Geschichte also nicht in der Aufzählung und kausalen Verknüpfung von Einzeldaten der Vergangenheit, sondern in der Zusammenschau des Einzelnen und der Entwicklungen mit einer Idee; erst durch sie wird das Vergangene seiner scheinbaren Kontingenz und Ziellosigkeit entwunden und wird als ein Ganzes verständlich. Die Idee selbst ist nicht der Entwicklung unterworfen, vervollkommnet sich auch nicht, sondern steht, sich selbst gleichbleibend, über der Entwicklungsgeschichte des Realen. Gemeinsam ist Marheineke und Schleiermacher schließlich, daß für beide erst das Christentum die Idee der Religion vollkommen verwirklicht. Marheineke begründet das damit, daß in der Religion Jesu die nationale Beschränkung und die Verwirrung des Sinnlichen und Übersinnlichen überwunden seien, Schleiermacher mit der erst im Christentum ganz hervorgetretenen ethischen Form der Kirche. Der Weg zum Verstehen und zur Erkenntnis der Idee geht für Schleiermacher nicht nur induktiv vom Einzelnen, Besonderen über dessen kausale Verknüpfung zum Allgemeinen, sondern als hermeneutisch-kritische Kombination der Induktion und der Deduktion. So äußert sich der geschichtliche Sinn des Menschen nicht erst unter der Voraussetzung einer kritisch-pragmatischen Erforschung des Einzelnen und seiner Zusammenhänge, sondern auch schon im mythologischen Zeitalter, dort aber nicht als deutende Anschauung der geschichtlichen Entwicklung, sondern als Darstellung der Idee in Mythos und Epos.

Bei Marheineke ist die ideale Religion als die über der Entwicklung schwebende, sich selbst setzende Idee der Kirchengeschichte letztlich identisch mit der Idee und dem Ziel der Weltgeschichte: Die Betrachtung der Geschichte unter der Idee der Religion fällt zusammen mit der Deutung der Geschichte überhaupt und mit der Theodizee. Für Schleiermacher ist die Religions- und Kirchengeschichte ein organisches Element neben anderen in dem weltgeschichtlichen Prozeß der Naturaneignung durch den Geist. Einen überparteilichen, keiner bestimmten Zeit verpflichteten Standpunkt, der es ihm erlaubte, die vergangenen Zeiten aus deren eigenem Geist zu erklären, hat Schleiermacher mindestens seit der ersten Auflage der Kurzen Darstellung (1811) nicht mehr beansprucht. Das für die gesamte theologische Wissenschaft konstitutive, immer einer bestimmten Kirche zu einer bestimmten Zeit verpflichtete kirchenleitende Interesse bestreitet die Überparteilichkeit und Überkonfessionalität der historischen Theologie ausdrücklich. 117  Marheineke: Universalkirchenhistorie, Vorrede (ohne Seitenzählung). S.  17–22. Einen unparteiischen Standpunkt soll auch die Symbolik einnehmen, vgl. Marheineke: Christliche Symbolik 1,1, S. VIII f. 1 f.

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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Für Schleiermacher gibt es insofern einen Fortschritt in der geschichtlichen Entwicklung, als die Erscheinung sich immer mehr der Idee assimiliert (vgl. oben Abschnitt 3.1. und unten Abschnitt 4.1.). Bei Marheineke dagegen beruht die kirchengeschichtliche Entwicklung offenbar nur auf den unterschiedlichen äußeren Bedingungen, unter denen die Religion Christi reproduziert und nachkonstruiert wird. Das Verhältnis, in dem die Wirklichkeit zur Idee und zur ursprünglichen Gestalt des Christentums steht, bleibt sich durch alle Veränderungen gleich. Die Universalkirchenhistorie war konzipiert als Kompendium zur Begleitung von Vorlesungen. Der Zweck des Werkes sei nicht die ins Einzelne gehende Ausführung, sondern das Verständnis des Ganzen; hier sei auch der Bedarf am größten, heißt es in der Vorrede. Über die 1806 erschienen Lieferungen, die die Zeit bis ca. 600 behandeln, ist die Universalkirchenhistorie aber nicht hinausgekommen. Als sich Schleiermacher brieflich nach dem Fortgang des Unternehmens erkundigte,118 antwortete Marheineke: „jede Erinnerung an dieses Buch betrübet mich sehr und schon darum kann ich es nicht über mich gewinnen, es fortzusetzen. Ein seit mehrern Jahren fast ausschließlich fortgeseztes Studium hat mich schon hinlänglich von der völligen Nuzslosigkeit und Untauglichkeit jener Arbeit in solcher Art überzeugt: es müsse eine ganz andere dem ersten Band ganz unähnliche Arbeit seyn, wenn ich mich entschließen könnte, sie fortzusetzen.“119

Wenn Marheineke in der Universalkirchenhistorie schreibt: „Also sind die Evolutionen der Religion im Lehrbegriff und Cultus in der Kirchengeschichte die Thesen, die Welt und das Profane die Antithesen: aber über beiden erhaben schwebt unberührt die Autothese, das Heilige selbst, dessen Anerkennung in allen seinen Beziehungen und Verhältnissen Prinzip der Geschichte ist“,120

so sieht Ferdinand Christian Baur gerade darin die problematische Seite in Marheinekes Konzept und den Grund dafür, warum es nicht zu Ende geführt wurde und letztlich kein großes Echo fand: Eine unberührt über These und Antithese als Autothese schwebende Idee der Religion bleibe zu abstrakt, um die Entwicklungsgeschichte der objektivierten Religion wirklich zu durchdringen; wie die Idee in der Geschichte und als Geschichte wirklich werde, bleibe unklar, zwischen dem Allgemeinen und seiner Objektivierung bleibe eine unausgefüllte Kluft.121 118 

Wohl in Brief *2401 (zwischen Mai 1806 und Januar 1807) an Marheineke (KGA V/9, S.  322) 119  Brief (25.11.1808) von Ph. Marheineke (SN 324, fol.  8v) 120  Marheineke: Universalkirchenhistorie, S.  14 f.; vgl. 59 f. 121  Ferdinand Christian Baur: Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung, Tübingen 1852, S.  198–200. Vgl. auch Karl Rudolf Hagenbach: Neander’s Verdienste um die Kirchengeschichte, in: Theologische Studien und Kritiken 24 (1851), S.  543–594, hier

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3.5.2.  Stolbergs Geschichte der Religion Jesu Christi Noch ein weiteres kirchenhistorisches Werk, das den herrschenden Geist der Pragmatik hinter sich lassen wollte, erschien mit der Jahreszahl 1806: der erste Band der Geschichte der Religion Jesu Christi aus der Feder des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg.122 Das Werk konnte Stolberg im Laufe der Jahre noch bis zum Tode Augustins fortführen. Stolberg will die Geschichte als Heilsgeschichte aus ihrer Mitte und Idee heraus darstellen, als göttliche Erbarmung und geistige Vereinigung des Menschen mit Gott.123 Um zu vermeiden, daß sich die eine Geschichte in verschiedene unzusammenhängende Fäden auflöst, vermeidet Stolberg sogar die Teilung in Sachgebiete und schreitet streng chronologisch und annalistisch fort.124 Die innere Mitte der Geschichte, wie sie sich im Prozeß der geschichtlichen Entwicklung sukzessive enthüllt und verwirklicht, ist aber nichts anderes als die Vorbereitung, Ankunft und Verbreitung der göttlichen Erlösung in Jesus Christus.125 Stolberg kann sich für das Ganze des Bildes vom Samen und der aus ihm hervorgehenden Pflanze bedienen.126 Indem er dergestalt auch die Zeit der Vorbereitung unter dem alten Bund mit in die Kirchengeschichte integriert, kommt er letztlich zu einem ähnlichen Konzept wie die alte übernatürlich-heilsgeschichtliche Auffassung von einer Kirchengeschichte des Alten und Neuen Testaments (vgl. oben Abschnitt 2.1.4.). Wie Schleiermacher will Stolberg also die Kirchengeschichte aus explizit christlicher Perspektive darstellen, als Verwirklichung des Christentums als einer lebendigen Kraft in der Zeit. Carl Gustav von Brinckmann, wie Schleiermacher ein Zögling der Herrnhuter Brüdergemeinde, von der gemeinsamen Studienzeit in Halle her mit ihm befreundet, seit 1792 Diplomat in schwedischen Diensten, schrieb Schleiermacher Ende 1807, die Herrnhuter Brüder würden wohl an Schleiermachers kritischem Sendschreiben über den ersten Ti563–565; Karl Hase: Kirchengeschichte, 9.  Aufl., Leipzig 1867, S.  11 (§  12); ders.: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  45 f.; Ihle: Philipp Konrad Marheineke, S.  87 f. 122  Tatsächlich kam der Band erst im Februar 1807 heraus; vgl. Leo Scheffczyk: Friedrich Leopold zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi“, Münchener theologische Studien I,3, München 1952, S.  21. 123  Z. B. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Geschichte der Religion Jesu Christi, Band 1, Hamburg 1806, S. VII–IX. 1. 456 f. 471. Vgl. Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, München 1934, S.  149 f. 153 f.; Scheffczyk: Friedrich Leopold zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi“, S.  65 f. 83. 135. 168–173; Gustav Adolf Benrath: Evangelische und katholische Kirchenhistorie im Zeichen der Auf klärung und der Romantik, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 82 (1971), S.  203–217, hier 211 f. 124  Scheffczyk: Friedrich Leopold zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi“, S.  82–88. 101 f. 164 125  Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  155; Scheffczyk: Friedrich Leopold zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi“, S.  50–55. 110 f. 126  Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Geschichte der Religion Jesu Christi, Band 5, Hamburg 1809, S. VII f. Hier ist Gottes Verheißung der Same, das alttestamentliche Gottesvolk mit seiner Geschichte die Pflanze und Christus die Blume des Heils.

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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motheusbrief wenig Freude haben, umso mehr dagegen an Stolbergs Geschichte der Religion Jesu Christi, und auch ihm, Brinckmann, habe der erste Band sehr gefallen, er sei edel und schlicht, wahrhaftig und erbaulich geschrieben.127 Schleiermacher schloß sich Brinckmanns Vermutung über das Urteil der Herrnhuter an, zeigte aber selbst wenig Lust, sich in Stolbergs Werk zu vertiefen, und erzählte, er habe auch die (durch Marheineke?) an ihn gerichtete Bitte der Heidelbergischen Jahrbücher, den Band zu rezensieren, abgelehnt. Zweierlei ließ ihn schon von vornherein und a priori an Stolbergs historischem Blick und Talent zweifeln: Stolberg habe mit seinem seinerzeit aufsehenerregenden Übertritt zum römischen Katholizismus gezeigt, daß er das geschichtliche Verhältnis zwischen Katholizismus und Protestantismus mißverstanden habe, und er habe einen ganzen Band Geschichte des Christentums über das Alte Testament geschrieben, ohne zum Anfang des Christentums, Jesus Christus, vorzudringen.128 Die Rezension für die Heidelbergischen Jahrbücher schrieb dann Friedrich Schlegel, der inzwischen wie Stolberg zum Katholizismus übergetreten war;129 Schleiermacher schrieb seinem (ihm längst fremd gewordenen) Freund ein Jahr später, wie sehr ihm die Rezension mißfalle.130 – In der Vorlesung von 1821/22 mokiert sich Schleiermacher darüber, daß Stolberg in der Reise des Petrus und Johannes nach Samarien (Apg 8,14–17) einen frühen Beleg für das Sakrament der Firmung sieht und daß er die im Neuen Testament erwähnten Presbyter zu Priestern im Sinne der späteren katholischen Weihegrade macht.131 Von Schleiermachers kirchengeschichtlichen Arbeiten unterscheidet sich Stolbergs Unternehmen schon dadurch, daß es keinerlei wissenschaftlichen An127 

Brief 2591 (16.12.1807) von C. G. von Brinckmann (KGA V/9, S.  606) (26.1.1808) an C. G. Brinckmann (Briefe 4, S.  144). – Die Geschichte Jesu kommt bei Stolberg erst in Band 5 vor. 129  Friedrich Schlegel: Rezension zu F. L. Graf zu Stolberg: Geschichte der Religion Jesu Christi, Band 1–2, Hamburg 1806, in: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur 1 (1808), Abteilung 1, S.  266–290 (Kritische Ausgabe 8, S.  86–104). Schlegel macht die Rezension zugleich zu einer Erörterung des Verhältnisses zwischen Katholizismus und Protestantismus. 130 Brief (18.7.1809) an Friedrich Schlegel (Friedrich Schlegel: Briefe an Friedrich Schlegel, hg. von Heinrich Finke, Görres-Gesellschaft, Vereinsschrift 1917,2, Köln 1917, S.  24 f.): „Deine Recension über Stolberg habe ich verabscheut wegen eines treulosen jesuitischen Verfahrens gegen den Protestantismus, welches freilich nur diejenigen finden können, die so gründlich lesen wie ich. Ich finde übrigens dies alles nicht überraschend oder wunderbar, sondern mit Deinem Katholizismus ganz natürlich zusammenhängend, aber weil dieser selbst uns so ziemlich schroff und unvorbereitet ist vom Himmel gefallen gekommen, so wünschte ich nichts sehnlicher, als daß Du uns andern die Brükken bautest von Deinen ehemaligen Ansichten zu den gegenwärtigen, sei es nun, wie Du erst versprachst, indem Du uns Deine Philosophie und Theologie systematisch vorlegst, oder wie Du hernach zu wollen schienst, indem Du dich selbst historisch darstellst. Eigentlich hätte ich wol gar nicht nöthig, Dir das alles zu sagen, weil Du es ja wissen mußt auch ungesagt, wie mir aus meinem Standpunkte Deine jetzigen Bestrebungen auf diesem Felde erscheinen müssen.“ 131 Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.   28. 494); Kollektaneen 60 f. (KGA II/6, S.  154). Vgl. unten Abschnitt 6.2.1. 128 Brief

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B.  Systematischer Teil

spruch hat. Es fehlt die philosophische und geschichtstheoretische Fundierung und weitgehend auch die historische Kritik; Stolberg erzählt einfach nach, was die Quellen, in den ersten Bänden vor allem die Bibel, enthalten. Darüber hin­ aus kennt Stolbergs Geschichte zwar eine Entwicklung hin zur Erscheinung Christi, aber keine eigentliche Entwicklung in der Kirchengeschichte, abgesehen von der Ausbreitung der Kirche. Die Kirche im Sinne der höheren Geschichtsauffassung als einen lebendigen Organismus darzustellen, das heißt für Stolberg vor allem, ihr wesentliches Gleichbleiben mit sich selbst und mit ihrer Tradition darzulegen. Insofern ist die Geschichte zugleich die Apologie der katholischen Kirche, in der Wesen und Erscheinung der Kirche seit Christus unverändert bewahrt wurde.132 Schleiermacher grenzt sich von der „katholischen“ Auffassung ab, daß die Erscheinung der Kirche schon mit ihrer Begründung vollkommen da sei: Vielmehr stelle die Geschichte dar, wie sich die Kirche zu einer immer größeren Übereinstimmung ihrer Erscheinung mit ihrem Wesen hin entwickele (vgl. unten Abschnitt 4.1.). Seit den von Pius IX. und Pius XII. verkündeten neuen Dogmen muß aber auch die römisch-katholische Apologetik andere Wege gehen als den von Stolberg gewiesenen.133

3.5.3.  Wilhelm von Humboldts Vortrag über die Aufgabe des Geschichtsschreibers Am 12. April 1821 hielt Wilhelm von Humboldt vor dem Plenum der Berliner Akademie der Wissenschaften seinen berühmt gewordenen Vortrag über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Unter den Zuhörern saß auch Schleiermacher.134 Humboldt legt dar, um das Geschehene möglichst rein und vollständig darzustellen, müsse der Geschichtsschreiber das, was von dem Geschehenen noch an fragmentarischen Nachrichten überliefert sei, unparteiisch und kritisch auswerten. Doch darauf beschränke sich sein Geschäft nicht; das sichtbar Überlieferte reiche zu einer Rekonstruktion und Darstellung nicht hin, sondern der Geschichtsschreiber müsse die Fragmente auch miteinander verknüpfen und das, was fehle, kraft seines Ahnungsvermögens ergänzen. Insofern sei die Ge132  Scheffczyk: Friedrich Leopold zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi“, S.  55–57. 103 f. 174–179 133 Vgl. Konrad Algermissen: Konfessionskunde, 5.  Aufl., Hannover 1939, S.  45: „Der Einfluß der Zeit bewirkt eine Entwicklung der Dogmen und der kultischen Gestaltung, nicht in dem Sinne, daß der Inhalt des Glaubens oder des Gottesdienstes geändert wird, sondern in der Weise, daß unter dem Einfluß des in der Kirche lebendigen Gottesgeistes die Erkenntnis des Wahrheitsgehaltes im Laufe der Zeit reicher und vollkommener wird und die äußeren Formen des gottesdienstlichen Lebens sich reichhaltiger und vollendeter gestalten.“ 134  Vgl. das Sitzungsprotokoll (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Archiv, II-V,4, pag. 32 f.) und Schleiermachers Tageskalender zum 12.4.1821 (SN 442, fol.  17v).

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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schichtsschreibung keine nur rezeptive und kritische, sondern auch eine schöpferische Tätigkeit.135 Humboldt vergleicht sie ausführlich mit der bildenden Kunst: Auch der Künstler reproduziere ja nicht einfach das Sichtbare, sondern stelle zugleich das unsichtbare Wesen vor Augen; so solle die Geschichte in, mit und unter der Wirklichkeit das Bild des Menschenschicksals „in treuer Wahrheit, lebendiger Fülle und reiner Klarheit“ malen und in der scheinbaren Zufälligkeit und Beliebigkeit der Begebenheiten die höhere Notwendigkeit zeigen.136 Dieses Erahnen des unsichtbaren Wesens sei dem Geschichtsschreiber durchaus möglich, er könne seinen Geist dem Geist der Geschichte assimilieren. „Der Geist soll nur dadurch, dass er sich die Form alles Geschehenden zu eigen macht, den wirklich erforschbaren Stoff besser verstehen, mehr in ihm erkennen lernen, als es die blosse Verstandesoperation vermag. Auf diese Assimilation der forschenden Kraft und des zu erforschenden Gegenstandes kommt allein alles an. Je tiefer der Geschichtsforscher die Menschheit und ihr Wirken durch Genie und Studium begreift, oder je menschlicher er durch Natur und Umstände gestimmt ist, und je reiner er seine Menschheit walten lässt, desto vollständiger löst er die Aufgaben seines Geschäfts.“137 „Jedes Begreifen einer Sache setzt, als Bedingung seiner Möglichkeit, in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige, ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen dem Subjekt und dem Objekt. […] Bei der Geschichte ist diese vorgängige Grundlage des Begreifens sehr klar, da Alles, was in der Weltgeschichte wirksam ist, sich auch in dem Innern des Menschen bewegt.“138

Den Geist der Menschheit, den der Geschichtsforscher in den Geschehnissen suchen und darstellen soll, hat der Forscher zugleich immer schon in sich selbst. Aufgrund dieser Identität und Kongenialität ist es möglich, die Geschichte zu verstehen.139 Die Kunst des Historikers besteht darin, zu erfassen und zu zeigen, wie alles Einzelne miteinander zusammenhängt. „Denn jede todte und lebendige Kraft wirkt nach den Gesetzen ihrer Natur, und Alles was geschieht, steht, dem Raum und der Zeit nach, in unzertrennlichem Zusammen­hange.“140

135  Wilhelm von Humboldt: Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: Abhandlungen der historisch-philologischen Klasse der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus den Jahren 1820–1821, Berlin 1822, S.  305–322, hier 305–307 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  35–38) 136  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.   308–313 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  38–45) 137  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.  3 07 f. (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  38) 138  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.  315 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  47) 139 Vgl. Joachim Wach: Das Verstehen, Band 1, Tübingen 1926, S.  251. 256. 260–262. 140  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.  315 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  4 8)

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B.  Systematischer Teil

Entsprechend der Dreiheit von unbelebter Natur, belebter Natur und geistiger Natur nennt Humboldt zunächst dreierlei Kräfte und dreierlei Zusammenhang der Wirkung, in dem alles miteinander steht: den mechanischen Zusammenhang, den physiologischen Zusammenhang, kraft dessen alles Lebendige, auch die menschliche Kultur und ihre Erzeugnisse, Wachstum, Blüte, Frucht und Verfall durchlebt, und den psychologischen Zusammenhang, die Empfindungen und Motive des Menschen.141 Doch damit ist die Kunst der Geschichtsschreibung noch nicht am Ziel; es bliebe so noch etwas übrig, was aus dem Kausalzusammenhang allein noch nicht erklärlich ist. Das ist die spontane Entstehung von etwas individuell Neuem, das als wirkende Kraft in die Geschichte eintritt. Es kommt also bei der Geschichtsschreibung zuletzt darauf an, die in der Geschichte wirksamen Ideen zu zeigen, „Ideen, die, ihrer Natur nach, ausser dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen ihren Theilen durchwalten und beherrschen.“142

Die Ideen liegen deshalb außer dem Kreis der Endlichkeit, weil sie sich nicht allein aus dem Zusammenhang der Wirkungen ableiten lassen, aus dem allein eben nur die Reproduktion des schon Gegebenen, nicht die individuelle Neuwerdung erklärlich ist. Auch jede menschliche Individualität „ist eine in der Erscheinung wurzelnde Idee“, ebenso Sprachen, Kulturen, Schübe in der Kulturentwicklung. Auffinden lassen sich die Ideen nicht unmittelbar, auch nicht durch eine immer mehr oder weniger willkürliche apriorische Konstruktion, sondern immer nur in der Welt der Erscheinungen, in den Begebenheiten selbst, und dort eben besonders dort, wo Individualität, Kreativität, spontane Neubildung sind. Und so offenbart sich dann das Wesen der Geschichte: Alle Geschichte ist Verwirklichung einer Idee, und in den Ideen liegen zugleich die wirksame Kraft und das Ziel. Die Ideen haben ihre Einheit in dem Geist der Menschheit, der sich drängt, von der Idee zur Wirklichkeit zu werden.143 „Das Ziel der Geschichte kann nur die Verwirklichung der durch die Menschheit darzustellenden Idee sein, nach allen Seiten hin, und in allen Gestalten, in welchen sich die endliche Form mit der Idee zu verbinden vermag, und der Lauf der Begebenheiten kann nur da abbrechen, wo beide einander nicht mehr zu durchdringen im Stande sind.“144

Humboldts Essay mit seiner historischen Ideenlehre, die den Individualitätsgedanken und den Entwicklungsgedanken wirkungsvoll verbindet, hatte starken 141  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.   315–317 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  48 f.) 142  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.  318 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  51) 143  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.   307. 309 f. 313–315. 317–322 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  37. 41. 45–56) 144  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.  321 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  55)

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Einfluß auf die historische Schule um Leopold von Ranke und andere deutsche Historiker.145 Andererseits finden wir in ihm noch die Motive der geschichtstheoretischen Diskussionen um 1800: das Einfordern eines höheren Zusammenhanges und einer höheren Notwendigkeit, als sie der Kausalzusammenhang darstellt, und – als Analogie dieses Höheren – den Vergleich der Geschichte mit einem Organismus und der historischen Prozesse mit chemischen Reaktionen und organischen Entwicklungsprozessen in der Natur.146 Eduard Spranger zeigte Humboldts Abhängigkeit von Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums.147 Auch die Gemeinsamkeit mit Schleiermacher ist auffällig: Die geschichtliche Wirklichkeit kann nur von den in ihr wirksamen Ideen und Kräften her verstanden werden; diese wiederum lassen sich nicht auf rein spekulativem Weg finden, sondern eben nur in der Wirklichkeit selbst. Insofern verfehlt die reine Spekulation die Geschichte ebenso wie die reine Empirie. Den Gedanken der Individualität macht Humboldt noch stärker als Herder und Schleiermacher: Zwar kann er von „Weltregierung“ reden148 – ein Ausdruck, an dem sich dann Humboldts Bruder Alexander stieß, der den Vortrag ebenfalls gehört hatte149 –, doch aus dem Zusammenhang erhellt, daß damit keine gottgelenkte universale Teleologie gemeint ist, sondern die immer wieder neue geschichtliche Schöpferkraft und Wirksamkeit der Ideen. Wenn Humboldt schreibt, das Ziel der Geschichte sei es, die durch die Menschheit darzustellende 145 Vgl.

Richard Fester: Humboldt’s und Ranke’s Ideenlehre, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6, Band 2 (1891), S.  235–256, bes. 236–238. 250–256; Wilhelm Dilthey: Der Auf bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Erste Hälfte, Abhandlungen der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften 1910, Philosophisch-historische Classe, Abhandlung 1, Berlin 1910, S.  40 f. (Gesammelte Schriften 7, S.  112 f.); Wach: Das Verstehen 1, S.  263; Band 3, Tübingen 1933, S.  96–104; Georg Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S.  84 f.; Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik, Fundamenta historica 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S.  269–272; Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus, München 1992, S.  38–40; Wolfgang Küttler: Wilhelm von Humboldts Akademievortrag „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ und die Tradition des Historismus, in: Hg. ders. und Conrad Grau: Kolloquium Akademische Wissenschaft im Säkularen Wandel. 300 Jahre Wissenschaft in Berlin, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 38, Berlin 2000, S.  93–103, hier 100 f. – Nach Blanke erfreute sich Humboldts Text „eines gleichsam kanonischen Ansehens“. 146  Vgl. dazu auch Peter Hanns Reil: Die Historisierung von Natur und Mensch, in: Hg. Wolfgang Küttler: Geschichtsdiskurs, Band 2, Frankfurt am Main 1994, S.  48–61, bes. 53–57; Jordan: Geschichtstheorie, S.  224–226; Küttler: Wilhelm von Humboldts Akademievortrag, S.  96 f. 147  Eduard Spranger: Wilhelm v. Humboldts Rede „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ und die Schellingsche Philosophie, in: Historische Zeitschrift 100 (1908), S.  541– 563. Vgl. dazu auch oben Abschnitt 2.2.3. und 3.2. 148  W. von Humboldt: Ueber die Aufgabe, S.   317. 321 (Akademie-Ausgabe 4 = I/4, S.  50. 55) 149 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Brief (12.11.1823) an Caroline von Humboldt (Anna von Sydow: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Band 7, Berlin 1916, S.  174); Alexander von Humboldt: Brief (10.5.1837) an Karl August Varnhagen von Ense (ders.: Briefe an Varnhagen von Ense, hg. von Ludmilla Assing, Leipzig 1860, S.  4 0).

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Idee in allen Gestalten zu verwirklichen, in denen sich die endlichen Formen mit der Idee zu verbinden vermag (s.o.), so ist das vielleicht ein Nachklang von Schleiermachers Monologen: Jeder Mensch solle die Menschheit auf die ihm eigene Art darstellen, damit die Menschheit auf jede ihr mögliche Weise sich offenbare und sich in unendlicher Fülle verwirkliche.150 Freilich denkt Humboldt weniger an einzelne Menschen als an Völker und Kulturen. Gegenüber seiner Frau äußerte Humboldt sich enttäuscht, daß Schleiermacher, mit dem er von der Gründung der Berliner Universität her gut bekannt war, kein anerkennendes Wort über seinen Vortrag sagte.151 Schleiermacher steht Humboldts Ansatz, wonach der Forscher die Geschichte kraft des gemeinsamen Genius der Menschheit ahnen und verstehen könne, in der Vorlesung von 1806 am nächsten. Die einige Monate nach Humboldts Vortrag angefangene Vorlesung von 1821/22 betont demgegenüber die Positivität und Subjektivität des Standpunktes, den der Historiker gegenüber seinem Gegenstand einnimmt.

3.6.  Die Disziplinen der historischen Theologie Die Geschichte der christlichen Kirche differenziert sich in Schleiermachers System der theologischen Wissenschaft aus in die verschiedenen Disziplinen der historischen Theologie. Das zu entfalten, ist Aufgabe der theologischen Enzyklopädie. Der Endzweck der evangelischen Theologie – die Führung der Amtsgeschäfte und des Kirchenregiments und die Selbstreflexion und Rechenschaft darüber, was Religion und Kirche, Christentum und Protestantismus ist – heischt zunächst eine Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der Kirche, aus dem heraus die Zukunft gestaltet werden soll. Dieser Kenntnis bei- und nebengeordnet ist sodann die „historische Theologie im engeren Sinn oder die Kirchengeschichte“, die Kenntnis der gesamten früheren Entwicklung des Christentums. Drittens ist noch die Kenntnis des Urchristentums, die Exegese des Neuen Testaments, nötig. Das Urchristentum gehört zwar mit zur Kirchengeschichte, es steht mit seinen Urkunden, dem neutestamentlichen Kanon, der weiteren Geschichte aber auch als die unhintergehbare, normative Darstellung des christlichen Prinzips gegenüber. Denn in späteren Zeiten ist das christliche Prinzip aufgrund seiner Verbreitung immer im Ringen mit anderen Kräften begriffen; seine Erscheinung wird immer komplizierter und unübersichtlicher, es ist also geschichtlich nicht mehr so rein wie im kanonischen Schrifttum des Urchristentums anzuschauen.152 Die Gegenwartskunde teilt Schleiermacher in 150 

Monologen, S.  4 0 (KGA I/3, S.  18) W. von Humboldt: Brief (12.11.1823) an C. von Humboldt (Sydow: Wilhelm und Caroline 7, S.  174) 152  Kurze Darstellung 2 , §  81–85 (KGA I/6, S.  357 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, 151 

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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zwei Disziplinen: Die kirchliche Statistik behandle den gesellschaftlichen Zustand der Kirche, die dogmatische Theologie aber die Lehre. Zwar gehöre die Lehre auch zum gesellschaftlichen Zustand der Kirche, also zum Gegenstand der Statistik, doch bedürfe jede Kirchengemeinschaft darüber hinaus einer systematisch zusammenhängenden Darstellung ihrer Lehre.153 Eine Disziplin der historischen Theologie fehlt hier noch: die christliche Sittenlehre. Aus den Ausführungen der Kurzen Darstellung zur dogmatischen Theologie und aus den Vorlesungen über die christliche Sitte erhellt aber, daß „dogmatische Theologie“ nicht nur die Dogmatik im engeren Sinne meint, die Glaubenslehre, sondern auch die Sittenlehre: Von seinem Ursprung bei Christus an sei das christliche Prinzip immer beides zugleich, eine Weise des Erkennens und Glaubens und eine Weise des Handelns und Lebens. Beides könne man trennen, weil man als Potenzen der menschlichen Seele das Vorstellungsund das Begehrungsvermögen unterscheide, Verstand und Willen. Im unmittelbaren Gefühl aber sei beides noch ungetrennt beieinander, und so, wie die Identität und Indifferenz von Glauben und Handeln im Gefühl der Ursprung der Frömmigkeit sei, so sei sie auch das Ziel der Frömmigkeit. So stellten also Glaubens- und Sittenlehre die christliche Frömmigkeit dar, jeweils aus einem anderen Gesichtspunkt.154 „Das ursprüngliche christliche Bewußtsein, der ursprüngliche christliche Glaube, hat zwei Richtungen, eine nach dem Gedanken, eine andere nach der That, deren jede gleich unmittelbar aus ihm hervorgehen kann. Wir dürfen also die Säze unserer Sittenlehre nicht auf dogmatische Säze zurükkführen, sondern auf das, was auch diesen zum Grunde liegt.“155

Die Kirchengeschichte steht in der Mitte der historisch-theologischen Disziplinen. Sie enthält das Urchristentum, bleibt dabei aber bezogen auf die im urchristlich-apostolischen neutestamentlichen Kanon gesetzte Norm für das, was §  81–85 (hg. Sachs, S.  84–89). Als „historische Theologie im engeren Sinn“ bezeichnet Schleiermacher die Kirchengeschichte in der Überschrift zu §  149–194 der Kurzen Darstellung (KGA I/6, S.  380). – Zur Normativität des Neuen Testaments für Schleiermacher vgl. Jörg Lauster: Prinzip und Methode, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 46, Tübingen 2004, S.  56–61. – Klaus Beckmann: Die fremde Wurzel, Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 85, Göttingen 2002, S.  54. 58. 92, schreibt, der neutestamentliche Kanon sei für Schleiermacher nicht die vorgegebene Norm der Frömmigkeit, sondern selbst schon Produkt der Frömmigkeit; das ist aber für Schleiermacher (und nicht nur für Schleiermacher) keine Alternative. Vgl. dazu auch unten Abschnitt 6.2.3. 153  Kurze Darstellung 2 , §  95–98. 195 (KGA I/6, S.  362–364. 393 f.). Vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  7–10); Der christliche Glaube2 1, §  28 (KGA I/13,1, S.  182–190). 154  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  17–24; vgl. 371 f.); Kurze Darstellung 2 , §  2 23– 231 (KGA I/6, S.  4 04–407); Der christliche Glaube2 1, §  3,4–5; 26 (KGA I/13,1, S.  26–32. 173–175); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  166. 230 (hg. Sachs, S.  157. 218 f.). Vgl. dazu Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  66–72; Burbach: Das ethische Bewußtsein, S.  13–16. 110. 155  Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  24)

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christlich ist. Sie führt bis an die Gegenwart heran und ist die Vorgeschichte der drei gegenwartskundlichen Disziplinen, denn sie ist sowohl die Geschichte des gesellschaftlichen Zustandes der christlichen Kirche als auch diejenige der Lehre, der Glaubens- und der Sittenlehre. Die Disziplinen der historischen Theologie lassen sich aber nicht nur nach Vergangenheitskunde und Gegenwartskunde einteilen, sondern auch nach mehr systematisch-deduktiver und mehr realer, historisch-empirischer Ausrichtung. Nehmen wir die christlichen Sittenlehre, die Kirchengeschichte und die kirchliche Statistik, so beschreiben sie alle das christliche Handeln als die lebendige Wirksamkeit des von Christus ausgegangenen neuen Lebens; die Sittenlehre beschreibt es nach seinen Prinzipien, Kirchengeschichte und Statistik beschreiben es nach seiner Wirklichkeit in Vergangenheit und Gegenwart.156 Wiederholt sich hier also das Verhältnis zwischen Ethik und Geschichtskunde (vgl. oben Abschnitt 3.2.)? Die christliche Sittenlehre wäre dann das spekulative „Formelbuch“ der Kirchengeschichte und der Statistik, diese wiederum wären das „Bilderbuch“ der Sittenlehre. Die christliche Sittenlehre ist nun aber nicht wie die philosophische Ethik eine spekulative Wissenschaft, sondern gehört mit Kirchengeschichte und kirchlicher Statistik auf die andere, die reale Seite. Sie ist als Teil der historischen Theologie Teil der neueren Geschichtskunde157 und setzt die spekulativen Sätze der Ethik voraus. Ihre Sätze gewinnt sie, wie auch die Glaubenslehre, nicht aus der sich selbst analysierenden Anschauung der menschlichen Vernunft, sondern aus der Reflexion des christlichen Gefühls und aus der Anschauung der Kirche.158 Was die philosophische Ethik gegenüber der Geschichte ist, ist gegenüber der historischen Theologie vielmehr die philoso156  Vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  32–34); Kirchliche Statistik 1827, 1. Stunde (KGA II/16, S.  188); Simon Gerber: Kirchliche Statistik als Soziologie des Christentums, in: Hg. Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Schleiermacher-Archiv 22, Berlin und New York 2008, S.  4 43–457, hier 445–447. In der kirchlichen Statistik heißt es: „Also die lebendige Anschauung von der Totalität der Wirkungen, die das Christenthum hervorgebracht hat und von der verschiedenen Intensität, Art und Weise wie es sich in das menschliche Leben hineingebildet hat, das heißt doch nichts anderes: als, die Kenntniß der in dem Christenthum wirkenden Kraft erlangen wir nur durch die Erkenntnis des Gesammtzustands der christlichen Kirche, jeder Leitung der christlichen Kirche muß diese lebendige Kenntniß zu Grunde liegen, wenn sie nicht bloß eine empirische sein soll; eine wirkliche Darstellung der lebendigen Idee setzt diese Kenntniß voraus; es zeigt sich also daß diese Disciplin etwas sehr wesentliches ist. Das muß auch das natürliche Resultat der Kirchengeschichte sein, welche auch die Totalität der Wirkungen des Christenthums zur Anschauung bringen kann.“ 157  Christliche Sitte 1828/29, 6. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  166); Kurze Darstellung 2 , §  69 (KGA I/6, S.  353); vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  84 f. 158  Christliche Sitte 1809/10, §  6 –11. 42 (SW I/12, Beilage, S.  4 f. 14); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  4 f.); Der christliche Glaube2 1, §  19, Zusatz (KGA I/13,1, S.  148 f.). Vgl. Birkner: Schleiermacher christliche Sittenlehre, S.  81–87.

3.  Die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin

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phische Theologie, die als kritische Wissenschaft Wesen und Eigenart der christlichen Religion innerhalb der menschlichen Religionen und der Tätigkeiten des menschlichen Geistes überhaupt bestimmt.159 Die dogmatischen Disziplinen als Anschauung des Gefühls hingegen sind immer bezogen auf eine bestimmte, historisch gegebene und nicht a priori konstruierbare Glaubensweise. Glaubens- und Sittenlehren sind daher auch nie die Privatarbeiten ihrer Verfasser, sondern stehen, da auf eine bestimmte Glaubensweise bezogen, auch immer innerhalb einer bestimmten Glaubensgemeinschaft und innerhalb einer bestimmten Zeit von deren geschichtlicher Entwicklung. Schleiermachers kirchlicher Standpunkt ist der Protestantismus seiner Gegenwart.160 Die Sätze jedoch, die die Sittenlehre und die Glaubenslehre aus der Reflexion des christlichen Gefühls heraus aufstellen, und hier besonders die Sätze über das Wesen und Handeln der christlichen Kirche, müssen zugleich die Grundlage der geschichtlichen Entwicklung der christlichen Kirche sein; andernfalls wären Kirchengeschichte und kirchliche Statistik ja nicht Teil der organischen Geschichte des Christentums.161 Wenn die dogmatischen Disziplinen das Christentum immer aus der Sicht einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gestalt des Christentums in dieser Zeit darstellen, so gilt dasselbe auch für die Kirchengeschichte und ihre Sicht auf das die geschichtliche Entwicklung des Christentums.162 Es sind aber nicht nur die real-historischen Fächer der historischen Theologie auf die dogmatischen Fächer mit ihrer systematischen Reflexion des christlichen Glaubens angewiesen, sondern auch umgekehrt diese auf das Material, das jene über die Wirklichkeit des Glaubens und Lebens in Vergangenheit und Gegenwart liefern. Die Glaubenslehre bezieht sich überall auf das Neue Testament und die Dogmen- und Theologiegeschichte,163 und auch die Sittenlehre bringt immer wieder Beispiele aus der Kirchengeschichte.164 Das tut schließlich auch die Praktische Theologie, die als Technik für das Kirchenregiment und den Kirchendienst ja auf der historischen Kenntnis dessen, was die evangelische Kirche sei, beruht.

159  Kurze

Darstellung 2, §  21–24. 32–35. 252–254 (KGA I/6, S.  334 f. 338 f. 414 f.). Vgl. Rössler: Schleiermachers Programm, S.  72–83; Janssen: Die Inkarnation, S.  74. Vgl. oben Abschnitt 3.4.2. und unten Abschnitt 5.2. 160 Christliche Sitte 1809/10, §   33–35 (SW I/12, Beilage, S.   11 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  8 –12); Kurze Darstellung 2, §  97 f. (KGA I/6, S.  363 f.); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  505–507 (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  362–364); Der christliche Glaube2 1, §  11,1; 19; 23 (KGA I/13,1, S.  94 f. 143–148. 160–163); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  97 f. (hg. Sachs, S.  99–101) 161 Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  59. 162  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  671) 163  Vgl. Der christliche Glaube2 1, §  27 (KGA I/13,1, S.  175–182). 164  Vgl. Christliche Sitte 1828/29, 6. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  166).

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B.  Systematischer Teil

Die Disziplinen der historischen Theologie beschreiben also aus der Sicht einer bestimmten Gestalt des Christentums jeweils das Ganze des christlichen Glaubens und der christlichen Religionsgemeinschaft: als apostolisches Zeugnis von der grundlegenden Offenbarung, als Glauben und Erkenntnis, als Handlungsweise, als gegenwärtigen Gesamtzustand der Gemeinschaft und als Entwicklung der Gemeinschaft durch die Zeiten. Dies letzte ist die Kirchengeschichte.

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte 4.1.  Einheit und Teleologie der Kirchengeschichte Schleiermacher faßt die Kirchengeschichte auf als Entwicklungsgeschichte des von Christus gestifteten gemeinsamen Lebens. Als eigenes, organisches Element der Geschichte ist die Kirchengeschichte nichts Zusammengesetztes, sondern eine Einheit. „So wie die Kraft, die durch das Christenthum in das menschliche Geschlecht kam: so ist auch ihre Wirkung nur eine. Wenn das also Alles Eines ist, so haben wir auch nur die rechte geschichtliche Betrachtung in diesem Einssein.“1

Andererseits ist jede organische Geschichte teleologisch ausgerichtet: Sie beschreibt den Prozeß der allmählichen Annäherung der Erscheinung an die Idee bis hin zur Identität beider (vgl. oben Abschnitt 3.1.). Ein christlicher Glaubenssatz ist es schließlich, daß diese Geschichte einen einzigen Anfänger und Initiator hat, nämlich Christus (vgl. oben Abschnitt 3.4.3.). Das heißt einerseits, daß das Christentum, unbeschadet seiner zugestandenen Kontinuität zum israelitisch-jüdischen Monotheismus, als ein neues religiöses Prinzip in die Weltgeschichte eintritt.2 Andererseits ist nur in Christus das Christentum ursprüng1 Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   676). Vgl. Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2.  Aufl., Berlin 1830, §  78 (KGA I/6, S.  356). Als kritisches Prinzip in der kirchlichen Statistik 1833/34, 1. Stunde (KGA II/16, S.  475): Christlich ist, was sich bis auf den Ursprung zurückverfolgen läßt. 2  Über die Religion, Berlin 1799, S.  2 86 f. 289 f. (5. Rede) (KGA I/2, S.  314–316); Hermeneutik 1819, 19.–20. und 32.–34. Stunde (KGA II/4, S.  247–249. 282); Ueber die Religion, 3.  Aufl., Berlin 1821, S.  439 (Erläuterung 11 zur 5. Rede) (KGA I/12, S.  306); Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (KGA II/6, S.  22. 473); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  673); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  292 f.); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), S.  255–284. 481–532, hier 282. 496–498 (1. und 2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  334. 352–355); Kurze Darstellung 2, §  46 (KGA I/6, S.  343); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  12; Band 2, Berlin 1831, §  93,3 f.; 132; 156 (KGA I/13,1, S.  102–106; I/13,2, S.  45–51. 337–341. 450– 455); Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  9 ; 111 (SW I/8, S.  25–28. 475–482); Leben Jesu 1832, 2. und 43. Stunde (SW I/6, S.  12 f. 305); Predigt 194 (23.12.1832) über Hebr 3,5 f. (Predigten. Siebente Sammlung, Berlin 1833, S.  53–55; SW II/2, S.  302 f.). §  93 der Glaubenslehre unterscheidet in der Person Christi das Urbildliche (worin Christus originell war) und das Volkstümliche (worin er als geschichtliche Person an seine jüdische Umwelt gebunden war). – Vgl. Hans-Walter Schütte: Christlicher Glaube und Altes Testament bei

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B.  Systematischer Teil

lich; alle anderen bekommen es durch seine Vermittlung, denn alles geht von ihm aus.3 Einige neuere Interpreten kritisieren Schleiermacher für seine scharfe Grenzziehung zwischen Altem Testament und Judentum einerseits, Christus und dem Christentum andererseits, die mit einer Abwertung von ersterem einhergehe.4 Klaus Beckmann konstatiert, daß Schleiermacher immerhin kein Anhänger der „Substitutionstheorie“ sei, wonach Israel (bzw. das Judentum) als Gottesvolk durch die Kirche abgelöst worden sei, daß er aber die in seiner reformierten Konfession besonders gepflegte Vorstellung von einem das biblische Israel und die Kirche umfassenden Gottesvolk nicht teile.5 Nur: Die von Beckmann antijudaistisch genannte und (ganz zu Recht) verworfene „Substitutionstheorie“ basiert doch gerade auf der Vorstellung einer unmittelbaren Kontinuität zwischen dem biblischen Israel und der christlichen Kirche (während Paulus ja schreibt, daß das Volk unter dem Gesetz das Verheißene eben noch nicht antreten konnte, z. B. Röm 8,3; Gal 3,6–26). Oder, anders ausgedrückt: Es ist ein Widerspruch, wenn die christliche Kirche das Alte Testament als eine Urkunde des eigenen Glaubens ansehen soll, zugleich aber auch als ein von ihr nicht zu beanspruchendes jüdisches Eigentum. Man kann es Schleiermacher auch zugute halten, daß er das Judentum eben nicht als eine Art Larvenstadium für das Christentum vereinnahmt hat, sondern es in seiner religiösen Eigenständigkeit ernstgenommen hat. Daß aus dem positiven Anknüpfen an die alttestamentlich-israelitische und jüdische Tradition nicht unbedingt auch eine günstige Beurteilung des Judentums folgt, zeigen im Übrigen schon das Matthäusevangelium und der Barnabasbrief. Matthias Wolfes findet Beckmanns Kritik zu milde; nach ihm leistete Schleiermacher mit seiner ungünstigen Beurteilung der alttestamentlich-jüdischen Religion der Judenfeindschaft durchaus Vorschub. Wolfes mahnt zwar eine gründliche, vorurteilsfreie Beschäftigung mit dem Judentum an, weiß deren Ergebnis aber immer schon im Voraus; wo ein religiöser Unterschied zwischen Christentum und der Judentum konstatiert Friedrich Schleiermacher, in: Hg. Dietrich Rössler, Gottfried Voigt und Friedrich Wintzer: Fides et communicatio. Festschrift für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, Göttingen 1970, S.  291–310; Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte, Göttinger theologische Arbeiten 14, Göttingen 1980, S.  111–118. 201 f.; Hermann Fischer: Jesus und das Judentum nach Schleiermachers ‚Leben-Jesu‘-Vorlesung, in: Hg. Roderich Barth, Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener: Christentum und Judentum. Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, Schleiermacher-Archiv 24, Berlin und Boston 2012, S.  309–324; Simon Gerber: Christentum und Judentum in Schleiermachers Vorlesungen über die Kirchengeschichte, ebd. S.  385–401; Ulrich Barth: Jesus-Bild und Geschichtsdeutung, in: Hg. Christian Danz: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, S.  45–62, hier 58–62. 3 Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   679). Vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  133); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  370) 4 Vgl. zur Debatte, ob Schleiermacher judenfeindlich war, auch Hans-Martin Kirn: Friedrich Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation im „Sendschreiben“ David Friedländers, in: Hg. R. Barth/U. Barth/Osthövener: Christentum und Judentum, S.  193–212, hier 193–195; Arnulf von Scheliha: Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede „Über die Religion“ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger, ebd. S.  213–227, hier 213 f. 5  Klaus Beckmann: Die fremde Wurzel, Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 85, Göttingen 2002, S.  34–103. 312–323, bes. 99. 102 f.

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wird, muß das für Wolfes auf lutherischen Verzerrungen, johanneischen Einseitigkeiten usw. beruhen.6 Matthias Blums erziehungswissenschaftliche Habilitationsschrift hat dieselbe Tendenz wie Wolfes; Blum ordnet Schleiermacher in die Tradition derer ein, die Paulus (mit den bekannten fatalen Folgen) antijudaistisch verzerrten, indem sie behaupteten, die paulinische Opposition gegen die Gerechtigkeit aus Werken beziehe sich auch auf das Judentum (eine „Verzerrung“, die bei Stellen wie Röm 10,2–5; 11,4–10; Phil 3,4–9 ja auch irgendwie naheliegt), statt anzuerkennen, daß das Judentum die wahre Religion des „sola gratia“ sei und christlicherseits nicht kritisiert, aber auch nicht zustimmend vereinnahmt werden dürfe. (Es bleibt freilich die Frage, wieso sich bei so viel Harmonie Paulus überhaupt noch taufen ließ, wieso er vorher Jesu Anhängerschaft so schroff abgelehnt und bekämpft hatte [vgl. 1 Kor 15,9; Phil 3,5 f.] und wieso er sich danach wünschte, daß auch die anderen Juden zum Glauben an Christus kämen [vgl. z. B. Röm 9,1–3; 11,12–15; 1 Kor 9,20].) Eine judenfeindliche Tendenz sieht Blum implizit dann auch noch in Schleiermachers Pädagogik gegeben: Schleiermacher setze voraus, daß die religiöse Erziehung und Bildung im Staat christlich sei, und wenn er aufgrund seiner christlichen Anthropologie die Erziehung durch Prügel ablehne, dann sei das implizit auch eine Polemik gegen das Judentum bzw. gegen das, was er in seiner verzerrten Sicht für alttestamentlich-jüdisch halte.7 Das Ganze spricht für sich. Besonderer Stein des Anstoßes ist dabei stets eine Passage aus der fünften Rede über die Religion, in der Schleiermacher das in seiner tragischen Wucht durchaus eindrucksvolle Bild einer Religion zeichnet, die davon lebe, daß die Gottheit auf das, was der Mensch tue, unmittelbar lohnend, züchtigend oder bestrafend reagiere, einer Religion also, die den Weltlauf als einen beständigen Dialog zwischen menschlichem Handeln und göttlicher Antwort deute; indem aber die göttlichen Antworten und Offenbarungen im Laufe der Zeit immer undeutlicher und schwächer geworden seien und zuletzt ganz erloschen seien, sei diese Religion erstarrt und sterbe nun ab. (Dabei steht sie aber für Schleiermacher selbst im Absterben noch turmhoch über aller rationalistischen Vernunftreligion.) 8 Auch wer es nicht von vornherein für illegitim hält, sich kritisch mit der jüdischen Religion auseinanderzusetzen, und wer nicht meint, daß man das, gegenüber dem man sich tolerant verhalten will, auch für wahr halten müsse, wird fragen müssen, ob Schleiermacher das Wesen der israelitischen und der jüdischen Religion damit wirklich getroffen hat, ob er die israelitische Religion im Alten Testament, das frühe Judentum zur Zeit Christi und das Judentum um 1800 nicht allzu sehr ineinander geworfen hat und ob seine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Altem und Neuem Testament dem Selbstverständnis Jesu, der Apostel und des Neuen Testaments entspricht.9 Eine wesent6 

Matthias Wolfes: Schleiermacher und das Judentum, in: Aschkenas 14 (2004), S.  485–510, bes. 488 f.; ders.: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Arbeiten zur Kirchengeschichte 85, Teil 2, Berlin und New York 2004, S.  326–329. 360–390 (bes. 373) 7  Matthias Blum: „Ich wäre ein Judenfeind?“, Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 42, Köln 2010, z. B. S.  25–28. 156–158. Vgl. auch ders.: Art. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, in: Handbuch des Antisemitismus 2/2, Berlin 2009, S.  733–735, wonach Schleiermacher mit seiner Distanzierung Jesu vom Judentum der völkischen Umdeutung Jesu zum arischen Helden entscheidend vorgearbeitet habe. 8  Über die Religion1, S.  2 86–291 (5. Rede) (KGA I/2, S.  314–316). Vgl. z. B. Blum: „Ich wäre ein Judenfeind?“, S.  20–30. 9 So hat Wolfes: Schleiermacher, S.   502, nicht unrecht, wenn er dem Christusbild Schleiermachers durch die Abgrenzung vom Judentum unhistorische Züge bescheinigt.

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liche (von den Kritikern aber kaum beachtete) Problematik scheint mir darin zu bestehen, daß die Vorstellung, es gebe (neben der göttlichen Ursächlichkeit für den gesam­ ten, unteilbaren Weltzusammenhang) eine „eigene Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche“ und eine „unmittelbaren Einwirkung der Gottheit“, in Schleiermachers Weltbild keinen Platz hat. Im Neuen Testament wird diese Vorstellung überall vorausgesetzt, von der christlichen Frömmigkeit aller Zeiten selbstverständlich rezipiert, dogmatisch etwa expliziert als die providentia specialis und specialissima im Gegensatz zur providentia generalis; Schleiermacher aber erklärt sie für etwas Jüdisches, nicht Christliches.10 Einem tieferen Verständnis des Alten Testaments steht für Schleiermacher wohl auch seine Auffassung entgegen, daß eine Religion als „geoffenbarte“ Sicht der Welt, Gottes und des Menschen schon bei ihrer Stiftung durch ein religiöses Genie feststeht und sich dann nur noch ihrer Erscheinung und lehrhaften Formulierung nach entwickelt, nicht aber der Idee nach. Gerade für den alttestamentlichen Glauben ist ja charakteristisch die geschichtliche Entwicklung von der Sinai- zur Zionsoffenbarung, zur nachexilischen Frömmigkeit, zur Apokalyptik usw. Ein anderes Problem ist Schleiermachers Stellung im zeitgenössischen Diskurs um die bürgerliche Gleichstellung der Juden. Charakteristisch dafür ist eine Bemerkung in der Praktischen Theologie: Wenn ein Jude sich beim Pfarrer zur Taufe anmelde, wisse dieser zunächst nicht, ob es dem Juden wirklich um den Glauben oder bloß um Verbesserung der Lebensumstände gehe. „Von dieser Seite aus wäre zu wünschen, daß alle politische Ungleichheit aufgehoben würde, von dem politischen Standpunct aber würden wir diese Frage bestimmt verneinen.“11 In der vom Christentum abweichenden (und kritisch beurteilten) Religion als solcher sieht Schleiermacher offenbar keinen Grund zur Ungleichbehandlung – eher schon könnte eine Gleichbehandlung verhindern, daß ein Masseneintritt innerlich unbekehrter Juden die Kirche überfremdet. Schleiermacher hat aber Zweifel, ob ein Jude ohne Vorbehalte ein Glied des Volks und ein loyaler Staatsbürger wäre; dies hängt dann aber doch wieder an der Religion, die die Sphären des Nationalen, Politischen und Religiösen nicht so genau trenne und in der immer noch der eine volle Integration konterkarierende politische und nationale Messianismus stecke.12

Schleiermacher denkt die Kirchengeschichte zielgerichtet, teleologisch, dabei aber weder als Verfall eines anfänglichen Idealzustandes noch als Fortschreiten von einem unvollkommenen Anfang zu immer größerer Vollkommenheit. – Die Tendenzen der klassischen konfessionellen Kirchengeschichtsschreibung brachte Karl (von) Hase so auf den Punkt: 10  Vgl. Über die Religion1, S.  2 87 f. (5. Rede) (KGA I/2, S.  315. – Daß der Gott des Judentums hier als maschineller Schicksalsverwalter erscheine und der Freiheitsbegriff aufgelöst werde, so Wolfes: Schleiermacher, S.  505, stimmt gerade nicht! Das Anstößige für Schleiermacher ist ja gerade die Vorstellung einer Beeinflußbarkeit Gottes); Ethik 1812/13, Güterlehre, Von den vollkommenen ethischen Formen, §  204 (Werke 2, S.  360); Dialektik 1822, 54. Stunde (KGA II/10,1, S.  269 f.; II/10,2, S.  580 f.); Der christliche Glaube2 1, §  46– 49 (KGA I/13,1, S.  264–299); Predigt 159 (24.10.1830) über 2 Kor 5,17 f. (Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, S.  173–178; KSP 3, S.  125–128). 11  Praktische Theologie 1833 (Nachschrift Anonym, SN 557, pag. 82 f.) 12  Vgl. auch Kirn: Friedrich Schleiermachers Stellungnahme, S.  2 01–211.

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„Gemeinsam ist ihnen die Anerkennung der apostolischen Kirche als der vollkommenen Gestalt der Kirche, auch der ersten 5 Jahrhunderte, als maßgebend für alle Zeit […] Gemeinsam ist die supernaturale Betrachtung […] Gemeinsam endlich die dualistische Weltanschauung: die Welt- und Kirchengeschichte ein Kampf der beiden jenseitigen Mächte […] Ihr Grundunterschied ist: Flacius ist historischer Pessimist, Baronius Optimist. Ihm erscheint die katholische Kirche wesentlich immer als dieselbe, siegreich über alle Gegensätze. […] Christus im Seesturm ist ihm ein Sinnbild für alle Zeiten: immer bleibe dem Frommen der Trost, auch wenn Christus schlafe, daß er im Schifflein des h. Petrus schläft. […] Flacius dagegen sah nach dem 5. Jh. eine immer dunklere Verfinsterung […] Eine revolutionäre Geschichtsanschauung, die nicht Vergangenes zu achten hat.“13

Den Pessimismus der klassischen protestantischen Kirchengeschichtsanschauung14 radikalisierte Gottfried Arnolds epochemachende „Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie“ zu einer umfassenden Verfallstheorie: Die institutionellen Großkirchen seien seit der konstantinischen Wende verweltlicht und in Machtbesessenheit und dogmatistischer Rechthaberei entartet; der Geist Jesu und der Apostel finde sich nur in der unsichtbaren, über die Kirchen zerstreuten Gemeinschaft der wenigen, oft verketzerten wahren Christen. Der Niedergang hat demnach also noch früher eingesetzt als nach Flacius und dessen Nachfolgern, und auch die Reformation habe nur eine vorübergehende Besserung gebracht.15 Philipp Jacob Spener machte in seinen Pia desideria, die zur Programmschrift des Pietismus werden sollten, eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen evangelischen Kirche, die in der Tat niederschmetternd war; doch er ließ darauf die Aussicht auf eine bessere Zukunft folgen lassen: Gemäß der göttlichen Verheißung stehe die Bekehrung der Juden ebenso ins Haus wie der Fall des widerchristlichen Papsttums; ein goldenes Zeitalter werde für die Kirche heraufziehen, an dem die Frommen jetzt schon mitwirken könnten.16 13  Karl (von) Hase: Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Band 1, Leipzig 1885, S.  36 f. 14 Vgl. Ferdinand Christian Baur: Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung, Tübingen 1852, S.  39–53. 81 f. 115; Karl Heussi: Die Kirchengeschichtschreibung Johann Lorenz von Mosheims, Geschichtliche Untersuchungen I,4, Gotha 1904, S.  46–48; Karl Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung der Auf klärung, Tübingen 1921, S.  1 f.; Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit, Meerane 1923, S.  431–456; Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, München 1934, S.  60–65; Peter Meinhold: Geschichte der kirchlichen Historiographie, Orbis academicus III/5, Band 1, Freiburg und München 1967, S.  228–295. 15 Vgl. Baur: Die Epochen, S.  85–107; E. Seeberg: Gottfried Arnold, S.  65–256; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 2, Gütersloh 1951, S.  260–274; Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse III,51, Göttingen 1963, S.  11–26. 108–117; Dirk Fleischer: Zwischen Tradition und Fortschritt, Wissen und Kritik 22, Waltrop 2006, S.  23–30. 41–69. 16  Philipp Jacob Spener: Pia desideria: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälli-

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Für den Fortschrittsoptimismus, mit dem die Auf klärung in die Zukunft blickte, lieferte Gottfried Wilhelm Leibniz die philosophische Grundlage: Gott habe die Welt so geordnet, daß die Vernunftwesen sich sittlich immer weiter vervollkommneten und zugleich ihre Glückseligkeit zunehme.17 Aber auch die erwähnten beiden Klassiker des Pietismus haben auf die Auf klärung gewirkt: Spener mit einer Eschatologie, die die Erfüllung der Verheißung ins Diesseits holte,18 Arnold mit seiner durch keine konfessionellen Loyalitäten gemilderten Kritik am verfaßten Christentum der Vergangenheit und Gegenwart; die aufgeklärte Kirchengeschichtsschreibung fand nicht zuletzt im kirchlich geförderten unvernünftigen Aberglauben einen Übelstand, dessen Überwindung kommen müsse und jetzt auch schon angefangen habe.19 Die Vorstellung von einer allmählichen Vervollkommnung des Christentums hat ihren klassischen Ausdruck in Gotthold Ephraim Lessings Büchlein von der Erziehung des Menschengeschlechts gefunden: Danach wird die Menschheit durch die biblischen Offenbarungen allmählich zur Mündigkeit erzogen; das Positive in der Religion sei als pädagogisches „Elementarbuch“ für die Entwicklung des Menschen notwendig, aber es sei dazu bestimmt, schließlich in einer vernünftigen Gotteserkenntnis aufzugehen, die der äußeren Autorität nicht mehr bedürfe.20 Schon das Mittelalter kannte die Idee, daß das Zeitalter des Sohnes überboten und abgelöst werden sollte, und zwar von einem dritten Zeitalter, dem des Heiligen Geistes. Lessing nimmt ausdrücklich darauf Bezug: Schwärmerisch sei nur gewesen, daß man die Erfüllung schon in einer Zeit erwartet habe, als die Menschheit dazu noch nicht reif gewesen sei.21 Für das ger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen, Frankfurt am Main 1676 (recte 1675), S.  72–91 (hg. von Beater Köster, Gießen 2005, S.  88–106) 17 Vgl. Erich Seeberg: Über Bewegungsgesetze der Welt- und Kirchengeschichte, in: Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse 1 (1924), S.  117–141, hier 127–129; Hirsch: Geschichte 2, S.  27–48. 18 Vgl. Hirsch: Geschichte 2, S.  152–155. 19 Vgl. Baur: Die Epochen, S.  158. 193–195; Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  53–83; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  144–147. Auch die katholische Kirchengeschichtsschreibung der Auf klärung kennt diese Sicht, vgl. Leo Scheffczyk: Friedrich Leopold zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi“, Münchener theologische Studien I,3, München 1952, S.  160 f. 20  Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin 1780 (Sämtliche Schriften 3 13, S.  413–436). Das Problem, ob und inwiefern geschichtliche Wahrheiten und die Nachricht von ihnen Vernunftwahrheiten beweisen können, behandelt auch [Gotthold Ephraim Lessing:] Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft, Braunschweig 1777 (Sämtliche Schriften 3 13, S.  1–8). Vgl. Reinhart Staats: Protestanten in der deutschen Geschichte, Leipzig 2004, S.  187–189; Ingrid Strohschneider-Kohrs: Zur Logik der Erziehungsschrift, in: Hg. Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext, Frühe Neuzeit 159, Berlin und New York 2011, S.  155–178. 21  Lessing: Die Erziehung, §  86–90 (Sämtliche Schriften 3 13, S.  433 f.). Vgl. Joachim von Flore: Concordantia novi ac veteris testamenti V, 21; 84 (Venedig 1519, fol.  70va–b. 112rb–

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Verständnis des Büchleins ist freilich noch zu beachten, daß Lessing sich nicht seinen Verfasser, sondern nur seinen Herausgeber nennt und daß er ihm das augustinische Motto beigegeben hat: „Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt.“22

Lessing hat sich also (ähnlich wie später Søren Kierkegaard in vielen seiner Schriften) zu seinen hier vorgetragenen Ideen eine distanzierte Haltung eingenommen. – Der theologische Rationalismus mit seiner intellektualistisch-moralischen Auffassung des Christentums knüpfte an Lessing und an Immanuel Kant an und erwartete, daß die Vernunftreligion die geoffenbarte Religion überbieten und ablösen werde: „Sed quo magis adolescunt homines, et cum aetate maturescit ingenii vis, eo minus ponderis apud illos habet vel ad cogitandum vel ad agendum auctoritas aliorum […] Hinc et omnis relevata religio paullatim in rationalem transit“.23 Auch nach Friedrich Wilhelm Joseph Schelling enthalten die ersten Dokumente des Christentums seinen idealen Gehalt nur unvollkommen; doch für ihn ist die Idee des Christentums (d.i. die Anschauung des Universums als moralisches Reich, die Einheit und Versöhnung des Endlichen und Unendlichen in der Geschichte, ausgedrückt als Menschwerdung Gottes) von seiner historischer Erscheinung unabhängig. Infolgedessen polemisiert Schelling nicht allein gegen die Verteidiger des biblischen Buchstaben, sondern noch mehr gegen die aufgeklärten Rationalisten, die mit ihrer Dogmenkritik und Reduktion der Religion auf das moralisch Verwertbare gerade das entsorgten, was der eigentliche Träger der Idee sei.24 Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Johann vb). – Vgl. Beckmann: Die fremde Wurzel, S.  43–45 zu Schleiermachers Rezeption der Lessing-Schrift. 22  Lessing: Die Erziehung, Titelblatt (Sämtliche Schriften 3 13, S.  413) nach Augustin: Soliloquia II, X,18. 23  Heinrich Philipp Konrad Henke: Lineamenta institutionum fidei Christianae historico-criticarum, Helmstedt 1795, S.  27. Vgl. dazu auch Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 2.  Aufl., Königsberg 1794, S.  167–183 (Akademie-Ausgabe 6 = I/6, S.  115–124); ders.: Der Streit der Facultäten, Königsberg 1798, S.  70– 115 (Akademie-Ausgabe 7 = I/7, S.   48–69); Eduard Zeller: Die Annahme einer Perfektibilität des Christenthums, historisch und dogmatisch untersucht, in: Theologische Jahrbücher 1 (1842), S.  1–50, bes. 20–26; Friedrich Schiele: Der Entwickelungsgedanke in der evangelischen Theologie bis Schleiermacher, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 7 (1897), S.  140–170, bes. 148–162; Werner Elert: Der Kampf um das Christentum, München 1921, S.  160–167; Hans-Walter Schütte: Die Vorstellung von der Perfektibilität des Christentums im Denken der Auf klärung, in: Hg. Hans-Joachim Birkner und Dietrich Rössler: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Wolfgang Trillhaas zum 65. Geburtstag, Berlin-West 1968, S.  113–126; Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Beiträge zur historischen Theologie 77, Tübingen 1989, S.  38–42. 24  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium, Tübingen 1803, 8. und 9. Vorlesung (Sämmtliche Werke I/5, S.  286–305). Vgl. Johann Anselm Steiger: Ausklärerei, in: Hg. Paul Ziche und Gian Franco Frigo: „Die bessere Richtung der Wissenschaften“, Schellingiana 25, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S.  115–152, hier 126–141; Christian Danz: Schellings Wesensbestimmung des Christentums in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, ebd. S.  153–184,

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Gottlieb Fichte; 25 Philipp Marheineke und Ferdinand Christian Baur sollten daran anknüpfen (vgl. oben Abschnitt 3.5.1. und unten Abschnitt 10.5.).

Schleiermachers Kirchengeschichte also hat weder die Vervollkommnung noch die Depravierung des Christentums in der Geschichte zum Gegenstand. Von der rationalistischen Deutung des Christentums unterscheidet Schleiermacher sich schon dadurch, daß für ihn die wahre, lebendige Religion immer geschichtlich-positiv ist und auf einer individuellen, nicht rein vernünftig ableitbaren Idee beruht. Und speziell das Christentum ist, anders als andere Religionen, nicht nur eine Lehre und Erkenntnis oder auch eine Ordnung und Regel für das Verhalten, bei denen, einmal überliefert, der Stifter wieder verschwinden könnte; es ist vielmehr ein neues Leben, das beständig auf Christus als seine Quelle angewiesen bleibt.26 Schließlich weist Schleiermacher aber auch die Theorie zurück, die Kirche sei in ihrer Erscheinung bereits schlechthin vollkommen und bedürfe der Entwicklung nicht; er schreibt diese Theorie dem Katholizismus zu.27 So kommt Schleiermacher zu dem Modell eines Fortschreitens, das an einen verbindlichen, unüberbietbaren Anfang gebunden ist. In Schleiermachers Anschauung der Geschichte entwickelt sich nicht die Idee selbst, sondern nur die Verwirklichung der Idee in der Zeit. Das gilt umso mehr auch für die Geschichte des Christentums, als andernfalls die Geschichte des Christentums die Idee, durch die sie allein möglich ist, daß nämlich Christus der eine Mittler und Erlöser der ganzen Menschheit ist, ad absurdum führte und sich damit selbst den Boden entzöge. In Christus, dem Initiator, ist das ganze Christentum urbildlich und vollkommen gesetzt; alles Weitere ist eine Annäherung an ihn, denn er kann eben nicht überboten und perfektioniert werden.28 Das Christentum als hier 164–181; ders.: Schelling und die Historisierungsprozesse im 19. Jahrhundert, in: Hg. ders.: Schelling, S.  1–19, hier 2 f. 5–9. 25  Johann Gottlieb Fichte: Staatslehre 1813 (Akademie-Ausgabe II/16, S.  131–171) 26  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  6 84). Vgl. Der christliche Glaube2 1, §  11,4 (KGA I/13,1, S.  98–101). 27  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  72. 123. 384); Kirchliche Statistik 1833/34, 3. Stunde (KGA II/16, S.  470); vgl. Martin Rössler: Protestantische Individualität, in: Hg. Arnulf von Scheliha: Das protestantische Prinzip, Stuttgart 1998, S.  55–75, hier 63–65. Vgl. auch oben Abschnitt 3.5.2. (zum „katholischen“ Modell). 28  Vgl. Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  370. 377). Dort stellt Schleiermacher es als Kanon auf, daß aller Fortschritt in der Geschichte eine Fortwirkung Christi sei und es weder eine Vervollkommnung noch eine Offenbarung über ihn hinaus gebe. Vgl. weiter Der christliche Glaube2 2, §  93,2 (KGA I/13,2, S.  4 4 f.), wo Schleiermacher die Vorstellung einer Vervollkommnung der Worte und Taten Christi nur dann als christlich gelten läßt, wenn sie eine Vervollkommnung des sprachlichen Ausdrucks für das, was er sagte, und der Verhältnisse, unter denen seine Taten geschahen, meint, also eine vollkommenere Darstellung des inneren Wesens Christi, aber kein vollkommeneres Wesen. In der Theologischen Enzyklopädie von 1831/32 weist Schleiermacher die Behauptung zurück, daß aus der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit der geschichtlichen Gestalten des Christentums (vgl. unten Abschnitt 4.4.) folge, daß auch Christus und das Christentum irgendwann überboten werde und

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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Idee und Kraft, die in die Geschichte eintritt und Gestalt annimmt, erscheint im neutestamentlichen Kanon als seiner frühesten uns zugänglichen Äußerung am reinsten.29 Nicht das Christentum selbst entwickelt und vervollkommnet sich in der Geschichte, wohl aber seine historisch-empirische Gestalt. Die Kirchengeschichte beschreibt, wie das Christentum aufgenommen wird, wie es sich extensiv ausbreitet und intensiv steigert, und insofern dieser Prozeß fortschreitet (und das tut er), insofern nähert sich das Christentum seiner Erscheinung nach immer mehr seinem Wesen und seinem Urbild in Christus an, und insofern sind seine späteren Zustände tatsächlich vollkommener als die früheren.30 Mit einem Bild aus der Bibel: Christus ist sowohl Eckstein und Fundament, worauf alles gebaut ist (1 Petr 2,4–8), als auch der Schlußstein, zu dem alles strebt und der alles zusammenhält und zu einer Einheit macht (Eph 2,19–22). Ziel der Entwicklung ist die Einbeziehung der ganzen Menschheit in die christliche Gemeinschaft, dergestalt, daß das Christentum alle durchdrungen hat und in keiner außer der nachwachsenden Generation mehr der Korrektur und Steigerung von außen bedarf.31 Dies Endziel faßt Schleiermacher gern mit verschwinden müsse (§  53, hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  61 f.). Die Ausführungen der Kirchlichen Statistik von 1833/34 zur Frage einer Perfektibilität des Christentums (5. Stunde, KGA II/16, S.  478) sind ziemlich kryptisch, was wohl dem Nachschreiber geschuldet ist. 29  Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811, Historische Theologie, Einleitung, §  17 (KGA I/6, S.  268); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  377 f.); Der christliche Glaube2 2, §  129; 130,2; 131,2 (KGA I/13,2, S.  320–336). Vgl. auch oben Abschnitt 3.6. und unten Abschnitt 6.2.3. 30  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  679). Vgl. Predigt 117 (10.6.1821) über Apg 2,41 f. (Predigten. Fünfte Sammlung, Berlin 1826, S.  384–386; SW II/2, S.  228 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  68–75. 122. 375); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  83 (hg. Sachs, S.  85–87). So kann Schleiermacher in einer Predigt sagen: „Und wir besonders, m.g.Fr., wenn wir ein Jahr unseres kirchlichen Lebens beschließen, müssen ja mit inniger Dankbarkeit daran denken, daß wir derjenigen Gemeine der Christen angehören, welche von dem verdunkelnden und verunstaltenden, was lange diesen irdischen Leib des Herrn verhüllt hatte, vieles schon von sich geworfen hat, und sich dessen rühmt und erfreut, daß in reinerem Lichte das Evangelium bei uns erkannt wird.“ (Predigt 83 [21.11.1824] über Phil 3,20 f. [Predigten. Siebente Sammlung, S.  544 f.; SW II/2, S.  595]) In der Praktischen Theologie verklammert Schleiermacher den Gedanken der Vollkommenheit Christi und der Perfektibilität der Kirche: Der christliche Glaube gehe davon aus, daß sich die Unendlichkeit des menschlichen Geistes in Christus persönlich verwirklicht habe, und daher könne er sich den menschlichen Geist, insofern er aus der Quelle Christus schöpfe, als einer beständigen Zunahme fähig denken (Praktische Theologie 1830/31, Nachschrift George, SN 556, pag. 83). – Vgl. dazu auch Ohst: Schleiermacher, S.  4 4 f.; Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, Beiträge zur historischen Theologie 96, Tübingen 1996, S.  225–227; Bernd-Holger Janssen: Die Inkarnation und das Werden der Menschheit, Marburger theologische Studien 79, Marburg 2003, S.  75 f. 31 Kirchengeschichte 1821/22, 5. Stunde (KGA II/6, S.   24. 480); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  684 f.). Vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  133; SW I/12, S.  373); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 38); Der christliche Glaube2 2, §  119,3; 120, Zusatz; 125,1; 157,1; 164,1 (KGA I/13,2, S.  264 f. 276 f. 300 f. 456 f. 494 f.).

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dem Wort Christi zusammen: „Sie werden alle von Gott gelehrt sein“ ( Joh 6,45 nach Jes 54,13), auch kombiniert mit der Verheißung, keiner werde es mehr nötig haben, von seinem Bruder belehrt zu werden ( Jer 31,34; Hebr 8,11).32 Erst dann stimmen Wesen und Erscheinung überein, erst dann ist eine Anschauung und Darstellung der christlichen Kirche möglich, die nicht zwischen Religionen, Konfessionen, Schulen und theologischen Richtungen umstritten ist. „Das Resultat ist, daß wir eine vollkommen wahrhafte Geschichte des Christenthums nicht eher zu erwarten haben, als bis der Gegensatz innerhalb des Christenthums würde abgestumpft seyn und ebenso der Gegensatz des Christenthums mit dem, was außer ihm steht; dies aber ist das Ideal.“33

An diesem idealen Endpunkt der Kirchengeschichte treffen auch die verschiedenen Disziplinen der historischen Theologie zusammen: Im dann offenbaren Wesen des Christentums fallen Ursprung, Geschichte und Wirklichkeit, Glaubenserkenntnis, Impuls des Willens und gottesdienstliche Darstellung in eins.

4.2.  Sachliche Teilung des Gegenstandes Am Anfang der Kirchengeschichte stehen der eine Stifter, Urheber und Mittler und der kleine Kreis der Apostel, an ihrem Ziel das ganze Menschengeschlecht. Die fortschreitende Aneignung der menschlichen Natur durch das christliche Prinzip ist indessen kein geradliniger Prozeß.34 Das christliche Prinzip wirkt in den Menschen und durch die Menschen, die es sich aneignet; diese aber sind immer schon mannigfach geprägt, z. B. durch Kultur und Wissenschaft, Bildungsstand und Nationalität.35 Jeder Einzelne und jede Gemeinschaft ist individuell verschieden und bleibt das auch unter der Herrschaft des christlichen Prinzips. Das Christentum bildet verschiedene, auch miteinander in Konkurrenz stehende Kirchengemeinschaften aus (vgl. dazu auch unten Abschnitt 4.4.) 32  Über die Religion1, S.  13 (1. Rede) (KGA I/2, S.  194); Kirchengeschichte 1821/22, 5. Stunde (KGA II/6, S.  24. 480); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  64v); Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  638. 640); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  684); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  494 (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  350); Predigt 157 (29.8.1830) über Eph 4,11 f. (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  124 f.; KSP 3, S.  93); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 24) 33  Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (KGA II/6, S.  472; vgl. 22). Vgl. auch Rössler: Protestantische Individualität, S.  75. 34  „Was ist in dieser Hinsicht zu erwarten, wenn wir davon ausgehen, daß die Entwikklung des Christenthums dem allgemeinen Geseze der menschlichen Entwikklung folgt? Nichts anderes, als daß diesem Ziele nur in unendlicher Annäherung entgegengegangen werde, weil sie dem allgemeinen Schwanken, dem Wechsel zwischen Vorschritt und Rükkschritt unterworfen ist.“ (Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  683) 35  Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde (KGA II/6, S.  476).

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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und nimmt kraft der Wechselwirkungen der Einzelnen und Gemeinschaften untereinander immer wieder neue Formen an. Die lebendige Geschichte, das Individuelle überhaupt läßt sich weder im Voraus a priori konstruieren noch im Nachhinein aus seinen Ursachen erklären.36 Was in der geschichtlichen Wirklichkeit der christlichen Kirche mit dem christlichen Prinzip zusammenwirkt, ist aber nicht nur die Individualität und die Prägung der Menschen durch die verschiedenen ethischen Gemeinschaften, in denen sie stehen: 37 Die Aneignung des christlichen Prinzips ist keine plötzliche Verwandlung, es bleibt in den Einzelnen auch immer ein Rest des alten, noch unchristlichen Menschen, eine dem Geist widerstrebende Tätigkeit des Fleisches; Kirche und Welt, Gemeinschaft des Glaubens und Gemeinschaft der Sündhaftigkeit sind in jedem Teil der sichtbaren, wirklichen Kirche immer untrennbar zusammen vorhanden und wirksam.38 So ist die Geschichte der christlichen Kirche, die Verbreitung des christlichen Prinzips über die Menschheit, auch eine Geschichte von Irrtümern, Mißbildungen und Rückschritten und eine Geschichte davon, wie der Geist die Kirche von ihnen reinigt. Bevor wir hier ins einzelne gehen und untersuchen, was Schleiermacher in seinen verschiedenen Entwürfen an Kräften und Grundspannungen ausmacht, die die Entwicklung des Christentums vorantreiben, müssen wir noch einen Schritt zurückgehen und anschauen, wie er den historischen Gegenstand sachlich geteilt und erfaßt hat, weil diese sachlichen Einteilungen dann für das weitere bestimmend sind. Für eine Darstellung muß man die Geschichte, unbeschadet ihrer Einheit, teilen und strukturieren. In der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums, in der Einleitung zur historischen Theologie, heißt es, allgemein gebe es in der geschichtlichen Darstellung „ein zwiefaches Verfahren“, „um das unendliche Materiale eines geschichtlichen Verlaufs zu übersichtlicher Anschaulichkeit zusammenzufassen“:

Man könne das Material der Länge nach in zeitliche Abschnitte und der Breite nach in sachliche Abschnitte teilen.39 Für beiderlei Einteilung ist Schleiermacher, wie wir sehen werden, seiner frühen Abhandlung über den Geschichtsunterricht gefolgt: Er ist von der Anschauung der Gegenwart ausgegangen, um

36 Vgl.

Hermann Reuter: Ueber Schleiermacher’s ethisches System und dessen Verhältniß zur Aufgabe der Ethik jetziger Zeit, in: Theologische Studien und Kritiken 17 (1844), S.  567–632, hier 567–574. 37  Vgl. Christliche Sitte 1809/10, §  129 f. (SW I/12, Beilage, S.  43 f.). 38 Vgl. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 5. Stunde (KGA II/6, S.   13); Der christliche Glaube2 2, §  148,1 (KGA I/13,2, S.  427 f.) 39  Kurze Darstellung 2 , §  75 (KGA I/6, S.  355)

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anhand ihrer ein ordnendes „Skelet“ für die Erfassung und Darstellung der Vergangenheit zu gewinnen.40 Bei den verschiedenen Ansätzen, die Kirchengeschichte der Breite nach in sachliche oder materiale Abschnitte einzuteilen, war das Grundmuster, das Schleiermacher vorschwebte, offenbar die Teilung in eine innere und eine äußere Geschichte.41 Dabei dienen die Schemata, die er aufstellt, zugleich auch als kritisch-heuristisches Prinzip, um zu entscheiden, was aus der Menschheitsgeschichte überhaupt in die Kirchengeschichte gehört.

4.2.1.  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 Die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 nennt als „wesentliche Elemente“, aus denen die Kirchengeschichte besteht, die Einwohnung des Gefühls selbst und das gemeinsame Leben des Gefühls. Das erste, die mehr innere Seite der Geschichte, ist gleichbedeutend mit der Ausbreitung des Christentums; die Einwohnung des Christentums ist für Schleiermacher also ihrem Wesen nach Ausbreitung. Das „Gefühl“ mußte sich von Christus auf die Menschheit ausbreiten, erst auf wenige, dann auf viele; aber auch in den Einzelnen, die es ergreift, breitet es sich immer mehr aus. Die Einwohnung oder Ausbreitung hat mithin ihrerseits einen äußeren und einen inneren Teil. Jener ist die extensive Verbreitung, dieser die innere Befestigung des Christentums. Der innere Verbreitungsprozeß geht – wie der Vernunftprozeß überhaupt, also die zunehmende Aneignung und Beherrschung des Natürlich-Organischen durch die Vernunft – nur allmählich voran. Er hat eine negative Seite, den Streit gegen das, „was noch aus der vorigen Epoche übrig war und vielleicht voreilig als schon assimilirt angesehen wurde, dies ist Läuterung“,

und eine positive Seite, „die fortschreitende Belebung selbst“. (In Schleiermachers christlicher Sittenlehre kehrt dieser Gegensatz wieder als Gegensatz des reinigenden und des verbreitenden Handelns, vgl. unten Abschnitt 4.2.3.). Der innere Verbreitungsprozeß beschreibt also, wie der Mensch, bei der Annahme des Christentums kein unbeschriebenes Blatt, sich den Glauben aneignet und zu einem Organ des christlichen Geistes wird. Die andere, mehr äußere Seite der Kirchengeschichte umfaßt die Organisation der Mitteilung, d. h. die Kirchenverfassung, und den Gehalt des religiösen Lebens. Die Kirchenverfassung wird anhand des zwiefachen Verhältnisses des Einzelnen zum Ganzen konstruiert: Die Einzelnen, soweit sie sich gegen das Ganze vor allem rezeptiv verhalten und in ihnen die Idee des Ganzen ein be40  Über den Geschichtsunterricht (1793) (KGA I/1, S.   493 f.), vgl. oben Abschnitt 2.3. Zur zeitlichen Einteilung vgl. unten Abschnitt 4.6.1. 41  Vgl. auch Kirchliche Statistik 1827, 2. Stunde (KGA II/16, S.  188)

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wußtloser Instinkt ist, sind die Laien. Soweit sie aber das Ganze durch ihren Geist auf bewußte Art leiten und fördern, sind sie Kleriker. Diese sind die Seele der Kirche, jene ihr Leib. Der Gegensatz zwischen Klerus und Laien ist für Schleiermacher überhaupt für alle höher entwickelten Religionsgemeinschaften konstitutiv. Das zweite, der Gehalt des religiösen Lebens, behandelt die Äußerungen des Gefühls. Das Gefühl äußert sich als Kunst, sagt Schleiermacher in der philosophischen Ethik (vgl. oben Abschnitt 3.3.). Diese teilt sich nun in die Kunst im engeren Sinne, die mehr auf der physischen Seite, der Seite der Natur, liegt, und in die soziale Kunst, die mehr auf der ethischen Seite liegt, der Seite des Geistes, und so haben wir als Gehalt des religiösen Lebens einerseits die christliche Kunstgeschichte, die Geschichte des Kultus, und andererseits die christliche Sittengeschichte.42 Die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 leitet die Disziplin Kirchengeschichte mit dem Begriff der Kirche direkt aus der philosophischen Ethik ab; Kirchengeschichte ist in ihr im Grunde gleichbedeutend mit Religionsgeschichte oder Religionssoziologie, und die Kirche geht nicht nur nach ihrer Idee, sondern auch nach ihrer Erscheinung nicht über ihr ethisches Gebiet hinaus.43 Es ist hier stärker als in den späteren Entwürfen noch das Anliegen der Reden über die Religion bestimmend, die Eigenständigkeit der Religion von den anderen ethischen Gebieten und deren Zwecken herauszustellen.44 – Am ethischen Kirchenbegriff orientiert sich dementsprechend auch die sachliche Gliederung der Kirchengeschichte. Schleiermacher merkt aber selbst an, daß die Konzentration auf die Einwohnung des Gefühls und das gemeinschaftliche Leben und Mitteilen des Gefühls das außer Acht läßt, was sonst als das Wesentliche in der Kirchengeschichte gilt: die Dogmengeschichte, die politischen Verhältnisse und die Wissenschaft.45 Die politische Geschichte hänge allerdings mit der Kirchengeschichte zusammen, führt Schleiermacher aus, und zwar mit der Bildung äußeren Organisa­ tion. Dieser Zusammenhang gehöre aber nicht zum Wesen der Kirche; auch sei er nur ein Durchgangsstadium in dem Entwicklungsprozeß der Kirche und des Staates hin zur Identität ihrer Wirklichkeit mit der ethischen Idee: Einerseits mache die Kirche sich, indem sie sich als eigene ethische Form ausbilde, zugleich vom Staat los, der sie bis dahin in sich getragen habe, und dabei komme es zu Kollisionen und staatlichen Übergriffen. „Hier hat aber die Kirche wenn sie sich treu bleibt (wie es auch unter den sogenannten Verfolgungen geschah) nur Geduld und Rechtsmittel entgegenzustellen.“

42 

Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 5. Stunde (KGA II/6, S.  13 f.) in die Kirchengeschichte 1806, 3.–4. Stunde (KGA II/6, S.  11–13). Vgl. oben Abschnitt 3.4.1. 44  Vgl. Über die Religion1, S 24–52 (1. und 2. Rede) (KGA I/2, S.  199–212). 45  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 5. Stunde (KGA II/6, S.  14) 43 Einleitung

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Zum anderen wolle der Staat in dem dunklen Gefühl, daß er ohne die Gesinnung nicht bestehen könne, die Kirche als Organisation des Gefühls zu seinem Organ machen. „Und zwar ist dieses Bestreben auch nur [insofern] im Staat, in wie fern in ihm eine Differenz zwischen Idee und Erscheinung ist, denn sonst müßte ja die Harmonie zwischen Staat und Kirche wahrgenommen werden und ihm an dieser genügen.“

Diejenigen, die sich bloß aus politischen Motiven an die Spitze der Kirche hätten stellen wollen, gehörten eigentlich in die politische Geschichte, nicht in die Kirchengeschichte. Für die Kirchengeschichte seien nicht Verlauf und Ausgang der Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat relevant, „sondern nur der Grad in welchem die Kirche an dem Kampfe Theil nahm.“46

Zur Dogmengeschichte führt Schleiermacher aus, daß, wer das christliche System studiert habe, leicht merke, daß sich – wie bei Augustin und Athanasius – immer das durchgesetzt habe, was aus dem Wesen des Christentums hervorgegangen sei; die politischen Kabalen und Wechselfälle, die die Entwicklung begleitet hätten, hätten also gar keinen entscheidenden Einfluß gehabt und würden überschätzt. Nötig sei es vor allem, die Bedeutung des Dogmas zu kennen. Hierin nämlich unterscheide sich die christliche von den alten mythologischen Religionen, die kein Dogma kennten, sondern nur eine abstrahierte Mythologie, also eine aus den Mythen gezogene Zusammenfassung von deren Gehalt.47 Tatsächlich fragt sich, wo das Dogma mit seiner Entwicklung eigentlich in Schleiermachers sachlichem Schema von 1806 vorkommt. Da es weder zur „Einwohnung des Gefühls“ noch zur „Organisation der Mitteilung“ gehört, rechnet Schleiermacher es offenbar zum „Gehalt des religiösen Lebens“, also zu den künstlerischen Äußerungen des Gefühls, und hier wohl zur geistig-ethischen Seite, d. h. zur Sittengeschichte. Vielleicht zählt er das Dogma aber auch zu den Dingen, die nicht wesentlich zum Christentum gehören, sondern erst sekundär hinzukommen, als Reflexion über den Gehalt des religiösen Lebens. Das deuten die folgenden Ausführungen an: Unter den künstlerischen Äußerungen der Religion trete in der neueren Zeit die bildende Kunst zugunsten des sprachlichen Ausdrucks in Poesie und Rhetorik in den Hintergrund; 48 „in der neueren Zeit“ meint dabei wohl nicht die neuere Zeit in der Geschichte des Christentums, sondern die Zeit des Christentums insgesamt.49 Da nun die Masse „zum Erkennen

46  Einleitung

in die Kirchengeschichte 1806, 6. Stunde (KGA II/6, S.  14 f.). – Vgl. zur allmählichen Emanzipation der Kirche (Religionsgemeinschaft) vom Staat auch die 3. Stunde (KGA II/6, S.  11); Ethik 1812/13, Güterlehre, Von den vollkommenen ethischen Formen, §  97–100. 197–199. 206 (Werke 2, S.  337 f. 359. 361). 47  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 6. Stunde (KGA II/6, S.  15) 48  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 7. Stunde (KGA II/6, S.  16) 49  Vgl. oben Abschnitt 3.4.5. Für Schleiermacher sind Sprache und Musik die geeigneten

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hin“ strebe, verwandele sich durch die Reflexion der ursprüngliche poetische und rhetorische Ausdruck in einen dialektischen, also in ein systematisches und logisches Gefüge von Begriffen und Urteilen, und so komme die Religion in dasjenige Gebiet der Sprache, das durch die Wissenschaft bestimmt sei.50 Die Kirche gerate durch die Dogmenbildung mit der Wissenschaft in einen Konflikt, der, ähnlich wie der Konflikt mit dem Staat, nicht im Wesen der Kirche oder der Wissenschaft begründet sei, vielmehr darin, daß jede versuche, auf das Gebiet der anderen überzugreifen: „Die Kirche will durch die Formeln welche den Reflex über das Gefühl ausdrükken die Wissenschaft beschränken. Die Wissenschaft will der Kirche die Gesichtspunkte des Erkennens aufdringen, damit sie ihre Formeln auf diese einrichten soll. Gemehrt wird der Streit dadurch, daß die activen administrirenden Glieder der Kirche zugleich Glieder der wissenschaftlichen Gesellschaft sind“.

Kirchengeschichtlich relevant sei auch hier nicht der Verlauf des Streites, sondern nur die Frage, inwieweit sich die Kirche in ihm jedes Mal „rein erhalten hat“, also dem ihr Eigentümlichen treu geblieben sei. „Das Dogma ist freilich unentbehrlich[,] aber nur das ist wahre Entwiklung[,] wirkliche dogmatische Einheit, dem auf dem Gebiet der Kunst und der Sitte etwas bestimmtes entspricht“,51

also auf dem Gebiet, das wirklich dem Gefühl und seinen Äußerungen eigen ist und nicht der Wissenschaft.

Darstellungsmittel des christlichen Kultes, vgl. Christliche Sitte 1809/10, §  87 (SW I/12, Beilage, S.  29). 50  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 7. Stunde (KGA II/6, S.  16). Vgl. auch die ausführliche Erörterung des Problems in der Glaubenslehre: Der christliche Glaube2 1, §  16 (KGA I/13,1, S.  130–136). Dort nennt Schleiermacher als dritte Gattung der ursprünglichen, unmittelbaren sprachlichen Äußerungen des Christentums neben Poesie und Rhetorik die Selbstverkündigung Christi. Schon im Neuen Testament gebe es die ersten Versuche, den Gehalt dieser ursprünglichen Rede zu Bekenntnissen und logisch geordneten Glaubenssätzen zusammenzufassen. – Schleiermacher betont immer wieder, daß der dichterische und rhetorische Ausdruck nicht mit dem dialektischen verwechselt werden dürfe, z. B. eine hymnische Prädikation Gottes sich nicht unbedingt dazu eigne, so in die systematisch zusammenhängende Darstellung der christliche Lehre übernommen zu werden (Hermeneutik 1819, KGA II/4, S.  337; Ueber den Gegensaz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität, in: Theologische Zeitschrift 3 [1822], S.  295–408, hier 296 f., KGA I/10, S.  226; Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  520–523 [2. Sendschreiben], KGA I/10, S.  378–382; Der christliche Glaube2 1, §  28,1; 30,3; 50,1; 52,1, KGA I/13,1, S.  183. 195. 301 f. 313 f.). Vgl. dazu Heinrich Scholz: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre, Berlin 1909, S.   79–88; Martin Weeber: Schleiermachers Eschatologie, Beiträge zur evangelischen Theologie 118, Gütersloh 2000, S.  34–41. 51  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 7. Stunde (KGA II/6, S.  16)

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B.  Systematischer Teil

4.2.2.  Kurze Darstellung des theologischen Studiums Die Kurze Darstellung des theologischen Studiums von 1811 kommt zu einer anderen sachlich-materialen Teilung: In den Grundsätzen zur Apologetik stellt Schleiermacher fest, das eigentümliche Wesen einer Religionsform spreche sich auf der idealen Seite am kenntlichsten in ihren Dogmen aus, auf der realen aber in ihrer Verfassung.52 Die Einleitung in die historische Theologie wendet das Grundsätzliche aus der Religionsphilosophie dann auf den Gegenstand der historischen Theologie an und teilt ihn dementsprechend sachlich in Lehrbegriff und Verfassung. Das wird noch einmal für die Kirchengeschichte und die Gegenwartskunde wiederholt.53 Zur Kirchengeschichte heißt es dann dementsprechend, das Christentum als tätiges Prinzip in der Welt habe zwei Funktionen, die Bildung der gemeinsamen Lehre und diejenige des gemeinsamen Lebens; keine der beiden Funktionen sei aber ohne die andere in ihrer Tätigkeit zu verstehen.54 In der Bildung des gemeinsamen Lebens wird die Bildung der Sitte und die des Kultus unterschieden; in der Sitte zeige sich die religiöse Gesinnung als Motiv des Handelns, zu ihrem Gebiet gehöre auch die Kirchenverfassung. Der Kultus verhalte sich zur Sitte „wie das beschränkte Gebiet der Kunst zu dem größeren des geselligen Lebens“. Die Verfassung eigne sich als Leitfaden für die Gesamtdarstellung des christlichen Lebens, weil sie die Mitte bilde, in der alle anderen Fäden zusammenliefen: Kultus, Sitte, das Verhältnis zum Staat und die Umbrüche in der Gesellschaft überhaupt.55 In der Bildung des Lehrbegriffs wiederum könne man theoretische und praktische Dogmen unterscheiden.56 Die zweite Auflage der Kurzen Darstellung von 1830 verweist für die sachliche Teilung der Kirchengeschichte in die Lehrbildung und die Gestaltung des gemeinsamen Lebens darauf, daß beide sich relativ unabhängig voneinander entwickelten: In einer Zeit, die für das eine Gebiet große Veränderungen bringe, könne auf dem anderen alles beim Alten bleiben. Die Bildung der Lehre wird näher bestimmt als „das sich zur Klarheit bringende fromme Selbstbewußtsein“ und die Bildung des gemeinsamen Lebens als der „sich in Jedem durch Alle und in Allen durch Jeden befriedigenden Gemeinschaftstrieb“.57

52  Kurze Darstellung1, Philosophische Theologie, Grundsätze der Apologetik, §  3 (KGA I/6, S.  259) 53 Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Einleitung, §   20. 27. 32 f. (KGA I/6, S.  268–270); vgl. Historische Theologie, Gegenwartskunde, §  2 f. 43 (KGA I/6, S.  288. 294). 54 Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §   8  f. (KGA I/6, S.  280 f.) 55 Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §   14. 17 f. 21. 24 f. (KGA I/6, S.  281–283) 56  Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §  33 (KGA I/6, S.  2 84) 57  Kurze Darstellung 2 , §  166 (KGA I/6, S.  385)

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Die Teile des letzteren wiederum, Kultus und Sitte, erklärt Schleiermacher als die „öffentliche Mittheilungsweise religiöser Lebensmomente“ und das „gemeinsame Gepräge, welches der Einfluß des christlichen Princips den verschiedenen Gebieten des Handelns aufdrükkt“.58

Wie kommt Schleiermacher nach nur vier Jahren zu einer so grundlegend veränderten sachlichen Teilung der Kirchengeschichte? Gegenüber der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 ist nicht nur die materiale Teilung in Idealität und Realität neu, sondern auch die starke Gewichtung des Dogmas gegenüber Sitte und Kultus. Die ganze Kirchengeschichte scheint sich überhaupt auf das zu beschränken, was im Entwurf von 1806 das „gemeinsame Leben des Gefühls“ hieß; die äußere und innere Ausbreitung des Christentums findet gar keine eigene Erwähnung. Offenbar hat sich Schleiermacher in der Kurzen Darstellung an den Disziplinen der Gegenwartskunde orientiert. Bei diesen gibt es allerdings die Kunde der realen Seite (Statistik) und die Kunde der theoretischen (Glaubenslehre) und praktischen Dogmen (Sittenlehre) auf der idealen Seite. Parallel damit geht auch die religionsphilosophische Bestimmung dessen, worin das eigentümliche Wesen einer jeglichen besonderen Religionsform oder Kirche bestehe: Gedanke und Tat, Begriffsbildung und Gemeinschaftsbildung sind die zwei Richtungen, die das religiöse Gefühl annimmt; sie entsprechen den beiden Potenzen der menschlichen Seele, dem Verstand oder Vorstellungsvermögen und dem Willen oder Begehrungsvermögen. Die zweite Auflage der Kurzen Darstellung hat allerdings den Satz, daß Dogma und Verfassung das Wesen der besonderen Religionsform kennzeichneten, nicht mehr für die Religion insgesamt aufrechterhalten, sondern nur noch für die christliche.59

4.2.3.  Christliche Sitte Einen dritten Ansatz stellt die christliche Sittenlehre dar. In ihr geht es freilich nicht speziell um die Kirchengeschichte, sondern um das christliche Handeln überhaupt, das christliche Handeln aber, wie es sich in der geschichtlichen Entwicklung der Kirche verwirklicht und anschauen läßt.60

58 

Kurze Darstellung 2, §  168 (KGA I/6, S.  386) Vgl. Kurze Darstellung 2, §  49 (KGA I/6, S.  344); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  166 (hg. Sachs, S.  157). Dort heißt es: „Am wesentlichsten trennten sich die Bildung der Lehre in der christlichen Kirche und die Gestaltung des gemeinsamen Lebens in derselben. Der Zusammenhang liegt in dem schon von vorn herein gesagten über die Natur des christlichen Princips, daß sich nämlich die christliche Frömmigkeit überwiegend in Gedanken ausspricht, aber zugleich wesentlich ein Gemeinschaft bildendes ist.“ 60 Vgl. Holger Samson: Die Kirche als Grundbegriff der theologischen Ethik Schleiermachers, Basel 1958, S.  15 f. Vgl. auch oben Abschnitt 3.6. 59 

124

B.  Systematischer Teil

Die christliche Sittenlehre ist eine „Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herrschaft des christlich bestimmten religiösen Selbstbewußtseins entsteht“,

und der Inhalt dieses Selbstbewußtseins ist die durch den „Act der Erlösung durch Christum“ bedingte Gemeinschaft mit Gott.61 In Christus, dem alleinigen Urheber, sei die Gottesgemeinschaft und Seligkeit eine vollkommene; „in uns dagegen eine von der seinigen abgeleitete und in der beständigen Annäherung an die seinige werdende“.62

Mit dem christlich-religiösen Bewußtsein sei in uns also zugleich auch immer der Impuls gesetzt, es seinem Urbild anzunähern, es extensiv und intensiv zu verbreiten und zu vervollkommnen, alles seiner Herrschaft zu unterwerfen und zu seinem Organ zu machen. So gebe es eine stete Differenz zwischen dem Anspruch und seiner Verwirklichung, einen ständigen Wechsel von Lust und Unlust zur Gemeinschaft mit Gott, ein Widerspiel von Geist und Fleisch.63 Das christliche Handeln als Widerstreit gegen das, was sich der Herrschaft des Geistes entgegenstellt, nennt Schleiermacher das reinigende oder wiederherstellende Handeln; das Handeln unter dem Vorwalten nicht der Unlust, sondern der Lust, indem die niedere Lebenskraft dem Anspruch der höheren, ihr Organ zu werden, nicht widerstrebe, ist das verbreitende, erweiternde Handeln. Das christliche Handeln erschöpft sich aber nicht darin: Neben dem wirksamen Handeln in der Spannung von Unlust und Lust gibt es noch das zweckfreie „darstellende“ Handeln, die Darstellung des allgemeinen Lebensbewußtseins, wie es dem Gegensatz von Unlust und Lust, Reinigen und Erweitern immer schon zugrunde liegt. Das darstellende Handeln ist zugleich Ausgangspunkt und Ziel des wirksamen Handelns.64 Hier kehrt Schleiermachers ethischer Kirchenbegriff wieder: Die, die ein gemeinsames Gefühl verbindet, vereinigen sich zur wechselseitigen Mitteilung und gemeinsamen Darstellung des Gefühls (vgl. oben Abschnitt 3.3.). In der christlichen Sittenlehre ist das darstellende Handeln der Ort für die Theorie der Kirche.65 Die Gegensätze zwischen Reinigen, Ver61 

Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  32 f.) Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  34–39) 63  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  39–44); vgl. Der christliche Glaube2 2, §  100,1 f. (KGA I/13,2, S.  104–108). Vgl. dazu Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, Theologische Bibliothek Töpelmann 8, Berlin-West 1964, S.  104 f. 109.; Hartmut Burbach: Das ethische Bewußtsein, Göttinger theologische Arbeiten 31, Göttingen 1984, S.  4 4–52. 116 f. 64 Christliche Sitte 1809/10, §   48–63 (SW I/12, Beilage, S.  16–22); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  44–51. 293 f. 502–509). Vgl. Burbach: Das ethische Bewußtsein, S.  59–64. 118 f.; Martin Diederich: Schleiermachers Geistverständnis, Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 88, Göttingen 1999, S.  293–304. 65  Christliche Sitte 1809/10, §  69–71 (SW I/12, Beilage, S.  24); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  147; SW I/12, S.  367. 516–518. 570); Christliche Sitte 1824/25 (SW 62 

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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breiten und Darstellen sind indessen nicht absolut, sondern nur relativ: Jedes wirksame Handeln ist zugleich darstellend, jedes darstellende Handeln zugleich wirksam, und das Erlösungswerk Christi kann ebenso wie das christliche Leben unter jeder der drei Formen vollständig aufgefaßt und dargestellt werden.66 Die christliche Sitte hat das gesamte Leben zum Gegenstand, auch die „Sphären“ der Familie und des Staates. Für die sachlich-organische Erfassung der Kirchengeschichte ist vor allem die Sphäre der Kirche relevant. Hier faßt Schleiermacher unter das reinigende Handeln die Kirchenzucht und die Kirchenverbesserung als das reinigende Handeln des Ganzen auf den Einzelnen und umgekehrt des Einzelnen auf das Ganze. Das verbreitende Handeln in der Kirche umfaßt (neben der christlichen Geschlechtsgemeinschaft) die intensive und extensive Ausbreitung des Christentums. Das darstellenden Handeln in der Kirche ist der Gottesdienst, im engeren Sinne der christliche Kultus und im weiteren Sinne die christlichen Tugenden. Die Notwendigkeit der Kirche selbst wird mit der Notwendigkeit und Natürlichkeit eines gemeinsamen darstellenden Handelns begründet.67 Die verschiedenen Modelle einer Kirchenverfassung erörtert Schleiermacher dabei nicht,68 sondern weist nur allgemein die katholische Auffassung zurück, daß zwischen Priestern und Laien ein absoluter Gegensatz bestehe: Zwar kenne auch der Protestantismus eine funktionale Ungleichheit unter den Gliedern der Kirche, doch das absolute Erhabensein Christi über alle lasse sie ganz verschwinden.69 In der Praktischen Theologie heißt es, daß es in der Kirche eine leitende Tätigkeit und ein kirchenleitendes Amt nur gebe wegen der (relativen, aber nicht absoluten) Ungleichheit, in der die Mitglieder der Kirche zum Ganzen und zum Geist des Ganzen stünden. Die Ungleichheit bestehe einerseits im Grad der Frömmigkeit, andererseits in der wissenschaftlichen Qualifikation; sie erheische, daß einige Glieder der Kirche sich bei der religiösen Darstellung mehr produktiv, die anderen sich mehr rezeptiv verhielten. Doch die Kommunikation geht nicht nur in eine Richtung: Die Laien wirken auch auf die Kleriker und auf die Art der Darstellung ein, indem sie manifestieren, wie weit sie in der Aneignung des Dargestellten fortgeschritten sind und was ihre religiösen Bedürfnisse sind. Zweck der kirchenleitenden Tätigkeit ist es zunächst, die Ungleichheit immer mehr auszugleichen. Dieser Zweck, könnte man denken, sei bald erreicht, wenn der Austausch nur vollkommen organisiert sei. Es kommt aber noch hinzu, daß das Ziel eben nicht schon der Grad der Frömmigkeit und Erkenntnis ist, in dem sich I/12, S.  511 f.). Vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  114–116; Ohst: Schleiermacher, S.  26–28. 66  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  128; SW I/12, S.  55 f. 292) 67  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  516–518) 68  Dies ist vielmehr Thema der kirchlichen Statistik und der Praktischen Theologie; vgl. Kirchliche Statistik 1827, 28.–29., 60.–61. und 66. Stunde (KGA II/16, S.  288–292. 411–416. 435 f.) u.ö.; Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 26–54). Vgl. Christoph Dinkel: Kirche gestalten, Schleiermacher-Archiv 17, Berlin und New York 1996, S.  166–177. 69  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  518–521); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  522–524). Vgl. auch oben Abschnitt 3.3. und unten Abschnitt 9.3.5.1.

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B.  Systematischer Teil

gerade die Kleriker befinden. Insofern gibt es in der Kirche immer zweierlei Zweck der religiösen Mitteilung und zweierlei Aufgabe der Kirchenleitung: einerseits die Ungleichheit unter den Gliedern der Kirche durch Erbauung und Belehrung der Laien zu vermindern und andererseits insgesamt als Laien und Kleriker in der Erkenntnis Christi zuzunehmen und sich der Vollkommenheit Christi anzunähern. Und diese gemeinsame Zunahme geschieht nach dem Grundsatz „docendo discimus“ eben bei dem Geschäft, die Ungleichheit auszugleichen.70

Nimmt man die christliche Sitte als sachliches Raster für die Kirchengeschichte, so steht sie als Theorie des gemeinsamen christlichen Lebens nur für den einen Teil dessen, was nach der Kurzen Darstellung der Inhalt der Kirchengeschichte ist, nämlich die Realität. Vergleicht man ihr Schema mit der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806, so entspricht das wirksame Handeln hier der Einwohnung des Gefühls dort und das darstellende Handeln hier dem gemeinsamen Leben des Gefühls dort. In einem Punkt sind dabei beide Ansätze einander genau entgegengesetzt: Nach der christlichen Sitte liegt das darstellende Handeln dem wirksamen Handeln zugrunde,71 während nach der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 das gemeinsame Leben des Gefühls gegenüber der Einwohnung des Gefühls sekundär ist. – Für Schleiermacher gehört es unmittelbar zum Wesen des Gefühls, sich zu äußern und mitzuteilen (vgl. oben Abschnitt 3.3.). Nach der christlichen Sitte steht dieses Sich-Äußern als darstellendes Handeln in der Mitte zwischen dem Gefühl selbst und der beabsichtigten Wirksamkeit; die letztere verdankt sich erst dem Impuls, der aus dem Bewußtsein kommt, daß die Wirklichkeit der Gottesgemeinschaft dem Anspruch und der Verheißung noch nicht entspreche.72 In der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 hingegen identifiziert Schleiermacher offenbar die extensive und intensive Ausbreitung des Christentums mit dem unmittelbaren Sich-Äußern des Gefühls und leitet erst aus ihr die Organisation der Kirche und den gemeinsamen Kultus ab.

4.2.4.  Kirchengeschichte 1821/22 Wie verhalten sich nun die beiden kirchengeschichtlichen Kompendien aus den 1820er Jahren zu diesen verschiedenen Ansätzen? Die Kirchengeschichte von 1821/22 beginnt Schleiermacher mit einer freien Aufzählung des Inhalts der Kirchengeschichte: „In der Geschichte soll 1) erklärt werden die Verbreitung des Christenthums. 2) Wie aus dem Leben des ersten Christenthums die verschiedenen Verfassungen entstanden 3) Fortsetzung der Anwendung des christlichen Prinzipes 4) Die Gestaltungen des Gegensatzes zwischen Klerus und Laien 5) Die verschiedenen Formen der Reflexion 70 

Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 77–84) Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  504) 72  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  147; SW I/12, S.  42 f. 526 f. 545) 71 

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über das Innere des Christenthums. [6)] Die allmählige Steigerung des christlichen Kultus – [7)] Die Geschichte der eigentlichen Theologie, die sich an sie angebildet hat.“73

Wir haben hier also die Geschichte der Verbreitung (1), die Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung (2, 4), der Vorstellungen über den Glauben und seinen Gegenstand (5) und der wissenschaftlichen Theologie (7) und die Geschichte des Kultus (6). Was mit der „Fortsetzung der Anwendung des christlichen Prinzipes“ (3) gemeint ist, ist unklar; die ganze Kirchengeschichte ist ja nach Schleiermacher nichts anderes als die Anwendung des christlichen Prinzips. Vielleicht denkt Schleiermacher hier an die christliche Sittengeschichte. Die materiale Einteilung nach der Kurzen Darstellung, also in Kirchengeschichte (im engeren Sinne) und Dogmengeschichte, kommt ebenfalls vor; 74 sie entspricht auch dem Titel, unter dem Schleiermacher die Vorlesung angekün­ digt hatte: „ein kurzer Abriß der Kirchen- und Dogmengeschichte“.75 Am Anfang seiner Notizen- und Exzerptsammlung für die Vorlesung, der sog. Kollektaneen, unterscheidet Schleiermacher die äußere und die innere Entwicklung und faßt unter die eine die Verbreitung, die Gestaltung (also die Kirchenverfassung) und das Verhältnis gegen den Staat und unter die andere die Begriffsbildung (also die Dogmengeschichte), die Sittenbildung und das Verhältnis gegen die Wissenschaft.76 Diese Unterscheidung von äußerer und innerer Entwicklung in Anlehnung an die Kurze Darstellung wird in der Einleitung des Kollegs von 1821/22 aber nicht weiter ausgeführt. Stattdessen wird ein vierter Ansatz gemacht. Wir haben oben gesehen, daß dieses Kolleg nicht (wie etwa die Glaubenslehre) mit dem philosophisch-ethischen Begriff der Kirche anhebt, sondern mit einem Glaubensbekenntnis: In Christus war eine neue Offenbarung, und diese soll sich die ganze Menschheit aneignen.77 Schleiermacher faßt also, entsprechend seinem Glaubensbekenntnis, den ganzen Inhalt der Kirchengeschichte als Ausbreitung des Christentums zusammen; Dogma, Verfassung, Verhältnisse gegen 73 

Kirchengeschichte 1821/22, 1. Stunde (KGA II/6, S.  469) 1821/22, 6. Stunde (KGA II/6, S.  482): Schleiermacher erörtert hier die Möglichkeit, in jeder Periode die Kirchengeschichte und die Dogmengeschichte nacheinander jeweils für sich zu besprechen. Er verwirft sie, da beide zu sehr untereinander zusammenhingen und man immer von der einen auf die andere verweisen müßte. Vgl. auch die 32. Stunde (KGA II/6, S.  79), wo die spekulative und die reale Seite der Entwicklung unterschieden werden. 75  KGA II/6, S. XXII. Vgl. oben Abschnitt 2.4.2. 76 Kirchengeschichte 1821/22, Kollektaneum 4 (KGA II/6, S.   143). Die Sittenbildung hatte freilich, wenn anders hier nicht die Entwicklung der Sittenlehre gemeint ist, in der Kurzen Darstellung nicht zur Lehre, sondern zum Leben gehört. 77 Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (KGA II/6, S.   22. 472–474). Vgl. oben Abschnitt 3.4.3.; tatsächlich baut Schleiermacher auch hier darauf auf, daß die Kirche eine Lebensgemeinschaft aufgrund eines gemeinsamen Gefühls und ihre Entwicklung ein ethisch notwendiges Element der Weltgeschichte sei. 74 Kirchengeschichte

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Staat und Wissenschaft, Sittengeschichte, all das wird dann zu Funktionen der Ausbreitung. Die grundlegende sachliche Teilung der Kirchengeschichte geht nach den zwei „Hauptfunktionen“78 der Ausbreitung, nach der inneren Aufnahme des Christentums und nach seiner äußeren Mitteilung: „die Offenbarung, welche in Christo war, soll ein Eigenthum des ganzen menschlichen Geschlechts werden. Der Trieb, diese festzuhalten und mitzutheilen, ist das beständige Grund-Agens in der christlichen Geschichte; Alles, was groß ist und bedeutend, muß hierauf zurückgeführt werden; im anderen Fall muß man zu falschen Ansichten gelangen.“79

Beides, Aufnahme und Mitteilung, lasse sich freilich nicht genau voneinander scheiden: Eine Mitteilung nach außen sei immer auch eine innere, ins Innere wirkende Tätigkeit, und eine aufnehmende Bewegung des Gemüts sei immer auch Ausdruck und Mitteilung. Beide Richtungen, die nach außen und die nach innen, träten also immer zusammen auf, aber in sehr verschiedenen Verhältnissen.80 – Bei der hier vorgenommenen Inhaltsbestimmung der Kirchengeschichte wiederholt sich die „Einwohnung des Gefühls“ aus der Vorlesung von 1806, nur daß die Einwohnung des Gefühls jetzt die ganze Kirchengeschichte darstellt und das „gemeinschaftliche Lebens des Gefühls“ mit in sich faßt.

4.2.5.  Kirchengeschichte 1825/26 Das zweite Kompendium, die Kirchengeschichte von 1825/26, lehnt sich stärker an die Kurze Darstellung an. Schon der Entwurf zur Einleitung notiert: „Encyclopädie Theil II. Abschnitt II DogmenGeschichte Gesellschaftsgeschichte Innere Sitte (Verfassung) Cultus. Aeußere. Räumliche Ausdehnung und Beschränkung.“81

Schleiermacher führt aus,82 tatsächlich sei es immer schwer, ein Gebiet vom anderen zu sondern, weil alles zusammengehöre und die Wirkung des Christentums nur eine sei; durch die Sonderung von der Dogmengeschichte verliere die Kirchengeschichte leicht ihren Inhalt. Dennoch lasse sich die übliche Unterscheidung der Geschichte der Lehre und Geschichte des Lebens als der beiden Hauptzweige rechtfertigen, wenn das Verhältnis zwischen beiden richtig aufgefaßt werde. Die Geschichte der Lehre gliedere sich in die Geschichte der Glau78 

Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde (KGA II/6, S.  22) Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (KGA II/6, S.  474); vgl. Schleiermachers Manuskript: „Hauptagens also ist das Bestreben das Göttliche in Christo sich anzueignen und es auf andere zu verbreiten. Dies die constante Größe alles andre die wechselnden nur das locale und temporäre bestimenden Coefficienten. Dieses agens aber im Zusammenhang mit allen menschlichen Motiven.“ (KGA II/6, S.  22) 80  Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde (KGA II/6, S.  474) 81  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  126) 82  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  674–677) 79 

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bens- und der Sittenlehre. Die Zweige des Lebens seien Kultus, Sitte und Verfassung. Der Kultus könne der Sitte vorausgehen oder ihr folgen; im ersten Falle sei er das Mittel, um eine Übereinstimmung der Handlungsweise zu stiften, im zweiten Falle die gemeinschaftliche Darstellung dessen, was der gemeinsamen Handlungsweise zugrunde liege. Die Sitte selbst dürfe in der christlichen Kirche nicht durch den gesetzlichen Buchstaben sanktioniert werden; alles komme in ihr aus dem inneren Impuls des Geistes. Zum christlichen Leben gehöre aber auch die äußere, organisierte Form des Zusammenlebens, die Verfassung. Kultus, Sitte und Verfassung hingen zwar zusammen, entwickelten sich aber nicht notwendig parallel zueinander; bei gleicher Verfassung lasse sich ein sehr verschiedener Zustand der Sitte denken usw.83 Zu den zwei Hauptzweigen aus der Kurzen Darstellung, der Lehre und dem Leben, kommen nun noch zwei Gebiete hinzu: das Äußere, die räumlichen Verhältnisse, also die Ausbreitung der Kirche, die in dem Bisherigen noch nicht notwendig enthalten sei, denn Lehre und Leben könne es auch geben, wenn die Gemeinschaft nicht wachse, und die Geschichte der Theologie im engeren Sinne. Die Letztere wird ausdrücklich von der Entwicklung des Glaubens und der Lehre unterschieden; entsprechend den Eingangsparagraphen der Kurzen Darstellung ist die Theologie nicht der Inhalt des Glaubens und der Lehre, sondern die Summe der Fertigkeiten und Kenntnisse, deren die Kleriker für den Gottesdienst und die Tradition des Christentums bedürfen.84 – Für die Kirchengeschichte sei das Ineinanderschauen alles Einzelnen ebenso notwendig wie die getrennte geschichtliche Behandlung der einzelnen Zweige: Die eine sei die lebendige Anschauung dessen, was untrennbar sei, durch die andere entstünden Klarheit und rechte Würdigung des Einzelnen. – Ansonsten kann Schleiermacher aber den Inhalt der Kirchengeschichte wie 1821/22 auch als die extensive und intensive Verbreitung des christlichen Geistes fassen.85

4.2.6.  Versuch einer Synthese Fassen wir zusammen: Schleiermacher nimmt die sachlich-materiale Erfassung und Teilung der Kirchengeschichte verschieden vor. Geht er davon aus, daß das Gefühl wirksam wird als Gedanke und als Wille zur gemeinsamen Lebensgestaltung, so kommt er zur Einteilung in Lehre und Leben. Die Kurze Darstellung teilt nach diesem Schema nicht nur die geschichtliche Kenntnis vom ge83  Vgl.

Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  174 (hg. Sachs, S.  162 f.), wonach es ein Kennzeichen des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus sei, die Sitte nicht zu sanktionieren. Der zugehörige Paragraph der Kurzen Darstellung hatte für die evangelische Kirche die Verfassung als dem Gebiet der Sitte angehörig erklärt, da in der evangelischen Kirche auch hier alle äußere Sanktion fehle (Kurze Darstellung 2, §  174, KGA I/6, S.  388). 84  Vgl. Kurze Darstellung 2 , §  1–5 (KGA I/6, S.  325–328). 85  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  678)

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genwärtigen Zustand des Christentums in die drei Disziplinen Glaubenslehre, Sittenlehre und kirchliche Statistik, sondern wendet es auch auf die Kirchengeschichte an. Auch die Kirchengeschichte von 1825/26 orientiert sich an ihm, hält es aber nicht für hinreichend, um den gesamten Inhalt der Kirchengeschichte zu erfassen, und fügt ihm die Ausbreitung des Christentums und die Entwicklung der theologischen Wissenschaft hinzu.86 Weitere Ansätze teilen die Kirchengeschichte in die unmittelbare und mittelbare Wirksamkeit des Gefühls: Nach der christlichen Sittenlehre äußert sich das Gefühl unmittelbar darstellend als Gemeindebildung, Kultus und christliche Tugend und mittelbar wirksam als Reinigen und Verbreiten der Herrschaft des Geistes über das Fleisch. Die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 unterscheidet die Einwohnung des Gefühls und das gemeinsame Leben aufgrund des einwohnenden Gefühls; das eine ist die äußere und innere Ausbreitung des Christentums, das andere sind die Organisation der Kirche und die Äußerungen des Gefühls in Kunst und Sitte. Schließlich kann Schleiermacher die ganze Kirchengeschichte auch als geschichtlich-empirische Darstellung des Glaubenssatzes entwerfen, daß der Geist Christi dazu bestimmt sei, sich über die ganze Menschheit zu verbreiten. In diesem Sinne faßt die Vorlesung von 1821/22 die Kirchengeschichte als Aufnahme und Weitergabe des von Christus ausgehenden neuen gemeinsamen Lebens auf. Das Problem, den Inhalt der Kirchengeschichte sachlich zu erfassen und einzuteilen, kennen auch Schleiermachers Vorgänger und Zeitgenossen: Bei vielen von ihnen werden die zeitlichen Abschnitte in Sachthemen unterteilt und diese für jeden Zeitraum hintereinander abgehandelt.87 Oft erscheint diese Einteilung als eher unstrukturiertes Sammelsurium. So teilt Johann Salomo Semlers „Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte“ die einzelnen Jahrhunderte in Abschnitte wie: Ausbreitung und Hindernisse des Christentums als (öffentliche) Religion, Einrichtung der Gesellschaft (bzw. Zustand der öffentlichen Religion), Päpste und berühmte Bischöfe, Synoden (und ihre Dekrete betreffend kirchliche Gebräuche und Ketzereien), Gelehrsamkeit und kirchliche Schriftsteller. Vielleicht ist Semler hier von den Magdeburger Centurien 86  Vgl.

in diesem Sinne auch Kirchliche Statistik 1827, 1. Stunde (KGA II/16, S.  187 f.): „Aber wir werden doch sagen müssen: zur Kenntniß aller verschiedenen christlichen Kirchen gehört nun die Kenntniß ihres Lehrbegriffs, ihres Gottesdienstes, die Kenntniß von dem Zustand der Religiosität in einer jeden, vom Einfluß derselben auf das ganze Leben, die Kenntniß von der Lebendigkeit in der geistigen Entwiklung so weit sie das religiöse Gebiet betrifft. Das sind alles verschiedene Punkte, aber man muß doch einen Zusammenhang davon ahnen, und es läßt sich wohl zurükführen auf die allgemeinen Hauptpunkte der Lehre und der Verfassung; man versteht die verschiedenen Zustände nur, wenn man sie auf diese Hauptpunkte zurükführt und sie in ihrer Genesis versteht.“ 87 Vgl. Johann Traugott Leberecht Danz: Lehrbuch der christlichen Kirchengeschichte, Band 1, Jena 1818, S. XVIII–XX; Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  49–51.

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beeinflußt, deren erste Bände er zusammen mit seinem Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten neu herausgegeben hatte und die jedes Jahrhundert in 16 Sachkapitel unterteilen.88 Johann Lorenz von Mosheims Institutiones historiae ecclesiasticae, die klassische, für die Schönheit und Gediegenheit der Darstellung viel gerühmte Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts, stellen demgegenüber ein klares, übersichtliches Schema auf: Sie teilen jedes Jahrhundert jeweils in die äußere und die innere Geschichte der Kirche; jene gliedert sich 1) in die günstigen und 2) die ungünstigen Verhältnisse, also die Ausbreitung und Eindämmung des Christentums, diese 1) in die Literatur und Bildung, 2) die Lehrer und Leiter der Kirche, 3) die Religion und Lehre, 4) die Zeremonien und 5) die Streitigkeiten und Häresien.89 Noch mehr zeichnet sich Ludwig Timotheus Spittlers Schema durch Klarheit und Einfachheit aus: Er unterscheidet 1) die Ausbreitung und Eindämmung des Christentums, 2) die innere Verfassung und die äußeren Verhältnisse der Kirche und 3) die Änderungen im Lehrbegriff.90 – Das Verfahren hat freilich immer eine schwache Seite: Was verschiedenen Sachthemen zugeordnet wird, wird auseinandergerissen, auch wenn es eigentlich zusammengehört, und Wiederholungen sind unvermeidlich. So verzichtet Heinrich Philipp Konrad Henke auf die sachliche Einteilung der Zeiträume und folgt einfach in kürzeren Paragraphen dem äußeren, zeitlichen Verlauf.91 Doch auch daran wurde Kritik geübt: Henkes Darstellung lasse die großen historischen Bögen vermissen.92 Werfen wir einen Blick voraus auf den materialen Teil der Kirchengeschichte Schleiermachers, so hält es Schleiermacher hier ähnlich wie Henke, stellt also nicht verschiedene thematische Stränge relativ unverbunden nebeneinander, 88  Die 16 Kapitel der Magdeburger Centurien sind: 1) allgemeine Einleitung, 2) de loco et propagatione ecclesiae, 3) de persecutione et tranquillitate ecclesiae, 4) de doctrina ecclesiae (nach dogmatischen loci geordnet), 5) de haeresibus, 6) de ceremoniis et ritibus ecclesiae, 7) de politia et gubernatione ecclesiae, 8) de schismatibus, 9) de synodis, 10) de episcoporum et doctorum vitis, 11) de haereticis, 12) de martyribus, 13) de miraculis, 14) de rebus iudaicis, externis sive politicis, 15) de alibus religionibus extra ecclesiam (auch über Lehre und Riten der Juden), 16) de motibus et mutationibus politicis. – Bei Johann Matthias Schröckh werden die Zeiträume so eingeteilt: bürgerliche Geschichte, Geschichte der (weltlichen) Wissenschaften und Künste, Ausbreitung des Christentums, Päpste und Kirchenverfassung, Geschichte des Mönchtums, Geschichte der allgemeinen Religion, Geschichte der Theologie, Religionsstreitigkeiten. Das Schema verliert sich allerdings in der ungeheuren Breite der Schröckhschen Darstellung. 89 Vgl. Johann Lorenz von Mosheim: Institutiones historiae ecclesiasticae, Helmstedt 1755, S.  3 –6. Dort stellt Mosheim das Schema vor; es fehlt aber bei der inneren Geschichte die Literatur und Bildung. – Vgl. Heussi: Die Kirchengeschichtschreibung, S.  24–27. 90  Ludwig Timotheus Spittler: Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche, 4.  Aufl., Göttingen 1806, S.  15 f. Vgl. Baur: Die Epochen, S.  163. 91 Vgl. Heinrich Philipp Konrad Henke: Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche nach der Zeitfolge, Band 1, 4.  Aufl., Braunschweig 1800, S.  6. 92  Carl Friedrich Stäudlin: Geschichte und Literatur der Kirchengeschichte, Hannover 1827, S.  177 f.

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sondern folgt im Groben der Zeitfolge und wechselt (entsprechend seinem Grundsatz, daß alles miteinander zusammenhängt) je nach Zusammenhang und Bedarf zwischen den Themen.93 – Weiter kann man fragen, welchem seiner eigenen Schemata Schleiermacher am ehesten gefolgt ist bzw. in welches sich das, was er tatsächlich vorgetragen hat, am organischsten einfügt. Der Schematismus der Einleitungsvorlesung von 1806 leidet daran, daß sein erster, unmittelbarer Teil, die Einwohnung des Gefühls selbst, abstrahiert vom gemeinsamen Leben, in der geschichtlichen Wirklichkeit ganz unanschaulich bleibt und daß das Mit- und Gegeneinander von Kirche und Wissenschaft bzw. Staat nach ihm nur ein Rand- und Übergangsphänomen ist.94 Auch der Ansatz der Vorlesung von 1821/22, die ganze Kirchengeschichte gewissermaßen als Missionsgeschichte aufzufassen, erscheint material schwer durchführbar, zumal Schleiermacher sich trotz seinem grundsätzlichen Fortschrittsoptimismus als vom klassisch-protestantischen Verfallsmodell beeinflußt erweist. Allerdings kommt Schleiermacher besonders in der zweiten und dritten Periode (also für die Zeit von 300 bis 1500) oft auf das Schema von extensiver Verbreitung und intensiver Aufnahme und Steigerung zurück. – Die christliche Sittenlehre deckt, wie schon bemerkt, vor allem die Geschichte des Lebens, weniger die des Denkens und Lehrens ab. Was die Sittenlehre über das wechselseitige Einwirken der Einzelnen und der Massen aufeinander als Grundgegebenheit in der Entwicklung des Christentums herausarbeitet (vgl. unten Abschnitt 4.3.3., 4.4. und 4.5.), hat Schleiermacher aber in der Kirchengeschichte vielfach fruchtbar angewendet; nach dem Schema, daß das bewußt wirksame Handeln aus dem darstellenden Handeln hervorgeht, hat er die Geschichte des Urchristentums dargestellt (vgl. unten Abschnitt 6.2.1.). – Es bleibt noch die Einteilung in Leben (Kirchengeschichte im engeren Sinne) und Lehre (Dogmengeschichte), ergänzt durch die äußeren Verhältnisse (Ausbreitung und Rückschritte, Verhältnisse zu Staat und Wissenschaft). Mit diesem dem Spittlerschen verwandten, eher konventionellen Schema der Kurzen Darstellung und der Einleitung der Vorlesung von 1825/26 lassen sich Schleiermachers Vorlesungen inhaltlich wohl am besten erfassen.

93 Vgl. Karl Rudolf Hagenbach: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, Leipzig 1833, S.  201: „Auch erinnert sich der Verfasser mit Freuden einer Vorlesung von Schleiermacher über die Universalkirchengeschichte (im Winter 1820–21. [tatsächlich 1821/22]), in welcher die Abtheilung nach den Fächern wegfiel und nur die nach Perioden den Rahmen zu einem lebendigen Gemälde bildete.“ 94  Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, S.  249, schreibt: „Die Reserve gegen den Faktor Politik verrät allerdings einen systematisch überanstrengten Begriff der Kirchengeschichte. Die Politik erscheint als störendes Nebengeräusch.“

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4.3.  Die Wirklichkeit des Entwicklungsprozesses 4.3.1.  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806 Wir knüpfen wieder an die Frage an: Wie faßt Schleiermacher – entsprechend seinen verschiedenen Schemata für den sachlichen Gehalt der Kirchengeschichte – die grundlegenden Kräfte und Gegensätze auf, die die Entwicklung des Christentums bestimmen? Die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 konzentriert die Kirchengeschichte konsequent auf das der Kirche als ethischer Form Eigentümliche: die Ausbreitung und gemeinsame Darstellung des Gefühls. „In der Kirche selbst[,] auch wie sie erscheint[,] ist nichts anderes gegeben als dieses. Denn ihr ostensibles Thun ist Erregung des Gefühls in welchem sich das Verhältniß des Menschen zu Gott ausspricht.“

Dieses Verhältnis zu Gott im Gefühl sei gleichbedeutend mit der Totalität aller anderen Verhältnisse; jede Empfindung, die sich auf ein einzelnes Verhältnis beziehe, werde dadurch fromm, daß sie in diese Totalität aufgenommen werde. Hieran also entscheidet sich, was zur Kirche als Gemeinschaft des Gefühls gehört, was noch in sie aufgenommen werden muß, wovon sie sich läutern soll und was sich ihr entgegenstellt.95 Die Geschichte des Dogmas und die rechtliche Stellung der Kirche zum Staat sind die Punkte, wo das genuin christliche Prinzip mit den fremden Prinzipien zusammenstößt, d. h. wo es zu gegenseitigen Übergriffen der ethischen Gebiete und Formen aufeinander: Der Staat will die Kirche unter sich bringen und zu seinem Organ machen, Kirchenfürsten selber werden zu Politikern und wechseln, vielleicht ohne es zu merken, den ethischen Bereich ihrer Tätigkeit, religiöse Reflexion und Wissenschaft wollen das jeweils andere Gebiet beherrschen, zumal die Kleriker zugleich Glieder der wissenschaftlichen Gesellschaft seien und das wissenschaftliche und religiöse Interesse nicht klar trennten; staatliche Eingriffe beeinträchtigen die kirchliche Suche nach dem Lehrbegriff, ohne sie allerdings auf der Dauer vom rechten Weg abbringen zu können. Die Blüte der Verwirrung zwischen Religion und Wissenschaft habe es in eben der Zeit gegeben, als auch die Verwirrung zwischen Kirche und Staat ihren Höhepunkt gehabt habe, nämlich im 12.–14. Jahrhundert: Der päpstliche Anspruch auf die auch weltliche Universalherrschaft und die Scholastik als Gemisch zwischen Logik, metaphysischer Spekulation und religiöser Reflexion seien Geschwister. Wesentlich an alldem sei, wie es der Kirche gelinge, allmählich zu sich selbst und zu ihrem eigenen Gebiet zu finden und sich von den fremden Einflüssen zu befreien.96 95  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 4.–5. Stunde (KGA II/6, S.  13). Vgl. oben Abschnitt 3.3., 3.4.1. und 4.2.1. 96  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 6.–7. und 11. Stunde (KGA II/6, S.  14–16. 18). Vgl. oben Abschnitt 4.2.1.

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B.  Systematischer Teil

An anderer Stelle erkennt Schleiermacher ein allgemeines Streben, sich bei der Lehrbildung auf die Philosophie zu berufen, also der Reflexion über das Gefühl das Fundament der wissenschaftlichen Begriffs- und Urteilsbildung zu geben. So hätten die Kirchenväter die Trinitätslehre auf ein platonisches Fundament gestellt. Dieses Philosophische an sich sei aber nicht die Hauptsache, sondern nur die zeitbedingte Einkleidung zur Formulierung des religiösen Gedanken. Die Kirchenväter hätten sich auch der stoischen Terminologie bedienen können, wenn diese damals noch lebendig gewesen wäre; wäre aber das Philosophische und nicht das Religiöse in der Trinitätslehre das Eigentliche gewesen, so hätte diese Lehre auch nicht das Ende der Vorherrschaft des Platonismus überdauert.97 In wiefern Schleiermacher dieses Sich-Berufen auf die Philosophie in der Dogmengeschichte für legitim oder auch unvermeidlich hält, geht aus dem fragmentarischen Manuskript nicht hervor. – Eine weiterer Abschnitt dieser Vorlesung behandelt die Superstition der Masse: Was von ihr allein ausgehe und bei den Gebildeten Widerstand finde, sei allerdings Verderbnis. Was aber von beiden gemeinschaftlich ausgehe, namentlich der Heiligenund Reliquiendienst, das habe, unbeschadet seines abergläubischen Charakters, eine andere Bedeutung und sei durch den Glauben selbst motiviert: Es gehe um Dokumente und Traditionen aus der christlichen Frühzeit, in denen sich der historische Geist des Christentums vor seiner literarischen Zeit offenbare.98 Die Vorlesung von 1806 faßt also die Kirchengeschichte als Ausbreitung, Darstellung und Organisation des christlich-religiösen Prinzips und als Emanzipation der ethischen Gebiete und Formen voneinander. Auf die Dauer hat nur Bestand, was dem Wesen der Kirche entspricht; alles andere wirft die Kirche, auch ihrer Erscheinung nach, früher oder später wieder ab. Dabei kann, wie die Ausführungen zur Heiligenverehrung zeigen, auch das dem Glauben eigene Interesse und Motiv unter Umständen verkehrte, superstitiöse Folgen zeitigen.

4.3.2.  Der christliche Glaube Nur kurz am Rande erwähnt das Manuskript von 1806 das, was von der „Masse allein“ ausgeht, als Gegensatz gegen das, was aus dem christlichen Prinzip kommt.99 Hier setzen Glaubens- und Sittenlehre ein. 97 

Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 11. Stunde (KGA II/6, S.  18) in die Kirchengeschichte 1806, 10. Stunde (KGA II/6, S.  18). Vgl. auch Kirchengeschichte 1821/22, Kollektaneum 2 (KGA II/6, S.  143): „Im Reliquien und Heiligen Dienst ist der wahre Enthusiasmus corrumpirt durch Aufnahme der Zauberei in die Religion. Sehnsucht nach Vergegenwärtigung der Wunder. Aus derselben Quelle die Transsubstantiation.“ Auch hier schreibt Schleiermacher von einem legitimen Bedürfnis des Glaubens, das erst dadurch fatale Folgen zeitigt, daß zu seiner Stillung abergläubische Mittel in den Glauben aufgenommen werden. 99  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 10. Stunde (KGA II/6, S.  18) 98 Einleitung

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Die Glaubenslehre nimmt in ihren ekklesiologischen Paragraphen die der protestantischen Dogmatik geläufige Unterscheidung zwischen der sichtbaren und der der unsichtbaren Kirche auf, versteht darunter aber nicht einerseits die Berufenen, die Mitglieder der verfaßten Kirche, und andererseits die nur Gott bekannte Schar der Erwählten und Wiedergeborenen. Die unsichtbare Kirche ist bei Schleiermacher vielmehr die Gesamtheit der Wirkungen des Geistes; die Organe des Geistes sind die gleichbleibenden Institutionen der Kirche: die heilige Schrift, das geistliches Amt, Wort und Sakrament, das Amt der Schlüssel und das Gebet. Zum Wesen der unsichtbaren Kirche gehört es aber, nach außen zu treten, sichtbar zu werden, sich in der Welt zu verwirklichen, eine geschichtliche und damit auch veränderliche Gestalt anzunehmen.100 In jedem Teil der sichtbaren, wirklichen Kirche sind die Institutionen und Wirkungen der unsichtbaren Kirche untrennbar mit dem verbunden, worauf der Geist wirkt; „auf jedem Punkt des erscheinenden menschlichen Lebens, wo auch schon Kirche ist, weil Glaube und Gemeinschaft des Glaubens da ist, eben da ist auch noch Welt, weil noch Sünde und Gemeinschaft mit der allgemeinen Sündhaftigkeit da ist. Jeder sichtbare Theil der Kirche ist also genauer betrachtet ein Gemisch von Kirche und Welt“.

Die Wirkungen des Geistes, das Gleichbleibende in der Kirche, „constituiren ein zusammengehöriges und zusammenwirkendes Ganze; aber sie sind nicht abgesondert darzustellen, sondern nur unsichtbar sind sie innerhalb jenes Gemenges als das in demselben gegen die Welt wirksame und es von der Welt scheidende enthalten.“101

Das Innerste in jedem Wiedergeborenen, das Gefühl, sei nichts anderes als „die ganze Wahrheit der Erlösung“; es könne weder verfälscht noch zerstört werden. Die Vorstellungen und die Willensrichtung des Wiedergeborenen aber seien immer auch das Produkt seines bisherigen Lebens und Interesses.102 Der vom Geist untrennbare weltliche Koeffizient mache die sichtbare, wirkliche Kirche veränderlich.103 Das Wandelbare faßt Schleiermacher darin zusammen, daß die sichtbare Kirche gegenüber der Unteilbarkeit und Unbeschränktheit des Geistes getrennt und gespalten sei und daß sie gegenüber der Reinheit und Untrüglichkeit des Geistes irrtumsfähig sei und auch tatsächlich irre.104 Es könne sogar 100  Vgl.

dazu auch Kurze Darstellung 2, §  47 (KGA I/6, S.  343 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  47 (hg. Sachs, S.  54). 101  Der christliche Glaube2 2, §  148 (KGA I/13,2, S.  427–430). Vgl. Adele Weirich: Die Kirche in der Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers, Europäische Hochschulschriften XXIII,398, Frankfurt am Main 1990, S.  141–143; Wilhelm Christe: Kirche und Welt, Frankfurter theologische Studien 50, Frankfurt am Main 1996, S.  175–180; Jörg Dierken: Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, Beiträge zur historischen Theologie 92, Tübingen 1996, S.  4 01–403. 102  Der christliche Glaube2 2, §  149,1 (KGA I/13,2, S.  430–432) 103  Der christliche Glaube2 2, §  126 (KGA I/13,2, S.  3 03–308) 104  Der christliche Glaube2 2, §  149 (KGA I/13,2, S.  430–434). Vgl. Christe: Kirche und Welt, S.  184–186.

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Zeiten in der Kirchengeschichte geben, in denen der Irrtum Überhand nehme und die Wahrheit zurückgedrängt werde.105 Trennungen und Irrtümer in der Kirche wandelten sich dabei natürlich auch und bestünden je für sich immer nur vorübergehend: Die besonderen Formen des Christentums und die Gegensätze zwischen den Sonderformen seien veränderlich und vergänglich, und jeder Irrtum werde irgendwann von dem in der sichtbaren Kirche wirkenden Geist der Wahrheit überwunden.106 Und da kein Teil der Kirche, auch keine Konfession, ganz ohne die Wirksamkeit des Geistes sei und keiner ganz ohne Trübung des Geistes durch die Welt, so habe keiner ganz recht und keiner ganz unrecht.107

4.3.3.  Christliche Sitte Die christliche Sittenlehre faßt die Dualität zwischen dem christlichen Prinzip und der menschlichen Natur, auf die und durch die jenes wirkt, in den paulinischen Gegensatz von Geist Christi und Fleisch.108 Der Geist ist sündlos und immer einer und derselbe; von ihm geht nur Gutes aus. Das Fleisch ist einerseits das Prinzip der Individuation, kraft dessen sich der Geist in der empirischen Kirche, in all ihren Teilen und in jedem Einzelnen, in immer neuen Formen verwirklicht und kraft dessen nicht alle ethischen Bestimmungen allgemeingültig und auf alle übertragbar sind.109 Andererseits ist das Fleisch das dem Geist widerstrebende Prinzip. Ziel der Kirchengeschichte ist die vollendete Herrschaft des Geistes über das Fleisch; das Fleisch bleibt in seiner individuellen Mannigfaltigkeit, aber es soll ganz zum Organ des Geistes werden. Das christliche wirksame Handeln geht darauf aus, die Herrschaft des Geistes auszubreiten, wo sie nicht ist, und wiederherzustellen, wo sie gestört ist. (Auf dem Dualismus zwischen dem Geist und dem Fleisch, das sich der Herrschaft des Geistes widersetzen kann, beruht dann auch die Sündenlehre der Glaubens­ lehre.110 ) Daß das wiederherstellende oder reinigende Handeln in der Kirche nötig ist, ist für Schleiermacher immer ein Indiz dafür, daß in der Gesamtheit der Kirche das Verhältnis zwischen Geist und Fleisch gestört ist.111 Doch beim reinigenden 105 

Der christliche Glaube2 2, §  155,2 (KGA I/13,2, S.  4 49) christliche Glaube2 2, §  152; 155 (KGA I/13,2, S.  4 40–443. 448–450); vgl. Über die Religion, 2.  Aufl., Berlin 1806, S.  366 (Nachrede) (KGA I/12, S.  314 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  52 (hg. Sachs, S.  61). 107  Der christliche Glaube2 2, §  153–155 (KGA I/13,2, S.  4 43–450). Vgl. Weirich: Die Kirche, S.  151–155. 108 Fleisch und Geist entsprechen also dem für die Ethik konstitutiven Gegensatz von Vernunft und Natur, vgl. oben Abschnitt 3.2. 109  Christliche Sitte 1809/10, §  51. 59 f. (SW I/12, Beilage, S.  17. 20 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  57–64. 304–306. 574). Vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  106. Vgl. dazu auch unten Abschnitt 4.4. 110  Der christliche Glaube2 1, §  67 (KGA I/13,1, S.  4 09–411) u.ö. 111  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  100–102. 117 f.) 106  Der

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Handeln in der Kirche geht es nicht nur um eine Rückkehr zur Reinheit des apostolischen Zeugnisses, sondern zugleich auch um ein notwendiges Fortschreiten in der äußeren Erscheinung der Kirche. Daß die Kirche sich in ihrer Geschichte fortentwickeln müsse, sei freilich eine protestantische Ansicht; der Katholizismus lehne sie ab und mache geltend, die Kirche sei durch Christus als ein absolut vollendetes gesetzt. „Aber wir müssen sagen, So ist sie zwar gesezt, aber niemals in der Erscheinung, sondern immer nur auf ewige Weise. […] Jede Gemeinschaft ist in jedem Momente noch in einem unvollkommenen Zustande, und soll daher beständig im Zustande des Fortschreitens sein. Das Fortschreiten aber beruht darauf, daß der vollkommene Zustand schon in gewissem Sinne vorhanden sei, wenn auch nur in der Idee ausge­d rükkt […] Es ist in der Idee Christi die absolute Vollkommenheit der Kirche schon gesezt gewesen, und alles, was in Christo gesezt war, müssen wir ja in der Kirche realisiren. Es läßt sich also alles dahin gehörige Handeln als wiederherstellendes ansehen; denn immer muß die das in Christo gesezte realisirende Thätigkeit partiell aufgehoben werden und Hemmungen erfahren, wenn es in größerer Reinheit erkannt wird, als es in der Ausführung wirklich schon ist.“112

Der Geist des Ganzen sei im Ganzen nicht gleichmäßig verteilt; „dies gehört mit zur allgemeinen Form des menschlichen Daseins und speciell der christlichen Kirche.“113

Das wiederherstellende Fortschreiten kann also, je nachdem, wo der Geist bessere Einsicht schafft, vom Ganzen bzw. seinen Repräsentanten, der Kirchenleitung, dem Klerus ausgehen; der Einzelne wird dann auf das Niveau gehoben, das das Ganze bereits hat. Dies ist die Kirchenzucht. Ebenso kann aber auch der Einzelne dem Ganzen in der Entwicklung voraus sein und reinigend auf das Ganze wirken, und das nennt man Kirchenverbesserung. Und wenn die Verfassung der Kirche es unterbinde, daß der Einzelne mit seiner besseren Einsicht auf geordnete Weise auf die Repräsentanten der Kirche, die Kleriker, einwirke, wie das zur Zeit der Reformation gewesen sei, dann sei es legitim, daß sich der Einzelne dem Klerus entgegenstellt. Diese Opposition gegen die Organisation dürfe aber jedesmal nur so lange dauern, bis eine neue Organisation gebildet sei, in der z. B. die Kleriker von den Gemeinden gewählt würden, also eine echte Repräsentation der Gemeinde seien und deren Impulse zum Besten des Ganzen 112  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  122 f.; vgl. auch 72. 383–385; Christliche Sitte 1809/10, §  214, SW I/12, Beilage, S.  81 f.); Praktische Theologie 1833 (SN 557, pag. 101): „Jeder katholische Christ bekennt, daß er glaube, was die Kirche gebiethe; sie gebiethet aber nichts mehr, sondern sie hat nur gebothen. Wird etwas gelehrt, was daraus nicht folgt, so muß es zurück genommen werden; die Lehre ist also aus dem Leben der Kirche herausgetreten und ist nur ein feststehendes Document.“ 113  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  126). Vgl. auch Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 2. Stunde (KGA II/6, S.  10 f.); Kurze Darstellung 2, §  234 (KGA I/6, S.  4 08); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 26–28).

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aufnähmen.114 Dementsprechend stellt Schleiermacher ein Schema und Regelwerk auf, nach welchem sich die Kirchenverbesserung vollzieht: Ein Einzelner oder ihrer mehrere tauschen sich zunächst mit anderen Einzelnen aus, prüfen, klären und reinigen ihre eigenen Einsichten und machen sie dann immer weiter öffentlich. Es ist natürlich nicht jeder Verbesserungsversuch im Recht, sondern es gibt auch solche Versuche, die auf geistlichem Hochmut eines Einzelnen beruhen, die aber auch nur dann um sich greifen können, wenn der Zustand des Ganzen krankhaft ist. Das Ganze nun nimmt die Impulse entweder auf, oder es reagiert auf sie mit Kirchenzucht und versucht, die dissentierenden Einzelnen dem Ganzen wieder zu assimilieren. In dem dann einsetzenden Ringen muß das Kriterium die allgemeine Norm für das sein, was als christlich gelten kann und was nicht, also letztlich das Neue Testament. Schließlich gleicht sich der Gegensatz wieder aus, Einzelleben und Gesamtleben in der Kirche stimmen wieder überein, die Kirche hat sich durch den Geist gereinigt, ihre Erscheinung hat sich ihrem Ideal weiter angenähert. Zu Mißentwicklungen komme es dann, wenn der Prozeß vorzeitig beendet werde, wenn also der Einzelne mit seiner besseren Einsicht aus Feigheit nicht die Öffentlichkeit suche oder wenn eine der beiden Seiten das Gespräch abbreche, indem sie sich von der anderen Seite isoliere oder die andere Seite in den Bann tue.115 Geht es schon beim reinigenden Handeln um die fortschreitende Entwicklung und Vervollkommnung der Kirche, so natürlich erst recht beim verbreitenden Handeln. Schleiermacher unterscheidet formal die extensive und die intensive Verbreitung, also die Verbreitung des Christentums nach außen unter den Nichtchristen und die Steigerung des Christentums in den Christen. Diese Unterscheidung geht insofern mit der Duplizität von Kirchenzucht und Kirchenverbesserung parallel, als die extensive Verbreitung wie die Kirchenzucht eine Angelegenheit der Gesamtheit ist, während die Intensivierung wie die Kirchenverbesserung von Einzelnen ausgeht, die der Masse voraus sind und die so für das Ganze zum Beispiel und zur Orientierung werden.116 – Schleiermacher differenziert in der Sittenlehre allgemein zwischen repräsentativem und korrektivem Handeln, je nachdem, ob in der Entwicklung der Einzelne dem Ganzen

114  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  123–128); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  206). Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  47 f. 115  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  112 f.; SW I/12, S.  184–205). Schleiermacher betont, daß im Falle der Reformation Bann und Trennung nicht von den Reformatoren ausgegangen ist, sondern vom katholischen Klerus, vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  125); weiter Predigt 441 (20.8.1820) über Apg 11,19–21 (SW II/10, S.  108 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  58 (hg. Sachs, S.  65). Vgl. auch unten Abschnitt 9.2.2.2. 116 Christliche Sitte 1809/10, §   204 f. (SW I/12, Beilage, S.   74 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  70. 317–319. 373–377); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  435. 439)

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folgt bzw. als Organ des Ganzen handelt oder ob er dem Ganzen vorausgeht.117 Diese Unterscheidung findet sich auch in der Glaubenslehre: Jede Darstellung der Glaubenslehre vereine das, was von der jeweiligen Kirchengemeinschaft als Lehre anerkannt sei, mit Eigentümlichem; das eine wahre die geschichtliche Kontinuität und den kirchlichen Charakter der Dogmatik, das andere bringe die Entwicklung voran.118 In Theorie des Kirchenregiments kehrt sie ebenfalls wieder: Es sei zu unterscheiden zwischen dem gebundenen, im Rahmen der Kirchenverfassung organisierten Element des Kirchenregiments und dem ungebundenen Element; letzteres sei die „freie Geistesmacht“, die der Einzelne, ohne daß er eine bestimmte feste Funktion in der organisierten Gemeinschaft haben müßte, auf das Ganze der Kirche ausübe, z. B. als akademischer Lehrer oder Schriftsteller.119 Für Schleiermacher sind immer die Einzelnen die Initiatoren der Fortentwicklung, während das Ganze dafür sorgt, daß die Veränderung die Gemeinschaft nicht auflöst.120 – Die intensive Steigerung also als von den Einzelnen ausgehendes, korrektives Handeln ist nichts anderes als die Kirchenverbesserung, nur daß sie nicht wie diese unter dem Vorzeichen der Unlust, des Widerstandes, des Streites steht. So stellt Schleiermacher für den intensivierenden Prozeß keine andere Regel auf als die, daß dem freien Wirken des Geistes, dem freien Austausch und dem gemeinsamen Suchen nach dem Besten in Liebe kein Hindernis in den Weg gelegt werden darf.121 Für die extensive Verbreitung differenziert Schleiermacher zwischen der Verbreitung durch Kontinuität und derjenigen durch Wahlanziehung. Das erste ist die natürliche Fortpflanzung und Weitergabe des Christentums an die nächste Generation – aus diesem Grund wird die ethische Thematik von Ehe und Familie auch unter dem „verbreitenden Handeln in der Kirche“ eingeordnet – und die Weitergabe des Christentums an die räumliche Nachbarschaft der christlichen Gemeinde, letzteres weniger durch beabsichtigte Mission als dadurch, daß die Umgebung von der gemeinsamen Darstellung des Christentums durch die Gemeinde angezogen und angesteckt wird.122 Die Verbreitung durch 117  Christliche Sitte 1809/10, §  57 f. 99–109. 114–141. 205 (SW I/12, Beilage, S.  2 0. 34– 36. 38–48. 74 f.). Im reinigenden Handeln hätte entsprechend die Kirchenzucht die Stelle des repräsentativen und die Kirchenverbesserung die Stelle des korrektiven Handelns gehabt, doch das Kolleg ist nicht mehr bis dahin gekommen. Vgl. auch Kurze Darstellung1, Praktische Theologie, Kirchendienst, §  11 (KGA I/6, S.  311); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  111. 154; SW I/12, S.  68–73. 376). 118  Der christliche Glaube2 1, §  25,2 (KGA I/13,1, S.  170–172) 119  Kurze Darstellung 2 , §  312 f. 323. 328 (KGA I/6, S.  436 f. 440–443) 120 Vgl. Burbach: Das ethische Bewußtsein, S.  6 4–68. 119. 121  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  139–141; SW I/12, S.  383–386. 396); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  424. 436–438); Christliche Sitte 1831, 68. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  184) 122  Christliche Sitte 1809/10, §  211 (SW I/12, Beilage, S.  78 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  330–332. 378 f.); Christliche Sitte 1831, 62.–63. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  174 f.); vgl. Predigt 444 (15.10.1820) über Apg 13,1–3 (SW II/10, S.  146–150).

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Kontinuität ist für Schleiermacher allgemeine Christenpflicht,123 die Verbreitung durch Wahlanziehung dagegen, die gezielte äußere Mission, ist immer der Sonderfall: In der Gegenwart, wo die christliche Kirche räumlich fast überall verbreitet sei, jeder Außenstehende also durch Kontinuität das Christentum kennenlernen könne, sei die äußere Mission in Abnahme begriffen, vielleicht gar nicht mehr nötig, jedenfalls aber sei sie keine allgemeine Pflicht, sondern ein Sonderberuf, der durch die Kirchengemeinschaft organisiert werden müsse und für den sich vor allem die seefahrenden, Welthandel treibenden Völker eigneten;124 ja, Schleiermacher kann daran zweifeln, ob es im Zeitalter der Apostel eigentlich eine äußere Mission gegeben habe und nicht bloß die Weitergabe des Christentums an die Nächsten.125 Auch bei der Darstellung, dem ureigensten, nicht auf äußere Wirksamkeit abzielenden Gebiet der Kirche, unterscheidet Schleiermacher repräsentatives und korrektives Handeln. Im öffentlichen Gottesdienst hat das Liturgische vor allem die repräsentative, das Gemeinsame und Gleichbleibende darstellende und die Predigt vor allem die korrektive, das Individuelle darstellende Funktion. Wo Beides nicht miteinander Schritt hält, entstehen Mißstände: Das Individuelle entfernt sich vom Kirchlichen, allgemein Anerkannten und ist nicht mehr Ausdruck des gemeinsamen Gefühls, und das Gemeinsame verliert die Verbindung mit der Entwicklung der Kirche und wird zu einem unzeitgemäßen, unverständlichen Formel- und Zeremonialwesen. Daß es allerdings bei der Entwicklung auch hier immer wieder zu Konflikten zwischen repräsentativem und korrektivem Handeln kommt, ähnlich dem Widereinander von Kirchenverbesserung und Reaktion beim reinigenden Handeln, ist unvermeidlich.126 Das darstellende Handeln der christlichen Kirche schafft sich nun seine Mittel nicht selbst, sondern greift auf die künstlerischen Erzeugnisse der jeweiligen Zeit, Kultur und auch Religion zurück. Der katholische Kultus zielt nach Schleiermacher mehr auf sinnliche Reize als auf die Belebung des religiösen Gefühls ab; der Protestantismus konzentriere sich dagegen auf die tönenden Künste, die Sprache und die Musik, weil sie unmittelbarer als die bildende Kunst Ausdruck des Geistigen seien. Bei der Frage, wieweit man religiöse Dar123  Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  382. 420. 432 f.); Christliche Sitte 1831, 65. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  176 f.) 124  Christliche Sitte 1809/10, §  211 (SW I/12, Beilage, S.  78 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  140; SW I/12, S.  379–381); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  382 f.); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  432 f.); Christliche Sitte 1831, 63.–65. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  175–181). Vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  122–124. 125  Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  381); Christliche Sitte 1831, 62. und 65. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  174–176) 126  Christliche Sitte 1809/10, §  107–113 (SW I/12, Beilage, S.  36–38); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  154; SW I/12, S.  560–563)

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stellungsmittel aus Heidentum und Judentum übernehmen könne, sei die evangelische Kirche, verglichen mit der katholischen Laxität, strenger und keuscher: Auch mit ihnen könnten falsche Vorstellungen und Sitten in die Kirche eindringen und sie korrumpieren.127 Im Manuskript der Vorlesung von 1809/10 bemerkt Schleiermacher bei der Frage nach der Bedeutung, die die symbolischen Bücher und die Bibel als Richtschnur für die Praxis der sich stets verändernden Kirche haben, es gebe zu allen Zeiten drei Momente in der Kirche: das ruhende Moment, das die Unveränderlichkeit darstellt, das neuernde Moment, das die Entwicklung darstellt, und das altgläubige Moment, das nichts, was von Einzelnen ausgeht, für kirchlich annehmen will. Diesen drei Momenten stehen drei gegenüber, die nur scheinbar zur Kirche gehören und von ihnen nicht leicht zu unterscheiden sind: die Gleichgültigkeit (unter dem Schein der ruhenden Selbstübereinstimmung der Kirche), die unchristliche oder irreligiöse Neuerungssucht, die Fremdes in der Kirche einführen will (unter dem Schein der Kirchenverbesserung oder intensiven Steigerung), und das superstitiöse Festhalten an abgestorbenen Formen (unter dem Schein der Abwehr wesensfremder Neuerungen in der Kirche).128 Wie sich aber die fremden, nicht zum Wesen der Kirche gehörigen Faktoren in der Kirchengeschichte auswirken, das ist nicht das Thema von Schleiermachers christlicher Sittenlehre. Sie beschreibt die christliche Kirche als Wirkung des christlichen Geistes im Fleisch und auf das Fleisch und als Entwicklung des Fleisches unter dieser Einwirkung. Damit die Entwicklung der christlichen Gemeinschaft in der Zeit eine organische Geschichte ist, muß der Geist das agens in ihr sein. „Eine Fortbewegung von außen können wir aber in der christlichen Kirche gar nicht annehmen, denn sie könnte keine Wirkung des göttlichen Geistes sein“.129

Das Weltliche oder Fleischliche ist in ihr die Materie, die durch den Geist geformt wird. Für die Gemeinschaften, in denen sich der Geist verwirklicht, für die Mittel, mit denen er sich darstellt, spielt das Fleisch allerdings eine Rolle; die Mannigfaltigkeit des Fleisches steht der Einheit des Geistes gegenüber. Aus der Verschiedenheit der Einzelnen, der Gemeinschaften und der Darstellungsmittel, aber auch der Intensität, mit der der Geist aufgenommen wird, entstehen Unterschiede und Verwerfungen, die aber, da alles im Geist miteinander in Verbindung stehen muß, nicht zu gänzlicher Trennung führen, sondern dazu, 127  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  150 f.; SW I/12, S. 538–541); vgl. Praktische Theologie 1826 (Nachschrift Bindemann, SN 555, fol.  34v–36). 128 Christliche Sitte 1809/10, §   36 (SW I/12, Beilage, S.   12). Vgl. auch Predigt 60 (25.6.1820) über Apg 4,13–21 (SW II/4, S.  106 f.), wonach es in der Kirche von Anfang eine strengere und eine freie Richtung gibt, die sich aneinander abarbeiten. 129  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  126)

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daß die Gegensätze sich aneinander abarbeiten und wieder ausgleichen. Dieser Prozeß, den Schleiermacher besonders im Abschnitt über die Kirchenverbesserung beschreibt, führt letztlich zum Fortschritt in der Kirchengeschichte, zur Steigerung und Vervollkommnung der christlichen Kirche und zu ihrer Annäherung an das Urbild Christus, in dem die Herrschaft des Geistes über das Fleisch vollkommen ist.

4.3.4.  Kurze Darstellung des theologischen Studiums Die Kurze Darstellung des theologischen Studiums geht in ihren kirchengeschichtlichen Paragraphen genauer auf die fremden Einflüsse in der Entwicklung des Christentums ein. Sie teilt die Kirchengeschichte sachlich in die Geschichte der Lehre und die des Lebens und konstatiert, jene werde vorzüglich durch die herrschenden Philosopheme und den wissenschaftlichen Zustand überhaupt beeinflußt, diese durch die politischen Verhältnisse und den geselligen Zustand überhaupt.130 Hier kehrt also die Notwendigkeit wieder, auch die philosophisch-wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen zu berücksichtigen, die die Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 erkannte. Die zweite Auflage der Kurzen Darstellung fügt hinzu, daß dieses Mitbestimmtwerden durch fremde Koeffizienten an sich noch nicht unbedingt krankhafte Ergebnisse zeitige, denn dann müßte sich das christliche Prinzip ganz isolieren und könnte gar nicht wirksam sein, daß in ihm aber der Grund für die Möglichkeit krankhafter Entwicklungen liege.131 Die Kirchengeschichte hat also die Aufgabe, zu unterscheiden, was in der geschichtlichen Wirklichkeit der Kirche aus dem christlichen Prinzip und was aus anderen Prinzipien hervorgegangen ist. Dabei differenziert die zweite Auflage der Kurzen Darstellung zwischen der „Beschaffenheit der in Bewegung gesezten Organe“ und der „Einwirkung fremder Prinzipien“.132 Was damit gemeint ist, erläutert Schleiermacher in einer Vorlesung zur theologischen Enzyklopädie anhand eines Beispiels aus der Reformationsgeschichte: In republikanischen Gesellschaften habe die Reformation zu anderen kirchlichen Verfassungen geführt als in monarchischen; der Unterschied sei ein Resultat des jeweils verschiedenen bürgerlichen Zustandes und komme somit aus der verschiedenen Beschaffenheit der an der Bewegung beteiligten Organe, doch sei beides an sich untadelig, sofern es nur durch das christliche Prinzip bestimmt werde. Anders verhalte es sich, wenn sich umgekehrt nicht die Kirche des bürgerlichen Prinzips bediene, sondern das bürgerliche Prinzip der Kirche, denn dort herrsche dann das fremde Prinzip vor.133 130  Kurze

Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §  11 f. 20. 28 f. (KGA I/6, S.  281–283) 131  Kurze Darstellung 2 , §  167 (KGA I/6, S.  385 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  167 (hg. Sachs, S.  157 f.) 132  Kurze Darstellung 2 , §  160 (KGA I/6, S.  383) 133  Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  160 (hg. Sachs, S.  153 f.); vgl. Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  65).

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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Zu unterscheiden zwischen dem, was aus dem christlichen und was aus anderen Prinzipien kommt, hat zugleich auch einen unmittelbar praktischen, heuristischen Zweck für das Geschäft der Kirchenleitung: Es zeigt, wovon die Kirche sich reinigen soll. Diese Unterscheidung ist eine Aufgabe, die die Kirchengeschichte mit der philosophischen Theologie gemeinsam hat; letztere soll ja anhand der Ethik und der geschichtlichen Wirklichkeit das Wesen des Christentums kritisch bestimmen und zugleich krankhafte Phänomene erkennen. Wie sich ein bestimmter geschichtlich gegebener Zustand des Christentums zu dessen Idee verhält, ob es ein gesunder Zustand ist oder ein krankhafter, der der Reinigung bedarf, das bestimmt sich nach Schleiermacher nicht nur durch den Inhalt dieses Zustandes, sondern eben auch dadurch, wie, aus welchen Ursachen und Prinzipien er geworden ist, welche Kraft sich in ihm verwirklicht. Beides, Reinheit des Inhalts und der Genese, bedingten einander.134 Für die Lehrentwicklung sieht Schleiermacher die Gefahr, daß das (freilich notwendige) philosophisch-systematische Element deren eigentliches Gebiet, nämlich die „fortschreitende Betrachtung des christlichen Prinzips nach allen Beziehungen“, überfremdet. „Das Bestreben, philosophische Systeme in die Theologie einzuführen, pflegt mit der Anwendung einer richtigen Schriftauslegung im Gegensaz zu stehen.“

Trotzdem meint er, daß „völlig äußere Lebensverhältnisse“ (seien es wissenschaftliche Systeme oder byzantinische Hofintriguen) nicht den wahren Grund zu wichtigen Lehrentscheidungen enthalten könnten.135 Die zweite Auflage der Kurzen Darstellung sieht den Hauptantagonismus in der Dogmengeschichte nicht zwischen Kanon und Philosophie, sondern zwischen der nach innen gehenden Richtung, der Betrachtung des christlichen Selbstbewußtseins, und dem nach außen gehenden, mehr wissenschaftlichen Streben, die Lehre präzise und übereinstimmend zu formulieren; zu verschiedenen Zeiten habe das eine oder das andere das Übergewicht. Der Gang der Entwicklung aber folge aus dem eigentümlichen Wesen des Christentums: Schon bald nach dem apostolischen Zeitalter sei die Frage, wie sich Christi göttliche Würde mit dem Monotheismus vereinbaren lasse, Gegenstand der Lehrentwicklung gewesen; unter den dogmatischen Problemen sei dieses notwendigerweise als erstes aufgeworfen worden, denn es sei für das Christentum die zentrale Frage. Fremde Motive könnten nur bei einem krankhaften Zustand der Kirche größeren Einfluß auf den Gang und die Ergebnisse dieser Entwicklung haben; die neueren Kirchen- und Dogmenhistoriker hätten die Neigung, diese Einflüsse zu übertreiben. Bei Zwiespalt 134  Kurze Darstellung 2 , §  3 4. 54. 173 (KGA I/6, S.  339. 346. 387); vgl. Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §  19 (KGA I/6, S.  282); Der christliche Glaube2 1, §  21,1 (KGA I/13,1, S.  152 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  34. 45. 179 (hg. Sachs, S.  37–39. 51. 168); dazu Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Schleiermacher-Archiv 14, Berlin und New York 1994, S.  98–100; Janssen: Die Inkarnation, S.  75. 135 Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §   27–32 (KGA I/6, S.  283 f.)

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B.  Systematischer Teil

über die Lehre gebe es einerseits das Bestreben, die Übereinstimmung mit dem urchristlichen Zeugnis nachzuweisen, andererseits die Übereinstimmung mit auch anderweitig anerkannten Sätzen der Logik und der Metaphysik; die krankhafte Ausartung dieser Bestrebungen führe einerseits zu einem die Lehrentwicklung hemmenden Biblizismus, andererseits zur Einführung nicht spezifisch christlicher spekulativer Sätze. Auch hier sei das Verhältnis zwischen beiden Richtungen Veränderungen unterworfen; wer nicht nur eine Chronik, sondern eine Geschichte der Lehre schreiben wolle, müsse diese Wechsel nachvollziehen.136

Die andere Seite der Kirchengeschichte, die Geschichte des christlichen Lebens, wird mitbestimmt durch den kulturellen und geistigen Zustand der jeweiligen Gesellschaft. Kultus und Sitte der Kirche dürften sich in ihrer Entwicklung nicht voneinander isolieren, sonst verliere der jeweils abgekoppelte Teil seinen Zusammenhang mit dem christlichen Prinzip; der Kultus werde zu leerem Formelwesen oder zu abergläubischer Praxis, und die Sitte sei ohne religiöse Motivation. Auf diesen Gebieten erwiesen sich die langsamen, gleichmäßigen Veränderungen gegenüber den plötzlichen als die nachhaltigeren, weil sie weniger der Reaktion ausgesetzt seien.137 Im Einleitungsteil der Praktischen Theologie von 1830/31 legt Schleiermacher dar, mit dem Beruf der Kirchenleitung sei immer mitgesetzt, daß ein vollkommenerer Zustand der Kirche als der gegebene gedacht und erstrebt werde, ein Fortschreiten. Wer kirchenleitend tätig sein wolle, müsse nicht nur den gegebenen Zustand der Kirche kennen, sondern auch ihre Idee, denn nur so ließen sich Zweck und Ziel des kirchenleitenden Handelns erkennen. Im kritischen Vergleich von Idee und geschichtlicher Wirklichkeit finde der Theologe nun Entwicklungen vor, durch die sich die wirkliche Kirche der Idee nähere, und solche, die zurückführten. „Worauf beruht dieser Gegensatz? Wir könnten ihn auf etwas ganz allgemeines zurückführen, wenn wir bloß sagen, die eine Bewegung ist eine solche die man billigt die andere eine solche, die man tadelt, aber dabei kommt man nicht weiter, es ist mit anderen Worten ausgedrückt, was das vorwärts besagt finde ich nicht aus dem Billigen oder Tadeln. Wir müssen also die Frage noch mehr auf den Begriff eines geschichtlichen Ganzen zurückführen. Wo finden wir ein solches und wovon geht es aus. Es sind allemal, Thätigkeiten die ineinander greifen, und so wie wir Besonnenheit vor­ aussetzen, so auch einen gleichen Antrieb, der von einer gleichen Vorstellung ausgeht. Wenn wir nun sagen, in diesem giebt es einen Wechsel von Zuständen die gewollt werden, und die nicht gewollt werden, so sehen wir liegt ein beständiger Vergleich zu Grunde dessen was ist mit einem anderen, dieses andere können wir nicht anders bezeichnen, als im Gegensatz von dem, was ist, das was sein soll oder werden soll“. Wäre ein identischer Impuls in allem, was zum geschichtlichen Ganzen gehört, zugleich und ausschließlich wirksam, dann wäre mangels einer Differenz zunächst gar kein kritisches Urteil möglich. Ein rückblickendes kritisches Urteil über das Vergangene eines 136  Kurze Darstellung 2 , §   177–182 (KGA I/6, S.  388–390); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  177–182 (hg. Sachs, S.  165–171) 137 Kurze Darstellung 2 , §   169–171 (KGA I/6, S.   386 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  169–171 (hg. Sachs, S.  160–162)

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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geschichtlichen Ganzen läßt sich aber auf zweierlei zurückführen: „wenn wir denken daß der Impuls ein anderer wird, wenn man in der späteren Zeit klarer denkt als früher, dann entsteht ein Urtheil, oder wenn wir uns denken es ist nicht der Impuls allein wirksam, sondern es wirken noch andere Kräfte, und das Resultat ist die Wirkung nicht von dem Impulse sondern ein zusammengesetztes, dann sehen wir einen Fortschritt natürlich, und das Urtheil, so wie sich etwas fremdes einmischt muß es fortgebracht werden. Hier sehen wir also, daß die Differenz zwischen dem was schon da ist, und dem was wir durch unsere Thätigkeit hervorbringen wollen im Fall solchen geschichtlichen Ganzen auf diesen beiden Punkten beruht 1 daß die Idee selbst der Impuls unter der Form eines Gedanken in einer Entwicklung begriffen ist, und 2 daß der Impuls selbst im Streit ist mit anderen auf demselben Gebiet wirksamen Kräften, die müssen beseitigt oder in Uebereinstimmung gebracht werden. Wenn wir vom ersten ausgehen so bezeichnen wir den Zustand den wir beurtheilen so, es hat dieser Moment noch eine unvollkommene Vorstellung von dem was man will zum Grunde gelegen, was nur gefunden werden kann, wenn [sich] die Vorstellung vollständiger entwickelt hat, oder [wenn wir vom anderen ausgehen, sagen wir] es ist das Resultat nicht das reine Werk des Impulses sondern es ist anderes wirksam gewesen, in beiden Fällen werden wir sagen, daß der geschichtliche Zustand der Idee nicht entspricht, denn die unvollkommene Vor­stellung ist nicht die Idee, sondern die in der Entwicklung begriffene Erscheinung der Idee, und auf der anderen Seite desgleichen weil es nicht aus den Elementen allein besteht die von dem Impuls ausgegangen sind, sondern anderes sich eingemischt hat.“138 Bei einer Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit der christliche Kirche (wie sie in der geschichtlichen Erscheinung der Kirche ja immer gegeben ist) gibt es also zwei mögliche Ursachen: 1) Die Idee ist noch nicht vollkommen aufgefaßt, ihre Erkenntnis muß sich noch entwickeln, oder 2) es mischen sich in die Wirklichkeit noch fremde Ideen ein. Das kritische Verfahren und sein Zweck ähneln dem in der Kurzen Darstellung; allerdings rechnet Schleiermacher bei unvollkommenen Zuständen hier nicht nur damit, daß positiv Fremdes wirksam sein und das christliche Prinzip partiell verdrängt haben kann, sondern auch damit, daß negativ das christliche Prinzip zu schwach und unvollkommen aufgefaßt wurde.

4.3.5.  Kirchengeschichte 1821/22 Die Kirchengeschichte von 1821/22 bezeichnet in ihrer Einleitung zweierlei als Hauptmotive der kirchengeschichtlichen Entwicklung: einerseits das Gegen­ einander der beiden Hauptfunktionen, nach denen das Christentum verbreitet wird, andererseits die Mannigfaltigkeit der menschlichen Organe, deren es sich bedient, und die Gegenwirkungen, die sich aus ihr ergeben.139 Zum ersten: Durch äußere Mitteilung und Ausbreitung und durch innere Aufnahme soll das, was in Christus als Ursprüngliches gesetzt war, zum Eigentum der ganzen Menschheit werden; dies sind also die beiden wesentlichen Funktionen des Christentums. Äußere und innere Ausbreitung decken sich nicht mit repräsentativem und korrektivem Handeln in der Sittenlehre: Das 138  139 

Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 30–36) Kirchengeschichte 1821/22, 3.–4. Stunde (KGA II/6, S.  22 f. 474–479)

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B.  Systematischer Teil

korrektive Handeln ist eine von Einzelnen ausgehende Reinigung und Steigerung des Ganzen (vgl. oben Abschnitt 4.3.3.), hier dagegen ist mit innerer Aufnahme die Aneignung des Christentums durch den Einzelnen gemeint, die innere, subjektive Seite des Christentums, seine individuelle Gestaltung und Steigerung.140 So wird die äußere Ausbreitung zum Prinzip der Einheit, der Gemeinsamkeit und Verbindung untereinander, die innere Aufnahme aber zum Prinzip der Individualität, der Ausdifferenzierung und der Teilung, denn in jedem gestaltet sich das Christentum anders.141 Beide Richtungen müssen miteinander Schritt halten: Wird das Christentum nur nach außen verbreitet, so bliebt es eben ein äußerliches Christentum, d. h. in ihm leben allerhand Überbleibsel aus Heidentum und Judentum fort und werden ausgebreitet, unchristliche, ja abergläubische und magische Vorstellungen und Praktiken.142 Ein nur innerlich sich steigerndes, nicht auch nach außen wirksames Christentum wiederum führt zu Separatismus und Anachoretismus, also zu Abkapselung von der Gemeinschaft und fruchtlosem In-sich-Brüten. Nur wo es innerlich aufgenommen ist, kann ein gesundes, lebendiges Christentum auch nach außen verbreitet werden, und nur wo es äußerlich mitgeteilt wird, kann sich innerlich ein gesundes Christentum entwickeln.143 140  Vgl. dazu besonders die Nachschrift der 3. Stunde: „Hier treten uns also zwei Richtungen des ursprünglichen Princips entgegen, nämlich: die Aufnahme der göttlichen Offenbarung in Christo ist nicht momentan, es kann nur allmählig das ganze Gemüth des Menschen durchdringen, und nur dann ist es vollständig aufgenommen; das ist die immer mehr nach Innen sich hineinarbeitende Richtung des neuen Princips; das andere ist das nach Außen gehende, die Richtung auf die Mittheilung.“ (KGA II/6, S.  474) Das entspricht auch der Differenzierung zwischen äußerer und innerer Ausbreitung der christlichen Religiosität in der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806, vgl. oben Abschnitt 4.2.1. 141  Vgl. dazu besonders die Nachschrift der 3. Stunde: „Denken wir uns die nach Innen gehende Richtung, so müssen wir sagen: je mehr der Einzelne im Innern die Offenbarung aufgenommen hat, um desto mehr wird sie sein Eigenthum; aber ist sie dies vollkommen, so ist sie es auf solche Weise, wie sie es auf keine andere seyn kann, es erwächst mit das Bewußtseyn der Persönlichkeit. Wenn dies in Mehrern geschieht und zwar solchen, die weit von einander stehn, so wird die ursprünglich gleiche Offenbarung in jedem eine andere, es entstehn Differenzen und mit diesen die Neigung, sich gegen einander abzuschließen. […] Denken wir uns die nach Außen gehende Richtung aber mit dem Bewußtseyn zusammen, daß die Offenbarung schon in Mehrern ist, so muß dies ein Resultat hervorbringen, daß diese Richtung als Allen gemeinsam gesetzt wird. Diese Richtung hat also die Wirkung zu ihrem Behuf, alle diejenigen, in welche das Christenthum gesetzt ist, verbinden zu wollen. Hieraus entstehn in der geschichtlichen Entwicklung manchfache oscillirende Erscheinungen.“ (KGA II/6, S.  474 f.) 142  Vgl. auch Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  2 09), wonach jede äußere Ausbreitung des Christentums auf neue Völker und jede Fortpflanzung des Glaubens an eine neue Generation auch neue Korruptionen in die Kirche bringt und reinigendes Handeln erheischt, also innere Aufnahme des Christentum und Austreibung derjenigen vorchristlichen Eigenarten, die mit dem Christentum im Widerspruch stehen. 143  Hanna Jursch: Schleiermacher als Kirchenhistoriker, Band 1, Jena 1933, S.   64 f., meint, Schleiermachers Schema von Extension, Intension und Ausgleich nehme das Ferdinand Christian Baursche Schema von Thesis, Antithesis und Synthesis vorweg. Bei Schleier-

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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Zum anderen: Ist das christliche Prinzip durch innere Aufnahme und äußere Mitteilung wirksam, so ist die menschliche Seele zugleich Ziel und Organ dieser Wirksamkeit. Das Bewußtsein mit seinen Formen, dem unmittelbaren Selbstbewußtsein, der Spekulation und dem sittlichen Gefühl, ist aber kein unbeschriebenes Blatt, wenn es das christliche Prinzip aufnimmt, sondern es steht immer schon auf einem bestimmten Entwicklungsstand und in einem bestimmten kulturellen Zusammenhang, ist individuell verschieden gestaltet; die göttliche Offenbarung vervollständigt das Bewußtsein, aber sie schafft es nicht neu. Obwohl es also im christlichen Prinzip selbst keine Differenz gibt, sondern dieses immer eines und dasselbe ist, kommt das Christentum in jedem anders zum Bewußtsein, tritt verschieden in Erscheinung, äußert sich und wirkt verschieden. Aus den mancherlei Phänomenen kommen Spannungen und Verwerfungen innerhalb der Kirche.144 Was bei diesen Differenzen aber nun tatsächlich unchristlich ist und was bloß auf verschiedenen individuellen Auffassungen und Ausprägungen beruht, ist schwer zu unterscheiden. Der Historiker wird hier generell milder urteilen als der Systematiker; diesem ist es nur darum zu tun, den Gehalt der Dogmen und Sitten kritisch zu prüfen, während jener vor allem ihre Genese betrachtet und weiß, wie oft aus bloßem Unverständnis schon Verdammungsurteile ausgesprochen wurden. Das Fremde, positiv Unchristliche aber, wenn es sich in der wirklichen Kirche findet, kommt aus der unbewußten Übernahme vorchristlicher Gefühle, Anschauungen und Sitten oder, anders ausgedrückt, aus noch nicht vollkommener intensiver Aufnahme des christlichen Prinzips durch die Seele. Von einem bewußten Gegensatz gegen das Christliche, einer Gemeinschaft der allgemeinen Sündhaftigkeit, in die das Christentum eintritt, einem nicht nur passiven, sondern aktiven Widerstreben des Fleisches gegen den Geist ist keine Rede. Die Menschen sind aber nicht nur individuell verschieden; die Menschheit bildet auch immer schon verschiedene Kulturen, Sprachen und Denksysteme, sie wird nach Nationen in große Massen geteilt, sie ist durch das Volkstümliche miteinander verbunden und voneinander getrennt. Und so ist, drittens, auch noch das Gegeneinander des nationalisierenden und des religiösen Prinzips ein macher handelt es sich aber weder um ein aus der Idee selbst abgeleitetes Schema noch um ein „Gesetz der Entwicklung“ (so Jursch), sondern eher um ein typisches Phänomen, das sich aus der Wirkung des Geistes auf das Fleisch ergibt, allerdings nicht notwendigerweise: Es läßt sich ja auch eine Entwicklung denken, in der Extension und Intension einen gleich­ mäßigen ruhigen Gang gehen, und davon abgesehen gibt es für Schleiermacher eben nicht nur ein ungesundes Übergewicht der Extension, das der Korrektur bedarf, sondern auch ein solches der Intension. Vgl. aber auch Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  83 (hg. Sachs, S.  86 f.), wonach es die Regel ist, daß die äußere Verbreitung des Christentums immer Fremd­artiges in die Kirche einschleppt und damit die wirkliche Erscheinung der Kirche verunreinigt, andererseits aber auch stärkt, einerseits durch quantitative Zunahme, andererseits durch intensive Steigerung des Christentums bei der Assimilation des Fremden (vgl. unten Abschnitt 6.2.3.). 144  Vgl. dazu auch Kirchliche Statistik 1833/34, 2. Stunde (KGA II/16, S.  4 68 f.)

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B.  Systematischer Teil

Motiv in der Kirchengeschichte. Die verbreitende Funktion des christlichen Prinzips setzt sich über die Grenzen der Nationen hinweg und stiftet eine übernationale Gemeinschaft der Gläubigen; so entsteht der Anschein, als wollte das Christentum die Völker auflösen, und dementsprechend bildet sich eine Opposition des Volkstümlichen gegen das Religiöse. Andererseits bringt die christliche Ökumene auch Völker miteinander in Verbindung, die einander sonst gar nicht kannten und unter denen erst innerhalb der Kirche die Verschiedenheit der Sprachen, Sitten und Vorstellungen ihre abstoßende Wirkung entfaltet.145 Hier handelt es sich nicht wie bei den vor allem in der Einleitung in die Kirchengeschichte von 1806 beschriebenen Konflikten zwischen Kirche Staat und Wissenschaft darum, daß die verschiedenen ethischen Formen in ihrer Entwicklung ihr Gebiet erst finden müssen und bis dahin auch einmal auf die Gebiete der anderen Formen übergreifen, sondern darum, daß der Einzelne verschiedenen geselligen und ethischen Kreisen angehört und daß prinzipiell weder die Beeinflussung der christlichen Darstellung, Vorstellung und Sitte durch die anderen Kreise einen solchen Übergriff darstellt noch umgekehrt die Universalität des christlichen Prinzips die anderen ethischen Kreise verwischen und vereinheitlichen will.146 In den Kollektaneen zur Vorlesung bemerkt Schleiermacher: „Die äußere Verbreitung war oft nur eine Incrustation des antichristlichen Sinnes. Sein positives Heraustreten am meisten auf der realen Seite; die Polemik gegen ihn am meisten auf der idealen. Polemik auf der realen Seite wurde Bilderstürmerei und dgl. Das nationale Kunstprincip tritt als Opposition auf und besiegt die Bilderstürmerei. Die christliche Kunst wird die Verklärung des so geretteten. Völlige Christlichkeit in der vollkomenen Symbolisirung.“147

Hier haben wir fast eine kurze Zusammenfassung des Bisherigen: Wo die innere Aufnahme des Christentums nicht mit seiner äußeren Verbreitung Schritt hält, bleibt das Alte, Unchristliche unter einer dünnen christlichen Oberfläche bestehen. Es äußert sich besonders auf der realen Seite, in unchristlichen Sitten und Kunstformen. Die Reaktion darauf ist vor allem ideal, eine Fortentwicklung der Lehre. Aber es kommt, als Reaktion auf der realen Seite, auch zu Bilderstürmereien, also zur Reinigung durch radikale Abschaffung und Vernei145 Kirchengeschichte 1821/22, 4.–5. Stunde (KGA II/6, S.   23 f. 479). Vgl. dazu auch Ethik 1812/13, Güterlehre, Von den vollkommenen ethischen Formen, §  77–83 (Werke 2, S.  333 f.); Hermeneutik 1819, 18. Stunde (KGA II/4, S.  244); Pädagogik 1820/21, 6.–8. Stunde (hg. von Christiane Ehrhardt und Wolfgang Virmond, Berlin und New York 2008, S.  77. 80 f.); Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung (24.6.1830), in: Philosophische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1830, Berlin 1832, S.  21–42, hier 39–42 (KGA I/11, S.  675–677). 146 Vgl. dazu besonders christliche Sitte von 1809/10, §   146–148 (SW I/12, Beilage, S.  50 f.), wo betont wird, daß das Christentum das Nationale nicht verwischen darf, weil die Darstellungsmittel ohne es ihre Intensität und bindende Kraft verlören. 147  Kollektaneum 5 (KGA II/6, S.  143 f.)

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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nung der bildlich-künstlerischen Darstellungsmittel insgesamt. Diesem „Puritanismus“ setzt sich das nationale Kunstprinzip entgegen, und zuletzt kommt es zu einer Versöhnung des religiösen und des volkstümlichen Prinzips in einer christlichen Kunst: Der nichtchristliche Gehalt der Kunst wird zum Symbol des Christlichen, er wird, seiner ursprünglichen Bedeutung entkleidet, zum Mittel der christlichen Darstellung.

4.3.6.  Kirchengeschichte 1825/26 Die Kirchengeschichte von 1825/26 wiederholt hier im Wesentlichen, was 1821 vorgetragen wurde: Das Christentum wird innerlich und äußerlich verbreitet, und beide Prozesse gehören zusammen und dürfen sich nicht voneinander losmachen. Die allerdings recht schnelle extensive Ausbreitung am Anfang der Kirchengeschichte war nötig, denn ohne einen Rückhalt in der Masse wäre das Christentum wohl in der Völkerwanderung untergegangen; daraus erklärt sich andererseits auch die hervorragende Stellung der Apostel: Ihr Zeugnis steht für das Ursprüngliche, zu dem man dort, wo mangels intensiver Durchdringung Fremdes ins Christentum eingedrungen ist, zurückgehen muß. Korruptionen rühren von mangelnder innerer Aufnahme oder mangelnder Richtung nach außen her.148 Für die Geschichte des Christentums spielt weiter die Art und das Niveau der Geistesbildung bei den Völkern eine entscheidende Rolle: Bedenkt man, wie schwierig es in der Gegenwart ist, das Christentum unter primitiven Völkern zu verbreiten, so sieht man, warum es in den ersten Jahrhunderten, als es sich in der Geschichte etablieren mußte, nicht zu den unzivilisierten Völkern kam, sondern zu denen, bei denen es für das Religiöse und Sittliche bereits ein ausgebildetes System der Sprache gab. Doch aus der bereits vorhandenen mancherlei kulturellen Prägung der Völker, aus denen die ersten Christen kamen, entstanden von Anfang an auch Differenzen im Bewußtsein und Bestrebungen, diese Differenzen auszugleichen, indem das Christentum in allen ja einerlei Ursprunges sei. Die geschichtliche Haupttendenz in diesem Widerspiel von Differenz und Streben nach Ausgleich sei es, das, was mit dem Christentum vereinbar sei, nebeneinander bestehen zu lassen und das, was unchristlich sei, auszuscheiden. Wie schon im Kolleg von 1821/22 bemerkt Schleiermacher, daß zwischen beidem, verträglichen Meinungsverschiedenheiten und widerchristlichen Häresien, zu unterscheiden schwierig sei und daß der Historiker hier weniger streng urteile als der Dogmatiker, weil er mehr Verständnis für das Wechselvolle der geschichtlichen Entwicklung habe. Wie es aber eine dogmatistisch-ketzermacherische Einseitigkeit gebe, so auch eine Einseitigkeit, alles für mit dem Christentum verträglich zu halten; von beiden sollte man sich frei

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Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S. 679–682)

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B.  Systematischer Teil

halten.149 Daß die christliche Welt in Völker und Stämme geteilt ist, bedeutet eigene Vorteile und Hemmungen für die Verbreitung des Christentums. In der christlichen Ökumene gab es stets große zusammenhängende Massen von Völkern und Ländern, unter denen der Austausch miteinander und die Wirkung aufeinander ungehindert war, und einzelne, verstreute Punkte, isoliert und mehr auf sich gestellt. Faßt man das volkstümliche Element als Natur und das christliche Prinzip als Gnade, die auf die Natur wirkt, so ist die Natur das Prinzip der Absonderung und Differenzierung, die Gnade aber das der Gemeinschaft und Einheit; da aber die Gnade die Natur nie auf hebt, sondern ihrer bedarf, um wirken zu können, so werden weder die Absonderung noch das Streben nach Einheit je auf hören.150

4.3.7.  Versuch einer Synthese Fassen wir zusammen: Die Kirchengeschichte beschreibt für Schleiermacher, wie das christliche Prinzips in der Zeit durch menschliche Organe auf die Menschheit wirkt. Das christliche Prinzip ist einfach und bleibt sich gleich; die Organe, durch die es wirkt, und die Gestalten, die es annimmt, sind mannigfaltig und veränderlich, denn die Menschheit, sowohl die Einzelnen als auch die Gemeinschaften, entwickelt sich fort und unterscheidet sich überall nach Sprache und Alter, Gesinnungen und Fertigkeiten, Kultur und Kunst, Staat und Gesellschaft, Bildung und Wissenschaft. Unveränderlich und identisch ist das christliche Gefühl selbst; veränderlich sind die Vorstellungen und Äußerungen des Gefühls und der Lehrbegriff, veränderlich ist auch die Reinheit und Tiefe, mit der das Christentum als Idee aufgefaßt wird. Unveränderlich sind die wesentlichen Wirkungsmittel der Kirche: das urchristliche Zeugnis (also das Neue Testament), die Institution eines geistlichen Amtes, Gottesdienst mit Wortverkündigung, Sakrament und Gebet; veränderlich ist die Erscheinung der Kirche, zu der die Lehre, die Sitte und der Kultus, die Kirchenverfassungen und Kirchengemeinschaften und die äußere Verbreitung gehören. Das christliche Prinzip schafft sich seine Organe nicht aus Nichts und macht das, was es sich aneignet, nicht zu Nichts; in der sichtbaren, wirklichen christlichen Gemeinschaft und in jedem ihrer Teile besteht also eine untrennbare Verbindung des christlichem Prinzips mit dem Veränderlichen, das es sich aneignet. Schleiermacher wendet auf diese Dualität die Begriffspaare Fleisch und Geist, Welt und (unsichtbare) Kirche, Natur und Gnade an. Aus dieser Grundspannung ergeben sich die verschiedenen Gegensätze, deren Widerspiel die geschichtliche Entwicklung vorantreibt:

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Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  682–684) Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  685 f.)

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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1. Das christliche Prinzip hat in seiner Wirkung zwei wesentliche Funktionen: Es wirkt nach innen, zur allmählichen Durchdringung des menschlichen Gemüts, und es wirkt nach außen, zur Mitteilung und Verbreitung. Wird eine der beiden Funktionen zugunsten der anderen vernachlässigt, kommt es zu krankhaften Zuständen in der Kirche: Ohne innere Aufnahme wird unter christlichen Formen und Riten Unchristliches oder Halbchristliches weiterverbreitet; ein rein innerliches Christentum wiederum, das nicht die Mitteilung sucht, die Gemeinschaft und die Verbreitung des Glaubens, wird zum fruchtlosen Anachoretentum. 2. Speziell für die Lehrentwicklung stellt Schleiermacher fest, in ihr gebe es ebenfalls die mehr nach innen gehende Richtung, die Betrachtung des Gefühls, und die Richtung nach außen, die verbindliche systematisch-zusammenhängende Formulierung der Lehre. Auch hier gibt es Zeiten, in denen das eine und in denen das andere vorherrscht, doch darf keines ganz zurücktreten. 3. Führt die Verschiedenheit der Völker und Einzelnen dazu, daß das Christentum sich in vielen Gestalten verwirklicht, so gibt es aus dem Bewußtsein des gemeinsamen Ursprungs von Christus und den Aposteln her auch ein Streben, in einen kritischen Austausch miteinander zu treten und die Unterschiede auszugleichen. Tatsächlich gibt es in jeder Kirchengemeinschaft auch Irrtümer und Unchristliches, das aus fremden Prinzipien herrührt, den Relikten „aus der vorigen Periode“,151 also daraus, daß das Innere noch nicht hinreichend vom christlichen Prinzip durchdrungen ist. Oft kommt aber das, was die eine Kirche in der anderen für unchristlich hält, nur von der fremden Sprache und Kultur, ist also nicht unchristlich, sondern nur unverständlich. So entstehen in der Kirchengeschichte nicht selten Streitigkeiten, ja Verdammungen zwischen Gemeinschaften, die dazu eigentlich gar keinen Grund hätten, weil die verketzerten Abweichungen tatsächlich ebenso legitime Gestalten des einen christlichen Prinzips sind, die gut und friedlich neben der eigenen Gestalt bestehen können. 4. In der Kirche ist, wie in jeder menschlichen Lebensgemeinschaft, der Geist des Ganzen im Ganzen nicht gleichmäßig verteilt; der Einzelne oder auch eine Gruppe in der Kirche kann vorübergehend in Gegensatz zum Ganzen treten. Dabei kann es darum gehen, daß Einzelne oder z. B. ein frisch christianisiertes Volk das christliche Prinzip erst oberflächlich aufgenommen haben und der Erziehung und Reinigung durch das Ganze bedürfen. Meist steht für Schleiermacher aber der Einzelne für die Neuerung, für den Fortschritt in Erkenntnis, Lehre und Intensität, das Ganze aber für das beharrende Moment und für die Einheit der Gemeinschaft. Wer recht hat, wenn beides in Gegensatz zueinander tritt, ist damit noch nicht gesagt: Der Einzelne kann eine bessere Einsicht haben, er kann mehr als das Ganze vom christlichen Prinzip durchdrungen sein und so 151 

Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 5. Stunde (KGA II/6, S.  13)

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B.  Systematischer Teil

dem Ganzen zur Reinigung oder zur intensiven Steigerung helfen; er kann sich aber auch irren, kann gegen seine Absicht danach streben, etwas Unchristliches in die Kirche einzuführen. Umgekehrt kann das Ganze, wo es sich den neuernden Impulsen entgegenstellt, das bewährte christliche Gemeingut gegen Extravaganzen verteidigen, es kann sich aber auch zum Verteidiger erstarrter, unzeitgemäßer Formen machen. Der Gegensatz gleicht sich allmählich aus, sofern nur der freie Austausch und das Wirken des Geistes nicht gehemmt werden. 5. Die verschiedenen ethischen Formen und Gemeinschaften, in denen der Mensch steht, können in Konkurrenz zueinander treten: Das Christentum ist für die ganze Menschheit bestimmt, greift also über nationale und Sprachgrenzen hinaus. Indem es so den Anschein erweckt, als wolle es die sprachlichen und kulturellen Unterschiede insgesamt nivellieren, stellt sich das nationale Prinzip dem christlichen Universalismus entgegen. Staat und Wissenschaft können auf das Gebiet der Religion übergreifen und versuchen, die Kirche zu einem Instrument des Staates und den Glauben zur philosophischen Metaphysik zu machen. Umgekehrt gibt es aber auch Versuche, den Staat und die Wissenschaft der Kirche zu unterwerfen. All diese Konflikte müssen letztlich dazu führen, daß die Kirche immer mehr zu ihrem eigenen Wesen findet, eine Lebensgemeinschaft aufgrund eines gemeinsamen Gefühls zu sein, und sich von den anderen ethischen Formen frei macht. 6. Schleiermacher leugnet nicht prinzipiell, daß es in der Kirchengeschichte auch einen nichtchristlichen Koeffizienten gebe: Wissenschaftliche Systeme, politische und gesellschaftliche Verhältnisse, alles spiele eine Rolle, und die Disziplin Kirchengeschichte habe die Aufgabe, zu unterscheiden, welches Phänomen aus welchem Prinzip komme. Doch sei die Wirkung des fremden Koeffizienten insgesamt gering und nicht nachhaltig, sie werde, wie Schleiermacher gegen die Kirchengeschichtsschreibung der Auf klärung geltend macht, generell überbetont.152 Der christliche Geist ist in Schleiermachers Kirchengeschichte das tätige, wirksame, formende Prinzip, während das Fleisch, die Natur, der leidende Teil ist, der gestaltet wird. Wo aber das Fleisch in der Kirchengeschichte nicht nur die Materie ist, in der sich das christliche Prinzip verwirklicht, sondern selbst zum handelnden Prinzip wird, zum fremden, unchristlichen Faktor in der Entwicklung, da ist nicht positiver Widerstand gegen das christliche Prinzip die Ursache, sondern Unverstand und mangelnde intensive Aufnahme des Christentums in der Masse.

152 Vgl.

auch Ueber die Religion 3, S.  184 f. (Erläuterung 7 zur 2. Rede) (KGA I/12, S.  135 f.). Vgl. auch oben Abschnitt 3.1.

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

153

4.4.  Die Pluralität der Kirchen Daß die eine christliche Kirche in zahlreiche Kirchen gespalten ist, spielt in Schleiermachers theologischem Denken eine große Rolle. Die Theologie ist eine positive Wissenschaft mit dem Zweck der Kirchenleitung. Die Kirche, die geleitet werden soll, ist keine abstrakte Größe, sondern eine geschichtlich gegebene Gemeinschaft. In Zeiten, in denen die Kirche in mehrere Gemeinschaften geteilt ist, hat die Theologie ihren Standpunkt immer in einer dieser Kirchengemeinschaften und im Gegensatz gegen die anderen. Das gilt besonders für die dogmatischen Disziplinen, aber nicht nur für sie.153 Für die Gegenwart ist für Schleiermacher vor allem der Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus bestimmend; den west-östlichen Gegensatz hält er wegen der geringeren geistigen Produktivität der Ostkirchen für weniger wichtig.154 Von der letzten Disziplin der historischen Theologie, der kirchlichen Statistik, sagt Schleiermacher sogar, daß es sie überhaupt nur deshalb gebe, weil sich die christliche Kirche nicht überall in den gleichen Verhältnissen befinde; wer die Kirche leiten wolle, brauche also eine genaue Kenntnis davon, wie die anderen Kirchen in der Welt innerlich und äußerlich verfaßt seien.155 Die Teilung der Kirche ist aber bei Schleiermacher nicht nur insofern ein Thema, als sie zu den geschichtlich gegebenen Voraussetzungen gehört, unter denen die Theologie zu bestimmten Zeiten wie der Gegenwart betrieben wird. Er untersucht auch, wie die Teilungen im Laufe der Kirchengeschichte aus dem christlichen Handeln entstehen. Es empfiehlt sich, sich hier besonders an die christliche Sittenlehre zu halten, wo das Problem bei den verschiedenen Typen des christlichen Handelns am ausführlichsten erörtert wird. An ihrem Ausgangspunkt ist die Kirche ungeteilt, denn Christus ist der eine Stifter der christlichen Religion und Kirche, und alles weitere geht aus diesem einen Ursprung hervor.156 Doch indem die Kirche sich ausbreitet, differenziert sie sich notwendig in unterschiedliche Gemeinschaften aus: Es können schließlich nicht alle in einem gleich engen Verhältnis zueinander stehen.157 Schon im apo153  Christliche Sitte 1809/10, §  33–35 (SW I/12, Beilage, S.  11 f.); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  5 ); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  671); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  9 0–92); Christliche Sitte 1828/29, 9. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  168); Kurze Darstellung 2, §  50–52. 97 f. (KGA I/6, S.  345. 363 f.); Der christliche Glaube2 1, §  11,1; 19,2 (KGA I/13,1, S.  94 f. 144 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  50–52. 97 f. (hg. Sachs, S.  57–61. 99–101) 154 Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 55); Der christliche Glaube2 1, §  23 (KGA I/13,1, S.  160–163). Vgl. auch Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  98 f. 155  Kirchliche Statistik 1827, 1. Stunde (KGA II/16, S.  184–188) 156 Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.   403); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  588); Kurze Darstellung 2, §  52 (KGA I/6, S.  345) 157  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  135); Der christliche Glaube2 2, §  151,1 (KGA I/13,2, S.  437); Kirchliche Statistik 1833/34, 2.–3. Stunde (KGA II/16, S.  468–470)

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B.  Systematischer Teil

stolischen Zeitalter gab es bei der Ausbreitung eine doppelte Richtung, einerseits zur Erweiterung, andererseits aber auch zur Verengung und Spezialisierung, denn die kleineren Gemeinschaften, die sich innerhalb der Gesamtkirche bilden, nehmen zugleich einen individuellen Charakter an.158 Es liegt in der Natur des christlichen Geistes, sich in verschiedenen Formen zu verwirklichen, entsprechend der Unterschiedlichkeit des Fleisches, das ihn aufnimmt,159 und entsprechend den natürlichen Eigentümlichkeiten der Organe, deren er sich zu seiner Verbreitung bedient; denn jedes dieser Organe verbreitet nicht ein überzeitliches und überindividuelles Christentum, sondern die ihm eigentümliche Form des Christentums.160 Die verschiedenen Erscheinungsformen des Christentums lassen sich ebensowenig wie der Verlauf der Kirchengeschichte a priori aus dem christlichen Prinzip ableiten oder vollständig in Begriffe auflösen, sondern nur in der Geschichte vorfinden und anerkennen.161 Daß aber individuelle Gestalten des Christentums legitimerweise nebeneinander bestehen können, folgt für Schleiermacher daraus, daß der Mensch eben nicht nur ein Exemplar seiner Gattung ist, sondern auch „ein eigenthümlich bestimmtes und eigenthümlich sich selbst bestimmendes Wesen, ein Individuum“.162 Für das christliche Handeln bedeutet das, daß es einen Gegensatz des Universellen, für alle Gültigen und des Individuellen gibt; „wir unterscheiden dann Bestimmungen, die jeder für alle machen kann und alle für jeden, sofern nur die Bedingungen gegeben sind, und Bestimmungen, die keiner für einen anderen machen kann, weil sie überwiegend von dem eigenthümlichen Wesen des handelnden ausgehen“.163

Und neben den einzelnen Individuen gibt es auch gemeinschaftliche Individualitäten, wie man schon an den verschiedenen Nationalcharakteren sieht.164 „Unterabtheilungen“165 der Gesamtkirche bilden sich auf verschiedenen Ebenen: Es gibt die Hausgemeinde mit ihrem Privatgottesdienst und die Lokalgemeinde, die an einem Ort zum Gottesdienst zusammentritt. Zwischen dieser und der absoluten Gemeinschaft aller Christen gibt es weitere Größen: Landes158 

Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  418 f.) 117 (10.6.1821) über Apg 2,41 f. (Predigten. Fünfte Sammlung, S.  384 f.; SW II/2, S.  228 f.); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  60–64. 116); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  64); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  64 f.); Kirchliche Statistik 1833/34, 2. Stunde (KGA II/16, S.  468). Vgl. oben Abschnitt 4.3.3. 160 Vgl. Ethik 1812/13, Güterlehre, Vollkommene ethische Formen, §   196 (Werke 2, S.  359), wonach Kirchen (d. h. hier: Religionsgemeinschaften) auch bei einem ins Unbestimmte gehenden Ausbreitungstrieb nur dann ein produktives und reproduktives Leben behalten, wenn sie sich auf eine bestimmte Masse beschränken. 161  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  155; SW I/12, S.  571 f.) 162  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  58). Vgl. Christliche Sitte 1809/10, §  51 (SW I/12, Beilage, S.  17); dazu Rössler: Protestantische Individualität, S.  60 f. 163  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  59). Vgl. Christliche Sitte 1809/10, §  59 f. (SW I/12, Beilage, S.  20 f.). 164  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  572 f.) 165  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  135) 159  Predigt

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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kirchen in einem Staatswesen und mit gemeinsamer Sprache und das, was man Kirchenpartei oder Konfession nennt, für das Schleiermacher aber in der Sittenlehre keinen festen Begriff hat.166 Diese Zwischengrößen (Schleiermacher nennt sie zuweilen Partialkirchen) werden zusammengehalten durch gemeinsame Darstellungsmittel, zum Teil auch durch die politischen Verhältnisse, also durch die gemeinsame Sprache und kulturelle Prägung, die Staatsgrenzen und die Verfassung. Vor allem aber entstehen Partialkirchen durch die Wahlanziehung zwischen denen, in denen das religiöse Bewußtsein auf identische Weise ausgebildet ist. Zwar ist in allen Christen das religiöse Bewußtsein identisch ausgebildet, aber eben nur in einem gewissen Grade. Immer gibt es Einzelne und Gruppen, die einander ähnlicher sind, und wenn daraus verschiedene Vereinigungen und Organisationen entstehen, so bekommt jede auch eine individuelle Ausprägung, und der zunächst fließende Unterschied zwischen den verschiedenen Gruppen verwandelt sich allmählich in einen festen. Eine solche Wahlanziehung kann es nun aber auch zwischen solchen Vereinigungen geben, die, vielleicht unabhängig voneinander, an verschiedenen Orten entstanden sind. Größere Kirchenparteien entstehen also dadurch, daß sich eine individuell geprägte Vereinigung weiter verbreitet und sich mit anderen, geistesverwandten zu einer Gemeinschaft des Gefühls und der Darstellung zusammenschließt.167 Aber auch innerhalb der Kirchenparteien gibt es Wahlanziehung und kleinere Vereinigungen wie die katholischen Ordensgemeinschaften und die evangelischen Vereine und Konventikel, die z.T. in Opposition gegen die Kirche stehen.168 Daß verschiedene Gemeinschaften von unterschiedlicher individueller Ausprägung nebeneinander bestehen, heißt noch nicht, daß sie miteinander in Feindschaft lebten und einander absprächen, eine christliche Kirche, eine legitime Gestalt des Christentums in der Welt zu sein.169 Wenn die Kirche aber dergestalt aufgrund von Differenzen in der individuellen Ausprägung gespalten wird, so ist das Separatismus und selbst eine Korruption und Auf hebung des 166  Christliche

Sitte 1809/10, §  222 (SW I/12, Beilage, S.  86); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  412 f. 566–571) 167  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  155; SW I/12, S.  566–571); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  584–588); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  417. 424– 426); Der christliche Glaube2 2, §  151,1 (KGA I/13,2, S.  437 f.). Vgl. auch Kirchliche Statistik 1833/34, 3. Stunde (KGA II/16, S.  469 f.). Hier geht Schleiermacher nicht von der Frage aus, was die Partialkirchen zusammenhält, sondern was sie voneinander scheidet, und gibt eine dreifache Antwort: 1) das Anwachsen des Gegenstandes (d. h. die Verbreitung der Kirche und die damit verbundenen räumlichen Entfernungen und Unterschiede der politischen Verhältnisse, Beispiel dafür sind die Anglikaner in England und in Nordamerika), 2) die Sprache und 3) die Modifikationen im Wesen ihres Christentums (dazu gehört z. B. der katholisch-protestantische Unterschied). 168  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  412–415); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  426 f.); vgl. Ueber die Religion 3, S.  331–334 (Erläuterung 16 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  235 f.). 169  Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  418 f. 424 f.); Der christliche Glaube2 2, §  151,1 (KGA I/13,2, S.  438)

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B.  Systematischer Teil

christlichen Prinzips.170 Darunter wird Schleiermacher auch die in den Einleitungen der Kirchengeschichtsvorlesungen erwähnte Erscheinung rechnen, daß eine Gemeinschaft die andere aufgrund von Miß- und Unverständnis verurteilte:171 Was nach Meinung der Verurteilenden unchristliche Lehren und Sitten waren, war tatsächlich die nur eine andere Individuation des Christentums; dessen Verurteilung war also der unbeabsichtigte Versuch, anderen die eigene individuelle Form des Christentums aufzunötigen. Zu einer feindlichen Kirchenspaltung kommt es aber nicht nur dadurch, daß eine Partialkirche der anderen ihre individuelle Gestaltung des Christentums aufzwingen will, sondern auch durch das reinigende Handeln, d. h. dadurch, daß der Prozeß der Kirchenverbesserung nicht zum Abschluß kommt: Weder lassen die Dissentierenden sich dem Ganzen assimilieren, noch nimmt das Ganze deren reinigende Impulse insgesamt auf, noch auch einigt man sich in der Mitte, sondern jede der beiden Seiten sammelt einen Teil der Gläubigen um sich, und eine Seite bricht den Reinigungsprozeß vorzeitig ab, indem sie die andere in den Bann tut (vgl. oben Abschnitt 4.3.3.). Der Fall liegt insofern anders als beim irrtümlichen Streit um individuelle Gestaltungen, als es bei der Kirchenverbesserung immer um ein Handeln auf die Kirche insgesamt gehen muß, das Individuelle also nur ein Minimum sein darf.172 Das Beispiel schlechthin für eine solche Entwicklung ist für Schleiermacher natürlich die Reformation, und so legt er dar, daß die Reformatoren bei ihrer Kirchenverbesserung tatsächlich sittlich zu Werke gingen, indem sie nicht ihre individuelle Ausprägung des Christentums geltend machten, sondern sich auf die kanonische Norm für alles Christliche beriefen, indem sie von Anfang an die öffentliche Diskussion suchten und indem sie keine Spaltung beabsichtigten und erst da anfingen, eine eigene Organisation aufzubauen, als sie von der anderen Seite in den Bann getan waren, die andere Seite also von sich aus das Gespräch abgebrochen hatte.173 Freilich nimmt auch eine solche aufgrund des reinigenden Handelns ent170  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  156; SW I/12, S.  573–575); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  589 f.). – Dem scheint zu widersprechen, daß Schleiermacher gelegentlich sagt, eine Kirchenspaltung sei nur aufgrund eines individuellen Prinzips gerechtfertigt (Christliche Sitte 1822/23, SW I/12, Beilage, S.  103 f.; SW I/12, S.  137. 197; vgl. Rössler: Protestantische Individualität, S.  61 f.). Doch ist hier mit Spaltung keine polemische Trennung gemeint, sondern die Bildung einer Partialkirche. 171  Kirchengeschichte 1821/22, 3.–4. Stunde (KGA II/6, S.  2 3. 477); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  682–684). Vgl. oben Abschnitt 4.3.6. und 4.3.7. 172  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  134. 402); vgl. auch Der christliche Glaube2 2, §  152,1 (KGA I/13,2, S.  4 41). 173  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  125. 137 f. 203 f.); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  206); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  209–213); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  58 (hg. Sachs, S.  65); Der christliche Glaube2 1, §  24,1 (KGA I/13,1, S.  164). Hätten die Reformatoren unter der Bannandrohung ihre besseren Einsichten widerrufen und sich, um die äußere Einheit der Kirche zu bewahren, den Repräsentanten des Ganzen unterworfen, so wäre das einer jener Vereinigungsversuche gewesen, „welche nicht in dem Geist der Kirche

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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standene Partialkirche bald einen individuellen Charakter an, und so unterscheidet Schleiermacher in der Reformation beides: ein reinigendes Handeln auf die gesamte Kirche, das nicht auf Spaltung zielt, und die legitime Bildung einer individuellen Gestalt der einen christlichen Kirche.174 Wenn wiederum die römisch-katholische Kirche die evangelischen Kirchen bekämpft und versucht, sie sich wieder zu unterwerfen und zu assimilieren, so ist das einerseits eine Verweigerung des reinigenden Handelns, andererseits der Versuch, der anderen Seite die eigene individuelle Gestalt des Christentums aufzuzwingen. Aber auch eine Kirchenspaltung unter gegenseitiger Verurteilung ist keine absolute Trennung.175 Es bleibt das Bewußtsein des gemeinsamen Ursprungs von Christus und den Aposteln (in diesem Sinne, aber auch nur in diesem könnte Schleiermacher von einer „apostolischen Sukzession“ reden), es bleibt die Gewißheit, daß aus keinem sichtbaren Teil der Kirche der Geist ganz verschwinden kann176 und daß keine Spaltung in der Kirche für immer besteht,177 sondern die Trennung immer nur ein vorläufiges Ende des reinigenden Handelns ist.178 Insofern darf auch die Diskussion nie ganz abgebrochen werden,179 auch nicht durch symbolische Festsetzungen der Lehre.180 Wenn also die evangelische Kirche fortfährt mit der Polemik gegen das, was sie im Katholizismus als Verirrung erkannt hat, so äußert sich darin gerade ihre ökumenische Solidarität mit der Schwesterkirche.181 Sichtbares Zeichen dieser Einheit, die trotz allen Verwerfungen unter den verschiedenen Partialkirchen bleibt, ist für Schleiermacher die gegenseitige Anerkennung der Taufe und die Ablehnung der Wiedertaufe von Mitgliedern anderer Kirchen, wie sie sich in der ersten Periode der Kirchengeschichte allgemein durchgesetzt hat.182 ihren Ursprung haben können, und deren Gelingen also auch nicht als ein Gewinn angesehen werden kann“ (Der christliche Glaube2 2, §  150,2, KGA I/13,2, S.  436). 174  Christliche Sitte 1809/10, §  110 (SW I/12, Beilage, S.  37); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  104; SW I/12, S.  138 f. 571). Vgl. Rössler: Protestantische Individualität, S.  61 f. 175 Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.   135 f. 404); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  418. 424 f.); Der christliche Glaube2 2, §  151,1 (KGA I/13,2, S.  438 f.) 176  Kurze Darstellung 2 , §  52 (KGA I/6, S.  3 45); Der christliche Glaube2 2, §  150,2; 151; 153,1 (KGA I/13,2, S.  436–440. 444 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  52 (hg. Sachs, S.  60 f.). – Ausschließen darf man niemand aus der Kirche; wer sich allerdings von Christus lossagt, der schließt sich selbst aus, vgl. Der christliche Glaube2 2, §  145,2; 151,2 (KGA I/13,2, S.  417. 439 f.). 177  Kurze Darstellung 2 , §  53 (KGA I/6, S.  3 45 f.); Der christliche Glaube2 2, §  152, Leitsatz (KGA I/13,2, S.  4 40); Kirchliche Statistik 1833/34, 2. Stunde (KGA II/16, S.  468) 178  Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  2 08) 179  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  576 f.) 180 Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.   384); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  214–216. 436); Der christliche Glaube2 2, §  154,2 (KGA I/13,2, S.  4 47 f.); Christliche Sitte 1831, 68. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  184). Vgl. unten Abschnitt 9.2.2.5. 181  Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  211 f.); Kirchliche Statistik 1827, 51. Stunde (KGA II/16, S.  376–378); Der christliche Glaube2 1, §  24,1 (KGA I/13,1, S.  164) 182  Kirchengeschichte 1821/22, 27. Stunde (KGA II/6, S.  67 f.); Christliche Sitte 1822/23

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B.  Systematischer Teil

Schleiermacher ist sich freilich dessen bewußt, daß diese Deutung der Tat­sache, daß es verschiedene Kirchengemeinschaften nebeneinander gibt, selbst protestantisch ist, also nicht über den Konfessionen steht, sondern sich selbst einer bestimmten, geschichtlich gegebenen Konfession verdankt. Der Katholizismus hält sich selbst für das Katholische schlechthin, also das allgemein Christliche, und erklärt alles, was von ihm abweicht, per se für unchristlich.183 Der Protestantismus dagegen hält jede Gestaltung des Christlichen in der Welt, auch die eigene, für zeitlich und veränderlich: Keine von ihnen und kein Gegensatz zwischen ihnen besteht für immer, denn die Streitigkeiten und Irrtümer und die Eigentümlichkeiten im Fleisch, durch die sich die Kirchengemeinschaften voneinander absondern, sind selbst zeitlich und veränderlich; auch kann keine für sich beanspruchen, das Christentum ganz zu verwirklichen und darzustellen.184 In den anderen Kirchen sieht er immer beides zugleich: Korruptionen des Christentums, die abgeschafft werden müssen, und andere individuelle Ausprägungen des Christentums, also eigene, legitime Gestalten des einen christlichen Geistes im Fleisch. So sagt Schleiermacher, daß auch dann, wenn der Katholizismus alles das beseitigte, was der Protestantismus in ihm als Irrtum und Korruption ansieht, dennoch die Katholiken nicht zu Protestanten würden; die katholische Kirche bliebe auch dann eine eigene Gestalt des Christentums, in der, anders als im Protestantismus als der Kirche des Wortes, in der gottesdienstlichen Darstellung der Ritus vorherrschte.185 Dar­ über, daß eine andere individuelle Form des Christentums auch eine eigene Kirchenorganisation ausbildet, spricht die protestantische Kirche kein prinzipielles Verdammungsurteil aus,186 und den Übertritt zu einer anderen Kirche, die der (SW I/12, S.  135 f. 574); Kirchliche Statistik 1827, 53. Stunde (KGA II/16, S.  384); Der christliche Glaube2 2, §  137,1; 151,2 (KGA I/13,2, S.  364 f. 440); Kirchliche Statistik 1833/34, 2. Stunde (KGA II/16, S.  469). – Daß tatsächlich die Wiedertaufe nicht nur bei Mennoniten und Baptisten Usus ist (freilich bei ihnen nicht deshalb, weil sie andere Kirchen prinzipiell ablehnten, sondern weil sie die Kindertaufe für ungültig halten), sondern auch in den Ostkirchen, weiß Schleiermacher nicht. 183 Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.   428); Kirchliche Statistik 1827, 51. Stunde (KGA II/16, S.  375); Der christliche Glaube2 1, §  24,3 (KGA I/13,1, S.  167); Kirchliche Statistik 1833/34, 1. und 3. Stunde (KGA II/16, S.  463 f. 470). Vgl. unten Abschnitt 9.3.4.1. 184 Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.   411 f. 576–579); Der christliche Glaube2 2, §  152,1; 154 f. (KGA I/13,2, S.  4 40–442. 446–450); vgl. Rössler: Protestantische Individualität, S.  62–65. 185  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  410. 579); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  4 08); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  212); Der christliche Glaube2 1, §  24,1 (KGA I/13,1, S.  164 f.); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 97 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  53 (hg. Sachs, S.  62). Vgl. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, S.  119–121; ders.: Schleiermacher-Studien, hg. von Hermann Fischer, Schleiermacher-Archiv 16, Berlin und New York 1996, S.  126–132; Pierre Demange: La vie de l’Église et les divisions confessionnelles selon Schleiermacher, in: Archivio di filosofia 52 (1984), S.  4 09–420, hier 416–419; Rössler: Protestantische Individualität, S.  55– 60. Vgl. auch unten Abschnitt 9.3.1. und 9.3.4.3. 186  Kirchengeschichte 1821/22, 8. Stunde (KGA II/6, S.  4 88); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  574 f.)

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eigenen Vorliebe besser entspricht als die Herkunftskirche, hält sie nicht unbedingt für unsittlich; 187 der katholischen Praxis der Proselytenmacherei, also dem gezielten Abwerben von Mitgliedern anderer Kirchen, widerspricht sie aber.188 Die rechte Haltung zur Konkurrenz der Kirchen liegt zwischen zwei unchristlichen Extremen, einerseits dem Sektengeist, der nur die eigene Kirche für legitim hält und allem außer ihr die Christlichkeit abspricht, und andererseits dem Indifferentismus, dessen scheinbare Toleranz und Offenheit für alles, was sich christlich nennt, tatsächlich nur Faulheit und Gleichgültigkeit gegen das Christentum ist.189 Abschließend dazu noch drei Bemerkungen: 1. Schleiermacher hält es wohl bewußt in der Schwebe, was er mit einer Partialkirche genau meint: Er kann darunter eine für sich verfaßte und organisierte Einheit meinen, also z. B. eine evangelische Landeskirche; andererseits aber erklärt er auch die evangelische Kirche insgesamt für eine zusammengehörige Partialkirche, obwohl ihr eine Gesamtorganisation fehlt.190 Ebenso betrachtet er nicht nur die römisch-katholische Weltkirche als eine Einheit,191 sondern auch die katholischen Kirchen in den verschiedenen Ländern und Staaten jede für sich.192 Eine Gesamtgemeinschaft bildet eben ebenso wie jedes ihrer Teile einen eigenen individuellen Charakter heraus. 2. Klar ist für Schleiermacher aber, daß die äußere Einheit einer Kirche nicht durch die Lehre konstituiert wird.193 Der Satz der Confessio Augustana, daß die wahre Einheit der Kirche im Konsens über die Lehre des Evangeliums und die Sakramentsverwaltung bestehe,194 liegt zunächst auf einer anderen Ebene: In ihm geht es darum, daß auch Gemeinschaften, die unabhängig voneinander organisiert und von unterschiedlicher individueller Prägung sind, einander als Kirchen 187 Christliche

Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  156; SW I/12, S.  403 f. 580–583); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  4 09) 188  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  4 05–407); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  4 08); Der christliche Glaube2 1, §  24,1; 2, §  152,2 (KGA I/13,1, S.  164; I/13,2, S.  4 42 f.) 189  Christliche Sitte 1809/10, §  2 23 (SW I/12, Beilage, S.  87); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  409 f. 580); Kurze Darstellung 2, §  56 f. (KGA I/6, S.  347 f.); Der christliche Glaube2 2, §  152,2 (KGA I/13,2, S.  4 42); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  56 f. (hg. Sachs, S.  63 f.) 190 Kirchliche Statistik 1827, 53.–54. Stunde (KGA II/16, S.   383–386); Kurze Darstellung 2, §  327 (KGA I/6, S.  4 42); Der christliche Glaube2 1, §  24, Zusatz (KGA I/13,1, S.  168 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  50 (hg. Sachs, S.  57–60); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  498–502). Vgl. unten Abschnitt 9.3.5.1. 191  Kirchliche Statistik 1827, 16. Stunde (KGA II/16, S.  245–247) 192 Vgl. Simon Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), S.  183–214, hier 188. 193 f.; ders.: Kirchliche Statistik als Soziologie des Christentums, in: Hg. Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Schleiermacher-Archiv 22, Berlin und New York 2008, S.  4 43–457, hier 453 f. 193  Vgl. Der christliche Glaube2 1, §  2 8,2 (KGA I/13,1, S.  187). 194  Confessio Augustana VII,2–4 (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 61967, S.  61)

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B.  Systematischer Teil

und als Teil der einen Kirche anerkennen können; Schleiermacher aber meint, daß der individuelle Charakter einer christlichen Gemeinschaft, die ihr eigene Form, in der sich das christliche Gefühl äußert, nicht allein in ihrer Lehre besteht. Andererseits und gegen die Confessio Augustana ist Schleiermacher aber der Ansicht, daß gerade für das evangelische Christentum die Einheit nicht im Konsens über die Lehre liege.195 Wenn Luther die Lehreinheit in der Kirche und unter den Kirchen für unerläßlich gehalten habe und so mit den Schweizern wegen der Abendmahlsfrage im dauernden Dissens geblieben sei, so sei das eigentlich ein Relikt aus den früheren Perioden der Kirchengeschichte, als man noch Lehrstreitigkeiten mit Konzilsmehrheiten entschieden und als damit ein für allemal geklärt betrachtet habe; das protestantische Prinzip, daß die Lehrentwicklung im steten Rückbezug auf das Neue Testament und im beständigen kritischen Gespräch immer weiter gehe und nie definitiv abgeschlossen sei, sei also bei Luther und im frühen Luthertum noch nicht zum vollen Durchbruch gekommen.196 3. In den Einleitungen der kirchengeschichtlichen Kompendien bemerkt Schleiermacher, daß man Abweichungen und Streitigkeiten in der Kirche als Historiker anders betrachte denn als Dogmatiker. Das läßt sich auch auf seine Betrachtungen über die Vielzahl der Kirchen anwenden: In den Einleitungen der theologischen Disziplinen geht es ihm darum, den evangelisch-kirchlichen Standpunkt zu bestimmen, aus dem heraus eine Disziplin betrieben wird. Die Sittenlehre fragt danach, wie aus dem christlichen Handeln eine Vielzahl kirchlicher Gemeinschaften entsteht und wie man sich sittlich zu ihrer Konkurrenz untereinander verhält. Die Praktische Theologie tut dasselbe aus der Perspektive des Kirchenregiments, das die Einheit der Kirche wahren will, für das es aber unter Umständen doch das geringere Übel sein kann, hartnäckig Dissentierende, die beständig gegen die bestehende Kirche polemisieren, in die kirchliche Selbständigkeit zu entlassen.197 Der Glaubenslehre geht es um das Problem, wie es sich zu der einen Kirche des Glaubens verhält, daß die sichtbare Kirche veränderlich, irrtumsfähig und in Teile gespalten ist, die „zueinander in Gegensaz treten und sich ihres eigenthümlichen Seins nicht erfreuen können, ohne sich von dem der Andern zu entfernen und sie von sich auszuschließen“.198 195  Der christliche Glaube2 1, §  25,1 (KGA I/13,1, S.  169 f.); An die Herren D. D. D. von Cölln und D. Schulz, in: Theologische Studien und Kritiken 4 (1831), S.  3 –39, hier 32 f. (KGA I/10, S.  421). – Vgl. Der christliche Glaube2 1, §  21,1 (KGA I/13,1, S.  153); Predigt 158 (10.10.1830) über Luk 6,37 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  166–168; KSP 3, S.  120 f.), wonach man bei einer verkehrt formulierten Lehre eigentlich noch nicht von Häresie sprechen kann, solange nur die ihr zugrundeliegenden frommen Bewußtseinszustände keine krankhaften Aberrationen vom Christlichen sind. 196  Kirchengeschichte 1821/22, 92.–95. Stunde (KGA II/6, S.  633 f. 636 f. 643). Vgl. auch unten Abschnitt 9.2.2.5. 197  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  89v–95v) 198  Der christliche Glaube2 2, §  151,1 (KGA I/13,2, S.  438)

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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Die mehr empirischen Disziplinen schließlich, Kirchengeschichte und kirchliche Statistik, beschreiben mit der geschichtlichen Entwicklung der meist in Partialkirchen geteilten Kirche, wie das gemeinschaftsstiftende christliche Prinzip in der Geschichte wirksam ist.

4.5.  Das Biographische in der Kirchengeschichte „Die Elemente jeder historisch-theologischen Darstellung sind weit mehr biographisch, als in irgend einem andern historischen Gebiet.“199

Das besondere Gewicht des Individuellen und Biographischen für die Geschichte des Christentums liegt schon darin, daß sie eben Religionsgeschichte ist; als solche hat sie nicht die objektive, identische Erkenntnis zum Gegenstand wie die Wissenschaftsgeschichte, sondern das subjektive Bewußtsein und seine Äußerungen, und all dies ist kann nicht ohne das Leben und die Individualität der Einzelnen verstanden werden.200 Unter den Religionen aber ist das Christentum diejenige, die nicht nur ihren Ursprung, sondern auch ihre dauernde Existenz in einem Individuum und seiner erlösenden Wirksamkeit hat.201 Die Person Christi hat für das Christentum eine absolute Dignität, und der Verlauf der Kirchengeschichte, besonders an ihren epochalen Wendepunkten, knüpft sich an hervorragende Einzelne und ihre Biographien.202 Wir sahen, daß in Schleiermachers Sittenlehre immer Einzelne die Initiatoren des korrektiven Handelns und damit des geschichtlichen Fortschrittes für das Ganze sind (vgl. oben Abschnitt 4.3.3.). Freilich können die Einzelnen nur insofern die Entwicklung des Christentums beeinflussen, als sie selbst vom christlichen Geist beseelt sind und als dessen Organe wirken. Oft werde ja behauptet, daß in der Kirchengeschichte unchristliche Leidenschaften Einzelner wie Ehrgeiz und Egoismus von nachhaltiger Wirkung seien. Dieser Eindruck sei aber falsch; so etwas könne nämlich nur dort vorkommen, wo das Christentum in der Masse noch keine feste Verankerung gefunden hat, und so sei die eigentliche Ursache derartiger verkehrter Entwicklungen nichts Positives, irgendein individuelles unchristliches Motiv, sondern etwas Negatives, die noch mangelnde innere Aufnahme des Christentums in der Masse.

199 

Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Schluß, §  5 (KGA I/6, S.  298) Ethik 1812/13, Güterlehre, Allgemeine Übersicht, §  25–30 (Werke 2, S.  267); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  251 (hg. Sachs, S.  245 f.). Vgl. auch oben Abschnitt 3.3. – Aus eben diesem Grund sah sich Schröckh genötigt, eine so ausführliche, biographisch orientierte Kirchengeschichte zu schreiben, vgl. oben Abschnitt 2.1.4. 201  Der christliche Glaube2 1, §  11,4 (KGA I/13,1, S.  98–100) 202  Kurze Darstellung 2 , §  251 (KGA I/6, S.  413 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  251 (hg. Sachs, S.  244–246) 200 Vgl.

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B.  Systematischer Teil

„Diese Einflüsse sind also nur der Thermometer für die Unvollkomenheit der Masse[,] gar nicht einmal für die Kraft des Verderbens in den Einzelnen, von denen der Impuls ausgeht.“203

Es gilt hier also das, was generell für die fremden Koeffizienten in der Kirchengeschichte gilt.204 Die Bedeutung, die hervorragende Einzelne in der Kirchengeschichte haben, bleibt sich dabei aber der nicht gleich, sondern entwickelt sich selbst in der Geschichte: In verschiedenen Zusammenhängen legt Schleiermacher dar, daß der Einfluß der Einzelnen im Laufe der Entwicklung immer mehr abnimmt. Christus steht als Einzelner am Beginn der Kirchengeschichte; sein Vorrang vor den anderen ist absolut, denn in ihm war das Christentum vollkommen und nicht zu steigern, in den anderen aber war es nichts. Christus gab das Christentum an den kleinen Kreis der Apostel weiter. Diese standen als Urheber der Schriften, die später den neutestamentlichen Kanon bilden sollten, und als Wahrer des reinen christlichen Prinzips gegenüber allem Unchristlichen, das sich in die neue Gemeinschaft einschleichen wollte, hoch über der Masse, zumal diese äußerlich schneller wachsen mußte, als sie das Christentum innerlich aufnehmen konnte, um der Kirche in den kommenden Stürmen das Überleben zu sichern. Die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte verdienten diesen Namen, denn sie machten sich die für die folgenden Zeiten grundlegenden Gedanken über die Hauptprobleme der Lehre, des Lebens und der christlichen Existenz in der Welt. Die Reformatoren dagegen sind keine Kirchenväter mehr, ihre Bedeutung als Einzelne ist geringer, auch wenn sich „herrliche Erscheinungen“ unter ihnen finden. Sie standen nicht mehr in dem Maße der Masse gegenüber wie die Apostel und Kirchenväter, sondern waren weit mehr Organe dessen, was sich in der Masse allmählich entwickelt hatte.205 Daß aber die Bedeutung der hervorragenden Einzelnen im Laufe der Entwicklung abnimmt, ist selbst ein Ergebnis der Entwicklung und des Fortschritts in der Kirchengeschichte. Deren Ziel ist es ja, daß der christliche Geist die ganze Menschheit äußerlich und innerlich ergreife und durchdringe. Je mehr sich die Entwicklung diesem Ziel nähert, desto mehr gleichen sich der wahre christliche Gemein203 Kirchengeschichte 1821/22, 5. Stunde (KGA II/6, S.   24; vgl. 481 f.), vgl. auch die erste Skizze der Einleitung: „Gegen die Entstehung aus falschen Motiven – Alles im Menschen wirkt allerdings mit.“ (KGA II/6, S.  21) 204  Kurze Darstellung 2 , §   179 (KGA I/6, S.  389); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  179 (hg. Sachs, S.  167 f.). Vgl. oben Abschnitt 3.1. und 4.3.4. 205 Predigt 437 (9.7.1820) über Apg 6,1–6 (SW II/10, S.   44–46); Kirchengeschichte 1821/22, 5. und 91.–93. Stunde (KGA II/6, S.  24. 480 f. 629); Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  637 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  680 f. 684–686); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  324–326. 432); Kurze Darstellung 2, §  251 (KGA I/6, S.  413 f.); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 22–24); Der christliche Glaube2 2, §  88,3 (KGA I/13,2, S.  25); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  251 (hg. Sachs, S.  244 f.); Predigt 192 (25.11.1832) über Joh 11,16 (Predigten. Siebente Sammlung, S.  559–564; SW II/2, S.  604–606)

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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geist und der wirkliche Gemeingeist der Masse aneinander an, und am Ende bedarf keiner mehr der Belehrung durch einen anderen; lediglich die nachfolgenden Generationen müssen noch unterwiesen werden. Insofern stellt der Protestantismus eine spätere, weiter fortgeschrittene Form des Christentums dar als die katholischen und Ostkirchen: Sein Wesen ist es, die Masse, die Laien zur religiösen Mündigkeit zu erziehen, sie dahin zu bringen, daß sie die Bibel selbst lesen und das Christentum ohne priesterliche Hilfe verstehen können. Die Apostel, Kirchenväter und Reformatoren haben also in der Kirchengeschichte das Amt, indem sie die Masse an sich assimilieren, eine Gestalt der Kirche heraufzuführen, in der sie selbst als hervorragende Einzelne immer weniger gebraucht werden.206

4.6.  Die Perioden der Kirchengeschichte 4.6.1.  Bestimmung der Perioden Für die Teilung der Geschichte in zeitliche Abschnitte lehnt Schleiermacher die noch von Johann Salomo Semler praktizierte mechanische Einteilung in Jahrhunderte ab; 207 dabei befindet er sich im Konsens mit seinen Zeitgenossen. Johann Carl Ludwig Gieseler schreibt 1824: „Was die Anordnung des Stoffes betrifft, so sind die ältern Methoden, denselben chronikartig nach Jahren zu ordnen, oder ihn nach Jahrhunderten zu theilen, mit Recht verlassen. Dagegen ist die Eintheilung in Perioden durch Epochen allgemein angenommen, obgleich in der Bestimmung derselben viele Verschiedenheit herrscht“.208

Der schon bei Mosheim andeutungsweise vollzogene Übergang zur Einteilung der Zeit in Perioden stellt eine der großen Errungenschaften der Kirchengeschichte seit Johann Matthias Schröckh dar.209 206  Kirchengeschichte 1821/22, 5. Stunde (KGA II/6, S.  24. 480 f.); Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  636–638); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  684 f.); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  324 f. 432); Kirchliche Statistik 1827, 37. und 57. Stunde (KGA II/16, S.  322 f. 396 f.); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  34 f.; KSP 3, S.  34 f.). In der Praktischen Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 23 f. 77–84. 200 f.) bezeichnet Schleiermacher es als den Zweck alles kirchlichen Handelns, durch religiöse Mitteilung allmählich die Ungleichheit zwischen den Gliedern der christlichen Gemeinschaft auszugleichen und aufzuheben. – Vgl. oben Abschnitt 4.1. und unten Abschnitt 9.3.1. Vgl. auch Rössler: Protestantische Individualität, S.  65–67; Gerber: Kirchliche Statistik, S.  456 f. 207  Kirchengeschichte 1821/22, 6. Stunde (KGA II/6, S.  25); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  687); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  77 (hg. Sachs, S.  82) 208  Johann Carl Ludwig Gieseler: Lehrbuch der Kirchengeschichte, Band 1, Darmstadt und Bonn 1824, S.  17 209 Vgl. dazu Schröckh 12 , S.  293–316; Heussi: Die Kirchengeschichtschreibung, S.  27 f.; ders.: Altertum, Mittelalter und Neuzeit in der Kirchengeschichte, Tübingen 1921, S.  13–18; Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  49; Emil Clemens Scherer: Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Freiburg 1927, S.  269 f.;

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B.  Systematischer Teil

Schleiermacher nun verweist zunächst darauf, daß der Gesamtverlauf der Geschichte in der Spannung zwischen Zusammenhang und Stetigkeit einerseits, spontanem Neuwerden andererseits stehe; ein geschichtliches Phänomen lasse sich aus dem Gegebenen herleiten oder als etwas Neues ansehen (das gilt auch für das Christentum insgesamt, vgl. oben Abschnitt 3.4.2.). In einem bestimmten Moment der Geschichte herrsche nun entweder das plötzliche Entstehen von Neuem vor oder die allmähliche, ruhige Fortentwicklung des schon Vorhandenen (ein nicht absoluter, sondern nur relativer Gegensatz). Eine Reihe von Momenten ununterbrochener ruhiger Entwicklung nenne man eine Peri­ ode, eine Reihe von Momenten aber, in denen die bisherigen Verhältnisse umgekehrt und zerstört würden und etwas Neues emporkomme, sei eine Epoche. Während der Perioden entwickelten sich die verschiedenen Elemente, in die man eine Geschichte nach dem Inhalt teilen könne, ruhig und relativ unabhängig voneinander fort und könnten je für sich betrachtet werden. Die Epochen dagegen zeichneten sich dadurch aus, daß alles aufeinander wirke und vonein­ ander abhängig sei; hier ließen sich die einzelnen Elemente also nicht so voneinander sondern.210 Bei der detaillierteren Darstellung einer einzelnen Periode könne man innerhalb ihrer noch untergeordnete Epochenpunkte setzen.211 Für die Anschauung des Gegenstandes als zusammenhängendes Ganzes eigneten sich nun nicht die unübersichtlichen Zeiten eines epochalen Umbruchs, sondern die jeweiligen Kulminationspunkte der Perioden, also diejenigen Zeitpunkte, zu denen sich das Eigentümliche einer Periode zu seiner Höhe ent­ wickelt habe, ohne daß sich bereits Spuren der die Periode ablösenden folgenden Epoche zeigten.212 – In Perioden und Epochen teilt sich „der Gesamtverlauf aller menschlichen Dinge“, ebenso aber auch ein Ausschnitt aus ihr, sofern er als „Folge von Aeußerungen einer und derselben Kraft Ein Ganzes bildet“,213 und ein solcher Ausschnitt aus der Gesamtgeschichte ist für Schleiermacher ja die Geschichte des Christentums. Dirk Fleischer: Zwischen Tradition, S.  505–507; Kurt Nowak: Theorie der Geschichte, in: Hg. Günter Meckenstock und Joachim Ringleben: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Theologische Bibliothek Töpelmann 51, Berlin und New York 1991, S.  419–439, hier 426–429. 210 Kurze Darstellung 2 , §   71–77 (KGA I/6, S.  354–356. 359 f.); vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 6. Stunde (KGA II/6, S.  25. 482 f.); Kirchliche Statistik 1827, 2. Stunde (KGA II/16, S.  188 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  71–77 (hg. Sachs, S.  77–82); dazu Wilhelm Maurer: Das Prinzip des Organischen in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: Kerygma und Dogma 8 (1962), S.  265–292, hier 267 f.; Nowak: Theorie, S.  429–432 (über Perioden, Epochen und Kulminationspunkte bei Schleiermacher). 211  Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  165 (hg. Sachs, S.  156) 212  Kurze Darstellung 2 , §  91. 93 (KGA I/6, S.  361 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  91. 93 (hg. Sachs, S.  95–97). In der Kirchlichen Statistik von 1827 empfiehlt Schleiermacher dagegen gerade die Epochen als geeignete Zeitpunkte, um den Gesamtzustand der Kirche lebendig aufzufassen und darzustellen (2. Stunde, KGA II/16, S.  189 f.). 213  Kurze Darstellung 2 , §  78 (KGA I/6, S.  356); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  78 (hg. Sachs, S.  82 f.)

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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Wie nimmt nun Schleiermacher die zeitliche Einteilung der Kirchengeschichte vor? Was sind die epochalen Einschnitte, durch die sich die Länge der Zeit in Perioden teilt? Schleiermacher ist eigentlich der Meinung, daß sich die Periodeneinteilung nicht der willkürlichen Setzung durch den Historiker verdankt, sondern daß die Geschichte sich selbst in organisch sich absondernde Abschnitte teile. Andererseits gibt er aber zu, daß es bei einem – trotz seiner organischen Einheit – zusammengesetzten Gegenstand, wie es die Kirchengeschichte eben ist, doch nicht so eindeutig ist, wo die für das Ganze entscheidenden Wendepunkte angesetzt werden.214 Schleiermachers Zeitgenossen setzten die konstantinische Wende und die Reformation als Beginn einer neuen Periode, wichen aber sonst in der Anzahl und der zeitlichen Ansetzung der Perioden voneinander ab.215 Genannt werden noch das Jahr 70 (Zerstörung Jerusalems und Tod der Apostel: Henke, Marheineke), der Anfang des siebten Jahrhunderts (Pontifikat Gregors des Großen, Entstehung des Islams: Henke, Marheineke, Spittler, Stäudlin, Neander), der Anfang des achten Jahrhunderts (Beginn der Bilderstreitigkeiten, Wirksamkeit des Bonifatius: Schmidt, Gieseler), der Anfang des neunten Jahrhunderts (Kaisertum Karls des Großen und Trennung zwischen Ost- und Westkirche: Pfaff, Mosheim, Schröckh, Henke, Stäudlin, Neander), das Ende des elften Jahrhunderts (Pontifikat Gregors VII.: Henke, Schmidt, Spittler, Stäudlin, Danz, Neander), der Anfang des 14. Jahrhunderts (Pontifikat Bonifaz’ VIII. und Clemens’ V., Beginn des Papsttums in Avignon: Henke, Rettberg, Neander) und die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert (Gründung der Universität Halle, Beginn der Auf klärung: Spittler, Stäudlin). 214  Vgl. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 8. Stunde (KGA II/6, S.  17); Kirchengeschichte 1821/22, 6. Stunde (KGA II/6, S.  482 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  689). – Nach Maurer: Das Prinzip, S.  267, geht Schleiermacher besonders damit über Schelling hinaus, daß es für ihn innerhalb der unteilbaren Geschichte solche organisch sich absondernden Abschnitte gibt. 215  Christoph Matthäus Pfaff: Institutiones historiae ecclesiasticae, 2.  Aufl., Tübingen 1727, S.  38 f.; Mosheim: Institutiones; Schröckh 12, S.  293–316; ders. und Philipp Marheineke: Historia religionis et ecclesiae Christianae, 7.  Aufl., Berlin 1828, S.  23–28; Henke: Allgemeine Geschichte 14, S.  15–18; Johann Ernst Christian Schmidt und Friedrich Wilhelm Rettberg: Handbuch der christlichen Kirchengeschichte, Band 1–7, 1. und 2. Auflage, Gießen und Darmstadt 1801–1834 (bes. Band 7, S. VII); Philipp Marheineke: Universalkirchenhistorie des Christenthums, Erlangen 1806; Spittler: Grundriß4, S.  17–20; Danz: Lehrbuch, bes. 1, S. XVIII–XXI; Carl Friedrich Stäudlin: Universalgeschichte der christlichen Kirche, 3.  Aufl., Hannover 1821; Gieseler: Lehrbuch 11, S.  17; August Neander: Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Band 1,1–6, Hamburg 1825–1852. – Bei Pfaff und Mosheim dominiert noch die Einteilung der Geschichte in saecula; Pfaff bezeichnet in seiner tabellarischen Übersicht über die Kirchengeschichte (S.  848–881) die ersten 16 Jahrhunderte als das apostolische, gnostische, novatianische, arianische, nestorianische, eutychianische, monotheletische, ikonoklastische, photinianische, dunkle, Hildebrandsche, waldensische, scholastische, wyclifianische, synodale und reformatorische Jahrhundert. Daneben kennen sie die Einteilung in Epochen bzw. libri, die den Perioden entsprechen.

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B.  Systematischer Teil

Schleiermacher macht in der Kurzen Darstellung von 1811 zwar keine explizite Angabe zur Periodeneinteilung der Kirchengeschichte, gibt aber zwei Hinweise darauf, wie sie vorzunehmen ist. Einerseits heißt es, die größten Revolutionen in der Kirchengeschichte beträfen nicht allein die Kirche und offenbarten sich am stärksten in der Verfassung,216 und zwar offenbar deshalb, weil die Verfassung stärker als die Lehre von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflußt wird, die eben bei den großen Umbrüchen mitbetroffen sind.217 Andererseits wird gesagt, die letzte Epoche der Kirchengeschichte sei die Reformation gewesen, durch die der katholisch-protestantische Gegensatz etabliert worden sei.218 Die beiden kirchengeschichtlichen Kompendien nehmen nicht den ersten, sondern den zweiten Satz als heuristisches Prinzip für die zeitliche Teilung, sie grenzen die Perioden der Kirchengeschichte also nach den in der Gegenwart bestehenden kirchlichen Gegensätzen voneinander ab.219 Die Gegensätze sind in der Kirche nichts Ursprüngliches (vgl. oben Abschnitt 4.4.), und wo ein neuer, dauerhafter und die Gestalt der Kirche bestimmender Gegensatz entsteht, da ist ein epochaler Einschnitt in der Geschichte und der Beginn einer neuen Periode. Das Kolleg von 1825/26 begründet dieses Verfahren: Die Disziplin habe die Aufgabe, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären. Nun sei die Kirchengeschichte einerseits ein Teil der Weltgeschichte, indem das Christentum für die ganze Menschheit bestimmt sei, andererseits sei sie auch ein eigenes geschichtliches Ganzes. Man könne nun unter Berufung auf das Erste die Hauptpunkte der Weltgeschichte auf die Kirchengeschichte übertragen, bliebe dabei aber bei demjenigen stehen, was in der Kirchengeschichte das Äußerliche sei, ganz davon abgesehen, daß sich die äußeren Momente der Weltgeschichte verschieden zur Kirchengeschichte verhielten. Halte man sich wieder­ um an das Innere der Kirchengeschichte, die dogmatischen und ethischen Gegensätze, 216 Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §   25 (KGA I/6, S.  283). – Die zweite Auflage formuliert den Satz dahingehend um, daß diejenigen Entwicklungsknoten in der Kirchengeschichte, welche auch das bürgerliche Leben affizierten, sich in der Kirche am unmittelbarsten und stärksten in der Verfassung offenbarten, ohne zu sagen, diese gemeinsamen Entwicklungsknoten seien auch die größten Revolutionen überhaupt, vgl. Kurze Darstellung 2, §  175 (KGA I/6, S.  388). An anderer Stelle wiederholt Schleiermacher aber, daß die wichtigsten epochalen Wendepunkte der Weltgeschichte auch in ihren einzelnen Zweigen Epochen seien, vgl. Kurze Darstellung 2, §  165 (KGA I/6, S.  385); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  165. 175 (hg. Sachs, S.  156 f. 164). 217  Vgl. Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §  12 (KGA I/6, S.  281) 218  Kurze Darstellung1, Historische Theologie, Gegenwartskunde, §  2 3 (KGA I/6, S.  291). – In der zweiten Auflage heißt es nur noch, die auf die protestantischen Symbole zurückgehenden Sätze müßten aus dem Gegensatz gegen den römischen Katholizismus verstanden werden (Kurze Darstellung 2, §  212, KGA I/6, S.  4 01). Obwohl er diesen Gegensatz für die protestantische Dogmatik der Gegenwart für konstitutiv erklärt (vgl. oben Abschnitt 4.4.), nennt Schleiermacher die Reformation also nicht mehr explizit die letzte kirchengeschichtliche Epoche. 219  Vgl. oben Abschnitt 2.3. zu Schleiermachers Meinung, daß die Historie von der Gegenwart ausgehen müsse.

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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so gewinne man keinen festen Boden, weil diese Gegensätze durch die ganze Kirchengeschichte stets in veränderter Gestalt wiederkehrten. So sei es das beste Verfahren, von der Gegenwart auszugehen und die bedeutendsten Differenzen zeitlich zurückzuverfolgen bis auf die Zeiten, als es sie noch nicht gab.220

In der Gegenwart, in der man die christliche Kirche unter verschiedenen politischen Verhältnissen über die ganze Erde verbreitet findet, sieht man zunächst, daß es zwischen den abendländischen und den morgenländischen Kirchen praktisch keinen Austausch gibt und die letzteren in geistiger Untätigkeit und liturgischer Erstarrung, z.T. auch in politischer Unterdrückung durch den Islam leben. Zu den morgenländischen Kirchen werden dabei nicht nur die alt­ orientalischen, sondern auch die orthodoxen Kirchen gerechnet, die zwar geographisch, kulturell und politisch z.T. mit dem Abendland verbunden sind, deren innerer Charakter sie aber dem morgenländischen Typ zuweist. In der abendländischen Kirche wiederum gibt es den Gegensatz zwischen katholischer und evangelischer Kirche; die erste hat wie die morgenländische eine Tendenz zum geistigen Stillstand und wird nur durch den Protestantismus lebendig erhalten. So haben wir rückblickend zunächst die Reformation als epochalen Schnittpunkt: Das kirchliche Abendland teilte sich in den katholischen und den protestantischen Zweig, indem sich der protestantische Teil von der Oberherrschaft des Klerus, der lateinischen Sprache und des römischen Stuhles lossagte. Der zweite Punkt ist die Trennung zwischen Morgen- und Abendland. Hier setzt Schleiermacher die Marke um 800 an, weil sich das Abendland unter Karl dem Großen nach dem Ende des weströmischen Reichs und den Wirren der Völkerwanderung wieder politisch und kirchlich etablierte und festigte. Geht man von der ökumenischen Kirche vor Karl dem Großen weiter zurück, so ist schließlich der dritte epochale Schnittpunkt die politische Anerkennung und Sicherstellung der Kirche mit gleichzeitiger Bildung einer zusammenhängenden Organisation unter Konstantin dem Großen. Durch diese drei Schnittpunkte, öffentliche Anerkennung der Kirche, Trennung des Abendlandes und des Morgenlandes und Trennung des Katholizismus und Protestantismus innerhalb des Abendlandes, teilt sich die Kirchengeschichte also in vier Perioden.221 Schleiermacher kommt zu demselben Ergebnis wie Pfaff, Mosheim und Schröckh (vgl. oben). 220  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  6 89 f. Der Text ist eigentümlich redundant und z.T. unklar, was wohl an Bonnells kompilatorischem Verfahren bei der Textherstellung liegt). Vgl. zur Aufgabe der Disziplin, den gegenwärtigen Zustand aus den Revolutionen der Vergangenheit zu erklären, auch Kurze Darstellung 2, §  186 (KGA I/6, S.  391). 221  Kirchengeschichte 1821/22, 6. Stunde (KGA II/6, S.   25. 483 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  691–693). Weiter unten heißt es, die so gewonnenen Punkte beträfen scheinbar weniger die innere Entwicklung des Christentums als die Gesellschaft als solche (S.  694). Mit der „Gesellschaft als solcher“ ist hier offenbar die äußere Stellung und Teilung der Kirche gemeint.

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B.  Systematischer Teil

Wilhelm Gräb meint, für Schleiermacher sei die Reformation „die einzige Zäsur im Verlauf der Christentumsgeschichte“, weil sie eine Neubestimmung der Kirchlichkeit des christlichen Glaubens eingeleitet habe, die wieder die Allgemeingültigkeit des christlichen Erlösungsbewußtseins gegenüber einer starren kirchlichen Autorität freigesetzt habe.222 In ähnlicher Weise meint Martin Ohst, die Epocheneinschnitte um 300 und 800 verdankten sich bei Schleiermacher mehr der Tradition, sie stimmten insofern nicht so gut mit seiner Konzeption überein wie die Reformation als Epoche, als sie sich nicht der Überwindung innerkirchlicher Fehlentwicklungen verdankten, sondern äußeren Faktoren.223 Nur: Die tatsächlich traditionelle konstantinische Epoche ist nicht bloß ein äußeres Ereignis, sondern steht auch für den allerdings der Idee der Kirchengeschichte entsprechenden Weg der Kirche vom Rand in die Mitte der Gesellschaft (vgl. unten Abschnitt 6.3.4.). Die karolingische Epoche wiederum haben nur Einige seiner Zeitgenossen. Ihre Wichtigkeit hebt Schleiermacher auch in der kirchlichen Statistik hervor: 224 Durch sie wird das Abendland von der Peripherie zum Zentrum des Christentums.

Zu Beginn des Kollegs von 1821/22 scheint Schleiermacher noch eine Trennung in fünf Perioden erwogen zu haben, indem er die erste Perioden in zwei teilte, das urchristlich-apostolische und das apologetische Zeitalter. In den Kollektaneen heißt es: „Perioden 1.) Periode der Evangelien 2.) der Apologien 3.) der Concilien 4.) der Systeme 5.) der Reformatoren.“225

In den Randüberschriften der ersten Kollektaneen differenziert Schleiermacher tatsächlich zwischen Einleitung, Urchristentum und erster Periode, zählt also das Urchristentum nicht mit zur ersten Periode.226 Für Schleiermacher liegt das auch insofern nahe, als das Urchristentum mit dem neutestamentlichen Kanon als reinste Darstellung des christlichen Prinzips der übrigen Kirchengeschichte als Norm gegenübersteht; es ist der Zeitraum, in dem sich die exegetische Theo­logie und die historische Theologie im engeren Sinne überschneiden (vgl. oben Abschnitt 3.6. und unten Abschnitt 6.1.1. und 6.2.3.). Bemerkenswert ist das zitierte Kollektaneum aber auch wegen seiner Kurzcharakteristik der Peri­ oden: Das Urchristentum als Periode der Evangelien ist die Zeit, in der die kirchengründende Offenbarung unter der später als kanonisch fixierten Gestalt (eben als Evangelium) nach außen trat. Die erste Periode ist die diejenige der Apologien, also der Abschnitt der grundlegenden Auseinandersetzung des Christentums mit Heidentum, Judentum und Staat und der Selbstbehauptung einer noch rechtlosen Kirche in der Welt. In der zweiten Periode hat die Kirche 222 

Gräb: Humanität, S.  173 Ohst: Schleiermacher, S.  69 224  Kirchliche Statistik 1827, 4. Stunde (KGA II/16, S.  197 f.) 225  Kollektaneum 11 (KGA II/6, S.  145) 226  Kollektaneen 1–75 (KGA II/6, S.  143–157). „Einleitung“ steht über Kollektaneen 4, 5, 11 und 45, „Urchristenthum“ über Kollektaneen 3, 6, 10, 12, 14–21, 56, 59–63, 65–68, 71 und 72 und „erste Periode“ über Kollektaneen 23, 25–30, 32–44, 46, 47, 54, 55, 57, 74 und 75. 223 

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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eine umfassende Gesamtorganisation, die sich in den Konzilen darstellt. Für die dritte Periode, die Periode der abendländischen mittelalterlichen Entwicklung, sind die Systeme kennzeichnend; damit ist wohl die Scholastik gemeint, die darauf zielte, das Metaphysische und Religiöse unter ein System zu bringen. Vielleicht ist aber zugleich auch an das Geistliches und Weltliches umfassende System der päpstlichen Weltherrschaft gemeint. Daß die vierte Periode diejenige der Reformatoren heißt, ist schließlich zunächst überraschend: Einerseits haben die Reformatoren ja als Individuen weniger Bedeutung als noch die Kirchenväter und sind mehr Repräsentanten und Organe dessen, was sich in der Masse entwickelt hatte (vgl. oben Abschnitt 4.5.), und andererseits ist die Zeit der Reformation eigentlich keine Periode, sondern ist die Epoche, die die dritte Periode von der vierten, der Periode des katholisch-protestantischen Gegensatzes, trennt. Offenbar kann Schleiermacher aber auch die ganze Periode des katholisch-protestantischen Gegensatzes als Reformation bezeichnen, denn indem sich der Gegensatz auch nach der eigentlichen Reformationsepoche weiter vertieft, geht auch die Reformation noch fort (vgl. unten Abschnitt 9.2.2.3.). Ganz zu Beginn seiner Arbeit an der neuen kirchengeschichtlichen Vorlesung, hatte Schleiermacher sich einen groben Zeitplan für das Kolleg gemacht: „Mit Sicherheit nur auf 100 Stunden zu rechnen. Davon 10 Stunden auf Einleitung und Urchristenthum, 10 Stunden auf die Zeit nach der Reformation, 10 Stunden auf die ReformationsZeit selbst[,] bleiben 70 Stunden für die Mittelmasse.“ Die „Mittelmasse“ zwischen den Eckpunkten Urchristentum und Reformation teilt er dann in drei Perioden: die der ökumenischen Kirchenversammlung (diese Lesung ist unsicher) mit 15–20 Stunden, die bis zur gänzlichen Trennung zwischen Orient und Okzident mit höchstens 15 Stunden und die der eigentümlich okzidentalischen Entwicklung in der scholastischen Periode mit 25 Stunden.227 Das ergibt als Summe freilich keine 70, sondern 55–60 Stunden.

Der Anfang des Christentums ist Christus selbst: Mit ihm tritt das neue Prinzip in die Welt ein, dessen Entfaltung die historische Theologie beschreibt. Auf eine ausführliche Darstellung der religiösen und politischen Umwelt und der geistigen Voraussetzungen des Urchristentums verzichtet Schleiermacher konsequenterweise. Den Einsatz der Kirchengeschichte macht er aber nicht mit einer kurzen Biographie Christi, sondern erst mit der Sammlung der Gemeinde „nach seiner Entfernung von der Erde“, also mit dem ersten Pfingstfest und der Ausgießung des Heiligen Geistes.228 Das stimmt überein mit der Glaubenslehre: Die besondere Existenzform der christlichen Kirche als eines gemeinsamen Lebens im Geist beginnt erst da, wo dieser Geist nicht mehr in dem einen konzen227 

Kirchengeschichte 1821/22 (KGA II/6, S.  21). – Kurt Nowak: Schleiermacher, S.  250, meint anhand dieser Notiz, Schleiermacher habe sein Kolleg innerhalb des Dreierschemas antiquitas, media aetas und novitas geplant. Das ist aber falsch, denn die „Mittelmasse“ ist eben nicht das Mittelalter, sondern umfaßt auch die Alte Kirche nach dem Urchristentum. 228  Kirchengeschichte 1821/22, 9. Stunde (KGA II/6, S.  491); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  679); vgl. Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 21); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  417. 419)

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B.  Systematischer Teil

triert ist, sondern wo er der Gemeinschaft mitgeteilt ist und sie zu einer Lebenseinheit und zu seinem Organ macht.229 Insofern ist die Kirchengeschichte die Fortsetzung des Lebens Jesu: Die Gemeinschaft setzt Christi Dasein und Handeln fort, indem das neue Prinzip in ihm zu ihrem Gemeingeist wird.230

4.6.2.  Charakterisierung der Perioden Schleiermacher schließt die Einleitung seiner kirchengeschichtlichen Kompendien ab mit einer kurzen Charakteristik der gewonnenen vier Perioden. Der wesentliche Inhalt der ersten Periode ist die Selbstfindung des Christentums, das Bewußtsein seiner Unterschiedenheit und seiner Selbständigkeit gegenüber Heidentum und Judentum. „Am Ende dieses Abschnitts hatte das Christenthum eine völlige innere und äußere fest umschriebene Existenz.“

Indem das Christentum sich dergestalt der Umwelt entgegensetzte, erregte es äußeren Widerstand und Verfolgungen, und so ist diese Periode die Periode der Apologeten und Märtyrer. Um ausgezeichnete Einzelne sammeln sich die Gemeinden. Die äußere Ausbreitung brachte schon den Gegensatz zwischen lateinischem und griechischem Christentum hervor, an dem später die äußere Einheit der Kirche zerbrechen sollte.231 Die zweite Periode sieht das Christentum als öffentlich anerkannte Religion und die Kirche als Organisation mit zunehmend aristokratischem Charakter, die ihre äußere und innere Einheit in ökumenischen Versammlungen darstellt und wahrt. Einzelne Bischofssitze gewinnen große Autorität, z.T. aus religiösen Gründen (Antiochia, Alexandria, Jerusalem), z.T. auch nur wegen der politischen Bedeutung ihrer Städte (Rom, Konstantinopel). Die Kirche breitet sich aus, auch unter den barbarischen Völkern; dabei gewinnen Liturgie und Ritual für das Christentum ein immer größeres Gewicht. Die innere Entwicklung führt zur Formulierung der Dogmen über Christus und über die Gnade; einzelnen Vordenkern, den sog. Kirchenvätern, kommt dabei eine hervorragende Bedeutung zu. Die Bedeutung der theologischen Schulen nimmt gegenüber der ersten Periode noch zu. Die patristische Literatur bildet verschiedene Formen 229 Der christliche Glaube2 2, §   116,1.3; 122 (KGA I/13,2, S.  241–244. 283–287). Vgl. dazu auch Gräb: Humanität, S.  129–131. 204; Diederich: Schleiermachers Geistverständnis, S.  230–234. 230  So z. B. auch Predigt 436 (11.6.1820) über Apg 4,5–14 (SW II/10, S.  1 f.); vgl. unten Abschnitt 11.4. Vgl. dazu Wilfried Brandt: Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, Studien zur Dogmengeschichte und systematischen Theologie 25, Zürich 1968, S.  193–204; Ohst: Schleiermacher, S.  26; Diederich: Schleiermachers Geistverständnis, S.  237–246. 231  Kirchengeschichte 1821/22, 6.–7. Stunde (KGA II/6, S.  25. 484 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  694–696)

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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aus, rezipiert nun auch verstärkt das geistige Erbe der Antike; das Christentum und seine Geschichte wird nun selbst Gegenstand der historischen Gelehrsamkeit. Was als häretisch ausgeschieden wird, sammelt sich jenseits der Reichsgrenzen. Gegen Ende der Periode erlahmt die dogmatische Produktivität und wird zur bloßen Repetition der anerkannten Autoritäten. Das weströmische Reich kollabiert, der Islam erscheint als äußere Bedrohung der Kirche. Die Trennung zwischen Ost und West verfestigt sich.232 Durch die äußerliche Konsolidierung des Abendlandes im karolingischen Reich erheben sich dort die beiden bestimmenden Größen der dritten Periode, das Papsttum und die Scholastik. Eine Neigung zur kirchlichen Monarchie entsteht im Abendland aus dem Gefühl heraus, daß die Kircheneinheit gegenüber der alten Bischofsaristokratie und gegenüber der nationalen und politischen Mannigfaltigkeit des neuen Europa gewahrt werden müsse (das Papsttum entstand also nicht einfach durch die persönliche Herrschsucht einzelner Inhaber des römischen Bischofsstuhls). Neben dem Papsttum wird die lateinische Sprache zum Bindeglied des Abendlandes. Indem aber die Papstmonarchie die kirchliche Einheit auch weltlich-politisch darstellen will, also die ethischen Formen der Kirche und des Staates ineinander verwirrt, führt sie letztlich zum Verfall der Kirche. – Die in der Karolingerzeit gestifteten Schulen behaupten ihre geistige Unabhängigkeit gegenüber der bischöflichen Autorität; aus ihnen geht die Scholastik hervor. Diese bedeutet (nachdem die alte Wissenschaft zusammen mit der antiken Welt untergegangen war) nichts Geringeres als einen Neubau der Wissenschaft überhaupt. Bei der Aneignung, Systematisierung und Fortbildung dessen, was in der vorigen Periode festgestellt worden war, entstehen neue Lehrstreitigkeiten, deretwegen wieder Synoden gehalten werden; doch diese haben nicht mehr die ökumenische Bedeutung wie die Konzile der zweiten Periode. Charakteristisch für die scholastische Wissenschaft ist der Gegensatz zwischen der großen, das Ganze umfassenden Form und der kleinlichen, bis ins letzte Detail gehenden und das System wieder sprengenden Ausführung. Für die Dogmenbildung selbst war diese Periode wenig fruchtbar. Die vielen in dieser Periode dem Christentum neu gewonnenen Völker nehmen an der Wissenschaft wenig teil. Päpstliche Universalmonarchie und Scholastik verfallen am Ende der Periode; die mangelnde Bildung der Masse und die zunehmende Erstarrung in äußerem Ritualismus erheischen schließlich eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. All diese Entwicklungen sind indessen rein abendländisch; das Morgenland verharrt in völliger Unbeweglichkeit.233

232  Kirchengeschichte 1821/22, 7. Stunde (KGA II/6, S.  25 f. 485 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  695–698) 233 Kirchengeschichte 1821/22, 7.–8. Stunde (KGA II/6, S.   26. 486–488); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  698 f.). Die zweite Vorlesung würdigt in ihrer Einleitung die eigene geistige Leistung der Scholastik weitaus weniger und konstatiert, die Hauptrichtung

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B.  Systematischer Teil

Die Tendenz der Reformation geht darauf, die Kirche aus ihrer Verstrickung ins Politische zu lösen, den Kultus in die Volkssprache zu übersetzen, überhaupt die Bildung und Urteilsfähigkeit der Laien zu heben, vor allem durch die Verbreitung der Bibel, und die Kirchenverfassung zu demokratisieren. Mitbedingt war die Reformation durch den Humanismus, der wieder den Weg auf den Kanon als Quelle wies und den Rückgriff auf das Urchristentum über die dazwischen liegenden Perioden hinweg ermöglichte. Die Geburtsfehler der evangelischen Kirchen waren ihre Unterordnung unter den Staat, der Mangel einer die Landeskirchen übergreifenden Organisation und Repräsentation und eine gewisse Neigung zu Abspaltungen kleinerer kirchlicher Gesellschaften; sie lassen sich als Gegenreaktion gegen das kuriale Streben nach politischer Oberhoheit und nach einer das Individuelle unterdrückenden Uniformität des Ganzen erklären.234 Für die gegenwärtige Periode erwartet Schleiermacher, daß sich der katholisch-protestantische Gegensatz weiter vertiefen werde. Damit hat er allerdings nicht die von Pius IX. und Pius XII. verkündeten Marien- und Papstdogmen vorausgeahnt, denn er schreibt es der protestantischen Seite zu; den Katholizismus hält Schleiermacher für voll ausgebildet und davon abgesehen für prinzipiell unbeweglich. Der Protestantismus hingegen habe zunächst noch vieles aus der abendländischen Kirche der dritten Periode übernommen; er werde aber auch dieses, indem er sein eigenes Wesen immer mehr verwirkliche, noch aus seinem individuellen Geist heraus neu gestalten. Schleiermacher denkt hier nicht zuletzt an das in den protestantischen Symbolen nicht eigens bearbeitete altkirchliche Dogma und an die scholastische Form der Dogmatik.235 Andererseits rechnet Schleiermacher damit, daß der Protestantismus für die Ost- und katholischen Kirchen durch lebendigen Austausch noch eine Quelle für deren innere Erneuerung werde. Diese letzte Hoffnung spricht er auch wiederholt in der kirchlichen Statistik aus.236 der dritten Periode sei nicht die innere Vertiefung, sondern die äußere Ausbreitung des Christentums gewesen. 234  Kirchengeschichte 1821/22, 8. Stunde (KGA II/6, S.  2 6. 488 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  699–701). Die zweite Vorlesung wiederholt hier, was Schleiermacher schon in der Christlichen Sitte von 1822/23 (SW I/12, S.  138 f.) mehr beiläufig geäußert hatte, daß nämlich die Kirche der Reformation die dem Wesen der germanischen Völker entsprechende individuelle Form des Christentums sei, wohingegen die romanischen Völker katholisch seien (vgl. dazu oben Abschnitt 4.4.); daß die Reformation nicht ganz Deutschland erfaßt habe, liege daran, daß es damals mit Karl V. einen Herrscher aus einem romanischen Land gehabt habe. 235  Über die Religion 2 , S.  366 f. 370–372 (Zusatz) (KGA I/12, S.  315. 317 f.); Kirchengeschichte 1821/22, 8. Stunde (KGA II/6, S.  26. 489); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  701); Der christliche Glaube2 1, §  23,2 f.; 2, §  96,3; 172, Leitsatz (KGA I/13,1, S.  161–163; I/13,2, S.  68. 527); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  186 (hg. Sachs, S.  175). Vgl. dazu auch Demange: La vie de l’Église, S.  419 f.; Ohst: Schleiermacher, S.  95–98. 121–129; Dinkel: Kirche gestalten, S.  61 f. – Vgl. unten Abschnitt 9.2.2.5. 236  Kirchengeschichte 1821/22, 6. und 8. Stunde (KGA II/6, S.  2 6. 484. 489); Kirchliche

4.  Die Struktur der Kirchengeschichte

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Wenn der katholisch-protestantische Gegensatz, wie Schleiermacher erwartet, in Zukunft fortdauert und sich eher noch verstärkt als abnimmt, dann heißt das auch, daß die von der Reformation eingeleitete Periode der Kirchengeschichte nicht so bald enden wird, ja, daß die Periode ihren Kulminationspunkt noch gar nicht erreicht hat. In der Einleitung der kirchlichen Statistik von 1827 äußert Schleiermacher hingegen noch eine andere Vermutung, freilich indem er zugleich zugibt, die Deutung der Gegenwart sei eine schwierige Aufgabe und habe etwas Prophetisches, sie sei nämlich die Identität des Zurücksehens und Voraussehens. Doch die Gegenwart habe tatsächlich eine Analogie mit einer großen geschichtlichen Epoche. Das Neue sei die ungeheure Zunahme des Weltverkehrs und damit die Möglichkeit, mit den entferntesten Teilen der Erde in Austausch zu treten und auf Weltgegenden zu wirken, die früher unbekannt und unerreichbar gewesen seien. Die christlichen Kirchen des Abendlandes bedienten sich nun auch dieser Kommunikationsmittel, und zwar, um das Christentum zu auszubreiten und zu verbessern, nicht zuletzt durch die Bibelverbreitung. Dies wirke aber zugleich auf die abendländischen Kirchen selbst, denn in dieser gemeinsamen Bemühung um die Weltmission hätten „die kirchlichen Trennungen angefangen aufzuhören“, vor allem zwischen den protestantischen Kirchen, in geringem Umfang aber sogar zwischen diesen und der römisch-katholischen Kirche. Gemeint ist hier weniger eine allgemeine Kirchenunion als der zunehmende Austausch auch unter solchen Kirchen, die sonst nicht viel miteinander zu tun hatten. Eine weitere, allerdings nicht ganz so bedeutsame Erscheinung sei ein politisches Erwachen in den protestantischen Kirchen: Man bemühe nun ernsthaft um eine Kirchenverfassung, die dem Wesen der evangelischen Kirche besser entspreche als die alten Konsistorialverfassungen.237 Ob die durch die Reformation eingeleitete Periode ihren Kulminationspunkt erst noch zusteuert oder ob sich in der Gegenwart durch die wachsende zwischenkirchliche Kommunikation schon eine neue Konstellation abzeichnet, ist bei Schleiermacher also nicht eindeutig. Mit dem Augsburger Religionsfrieden und seiner Bestätigung im Westfälischen Frieden, die die Existenz der evangelischen Kirche auch äußerlich dauerhaft sichert, ist aber der Zeitpunkt gegeben, der auch für die Gegenwart noch konstitutiv ist, und somit ist hier das Ziel der kirchengeschichtlichen Vorlesung erreicht.238

Statistik 1827, 10., 16., 30., 47. und 50. Stunde (KGA II/16, S.  224. 243 f. 297 f. 358–361. 371); Kirchliche Statistik 1833/34, 9.–10. Stunde (KGA II/16, S 488) 237  Kirchliche Statistik 1827, 2. Stunde (KGA II/16, S.  190 f.). Vgl. zu Schleiermachers Beobachtung einer Zunahme des Weltverkehrs auch Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  423). 238  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  694. 701); vgl. Kurze Darstellung 2 , §  186 (KGA I/6, S.  391). Das Ziel haben also nicht beide Vorlesungen verfehlt (so Ohst: Schleiermacher, S.  50), sondern nur die zweite.

5.  Die Praxis der kirchengeschichtlichen Forschung 5.1.  Darstellung und Quellen Aus Schleiermachers Anschauung der Geschichte geht schon hervor, wie für ihn die Kirchengeschichte dargestellt werden muß: Der Geschichte als Entwicklung und Verwirklichung einer Idee in der Zeit wird nur eine höhere, organische Darstellung gerecht, eine Darstellung, die Äußeres und Inneres zusammen auffaßt, die also die Idee in der Erscheinung und die Erscheinung durch die Idee anschaut und die so die einzelnen Momente in ihrem Zusammenhang erkennt.1 Wenn die Disziplin Kirchengeschichte (wie die theologische Wissenschaft überhaupt) für die Kirchenleitung, das selbsttätige, geordnete Einwirken auf die christliche Kirche, kompetent machen soll, dann wird sie auch diese Funktion nur als organische Geschichte erfüllen können, indem sie nämlich die geschichtliche Entwicklung der Kirche als „Darstellung des christlichen Geistes in seiner Bewegung“ auffaßt.2 Eine organische Darstellung der Kirchengeschichte aber, die Äußeres und Inneres zusammenschaut, wird ihren Schwerpunkt immer mehr auf die innere oder mehr auf die äußere Seite legen.3 Über die Arbeitsweise des Kirchenhistorikers hat sich Schleiermacher ausführlicher in der theologischen Enzyklopädie und in der Einleitungsvorlesung von 1806, knapper am Anfang der beiden Kompendien geäußert: Das Materiale der Kirchengeschichte erfährt man aus den Quellen selbst und aus den Darstellungen anderer; Quellen sind nur solche Geschichtsdenkmäler, in denen eine Begebenheit unmittelbar selbst spricht, nicht spätere Berichte über die Begebenheit: „Denkmäler und Urkunden“, „Kunst, Monumente, Sitten, Gebräuche“ und in der Dogmengeschichte auch die dogmatisch-polemische Literatur. Neben den Quellen bleibt man freilich auf abgeleitete Darstellungen angewiesen. Einerseits nämlich haben wir über vieles gar keine unmittelbaren Urkunden, sondern nur Berichte von Augenzeugen, Chronisten oder Geschichts1 

Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 8. Stunde (KGA II/6, S.  17); Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2.  Aufl., Berlin 1830, §  187. 255 f. (KGA I/6, S.  391. 415 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  187. 255 f. (hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  176. 249 f.) 2  Kurze Darstellung 2 , §  188 (KGA I/6, S.  391) 3  Kirchengeschichte 1821/22, 1. Stunde (KGA II/6, S.  470 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  677)

5.  Die Praxis der kirchengeschichtlichen Forschung

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schreibern, oder wir können nur anhand solcher Berichte eine Quelle richtig beurteilen und in ihren Zusammenhang einordnen. Andererseits dürfte kaum jemand in der Lage sein, sich seine eigene Anschauung der Geschichte nur anhand der Quellen und, wenn nötig, der ältesten verfügbaren Berichte zu bilden; jeder, besonders als Anfänger in der Disziplin, wird auf neuere Bearbeitungen der Kirchengeschichte zurückgreifen müssen. Die Darstellungen, seien sie nun von Euseb von Cäsarea oder von Johann Salomo Semler, enthalten dabei auch immer die Eigentümlichkeiten und Tendenzen ihrer Autoren. Für das Materiale der Geschichte eignen sich am besten solche Darstellungen, die sich möglichst neutral zu den Ereignissen verhalten oder deren Tendenz wenigstens klar erkennbar ist.4 Dafür hat für Schleiermacher also die Chronik, die als bloße Aufzählung einzelner Punkte Sinn und Wesen der Geschichte doch eigentlich verfehlt (vgl. oben Abschnitt 3.1.), ihren Sinn und Wert, ja, einen größeren Wert als die organische Darstellung.

5.2. Kritik Das Organon, um die verschiedenen Quellen und Darstellungen richtig zu beurteilen und auszuwerten, ist die historische Kritik; sie sei für das gesamte Gebiet der Geschichtskunde und somit auch für die historische Theologie unentbehrlich, schreibt Schleiermacher.5 Ebenso kann er schreiben, daß nicht nur in dem Teil der historischen Theologie, der gemeinhin der „exegetische“ heiße, sondern auch in den beiden anderen „das Meiste auf Auslegung beruht“.6 Die Historik der Auf klärung befaßte sich bereits mit dem Problem, wie man die historischen Quellen kritisch auswerten könne; sie kannte hier eine Kritik der Echtheit einer Quelle und eine Kritik ihrer inhaltlichen Glaubwürdigkeit und Richtigkeit.7 Schleiermacher selbst sagte schon 1806, Quellen, in und aus denen eine Begebenheit selbst spreche, seien ungleich wertvoller als die späteren Erzählungen der Geschichtsschreiber über die Begebenheit; letztere dürfe man auch gar nicht unter die Quellen rechnen.8 4 Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 8. Stunde (KGA II/6, S.   17); Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (KGA II/6, S.  22. 472); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  51 f.); Kurze Darstellung 2, §  101. 156 f. (KGA I/6, S.  374. 382); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  156 f. (hg. Sachs, S.  149–151) 5  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 8. Stunde (KGA II/6, S.  17); Kurze Darstellung 2, §  102 (KGA I/6, S.  364 f.) 6  Kurze Darstellung 2 , §  8 4 (KGA I/6, S.  358) 7 Vgl. Horst Walter Blanke: Auf klärungshistorie, Historismus und historische Kritik, in: Hg. ders. und Jörn Rüsen: Von der Auf klärung zum Historismus, Historisch-politische Diskurse 1, Paderborn 1984, S.  167–186, hier 168–173. Vgl. auch oben Abschnitt 2.2.1. 8  Vgl. oben Abschnitt 5.1. Diese Differenzierung spielte wenige Jahre später auch in den Vorlesungen eine Rolle, die der dänisch-deutsche Staatsmann und Historiker Barthold Georg Niebuhr nach Eröffnung der Berliner Universität vor großem Publikum (auch Schleier-

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Philologische Kritik wiederum hatten schon die Gelehrten der frühen Neuzeit an den klassischen Texten geübt. Um 1800 unterschied man hier zwischen der niederen Kritik (der Wort- oder Textkritik, also dem Versuch einer Rekonstruktion des richtigen Wortlautes, oft durch Konjekturen) und der höheren Kritik, die sich mit Fragen der Verfasserschaft, Datierung und historischen Einordnung beschäftigte und gelegentlich auch mit dem, was wir heute Literarkritik nennen.9 Die Kritik der Echtheit einer Quelle und die philologische Kritik überschneiden sich also. Schleiermacher war selbst auf dem Gebiet der Kritik geschult, und zwar durch seine Arbeiten zur klassischen Philologie, denen er zum nicht geringen Teil auch seine wissenschaftliche Reputation verdankte: Seine Plato-Übersetzung hat nicht nur bis heute klassischen Rang, sie war auch ein Meilenstein der Forschung. Und in einem Geleitwort zum ersten Band der zu ihrer Zeit innovativen kritischen Plato-Teilausgabe Ludwig Friedrich Heindorfs, eines Freundes und philologischen Mitarbeiters Schleiermachers, schrieb Georg Ludwig Spalding (ein weiterer Freund und Mitarbeiter), das Meiste für die Ausgabe habe Schleiermacher geleistet.10 Zu nennen sind z. B. auch Schleiermachers im Museum der Alterthumswissenschaft veröffentlichte Sammlung der Fragmente Heraklits und sein letztlich aufgegebenes Projekt einer kritischen Edition der Paulusbriefe.11 – Es ist kein Zufall, daß Schleiermacher am ehesten auf demjenigen Gebiet der Kirchengeschichte eigenständig wissenschaftlich und kritisch gearbeitet hat, das der Altphilologie und der Exegese des Neuen Testaments am nächsten steht, nämlich der alten Kirchengeschichte. Schleiermacher hat sich auch mit der Theorie und der Einteilung der Kritik, besonders der philologischen, beschäftigt. Die Vorlesungen zur Hermeneutik haben seit dem Wintersemester 1826/27 auch die Kritik im Titel; gemeint ist die philologische Kritik. 1830 hielt Schleiermacher vor der Akademie der Wismacher war dabei) über die römische Frühzeit hielt und die als Meilenstein in der Geschichte der Historiographie gelten; vgl. Barthold Georg Niebuhr: Römische Geschichte, Band 1, Berlin 1811, S. IX–XI. 173–183. 220–241; Band 2, Berlin 1812, S. V f. 1–4. 9  Z. B. Kurze Darstellung 2 , §  113. 118 (KGA I/6, S.  368. 370); Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.  1004–1006. 1011 f. 1016 f. 1024); Friedrich August Wolf: Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hg. von Johann Daniel Gürtler, Band 1, Leipzig 1831, S.  309–344; Franz Ficker: Anleitung zum Studium der griechischen und römischen Classiker, 2.  Aufl., Wien 1832, S.  313–350. – In Schleiermachers früher Ethik ist die höhere Kritik gleichbedeutend mit der Hermeneutik, also dem verstehenden Nachvollzug einer individuellen sprachlichen Äußerung, vgl. Brouillon zur Ethik 1805/06, 16., 56. und 57. Stunde (Werke 2, S.  100. 173. 175 f.). 10  Plato: Dialogi selecti, ed. Ludwig Friedrich Heindorf, Band 1, Berlin 1802, S. VII f. Vgl. z. B. auch Brief 1364 (Oktober 1802) von Ludwig Friedrich Heindorf (KGA V/6, S.  175 f.); Brief 1959 (23.3.1805) von Heindorf (KGA V/8, S.  166 f.); Brief 1965 (14.5.1805) von Philipp Karl Buttmann und Heindorf (KGA V/8, S.  202–208), wo es um textkritische Fragen bei Plato geht. 11  Manuskripte für die Paulus-Edition liegen in Schleiermachers Nachlaß (SN 17/1; 22; 23; 32).

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senschaften einen Vortrag über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik. Hier setzt er sich zunächst in seiner bekannt subtilen Art damit auseinander, wie 1807 und 1808 sein (inzwischen verstorbener) weiland Hallenser Lehrer, dann Kollege Friedrich August Wolf und der mittlerweile in München lehrende Friedrich Ast die philologische Kritik eingeteilt hatten und wie sie jeweils das Verhältnis der philologischen Kritik zu den anderen Arten der Kritik bestimmt hatten, die sie der philologischen zur Seite stellten (doktrinale, rhetorisch-ästhetische und historische Kritik bzw. grammatisches, historisches und geistiges Verständnis).12 Dann stellt Schleiermacher seinen Entwurf vor: Alles sei unter der historischen Kritik zu subsumieren. Unter diesem „freilich wol noch nicht vollkommen wissenschaftlich zu einem genau bestimmten Werth ausgeprägten“

Ausdruck verstehe er die Kunst, aus Erzählungen und Nachrichten die Tatsachen auszumitteln. Das bedeute nicht bloß, Täuschungen und Irrtümer von der Wahrheit zu sondern, sondern auch, das Urteil und die Zutat des Erzählers von der Wahrnehmung selbst, also dem Gegenstand der Erzählung, zu unterscheiden. „Erzählungen“ sind dabei Überlieferungen und Denkmäler im weitesten Sinne, also auch Abschriften der Werke antiker Autoren und ihre Angaben über die Verfasserschaft. „Unser ganzer classischer Apparat ist dann die Erzählung, aus welcher wir die ursprüngliche Thatsache, nämlich die Entstehung und Beschaffenheit der schriftlichen Werke des classischen Alterthums auszumitteln haben“.

Die historische Kritik also prüft bei den Trägern dieser Gesamterzählung, den antiken Literaturdenkmälern, durch kritischen Vergleich des Inhalts und der Überlieferung, ob etwa die traditionelle Zuweisung eines Werkes an einen bestimmten Autor tatsächlich zutrifft; sie ordnet Einzeltexte und Gattungen einander zu, und sie entscheidet sich bei der Textrekonstruktion für die eine oder die andere Lesart oder auch für eine Konjektur, wobei alle Ergebnisse wieder­ um für alle Untersuchungen zum Mittel der kritischen Urteilsbildung werden. Mithin umfasse die historische Kritik in diesem Sinne die gesamte kritische Tätigkeit, also alles, was man sonst als höhere oder niedere, philologische, doktrinale oder historische Kritik bezeichne. Sie stehe als der eine große Komplex dem anderen, der produktiven Tätigkeit, gegenüber, „und beide in ihrer Beziehung auf einander constituiren das ganze geistige Leben.“13 12 Ueber

Begriff und Einteilung der philologischen Kritik (30.3.1830) (KGA I/11, S.  645–651); vgl. Friedrich August Wolf: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft, in: Museum der Alterthums-Wissenschaft 1 (1807), S.  1–145, hier 38–54; Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, S.  177. 215–226. – Wolf und Ast verstanden unter höherer und niederer Kritik trotz unterschiedlicher Defini­ tion ziemlich dasselbe. 13  Ueber Begriff und Einteilung der philologischen Kritik (30.3.1830) (KGA I/11, S.  651– 654)

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B.  Systematischer Teil

Schleiermacher faßt also den gesamten Prozeß der geschichtlich-kulturellen Überlieferung als Erzählung und unterscheidet dabei zweierlei Funktion, die produktive, erzählende und die rezipierende, kritische (die freilich, indem sie das kritisch Rezipierte ihrerseits gestaltet und weitergibt, selbst wieder zur produktiven Funktion, also zur Erzählung werden muß). – Auf die historischtheo­logische Forschung angewandt, die ja nicht Teil der produktiven, sondern der kritischen Tätigkeit ist, heißt das, daß die verschiedenen Nachrichten, kommen sie nun aus den Quellen selbst, aus älteren Berichten oder aus neueren Darstellungen, nicht einfach gesammelt und reproduziert werden sollen, sondern daß man sie so lange wägt, miteinander vergleicht und aneinander prüft, bis man ein möglichst konsistentes und einleuchtendes Bild vom Gegenstand bekommt, also in diesem Falle von der christlichen Kirche bzw. einem Detail ihrer Geschichte und Gegenwart. In der Vorlesung über die Hermeneutik und Kritik von 1832/33 ordnet Schleiermacher die philologische Kritik ebenfalls der historischen unter,14 stellt nun aber die „doctrinale Kritik“ als eigenes Element neben die historische. Hatte er in dem Akademievortrag geltend gemacht, daß die Gattungen, auf die die doktrinale Kritik die Texte bezieht, selbst ja nur in den Texten gegeben seien, also wie diese ins Gebiet der historischen Kritik fielen,15 so faßt er jetzt die doktrinale Kritik allgemeiner als den Vergleich einzelner „Produktionen“ mit ihrer Idee und ihrem Urbild und bezieht das nicht nur auf Werke der Literatur und ihre Gattungen, sondern menschliche Handlungen überhaupt im Verhältnis zum idealen Gehalt alles menschlichen Handelns, zur Ethik.16 Die doktrinale Kritik hat ihren letzten Grund „immer in dem Verhältniß des als Einzelnes bestimmtem zu dem Begriffe und da liegen die letzten Gründe wie auf dem dialektischen, speculativen, metaphysischen Gebiete.“17

Am Ende der Vorlesung gibt Schleiermacher Kunstregeln, wie (besonders auf dem Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft) aus den überlieferten Nachrichten durch kritischen Vergleich und Kombination die „Thatsachen“ zu rekonstruieren seien.18 Friedrich Schlegel hat 1797, zur Zeit seiner ersten Bekanntschaft mit Schleiermacher, Entwürfe zu einer „Philosophie der Philologie“ gemacht, d. h. zu einer neuen Art von Philologie, die sich nicht auf gelehrte sprachwissenschaftliche Beobachtungen und Hypothesen zu den klassischen Texten und ihrer bestmöglichen 14 

Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.  1010–1016) Begriff und Einteilung der philologischen Kritik (30.3.1830) (KGA I/11, S.  653 f.) 16 Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.   1004 f. 1007–1009). Vgl. oben Abschnitt 3.2. 17  Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.  1015) 18  Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.  1121–1136) 15 Ueber

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Rekonstruktion beschränken sollte, sondern die – als „Interesse für bedingtes Wissen“ überhaupt19 – die ganze menschlich-geschichtliche Bildung in den Blick nimmt und damit zugleich die „enzyklopädische“ Grunddisziplin für eine Philosophie wird, die nicht mit Deduktion aus einem obersten, als unbedingt gesetzten Prinzip arbeitet, sondern mit dem „Wechselerweis“ bedingter und einander bedingender Sätze in ihrer Totalität – ein Ansatz, der, obwohl nur in Fragmenten formuliert, für Schleiermachers Denken größte Bedeutung bekommen sollte (vgl. oben Abschnitt 2.2.3. und 3.1.). Schlegel kann hier die Hermeneutik (Verstehen und Erklären) und die Kritik (Rekonstruktion des Textes in seinem historischen Kontext) als die beiden Elemente der Philologie voraussetzen,20 kann aber auch sagen, daß die Kritik das ganze Gebiet der Philologie umfasse und daß die Hermeneutik auch eine Art der Kritik sei.21 Hermeneutik und Kritik fallen für Schlegel letztlich in eins.22 – Zur Kritik rechnet Schlegel nicht nur die historische und philologische Kritik, sondern auch die philosophische. Die Philosophie gewinnt ihre Sätze aus der historischen Kritik, macht dieselben aber auch für die Kritik fruchtbar; das zyklische Verfahren der Kritik schließt die Philosophie mit ein. Das Ganze zielt auf das Verständnis der Geschichte.23 Auch Schleiermacher kennt neben der historisch-philologischen Rekonstruktion des Ereignisses aus den Erzählungen noch eine Art philosophischer Kritik, eben die „doctrinale Kritik“, den Vergleich des Einzelnen mit der ethi19 

Friedrich Schlegel: Zur Philologie I (1797), Nr.  137 (Kritische Ausgabe 16, S.  46) F. Schlegel: Zur Philologie I (1797), Nr.  4 4. 178. 180. 236 (Kritische Ausgabe 16, S.  38. 50. 55); ders.: Zur Philologie II (1797), Nr.  39 (Kritische Ausgabe 16, S.  63). In Zur Philologie I (1797), Nr.  4 0 (Kritische Ausgabe 16, S.  38) setzt Schlegel die Dreiteilung der Philologie in Grammatik, Kritik und Hermeneutik voraus. 21  F. Schlegel: Zur Philologie I (1797), Nr.  154. 164 (Kritische Ausgabe 16, S.  47. 49); ders.: Zur Philologie II (1797), Nr.  35. 53 (Kritische Ausgabe 16, S.  62. 65). (In Zur Philologie I, Nr.  154 sagt Schlegel, daß man die ganze Philologie ebenso als Kritik als auch als Grammatik als auch als Hermeneutik darstellen kann, eine Denkfigur, die auch bei Schleiermacher begegnet, z. B. in Bezug auf die Ethik als Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre und auf christliche Sittenlehre als darstellendes, reinigendes und verbreitendes Handeln: Ethik 1812/13, Einleitung, §  83–108, Werke 2, S.  256–258; Christliche Sitte 1822/23, Sämmtliche Werke I/12, S.  54 f.). 22  Schlegel steht hier auch in Kontinuität zu Chladenius, vgl. oben Abschnitt 2.2.1. Vgl. Hermann Patsch: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), S.  434–472, hier 450–452; Andreas Arndt: „Philosophie der Philologie“, in: Editio 11 (1997), S.  1–19, hier 5–10; ders.: Hermeneutik und Kritik im Denken der Auf klärung, in: Hg. Manfred Beetz und Giuseppe Cacciatore: Die Hermeneutik im Zeitalter der Auf klärung, Collegium Hermeneuticum 3, Köln 2000, S.  211–236, hier 212–214. 231 f.; Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen, Quellen und Studien zur Philosophie 67, Berlin und New York 2005, S.  278–280. 23  F. Schlegel: Zur Philologie I (1797), Nr.  9 –11. 18. 27. 29. 87. 127 (Kritische Ausgabe 16, S.  35–37. 42. 45); ders.: Zur Philologie II (1797), Nr.  34. 45–47. 91 (Kritische Ausgabe 16, S.  62–64. 69). Vgl. Klaus Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794– 1808), Studien zur deutschen Literatur 78, Tübingen 1984, S.  93–96; Arndt: „Philosophie der Philologie“, S.  3 –5. 10–13; ders.: Hermeneutik, S.  224 f. 233–236. 20 

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schen Idee. Doch anders als bei Schlegel ist für ihn die Ethik als Geschichtstheo­ rie selbst nicht Gegenstand der Kritik. Sie wird nicht durch ein kritisches zykli­ sches Verfahren aus der Geschichte gewonnen; sie ist aber auch nicht aus dem Absoluten deduziert, das für Schleiermacher gar kein Gegenstand realen Wissens ist. Vielmehr wird die Ethik aus dem höchsten, angeborenen und nicht mehr in einer höheren realen Einheit aufzuhebenden Gegensatz von Vernunft und Natur abgeleitet (vgl. dazu oben Abschnitt 3.2.); sie verdankt sich also einer spekulativen Deduktion (wenn auch aus einem Gegensatz und nicht aus einer Einheit) und nicht einem zyklischen Verfahren.24 Was Schleiermacher die doktrinale Kritik nennt, also die Vermittlung zwischen den Begriffen des spekulativen Wissens und den in ihrer Individualität nicht ableitbaren Phänomenen der geschichtlichen Wirklichkeit, leisten in seinem System die kritischen Wissenschaften.25 Auf dem Gebiet der Theologie ist das die Religionsphilosophie (oder speziell die philosophische Theologie): Diese einerseits, die historisch-theologischen Disziplinen andererseits konstruieren die Kenntnis des Christentums als Vermittlung zwischen dem philosophisch-ethischen Wesen der Religion und Religionsgemeinschaft und der geschichtlichen Wirklichkeit der christlichen Kirche; abgeschlossen ist dieser Erkenntnisprozeß erst mit der Vollendung der Kirche und der Christianisierung der ganzen Menschheit.26 Den Pragmatikern wirft Schleiermacher das vor, die Geschichte des Christentums ohne die Idee des Christentums schreiben zu wollen. Da nun aber die Ethik weder selbst der Geschichte unterworfen ist noch den Verlauf der Ge24  Ethik 1812/13, Einleitung, §  1–4. 19–56. 62–75 (Werke 2, S.  245. 247–254); Dialektik 1814/15, 33.–34. Stunde (§  211 f.) (KGA II/10,1, S.  139 f.); Ethik, Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §  1 f. 27–56 (Werke 2, S.  517–520. 526–535); Dialektik 1822, 47. Stunde (KGA II/10,1, S.  262; II/10,2, S.  556 f.); vgl. Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Schleiermacher-Archiv 14, Berlin und New York 1994, S.  26–29. Schleiermacher kann freilich zugeben, daß die empirische Geschichtskunde nicht nur von der Ethik bestimmt wird, sondern auch ihrerseits Gestalt und Inhalt der Ethik bestimmt, indem nur die geschichtliche Wirklichkeit die Gewähr leiste, daß die Spekulation nicht zur leeren Gedankenoperation wird; vgl. Ethik, Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §  70–74 (Werke 2, S.  539 f.); Rössler, a.a.O., S.  82 f. 25 Ethik 1812/13, Einleitung, §   57 f. (Werke 2, S.  252); Dialektik 1814/15, 33. Stunde (§  210) (KGA II/10,1, S.  139); Ethik, Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §  18–20. 109 (Werke 2, S.  523 f. 549 f.). Vgl. Rössler: Schleiermachers Programm, S.  31–39; Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1995, S.  71–76. 118 f.; S. Schmidt: Die Konstruktion, S.  291–294. Rössler macht darauf aufmerksam, daß Schleiermachers von Wolf u. a. übernommener Kritikbegriff und derjenige Kritikbegriff, der dem Programm der kritischen Disziplinen zugrunde liegt, nicht miteinander übereinstimmten; allerdings sieht er nicht, daß die „doktrinale Kritik“ dort, wo Schleiermacher sie nicht in die historische einordnet, seinem Konzept der kritischen Disziplinen doch nahe kommt. 26  Kurze Darstellung 2 , §  21. 32 (KGA I/6, S.  334. 338); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  2 ,2 (KGA I/13,1, S.  16–18); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  21. 32 (hg. Sachs, S.  20 f. 33–36); vgl. oben Abschnitt 3.4.2. und 4.1.

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schichte dergestalt bestimmt, daß er sich aus ihr nachkonstruieren oder voraussehen ließe, so hat die Kritik als wesentlichen Inhalt die Rekonstruktion der verschiedenen individuellen geschichtlichen Phänomene (historisch-philologische Kritik) und deren Einordnung in das philosophisch-ethische Schema des menschlichen Handelns (doktrinale Kritik). Die letztere hilft zugleich als Heuristik dazu, zu unterscheiden, was zu einer bestimmten Geschichte gehört (z. B. zur Geschichte des Christentums), was anderen Geschichten zuzuweisen ist und was als ethischer Irrtum nicht zur Geschichte, sondern nur zu dem durch sie bearbeiteten Material gehört.

5.3.  Kirchengeschichte für Theologiestudenten Das Gebiet der Kirchengeschichte mit all seinen Verzweigungen und all seinen historischen und philologischen Hilfskenntnissen, die es erfordert, ist unendlich groß; es ganz zu beherrschen, kommt nur dem Virtuosen zu.27 Was also muß ein Student aus der Kirchengeschichte wissen, und wie soll er es sich aneignen? Wer an der Kirchenleitung teilhaben will, braucht zweierlei Kompetenz: Einerseits benötigt er ein inhaltliches Minimalwissen, andererseits muß er die Methode so beherrschen, daß er in der Lage ist, sich selbst die Kirchengeschichte zu erarbeiten. Zunächst zum ersten: Jeder Theologe muß aus dem unendlichen Gebiet der Kirchengeschichte „dasjenige inne haben […], was mit seinem selbständigen Antheil an der Kirchenleitung zusammenhängt.“28

In jedem Fall muß er den Gesamtverlauf der Kirchengeschichte und den gegenwärtigen Zustand der Kirche kennen: Darin offenbart sich, wie der christliche Geist als lebendiges Prinzip in der Geschichte wirksam ist, wie und worauf der Theologe Einfluß haben kann und was sich günstig oder ungünstig auswirkt.29 Ansonsten ist eine Kenntnis der letzten kirchengeschichtlichen Epoche nötig, für den evangelischen Geistlichen also der Reformationsgeschichte, weil sie die Gegenwart der Kirche insgesamt konstituiert.30 Worüber der Theologe schließlich noch detailliertere Kenntnis braucht, das hängt davon ab, auf welchem Gebiet er tätig ist.31 27 

Kurze Darstellung 2, §  92. 184 (KGA I/6, S.  361. 390) Kurze Darstellung 2, §  185 (KGA I/6, S.  390) 29  Kirchliche Statistik 1827, 1.–2. Stunde (KGA II/16, S.  185–190); Kurze Darstellung 2 , §  100. 188. 244 (KGA I/6, S.  364. 391. 411); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  244 (hg. Sachs, S.  237 f.) 30  Kurze Darstellung 2 , §  186 (KGA I/6, S.  391). Vgl. oben Abschnitt 4.6. 31 Kurze Darstellung 2 , §   190 (KGA I/6, S.  392); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  190 (hg. Sachs, S.  177 f.) 28 

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Zum anderen: Jeder Theologe braucht auf mindestens einem kirchengeschichtlichen Gebiet eine eigene Kenntnis der Quellen, sei es, daß er sich von einer Darstellung der Kirchengeschichte zu den Quellen führen läßt, sei es, daß er sich die Quellen selbständig erschließt. Nur durch eigene historische Arbeit anhand der Quellen lernt er, wie sich der kritische Historiker aus den verschiedenen Nachrichten ein eigenes, lebendiges Bild von der Vergangenheit macht, und nur so lernt er, die Arbeiten anderer zu prüfen und zu beurteilen.32 Dem Anfänger, der einen ersten Überblick über Verlauf, Themen und Probleme der Kirchengeschichte braucht, rät Schleiermacher an einer Stelle, sich erst einmal an eine einzige Darstellung der Kirchengeschichte zu halten,33 an anderer Stelle wiederum, mehrere Darstellungen im kritischen Vergleich zu studieren.34 Wozu sollen nun aber kompendienartige Vorlesungen über die Kirchengeschichte, wie Schleiermacher sie hält, dem Studenten nützen? Sollen sie den zahlreichen Darstellungen, die es schon in Büchern gibt, noch eine weitere hinzufügen? Für eine detaillierte Darstellung ist der begrenzte Umfang, den eine solche Vorlesung notwendig hat, ungeeignet; hier bleibt das Buch die angemessene Form. Aber Schleiermacher bezweckt mit seinen Vorlesungen auch etwas anderes: Er möchte gegenüber den vielen mehr äußeren, chronikartigen Bearbeitungen eine Darstellung geben, die das Innere in den Mittelpunkt stellt, die handelnden Kräfte. Eine solche innere Kirchengeschichte ist aber zugleich auch eine Anleitung zum kritischen Selbststudium der Quellen und der kirchenhistorischen Literatur. Für diesen Zweck eigne sich der mündliche Vortrag nun tatsächlich besser als die schriftliche Ausarbeitung, denn mündlich drücke man sich klarer und freimütiger aus.35 Besonders die akademische Jugend bedürfe einer solchen Anleitung, denn der historische Sinn entwickle sich erst als Frucht der reiferen Jahre, durch Erfahrung in den Weltläuften und „eine gewisse Ruhe und Leidenschaftslosigkeit“.36 Da man in einer Überblicksvorlesung nie alles sagen könne, so wolle er aus der Fülle des Stoffes das auswählen, was in der Deutung besonders umstritten sei, und das, und was für die eigene Deutung besonders charakteristisch sei.37 32  Kirchengeschichte 1821/22, 1. Stunde (KGA II/6, S.  470); Kurze Darstellung 2 , §  100. 188. 244 (KGA I/6, S.  364. 391. 411); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  244 (hg. Sachs, S.  237 f.) 33  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 8. Stunde (KGA II/6, S.  17) 34 Kurze Darstellung 2 , §   158. 187 (KGA I/6, S.  382. 391); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  158. 187 (hg. Sachs, S.  151. 176) 35  Kirchengeschichte 1821/22, Skizze der Einleitung; 1. Stunde (KGA II/6, S.  21 f. 469– 471); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  126. 674). – Einen ähnlichen Zweck sollte Marheinekes Universalkirchenhistorie haben, vgl. oben Abschnitt 3.5.1. Unter den Pragmatikern steht wohl Schröckh Schleiermacher am nächsten, der die Kirchengeschichte nicht als Gesellschaftsgeschichte, sondern als Geschichte der christlichen Religion schreiben wollte, vgl. oben Abschnitt 2.1.4. 36  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  677) 37  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  6 88)

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Hier ist also eine gewisse Spannung nicht zu verkennen: Einerseits empfiehlt Schleiermacher, sich für das Materiale neben den Quellen an möglichst neutrale, chronikartige Darstellungen zu halten, um sich nicht durch die Tendenzen der Kirchenhistoriker die eigene Anschauung trüben zu lassen (vgl. oben Abschnitt 5.1.); andererseits meint er, daß sein eigener, mehr das Gesamte deutender als in die Einzelheiten gehender Vortrag die Studenten erst zu einem kritischen Umgang mit den Quellen und mit der kirchengeschichtlichen Literatur kompetent mache. Der Widerspruch erklärt sich aber aus Schleiermachers Urteil über die bisherigen Bearbeitungen der Kirchengeschichte: Diese ent­ wickel­ten die Kirchengeschichte eben nicht aus dem von Christus ausgehenden religiösen Prinzip heraus, sondern aus irgendwelchen anderen Prinzipien; sie sähen in der geschichtlichen Entwicklung vor allem fremde Kräfte am Werk, betrachteten Dogma und Kirchenverfassung als Korruptionen und leugneten damit die göttliche Weltregierung, oder sie sähen überhaupt die Religion als Irrtum an oder allenfalls als Vehikel zu einer allgemeinen Menschenmoral, zu der man auch auf anderem Wege kommen könnte. Was dabei insgesamt herauskomme, sei, unbeschadet richtiger Einzelbeobachtungen, ein unchristliches Stückwerk, das weder beanspruchen könne, eine theologische Disziplin mit Nutzen für das Geschäft der Kirchenleitung zu sein, noch überhaupt eine organische, von einer Idee getragene Geschichte.38 Schleiermachers Vorlesungen sind Grundlegung und Anleitung zu einer Kirchengeschichte aus explizit christlicher Perspektive, die, indem sie das Ganze aus dem einen christlichen Prinzip entwickelt und darstellt, zugleich die Ansprüche der christlichen Frömmigkeit und der historischen und theologischen Wissenschaftlichkeit erfüllt. Die Vorlesung von 1821/22 schließt Schleiermacher mit den Worten: „Es ist ein wesentlicher Nutzen der Geschichte, daß wir die Elemente aus ihren Wirkungen richtig kennen lernen und schätzen und nach dem Bedürfniß der Kirche das Gewicht auf dasjenige legen, worin Gebrechen eingeschlichen sind und die Vergangenheit so der Spiegel der Gegenwart und Zukunft werde.“39

Diese weniger spekulative (die in der Geschichte wirksamen Ideen und Kräfte zur Anschauung bringende) als praktische Seite der Geschichte kommt in den kirchengeschichtlichen Einleitungen eher zu kurz,40 spielt aber für Schleiermacher eine nicht geringe Rolle, und zwar immer dann, wenn er nicht die Ge38 Kirchengeschichte 1821/22, Skizze der Einleitung; 1.–2. Stunde (KGA II/6, S.   21 f. 471 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  125). – Vgl. Schleiermachers Urteil über die theologische Literatur überhaupt: „Wir denken gewiß über die neuere theologische Litteratur ziemlich gleich. […] Die theologischen Wissenschaften werden bei weitem größtentheils von solchen betrieben die gar keinen religiösen Sinn haben.“ (Brief 2026 [6.9.1805] an Joachim Christian Gaß, KGA V/8, S.  305). 39  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  6 61) 40  Vgl. aber auch oben Abschnitt 4.3.4.: Die Kirchengeschichte zeigt, welche Momente in der Kirche sich nicht dem christlichen, sondern fremden Prinzipien verdankten und wovon sich die Kirche zu reinigen habe.

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schichtskunde aus der Idee der Wissenschaft und die Kirchengeschichte aus dem Prinzip der Theologie ableiten will, sondern auf die pädagogische Seite der Geschichtskunde zu sprechen kommt. Dabei will er nicht nur die Gegenwart aus der Vergangenheit verstehen, sondern auch umgekehrt von der Gegenwart und ihren Zuständen ausgehend in die Vergangenheit blicken. Schon die Abhandlung über den Geschichtsunterricht aus der Schulkandidatenzeit hält es für das Beste, sich an den gegenwärtigen Zuständen sein Schema zu bilden, um die Phänomene der Vergangenheit einzuordnen (vgl. oben Abschnitt 2.3.). Dasselbe empfiehlt Schleiermacher später in den Vorlesungen zur Pädagogik: Der Geschichtsunterricht hat den Zweck, der Jugend das Bewußtsein vom ethischen Gesamtleben der Menschheit als Gattung zu vermitteln. Er soll sich darum weder in Einzelheiten verlieren noch alles aus einem abstrakten Allgemeinen deduzieren, sondern soll, von der Gegenwart als vorläufigem Ziel ausgehend, das Wesentliche in ihr zurückverfolgen und dann wieder vorwärtsgehen; so kommt er auf die modernen christlichen Staaten in Europa, auf ihre ursprüngliche Einheit im frühen Mittelalter und auf die geistigen Wurzeln Europas im Christentum, in der antiken Bildung und im asiatischen Monotheismus.41 – Für das Theologiestudium empfahl Schleiermacher in seinem Stolper Kirchenreformentwurf von 1804: „Die Geschichte des Christenthums muß der Prediger wissen in dem Umfang, als nöthig ist, um den gegenwärtigen Zustand der Kirche und des Lehrbegriffs auch genetisch vollständig zu verstehen“.42

In der Kirchengeschichte bildet Schleiermacher tatsächlich die Perioden der Kirchengeschichte nach den in der Gegenwart fortbestehenden Zuständen und Trennungen in der Kirche, und er verfolgt im materialen Teil der Vorlesungen die Entstehung und Entwicklung gerade dessen, was noch für die Gegenwart relevant ist, also etwa des Papsttums und verschiedener katholischer Vorstellungen.43 Aus der Gegenwart wissen wir, was aus der Vergangenheit sich als wirksam und dauerhaft erweisen sollte, und aus der Vergangenheit wissen wir, welche der gegenwärtigen Erscheinungen schon bei ihrer Entstehung und auch später der Kirche zum Schaden gereichten. So legen Kenntnis der Gegenwart und der Vergangenheit einander gegenseitig aus.

41  Pädagogik

1820/21, 60.–61. Stunde (hg. von Christiane Ehrhardt und Wolfgang Virmond, Berlin und New York 2008, S.  248–253) 42 Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, S.  168 (KGA I/4, S.  4 49) 43  Vgl. oben Abschnitt 4.6.1. und unten Abschnitt 6.3.1.4., 7.2.2. und 7.2.4. Vgl. auch Kirchliche Statistik 1833/34, 1. Stunde (KGA II/16, S.  464): „In der KirchenGeschichte ist der wahre Gehalt das Entstehen der Differenzen.“

C.  Materialer Teil

6.  Die erste Periode 6.1.  Die erste Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte 6.1.1.  Die Eigenart der ersten Periode Die erste Periode der Kirchengeschichte beginnt mit der Ausgießung des Geistes (vgl. oben Abschnitt 4.6.1.). Der Geist Christi wird zum Gemeingeist der christlichen Gemeinde; die Gemeinde, d. h. zunächst: der Kreis der Apostel, tritt in Erscheinung. Am Ende der Periode wird das Christentum zur religio licita. Der Prozeß der äußeren Ausbreitung und der inneren Aneignung ist zu diesem Zeitpunkt schon dahin fortgeschritten, daß es im ganzen Römischen Reich und darüber hinaus christliche Gemeinden gibt, die untereinander eine zusammenhängende Organisation bilden; die christliche Gemeinschaft hat sich äußerlich und auch innerlich als eigene Größe in der Gesellschaft etabliert. Schleiermacher forderte, daß jeder Theologe mindestens ein Gebiet der Kirchengeschichte auch anhand der Quellen kennen müsse (vgl. oben Abschnitt 5.3.). Für ihn selbst war die alte Kirchengeschichte dieses Gebiet, die ersten etwa viereinhalb Jahrhunderte, die apostolische und patristische Zeit. Patristische Gelehrsamkeit zeigt sich in den Aufsätzen über die Trinitätslehre und über die Papias-Fragmente,1 aber auch in der Glaubenslehre.2 Im neutestament1  Ueber den Gegensaz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität, in: Theologische Zeitschrift 3 (1822), S.  295–408 (KGA I/10, S.  223– 306); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  755–777); Ueber die Zeugnisse des Papias von unsern beiden ersten Evangelien, in: Theologische Studien und Kritiken 5 (1832), S.  735–768 (KGA I/8, S.  227–254). – Der Aufsatz Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, in: Theologische Zeitschrift 1 (1819), S.  1–119 (KGA I/10, S.  145–222; Vorarbeiten dazu in KGA II/6, S.  747–753), zitiert gelegentlich Augustin und Johannes Chrysostomus. 2  Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., z. B. Band 1, Berlin 1830, §  41; Band 2, Berlin 1831, §  171,3 (KGA I/13,1, S.  235–238; I/13,2, S.  523 f.); vgl. Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), S.  255–284. 481–532, hier 512 f. (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  369 f.); Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Beiträge zur historischen Theologie 77, Tübingen 1989, S.  217. – Vgl. z. B. auch die pseudonyme Schrift Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten, Göttingen 1824, S.  19–24 (KGA I/9, S.  223–225), wo Schleiermacher anhand der Eusebschen Vita Constantini prüft, wie weit in altkirchlicher Zeit die kaiserliche Kompetenz in liturgischen Fragen ging.

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C.  Materialer Teil

lichen Seminar hat Schleiermacher laut seinen Meldungen an das Ministerium mit seinen Studenten häufig Werke der Kirchenväter gelesen, besonders Exegetica zum Neuen Testament.3 Für ein lange gehegtes, zuletzt aber nicht realisiertes Projekt, eine kritische Ausgabe der Paulusbriefe (vgl. oben Abschnitt 5.2.), zog Schleiermacher ebenfalls die exegetischen Werke der Kirchenväter heran; er wollte sie für die textkritischen Anmerkungen nutzen.4 Neutestamentliche Textkritik und Exegese und Patristik gehören für Schleiermacher zusammen – ebenso wie noch im 20. Jahrhundert für Gelehrte wie Theodor Zahn, Adolf von Harnack und Hans Lietzmann. Klarer als die späteren Perioden unterteilt Schleiermacher die erste Periode in zeitliche Abschnitte: Er trennt das „Urchristentum“ oder „apostolische Zeitalter“ vom „apologetischen“ Zeitalter.5 Wir haben gesehen, daß es ihm zunächst sogar vorschwebte, das apostolische Zeitalter als eigene Periode zu zählen (vgl. oben Abschnitt 4.6.1.). Wo soll man aber die Grenze zwischen beiden ziehen? In der Vorlesung von 1821/22 erwägt Schleiermacher mehrere Möglichkeiten. Er entscheidet sich dann nicht für den sagenhaften Tod der letzten Apostel am Ende des Jahrhunderts, auch nicht mit Hegesipp für den etwa gleichzeitigen Märtyrertod Simeons von Jerusalem aus der Familie Christi, bis zu dem die 3  Humboldt-Universität Berlin, Archiv, Theologische Fakultät, Nr.  43, fol.  45. 77. 85. 89. 106. 110. 115. 126. 131. 136. 138. 149. 165. 172 (vgl. Wolfgang Virmond: Schleiermacher als Dozent in der Berliner Universität, in: Hg. Günter Meckenstock: Schleiermacher-Tag 2005, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Jahrgang 2006, Nr.  4, Göttingen 2006, S.  269–278, hier 278). Danach las Schleiermacher mit den Studenten die apostolischen Väter, Tertullians Adversus Marcionem IV, Origenes’ Matthäuskommentar, exegetische Homilien von Johannes Chrysostomus, Augustins Traktat über das Johannesevangelium und Theodorets Kommentare zu den kleinen Paulusbriefen. Daß Schleiermacher die Kirchenväter für seine neutestamentlichen Arbeiten konsultiert hat, schreibt auch Hermann Mulert: Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie, Teil 1, Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus 3, Gießen 1907, S.  22. – Ein Blatt mit stilistischen und literarkritischen Notizen zu Johannes Chrysostomus’ Homilien zum Epheser- und zum Hebräerbrief (KGA II/6, S.  753 f.) entstand vielleicht bei der Ausarbeitung des Aufsatzes über die Erwählungslehre, vielleicht aber auch schon Ende 1806, vgl. Brief 2239 (4.12.1806) an August Boeckh (KGA V/9, S.  228): „Ein theologisches Studium hat mich zum Chrysostomus geführt, dessen Homilien ich durchblättre, in denen es für einen Kritiker auch viel zu thun gäbe, wenn es der Mühe lohnte“; vgl. auch Brief 2439 (30.3.1807) an Boeckh (KGA V/9, S.  387). Auch die Einleitung ins Neue Testament (SW I/8) zitiert öfter die Kirchenväter, doch ist noch ungewiß, ob die Zitate eigene Lese- und Studienfrüchte Schleiermachers sind oder ob sie aus anderen Darstellungen übernommen sind. 4  Brief (11.5.1818) an Joachim Christian Gaß (Briefwechsel mit J.Chr. Gaß, hg. von Wilhelm Gaß, Berlin 1852, S.  151) 5  Den Begriff des Urchristentums verwendet Schleiermacher z. B. in den Randglossen zu den Kollektaneen (vgl. oben Abschnitt 4.6.1.); vom apostolischen Zeitalter schreibt er z. B. in Kirchengeschichte 1821/22, 9. und 12. Stunde (KGA II/6, S.  27. 32. 490); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  127 f. 702). Zum Begriff des apologetischen Zeitalters vgl. Kollektaneum 11 (KGA II/6, S.  145); Kirchengeschichte 1821/22, 9. Stunde (KGA II/6, S.  27); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  702).

6.  Die erste Periode

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Kirche ketzerlos, eine reine Jungfrau geblieben sein soll, sondern geht einige Jahrzehnte zurück, in die 60er Jahre. Mehrere Momente kommen dort zusammen: das Ende der zusammenhängenden Erzählung in der Apostelgeschichte, der Tod der Apostel Paulus und Petrus und das Ende der Jerusalemer Urgemeinde, der bisherigen Mutterkirche, im Jüdischen Krieg.6 – Die Vorlesung von 1825/26 setzt die Grenze des apostolischen und des apologetischen Zeitalters erst um 120 an,7 vielleicht, um die urchristliche Literatur noch in den ersten Abschnitt zu nehmen. Diese Vorlesung schlägt außerdem noch einen weiteren Einschnitt vor, nämlich im Zeitraum zwischen 164 und 180, und unterscheidet damit das eigentliche apologetische Zeitalter vom dritten Jahrhundert, das schon den Übergang zur zweiten Periode bilde; doch sie läßt es letztlich offen, ob man die erste Periode besser in zwei oder in drei Massen teilt.8

6.1.2.  Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise Hauptquellen von Schleiermachers Kenntnis und Rückgrat seiner Darstellung für die Vorlesung von 1821/22 sind das Neue Testament (besonders die Apostelgeschichte) und die Kirchengeschichte Eusebs (letztere in der deutschen Übersetzung Friedrich Andreas Stroths). Dabei grenzt Schleiermacher die Lektüre des Neuen Testaments für die Kirchengeschichte von derjenigen in einem exegetisch-hermeneutischen Kolleg ab: „Streitige Auslegung hier nicht zu berichtigen; einfache Facta vorauszusezen. Die Aufgabe ist Kombination zu einem möglichst zusamenhängenden Bilde und wahrscheinlichen Folgerungen.“9

Die von dem Exegeten Schleiermacher geübte historische Kritik an der Apostelgeschichte10 tritt also in der Kirchengeschichte ganz zurück; Schleiermacher hält sie hier – etwas naiv – für entbehrlich. – Den Euseb hat Schleiermacher offenbar kurz vor Beginn des Semesters von Buch I bis VII im Zusammenhang gelesen und exzerpiert.11 6  Kirchengeschichte 1821/22, 12. und 14. Stunde (KGA II/6, S.  31 f. 34 f.); Kollektaneum 21 (KGA II/6, S.  147) 7  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  128; vgl. auch 713). 8  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  128. 133. 702) 9  Kirchengeschichte 1821/22, 9. Stunde (KGA II/6, S.  27, vgl. 491) 10 Einleitung in die Apostelgeschichte (wohl 1817) (KGA I/8, S.   193); Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  85–90 (SW I/8, S.  344–379). Dort reflektiert Schleiermacher u. a. über die Quellen der Apostelgeschichte und deren Glaubwürdigkeit. Vgl. dazu auch Johannes Conradi: Schleiermachers Arbeit auf dem Gebiete der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft, Niederlößnitz-Dresden 1907, S.  61–71. 11  Kollektaneen 14–44 (KGA II/6, S.  145–152). Vgl. die Tagebuchnotizen vom 11.10. und 19.10.1821: „Eusebius gelesen“ bzw. „Auf dem Sofa gelegen und Eusebius gelesen“ (KGA II/6, S. XXIII). Kenntnis von Buch I zeigen die Ausführungen über Abgars angeblichen Briefwechsel mit Christus (Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde, KGA II/6, S.  30 f. 497).

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C.  Materialer Teil

Für die weitere eigene Aneignung des Stoffs hat Schleiermacher weitaus mehr Quellen und Sekundärliteratur ausgewertet als bei den späteren Perioden. Die Arbeit läßt sich anhand seiner Exzerpte und Notizen, der Kollektaneen, nachvollziehen: Schleiermacher setzt sich auseinander mit Johann Ernst Christian Schmidt12 und mit Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg,13 sammelt dann aus den Stromata Clemens’ von Alexandrien Nachrichten über die Gnosis,14 exzerpiert verschiedene Bücher über Verfassung und Kultus der frühen Kirche,15 vertieft sich noch einmal in die Gnosis, diesmal anhand von mehreren Quellen und von Neanders neuer Monographie,16 widmet sich dann den Themen Montanismus und Monarchianismus, wobei wieder verschiedene Quellen herangezogen werden,17 und macht sich schließlich aus Schröckhs Kirchengeschichte Notizen über den Buß- und Ketzertaufstreit, den Donatismus und die konstantinische Wende.18 Eingestreut sind noch einzelne Analekten19 und eigene Reflexionen.20 Die Stunden des Kollegs von 1825/26 hat Schleiermacher zunächst auf kleinen Zetteln mit Stichworten und Verweisen auf die Ausarbeitungen und Kollektaneen von 1821/22 disponiert und vorbereitet (die Stundenausarbeitungen hat er auch mit ein paar Glossen versehen); unter diesen Notizen sind aber auch neue Exzerpte, viele wieder aus Eusebs Kirchengeschichte (diesmal aber aus dem griechischen Original), andere z. B. aus Epiphanius und Sueton und aus Johann Carl Ludwig Gieselers neuem Lehrbuch der Kirchengeschichte.21 Erst für die Zeit seit etwa 200 hat Schleiermacher (als Nachtrag zu den Kollektaneen von 1821/22) neue Kollektaneen angelegt. Hauptquelle sind Band 3 und 4 der Schröckhschen Kirchengeschichte; daneben stehen Exzerpte aus Quellen wie Eusebs Kirchengeschichte, Epiphanius und der Bibliothek des Photius.22

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Kollektaneen 46–58 (KGA II/6, S.  152–154) Kollektaneen 59–73 (KGA II/6, S.  154–157) 14  Kollektaneen 79–87 (KGA II/6, S.  158–160) 15  Kollektaneen 88–98 (KGA II/6, S.  160–162). Hier hat Schleiermacher neben Schmidts Kirchengeschichte noch ältere Arbeiten von Joseph Bingham und Johann Salomo Semler benutzt. 16 Kollektaneen 110–141 (KGA II/6, S.   164–172). Hier werden vor allem Theodoret, Epiphanius und noch einmal Clemens ausgewertet, außerdem Irenäus, Euseb und Origenes. 17  Kollektaneen 142–169 (KGA II/6, S.  172–179). Quellen sind hier Theodoret, Epiphanius, Tertullian, Hippolyt und Origenes. 18  Kollektaneen 171–187 (KGA II/6, S.  180–183) 19  Z. B. Kollektaneen 6 aus dem ersten Clemensbrief (KGA II/6, S.  144); 13 und 103 f. aus Tertullian (KGA II/6, S.  145. 163); 74 f. aus Origenes (KGA II/6, S.  157); 76 f. aus Plotin (KGA II/6, S.  158) 20  Z. B. Kollektaneen 45; 57; 87 (KGA II/6, S.  152. 154. 160) 21  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  127–134; Glossen zu den älteren Ausarbeitungen: KGA II/6, S.  27. 29–31. 34. 44. 51. 54. 60 f. 63. 65. 67. 72 f.) 22  Kollektaneen 959–992 (KGA II/6, S.  387–396). So hat Schleiermacher Schröckhs Ausführungen über die Werke des Clemens Alexandrinus, Origenes und Julius Africanus durch13 

6.  Die erste Periode

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Zu Beginn der 1821 sorgsam ausgearbeiteten Darstellung weist Schleiermacher, der mit der Quellenlage hier besser als sonst vertraut ist, auf die Schwierigkeiten der Rekonstruktion hin: „Erste Periode. Großer Inhalt aber schwer auszumitteln und darzustellen. Wir wissen nicht, wie die Verbreitung entstanden ist, die wir in Nicaea finden, wir wissen die Dogmenbildung nicht constant zu verfolgen und eben so wenig die damals schon sehr complicirte Verfassung“.23

Dies liege an der großen Lücke in der Überlieferung: Das Neue Testament biete nur für die ersten 30–40 Jahre eine einigermaßen zusammenhängende Beschreibung, während die eigentliche Geschichtsschreibung erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts einsetze, wo sich bereits die spätere Ausbreitung, Verfassung und Dogmenbildung der Kirche erkennen lasse. „Es ist natürlich, daß man in der Zeit unmittelbar nach den Aposteln (Zeit der Verfolgungen) nicht daran dachte, etwas Historisches aufzusetzen; noch war kein literarischer Geist unter den Christen, dieser konnte sich erst später finden; die Menschen mußten erst zur Betrachtung gereizt werden, und dann war der Zusammenhang zwischen den einzelnen christlichen Gemeinden sehr schwer; er bestand nur durch Einzelne, und war daher sehr der Willkühr unterworfen. In diesem geschichtslosen Zeitraume liegen aber die Anfänge einer Menge von Begebenheiten, die man nun später schon fand und dann liegen die Enden des Neuen Testaments darin“.24

Als aber der historische Sinn der Kirche für die eigene Geschichte erwacht sei, habe sich die Entwicklung schon nicht mehr rekonstruieren lassen. So seien die kirchlichen Sagen entstanden, die die Nachrichten des Neuen Testaments fortspännen oder die Gegenwart auf eine fiktive Vorgeschichte gründeten, teilweise sogar die Apostel selbst zu Bischöfen machten. Für das hier nötige Geschäft der historischen Kritik habe Johann Salomo Semler viel getan, auch wenn er z.T. über das Ziel hinausgeschossen sei.25 Hier hat sich Schleiermacher auch selbst als Kritiker betätigt. Er zweifelt mit Semler an den frühesten Christenverfolgungen,26 erklärt von den Ignatius-Briegearbeitet (Kollektaneen 975–977, KGA II/6, S.  389–393). Kollektaneen 110 und 168 hat Schleiermacher 1825 mit neuen Exzerpten zum Thema ergänzt (KGA II/6, S.  164. 178). 23  Kirchengeschichte 1821/22, 9. Stunde (KGA II/6, S.  27) 24  Kirchengeschichte 1821/22, 9. Stunde (KGA II/6, S.  490) 25  Kirchengeschichte 1821/22, 9. Stunde (KGA II/6, S.  27. 490) 26  Kirchengeschichte 1821/22, 14. und 15. Stunde (KGA II/6, S.  35. 37); Kollektaneen 99 f. (KGA II/6, S.  162): Es handele sich tatsächlich wohl nur um einzelne Verhaftungen und Hinrichtungen; ja, die Nachricht über die Verfolgung unter Domitian beruhe vielleicht nur darauf, daß Domitian seinen Vetter Flavius Clemens wegen Gottlosigkeit hinrichten ließ, woraus Spätere schlossen, daß Flavius Clemens Christ gewesen sei und Domitian die Chri­ sten verfolgt habe. Das erste wirkliche Verfolgungsdekret sei Trajans Gesetz gegen die geschlossenen Gesellschaften gewesen. – Im zweiten Kompendium hat Schleiermacher dieses Bild etwas modifiziert. Er notiert christenfeindliche Gesetze von Domitian bis Marc Aurel und mutmaßt, daß die Verfolgung Neros in Rom ihre Ursache in Volksverhetzungen durch

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C.  Materialer Teil

fen mindestens die Passagen über den Monepiskopat für unterschoben 27 und zweifelt generell an den (z. B. von Stolberg für authentisch gehaltenen) Nachrichten über die ersten Bischöfe der berühmten Gemeinden 28 und speziell am Romaufenthalt des Petrus.29 Später versucht er, aus widersprüchlichen Überlieferungen zu Origenes ein Bild zu gewinnen.30

6.2.  Das apostolische Zeitalter 6.2.1.  Von der Urgemeinde zur Heidenmission Petrus formuliert in seiner Pfingstpredigt schon das für alle Zeiten programmatische Endziel der Kirchengeschichte, daß nämlich alle von Gott gelehrt und vom Geist Christi durchdrungen sein sollen und keiner mehr der Belehrung durch Dritte bedarf.31 Im apostolischen Zeitalter unterscheidet Schleiermacher drei Entwicklungsstufen: 1) die in sich ruhende, noch ganz jüdische Jerusalemer Urgemeinde, 2) ihr Nach-Außen-Treten, veranlaßt durch die Steinigung des Stephanus und die Verfolgung der Hellenisten, und 3) die von Antiochia ausgehende planmäßige Heidenmission. Die Repräsentanten der ersten Stufe sind die zwölf Apostel, später die „Säulen“ (Gal 2,9), zu denen auch der Herrenbruder Jakobus zählt. Für die zweite Stufe ist Philippus die bedeutendste Gestalt, für die dritte Stufe Paulus.32 Diese drei Stufen entsprechen auch dem in der Sittenlehre aufgestellJuden und heidnische Priester hatte (Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  129 f. 716; SW I/11, S.  96 f.). 27  Kirchengeschichte 1821/22, 15. Stunde (KGA II/6, S.  37); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  129); Kollektaneum 94 (KGA II/6, S.  161) 28 Kirchengeschichte 1821/22, 11.–12. Stunde (KGA II/6, S.   30–32. 498); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  129. 720); Kollektaneen 14–18; 63 f.; 101 f. (KGA II/6, S.  145 f. 155. 162) 29  Kirchengeschichte 1821/22, und 11.–12. Stunde (KGA II/6, S.  3 0–33. 498); Kollek­ taneen 64; 70; 73; 106 (KGA II/6, S.  155–157. 163); vgl. auch Kirchliche Statistik 1827, 17. Stunde (KGA II/16, S.  248). Um Petrus von Rom fernzuhalten, neigt Schleiermacher sogar zu der Auffassung, der erste Petrusbrief sei tatsächlich in Babylon geschrieben worden. 30  Vgl. unten Abschnitt 6.3.3. Ein vergleichbarer Fall findet sich in einem Akademievortrag Schleiermachers „Ueber den Philosophen Hippon“ vom 14.2.1820 (KGA I/11, S.  343– 356), von dem die Alten Widersprüchliches zu berichten wußten. Die Arbeit ähnelt aber auch dadurch der Kirchengeschichte, daß Schleiermacher sich eine Sammlung mit numerierten Kollektaneen aus Quellen und Literatur angelegt hat und in der Ausarbeitung auf diese immer zurückverweist. 31  Kirchengeschichte 1821/22, 5. Stunde (KGA II/6, S.  24. 480). Vgl. oben Abschnitt 4.1. 32  Ähnlich setzt Schleiermachers Einleitung ins Neue Testament die Zäsuren innerhalb der Apostelgeschichte: „Betrachten wir noch einmal die Sache mehr im Großen, so können, wie wir gesagt haben, Jerusalem und Antiochien als Mittelpuncte des Ganzen erscheinen; an Jerusalem knüpfen sich dann jene beiden Momente, das Pfingstfest als Keim der innern Organisation und der Tod des Stephanus als Veranlassung der äußern Verbreitung; an Antiochien schließen sich die Missionsreisen des Paulus an, der jedesmal dorthin zurückkehrt.“

6.  Die erste Periode

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ten Schema des christlichen Handelns, also dem Übergang vom darstellenden zum wirksamen Handeln: 33 Die in sich ruhende Urgemeinde in Jerusalem ist das ursprüngliche darstellende Handeln, eine Manifestation und ein Äußerlichwerden des Inneren, das die Gemeinschaft konstituiert und mit dem sie in Erscheinung tritt; 34 die folgende Wendung nach außen ist der Übergang von der reinen Darstellung zur Wirksamkeit, zur Verbreitung und dann mit dem Streit um das Heidenchristentum auch zur Reinigung der Kirche.35 Dasselbe im Kleinen stellt auch schon das erste Pfingstfest (Apg 2,1–41) dar: „Die Jünger beginnen mit dem gegenseitigen Darstellen dessen was durch die Ausgießung des Geistes in ihnen entstanden war, und erst der Eindrukk, den dieses Darstellen macht, veranlaßt die Rede des Petrus, die wirksames Handeln ist.“36

Das wirksame Handeln führt zu einer intensiven Steigerung (einem „Increment“) des Selbstbewußtseins, wie es im darstellenden Handeln nach außen tritt, indem es eine partielle Bewußtlosigkeit auflöst, die noch im Selbstbewußtsein bestanden hatte.37

(Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  86, SW I/8, S.  357). – In der christlichen Sittenlehre kehren die Entwicklungsstufen wieder als die verschiedenen möglichen Maximen dafür, wie ein Christ sich seinen Ort sucht, wo er die christliche Gemeinschaft verbreiten soll. Das Bleiben der Apostel in Jerusalem steht für die erste Maxime, „daß für jeden Christen der natürliche Ort zum verbreitenden Handeln der locale Gemeindeverband ist, in welchem ihm seine Stelle auf eine bestimmte Weise angewiesen ist. […] Nämlich die uns als Einheit bestimmte Localität ist es nicht ursprünglich vom kirchlichen sondern vom bürgerlichen Standpunkte aus, und wir müssen also sagen, Jeder soll seinen Ort in einer solchen bestimmten Localität nur durch die Totalität seiner Lebensverhältnisse finden“. Für die zweite Maxime steht die Flucht der Hellenisten aus Jerusalem und ihr verbreitendes Handeln in der Zerstreuung: Wenn am natürlichen Ort keine Wirksamkeit möglich ist, muß man sich einen anderen Wirkungskreis suchen. Paulus schließlich bekam auf außerordentliche Weise den Befehl, von Jerusalem wegzugehen (Apg 22,17 f.). „Wer sich göttlich berufen fühlt zum verbreitenden Handeln in der Ferne, hat keine Verpflichtung mehr, an seinem natürlichen Orte zu bleiben. Seine Beharrlichkeit rechtfertigt sein Gefühl, nicht der Erfolg, von dem es ganz unabhängig ist, ja selbst von der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit des Erfolges.“ (Christliche Sitte 1826/27, SW I/12, S.  419–422) In einer späteren Fassung der Sittenlehre heißt es dagegen, in der apostolischen Zeit sei eine nicht stetige, sondern sprunghafte (also nicht an den natürlichen Ort und seine Nachbarschaft gebundene) Verbreitung des Christentums nicht nachweisbar, und sie sei insofern sittlich problematisch, als sie immer bedeute, daß man sich den sittlichen Pflichten an seinem natürlichen Ort entziehe (Christliche Sitte 1831, 62.–63. Stunde, SW I/12, Beilage, S.  174–177). 33  Vgl. zum Verhältnis von Kirchengeschichte und christlicher Sittenlehre oben Abschnitt 3.6., 4.2.3. und 4.3.3. 34  Christliche Sitte 1809/10, §  70 f. (SW I/12, Beilage, S.  24); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  511 f.) 35  Tatsächlich gibt es für Schleiermacher natürlich schon im ersten Stadium wirksames Handeln, etwa die Predigt in den Synagogen und Tempelhallen. 36  Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  512) 37  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  146; SW I/12, S.  504–506)

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C.  Materialer Teil

Die Urgemeinde zeichnet sich bei Schleiermacher dadurch aus, daß es noch keine gezielte missionarische Wirksamkeit nach außen gibt; sie ist außerdem noch ganz ins Judentum eingebettet. Zur Gemeinde gehören diejenigen Juden, die Christus als Messias und Erfüllung der Verheißungen bekennen und sich in Jerusalem auf halten, und das ist kein fest umschriebener Personenkreis, sondern es sind zu den Zeiten der großen jüdischen Wallfahrtsfeste mehr, sonst weniger. Die Gemeindeglieder nehmen weiter am öffentlichen jüdischen Kultus teil, haben daneben aber auch ihren eigenen, vom Tempel- und Synagogenwesen getrennten sonntäglichen Gottesdienst mit Lesungen aus dem Alten Testament, Gesängen und dem Liebes- und Abendmahl. Schleiermacher vermutet, daß dieser Gottesdienst den Getauften vorbehalten war; öffentliche Predigten hielten die Apostel außerhalb dieser christlichen Feiern, etwa am Sabbath in der Halle Salomos im Tempel (Apg 3,11; 5,12). Der jüdischen Umwelt erscheint die Urgemeinde zunächst als eine besondere Synagoge neben anderen; ihre Eigentümlichkeit, das starke Gewicht der messianischen Idee und deren Anwendung auf Jesus, verstößt gegen keinen jüdischen Glaubenssatz und verläßt den jüdischen Konsens noch nicht. Wer sich taufen lassen will, bedarf noch keines Unterrichtes, weil die Grundlagen bei Juden und langjährigen Proselyten als bekannt vorausgesetzt werden können. Der Hohe Rat schreitet nur insofern gegen die Urgemeinde ein, als diese das von ihm über Jesus verhängte Verdammungsurteil nicht anerkennt. So wird die Gemeinde von dieser Seite her nur zeitweilig verfolgt, steht aber ansonsten im Volk in gutem Ansehen (Apg 2,47; 5,13). Die römische Obrigkeit gewährt ihr die übliche Toleranz. Die Auswärtigen bereiten in ihrer Heimat der späteren christlichen Mission den Weg.38 Nur an einem Datum der Apostelgeschichte über die Urgemeinde zweifelt Schleiermacher, nämlich an der Gütergemeinschaft (Apg 2,44 f.; 4,32–35): Wäre diese eine dauernde und feste Einrichtung gewesen, so hätte es weder den freiwilligen Verzicht auf die eigene Habe gegeben, wie er in der Geschichte von Ananias vorausgesetzt wird (Apg 4,36–5,10), noch wäre es nötig gewesen, die Armenpfleger oder Diakone einzusetzen (Apg 6,1–6). So habe tatsächlich wohl nur eine besonders große Wohltätigkeit stattgefunden; zur Verwaltung dieses Geschäftes sei, nachdem es erst die Apostel selbst innegehabt hätten, das Amt der Diakone eingerichtet worden.39 38 

Kirchengeschichte 1821/22, 9.–10. Stunde (KGA II/6, S.  27 f. 491–493). – In der Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  703 f.) wirft Schleiermacher einen genaueren Blick auf das Judentum zur Zeit Jesu und der Apostel; es ist eben das erste „Fleisch“, in dem sich das christliche Prinzip verwirklichte: Das Christentum habe sich allen erhaltenen Nachrichten zufolge besonders unter den Pharisäern verbreitet. Die Sadduzäer mit ihrem Aristokratismus und Konservatismus und ihrem geringen Interesse an den Fragen der äußerlichen Lebensgestaltung seien zu elitär gewesen, um in der Masse einen größeren Rückhalt zu haben. Die gelegentlich geäußerte Hypothese von einer näheren Verbindung Christi mit der kleinen, isolierten Sekte der Essener entbehre jeder Grundlage. Ebenso falsch sei es, die Verkündigung der Auferstehung und Himmelfahrt Christi mit der kabbalistischen Lehre von der Wiederkehr der Seele Adams in Zusammenhang zu bringen. Zwar reiche die Kabbala sicherlich in die Zeit Christi hinauf und habe unter den Pharisäern und Sadduzäern ihre Anhänger gehabt. Der Anknüpfungspunkt der christlichen Verkündigung im Judentum sei aber der Messianismus gewesen und nicht die Identifizierung Christi mit Adam, wie denn überhaupt Christi Auferstehung in der apostolischen Predigt kein Eigengewicht habe, sondern nur als Bestätigung seiner Messianität gegenüber seinen Anklägern vorgebracht werde. 39  Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.  2 8. 493). Vgl. auch Christliche

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In der Vorlesung von 1825/26 sagt Schleiermacher, Christentum und jüdischer Messiasglaube hätten mit- und durcheinander geschichtliche Dauer bekommen: Der eigentlich irdisch-diesseitige Messiasglaube habe, vom Unreinen befreit, fortgedauert als Glaube an die durch Christus vermittelte geistige Gottesgemeinschaft und als Hoffnung auf die Vollendung dieser Gemeinschaft bei der Wiederkunft Christi. Umgekehrt sei aber auch er es gewesen, der dem Christentum einen Ausdruck gab, unter dem es in der damaligen Welt geschichtlich werden konnte.40 Zum äußeren Anstoß der nächsten Entwicklungsstufe wird die Steinigung des Diakons Stephanus: Auf seinen Tod folgt eine allgemeine Verfolgung der Urgemeinde, die allerdings nicht die Apostel selbst traf (Apg 8,1. 4). Schleiermacher nennt sie eine „wohlthätige Zerstreuung“: „Dies Martyrerthum scheint zu einer allgemeinen Maaßregel Anlaß gegeben zu haben und es wurde dies ein wichtiger Anlaß, das Christenthum weiter zu verbreiten und den eigentlichen hellenischen Provinzen näher zu bringen.“41

Die Gemeinde beginnt, nach außen zu treten. Philippus geht nach Samarien und fängt dort – nicht im Auftrag der Jerusalemer Apostel, sondern aus eigenem Antrieb – an, zu missionieren. Die Gemeindegründung durch ihn (Apg 8,5–13) geht erstmals über das Judentum hin­ aus und weist voraus auf die Heidenmission: Die Samariter waren zwar keine Heiden, galten den Juden aber als Fremde; Christus freilich hatte schon das Beispiel gegeben für die Hinwendung zu ihnen ( Joh 4,4–42). Indem nun die Judenchristen mit den Christen aus den Samaritern volle Gemeinschaft hatten, Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  476): Danach gab es die Gütergemeinschaft, aber nur für den kurzen Zeitraum, als das neue christliche Gemeinschaftsgefühl so stark war, daß die Hausund Familienverhältnisse ihm gegenüber ganz zurücktraten. 40 Das ist offenbar der Sinn des etwas unklaren Satzes: „Daß die messianischen Hoffnungen auf vieles äußere gegründet waren, ist gewiß; wäre aber das unreine nicht bald aufgehoben worden durch die Predigt der entgegengesezten Partei: so wäre das Christenthum nicht geschichtlich geworden, der Glaube an die äußerliche Wiederkehr Christi hätte sich nicht erhalten können.“ (Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  704) Vgl. dazu auch Ueber die Religion, 3.  Aufl., Berlin 1821, S.  439 (Erläuterung 11 zur 5. Rede) (KGA I/12, S.  306); Der christliche Glaube2 2, §  160 (KGA I/13,2, S.  471–473). 41  Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.  2 8. 493); vgl. auch Predigt 441 (20.8.1820) über Apg 11,19–21 (SW II/10, S.  102–105); Predigt 444 (15.10.1820) über Apg 13,1–3 (SW II/10, S.  147). – Schleiermacher betont in der Kirchengeschichtsvorlesung noch, daß der Anlaß zu dieser Verfolgung nicht aus dem bisherigen Rahmen fiel: Stephanus sei zwar eigentlich Diakon gewesen, also Armenpfleger, aber mit der Predigt vor griechischen Juden, wahrscheinlich in deren Synagoge, griff er nicht ins Amt der Apostel nach Apg 6,4 ein. Stephanus’ Verkündigung, der Tempelkult und das mosaische Gesetz würden enden (Apg 6,9–14), ging noch nicht über den jüdischen Messiasglauben hinaus, denn zu dem gehörte die Erwartung, daß die beschwerlichen Gesetzesvorschriften im Reich des Messias aufgehoben werden sollten. Das anschließende Verfahren, das mit der Steinigung endet (Apg 6,15–8,1), sei wohl eher als tumultuarische Lynchjustiz zu beurteilen denn als ordnungsgemäßes Gericht.

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C.  Materialer Teil

überschritten sie die durch das mosaische Gesetz gezogenen Grenzen und begannen damit, sich vom Judentum zu lösen. Die jüdischen Autoritäten schritten aber deswegen nicht gegen die Christen in Jerusalem ein. Nicht nur die Mission in Samarien geht über das Judentum hinaus, ohne damit schon zu den Heiden vorzudringen: In Cäsarea tauft Petrus den noch unbeschnittenen Proselyten Cornelius (Apg 10).42 Der Zusammenhang mit der jüdischen Urgemeinde wird aber gewährleistet, zunächst, indem Petrus und Johannes nach Samarien reisen und den Getauften dort durch Gebet und Handauflegung den Geist geben (Apg 8,14–17), dann, indem Petrus sich in Jerusalem für seine Gemeinschaft mit Unbeschnittenen rechtfertigt; er erzählt dazu von einer Vision, die er in Joppe im Haus Simons des Gerbers hatte (Apg 11,1–18), doch sei diese Vision nicht gerade als Faktum zu nehmen, sondern als Veranschaulichung dessen, daß er, Petrus, selbst der Gemeinschaft mit Unbeschnittenen widerstrebt habe und erst durch den göttlichen Impetus überwunden worden sei.43 Bei der Apostelreise nach Samarien hält Schleiermacher sich aus kontroverstheologischen Gründen etwas länger auf. Der Konvertit Friedrich Leopold Graf zu Stolberg behauptete, die Apostel hätten mit ihrer Handauflegung den Christen in Samarien das von Christus eingesetzte Sakrament der Firmung gespendet, das ja nicht von Diakonen (wie Philippus) oder Priestern, sondern nur von Bischöfen (wie den Aposteln) vollzogen werden könne. Schleiermacher entgegnet, die Erzählung meine nicht, daß die Verleihung des Geistes der Vermittlung durch die Apostel bedürfe, vielmehr lasse die Apostelgeschichte den Geist bald der Taufe vorausgehen, bald dieser folgen (vgl. Apg 9,17–19; 10,44–48; 19,5 f.). Was sei nun aber mit der Geistverleihung inhaltlich gemeint? Das Handauflegen bedeute sonst die Bestellung Einzelner zum Dienst (z. B. Apg 6,6). Und eben das sei hier letztlich auch gemeint: Indem die Apostel den samaritischen Christen die Hand auflegen, bestätigen und sanktionieren sie die ihnen gegebene Geistesgabe, und diese ist nichts Übernatürliches, Wunderbares, sondern (nach Apg 2,11) das Verkündigen der großen Taten Gottes, „das christliche selbständige Aeußern religiöser Empfindungen“.44 Die angebliche Firmungsreise bedeutet also tatsächlich: Die Apostel erkennen symbolisch an, daß sich der Gemeingeist der Kirche auch in den Neugetauften aus dem Volk der Samariter äußert und daß diese nunmehr selbständige Organe des Geistes sind, die zur Äußerung ihres Gefühls in der christlichen Gemeinde befugt, ja beauftragt sind.45 42  Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.  2 8 f. 493–495). – Die Taufe des äthiopischen Kämmerers durch Philippus (Apg 8,26–39), die hier ebenfalls einschlägig wäre, erwähnt Schleiermacher erst im Zusammenhang der räumlichen Ausbreitung des Christentums (Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde, KGA II/6, S.  30. 497). 43  Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.  2 8 f. 494 f.). Vgl. dazu auch Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.  994 f.). 44  Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.  2 8. 494). Vgl. Kollektaneum 60 (KGA II/6, S.  154): „Ueber das Verhältniß der Geistausgießung zur Taufe und [von] dem Inhalte des ersten muß etwas gesagt werden.“ 45  Ähnlich auch Predigt 439 (30.7.1820) über Apg 8,18–22 (SW II/10, S.  69 f.). Vgl. auch Der christliche Glaube2 2, §  145,1 (KGA I/13,2, S.  414), wonach die dazu bestellten Organe

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Die dritte Entwicklungsstufe, die Hinwendung zu den Heidenvölkern und die absichtliche Verbreitung des Christentums unter ihnen durch Missionsreisen, knüpft sich ebenfalls an die Vertreibung aus Jerusalem: Etliche der Vertriebenen kommen nach Antiochia, und dies wird durch Paulus und Barnabas zum zweiten Zentrum des Urchristentums, zum liberal-heidenchristlichen Gegengewicht zum streng jüdischen Jerusalem (vgl. Apg 11,19–26). Ein Ort größerer Liberalität war Antiochia schon durch das Vorherrschen der Hellenisten unter den dortigen Juden: Diese beobachteten die Gesetzesvorschriften weniger genau als die Juden in Palästina und hielten ohne Bedenken Gemeinschaft mit Proselyten.46 In der Bildung dieses zweiten Hauptpunktes sieht Schleiermacher eine höhere Notwendigkeit für die Kirchengeschichte: „Der 2te Hauptpunkt. Ein solcher war nothwendig theils wegen der Jerusalem bevorstehenden Zerstörung theils weil nur eine überwiegend hellenistische Gemeine ein Gegengewicht bilden konnte gegen den engherzigen jüdischen Geist. Wie fest sich dieser noch in Jerusalem hielt zeigt sich aus der judaisirenden Opposition gegen die Antiochenische Liberalität.“47

In der Nachschrift heißt es, die „göttliche Vorsehung“ sei hier nicht zu verkennen.48 Ob Schleiermacher diesen Ausdruck tatsächlich gebraucht hat oder nicht – gemeint ist, daß „die Kirche oder das Reich Gottes in seiner ganzen Ausdehnung und in der ganzen Folge seiner Entwikklung der Eine Gegenstand der göttlichen Weltregierung“

sei; 49 die Entstehung eines zweiten, freisinnigen und zur Hinwendung zu den Heiden bereiten Zentrums des Christentums ist eins der geschichtlichen Momente, an dem sich zeigt, daß die gesamte natürliche und geistig-geschichtliche Entwicklung der Welt von Anfang an unfehlbar auf diesen Endzweck, die Erlösung der Menschheit durch Christus, hinausläuft. In Jerusalem bildet sich eine Opposition gegen die Liberalität Antiochias, diese aber kann noch einmal ausgeglichen werden: Was für die zweite Stufe die Apostelreise nach Samarien und die Rechtfertigung des Petrus war, ist für die dritte Stufe das Apostelkonzil von Jerusalem. Durch die von Paulus berichtete Vereinbarung findet die gesetzesfreie Mission neben der judenchristlichen Mission des Petrus die Anerkennung der „Säulen“; beide Missionsweisen bestehen ohne Spaltung und gegenseitige Verketzerung nebeneinander, Heidenchristen wie Titus haben volle Gemeinschaft mit den gesetzestreuen Judenchristen (Gal 2,1–10). – Als aber später in Antiochia Abgesandte des Jakobus aus Jerusalem der Kirche die Vollmacht haben, zu beurteilen, „wieviel oder wenig und was dem Einzelnen anvertraut werden kann in der Kirche“. 46  Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.  29. 495) 47  Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  29) 48  Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  496) 49  Der christliche Glaube2 2, §  164 (KGA I/13,2, S.  494–498)

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eintreffen, entziehen sich Petrus, Barnabas und andere plötzlich der Gemeinschaft mit den Unbeschnittenen (Gal 2,11–13). Paulus hält dem Petrus Heuchelei vor: Die Befolgung des Gesetzes habe auch für den Judenchristen keinen religiösen Wert mehr, sie mache „kein Verhältniß mehr […] zwischen Gott und ihm“, sondern gehöre lediglich zu seiner nationalen Identität (Gal 2,14–21).50 Mit dieser Theorie beginnt die notwendige Emanzipation des Christentums von dem geistig-kulturellen Zusammenhang, innerhalb dessen es seine erste Gestalt angenommen hat; das Christentum wird sich seiner Neuheit und Eigenständigkeit gegenüber dem Judentum bewußt. Erinnern wir uns an den in der Sittenlehre aufgestellten Gegensatz zwischen repräsentativem und korrektivem Handeln (vgl. oben Abschnitt 4.3.3.), so handelt Paulus in dieser Auseinandersetzung korrektiv als Einzelner auf das Ganze. Er weiß, daß das Ganze das, was er erkannt hat, noch nicht gleich im vollen Umfang auffassen kann. „Wenn er diese Theorie beim Concilium nur historisch ausführte nicht auch didaktisch so war das große Weisheit; er mußte sich erst Gemeinschaft und Freiheit sichern um allmählich zu wirken. Daher aber ist zu erklären, daß er jener Beschlüsse so wenig erwähnt.“51

Mit seiner gesetzesfreien Heidenmission schafft Paulus die notwendige Basis, um allmählich seine Einsicht zu verbreiten, daß das Christentum sich nicht nur auf dem Boden der jüdischen Kultur und Nation verwirklichen kann. In einer Predigt nennt Schleiermacher diesen Vorgang eine Reinigung des Christentums.52 Die christliche Sittenlehre beruft sich auf den Konflikt um das gesetzesfreie Heidenchristentum, um zu zeigen, daß die Kirchenverbesserung in der christlichen Kirche etwas ganz Allgemeines ist und nicht nur bei den epochalen Umbrüchen der Kirchengeschichte wie der Reformation vorkommt. Kirchenverbesserung ist jedes reinigende Handeln in der Kirche, das nicht vom Ganzen der Kirche bzw. von seiner Repräsentation ausgeht, sondern von Einzelnen (vgl. oben Abschnitt 4.2.3. und 4.3.3.). Und in diesem Sinne beurteilt Schleiermacher die Zwecke beider Seiten in diesem Streit als Reinigen und Wiederherstellen, also nicht nur das Streiten des Paulus für eine gesetzesfreie Mission unter den Heiden, sondern auch das Bestreben der Judaisten, in der Kirche die Befolgung des Gesetzes verbindlich zu machen. Denn beide Seiten handelten auf das Ganze der Kirche, ohne deren Repräsentation zu sein, und beiden ging es nicht um die Einführung von etwas Neuem, sondern darum, das Ursprüngliche vor Verdunkelung zu bewahren und wiederherzustellen; nur war die Ansicht jeweils verschieden, was das Ursprüngliche war: Die Judaisten „gingen von der Idee aus, daß das Christenthum im Judenthume entstanden, und also nur eine Modification desselben sei. Es sei aber abgewichen von dieser seiner ursprünglichen Tendenz, indem es für einen Theil seiner Bekenner die Verbindlichkeit des mosaischen Gesetzes leugne. Folglich bedürfe es der Wiederherstellung, nämlich der Rükk­bildung zu der Vorstellung, das mosaische 50 

Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  29 f. 496) Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  30, vgl. 496) 52  Predigt 441 (20.8.1820) über Apg 11,19–21 (SW II/10, S.  106–108) 51 

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Gesez sei für alle Christen ohne Unterschied verbindlich.“ Paulus hingegen (dem sich Schleiermacher natürlich anschließt) sah die Selbständigkeit des Christentums vom Judentum als ursprünglich an, nur sei sie dadurch in Vergessenheit geraten oder noch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß zunächst eben alle Christen Juden gewesen seien und als solche das Gesetz gehalten hätten. Indem Paulus also darauf bestand, daß auch Chri­ sten, die das jüdische Gesetz nicht hielten, als Christen anerkannt werden müßten, wirkte er zugleich auf das Ganze reinigend dahin, daß es mit ihm „Christenthum und Judenthum gehörig unterscheide“. Streit um das rechte Verständnis und die Wiederherstellung des ursprünglich Christlichen wie den zwischen Paulus und den Judaisten gebe es fast zu allen Zeiten der Kirchengeschichte, und eben in ihm bestehe die Beweglichkeit der Kirche; ihr Fortschreiten zur Vervollkommnung entstehe aus entgegengesetzten Elementen, denn jede neue Bewegung erscheine den einen als Fortschritt, den anderen als schädliche Neuerung. Ohne solchen Streit gäbe es nur Zeiten der Stagnation und Unbeweglichkeit oder aber Zeiten der Begeisterung, in denen ein kräftiger Impuls zur Fortschreitung wirke, die aber nie lange dauerten.53

6.2.2.  Verfassung, Verbreitung und inneres Leben der Kirche 6.2.2.1. Kirchenverfassung Höher entwickelte Religionsgemeinschaften organisieren sich durch den Gegensatz von Klerikern und Laien, und der Einzelne ist, je nachdem, ob er sich bei der religiösen Mitteilung vor allem selbsttätig und leitend oder vor allem passiv verhält, jenes oder dieses (vgl. oben Abschnitt 3.3., 4.2.1. und 4.2.3.). Trotz Hinweisen im Neuen Testament, daß jeder die Befugnis zum Lehren gehabt habe (besonders 1 Kor 11,2–16; 14), meint Schleiermacher, „daß von Anfang an das Lehren ein kirchliches Amt war“. In freien Zusammenkünften der Christen habe sich allerdings jeder, der den Drang dazu verspürt habe, aussprechen können. Für den geregelten Kult aber sei es notwendig gewesen, daß dort „Männer auftraten, die beständig fähig waren, ihren Gemüthszustand auszusprechen und zu lehren […] Wenn man sich diese Theilung [zwischen freien Zusammenkünften, bei denen jeder seinem Impuls folgend einen selbständigen Anteil an der Darstellung haben konnte, und dem Kultus zu festgesetzten Stunden, wo nur damit beauftragte Amtsträger lehrten] nicht denkt, woher sollten die Indicia gekommen sein, daß Einer die Fähigkeit des Lehrens in dem Grade habe, daß sie ihm nie fehlen werde?“54 Die Apostel waren von Christus selbst in ihre Funktion als Kleriker eingesetzt worden; neben ihnen wurde schon in der Urgemeinde ein weiteres Amt eingerichtet, das der Diakonen (Apg 6,1–6). Für die Zeit des Apostelkonzils setzt die Apostelgeschichte die Existenz eines dritten Amtes voraus, des Ältesten- oder Presbyteramtes (Apg 15,4). Dar­ aus schließt Schleiermacher, daß damals die Apostel nicht mehr wie in Apg 6,4 das Lehramt in einer Gemeinde innehatten, sondern es an Presbyter delegiert hatten und 53 

54 

Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  178–181) Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  709 f.)

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C.  Materialer Teil

selbst übergemeindlich wirkten. Den Monepiskopat habe es noch nicht gegeben, Presbyter und Bischöfe seien im Neuen Testament noch dasselbe.55 Über die übergemeindlich-charismatischen Ämter macht Schleiermacher einige Mutmaßungen. Bei den Aposteln sei trotz dem akkuraten Verfahren bei der Wahl des Matthias (Apg 1,15–26) wohl bald nicht mehr so genau auf die Zwölfzahl gehalten worden, jedenfalls würden später Paulus und Barnabas ohne weiteres Apostel genannt (Apg 14,14). Vielleicht hänge es damit zusammen, daß das Christentum allmählich außerhalb Israels mit seiner symbolischen Zwölfzahl der Stämme eine größere Bedeutung gewonnen habe. Über die sonst noch erwähnten Ämter, Evangelisten, Propheten und Lehrer (1 Kor 12,28; Eph 4,11), referiert Schleiermacher die Meinungen Theodorets von Cyrus und Semlers: Sie seien nicht an einen Ort gebunden gewesen und hätten gelehrt, wahrscheinlich dann, wenn die Apostel nach der Gemeindegründung weitergezogen seien. Zu den Evangelisten passe diese Vermutung tatsächlich, meint Schleiermacher, denn ihr Name lege ja nahe, daß sie sich mehr mit dem Erzählen aus dem Leben Christi als mit der eigentlichen Missionspredigt abgegeben hätten. Ob allerdings alle Apostel Missionsreisen gemacht hätten, wisse man ja auch nicht sicher. Die Propheten seien wohl vorübergehend von höherer Begeisterung nach Art der alttestamentlichen Propheten ergriffen gewesen. Vielleicht verdankten sich die langen Ämterkataloge aber auch einfach dem hyperbolischen Stil der Briefpassagen.56

Gab es in der christlichen Kirche also von Anfang Amtsträger, die den Laien gegenüberstanden und deren Funktion besonders in der Lehre bei der geregelten kultischen Darstellung bestand, so wird dieses Bild ergänzt durch den Bericht der Apostelgeschichte über das Apostelkonzil (Apg 15,4–29): Hier waren nicht nur die Kleriker tätig, sondern auch die Laien. Dies sei wichtig gewesen, denn nur indem man die ganze Gemeinde an der Beratung und Beschlußfassung beteiligt habe, habe man die Gewähr dafür gehabt, daß die auf dem Konzil zwischen der liberalen Missionspraxis der Antiochener und dem strengen Judentum der Jerusalemer erzielte Verständigung wirklich vom Gemeingeist des palästinischen Judenchristentums mitgetragen worden sei.57 Diese Einschät55  Kirchengeschichte

1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  30. 496). – Die Vorlesung von 1825/26 vermutet die ursprüngliche Funktion des Presbyteramtes mehr im Gebiet der Verwaltung, da innergemeindliche Konflikte nach 1 Kor 6,1–8 nicht vor heidnischen Instanzen geschlichtet werden sollten; doch sei damit auch das Lehramt verbunden gewesen (Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde, KGA II/6, S.  494; Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  709 f.; Kollektaneen 59–61, KGA II/6, S.  154). 56 Kirchengeschichte 1821/22, 10. Stunde (KGA II/6, S.   29 [mit Nachtrag 1825/26]. 495); Kollektaneen 95–98 (KGA II/6, S.  161 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  711 f.); Predigt 157 (29.8.1830) über Eph 4,11 f. (Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, S.  122– 124; KSP 3, S.  91–93); Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  58 (SW I/8, S.  205 f.) 57  Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  3 0. 496 f.); vgl. auch Predigt 445 (29.10.1820) über Apg 15,22–31 (SW II/10, S.  165–168). Allerdings kann Schleiermacher auch die Geistlichen auffordern, die Laien von der Teilnahme an theologisch-dogmatischen Fachdebatten abzumahnen (Ueber die Religion 3, S.  330 f. [Erläuterung 14 zur 4. Rede], KGA I/12, S.  234). Bei der auf dem Apostelkonzil verhandelten Frage handelt es sich für ihn aber offenbar um etwas, das alle, nicht nur die Fachleute angeht.

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zung ist insofern bemerkenswert, als es für Schleiermacher ja außer Frage steht, daß das strenge Judenchristentum in dieser Kontroverse im Unrecht war. Trotzdem kann ein Streit eben nicht dadurch geschlichtet werden, daß eine Seite der anderen ihre Meinung aufnötigt, selbst wenn sie in der Mehrheit ist und recht hat, sondern nur dadurch, daß sich die bessere Einsicht im freien Meinungsstreit allmählich durchsetzt und vom Gemeingeist angenommen wird (vgl. oben Abschnitt 4.3.3.). – Schleiermacher bedauert, daß das Apostelkonzil mit seiner Partizipation der Laien nicht für die späteren Synoden und Konzile beispielhaft wurde.58 Der organisierte Zusammenhang unter den Gemeinden bestand in den Reisen dieser übergemeindlichen Amtsträger und im schriftlichen Verkehr.59 Die Vorlesung von 1825/26 untersucht in diesem Zusammenhang die literarischen Gattungen des Urchristentums und ihren Sitz im Leben. Die apostolischen Briefe seien teils Gelegenheitsschriften, die sich nur auf die individuellen Verhältnisse der Adressaten bezogen (so der erste Korintherbrief ), teils sollten sie auch anderen Gemeinden mitgeteilt werden (vgl. Kol 4,16), teils waren sie Rundbriefe an mehrere Gemeinden, von denen jede sich eine Abschrift machen sollte (so der erste Petrusbrief ). Durch das Abschreiben und Weitergeben hätten sich sowohl Einzelne als auch Gemeinden Briefsammlungen angelegt, und die Gemeinden hätten sich so allmählich einen Kanon gebildet, aus dem im Gottesdienst nach den alttestamentlichen Perikopen Abschnitte verlesen worden seien. Die Evangelien seien dagegen wohl erst Werke der zweiten Generation: Zunächst sei die Lebensgeschichte Christi von Aposteln, Augenzeugen und Evangelisten mündlich weitergegeben worden; zur Verschriftlichung habe es weder einen Bedarf gegeben, noch hätten die Apostel die dafür nötige Zeit gehabt, noch auch hätten Abschreiber (librarii) zur Verfügung gestanden. Erst später seien die Erzählungen von literarisch gebildeten Christen aufgezeichnet und gesammelt worden, so erkläre sich die mosaikartige Gestalt der synoptischen Evangelien. Nur das Johannesevangelium sei einheitlich und habe einen Apostel zum Verfasser, aber es sei nach glaubwürdiger Überlieferung ein Werk des Alters, der Muße und Reflexion.60

58  Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  3 0. 496). Vgl. dazu auch unten Abschnitt 6.3.1.4., 7.2.1. und 9.2.2.4. 59  Kirchengeschichte 1821/22, 12. Stunde (KGA II/6, S.  32); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  127 f. 707). Die Vorlesung von 1821/22 erwähnt als weiteres Moment des übergemeindlichen Zusammenhanges auch die ökumenischen Kollekten für die Urgemeinde in Jerusalem, die im Neuen Testament tatsächlich eine nicht geringe Rolle spielen (vgl. Apg 11,29 f.; 24,17; Röm 15,25–27; 1 Kor 16,1–3; 2 Kor 8 f.; Gal 2,10): Paulus habe mit der Kollekte Jerusalem als die allgemeine Muttergemeinde anerkannt, bei den anderen aber dürfte eher deren tatsächliche Armut und die Absicht, etwaigen judenchristlichen Eifer zu beschwichtigen, das Hauptmotiv gewesen sein. 60  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  128. 710–713). Vgl. dazu auch Kirchengeschichte 1821/22, 14. Stunde, Zusatz aus der Nachschrift (KGA II/6, S.  35), wo Schleiermacher es für möglich hält, daß die synoptischen Evangelien jünger seien als die apokryphen, da jene schon eine bessere Ordnung des zunächst nur mündlich überlieferten Stoffes böten als diese; ferner Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  21; 56–58; 61 (SW I/8, S.  73 f. 195–209. 217–224); Ueber die Zeugnisse des Papias, S.  762–768 (KGA I/8, S.  250–254).

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C.  Materialer Teil

Ein Streitpunkt zwischen den Konfessionen ist die Frage, ob Einheit und Zusammenhang der Kirche im Urchristentum auch im Primat des Petrus bestanden habe, der sich, so die römisch-katholische Lehre, dann in der Institution des Papsttums fortsetze. Ganz leugnen könne man die Sonderstellung Petri nicht, schreibt Schleiermacher, aber sie sei ganz an seine Person gebunden und nicht an ein angebliches petrinisches Amt, sei also mit dem Tode Petri und dem Ende der apostolischen Autorität ebenfalls erloschen. Ferner seien die Apostel keine Bischöfe gewesen, Petrus also auch nicht der von Rom; wäre er das aber gewesen, so wäre er vorher auch Bischof von Antiochien gewesen, und auch das antiochenische Bistum wäre der Stuhl Petri. Schließlich aber sei gar nicht klar, worin der Vorrang Petri zu seinen Lebzeiten eigentlich bestanden habe: In Jerusalem hätten neben ihm auch der Herrenbruder Jakobus und Johannes Zebedäi als Säulen gegolten (Gal 2,9), für die Taufe des Cornelius habe Petrus sich rechtfertigen müssen (Apg 11,1–18), beim Apostelkonzil habe er keine hervorragende Stellung (Apg 15,6–29), in Antiochia habe Paulus ihm öffentlich widersprochen (Gal 2,11–21), und mit der Anerkennung der liberalen paulinischen Missionsmethode und der Teilung der Missionsgebiete (Gal 2,7–9) sei der Primat ohnehin im Abnehmen begriffen gewesen.61

6.2.2.2.  Verbreitung und Ausdifferenzierung In der Sittenlehre sagt Schleiermacher, bei der starken verbreitenden Kraft des Christentums im apostolischen Zeitalter seien die Differenzen eher ausgeglichen als ausgebildet worden.62 Die Extension, wie sie hier vorherrscht, ist für ihn mehr das Prinzip der Einheit, die intensive Vertiefung aber dasjenige der Ausdifferenzierung (vgl. oben Abschnitt 4.3.5.). Trotzdem nimmt die Kirche auch schon im apostolischen Zeitalter verschiedene Gestalten an. Durch das Abkommen über die gesetzesfreie Heidenmission (Gal 2,7–9) wird sanktioniert, daß die Missionare und Gemeinden sich verschieden zur Gesetzesfrage stellen konnten und einander dennoch als christlich anerkannten. Danach konnte jeder, auch wer selbst als Jude das Gesetz hielt, unter den Heiden nach der liberalen paulinischen Methode missionieren; wer das nicht wollte, beschränkte seine Wirksamkeit auf vor allem judenchristliche Gemeinden in und außer Palästina.63 Die Glaubenslehre nimmt diesen Konflikt als Beleg dafür, daß der Satz, in der sichtbaren Kirche gebe es immer und überall Keime von Spaltungen, auch schon für das Urchristentum gilt: Wo die Kirche sichtbar in Erscheinung tritt, da nimmt sie auch die verschiedenen Eigenarten dessen an, was der Geist zu seinem Organ macht, und setzt sich mit sich selbst in Gegensatz. Aus solchen Gegensätzen entstünden freilich erst da Kirchenspaltungen, wo sich die einzelnen Keime zu Massen zusammenfügten. Im Urchristentum habe es ein solches die Massen vereinigendes und voneinander abstoßendes Moment tatsächlich gegeben, es sei der frühere religiöse Zustand der ersten Christen als Heiden bzw. als Juden gewesen. Daß die Kirche sich damals trotzdem nicht in eine jü61  Kirchengeschichte 1821/22, 12. Stunde (KGA II/6, S.  33); vgl. auch Kirchliche Statistik 1827, 17. Stunde (KGA II/16, S.  248). 62  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  136) 63  Kirchengeschichte 1821/22, 12. Stunde (KGA II/6, S.  32)

6.  Die erste Periode

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disch-gesetzesobservante und eine heidnisch-liberale Partialkirche gespalten habe, sei nur dem damals noch in ursprünglicher Stärke wirksamen gemeinschaftsbildenden Prinzip in der Kirche zu verdanken.64

Die beginnende individuelle Ausdifferenzierung in der Erscheinung des Christentums stellt Schleiermacher auch auf anderen Ebenen fest: Innerhalb der Gemeinden machen sich zwischen den Einzelnen die alten äußeren Verhältnisse geltend, neben dem heidnisch-jüdischen Gegensatz auch der Gegensatz zwischen den sozialen und ökonomischen Schichten; das Christentum selbst hat demgegenüber eine Tendenz, diese eingeschleppten Gegensätze auszugleichen. Das macht Schleiermacher besonders am Abschnitt Jak 2,2–9 fest, der davor warnt, Angesehene und Reiche in der Gemeinde höher zu achten als Arme, der also voraussetzt, daß derlei in den Gemeinden vorkam, und der diesem die christliche Maxime entgegenhält, Gott beurteile die Person nicht nach ihrem Rang in der Welt.65 Auch die großen Regionen beginnen, sich unabhängig voneinander und verschieden zu entwickeln. Schleiermacher unterscheidet für das Urchristentum das judenchristliche Palästina, das übrige Römische Reich und das von den Gemeinden im römischen Machtbereich politisch getrennte Christentum im parthischen Reich.66 – Daß Paulus und Barnabas sich nach ihrer gemeinsamen Missionsreise trennen, um fortan verschiedene Wege zu gehen (Apg 15,37–40), zeigt schließlich, daß auch das Individuelle der einzelnen Persönlichkeiten an Bedeutung gewinnt. Die Apostel stehen zwar zunächst noch ganz unter dem Eindruck der Persönlichkeit Christi und geben weiter, was sie von dem einen schlechthin hervorragenden Einzelnen empfangen haben; doch allmählich tritt auch ihre Individualität hervor und wird selbst zum Organ des Geistes. Zwei so bedeutende Persönlichkeiten wie Paulus und Bar­ nabas wirkten also besser jeder auf seinem Gebiet, statt daß sie gemeinsam wirkten und sich dabei mit ihren je eigenen Gaben gegenseitig hemmten.67 6.2.2.3.  Lehre und Irrlehre Auch in der Lehre des Urchristentums zeigen sich verschiedene Typen, auch hier beginnt die individuelle Ausdifferenzierung. Schleiermacher unterscheidet den paulinischen Typ mit seinen dialektisch-spekulativen Erörterungen, den johanneischen Typ, bei dem die innerliche Erkenntnis Christi und die Subjek64 Der christliche Glaube2 2, §   150,1 (KGA I/13,2, S.   435 f.). Vgl. auch Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  89). 65 Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   127 f. 708 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  128); Kollektaneum 97 (KGA II/6, S.  162) 66  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  706–708). – Zur genauen Verbreitung des Christentums in dieser Zeit macht Schleiermacher einige Mutmaßungen, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.  30 f. 497 f.). 67 Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde (KGA II/6, S.   30. 497); Kollektaneum 66 (KGA II/6, S.  156); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  325)

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tivität der Gläubigen im Mittelpunkt steht, den Hebräerbrief mit seiner Allegorisierung des Alten Testaments und den relativ schlichten, gnomischen (d. h. sich in kurzen Lehrformeln ergehenden) Typ z. B. des ersten Petrusbriefes. Diese verschiedenen Lehrtypen vertrugen sich aber untereinander als Äußerungen des ihnen gemeinsamen einen christlichen Prinzips; zum Wesen des Kanons gehört es, verschiedene Lehrweisen zu vereinigen und als apostolische Lehrgrundlage der Kirche anzuerkennen.68 Die schnelle Verbreitung des Christentums bringt es unvermeidlich mit sich, daß die intensive Aufnahme mit ihr nicht Schritt hält, daß also Fremdes in die Kirche eindringt und sich in mancherlei Abweichungen in Lehre und Sitte äußert, die den durch das apostolische Kerygma legitimierten Bereich verlassen. Traditionell gilt Simon Magus als geistiger Vater aller Häresien und steht an der Spitze der Ketzerkataloge. Schleiermacher erwähnt Simon in anderen Zusammenhängen, zunächst bei der Mission des Philippus unter den Samaritern, denen er bescheinigt, sie hätten zu jener Zeit eine Neigung zu Schwärmereien und religiösen Extravaganzen gehabt, und dann als Beleg dafür, daß das Christentum unter den Samaritern bald untergegangen sei. Über Simon Magus prüft Schleiermacher kritisch die Nachrichten aus der Apostelgeschichte (8,9–24), Justin und der pseudoclementinischen Literatur nebst einigen gelehrten Hypothesen. Die in den pseudoclementinischen Recognitionen überlieferte Disputation zwischen Simon Magus und Petrus verwirft Schleiermacher: Sie enthalte spätere Ideen. Anhand der anderen Quellen meint er, Simon habe, indem er sich als die große Kraft Gottes bezeichnete, eine Mischung aus israelitisch-samaritischen Messiasvorstellungen und (platonisch-gnostischen) Emanationsideen auf sich bezogen. Christ sei Simon Magus (trotz Apg 8,13) wohl nie gewesen,69 und insofern gehöre er auch nicht in die christliche Ketzergeschichte.70 An innerchristlichen Lehrabweichungen nennt Schleiermacher die Behauptung, die Auferstehung sei schon geschehen (2 Tim 2,18), und die Leugnung, daß Christus im Fleisch gekommen sei (2 Joh 7). Die erste sei vielleicht ihrerseits schon die Gegenreaktion auf eine verbreitete allzu sinnlich-diesseitige Erwartung von der Wiederkunft Christi; die doketische Bestreitung der Inkarnation wiederum komme entweder aus außerchristlichen Emanationsideen oder, was wahrscheinlicher sei, sei Ausdruck einer übermäßigen Verehrung Christi, die alles irdische und niedrige von ihm habe fernhalten wollen, die damit aber nach dem Urteil des Johannes die Lebensgemeinschaft mit Christus in Frage stelle. – Daneben gab es auch auf dem Gebiet der Sitte Extravaganzen: Ehemalige Heiden nahmen es mit sinnlichen Ausschweifungen oft nicht so genau und hielten die Strenge in diesem Punkt für etwas rein Jüdisches, das für sie ebenso wenig 68  Kirchengeschichte 1821/22, 13. Stunde (KGA II/6, S.  3 4); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  704) 69  Kirchengeschichte 1821/22, 10. und 15. Stunde (KGA II/6, S.  2 8. 37 f. 493 f.); Kollektaneen 12; 62; 67; 124; 133 (KGA II/6, S.  145. 155 f. 168. 170) 70  Bei der Präparation der Vorlesung von 1825/26 prüfte Schleiermacher die These, daß der bei Josephus erwähnte jüdische Zauberer Simon aus Zypern mit Simon Magus identisch sei (Kollektaneum 110, Nachtrag, KGA II/6, S.  164). Vgl. auch Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  82–84), wo es heißt, Simon sei ein ganz fabelhaftes Wesen, das wegen seiner samaritischen Herkunft erst als Abweichler vom Judentum gegolten habe, dann als angeblicher Christ zum Häresiarchen aufgebaut worden sei.

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verbindlich sei wie das mosaische Zeremonialgesetz; sie wollten also unter dem Schein der christlichen Liberalität „den alten Leichtsinn retten“. Als Reaktion auf solchen Libertinismus kam es auch hier zu entgegengesetzten Extremen, nicht nur zur jüdisch-gesetzlichen Strenge, sondern auch zu einem ganz unjüdischen „System der Abstinenz“, das die Ehe und alles Weltliche insgesamt verwarf.71

Als Systematiker kennt Schleiermacher vier „natürliche Kezereien am Christenthum“, zwei judaisierende und zwei hellenisierende oder ethnisierende. Die judaisierenden Ketzereien sind der Nazoräismus oder Ebionitismus, der Christus weitgehend den anderen Menschen gleichstellt, und der Pelagianismus, für den die Menschheit eines Erlösers im Grunde nicht bedarf; die hellenisierenden Ketzereien sind der Doketismus, für den Christus kein wahrer Mensch ist, und der Manichäismus, für den die menschliche Natur so verdorben ist, daß sie nicht erlöst werden kann.72 Die von Schleiermacher genannten dogmatischen und ethischen Abweichungen im Urchristentum liegen alle auf der hellenisierenden Seite, bestehen also in der Abwertung der menschlichen Natur als der Erlösung und Heiligung und der Gemeinschaft mit dem Erlöser nicht teilhaftig. Offenbar ist Schleiermacher der Meinung, daß das Judaisierende im Urchristentum noch keine Ketzerei ist, sondern noch innerhalb des auf dem Apostelkonzil gestifteten Konsenses liegt. Erst auf einer späteren Entwicklungsstufe des christlichen Bewußtseins wird das Nazoräische und dann auch das Pelagianische als häretisch ausgeschieden.

6.2.3.  Bedeutung des apostolischen Zeitalters Mit dem apostolischen Zeitalter beginnt die Ausbreitung des christlichen Prinzips in der Menschheit. Die Entwicklung steht hier noch ganz am Anfang, die Idee ist von ihrer Verwirklichung noch am weitesten entfernt; andererseits hat das christliche Prinzip in seiner frühesten Äußerung, den Schriften des Neuen Testaments aus dem apostolischen Zeitalter, seine reinste und für die späteren Perioden kanonische Darstellung gefunden. So weist Schleiermacher es zurück, das, was in den neutestamentlichen Briefen an Unarten bekämpft wird, der Unvollkommenheit und Schwäche des frühen Christentums selbst zuzuschreiben und nicht der nur langsam sich vollziehenden Aufnahme des Christentums in den jungen Gemeinden. Andererseits sei eine solche Herabsetzung des Urchristentums auch wieder verständlich, nämlich als Reaktion auf seine noch viel weiter verbreitete Idealisierung, die ihm geradezu die Sündlosigkeit Christi

71 Kirchengeschichte 1821/22, 13. Stunde (KGA II/6, S.   33 f.); vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  127), wo Schleiermacher die einander entsprechenden falschen Extreme in der Eschatologie als Idealismus und Chiliasmus bezeichnet und vermutet, daß zwischen Doketismus und laxer Moral ein Zusammenhang bestehe. 72  Der christliche Glaube2 1, §  2 2,1–3 (KGA I/13,1, S.  155–160)

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selbst zugeschrieben habe.73 In der Sittenlehre kann Schleiermacher sich auf die im Neuen Testament dokumentierte Praxis des apostolischen Zeitalters als die der „normalen [d. h. normgebenden] Geschichte“ berufen.74 In der Glaubenslehre heißt es dazu, der neutestamentliche Kanon sei die erste und maßgebliche Darstellung der christlichen Frömmigkeit und der Typus für jegliche religiöse Gedankenerzeugung im Christentum, sei diese nun mehr künstlerisch-dichterischer, mehr rhetorischer oder mehr dialektisch-systematischer Art. Die kanonischen Schriften gälten nämlich insofern zu Recht als inspiriert, als sie Anteil hätten an der Inspiration mit Christi Geist, die die Apostel in ihren Umgang mit Christus und im Glauben an ihn empfangen hätten. Für die Späteren entspreche der Kanon seiner Funktion nach der Unterweisung durch Christus, wie sie die Apostel genossen hätten. Und so sei der Kanon die Norm, an der alle späteren Entwicklungen zu prüfen seien, nicht in dem Sinne, daß etwas christlich sei, weil es im Neuen Testament stehe, sondern in dem Sinne, daß etwas im Neuen Testament stehe, weil es christlich sei.75 Das neutestamentliche Schriftprinzip und die normative, kanonische Bedeutung des Urchristentums bedeuten also letztlich nichts anderes als die Unüberbietbarkeit und Alleinmittlerschaft Christi.76 Und für eine organische Geschichte des Christentums ist im neutestamentlichen Zeugnis die Ursprungsidee und Kraft gesetzt, die das Ganze bestimmt.77 Wie stimmt die normative Geltung des Urchristentums mit der Idee des Fortschreitens in der Kirchengeschichte zusammen? Die äußere Verbreitung der Kirche, das Wachstum ihrer geschichtlichen Erscheinung, erklärt Schleiermacher in der theologischen Enzyklopädie, sei einerseits ein Erweis der zunehmenden geistigen Kraft des Christentums; andererseits kämen durch sie aber auch immer fremde, krankhafte Elemente in die Kirche, die es in den früheren Momenten noch nicht gegeben habe. Als die christliche Gemeinde nur aus den Aposteln bestanden habe und die jüdischen und heidnischen Irrtümer noch außer ihr gewesen seien, sei sie am zwar reinsten, aber eben auch am schwächsten gewesen. Und so sei es mit jeder äußeren Verbreitung der Kirche: Sie bringe Fremdartiges, Unchristliches in die Kirche, aber stärke die Kirche auch; 73  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   708). Vgl. Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  377): „Der apostolischen Kirche absolute Vollkommenheit zuzuschreiben, ist irrig. Nur Christus ist absolut vollkommen.“ 74  Christliche Sitte 1831, 62. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  176 [Nachschrift]; vgl. 174 f. [Manuskript]); vgl. Christlichen Sitte von 1822/23 (SW I/12, S.  379 f.), wo sich Schleiermacher ebenfalls auf das Urchristentum beruft, allerdings für das genaue Gegenteil (hier sagt er, schon das Urchristentum habe eine Art von Missionswesen gekannt). 75  Der christliche Glaube2 2, §  128,3; 129; 130,2; 131,2 (KGA I/13,2, S.  319–336) 76  Vgl. Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  377 f.): „Nur Christus ist absolut vollkommen. Freilich, unsere Erinnerung an das, was Christus gesagt hat, ruht auf der Erinnerung der Apostel, und in sofern müssen wir immer von ihnen ausgehen und auf sie zurückkommen.“ Vgl. auch oben Abschnitt 3.6. und 4.1. 77  Vgl. Predigt 60 (25.6.1820) über Apg 4,13–21 (SW II/4, S.  106)

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die Stärkung bestehe nicht nur in der quantitativen Zunahme, sondern auch in der notwendige Assimilation des Fremden, „welches eine gewisse Virtuosität des Wirksamen ist“, also eine Übung darin, das Christentum äußerlich und innerlich zu verbreiten.78 Die quantitative Verbreitung des Christentums zieht somit eine Verunreinigung und Trübung nach sich, aber damit auch eine intensive Steigerung, die ihrerseits zu neuer Extension führt. Zur intensiven Steigerung gehört dabei offenbar auch die allmähliche Entwicklung der Lehre, die das, was im Neuen Testament angelegt ist, entfaltet und systematisiert. „Aber in der Erkenntniß dessen, was Christus ihnen gesagt hat, mußten sie [die Christen des apostolischen Zeitalter] und können wir immer zunehmen“.79 Aus einer Passage der Kirchengeschichte von 1825/26 erhellt, in welchem Sinne es für Schleiermacher eine Entfaltung der Lehre und eine Zunahme der Erkenntnis über das Neue Testament hinaus gibt. Er legt dar, daß vieles in der Lehre der Apostel noch unentwickelt und unausgebildet gewesen sei und man das auch gar nicht anders erwarten könne: „Wir meinen das so, Wenn wir unsere Dogmatik nähmen und Petrus oder Paulus fragten, Habt ihr euch das so oder so gedacht? so würden wir keine Antwort bekommen, sondern sie würden sagen, Wir sind ins einzelne nicht eingegangen.“ Wer das nicht erkenne, falle in eins von zwei falschen Extremen: Entweder verwerfe er die kirchliche Lehre, weil sie sich so nicht in der Bibel finde, oder er leite die kirchliche Lehre direkt aus der Bibel ab bzw. lese sie in die Bibel hinein und mache sie zum hermeneutischen Maßstab seiner Auslegung. Tatsächlich liege unsere Dogmatik aber auf einer späteren Entwicklungsstufe des Christentums. Über die Rechtfertigung allein aus Glauben und ohne Gesetzeswerke lehre Paulus aus gegebenem Anlaß mit großer dialektischer Schärfe und viel Polemik; eine systematische Lehre könne man daraus direkt nicht gewinnen. Über Person und Geschäft Christi wiederum spreche er in Wendungen, die sich auf die späteren dogmatischen Positionen nicht festlegen ließen: „Wenn wir Paulus fragten, Wie hast du dir das ἴσα θεῷ [Phil 2,6] gedacht, athanasianisch oder sabellianisch, oder mehr in der Analogie wie der Geist Gottes in den Propheten war? so würde Paulus, wenn er daran Anstoß nähme, wol eine Antwort geben oder er würde sagen, daß er auf solche Einzelheiten nicht gekommen wäre.“ Zu den späteren Modifikationen verhalte sich das Neue Testament neutral; wenn man aufweisen könne, daß die kirchliche Lehre sich aus dem Neuen Testament natürlich weiterentwickelt habe, sei sie damit hinreichend legitimiert.80 78  Theologische

Enzyklopädie 1831/32, §  83 (hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  86 f.) 79  Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  378) 80  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  704–706). Vgl. auch Oratio in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi die III. Novembris A. MDCCCXVII. habita, in: Orationes in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi d. III. Novembr. A. MDCCCXVII. habitae, Berlin o.J. (1817), S.  14–27, hier 21 (KGA I/10, S.  10): „Alteri [scil. die Protestanten] ex primaevi temporis scriptis, plenis quidem spiritus sancti, sed quae semina tantum dogmatum continerent, ipsa dogmata christianaeque doctrinae compagem struere […] conarentur“; Hermeneutik und Kritik 1826/27, 28. Stunde (KGA II/4, S.  533).

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Das ist für Schleiermacher aber eben auch nicht beliebig: Unter den Positionen zum Verhältnis zwischen Vater und Sohn, die für sich beanspruchen können, eine organische Weiterentwicklung der neutestamentlichen Anfänge zu sein, zählt er in der oben zitierten Passage die Trinitätstheologie (Athanasius), den Monarchianismus (Sabell, wahrscheinlich ist darin auch Marcell von Ancyra inbegriffen) und den Adoptianismus oder Dynamismus (Inspiration durch den Geist nach Art der Propheten); nicht genannt wird der Arianismus.

Insofern heißt es in der Glaubenslehre einerseits, Kanon und apostolisches Zeitalter seien die gemeinsame Basis aller späteren Kirchen und damit zugleich das Band der Einheit unter ihnen. Sie dürften nicht von einer exklusiv für sich beansprucht werden; 81 auch eigne sich das Neue Testament nicht als alleiniger Beleg dafür, daß ein Glaubenssatz z. B. spezifisch protestantisch sei, sondern nur für seine Christlichkeit überhaupt, wobei es wiederum eine durchaus protestantische Form sei, bei jedem Glaubenssatz auf die Schrift selbst zurückzugehen. Andererseits aber dürfe die Schrift beim reinigenden Handeln auch einmal polemisch gebraucht werden, um nämlich geltend zu machen, daß Lehre oder Sitte in einer Gemeinschaft nicht mehr auf der gemeinsamen Grundlage alles Christlichen stehe; 82 denn beim reinigenden Handeln geht es ja nicht um eine bestimmte individuelle Gestalt des Christentums wie den Protestantismus, die man anderen aufnötigen will, sondern um das, was überhaupt christlich ist (vgl. dazu oben Abschnitt 4.2.3., 4.3.3. und 4.4.). Das Charakteristikum des apostolischen Zeitalters ist es, daß in ihm alles zusammenfällt: Reinheit und Nähe zu Christus, aber auch Schwäche, geringe extensive Verbreitung und geringe Intensität in der Masse, eine Primitivität, die die Grundlage aller späteren Entwicklungen und Gestalten des Christentums ist. Die Ungleichheit zwischen Klerus und Laien ist in dieser Epoche größer als später, der Geist ist höchst ungleich verteilt. Schleiermacher ist also weit davon entfernt, das apostolische Zeitalter über die späteren Perioden der Kirchengeschichte zu stellen. Das Neue Testament bezeugt vielmehr, daß die damaligen Christen schon alle Unvollkommenheiten hatten, die es auch später gab,83 ja daß die meisten Christen weit hinter den Laien späterer Zeiten zurückstanden. Inmitten der ungeheuren Masse derer, die mit dem Christentum erst in Berührung kommen sollen, und der kleinen Schar derer, die sich um die Apostel sammeln und in die das christliche Prinzip erst allmählich durchdringt, stehen die Apostel als einzelne von Christus belebte, die anderen belebende Punkte.84 Beides liegt in dieser Zeit direkt nebeneinander, das Vollkommenste und das Unvollkommenste, das Kanonische und das „Apokryphische“, das Reine, das

81 

Der christliche Glaube2 2, §  151,2 (KGA I/13,2, S.  439 f.). Vgl. oben Abschnitt 4.4. Der christliche Glaube2 1, §  27,1.3 (KGA I/13,1, S.  175 f. 179 f.) 83  Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  378) 84  Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  325). Vgl. oben Abschnitt 4.5. 82 

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aus dem Geist Christi kommt, und das Fremde, das aus anderen Prinzipien kommt, „als zwei Extreme welche in keinem späteren Zeitalter auf die gleiche Weise wiederkommen können. Denn die kirchlichen Darstellungen müssen sich von dem apokryphischen immer mehr entfernen, weil der Einfluß fremdartiger religiöser Elemente auf die Kirche […] doch in demselben Maaß abnimmt, als der größte Theil der Christen schon im Schooß der Kirche geboren und erzogen wird. Dagegen konnte aber auch die Kirche seitdem das kanonische nicht mehr ereichen […] Nehmen wir daher beides zusammen, kanonisches und apokryphisches, […] so ist im Ganzen betrachtet die spätere Darstellung auch die vollkommnere. Nehmen wir dagegen das kanonische für sich: so trägt dieses eine normale Würde für alle Zeiten in sich.“85

6.3.  Das apologetische Zeitalter In der ersten Periode wird sich das Christentum seiner eigenen Identität bewußt: Es ist keine Modifikation des Judentums oder Heidentums, sondern stellt etwas Eigenes dar. Zunächst in Opposition zu Staat und Gesellschaft stehend, bildet es eine äußerlich und innerlich definierte Glaubens- und Lebensgemeinschaft heraus. So beschreibt es Schleiermacher in seiner kurzen Charakteristik der Perioden (vgl. oben Abschnitt 4.6.2.). Und so hat seine Darstellung dieser Periode zwei Schwerpunkte: Das Christentum behauptet sich in der Welt, einerseits als organisierte, zusammenhängende Gemeinschaft in Auseinandersetzung mit einer oft feindlichen Umwelt, aber auch mit schismatischen Tendenzen aus der eigenen Mitte, andererseits als Glaube und Glaubensinhalt in Auseinandersetzung besonders mit der hellenischen Wissenschaft.

6.3.1.  Von den Apostelschülern zu Konstantin 6.3.1.1.  Erlöschen des urchristlichen Enthusiasmus Mit dem Ende des apostolischen Zeitalters in den 60er Jahren des ersten Jahrhunderts setzt zunächst eine Reaktion ein: Der Enthusiasmus des Urchristentums erlischt, die charismatischen Wundergaben hören auf, und unter den Samaritern wird das Christentum sogar ganz verdrängt, offenbar von der Simon-Magus-Religion. An die Stelle der Apostel sind deren Schüler getreten, mediokre, in keiner Hinsicht ausgezeichnete Gestalten, von denen man später nicht viel mehr weiß als ihre Namen: Timotheus, Titus, Demas, Linus, Clemens, Hermas usw. Das bewegte Leben der Apostel zwischen den Gemeinden hatte die Bildung einer Schule und die Ausbildung wirklicher Nachfolger auch gar nicht zugelassen. Und die Urgemeinde von Jerusalem, das eine geistige 85 

Der christliche Glaube2 2, §  129,2; vgl. 130,2 (KGA I/13,2, S.  321–327)

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Zentrum des apostolischen Zeitalters, nämlich das judenchristliche, muß wegen des Jüdischen Krieges ins Ostjordanland fliehen. Die beiden Richtungen des Urchristentums, die judenchristliche und die heidenchristliche, verlieren so den Zusammenhang miteinander, und dies gereicht nicht nur, aber vor allem der judenchristlichen Seite zum Schaden: Sie verliert nämlich zugleich die Verbindung mit den Aposteln und ihren Schülern, lernt z. B. das Johannesevangelium nicht mehr kennen.86 In der Vorlesung von 1825/26 reflektiert Schleiermacher den geistigen und geistlichen Rückgang nach dem apostolischen Zeitalter und sagt, es sei eine höhere geschichtliche Notwendigkeit gewesen, daß Wunder und urchristliche Begeisterung aufgehört hätten: Nicht nur das Wort, auch der Geist habe Fleisch werden müssen. Denn jede geistige Entwicklung habe am Anfang den Reiz der Neuheit, bringe eine „Spannung aller Lebenskräfte“ mit sich und mache schnelle Fortschritte; mit der Zeit aber werde sie zu etwas Bekanntem, Gewöhnlichen. Die „außerordentlichen Zustände“ des Christentums seien also nur möglich gewesen, solange dieses als noch unbekannte, aber erwartete Erfüllung der Verheißungen und Sehnsüchte auf den Plan trat. Nach dem notwendigen Abflauen des ersten Enthusiasmus habe das Christentum sich weiterentwickeln müssen, um nicht auf einer unteren Stufe stehenzubleiben oder gar ganz zu verschwinden. Und das sei auch geschehen, nämlich durch seine Begegnung mit der hellenischen Bildung.87 Der christliche Geist mußte sich als fleischgeworden bewähren, d. h. er mußte auch ohne den Reiz des Neuen, als eine im Wettstreit der Anschauungen bekannte und etablierte Größe, seine geistige und gemeinschaftsstiftende Wirksamkeit erweisen. Rund ein halbes Jahr später hat Schleiermacher in einer Pfingstpredigt unter dem Thema „Das Ende der wunderbaren Äußerungen des göttlichen Geistes in der christlichen Kirche“ das Problem noch einmal erörtert, hier aber nicht auf das nachapostolische Zeitalter, sondern auf die Gegenwart bezogen. Schleiermacher legt dar, daß die fortschreitende Kirche noch dieselbe sei wie die Kirche des begeisterten Anfangs und daß der göttliche Geist sich noch immer in ihr verherrliche, daß sie aber jener wunderbaren Zeichen nunmehr nicht mehr bedürfe: Die christliche Gemeinde sei ja „zu ihrer vollen selbständigen Kraft gelangt“; der Geist wirke jetzt dadurch, daß er die Menschen durchdringe, sie zur Wiedergeburt, zum Gehorsam des Glaubens und zur innigen Gemeinschaft der Gläubigen führe. All dies sei das „Fortschreiten auf diesem Wege einer regelmäßigen und sich natürlich entwikkelnden Ordnung in der Verbreitung der Fruchtbarkeit der göttlichen Gaben“,

86  Kirchengeschichte 1821/22, 14.–15. Stunde (KGA II/6, S.   4 –38); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  128 f., vgl. auch 708) 87  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  714)

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d. h. es entspricht (wie auch die Kirchengeschichte von 1825/26 sagt) dem notwendigen Gang einer geistigen Entwicklung; je länger je mehr werde so die Fülle der göttlichen Gnade in Christus vor den Augen der Menschen offenbar sein.88 Indem die christliche Gemeinde immer mehr als das eigentliche Wunder des göttlichen Geistes offenbar wird, können die diesen zunächst begleitenden Wunder verschwinden. Das „Fleischwerden des Geistes“ bedeutet hier also, daß der Geist von der von außen wirkenden Kraft immer mehr zum inneren, sich sichtbar äußernden Besitz der Gemeinde und ihrer Glieder wird. War schon die Entfernung Christi von der Erde notwendig, damit die christliche Kirche als Gemeinschaft des Geistes Christi eine eigene geschichtliche Größe wird, so stellt das Ende des urchristlichen Enthusiasmus eine weitere Stufe ihres Selbständigwerdens dar.89 6.3.1.2. Häresie Indem also das Christentum an Intensität abnimmt und indem seine beiden Hauptrichtungen außer Verbindung miteinander kommen, bricht das Fremde, das Häretische über die christliche Kirche herein. „Die Häresis ist zu bestimmen als eine Durchdringung des eigenthümlichen Princips des Christenthums von fremdartigen Principien, welche nun jenem ihren Character aufdrücken“,

heißt es in der theologischen Enzyklopädie.90 – Wir haben gesehen, daß für Schleiermacher krankhafte Zustände und Mißbildungen in der Kirche nicht aus dem Christentum selbst kommen, also nicht auf die Wirkung Christi und seines Geistes zurückzuführen sind, sondern immer von außen eingeschleppt worden sind, und zwar insbesondere aus dem religiösen Vorleben derer, die Christen werden (vgl. oben Abschnitt 4.3.5. und 6.2.3.). Das nachapostolische Zeitalter muß somit besonders anfällig für Häresien sein, denn erstens verschwinden in dieser Zeit allmählich alle jene, die dem Fremden kraft ihrer persönlichen Vertrautheit mit Christus und den Aposteln und ihrer pfingstlichen Begeisterung steuern könnten, zweitens besteht und ergänzt sich die Kirche in dieser Zeit 88  Predigt 220 (15.5.1826) über 1 Kor 12,31 (Predigten. Siebente Sammlung, Berlin 1833, S.  439–441. 446–452; SW II/2, S.  532 f. 536–539); vgl. auch Predigt 439 (30.7.1820) über Apg 8,18–22 (SW II/10, S.  70 f.). 89 Vgl. auch die Erörterung in der Glaubenslehre: Wunderzeichen sind Begleitphänomene von etwas Neuem, was sich geltend macht. Da aber im Christentum nichts gegenüber Christus Neues mehr kommt, bedarf es auch keiner wunderhaften Beglaubigung mehr (Der christliche Glaube2 2, §  104,4, KGA I/13,2, S.  131–133). 90  Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  58 (hg. Sachs, S.  6 4). – In der Glaubenslehre legt Schleiermacher Wert darauf, daß man unterscheiden müsse zwischen Fällen, in denen das, was die Kirche als häretisch verwirft, aus dem Gefühl selbst kommt, also seinen Grund in einem fremden, unchristlichen Prinzip hat, und solchen Fällen, in denen es erst durch eine ungeschickte und unzureichende Formulierung der Lehre entsteht; wirklich häretisch sei nur das Erste, vgl. Der christliche Glaube2 1, §  21,1 (KGA I/13,1, S.  153).

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hauptsächlich aus langjährigen Heiden und Juden, und drittens haben Heidenchristen und Judenchristen den Kontakt zueinander verloren und können nicht mehr reinigend aufeinander einwirken. In der Isolation wird das sonst durch die Gemeinschaft und den Austausch mit den Heidenchristen gemilderte Judenchristentum zu einer Häresie: Der „streng judaisirende Sinn“ gewinnt die Überhand, das Christliche wird immer mehr ins Judentum eingeordnet (anstatt daß umgekehrt das Jüdische des Judenchristentums als eine individuelle, nämlich nationale Form angesehen wird, unter der sich das Christentum verwirklicht), Christus wird zu einem bloßen Gerechten und Propheten herabgestuft, also zu einem Fortsetzer und Verbesserer des Judentums. Als profiliertesten Vertreter dieser Richtung nennt Schleiermacher den (meist als Gnostiker geltenden) Kerinth mit seiner für das Judenchristentum charakteristischen Neigung zum Natürlichen statt Wunderbaren und zur Buchstäblichkeit statt Geistigkeit: Kerinth erklärt die fortdauernde Befolgung des jüdischen Gesetzes für notwendig und glaubt nicht an eine übernatürliche Erzeugung Jesu; er deutet die Taufe Jesu adoptianisch, er bestreitet, daß der Logos im Fleisch gelitten habe (Christus ist durch den Logos inspiriert nach Analogie der Propheten, also kann dieser ihn wieder verlassen; da der jüdische Opferkult fortdauert, kommt dem Tod Christi ohnehin keine Heilsbedeutung zu), und er erwartet ein irdisches tausendjähriges Reich (vertritt also eine diesseitige Eschatologie und ein buchstäbliches Verständnis der biblischen Verheißungen; Christi Auferstehung wird mit seiner kommenden sichtbaren Wiederkehr identifiziert). Daß Kerinth, wie Theodoret behauptet, die Welt – typisch gnostisch, aber ganz unjüdisch – nicht für Gottes Werk gehalten habe, sei wohl unzutreffend.91 Auch den von Euseb gelegentlich benutzten frühchristlichen Schriftsteller Hegesipp ordnet Schleiermacher zunächst unter den häretischen Judenchristen ein, d. h. unter denen, die die Einzigartigkeit Christi und die Neuheit des Christentums gegenüber dem Alten Testament nicht voll erfaßt hätten.92 Das zweite kirchengeschichtliche Kompendium macht Hegesipp allerdings anhand eines nicht bei Euseb, sondern in der Bibliothek des Photius überlieferten Fragments vom Judaisten zu einem Gegner des Chiliasmus und einer unreflektierten und unkritischen Rezeption des Alten Testaments in der christlichen Kirche.93 91 Kirchengeschichte 1821/22, 14. Stunde (KGA II/6, S.   35  f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  130 f. 706 f.); Kollektaneen 119; 126; 128 (KGA II/6, S.  167–169). – Nach der Windrose der Ketzereien in der Glaubenslehre ist der Doketismus eigentlich eine nicht jüdische, sondern hellenisch-gnostische Ketzerei (Der christliche Glaube2 1, §  22,3, KGA I/13,1, S.  159 f.). Doch den Doketismus Kerinths sieht Schleiermacher nicht in einer zu allzu großen Geistigkeit begründet (wie den in 2 Tim 2,18; 2 Joh 7 erwähnten), sondern einer allzu geringen. 92 Kirchengeschichte 1821/22, 14. Stunde (KGA II/6, S.   36); Kollektaneum 25 (KGA II/6, S.  147 f.) 93  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  131. 716 f.). Tatsächlich gibt die Stelle (aus den Quaestiones disputatae des Monophysiten und Tritheisten Stephan Gobar bei Photius: Bibliotheca codex 232, ed. René Henry, Band 5, Paris 1967, S.  70) dies aber gar nicht her: Hegesipp argumentiert dort mit Matth 13,16 gegen Jes 64,3; 1 Kor 2,9 dafür, daß die Heilsgüter nicht unsichtbar und unhörbar, sondern sichtbar und hörbar seien. Nach Schleiermacher berief Hegesipp sich aber gegen den Chiliasmus auf Joh 20,29.

6.  Die erste Periode

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Dem Ebionitismus oder Nazoräertum als Überfremdung des Christentums durch das Jüdische entspricht auf heidnisch-hellenischer Seite der Gnostizismus: „Gnostisches Grenzvermischung gegen das Heidenthum[,] die Nazaräer gegen das Judenthum“,

heißt es am Anfang der Kollektaneen,94 und auch später verwendet Schleiermacher dieses Schema.95 Den Gnostizismus betrachtet Schleiermacher als ein In­ ein­ander von wissenschaftlich-philosophischen und religiösen Elementen: Spekulative Kosmologie, Dualismus zwischen Geistigem und Materiellem, Theodizee und Soteriologie vereinigen sich zu einer philosophisch-religiösen Weltanschauung. Daß der Extravaganz ins Jüdische eine ebensolche ins Heidnische entspreche, ist aber nicht erst aus dem Phänomen des Gnostizismus abgeleitet; es folgt schon daraus, daß Judentum und hellenisches Heidentum eben die beiden geistigen Mächte der Welt sind, in die das Christentum eintrat, auf die es wirkte, in der es Gestalt annahm und in der es sich behaupten mußte.96 So kann Schleiermacher dem Ebionitismus auch die polytheistische Deutung der Göttlichkeit Christi als ethnisierende Ketzerei gegenüberstellen97 und andererseits zugeben, daß der Gnostizismus nicht nur im hellenischen Heidentum, sondern auch im Judentum verwurzelt ist.98 6.3.1.3. Apologetik Nach dem Abflauen der urchristlichen Begeisterung und dem Stillstand unter den Apostelschülern erwacht das geistige Leben in der christlichen Kirche seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts allmählich wieder. Die christliche Religion öffnet sich abermals und wendet sich nach außen, es entstehen erstmals christ94 

Kollektaneum 1 (KGA II/6, S.  143) 1821/22, 15., 19. und 25. Stunde (KGA II/6, S.  38. 47. 62); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  127); Kollektaneum 20 (KGA II/6, S.  147); vgl. auch Der christliche Glaube2 1, §  22,3 (KGA I/13,1, S.  159 f.). 96  Das Schema, Ebionitismus und Gnosis als judaisierende und ethnisierende Ausartung des Christentums zu deuten und einander gegenüberzustellen, haben – unabhängig von Schleiermacher – auch andere Kirchengeschichtler des 19. Jahrhunderts; vgl. Isaak August Dorner: Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, Stuttgart 1839, S.  35 f.; Karl Rudolf Hagenbach: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3.  Aufl., Leipzig 1853, S.  35– 38 (§  22 f.) (Hagenbach war ein Hörer von Schleiermachers Vorlesung von 1821/22, vgl. unten Abschnitt 10.2.); Ferdinand Christian Baur: Das Christenthum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, Tübingen 1853, S.  156–160; Karl von Hase: Kirchengeschichte, 9.  Aufl., Leipzig 1867, S.  66 (§  58); ders.: Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Band 1, Leipzig 1885, S.  295; Gottfried Thomasius: Die Christliche Dogmengeschichte als Entwicklungs-Geschichte des kirchlichen Lehrbegriffs, Band 1, Erlangen 1874, S.  48–89; Johann Heinrich Kurtz: Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende, 12.  Aufl., Band 1, Leipzig 1892, S.  65 (§  23). 97 Kollektaneum 45 (KGA II/6, S.   152); Ueber den Gegensaz, S.  296–301 (KGA I/10, S.  226–228); Vorarbeit dazu (KGA II/6, S.  757 f. 765) 98  Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.  4 6) 95  Kirchengeschichte

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liche Schriften, die nicht für den innerkirchlichen Gebrauch bestimmt sind, sondern sich nach außen richten, an das heidnische Publikum. Die Apologien Justins und anderer, Antworten auf Anfeindungen von Seiten des Staates und auf Vorwürfe des Atheismus und der Menschenfeindschaft, sind zugleich erste Erträge einer Begegnung des Christentums mit der hellenischen Bildung. Anknüpfend an die auch in der heidnischen Philosophie anerkannten Vorstellungen von Gott zeigen sie, daß das Christentum besser als die heidnischen Kulte und die philosophischen Schulen dem Ideal der Philosophie entspreche.99 Indem die Apologeten das Christentum mit Mitteln und Begriffen des heidnisch-reli­g iösen und popularphilosophischen Denkens darstellen und verteidigen, wird ihnen selbst das eigene Profil des Christentums inmitten seiner Umwelt bewußt. Spätere Perioden des Christentums profitieren von dieser grundlegenden Denkarbeit: Extravaganzen ins Heidnische oder Jüdische kommen in ihnen nicht mehr so vor wie im apologetischen Zeitalter.100 Im Kolleg von 1825/26 fragt Schleiermacher nach der Motivation des Staates, gegen die Christen vorzugehen: Es war letztlich die Erbitterung des Volks gegen die Christen, deren Ausbreitung zu Lasten der heidnischen Kulte ging, die den Staat nach Möglichkeiten eines gesetzlichen Vorgehens gegen das politisch eigentlich erkennbar harmlose Christentum suchen ließ. Daß das Christentum eine reine Privatreligion war, daß die Christen nicht am öffentlichen Kult teilnahmen, keine öffentliche Ämter übernahmen und dem Kaiser den Titel eines dominus verweigerten, konnte ihnen als Opposition gegen den Staat ausgelegt werden. Schleiermacher bescheinigt den Christen aber, an der Erregung der Volkswut auch selbst mitschuldig zu sein, einerseits durch eine gewisse Trotzigkeit, sich selbst anzuzeigen und so der Obrigkeit und ihren Strafen ihre Verachtung zu demonstrieren, andererseits durch übertriebene Skrupelhaftigkeit gegenüber dem bürgerlichen Leben.101

Auf die innere Entwicklung der Kirche wirkten die Verfolgungen aber zwiespältig: Sie waren Ursache dafür, daß die Apologeten mit der nichtchristlichen Umwelt in Dialog traten, zeitigten Standhaftigkeit, Glaubensernst, innere Läuterung und äußere Verbreitung, aber daneben auch Haß gegen die Verfolger, innere Abschottung (also das genaue Gegenteil dessen, worum sich die Apologeten bemühten), rigoristische Härte und eine Märtyrerverehrung, die später zum Heiligen- und Reliquienkult führen sollte.102 Ausdruck dieser fehlgelei99 Kirchengeschichte 1821/22, 15. und 19. Stunde (KGA II/6, S.   38. 48); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  130. 713; SW I/11, S.  99 f.). Melito von Sardes, den Schleiermacher den ersten wissenschaftlichen Apologeten nennen kann, bezeichnete das Christentum gar als eine Philosophie. Melito verkannte freilich nicht den religiösen Charakter des Christentums; vielmehr war „Philosophie“ eine gängige Bezeichnung für Religionsparteien, die dazu auch keine Assoziationen an verbotene Kulte weckte. 100  Kirchengeschichte 1821/22, 6.–7. und 19. Stunde (KGA II/6, S.  25. 48. 484 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  130. 694–696) 101  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  129. 715. 723); Kollektaneum 976 (KGA II/6, S.  391) 102  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  707. 716)

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teten Weltverneinung war eine Todessehnsucht, die nicht nur ihrerseits viele gebildete Heiden als Rohheit und Starrsinn abstieß, sondern die auch der Bestimmung des Christentums zuwiderlief, sich über die Menschheit auszubreiten und diese zum Ziel ihrer Geschichte zu führen. „Wer Kräfte und Bestimung der christlichen Kirche gegen einander abwog konnte sie [die Martyrien der beiden hervorragenden Christen Justin und Polycarp oder auch allgemein die Martyriumssehnsucht] so nicht billigen.“103

Wenn Schleiermacher die Berichte über Verfolgungen und Martyrien kritisch auf ihre Glaubwürdigkeit prüft (vgl. oben Abschnitt 6.1.2.) und die Sache selbst ethisch eher kritisch beurteilt, steht er in Kontinuität zur Hallenser Auf klärung seiner Studienzeit.104 Zugleich mit der Apologetik nach außen entsteht eine Streitliteratur nach innen und mit ihr die rechtgläubige wissenschaftliche Theologie. Sie setzt sich mit den beiden unter jüdischen und heidnischen Einflüssen entstandenen Extremen auseinander, dem Ebionitismus und dem Gnostizismus. Diese Theologie hat zunächst zwei Elemente: das dogmatische, die Kritik des religiösen Sprachgebrauchs, und das hermeneutische, die Kritik des rechten Verständnisses der apostolischen Überlieferung. Das zweite, hermeneutische Element setzt voraus, daß der Kanon inzwischen mehr oder weniger festgelegt ist, aber das unmittelbare geschichtliche Verständnis durch den zeitlichen Abstand verloren gegangen ist, „so daß man zu künstlicher Interpretation seine Zuflucht nehmen mußte“; Schleiermacher denkt hier offenbar an die Allegorisierung und das wissenschaftlich-dogmatische Verständnis biblischer Ausdrücke. – Besonders das dogmatische Element konnte erst aus der Polemik entstehen: Die innere, „ascetische Mittheilung“ des Christentums in Katechese und Predigt war in ihrem Sprachgebrauch frei und mußte sich noch nicht gegen unchristliche Lehren und die sie transportierenden Begriffe verwahren. Am Anfang der wissenschaftlichen Dogmatik stehen – als Antwort auf die beiden Ur-Häresien – zwei Sätze, die göttliche Monarchie und die Logos-Christologie. Der erste richtet sich besonders gegen die Gnosis: Er setzt der Abwertung der Schöpfung und des Alten Testaments entgegen, daß alle göttlichen Offenbarungen und Heilsveranstaltungen aus einer gemeinsamen Quelle kämen. Gegen die Ebioniten ist vor allem das zweite Dogma gerichtet, die Logos-Christologie. Sie wehrt die unbeschränkte Gleichsetzung des Erlösers mit den zu Erlösenden ab, die Herabsetzung Christi zu einem bloßen Menschen (dafür war der Begriff des Logos geeigneter als der noch weniger eindeutige Begriff des Gottessohns). Auf diesen 103  Kirchengeschichte 1821/22, 17. Stunde (KGA II/6, S.   42); Kollektaneum 46 (KGA II/6, S.  152) 104  Vgl. oben Abschnitt 2.3. (u. a. zum märtyrerkritischen Aufsatz des Onkels Ernst Stubenrauch), ferner (zu Semler) Marianne Schröter: Auf klärung durch Historisierung, Hallesche Beiträge zur Europäischen Auf klärung 44, Berlin und Boston 2012, S.  177–179.

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beiden Sätzen beruht die apologetische und die theologisch-polemische Literatur des zweiten und auch noch des dritten Jahrhunderts.105 6.3.1.4.  Verbreitung, Verfassung und inneres Leben Die christliche Kirche verbreitet sich und differenziert sich dabei weiter aus, sowohl zwischen den verschiedenen Regionen als auch innerhalb der Gemeinden zwischen den verschiedenen sozialen Schichten, die jetzt dazugehören.106 Schleiermacher schreibt dem lateinischen Nordafrika eine besondere Strenge der Denkart zu, den jonischen Christen dagegen Weichlichkeit.107 In bedeutenden Städten bilden sich erste geistige Zentren des Christentums. Dazu gehören Antiochia, die Wirkungsstätte des Ignatius und Theophil, später der Ort einer vornehmlich kritischen Schule (wahrscheinlich denkt Schleiermacher an Lucian), und Alexandria, wo sich die berühmte Katechetenschule des Pantaenus und Clemens befand. In Rom schließlich gab es zwar keine solche Schule, dafür zog es aufgrund seines politischen Gewichts aber bedeutendere Leute von überall her an, z. B. Hegesipp, Cerdo, Marcion, Polycarp und Valentin. So wurde Rom zu einer Art ökumenischem Gesprächsforum. Es entwickelte zugleich einen Instinkt dafür, was auf die bewegliche Masse wirkte, und ein Bestreben, das sich individuell ausdifferenzierende Ganze zusammenzuhalten. Durch dies letzte Bestreben übernahm es die Rolle, die während des apostolischen Zeitalters die Urgemeinde in Jerusalem gehabt hatte. (Daß Rom sich damals aber noch nicht wie später den Primat über die ganze Christenheit anmaßte, sieht Schleiermacher aus einer bei Epiphanius überlieferten Anekdote: Die römische Gemeinde schloß Marcion aus der Gemeinschaft aus, weil sie sich für gebunden erklärte an die vom Bischof von Sinope, der Heimatgemeinde Marcions, verhängte Exkommunikation. Ein späterer Papst dagegen hätte sich zur Appellati105  Kirchengeschichte 1821/22, 19. und 32. Stunde (KGA II/6, S.  47 f. 79). – In seiner subtilen Art schreibt Schleiermacher, daß das Dogma von der Monarchie zugleich auch Abstufungen in der Offenbarung meine, also auch den Ebioniten entgegengesetzt sei, die Christi Lehre im Prinzip nicht über die Propheten stellten, und daß umgekehrt die Logos-Christologie auch gegen den Gnostizismus gerichtet sei und gegen seine Spekulationen, der Erlöser sei eine der προβολαί (Auswüchse, Austriebe, Ausflüsse, Emanationen) aus dem höchsten Gott, in denen sich das Göttliche mit wachsender Entfernung von der Quelle allmählich vermindere. 106  Die extensive Verbreitung der Kirche wird von Schleiermacher mehr vorausgesetzt als im Einzelnen nachgezeichnet: Das Christentum dringt in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts nach Gallien, Germanien und in höhere soziale Schichten vor. Dadurch verlieren die Gemeinden ihre innere Homogenität; vornehme und niedere Klassen trennen sich innerhalb der Gemeinde, und die sonntäglichen Agape-Mahlfeiern, „welche theils materiell die Gütergemeinschaft vertraten theils Symbole der Verbrüderung sein sollten“ nehmen ab und hören schließlich ganz auf. (Kirchengeschichte 1821/22, 19. Stunde, KGA II/6, S.  48 f.; Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  133. 721; Kollektaneen 32; 138; 964, KGA II/6, S.  149. 171. 387) 107  Kirchengeschichte 1821/22, 22. und 25. Stunde (KGA II/6, S.  54 f. 60)

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onsinstanz aufgeworfen, mit Marcion Kirchengemeinschaft gepflegt und versucht, den Bischof von Sinope zur Anerkennung seiner Entscheidung zu zwingen.) 108 In den mittelmäßigen Zeiten nach dem Ausscheiden der Apostel bildete sich der Mon­ episkopat in den Gemeinden, und zwar, wie Schleiermacher vermutet, dadurch, daß begabtere Presbyter, denen man das Amt der Lehre noch habe zutrauen können, zu alleinigen Bischöfen der Gemeinden erhoben worden seien. Beim Amt der Diakone sei man bei der Siebenzahl pro Gemeinde stehengeblieben, und so habe man, da alle Chri­ sten einer Stadt nur eine Gemeinde gebildet hätten und es in ihr mehr zu tun gegeben habe als für sieben Diakone, bald noch das Amt der Subdiakone eingeführt.109 Die einzelnen Ortsgemeinden sind voneinander unabhängig und einander an Rang gleich; Gemeinden politisch bedeutenderer Orte gewinnen aber schon eine gewisse Vorrangstellung.110 Die Unabhängigkeit der Gemeinden zeigt sich z. B., als die Bischöfe in Palästina die von Demetrius über Origenes verhängten Sanktionen nicht anerkennen und Origenes weiter als Presbyter fungieren lassen.111 Die Kommunikationsmittel zwischen den Gemeinden und Regionen sind zunächst noch dieselben wie im apostolischen Zeitalter, nämlich Briefe und Reisen; von den ersten sind die bei Euseb überlieferten Briefe des Dionys von Korinth am bekanntesten, von den letzten die Reise des Polycarp von Smyrna zu Anicet von Rom.112 – In der kirchlichen Statistik beruft sich Schleiermacher darauf, daß die Einheit der Kirche auch ohne zusammenhängende Gesamtorganisation und institutionellen Überbau möglich sei: In der evangelischen Kirche, der die Gegner die Einheit und Zusammengehörigkeit absprächen, wiederhole sich nur die Verfassung der Alten Kirche vor dem Konzil von Nicäa. In der Nachschrift heißt es sogar: „Die äußere Einheit der Kirche ist nur eine Depravation“.113

Die große Belastungsprobe für die ökumenische Einheit der Kirche am Ende des zweiten Jahrhunderts, vergleichbar mit der Kontroverse um die gesetzesfreie Heidenmission zwischen Liberalen und Judaisten im Zeitalter der Apostel, ist der Streit um den Ostertermin zwischen Victor von Rom und den Asiaten. Die Asiaten feierten Ostern ohne Rücksicht auf den Wochentag als Mahl am Tag des jüdischen Osterfestes (dem 14. Nisan). Um die Mitte des zweiten Jahrhunderts begann man die Differenz zur sonntäglichen Osterfeier der übrigen Gemeinden als störend zu empfinden. Am Ende des Jahrhunderts wurden Synoden der verschiedenen Provinzen 108  Kirchengeschichte 1821/22, 20. Stunde (KGA II/6, S.  49 f.); vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  132); Kollektaneum 29 (KGA II/6, S.  148) 109 Kirchengeschichte 1821/22, 15. Stunde (KGA II/6, S.   36  f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  129. 720 f.); Kollektaneen 6; 90; 92; 94 (KGA II/6, S.  144. 160 f.). Schleiermacher bemerkt, daß Bischof und Presbyter noch im ersten Clemensbrief ebenso wenig unterschieden wurden wie zur Zeit der Apostel, Clemens von Rom diesen Brief vielmehr nicht als Monarch der Gemeinde geschrieben habe, sondern als Repräsentant der Presbyter. 110  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  721) 111  Kirchengeschichte 1821/22, 25. Stunde (KGA II/6, S.  62) 112  Kirchengeschichte 1821/22, 19. Stunde (KGA II/6, S.  49); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  129); Kollektaneum 29 (KGA II/6, S.  148) 113 Kirchliche Statistik 1827, 53. Stunde (KGA II/16, S.   384 f.). Vgl. unten Abschnitt 9.3.5.1.

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abgehalten, um den Ostertermin zu vereinheitlichen. Die Asiaten wollten ihren Brauch nicht fahren lassen; ihr Wortführer, Polycrates von Ephesus, berief sich für ihn u. a. auf die Apostel Philippus und Johannes und auf Polycarp. Victor von Rom hob darauf hin die Kirchengemeinschaft mit den Asiaten auf. Irenäus war zwar der Meinung, daß man sich in dieser Frage an Rom orientieren sollte, mißbilligte aber in einem Brief an Victor dessen Schroff heit gegen die Asiaten und verhinderte so die Kirchenspaltung.114

Dieser Vorgang ist für Schleiermacher in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. In ihm zeichnet sich schon der griechisch-lateinische Gegensatz ab, an dem die Einheit der Kirche später zerbrechen sollte.115 Andererseits repräsentieren Victor und die Asiaten schon das katholische und das protestantische Verständnis der Kircheneinheit: auf der einen Seite das Festhalten an der äußeren Einheit der Kirche und die Assimilation alles Abweichenden, wenn nötig durch den Kirchenbann, auf der anderen Seite das geschichtliche Forschen, das das Bestehende anhand des apostolischen Zeugnisses prüft, die Einheit also nicht in der äußeren Einförmigkeit sucht, sondern in der Übereinstimmung mit der Quelle.116 Für diese letztere Sicht muß in der Kirche nicht einerlei Praxis herrschen, sondern jede Praxis ist dann erlaubt und hinreichend gerechtfertigt, wenn sie in Kontinuität zur normalen, kanonischen Epoche der Kirchengeschichte steht. Schließlich beginnt mit dem Osterstreit auch das Synodenwesen: Abgeordnete verschiedener Gemeinden treffen sich zu gemeinsamer Beratung und Beschlußfassung. Daran beteiligen sich nun aber nicht mehr wie beim Apostelkonzil die Laien: Wo historische Probleme wie die Frage der apostolischen Osterpraxis erörtert werden, muß die Synode eben zu einem Gremium von Fachleuten werden. Innerhalb der Gemeinden hebt sich der Klerus so immer mehr heraus.117 Noch in der Praktischen Theologie hebt Schleiermacher als wesentliche Kompetenz, die die Geistlichen den Laien voraushätten, hervor, daß in ihnen das geschichtliche Bewußtsein der Kirche ruhe.118 – In der Sittenlehre würdigt Schleiermacher, wie schnell es der frühen Kirche gelungen sei, eine literarische und geistige Öffentlichkeit zu organisieren und damit zugleich einen Damm gegen den Separatismus. Unter denen, „die die Geschichte des Christenthums mit Unparteilichkeit behandeln“ (also den Gesinnungsgenossen Gottfried Arnolds, vielleicht denkt er aber auch an Semler119 ) sähen viele zwar 114 

Kirchengeschichte 1821/22, 20. Stunde (KGA II/6, S.  50 f.) 1821/22, 20. Stunde (KGA II/6, S.  50). In der Kirchengeschichte 1825/26 sieht Schleiermacher eine Spur der Trennung zwischen Lateinern und Griechen auch schon bei Anicet und Polycarp (KGA II/6, S.  129). Vgl. auch ebd. (KGA II/6, S.  717 f.): Danach hatte das griechische Christentum schon im zweiten Jahrhundert kein Verständnis für die bei den Abendländern zentrale Vorstellung einer sittlichen Versöhnung, sondern hielt sich an die physische Erlösung von den der Materie anhaftenden Unvollkommenheiten. 116  Kirchengeschichte 1821/22, 20. Stunde (KGA II/6, S.  50 Fußtext) 117  Kirchengeschichte 1821/22, 20. Stunde (KGA II/6, S.  50 f.) 118  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  59v) 119 Vgl. Schröter: Auf klärung, S.  174–177. 115  Kirchengeschichte

6.  Die erste Periode

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im organisierten Zusammenhang der nachapostolischen Kirche schon Ansätze für die schädliche Entwicklung hin zum Katholizismus. Doch daß später besonders das Synodenwesen dazu diente, Individuelles und Abweichendes zu assimilieren, könne man der ursprünglichen Einrichtung noch nicht anlasten. Ohne eine solche Öffentlichkeit, die mit dem Austausch freilich immer auch eine gewisse Ausgleichung von Differenzen in Lehre und Disziplin mit sich bringe, sei es gar nicht möglich, das Ganze zusammenzuhalten, rückschreitende Bewegungen aufzuheben und die Kirche von fremden Einflüssen zu reinigen.120 Die Entwicklung des kirchlichen Kultus behandelt Schleiermacher vor allem, um nachzuzeichnen, wie allmählich die katholischen Bräuche und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen auf kamen. (In der dritten Auflage der Reden über die Religion schreibt Schleiermacher, das Katholische sei dasjenige, was sich vom Extremen fernhalte und schnell in die Masse eindringe, dabei aber eine mehr äußerliche Richtung annehme und die innere, eigentümliche Entwicklung nicht unterstütze.121) Tertullian empfiehlt das Zeichen des Bekreuzigens, wahrscheinlich als Bekenntnis und Erkennungszeichen des Christen, und erwähnt das Gebet zu bestimmten Stunden. Als Montanist legt Tertullian dem Fasten einen geradezu schauderhaften Wert bei; gefastet wurde aber auch bei den Katholischen schon an bestimmten Wochentagen, allerdings in Rom und Spanien an anderen als in Ägypten.122 Für Origenes ist das Fasten nichts an sich Verdienstliches, sondern eine asketische Übung. Andererseits gibt es bei ihm schon Keime der späteren katholischen Vorstellungen von Ablaß und genugtuenden Bußleistungen: Almosen, Sündenbekenntnis und Büßungen hält er für Leistungen, die in Ergänzung der Taufe Sündenvergebung bewirkten. Wenn er sagt, die Sündenvergebung selbst gebe es nur durch die Taufe oder durch die Bluttaufe, das Martyrium, zeigt das freilich, daß sein Sakramentsverständnis nicht magisch war, weil Origenes, wenn Martyrium im weiteren Sinne gemeint war, an die Stelle des Ritus auch die Bereitwilligkeit und Fähigkeit zum Leiden setzen konnte.123 Der mit Origenes etwa gleichzeitige Afrikaner Cyprian erwähnt in seinen Briefen und Schriften den Brauch, den Verstorbenen zugute Gaben darzubringen und schon Kindern das Abendmahl zu reichen. Während bis zur decischen Verfolgung die Beichte öffentlich vor der Gemeinde abgelegt wurde, bekamen nun Presbyter eigens die Aufgabe, die Bekenntnisse der Büßenden zu hören; damit beginnt das Institut der Ohrenbeichte. Cyprian selbst plädierte dafür, Kinder christlicher Eltern gleich nach der Geburt zu taufen. Neben diesem neuen Brauch bestand aber noch die Sitte, daß sich langjährige, spätbekehrte Heiden erst möglichst kurz vor dem Tod taufen ließen.124 Wenn die Synode von Elvira am Ende der Periode Bilder aus den Kirchen verbannte, so kann 120 

Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  113; SW I/12, S.  187 f.) Ueber die Religion 3, S.  4 40 f. (Erläuterung 12 zur 5. Rede) (KGA I/12, S.  307) 122 Kirchengeschichte 1821/22, 22.–23. Stunde (KGA II/6, S.   53 f. 56); Kollektaneen 150; 155; 161; 181; 992 (KGA II/6, S.  174–176. 182. 396) 123 Kirchengeschichte 1821/22, 26. Stunde (KGA II/6, S.   65); Kollektaneen 168; 976 (KGA II/6, S.  179. 391 f.) 124  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  69 Fußtext); Kollektaneum 170 (KGA II/6, S.  179 f.) 121 

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solcher Schmuck schon nicht mehr ganz selten gewesen sein; wahrscheinlich handelte es sich um Bilder Christi oder Szenen aus dem Evangelium,125 also noch nicht um Heiligenbilder. Eine neue Lebensform am Ende der Periode erwähnt Schleiermacher nur kurz: das Eremitenwesen. Obwohl die Eremiten sich nicht offen von der Gemeinschaft lossagten und eine Spaltung der Organisation weder bewirkten noch beabsichtigten, sieht Schleiermacher im Einsiedlertum „das maximum der die Gemeinschaft auflösenden Rigidität“. Es sei eine rein innere Krankheit, das Suchen nach eigener intensiver Vervollkommnung ohne Austausch und Wirkung nach außen, nach Eigenruhm im Entbehren und Leiden auch ohne äußere Bedrückung, das zuletzt zu einem frucht- und kraftlosen Brüten in sich selbst führt.126

Schleiermacher vermerkt gelegentlich den jenseitigen Charakter, den der Glaube in dieser Periode hat: Die diesseitige Welt wird abgewertet, aber das Jenseits nimmt selbst recht diesseitige, materielle Züge an. Dies äußert sich in der Martyriumssehnsucht der frühen Christen, die gebildete Heiden und Gnostiker abstieß, ebenso wie im Chiliasmus der Montanisten.127 In den Kollektaneen notiert Schleiermacher: „Merkwürdig daß die Verwerfung des irdischen zunahm je mehr sich die Hofnung auf die Wiederkunft Christi entfernte.“128

Hier bringt er die wachsende Bedeutung der Askese also in Zusammenhang mit dem Abnehmen der Naherwartung: Je mehr die Christen mit einer dauerhaften Existenz in dieser Welt rechnen, desto mehr wird es ihr Ideal, nicht etwa sich gestaltend dieser Welt zuzuwenden, sondern sich ihr zu entziehen, eigentlich ein Widerspruch. 6.3.1.5.  Erste Abspaltungen Schleiermacher geht, zumal im Zusammenhang kleinerer, als häretisch eingestufter Gruppen, immer wieder der Frage nach, ob, wann und wie abweichende Sitten und Lehren zu Scheide- und Kristallisationspunkten werden, an denen sich

125 

Kirchengeschichte 1821/22, 29. Stunde (KGA II/6, S.  72) 1821/22, 29. Stunde (mit Nachtrag 1825/26) (KGA II/6, S.  72); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  725 f.); vgl. zu Schleiermachers Meinung zum Eremitentum auch Christliche Sitte 1809/10, §  142 (SW I/12, Beilage, S.  48 f.); Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde (KGA II/6, S.  23. 476); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  366). – In Synodalkanones wird auch das Institut von Konviktorien geweihter Jungfrauen erwähnt, also erste Frauenklöster; gegenüber den geistlichen Ehen zwischen Klerikern und Jungfrauen, die häufig Anlaß zu Ärgernis gaben, seien solche Konviktorien sicher das kleinere Übel gewesen (Kirchengeschichte 1821/22, 29. Stunde, KGA II/6, S.  72; Kollektaneum 170, KGA II/6, S.  180). 127  Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 17., 20. und 23. Stunde (KGA II/6, S.  41 f. 51. 56); Kollektaneen 46; 83 (KGA II/6, S.  152. 159) 128  Kollektaneum 57 (KGA II/6, S.  154) 126  Kirchengeschichte

6.  Die erste Periode

221

das Ganze spaltet und bei denen sich größere und kleinere Massen zu jeweils eigenen Gemeinschaften zusammenfügen. Hier offenbart sich wieder sein starkes Interesse an der soziologisch-institutionellen Seite der Kirchengeschichte. Da ist zunächst der Gnostizismus. Bei ihm ist Schleiermacher prinzipiell skeptisch, daß es eigene Gemeinden gab, denn der Gnostizismus sei schon von seinen Voraussetzungen her im höchsten Maße elitär, unpopulär und gemeinschaftsfeindlich: Die Gnosis lasse sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach sowieso nur ausgewählten Einzelnen mitteilen; warum hätte sie also Gemeinden bilden sollen? Die Laxität der Gnostiker gegenüber der christlichen Pflicht zum Bekenntnis und ihre Arroganz gegenüber dem Eifer der einfachen Christen wirkten abstoßend. Wenn man trotzdem gelegentlich etwas von gnostischen Gemeinden höre, dann seien das entweder Gemeinden, deren Lehrer dem Gnostizismus anhingen, oder solche, bei denen Schriften der Gnostiker wie die Evangelien des Basilides oder Marcion in Gebrauch gewesen seien.129 Schleiermacher hat zwar manches über den Kultus gnostischer Gemeinschaften notiert und auch vorgetragen.130 Doch stellt er sich die diesen Kult tragenden Gruppen wohl nur als esoterische Zirkel vor. Auch bei den römischen Adoptianern glaubt Schleiermacher nicht, daß sie eine eigene, für sich abgeschlossene Kirchengemeinschaft gewesen seien. Sie scheinen ihm eher eine Art gelehrte Schule gewesen zu sein, deren kritische Forschungen über Text und Inhalt der heiligen Schriften den weniger Gebildeten als mutwillige Fälschungen vorgekommen seien. Was aber ihre eigentliche Häresie (Christus sei ein bloßer Mensch) und ihre Kirchenspaltung angehe, so sei das Ganze nichts als der ungeschickte Versuch Theodots des Gerbers, seine mangelnde Standfestigkeit zu bemänteln und zu bewältigen: Christus der Gekreuzigte, den Theodot bei einer Verfolgung in seiner Heimat Byzanz verleugnete, sei ja bloß der Mensch, nicht der eigentliche Seligmacher Gott (ein Satz, den er zur Not auch mit Tertullians oder Praxeas’ Lehre hätte begründen können). Und daß die Adoptianer eigene Bischöfe gehabt hätten, beruhe wohl nur auf der bei Euseb überlieferten Erzählung davon, wie sie beinahe den Konfessor Natalis für sich gewonnen hätten. Doch auch hier stehe wohl nicht die Absicht dahinter, eine eigene Kirchengemeinschaft zu gründen, sondern nur der Versuch Theodots, sich durch einen Konfessor von seiner Verleugnung absolvieren zu lassen.131

Die auf Tatian den Assyrer zurückgehenden Enkratiten sind schroffe Dualisten: Für sie ist die Materie das satanische Prinzip, und so verbieten sie ihren Anhän-

129  Kirchengeschichte 1821/22, 17.–18. Stunde (KGA II/6, S.  41 f. 46); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  132); Kollektaneen 112; 118; 123 (KGA II/6, S.  166 f.) 130 Kollektaneen 81 f.; 113; 115; 139 (KGA II/6, S.   159. 166. 172); Kirchengeschichte 1821/22, 18.–19. Stunde (KGA II/6, S.  44. 47); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  132) 131  Kirchengeschichte 1821/22, 24. Stunde (KGA II/6, S.  58); Kollektaneum 34 (KGA II/6, S.  149). Vgl. Ueber den Gegensaz, S.  302 f. (KGA I/10, S.  229 f.); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  758). – Erstaunlich ist, daß Schleiermachers Sinn für historische Kritik ihn hier nicht die plumpe polemische Lügengeschichte bei Epiphanius hat durchschauen lassen, sondern er im Gegenteil auf sie seine Deutung des Adoptianismus Theodots als „Maximum von Leichtsinn im Bekenntnis“ gründete.

222

C.  Materialer Teil

gern den Genuß von Wein und Fleisch und die Ehe.132 Schleiermacher nennt sie in der Vorlesung von 1821/22 eine Sekte, während er 1825/26 der Meinung ist, sie seien zwar eine Partei gewesen, aber eine innerkirchliche und keine von der Kirche abgesonderter Sekte, denn weder hätten sie sich von der Gemeinschaft mit den Katholischen ausgeschlossen, noch hätten diese einen Anlaß gehabt, die Enkratiten wegen einer gravierenden Irrlehre zu verdammen.133 Die Lehre, die Materie sei das satanische Prinzip, hält Schleiermacher also für keine bedeutende Lehrabweichung, obwohl sie der göttlichen Monarchie nicht weniger als die Kosmologie der Gnostiker widerspricht. Deutlicher als im Enkratismus sieht Schleiermacher im Montanismus eine Extravaganz über die Grenzen dessen, was als christlich gelten kann, da Montan nämlich annahm, Christus und die Apostel hätten noch nicht alles kundgetan, sondern müßten mit neuen Geistmitteilungen ergänzt werden.134 Die Vorstellung, Christus und seine Botschaft könnten und sollten perfektioniert werden, ist für Schleiermacher schlicht unchristlich und damit mehr als ketzerisch, denn Ketzereien bleiben doch am Christentum, dessen differentia specifica gegenüber den anderen monotheistischen Glaubensweisen es ist, „daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“.135 Der materiale Unterschied zwischen den Montanisten und den Katholischen war dabei gering: Die Katholischen gaben zu, daß die Montanisten die ganze heilige Schrift annähmen und keine abweichenden Lehren verträten.136 Montans neue Offenbarungen gingen im Wesentlichen darauf hinaus, auch unter den Katholischen verbreitete Gebräuche genauer zu beobachten oder zu verschärfen. In der Bußfrage wollte Montan in grobe Sünden Gefallene nicht wieder in die volle Gemeinschaft aufnehmen, ohne ihnen aber die Möglichkeit einer göttlichen Verzeihung abzusprechen.137 Der montanistische Chiliasmus schließlich zeigt, daß seine Strenge gegen die Sinnlichkeit nicht aus rein

132  Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde (KGA II/6, S.  51 f.). Schleiermacher deutet das bald als übertriebenen Antijudaismus, bald als genuin jüdische Gesetzlichkeit (vgl. noch Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  132; SW I/11, S.  132 f.); Kollektaneen 27; 960 (KGA II/6, S.  148. 387), im Einzelnen vgl. Simon Gerber: Christentum und Judentum in Schleiermachers Vorlesungen über die Kirchengeschichte, in: Hg. Roderich Barth, Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener: Christentum und Judentum. Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, Schleiermacher-Archiv 24, Berlin und Boston 2012, S.  385–401, hier 398. 133  Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde (KGA II/6, S.  51); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  132; SW I/11, S.  133) 134  Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde (KGA II/6, S.  52) 135  Der christliche Glaube2 1, §  11, Leitsatz (KGA I/13,1, S.  93). – Daß der Paraklet nichts material über Christus Hinausgehendes lehren kann, lehrt für Schleiermacher schon Joh 16,14 (Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde, KGA II/6, S.  53). 136  Kirchengeschichte 1821/22, 21. und 23. Stunde (KGA II/6, S.  52 f. 56); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  132 f.) 137 Kirchengeschichte 1821/22, 22. Stunde (KGA II/6, S.   53  f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  133)

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geistigen Motiven kam, sonst hätte sie einer solchen paradiesisch-sinnlichen Lockspeise nicht bedurft.138 Die Katholischen nahmen zunächst keine klare Position gegenüber den neuen Prophezeiungen ein, offenbar, weil auch im Neuen Testament christliche Propheten vorkommen. Mehrere Synoden in Asien sprachen aber den Bann über den Montanismus aus, und in Rom verhinderte der Afrikaner Praxeas, daß Bischof Victor die montanisti­ schen Offenbarungen offen anerkannte.139

Eine Antwort auf Montans Ansprüche fanden die Katholischen erst später, als es auch unter den Montanisten keine neuen Offenbarungen mehr gab: Der Geist wirke in der Kirche auch ohne charismatische Machterweise und neue Prophezeiungen. Implizit hatte man die Wirksamkeit des Geistes in der verfaßten Kirche freilich schon in Anspruch genommen, etwa dadurch, daß Synoden sich für ihre Dekrete der Formel „es gefällt dem Heiligen Geist und uns“ (Apg 15,28) bedienten. Später wird es zum Kennzeichen der katholischen Kirche, die Einwohnung des Geistes überall dort vorauszusetzen, wo die Kirche als organisiertes Gemeinwesen auftritt.140 Auch wenn dies Letzte nicht Schleiermachers Meinung ist, indem dadurch die Kirchenverbesserung als reinigendes Handeln Einzelner auf das Gemeinwesen ausgeschlossen ist,141 ist doch die Erkenntnis richtig, daß das Auf hören charismatischer Wunder kein Mangel ist, sondern Folge und Kennzeichen davon, daß der Geist zum inneren Besitz der als gemeinsames Leben organisierten Kirche geworden ist. Der Montanismus stellt also – neben seiner rigorosen sittlichen Strenge – ein letztes Auf begehren dar gegen das geschichtlich notwendige Erlöschen des Enthusiasmus. Von der Gemeinschaft mit den Katholischen, den „Psychikern“, schlossen sich die Montanisten aus und wurden ihrerseits von diesen teils getadelt, teils ganz in den Bann getan. Das deutet Schleiermacher dahin, es habe sowohl eigene montanistische Gemeinden mit besoldeten Bischöfen und ganzen Gemeindeverbänden und Kirchenprovinzen gegeben als auch zerstreut lebende Montanisten, die unbeschadet ihrer Gesinnung Mitglieder der katholischen Gemeinden gewesen seien; die von Synoden ausgesprochenen Exkommunikationen hätten den zweiten gegolten. Ein solcher zerstreuter Montanist sei wohl auch Tertullian gewesen: Er habe nie ganz mit der katholischen Gemeinde in Karthago gebrochen und sei daher von der Nachwelt auch nie eindeutig als Häretiker oder Schismatiker angesehen worden. Die von Augustin erwähnten 138  Kirchengeschichte 1821/22, 20. und 23. Stunde (KGA II/6, S.  51. 56). Vgl. zu Schleiermachers Meinung zu diesem Thema auch Ueber die Religion 3, S.  200 (Erläuterung 20 zur 2. Rede) (KGA I/12, S.  147). 139  Kirchengeschichte 1821/22, 22. Stunde (KGA II/6, S.  54 f.); Kollektaneum 969 (KGA II/6, S.  388) 140  Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde (KGA II/6, S.  53); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  133). Vgl. Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  366 f.). 141 Vgl. Christliche Sitte 1809/10, §   214 (SW I/12, Beilage, S.  81); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  99 f. 123 f.). Vgl. oben Abschnitt 4.3.3.

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C.  Materialer Teil

Tertullianisten seien wohl nichts weiter als eine Gruppe von Anhängern, die sich in der Kirche, an der Tertullian in Karthago Presbyter war, um diesen gesammelt hätten, ohne eine vollkommene Abspaltung von der übrigen Gemeinde.142 – Schleiermacher denkt sich die Tertullianisten und die in den katholischen Gemeinden lebenden Montanisten wohl in Analogie zu den „vielen ohne ein bestimmtes dogmatisches Princip entstehenden und wieder vergehenden religiösen Gesellschaften“ innerhalb der evangelischen Kirche, die teils auf „religiöser Freundschaft […] zwischen einer Anzahl gleichgestimmter Individuen“ beruhen, teils auch auf Opposition gegen etwas in der Kirche,143 im Falle der Tertullianisten also auf Gleichgesinntheit mit Tertullian und auf ­Opposition gegen die mangelnde kirchliche Strenge gegenüber Sünden und Sündern. In der Vorlesung von 1825/26 fragt Schleiermacher, warum bei der großen Ähnlichkeit zwischen montanistischer und enkratitischer Bewegung sich der Montanismus als so viel wirksamer bei der Gruppenbildung erwies als der Enkratismus, von dem man bald nichts mehr hört, und er kommt zu der These, „daß die Enkratiten, die nur eine kleine Partei blieben, von einem speculativen Gesichtspunkte ausgingen [nämlich der Identifizierung des satanischen Prinzips mit der Materie], und wer den nicht einsah, blieb der Richtung fern; der Montanismus aber hatte eine praktischere Richtung und bestand hauptsächlich in einer Polemik gegen eine laxere Ansicht des Christenthums“.144

Schleiermacher meint also, daß praktisch-sittliche Differenzen eher als dogmatische dazu geeignet sind, daß sich die Massen an ihnen spalten und neu gruppieren. „Streitigkeiten in Bezug auf das Leben finden mehr unter dem Volke Eingang als Differenzen in der Lehre, die immer mehr speculativ sind.“145

142 

Kirchengeschichte 1821/22, 22.–23. Stunde (KGA II/6, S.  54–56) Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  413); vgl. Ueber die Religion 3, S.  331–334 (Erläuterung 16 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  235 f.). 144  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  134; vgl. KGA II/6, S.  132). Vgl. dazu auch Schleiermachers Einschätzung der ersten Kirchenteilungen: „alle Spaltungen aber um einzelner Punkte willen, die keinen weitverbreiteten Einfluß haben, wie die meisten, die sich in den ersten Jahrhunderten von dem großen Körper der Kirche absonderten, verdanken ihre besondere Existenz nur der Hartnäkigkeit des geringen Theils, von welchem die Spaltung ausging“ (Ueber die Religion 3, S.  431 [Erläuterung 3 zur 5. Rede], KGA I/12, S.  300). 145  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  724). – Schleiermacher notiert sich, daß es in Mesopotamien und um Rom Sabellianer gab, macht sich aber um deren Organisationsform keine weiteren Gedanken (Kollektaneum 980, KGA II/6, S.  394). Im Aufsatz über die Trinität schreibt er von „zahlreichen Sabellianischen Gemeinen“ (Ueber den Gegensaz, S.  398, KGA I/10, S.  299). 143 Christliche

6.  Die erste Periode

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6.3.1.6.  Buß- und Ketzertaufstreit Die erste allgemeine Christenverfolgung durch Kaiser Decius traf die Kirche nach einer längeren Friedenszeit. „Bei der großen Verbreitung der Kirche unter allen Ständen stand es natürlich um Sitten und Lebensgenuß wie heute.“

Zahlreiche Christen hielten dem Druck nicht stand und leisteten dem Opfergebot Folge.146 Daraus entstand ein Streit und dann ein Schisma darüber, wie mit den Abgefallenen (lapsi) umzugehen sei, die bereuten und die Wiederaufnahme begehrten. Die Konfessoren (Bekenner, die der Hinrichtung entgangen waren) beanspruchten ein Mitspracherecht in der Frage; ferner gab es Anhänger größerer und minderer Strenge. In Rom kam es bei der Bischofswahl nach dem Märtyrertod des Fabian zu einer Kirchenspaltung zwischen dem milderen Cornelius und dem strengeren Novatian, der gegenüber den lapsi die Position des Montan erneuerte und – bei zugegebener Möglichkeit der göttlichen Verzeihung – eine volle Rekonziliation der lapsi verwarf. In Karthago hatte sich Bischof Cyprian durch Flucht der Verfolgung entzogen; der Presbyter Novatus hatte in Cyprians Abwesenheit in dessen Rechte eingegriffen hatte und war dafür von Cyprian anathematisiert worden. Als Novatus nach Rom ging und sich dort den Novatianern anschloß, wurde auch Cyprian in das römische Schisma verwickelt. Selbst ein Gegner zu großer Milde, ergriff er leidenschaftlich Partei gegen Novatian. Bischof Dionys von Alexandrien bemühte sich um Versöhnung; als aber Novatian selbst die Kirchengemeinschaft mit seinen Gegnern auf kündigte, hob Dionys die Gemeinschaft mit Novatian auf, da dieser die Einheit der Kirche gestört habe.147

An diesen Konflikt schloß sich ein zweiter an, nämlich über die Frage, ob die außerhalb der Kirchengemeinschaft (also speziell von den Novatianern) gespendete Taufe gültig sei. Cyprians Verneinung dieser Frage stand in Kontinuität zur afrikanischen Position gegen Marcioniten und Montanisten. Stephan von Rom hielt die Ketzertaufe dagegen für gültig und kündigte Cyprian die Kirchengemeinschaft auf. Die meisten hielten es mit Cyprian und meinten, Stephan habe sich durch seinen Bann gegen Cyprian nur selbst ausgeschlossen. Auf die Dauer setzte sich in den Kirchen aber die Sicht Stephans durch.148 Bei den Verfolgungen unter Diocletian und Galerius, in denen nun auch die Auslieferung der heiligen Schriften befohlen worden war,149 wiederholte sich in Ägypten zwischen Petrus von Alexandrien und seinem Suffragan Melitius von Lycopolis das Drama

146  Kirchengeschichte

1821/22, 27. Stunde (KGA II/6, S.  66); Kollektaneen 970 f. (KGA II/6, S.  388). – Für Schleiermacher ist die Verleugnung Christi unter Zwang freilich kein echter Abfall vom Glauben (Der christliche Glaube2 1, §  8,3, KGA I/13,1, S.  69). 147  Kirchengeschichte 1821/22, 27. Stunde (KGA II/6, S.  6 6 f.) 148  Kirchengeschichte 1821/22, 27.–28. Stunde (KGA II/6, S.  67 f.) 149 Kirchengeschichte 1821/22, 29. Stunde (KGA II/6, S.   71); Kollektaneum 8 (KGA II/6, S.  144)

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C.  Materialer Teil

zwischen Cornelius und Novatian.150 Ebenso spaltete sich die Kirche in Afrika: Gegen Caecilian von Karthago erhob sich eine Partei, wahrscheinlich nur aus persönlicher Feindschaft. Man behauptete, es habe bei der Weihe Formfehler gegeben, und Felix von Aptunga, der Caecilian geweiht hatte, und Caecilian selbst hätten seinerzeit heilige Bücher ausgeliefert. Die numidischen Bischöfe wählten Majorin zum Bischof, und die Katholischen behaupteten, die Numider ihrerseits seien in der Verfolgung nicht standhaft geblieben und hätten sich untereinander autorisiert, sich gegenseitig den Abfall zu vergeben. Majorins Nachfolger war Donatus, nach welchem dieses Schisma das donatistische heißt.151

All diese Schismen, besonders der Streit um die Anerkennung einer außerhalb der eigenen Organisation und Gemeinschaft gespendeten Taufe, zeigten, meint Schleiermacher, daß eine Aufgabe nicht gelöst war, nämlich die, „zu bestimmen unter welchen Bedingungen der Fall einer gänzlichen Trennung von der Kirche einträte.“152 Da ist zunächst die disziplinarische Frage, ob sich der Einzelne, wenn er in schwere Sünde fällt, selbst von der Kirche trennt und aus der Gemeinschaft ausschließt. Montan und Novatian schlossen die Gefallenen von der Teilhabe am Sakrament aus, und zwar für immer; die prinzipielle Möglichkeit einer göttlichen Begnadigung sprachen sie ihnen allerdings nicht ab.153 Schleiermacher meint zwar, die Polemik gegen eine laxe Auffassung des Christentums sei die gute Seite am Montanismus gewesen,154 hält die montanistisch-novatianische Strenge im Bußverfahren aber für inkonsequent: Die Gefallenen sollten zur Buße ermahnt werden, und ein solches Einwirken auf sie setze doch eigentlich die Kirchengemeinschaft voraus. Novatian habe aber wahrscheinlich gar nicht die Gemeinschaft mit den Büßenden bestreiten wollen, er habe nur die Teilnahme am Abendmahl davon getrennt und das Abendmahl statt als Darstellung der Gemeinschaft als Genuß aufgefaßt.155 Den Katholischen dagegen bescheinigt Schleiermacher unbeschadet ihrer laxeren Praxis eine größere Härte in der Theorie: Sie meinten letztlich, daß die Kirche über die göttliche Vergebung bestimmen könne. Wen die Kirche also vom Sakrament ausschließe, der sei nicht nur vom darstellenden Handeln der Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern zugleich auch von der Gemeinschaft der Heiligen, von der Teilhabe an der göttlichen Vergebung und vom Heil. Da nun alle Kirchenhandlungen als Gnadenmittel angesehen wurden, mußte auch die kirchliche Buße die Gnade mit150  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  69); Kollektaneum 984 (KGA II/6, S.  394) 151  Kirchengeschichte 1821/22, 29. Stunde (KGA II/6, S.  72 f.) 152  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  6 8) 153  Kirchengeschichte 1821/22, 22. und 27. Stunde (KGA II/6, S.  54. 66 f.) 154  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  134) 155  Kirchengeschichte 1821/22, 27. Stunde (KGA II/6, S.  6 6 f.); Kollektaneum 38 (KGA II/6, S.  150). – Vgl. dazu auch Der christliche Glaube2 2, §  145,2 (KGA I/13,2, S.  416 f.), wonach es einen vollkommenen Kirchenbann, der alle Gemeinschaft und damit auch alle Einwirkung auf hebt, nicht geben könne.

6.  Die erste Periode

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teilen, also letztlich wieder zur vollen Gemeinschaft der Kirche und zur sichtbaren Heilsteilhabe führen.156 Dementsprechend hatte die Kirche schon im dritten Jahrhundert ein System von Bußstufen ausgebaut, vom Warten an der Kirchentür über die passive Anwesenheit bei den verschiedenen Teilen des Gottesdienstes bis hin zur vollen Wiederzulassung zur Eucharistie.157 Im Ketzertaufstreit wird die zweite Frage virulent: Wenn zwei Kirchen die Gemeinschaft miteinander aufgehoben haben und in Opposition zueinander stehen, gilt diese Trennung dann absolut, also so, daß jede Kirche der anderen insgesamt die Christlichkeit absprechen muß? Cyprian und Novatian bejahten dies und erklärten die Taufe der jeweils anderen Seite für ungültig. Offensichtlich waren sie der Meinung, daß die Einheit der Kirche auch in der wechselseitigen Anerkennung ihrer Amtsträger bestehe und sichtbar sein müsse. Cyprian leugnete konsequenterweise, daß Novatian, wenn er für seinen Glauben stürbe, ein christlicher Märtyrer wäre. Stephan von Rom dagegen lehnte es ab, getaufte Ketzer noch einmal zu taufen. Offenbar hatte er ein Bewußtsein davon, daß die Sakramente von der Würde ihres Spenders unabhängig seien und daß man, jedenfalls von denen, die wie die Montanisten und Novatianer keine von den katholischen abweichenden Dogmen vertraten, auch bei gegenseitigem Bann nicht vollständig getrennt sei. Dabei zögerte Stephan nicht, Cyprian wiederum wegen seiner abweichenden Meinung in der Frage der Ketzertaufe mit dem Bann zu belegen.158 6.3.1.7.  Suche nach der Einheit, Ende der Opposition gegen Staat und Gesellschaft Woher die wachsende Gefahr der Spaltung, die die Kirche am Ende dieser Periode bedroht? Da ist zunächst die auch schon für das apostolische Zeitalter konstatierte schnelle äußeren Verbreitung: Mit ihr konnte die intensive Auf156  Kirchengeschichte 1821/22, 27. Stunde (KGA II/6, S.  67). Ähnlich beurteilt Schleiermacher schon die Haltung der Katholischen im Bußstreit mit den Montanisten (Kirchengeschichte 1821/22, 22. Stunde, KGA II/6, S.  54). – Vgl. dazu auch Schleiermachers Erörterung in der Christlichen Sitte von 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  109 f.; SW I/12, S.  162– 166), wonach die Ausschließung vom Gottesdienst und Abendmahl als Kirchenstrafe absurd sei (wenn nämlich die Teilnahme am Kultus einen Unbußfertigen bessern könne, dann dürfe er nicht von ihr ausgeschlossen werden; sei sie aber ein Übel für den Unbußfertigen, dann sei der Ausschluß von ihr ein Gutes, also keine Strafe). Als vorübergehenden Ausschluß eines Unbußfertigen vom darstellenden Handeln der Kirche könne man sie begründen, allerdings falle das ins Gebiet des darstellenden, nicht des reinigenden Handelns und gehöre somit nicht zur eigentlichen Kirchenzucht. 157  Kirchengeschichte 1821/22, 27. Stunde (KGA II/6, S.  6 6 f.); Kollektaneum 177 (KGA II/6, S.  181). Vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  109 f.; SW I/12, S.  162). Als Dokumente der Bußdisziplin des frühen vierten Jahrhunderts erörtert Schleiermacher die Epistola canonica des Petrus von Alexandrien und die Dekrete der Synode von Elvira oder Illiberis in Spanien, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 29. Stunde (KGA II/6, S.  71 f.); Kollektaneen 180 f.; 992 (KGA II/6, S.  181 f. 396). 158  Kirchengeschichte 1821/22, 27.–28. Stunde (KGA II/6, S.  67 f.)

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C.  Materialer Teil

nahme des Christentums nicht Schritt halten, und so drang viel Heidnisches in das christliche Leben ein. Die Wirkung des Gemeingeistes auf den Einzelnen (nach dem Sprachgebrauch der Sittenlehre die Kirchenzucht, vgl. oben Abschnitt 4.2.3.) hätte das christliche Leben davon reinigen sollen; doch die damalige Kirchenverfassung war für die große Ausdehnung nicht eingerichtet und mit der Bewältigung eines so großen Zustroms überfordert, zumal die, die zu einer intensiven Vertiefung des Christentums hätten helfen sollen, sich aus dem gemeinsamen Leben in ein fruchtloses Einsiedlertum zurückzogen. Aber nicht nur das durch die Extension eingeschleppte Fremde, auch die allmähliche intensive Aufnahme des Christentums durch unterschiedliche Individuen und Gruppen führt zur wachsenden Uneinheitlichkeit in der Kirche. Und drittens „fing eine starke Richtung auf das äußerliche an zu dominiren, ebenso gefährlich, wie das vorige [scil. das Eindringen des Heidentums], und um so mehr, da sich keine ­Opposition dagegen erhob.“159

Es hatte sich also allgemein die Ansicht durchgesetzt, die Einheit der Kirche bestehe nicht nur in dem allem zugrundeliegenden christlichen Gefühl, sondern auch in einerlei Äußerungen dieses Gefühls, mithin stelle jede Differenz in der äußeren Einrichtung der Gemeinden und in der Lehre zugleich die Einheit der Kirche in Frage. (Dies ließ sich schon im Osterstreit beobachten.) In der Konsequenz wäre an die Stelle der Ökumene eine Anzahl voneinander isolierter Gruppe getreten, deren jede ihre individuelle Ausprägung für das Christentum selbst erklärt hätte und in denen, da sie nicht mehr reinigend und mildernd aufeinander gewirkt hätten, das Fremde, Unchristliche immer mehr Überhand genommen hätte. Gegen das völlige Auseinanderfallen der christlichen Kirche war die gegenseitige Anerkennung der Taufe bei Kirchenspaltungen ein erster Schutz. Durch sie erkennen polemisch einander gegenübertretende Kirchen gegenseitig noch an, auf einem gemeinsamen Grund zu stehen. Auch in der Glaubenslehre sieht Schleiermacher in der gegenseitigen Taufanerkennung ein die verschiedenen Kirchengemeinschaften bei aller Polemik gegeneinander vereinigendes Band.160 Ein zweiter Schutz gegen Spaltungen war die Maxime aus Pamphilus’ Schutzschrift für Origenes, daß man bei Kontroversen um Fragen, über die Jesus und die Apostel nichts gelehrt hätten, keine Ketzerurteile und Bannflüche aussprechen sollte.161 Der Maßstab, daß das als christlich gilt, was eine Fortwirkung des gemeinschaftsstiftenden Handelns Christi ist, ist hier also negativ angewendet: Was der Lehre Christi und der Apostel nicht widerspricht, soll auch nicht als 159 

Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  724) 1821/22, 27. Stunde (KGA II/6, S.  68); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  135 f. 574); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  724); Kirchliche Statistik 1827, 53. Stunde (KGA II/16, S.  384); Der christliche Glaube2 2, §  151,2 (KGA I/13,2, S.  4 40); Kirchliche Statistik 1833/34, 2. Stunde (KGA II/16, S.  469) 161  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  70 f.) 160  Kirchengeschichte

6.  Die erste Periode

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unchristlich verdammt werden. (Hier ging es freilich nicht um die Differenzen, anhand deren die Spaltungen zu entstehen pflegten, nämlich die praktischen, sondern um das dogmatisch-spekulative Gebiet, das höchstens einzelne Exkommunikationen zeitigte.) Der dritte und entscheidende Schutz aber war die Verbindung der Kirche mit dem Staat. Kaiser Gallienus gewährte den Christen schon um 260 erstmals Sicherheit und ruhigen Besitz ihrer Bürgerrechte; dies erwähnt Schleiermacher, um zu zeigen, daß die Wende unter Konstantin kein Bruch in der Geschichte, sondern Endpunkt einer allmählichen Entwicklung war.162 Im Fall des Paul von Samosata, der die Ökumene in den 260er Jahren aufregte, konnte das synodale Absetzungsurteil gegen Paul erst mit staatlicher Hilfe vollzogen werden. Paul ist selbst der erste Kirchenfürst, der zugleich als ducenarius ein obrigkeitliches Amt innehat und beide Bereiche nicht ordentlich voneinander scheidet.163

Wo das Äußerliche vorherrscht, müssen sich die verschiedenen Teile der Kirche, um nicht auseinanderzufallen, beständig miteinander austauschen und aneinander angleichen. Dazu stellt Kaiser Konstantin der christlichen Kirche staatliche Hilfsmittel zur Verfügung und macht dies durch seinen Übertritt zum Christentum zu einer dauerhaften Einrichtung. Der erste Akt dieser neuen Verbindung war es, daß Konstantin im Jahre 314 die Bischöfe seines Reichs nach Arles zu einer Synode einberief, um das donatistische Schisma beizulegen. Schleiermacher betrachtet diesen Wendepunkt nicht für den großen Sündenfall in der Kirchengeschichte, sondern erklärt ihn umgekehrt geradezu zu einer geschichtlichen Notwendigkeit: Ohne die Hilfe von Seiten des Staates z. B. bei der Organisation und Durchführung der Synoden hätte die Kirche ihre Einheit nicht aufrechterhalten können.164 In der kirchlichen Statistik nennt Schleiermacher diese organisatorische Unterstützung, die noch keine staatliche Regierung in der Kirche darstellt, die „Advokatie“ des Staates über die Kirche.165 Konstantin hatte vorher die diocletianischen Edikte gegen die Christen kassiert und die Duldung des Christentums verkündet.166 Dauernde Rechtssicherheit im Staat ist etwas epochal Neues für die Christen, sie setzt neue Kräfte für die Verbreitung, Lehrbildung und innere Organisation frei.167 162  Kirchengeschichte

1825/26 (SW I/11, S.  143; KGA II/6, S.  723); vgl. dazu auch Kirchengeschichte 1821/22, 30. Stunde (KGA II/6, S.  74). 163 Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.   69  f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  725); Kollektaneum 8 (KGA II/6, S.  144) 164  Kirchengeschichte 1821/22, 29.–30. Stunde (KGA II/6, S.   73 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  134. 723–725); vgl. Kollektaneum 184 (KGA II/6, S.  182): „Neigung zum Zerfall. Mangel bestimmter Verfassung. Dies das wohlthätige der Constantinischen Bekehrung.“ 165  Kirchliche Statistik 1827, 55.–57. Stunde (KGA II/16, S.  392–394. 397 f.) u.ö. 166  Kirchengeschichte 1821/22, 30. Stunde (KGA II/6, S.  75) 167  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  694. 701). Aus ebendiesem Grund sind in der vierten Periode für Schleiermacher der Augsburger und der Westfälische Friede mit

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C.  Materialer Teil

Nimmt die Geschichte der Kirche somit die dem ethischen Prozeß entgegengesetzte Richtung, hin zur Abhängigkeit vom Staat und zur Vermischung statt zur Scheidung der ethischen Formen?168 Das ist nur scheinbar so; die beginnende Zusammenarbeit von Kirche und Staat setzt nämlich gerade die Erkenntnis und das Bewußtsein voraus, daß beide Formen nicht in Konkurrenz zu­ein­ ander stehen, daß der skrupulöse Selbstausschluß der frühen Christen vom politischen und gesellschaftlichen Leben ebenso unbegründet ist wie die Verfolgung des Christentums als einer Gefahr der bestehenden bürgerlichen Ordnung durch den Staat, daß vielmehr beide Formen einander unterstützten und ergänzten. Und so steht am Ende dieser Periode der Selbstfindung des Christentums das Bewußtsein seiner Eigenständigkeit nicht nur gegenüber den bisherigen Religionen, sondern auch gegenüber dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft.

6.3.2.  Wissenschaft und Lehre 6.3.2.1. Schulen Die wissenschaftliche Theologie des Christentums entstand aus der Berührung des Christentums mit der griechischen Wissenschaft, zu der es früher oder später kommen mußte, wollte das Christentum nicht „eine plebeje Religion bleiben“:169 Gebildete Christen, die sog. Apologeten, machten erste Versuche, das Christentum im wissenschaftlichen Diskurs mit den Begriffen der Philosophie darzustellen und zu verteidigen, und zur innerkirchlichen Klärung dessen, was christlich sei und was nicht, wurden der religiöse Sprachgebrauch und das Verständnis der apostolischen Überlieferung einer Kritik unterzogen. Damit waren die ersten theologischen Disziplinen geboren: die Apologetik, die Dogmatik und Polemik und die Exegese. Theologische Arbeit kann sich Schleiermacher nirgends anders vorstellen als an einer Schule, also einer Anstalt des gemeinsamen Forschens und Lernens und der Wissensweitergabe. Offenbar denkt Schleiermacher sich diese Anstalten nach Analogie der griechischen Philosophenschulen. Als wichtigste Schulen nennt er die in Antiochia und Alexandria. Die erste litt daran, daß sie zu eng mit dem Bischofsstuhl verbunden war, also immer von der Tauglichkeit und dem wissenschaftlichen Interesse des jeweiligen Amtsinhabers abhing. Noch bedeutender als sie war die alexandrinische sog. Katechetenschule. Sie stellte wohl beides dar, eine Schule für Katechumenen, unter denen es in Alexandria seiner rechtlichen Sicherstellung der Reformation diejenigen Zeitpunkte, an denen die Epoche der Reformation sich abschließt und die kirchliche Zeitgeschichte beginnt, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 96–99. Stunde (KGA II/6, S.  652–656). 168  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3. und 6. Stunde (KGA II/6, S.  11. 14 f.); Ethik 1812/13, Güterlehre, Vollkommene ethische Formen, §  199 (Werke 2, S.  359) 169  Kirchengeschichte 1821/22, 15. Stunde (KGA II/6, S.  38)

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viele gebildete, für einen wissenschaftlichen Unterricht geeignete gegeben haben wird, und eine Ausbildungsstätte für die Katecheten (also nach der Nomenklatur in Schleiermachers Entwurf des deutschen Universitätswesens zugleich ein Gymnasium und eine Universität). Die alexandrinische Schule war vom Bischof unabhängig organisiert; ihre Lehrer standen außer dem Klerus, und so vermutet Schleiermacher, daß die ganze Anstalt mehr eine Privatunternehmung war.170 Die römischen Adoptianer bildeten wie die Alexandriner eine von Bischof und Klerus unabhängige Schule, standen aber anders als diese auch nicht im Zusammenhang mit der Gemeinde und ihren Bildungsanliegen und galten folgerichtig bald als ein Zirkel von kritisch geschulten Zweiflern und Ketzern.171 Ähnlich stellt Schleiermacher sich wohl die christlich-gnostischen Schulen Marcions und Valentins vor,172 und er kann den Gnostizismus auch insgesamt eine Schule nennen,173 also einen mehr wissenschaftlichen als religiösen Verein, für dessen Mitglieder nicht das Verhältnis von Klerikern und Laien konstitutiv ist, sondern das von Lehrern und Schülern. Schließlich gab es unter den Apologeten ehedem heidnische Schulphilosophen wie Justin und Athenagoras, die ihren Mantel weitertrugen, die also auch als Christen nicht dem weltlichen Bildungsbetrieb entsagten.174 6.3.2.2. Gnostizismus Das Phänomen des Gnostizismus, die Überfremdung des Christlichen durch das Hellenische (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.2.), hängt mit dieser ersten Begegnung zwischen dem christlichen Glauben und der Wissenschaft zusammen. In der Kirchengeschichte von 1821/22 erscheint der Gnostizismus als ihr Nebenprodukt: Die ersten wissenschaftlich-theologischen Versuche über den christlichen Glauben „nannte man γνῶσις [,] und es konnte nur ein Eigenthum Weniger sein, wogegen das Christenthum als Gemeingut aller πιστις hieß.“

Als Gnostizismus aber bezeichne man solche Richtungen seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts, die die γνῶσις nur sich zuschrieben und den übrigen auch gelehrten Christen allein die πίστις zugestanden, sich damit von diesen abson170  Kirchengeschichte 1821/22, 20. und 25. Stunde (KGA II/6, S.  49 f. 60 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  132; SW I/11, S.  130); Kollektaneum 29 (KGA II/6, S.  148). Vgl. Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, Berlin 1808, S.  22–41 (KGA I/6, S.  30–39). 171  Kollektaneen 34; 974 (KGA II/6, S.  149. 389); Ueber den Gegensaz, S.  3 03 f. (KGA I/10, S.  230) 172  Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.   45); Kollektaneum 30 (KGA II/6, S.  149) 173  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  127); Kollektaneum 123 (KGA II/6, S.  167) 174  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  130)

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dernd; von den neu entstandenen christlichen Schulen wurden sie als Häretiker und ihre Gnosis als „fälschlich so genannte“ (1 Tim 6,20) bezeichnet.175 Gnosti­ zismus entsteht also, wo sich die wissenschaftlich-theologische Erkenntnis vom Glauben und vom Interesse der Kirchenleitung emanzipiert. In der Kirchengeschichte 1825/26 dagegen ist der Gnostizismus selbst die erste wissenschaftliche Theologie: Während die Abhandlungen der rechtgläubigen Zeitgenossen eher zur Gattung der populären Diatribe gehörten, stelle der Gnostizismus eine systematisch-spekulative Durchdringung der Lehre dar und sei damit Anstoß und Katalysator für alles Spätere. Zwar werde im Gnostizismus das Theologische von einer bestimmten philosophischen Kosmologie überlagert, doch das wäre damals bei jedem wissenschaftlich-theologischen System der Fall gewesen. Ohne gnostische Vorbilder hätte es die Werke eines Clemens oder Origenes, die die kirchliche Lehre wissenschaftlich-systematisch, aber ohne hellenisierende Verfremdungen entwickelten, wohl nicht gegeben.176 Sieht man ab vom Aufsatz über die Trinitätslehre, so hat Schleiermacher sich wissenschaftlich wohl mit keinem kirchengeschichtlichen Gebiet so intensiv befaßt wie mit der Gnosis. Das vielschichtige Phänomen zu erfassen, macht ihm aber einige Mühe: „Sehr schwierig die Namenbestimmung, die richtige Zusammenfassung und Scheidung der Erscheinungen.“177

Schon der spätere gemeinsame Name „Gnostiker“ sei nicht selbstverständlich, denn Irenäus und Epiphanius bezeichneten jeweils nur einen Teil von ihnen als Gnostiker, und bei Plotins Abhandlung in den Enneaden, der sein Schüler Porphyr den Titel „Gegen die Gnostiker“ gab, sei unklar, gegen wen sie sich eigentlich richte. Die später übliche Gesamtbezeichnung „Gnostiker“ stimme am meisten mit dem Sprachgebrauch Clemens’ von Alexandrien überein.178 Die Begriffe der Gnosis und des Gnostizismus hat Schleiermacher also nicht selbst gebildet; er hat sie vielmehr bereits vorgefunden und übernommen. In der Dialektik sagt er, daß ein Begriff im wissenschaftlichen Prozeß eine Entwicklung hin zu immer größerer Adäquatheit mit der Konstruktion und dem Gegenstand des Wissens nehmen müsse; das Ziel sei dann erreicht, wenn in der Begriffsbildung die Induktion vom Besonderen zum Allgemeinen und die Deduktion vom Allgemeinen zum Besonderen zu einem übereinstimmenden Er175 

Kirchengeschichte 1821/22, 15. Stunde (KGA II/6, S.  38) Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  719 f.). – Wilhelm Münscher: Handbuch der christlichen Dogmengeschichte, Band 1, Marburg 1797, S.  102–112, sah ebenfalls die Gnostiker als Anfänger der wissenschaftlichen Theologie. Er bemüht sich bei der Frage, ob die Anwendung philosophischer Spekulation auf die Glaubenslehre die verfälscht habe, um ein ausgewogenes Urteil, sieht aber in ihr nicht wie Schleiermacher eine Notwendigkeit für die weitere Entwicklung des Christentums. 177  Kirchengeschichte 1821/22, 15. Stunde (KGA II/6, S.  38) 178  Kirchengeschichte 1821/22, 15.–16. Stunde (KGA II/6, S.  38 f.) 176 

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gebnis gelangt seien. Wer an diesem Prozeß teilnehme, müsse sich, wo möglich, Rechenschaft über die bisherige Genese eines Begriffs geben.179 Die im bedingten (d. h. an praktische Zwecke gebundenen) Denken des gemeinen Lebens gebildeten Begriffe eigneten sich nicht unbedingt für die Konstruktion des Wissens, und vor allem bei der Übernahme polemischer Begriffe müsse man äußerst vorsichtig sein.180 „Man denke nur an die politischen und religiösen Parteinamen, z. B. Liberalismus, Aristokratismus, Mysticismus: so ist klar, daß hier eine solche Verwirrung herrscht, daß man erst das ganze System von Terminologie ausrotten müßte, wenn man sie auf heben wollte.“181

Die Zusammenfassung verschiedener Phänomene unter einem gemeinsamen Begriff, nämlich „Gnostizismus“, entspricht weder unbedingt dem Selbstverständnis der Gnostiker noch der Wahrnehmung der Zeitgenossen; allerdings hatten die Zeitgenossen doch mindestens eine Ahnung von der Zusammengehörigkeit dessen, was man später allgemein unter den Begriffen der Gnosis und des Gnostizismus subsumierte. Schleiermacher rottet „das ganze System der Terminologie“ also nicht aus, sondern er geht den Weg der Induktion und stellt die verschiedenen gnostischen Richtungen nacheinander je für sich dar: „Es ist also am besten sie einzeln vorzunehmen nicht zwar nach genauer chronologischer Ordnung, sondern wie die einzelnen Elemente am besten ans Licht treten“.182 Bei Cerdo dem Syrer fehlt noch das mythologisch-kosmologische Moment. Er insistiert auf der Differenz zwischen Altem und Neuem Testament: Der Gott des Alten Testaments sei gerecht, der Vater Jesu Christi aber gnädig und gut. Ob Cerdo dabei an zwei verschiedene Wesen oder nur an zwei Vorstellungsarten dachte, ist ungewiß. Die Hauptabsicht aber war sicher das Letztere: Gegenüber dem Judentum bedeutet das Neue Testament einen Fortschritt; ihm liegt ein neues und vollkommeneres Bewußtsein von Gott zugrunde.183 Die Differenzierung Cerdos wird bei Saturnil, ebenfalls Syrer, zu einer bestimmten Unterscheidung zwischen dem inferioren Schöpfungs- und Judengott und dem höchsten Gott: Jener habe zusammen mit Engelwesen die Welt und die Menschen geschaffen, dieser habe den Menschen am Anfang einen göttlichen Funken eingehaucht und ihnen zuletzt den Erlöser gesendet. Die Menschheit teilt sich in die Reihe der nach der Natur Guten und der nach der Natur Bösen. – Saturnils Vorstellungen leitet Schleiermacher sämtlich aus Bibel, Judentum und Christentum her; der Leitgedanke sei die

179 Dialektik 1818/19 (KGA II/10,2, S.   282–284); Dialektik 1822, 62. Stunde (KGA II/10,2, S.  608–612) 180  Dialektik 1814/15, 66.–67. Stunde (§  3 00 f.) (KGA II/10,1, S.  189 f.); Dialektik 1822, 72. Stunde (KGA II/10,2, S.  651 f.); Dialektik 1831, 76. Stunde (KGA II/10,1, S.  350) 181  Dialektik 1831, 76. Stunde (KGA II/10,2, S.  789) 182  Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde (KGA II/6, S.  39) 183  Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde (KGA II/6, S.  39); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  131)

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Theodizeefrage an, die Erklärung des Übels in der Welt und der Notwendigkeit einer Erlösung.184 Basilides aus Alexandrien bildete die Theorie von den Zwischeninstanzen zwischen dem ungezeugten Einen und der mannigfaltigen sichtbaren Welt weiter aus und kam zu einer Emanationenlehre nach Art des späteren Neuplatonismus, die erklären soll, wie das Unvollkommene aus dem Vollkommenen entsteht. Der Erlöser Christus ist für Basilides identisch mit dem νοῦς als der ersten und obersten Emanation aus dem Einen. Wie schon Saturnil lehrt Basilides, daß Christus nur einen Scheinleib gehabt habe. Er begründet das damit, daß das Übel aus den Leidenschaften und diese aus der Vermischung und Verwirrung des Geistigen mit dem Materiellen entstünden; um davon frei zu sein, mußte der Erlöser körperlos bleiben und durfte nicht leiden. Darin zeige sich aber zugleich, meint Schleiermacher, daß die Gnostiker auch an die volle Göttlichkeit des Erlösers nicht glaubten, denn dann hätten sie das Göttliche in ihm für stark genug halten müssen, um den schädlichen Einfluß des Leiblichen zu hemmen, „und so sehn wir schon hier[,] wie genau[,] wenn die Idee der Erlösung bestehn soll[,] abläugnen des wahrhaft göttlichen und Abläugnen des wahrhaft menschlichen im Erlöser zusammenhängen.“ Die verschiedenen Schicksale der Menschen sieht Basilides in der Güte oder Schlechtigkeit von deren präexistenten Seelen begründet.185 Carpocrates zeichnet sich durch die Rezeption platonischer und pythagoreischer Vorstellungen aus: Er meinte, die Seelen der Menschen seien vor ihrer Einleibung bei Gott und schauten ihn; die Unterschiede zwischen den reinen und den bösen Menschen beruhten auf der verschiedenen Stärke, mit der sich die Seelen an die Gottesschau erinnerten. Christi Vorzüglichkeit komme also von der besonders lebhaften Erinnerung seiner Seele an Gott. Damit aber ist der Unterschied zwischen Christus und den übrigen Menschen nur graduell, so daß man hier von einem gnostischen Ebionitismus sprechen kann. – Zu der platonischen Vorstellung von der Erinnerung der Seele an ein Wissen aus der Zeit vor ihrer Einleibung kommt die pythagoreische Seelenwanderungslehre: Die an die Materie gebundene Seele werde erst befreit, wenn sie ihren Kreis der Werke vollendet habe. Die Gegner behaupteten darauf hin, die Carpocratianer riefen dazu auf, sich im Leben an allen Lüsten zu sättigen, weil deren Erfahrung sonst in weiteren Leben werde nachgeholt werden müßten; auch lehrten und praktizierten die Carpocratianer die platonische Theorie von der Weibergemeinschaft.186 Bei Valentin ist die Kosmologie am weitesten ausgesponnen: Er unterscheidet zwischen der Existenz, wie er sie den Äonen, den Emanationen aus dem göttlichen Wesen, zuschreibt, und der Existenz durch Verbindung mit der Materie ( ὕλη ), einer Substanz ohne Form, die die Weisheit, eine der Emanationen, aus Sehnsucht nach dem Urgrund aus sich gebar. Christus gehört zur oberen, der Äonenwelt; er hat nichts Verderbliches

184  Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde (KGA II/6, S.  39 f.); Kollektaneum 111 (KGA II/6, S.  165) 185 Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde (KGA II/6, S.   40 f.); Kollektaneen 79; 112 (KGA II/6, S.  158. 165) 186  Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.  43 f.); Kollektaneum 130 (KGA II/6, S.  169 f.). In der Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  120) bringt Schleiermacher die von den Carpocratianern mindestens als abstrakte Möglichkeit zugestandene Übertrefflichkeit Christi mit dem theologischen Rationalismus und seiner Vorstellung von einer Perfektionierung des Christentums (vgl. oben Abschnitt 4.1.) in Zusammenhang.

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und an sich und war nicht mit der Materie verbunden.187 Die Äonenlehre erscheine oft unsinnig, aber das verdanke sich wohl nur der symbolisch-poetischen Form der Theogonie, unter der sie von Valentin vorgetragen wurde.188 Daß die Hauptsache die Abgrenzung vom Judentum ist und die Äonenlehre nur eine Hilfstheorie dazu darstellt, zeigen Valentins Schüler Heracleon und Ptolemäus. Beide bestreiten nicht, daß Christus an das Alte Testament anknüpfte. Heracleon erklärt das Alte Testament für das Elaborat des Schöpfergottes, der ursprünglich ganz ohne Bewußtsein für den Erlösergott sei; Christus habe es bloß aus Bescheidenheit rezipiert. Ptolemäus differenziert innerhalb der alttestamentlich-jüdischen Religion zwischen der göttlichen Offenbarung, den mosaischen Zusätzen und der späteren Tradition: Das Göttliche habe Christus beibehalten und ihm einen höheren Sinn gegeben, das andere habe er abgeändert oder abgeschafft.189 Marcions Theorie ist demgegenüber ein einfacher Dualismus, ohne Allegorisierung der Bibel und ohne kosmologische Spekulationen: Die beiden Prinzipien sind die ungeschaffene Materie und der ungeborene höchste Gott; das psychische Abbild der Materie sei der Satan, dasjenige des höchsten Gottes der Gott der Schöpfung und des Gesetzes. Der höchste Gott habe sich den Menschen erst in Christus offenbart und ihnen das neutestamentliche Prinzip der Liebe gebracht. Die göttlichen Eigenschaften des Alten und des Neuen Testaments hat Marcion also bestimmter als Cerdo auf zwei verschiedene Wesen verteilt; vielleicht sei das die Nachwirkung eines nur unzureichend ausgetilgten Polytheismus.190

Was also ist das Allgemeine, das diese verschiedenen Phänomene des Gnostizismus verbindet? Es ist nicht die mythisch-spekulative Kosmologie: Die arithmetisch-physikalischen Theorien Saturnils und Basilides’ gehören für Schleiermacher ebenso wie die valentinianische Äonenlehre nur insofern in die Kirchengeschichte, als sie das Welt- und Schöpfungsverständnis betreffen; ansonsten sind sie Teil der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte.191 Es ist zunächst auch nicht der strenge, mit einer spezifischen Soteriologie verbundene Dualismus zwischen Materiellem und Immateriellem. Sondern – Schleiermacher deutet das eher an, als daß er es deutlich ausspräche – es ist die Bestreitung der Einheit aller göttlichen Offenbarungen oder, anders ausgedrückt, der Einheit der Heilsgeschichte. Bei Cerdo erscheint dieses Moment als Lehre von der Inferiorität des Alten Testaments gegenüber dem Neuen.192 Ein zweites Element (das aber auch gut dem ersten zugrunde liegen kann) ist die Theodizee, also die Frage nach dem Woher des Bösen: Im Christentum wird die Erlösung zur Zentralvorstellung; zugleich bringt es die ehemaligen Juden und Heiden zu einer reineren Vorstellung von Gott. Dies wirft die Frage auf, wie das Böse, durch das 187  Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.  4 4); Kollektaneum 131 (KGA II/6, S.  170) 188 Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde, Nachtrag (KGA II/6, S.   44); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  122 f.); Kollektaneum 52 (KGA II/6, S.  153) 189  Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.  45) 190  Kirchengeschichte 1821/22, 18.–19. Stunde (KGA II/6, S.  45–47); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  131; SW I/11, S.  109 f.) 191  Kirchengeschichte 1821/22, 17.–18. Stunde (KGA II/6, S.  42. 44) 192  Kirchengeschichte 1821/22, 16. und 19. Stunde (KGA II/6, S.  39. 48)

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die Erlösung notwendig wird, mit Gottes Reinheit und Güte zu vereinbaren sei. Das Theodizeeproblem ist also etwas genuin Christliches. Die Lösung der Gnostiker besteht darin, die Weltschöpfung nicht dem höchsten Gott, sondern minderen Wesenheiten zuzuschreiben.193 Aus der Theodizee folgt schließlich das dritte Element des Gnostizismus, der Doketismus: Der Erlöser darf das Böse nicht an sich haben, also auch nichts aus der körperlich-materiellen Welt.194 Anders stellt Schleiermacher den Gnostizismus in seiner Philosophiegeschichte dar: Hier steht die Äonenlehre im Zentrum des Interesses als ein Versuch, die Herkunft des Endlichen und Materiellen aus dem Unendlichen zu erklären; der Gnostizismus wird als eine dem Neuplatonismus verwandte Weltanschauung vorgestellt. Den christlichen Theologen sei vor allem anstößig gewesen, daß Gott und der Weltschöpfer nicht identisch gesetzt würden; doch sie hätten damit das Wesentliche nicht unbedingt erfaßt, und das, was sie berichteten, sei zum Teil grob verzerrt.195 In der Kirchengeschichte stellt Schleiermacher sich also gewissermaßen auf den Standpunkt der philosophisch inkompetenten Kirchenschriftsteller.

Wie lassen sich nun die Phänomene und Gruppen des Gnostizismus ordnen? Theodoret teilt die Gnostiker ein in solche, die eine Äonenlehre vertraten, und solche, die das nicht taten; zur zweiten Gruppe rechnet er aber nur Cerdo, Marcion samt Schülern und die Manichäer. Schleiermachers Berliner Kollege und weiland Hallenser Schüler August Neander wiederum, der Verfasser einer ersten Monographie über die genetische Entwicklung der gnostischen Systeme, sah die Wurzel des Gnostizismus in der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie und ihren Allegorisierungen. Schon das frühe Judentum rückte Gott immer mehr ins Jenseits und ließ ihn durch vermittelnde Engelwesen in der Schöpfung agieren. Die jüdisch-alexandrinische „Theosophie“ identifizierte diese Mittlerwesen mit den schaffenden und offenbarenden Zwischeninstanzen zwischen Gott und der sichtbaren und materiellen Welt im Sinne des Platonismus, und aus ihr entwickelte sich der Gnostizismus mit seiner spekulativen Kosmologie und Soteriologie. Der Gnostizismus wurzelt damit im Judentum, tendiert aber zugleich dazu, das Judentum und überhaupt jede äußerlich eingerichtete Religion als toten Buchstabenglauben und Materialismus abzuwerten, und somit kann man in ihm eine mehr jüdische und eine mehr antijüdische Gruppe unterscheiden. – Schleiermacher ist von Neanders Monographie abhängig, will den Gnostizismus aber nicht mit Neander oder auch Theodoret in verschiedene 193  Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde (KGA II/6, S.  4 0); vgl. auch 25. Stunde (KGA II/6, S.  62); Kollektaneen 53 110; 122; 134 (KGA II/6, S.  153. 164. 167. 170 f.). Vgl. zum Christentum als Erlösungsreligion auch Der christliche Glaube2 1, §  11,2–4 (KGA I/13,1, S.  95–99). 194  Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde (KGA II/6, S.  41); vgl. Der christliche Glaube2 1, §  22,2 (KGA I/13,1, S.  157 f.). 195  Geschichte der neueren Philosophie 1812, 15.–17. Stunde (SW III/4,1, S.  160–165). – Vgl. dagegen Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.  46), wonach die Äonenlehre nur eine Fortspinnung der jüdischen Engellehre sei.

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Hauptgruppen einteilen, sondern kommt zu dem Ergebnis, er sei „Eine vielspizige Masse“ aus verschiedenen Elementen, dualistischen, jüdischen, christlichen und hellenischen, die in den einzelnen Richtungen mehr oder weniger stark hervortreten. „Denn als Annäherung an Dualismus ist Marcion die höchste Spize, als hyperhellenisch im Gegensaz gegen das Judenthum ist es Carpocrates als Vereinigung des göttlichen und menschlichen in Christo ist es Valentin; am meisten in der Mitte und darum am nächsten dem katholischen steht Basilides.“196

Trotz allen Ketzereien will Schleiermacher die Gnostiker für das Christentum retten, wenn auch gewissermaßen als Randerscheinung; er zeigt Verständnis197 und sogar Sympathien für sie: Wenn Basilides die mit Erwartungen sinnlicher Belohnungen im Jenseits verbundene Martyriumssehnsucht als Ausdruck eines rohen, im Grunde diesseitig-materiellen Glauben beurteilt habe, habe er nicht unrecht. Auch habe er sich der Ansicht entgegengestellt, die Verfolgungen seien ein Werk des Teufels, er habe in den Verfolgern stattdessen Werkzeuge Gottes zur Läuterung gesehen und gesagt, er wolle alles behaupten, nur das nicht, daß die Vorsehung schlecht sei. Hier verteidigt also ausgerechnet ein Gnostiker die Einheit des Abhängigkeitsgefühls gegen den Dualismus. Vor allem aber glaubte Basilides an keine Rettung außer Christus, hielt sich also an den zentralen christlichen Glaubenssatz. Denn daß die Gnostiker für Basilides eine Menschenklasse seien, die schon durch ihre Natur gerettet würden, sei ein Mißverständnis.198 Auch für Valentin ist Christus der alleinige Mittler der Erlösung: „Von Valentinus bei Clemens p 489 eine wenn man sie nur recht versteht rein christliche Stelle: Nur durch Christus besucht der Vater die Seele und dadurch wird sie geheiligt und leuchtend.“199

Eben deshalb habe Valentin auch den strengen Doketismus hinter sich gelassen und mit der Rede von einer Erhabenheit Christi über alles Materielle nur versucht, Christi Unsündlichkeit auf den Begriff zu bringen. Solange nämlich der Geist einer Ansicht christlich bleibt, könnten sich abweichende Extreme wie 196  Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.  4 6); Kollektaneum 114 (KGA II/6, S.  166); Theodoret: Haereticarum fabularum compendium I, 23; August Neander: Genetische Entwickelung der vornehmsten gnostischen Systeme, Berlin 1818, bes. S.  1–27. 229–231. 197  „Nun wurde gefragt, Kann der alttestamentliche Gott, der Christum sandte, um die Unvollkommenheit aufzuheben, auch die Unvollkommenheit geschaffen haben? Wir tragen kein Bedenken, das zu bejahen; wir können uns aber auch hineinversetzen in eine Ansicht, die das verneint.“ (Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  110) 198 Kirchengeschichte 1821/22, 17. Stunde (KGA II/6, S.   42); Kollektaneen 83 f.; 87 (KGA II/6, S.  159 f.). Vgl. auch Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  719), wonach man „dem Marcion und Basilides eine ächt christliche Gesinnung und eine wissenschaftliche Bildung nicht absprechen kann“. 199  Kollektaneum 80 (KGA II/6, S.  158). Gemeint ist Clemens von Alexandrien: Stromata II, 20, §  114,6.

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der Doketismus nicht in ihrer Konsequenz erhalten.200 Das Christliche reinigt sich also selbst von groben Extravaganzen. Besteht nun die Theodizee des Gnostizismus darin, zwischen den Urhebern der Schöpfung und dem höchsten Gott und Erlöser zu unterscheiden, so setzen die rechtgläubigen Theologen diesem die göttliche Monarchie entgegen, die Einheit der göttlichen Offenbarungen und Heilsveranstaltungen ihrer Quelle nach und damit auch die Einheit der Kirche.201 In der Glaubenslehre läßt Schleiermacher die „weit verbreitete Annahme einer einzigen Kirche Gottes von Anbeginn des Menschengeschlechtes bis zum Ende desselben“

insoweit gelten, als sie nicht die Eigenständigkeit des Christentums gegenüber der Religion des Alten Testaments nivelliert, sondern „die unbeschränkte auch auf die vergangene Zeit wirksame Beziehung Christi auf alles menschliche“

ausspricht.202 Daran ist hier wohl auch gedacht: Die Wirksamkeit Christi und die Kirche als ihr Gegenstand leiden keine Teilung oder natürliche Begrenzung, weder durch die Zeitalter noch durch die Annahme eines Urbösen 203 noch auch durch die Einteilung der Menschheit in höhere und niedere Klassen nach der Natur. Doch Schleiermacher sieht umgekehrt im gnostischen Dualismus auch eine berechtigte Reaktion gegen die rechtgläubig-katholische Lehre von der heilsgeschichtlichen Einheit der Kirche: Diese Lehre unterscheide eben nicht immer hinreichend zwischen dem Glauben des Alten und des Neuen Testaments und neige so selbst zum Ebionitismus; diese Tendenz lasse sich im Katholizismus bis zur Reformation beobachten.204 Cerdo als gemäßigter Dualist und etwa Justin als Vertreter des frühen Katholizismus hätten sich wohl darauf verständigen können, daß die Vorstellungen des Neuen Testaments im Alten latitierten, also schon vorhanden waren, aber eben nur verborgen, so daß man sowohl von heilsgeschichtlicher Kontinuität sprechen könne als auch von Umbruch und 200 

Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde (KGA II/6, S.  4 4 f.) Kirchengeschichte 1821/22, 19. Stunde (KGA II/6, S.  48). Vgl. oben Abschnitt 6.3.2. 202 Der christliche Glaube2 1, §   12,3, vgl. 2, §   156,3 (KGA I/13,1, S.   105 f.; I/13,2, S.  454 f.). Vgl. Klaus Beckmann: Die fremde Wurzel, Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 85, Göttingen 2002, S.  70 f. 203  Vgl. Der christliche Glaube2 1, §  2 2,2; 40, Leitsatz (KGA I/13,1, S.  156 f. 230 f.) 204  Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde (KGA II/6, S.  39); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  717). Dazu zählt Schleiermacher in der Glaubenslehre aber auch noch die reformatorischen Bekenntnisschriften, vgl. Der christliche Glaube2 2, §  156,1 f. (KGA I/13,2, S.  450–454; zu dieser Problematik auch Beckmann: Die fremde Wurzel, S.  102 f.). Andererseits wird Sabell dafür gelobt, daß er die Theophanien des Alten Testaments nicht einfach mit dem in Christus fleischgewordenen Logos identifiziert wie die Athanasianer (Ueber den Gegensaz, S.  399 f., KGA I/10, S.  299 f.). 201 

6.  Die erste Periode

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Neuanfang; doch dazu fehlte es an den nötigen Kommunikationsmitteln zwischen Syrien und Samarien.205 Für Ferdinand Christian Baur sollten Begriff und Phänomen der Gnosis zur Chiffre werden, um sich selbst und dem Publikum Rechenschaft für seine Abwendung von Schleiermachers theologischem System zu geben: Ein Erneuerer der Gnosis sei Schleiermacher insofern, als er sein Konzept von der Erlösung und vom Christentum als der Religion der Erlösung aus der Struktur der menschlichen Subjektivität gewinne statt aus Geschichte und heiliger Schrift; der solchermaßen konstruierte Christus nehme denn auch wie die gnostische Erlösergestalt doketische Züge an.206

6.3.2.3.  Anfänge der Trinitätslehre Die Lehrsätze von der heilsgeschichtlichen Monarchie Gottes und der göttlichen Würde Christi als Logos sollten als zwei erste Dogmen den zentralen christlichen Glaubensatz wahren, die Universalität der Erlösung in Christus. Das Verhältnis Christi zum einen Gott mußte so bestimmt werden, daß beide Dogmen miteinander vereinbar waren; oder, anders ausgedrückt: Es mußte gewährleistet werden, daß es neben der allgemeinen, allwirksamen Gegenwart Gottes in der Welt eine besondere Gegenwart Gottes in der Person Christi und in der Kirche gebe, ohne damit die Einheit Gottes aufzuheben und ohne zu leugnen, daß Christus und die Kirche selbst Teil der Welt und nicht aus dem gottgewirkten Weltzusammenhang zu lösen sind.207 Schleiermacher führt anhand der von ihm studierten Quellen verschiedene Kontroversen über dieses Problem vor. Der auch im Westen wirkende Kleinasiate Praxeas behauptete die Identität der Gottheit im Vater und in Christus und wurde darüber von Tertullian des Patripassianismus geziehen. Der tatsächliche Grund für Tertullians Angriff auf Praxeas war aber wohl bloß dessen Gegnerschaft gegen den Montanismus (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.5.). Praxeas brachte die Identität der Gottheit in Vater und Christus dadurch mit der Schrift, die Vater und Sohn unterscheidet, in Übereinstimmung, daß er sagte, der Sohn sei das 205  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  717). Vgl. Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  292 f.): „Es ist ein Schwanken in der Theologie zwischen der Auffassung des Christenthums als eines ganz eigenthümlichen und zwischen der Auffassung desselben als einer reinen Entwikkelung der alttestamentlichen Offenbarung. Keines von beiden kann ganz geleugnet werden […]. Das von der Person Christi ausgehende eigenthümliche ist aber das wesentliche, alles übrige nur conditio sine qua non.“ 206  Ferdinand Christian Baur: Primae rationalismi et supranaturalismi historiae capita potiora, Teil 2, Tübingen 1827, S.  3 –26 (KGA I/7,3, S.  243–254); ders.: Selbstanzeige von diesem Werk, in: Tübinger Zeitschrift für Theologie 1 (1828), S.  220–264, hier 220–259 (KGA I/7,3, S.  256–276). In diesem Sinne hatte Baur in seiner Schrift über die Symbolik der antiken Religionen in Schleiermachers Klassifizierung der Religionen schon einen verdeckten Beweis für die Wahrheit des Christentums aus der menschlichen Subjektivität gefunden, vgl. unten Abschnitt 10.5. 207 Vgl. Der christliche Glaube2 2, §   172,1 (KGA I/13,2, S.   528 f.); dazu Wilfried Brandt: Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, Studien zur Dogmengeschichte und systematischen Theologie 25, Zürich 1968, S.  229 f.

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C.  Materialer Teil

menschliche Fleisch Christi. Indem er den Vater-Gott mit dem Sohn-Fleisch mitleiden läßt, wahrt er die Einheit der Person Christi und weist schon auf die spätere Lehre von der communicatio idiomatum voraus, die wechselseitige Durchdringung beider Naturen Christi und die Übertragung ihrer Eigenheiten aufeinander. Tertullian dagegen unterscheidet sowohl zwischen dem Gottessohn und dem Menschensohn in Christus als auch zwischen Vater und Sohn bzw. Wort in Gott. So kommt er zu einer innergöttlichen Pluralität und behält das Leiden allein dem Menschensohn vor. Wenn Tertullian aber das Wort und den Geist aus dem Vater hervorgehen läßt, kann er das schwer gegenüber dem Polytheismus oder der gnostischen Emanationenlehre abgrenzen. In der Gotteslehre lehnt er sich (trotz seiner übertriebenen Aversion gegen die griechisch-römische Wissenschaft) an den Stoizismus an und denkt Gott körperlich; wahrscheinlich will er damit die Wirklichkeit Gottes gegenüber der allegorisierenden Äonenlehre der Gnostiker wahren.208 Verwandt mit dieser Kontroverse ist diejenige zwischen Noet von Smyrna und Hippolyt. Noet lehrte die Identität Gottes durch die Heilsgeschichte: Gott sei derselbe Eine in den alttestamentlichen Theophanien und in der menschlichen Person Jesu. Hippolyt hält dem entgegen, Gott sei zwar einfach, aber potentiell mehrfaltig und habe, als er es wollte, Wort und Geist aus sich hervorgebracht; dies sei die οἰκονομία. Da Hippolyt den Vater und die der Dreieinigkeit zugrundeliegende μόνας nicht voneinander unterscheidet, besteht seine ökonomische Trinität also eigentlich darin, daß der Vater zwei Ausflüsse hat. Ebenso wie Tertullians Lehre erinnere das an die gnostischen Emanations­ ideen.209 Etwa gleichzeitig damit trat in Rom ein Gruppe auf, die es als eine unerhörte Neuerung verwarfen, Christus Gott zu nennen, und die sich ansonsten durch hermeneutisch-kritische Bibelstudien und Gelehrsamkeit in Mathematik, Naturwissenschaft und Medizin hervortaten. Den Gerber Theodot aus Byzanz betrachtet Schleiermacher lediglich als einen leichtsinnigen Sophisten (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.5.); was das bei Euseb und Theodoret überlieferte „kleine Labyrinth“ über Theodot den Wechsler und seine Schule berichtet, bezieht er meist irrtümlich auf den wohl eine Generation jüngeren Artemon. Den ganzen Lehrtypus sieht Schleiermacher nicht als eine Erneuerung des Ebionitismus an, sondern rückt ihn eher in die Nähe Noets, nur daß hier die Menschheit das Personbildende sei, die Gottheit als unpersönliche Kraft und Inspiration gedacht werde und so eine Art Frühform der Zwei-Naturen-Lehre herauskomme.210 Die Behauptung der Theodotianer aber, erst unter Bischof Zephyrin habe man in Rom Christus zum Gott erklärt, könne durchaus wahr sein, insofern nämlich die älteren 208 Kirchengeschichte 1821/22, 23. Stunde (KGA II/6, S.   56–58); Kollektaneen 13; 158 f.; 162 (KGA II/6, S.  145. 175 f.); vgl. Ueber den Gegensaz, S.  304–318 (KGA I/10, S.  231–240). 209  Kirchengeschichte 1821/22, 24. Stunde (KGA II/6, S.  58 f.); Kollektaneum 165 (KGA II/6, S.  177 f.); vgl. Ueber den Gegensaz, S.  318–329 (KGA I/10, S.  240–248); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  759–762). – Aus Hippolyts Psalmenkommentar notierte sich Schleiermacher, daß genau zwischen dem Göttlichen und Menschlichen in Christus unterschieden wird (Kollektaneum 978, KGA II/6, S.  393; vgl. in Psalmum 2, GCS 1,2, S.  146). 210  Kirchengeschichte 1821/22, 24. Stunde (KGA II/6, S.   58); Kollektaneen 34; 142 f.; 973 (KGA II/6, S.  149. 172 f. 389). In Kollektaneum 973 schreibt Schleiermacher, Theodot habe gnostisch denken können (das Göttliche in Christus als Emanation aus Gott), wie Cerinth (konstante Einwohnung des göttlichen Worts im Menschen Christus) oder auch wie Praxeas (Verbindung Gottes mit dem menschlichen Fleisch Christi), wobei diese Anschauungen fließend ineinander übergingen.

6.  Die erste Periode

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Belege für eine göttliche Würde Christi keine dogmatischen Lehraussagen gewesen seien, sondern hymnische oder rhetorische Prädikationen. Der kritische Sinn der Theo­ dotianer äußerte sich also nicht nur in ihren Bibelstudien, sondern auch in der Prüfung von Ausdrücken aus anderen Sprachgebieten auf ihren Lehrgehalt und ihre dialektische Tauglichkeit, einer für die Dogmatik als Wissenschaft notwendigen Operation.211 Die (nur in einer kurzen Notiz in Eusebs Kirchengeschichte dokumentierte) Auffassung des Bischofs Beryll von Bostra stellt in Schleiermachers Rekonstruktion der frühen Dogmengeschichte den Versuch dar, zwischen den bisherigen Anschauungen zu vermitteln: Über Noet, Praxeas und die Theodotianer hinausgehend sagte Beryll, daß das Göttliche in Christus nicht unpersönlich sei und auch nicht eine vorübergehende Einwohnung des Vaters in ihm. Während aber für Hippolyt der Logos mit der Schöpfung der Welt durch Gottes schaffendes Wort aus der μόνας hervorgeht und ein eigenes πρόσωπον darstellt, läßt Beryll die persönliche Eigenständigkeit des Göttlichen in Christus erst mit der Menschwerdung anheben; erst sie erfordert für ihn eine Personalisierung des Logos.212 Daß Beryll von Origenes überzeugt werden konnte, ist für Schleiermacher kaum zu glauben, erscheine doch Berylls Lehre als weniger anfällig für kritische Rückfragen als diejenige Origenes’. Gleichwohl lobt Schleiermacher, daß die Differenz in einer offenen Aussprache beigelegt wurde und nicht wie sonst auf Synoden mit Zwang oder Überstimmen der Minderheit.213 Wie Beryll suchte Origenes die rechtgläubige Mitte zwischen den Extremen; doch er nähert sich stärker an Tertullian und Hippolyt an, verbindet deren Lehre von einer innergöttlichen Pluralität mit dem Insistieren der Adoptianer und Monarchianer auf die Wahrung der Einheit und Einzigkeit Gottes und kommt so zu einem platonisch-subordinatianischen Modell: Der Vater sei Gott selbst, der allein wahre Gott ( Joh 17,3) und ungeboren; der Logos sei Gott durch Teilhabe am Vater und seiner Gottheit, der Geist schließlich sei ehrwürdiger als alle geschaffenen Dinge und im Unterschied zu diesen nicht durch die Schöpfungsmittlerschaft des Logos entstanden. Die göttlichen Hypostasen unterscheidet Origenes nicht nur nach ihren Verhältnissen untereinander, sondern auch nach ihrer Wirksamkeit nach außen: Der Vater wirke auf alles, der Logos auf das Vernünftige, der Geist auf die Gläubigen.214 211  Ueber den Gegensaz, S.  3 00 f. (KGA I/10, S.  2 28); vgl. Der christliche Glaube2 1, §  16 (KGA I/13,1, S.  130–136). 212 Kirchengeschichte 1821/22, 24. Stunde (KGA II/6, S.   59 f.); Kollektaneen 37; 166 (KGA II/6, S.  150. 178); Ueber den Gegensaz, S.  329–342. 355–357 (KGA I/10, S.  248–257. 267 f.); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  776 f.). Vgl. Euseb von Cäsarea: Historia ecclesiastica VI, 33,1. 213  Kirchengeschichte 1821/22, 24. Stunde (KGA II/6, S.  6 0); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  158 f.); Kollektaneum 37 (KGA II/6, S.  150); vgl. Ueber den Gegensaz, S.  342. 352–355 (KGA I/10, S.  257 f. 265–267); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  776) 214  Kirchengeschichte 1821/22, 26. Stunde (KGA II/6, S.  6 4 f.); Kollektaneen 47; 167 f.; 976 (KGA II/6, S.  152. 178 f. 391); vgl. Origenes: Commentarii in Ioannem II, 2, §  17; 10, §  72–75; ders.: Contra Celsum VIII, 12; ders.: De principiis I, 3,5–8; 2,13. – Im Aufsatz über die Trinitätslehre macht Schleiermacher noch auf Origenes’ Lehre von einem ewigen und ewig fortdauernden Hervorgehen des Logos aus dem Vater aufmerksam: Diese Lehre gebe dem Sohn noch weniger hypostatische Eigenständigkeit als diejenige Berylls und grenze einerseits an Noet, andererseits an die gnostische Emanationslehre. Die inneren Spannungen bei Origenes resultierten wohl daraus, daß sich in Origenes’ Modell religiöse und philosophisch-kosmologische Absichten vermischten: Um die Unveränderlichkeit Gottes zu wahren, sei die Zeugung des Sohnes ein ewiger, nicht einmaliger oder vorübergehender

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C.  Materialer Teil

Nach Origenes’ Tod erneuerte Sabell in Libyen den Monarchianismus Noets und Berylls. Nach ihm ist die innergöttliche Unterscheidung zwischen Vater, Sohn und Geist auf die den Menschen zugewandten opera ad extra beschränkt: Je nachdem Gott als Gesetzgeber, als Menschgewordener oder als innerlich Eingebender wirke, sei er Vater, Sohn oder Geist; die Schöpfung dagegen schrieb Sabell dem ungeteilten göttlichen Wesen zu. Das eine Wesen nannte Sabell ὑπόστασις oder auch πρόσωπον, die Erscheinungsweisen bezeichnete er als Wirkungen oder als πρόσωπα. Alle diese Begriffe waren damals eben noch nicht fixiert.215 – Im Aufsatz über die Trinität nimmt die Lehre Sabells den größten Raum ein: Schleiermacher stellt sie als eine der späteren, zwischen Ökonomie und innergöttlicher Pluralität, zwischen Einheit und Dreiheit schwankenden kirchlichen Lehre mindestens ebenbürtige Lösung des Problems dar; was freilich anhand der der (pseudo-)athanasianischen vierten Arianerrede und anderer Quellen als sabellianische Lehre rekonstruiert wird, ist eher die Lehre Marcells von Ancyra. Die Vertreter einer der Gottheit immanenten Zwei- oder Dreifaltigkeit seit Tertullian und Hippolyt und bis zu den Dogmatikern der Gegenwart identifizierten den Vater mit der μόνας, dem Gott an sich, so daß eine der trinitarischen Personen zugleich das den Personen und der Vielheit Zugrundeliegende sei und diese Modelle tatsächlich stets latent oder offen subordinatianisch seien. Auch würfen sie die persönliche Eigenständigkeit des Göttlichen in Christus durcheinander mit dem Logos als personifizierter innergöttlicher Funktion der Schöpfungs- und Offenbarungsmittlerschaft im Sinne der philonischen Religionsphilosophie. Sabell dagegen unterscheidet die μόνας vom Vater; für ihn betrifft die Unterscheidung der Personen nicht Gott an sich, sondern Gott, insofern er der Welt zugewandt ist und auf sie wirkt.216 Sabells Trinität ist also konsequent ökonomisch; das sei der Sache einer christlichen Dogmatik auch angemessen, denn Spekulationen über eine innere Mehrfaltigkeit Gottes an sich gehörten gar nicht in ihr Gebiet, sondern in das der philosophischen Gotteslehre.217 Origenes’ Schüler Dionys von Alexandrien polemisierte gegen Sabell und warf ihm Unglauben gegen den Sohn und Taubheit gegen den Geist vor. Dionys geriet bei seiner Polemik selbst in den Verdacht der Heterodoxie, weil er das Verhältnis des Vaters zum Sohn mit dem des Pflanzers zum Weinberg verglichen hatte.218 Die späteren Origenes-Schüler Pierius und Theognost führten die Lehre von der persönlichen EigenstänVorgang; um andererseits die Entstehung des Endlichen aus dem Unendlichen zu erklären und die Kluft zwischen beiden auszufüllen, fungiere der Logos als eine Gott selbst subordinierte Zwischeninstanz. Vgl. Ueber den Gegensaz, S.  342–352 (KGA I/10, S.  257–264); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  758). 215  Kirchengeschichte 1821/22, 26. Stunde (KGA II/6, S.  65); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  173 f.); Kollektaneen 145; 169; 980 (KGA II/6, S.  173. 179. 393 f.). Vgl. dagegen Ueber den Gegensaz, S.  376–379 (KGA I/10, S.  283–285), wonach Sabell die Schöpfung der Person des Vaters zuordnete, also die Personen nach Schöpfungs- und Gnadenwirken unterschied. 216 Ueber den Gegensaz, S.   362–396 (KGA I/10, S.  272–297); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  757–759. 776); vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  727); Der christliche Glaube2 2, §  170,2 f.; 171,2–5; 172,3 (KGA I/13,2, S.  516–518. 521–527. 531 f.). – Tatsächlich ist die Identifizierung des Göttlichen in Christus mit dem Logos als Schöpfungs- und Offenbarungsmittler schon neutestamentlich, vgl. Joh 1,3. 10. 14; 1 Kor 8,6; Kol 1,13–17; Hebr 1,2. 217  Vgl. Der christliche Glaube2 2, §  170; 172,1 (KGA I/13,2, S.  514–519. 528 f.); zu Schleiermachers Sympathien für Beryll und Sabell auch Brandt: Der Heilige Geist, S.  248–255. 218  Kirchengeschichte 1821/22, 26.–27. Stunde (KGA II/6, S.   65 f.); Kirchengeschichte

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digkeit des Sohnes und seiner Subordination unter den Vater fort und nannten Vater und Sohn zwei Substanzen und Naturen bzw. den Sohn ein Geschöpf des Vaters.219 Bei Paul von Samosata, am Ende der Periode Anlaß für die Veranstaltung großer Synoden, wenn auch nicht nur aus dogmatischen Gründen, vermutet Schleiermacher ähnlich wie bei Theodot dem Gerber vor allem Leichtsinn und Aalglätte. Seine Aus­ drücke nennt er auffällig oft „tergiversierend“.220 Paul habe nicht wie Sabell gelehrt, betont Schleiermacher, sondern eher wie Theodot und Artemon; 221 seine Irrlehre habe offenbar darin bestanden, daß er den Logos in Christus mit der menschlichen Vernunft gleichsetzte und meinte, Christus habe sich durch seine Tugenden eine adoptive Gottheit erworben.222 Bedeutsam für die spätere Dogmengeschichte wurden die gegen Paul gerichteten Synodaldekrete dadurch, daß sie den Ausdruck ὁμοούσιος verwarfen. Paul habe ihn wohl nicht selbst gebraucht, sondern den Gegnern vorgehalten, sie müßten ihn bei ihrer Position konsequenterweise annehmen; diese hätten sich dagegen verwahrt. Als Urheber des Ausdrucks ὁμοούσιος kommt für Schleiermacher viel eher Sabell in Frage.223

Schleiermacher hält also die Versuche Berylls und Sabells für überzeugender als die innergöttliche Personenpluralität, wie sie Tertullian, Hippolyt und Origenes vertraten: Diese vermische die Gebiete der Religion und der spekulativen Metaphysik.224 An die ungelösten Probleme der Trinitätslehre zwischen Mon­ archianismus, spekulativer Logoslehre, Ökonomie und Subordinatianismus schloß sich direkt die Dogmenentwicklung der folgenden Periode an.225 6.3.2.4.  Kanonisierung und Auslegung der Schrift Das andere Element der frühen theologischen Wissenschaft ist das hermeneutisch-exegetische. Auf die Geschichte des neutestamentlichen Kanons wirft Schleiermacher besonders in der Vorlesung 1825/26 einige Blicke. 1825/26 (SW I/11, S.  174–176); Kollektaneum 980 (KGA II/6, S.  393 f.). Vgl. Ueber den Gegensaz, S.  4 03 f. (KGA I/10, S.  302 f.); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  757. 761–764). 219 Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.   186 f.); Kollektaneen 985 f. (KGA II/6, S.  394 f.) 220 Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.   70); Kollektaneen 144; 178 (KGA II/6, S.  173. 181). Vgl. Notizen zur Trinitätslehre (KGA II/6, S.  759): „Paul als Leichtsinn“; Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  184): „Wegen der Leichtsinnigkeit und Frivolität des Paulus möchten wir ihn lieber mit dem Theodotus [als mit Artemon] vergleichen.“ 221  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  70); Kollektaneum 178 (KGA II/6, S.  181); Ueber den Gegensaz, S.  387 f. 399 (KGA I/10, S.  290 f. 299); Vorarbeiten dazu (KGA II/6, S.  758) 222  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  70); Kollektaneum 178 (KGA II/6, S.  181) 223  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  70); Kollektaneum 178 (KGA II/6, S.  181); Ueber den Gegensaz, S.  387–390 (KGA I/10, S.  290–293); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  723 f.) 224  Vgl. auch Ueber die Religion 3, S.  176 (Erläuterung 1 zur 2. Rede) (KGA I/12, S.  129). 225  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  723 f.). Vgl. dazu unten Abschnitt 7.3.2.2.

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C.  Materialer Teil

Die Evangelien der Gnostiker Basilides und Marcion oder Tatians Diatessaron als bewußte Fälschungen zu verwerfen, sei anachronistisch, weil es zur Zeit der ersten Apologeten und Gnostiker noch gar keinen allgemein anerkannten Kanon des Neuen Testaments gegeben habe. (Der Göttinger Orientalist, kritische Bibelforscher und Historiker Johann Gottfried Eichhorn hatte die These vertreten, die fragmentarisch überlieferten, nicht kanonischen Evangelien seien ältere Zeugnisse derjenigen Überlieferungszweige, aus denen letztlich auch die kanonischen Evangelien hervorgegangen seien; Schleiermacher fand das offenbar nicht unplausibel, teilte aber Eichhorns Hypothese vom Urevangelium nicht.) Mit den Überlieferungen der Apostel sei man lange Zeit noch ebenso frei umgegangen wie in der Gegenwart mit Kirchenliedern; als inspiriert habe man mehr die Tätigkeit der Apostel insgesamt angesehen als den Wortlaut ihrer Briefe und Schriften. Freiheit und genaues Festhalten am Überlieferten hätten einander die Waage halten müssen, damit das Christentum auf der einen Seite nicht im Äußerlichen erstarrte und erstarb, auf der anderen Seite nicht verfälscht wurde.226 Das Kriterium, um Apostolisches und Apokryphes zu trennen, war weniger die (angebliche oder tatsächliche) Verfasserschaft als das freie Gefühl für die Brauchbarkeit einer Schrift.227 Auf mündliche apostolische Traditionen neben den Schriften beriefen sich die Gnostiker ebenso wie Tertullian.228 In der Einleitung ins Neue Testament von 1831/32 hat sich Schleiermacher dann Eichhorns These angeschlossen, daß als erster der „eigentlich ohne Grund als Ketzer verrufene“ Marcion einen solchen normierenden neutestamentlichen Kanon aufgestellt habe, bereits geteilt in die zwei Kanonteile „Evangelium“ und „Apostel“.229

Daß aber überhaupt ein Kanon aus apostolischen Überlieferungen gebildet wird, setzt nicht nur allgemein ein gewisses historisches Bewußtsein voraus, sondern auch speziell ein Bewußtsein dafür, daß die Zeit apostolischer Inspiration bereits abgeschlossen ist und hinter einem liegt, daß also die eigene Gegenwart keine Zeit der ursprünglichen und reinsten Darstellung des christlichen Prinzips mehr ist, sondern ihrerseits darauf angewiesen ist, auf das normative Zeitalter und seine Zeugnisse zurückgreifen zu können, um anhand ihrer das Neue zu prüfen und das Fremde vom Christlichen zu scheiden. Das nachapostolische Zeitalter mußte mithin selbst gemerkt haben, daß es schon das nachapostolische war, daß mit dem Ausscheiden der Apostel die urchristliche Inspiration und Originalität aufgehört hatte und daß auch das, was eine neue 226 Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   718 f.); vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 13., 17.–18. und 21. Stunde (KGA II/6, S.  34. 42. 46. 52); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  130–133. 713; SW I/11, S.  171 f.); Kollektaneum 967 (KGA II/6, S.  388); Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  20 f.; 56–65 (SW I/8, S.  70–74. 195–234); vgl. Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung ins Neue Testament, Band 1 (Kritische Schriften, Band 5), 2.  Aufl., Leipzig 1820, S.  1–454. 227  Kirchengeschichte 1821/22, 13. Stunde (KGA II/6, S.  3 4 Fußtext); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  722 f.) 228  Kirchengeschichte 1821/22, 16. und 22. Stunde (KGA II/6, S.  4 0 f. 56); Kollektaneen 125; 135 (KGA II/6, S.  168. 171) 229  Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  18. 20 (SW I/8, S.  6 4–66. 68); vgl. Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung ins Neue Testament, Band 4 (Kritische Schriften, Band 8), Leipzig 1827, S.  21–33.

6.  Die erste Periode

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geistige Produktivität zeitigen würde, den apostolischen Urkunden nicht mehr werde gleichgestellt werden können. Dies wurde auch gegenüber dem Montanismus geltend gemacht (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.5.) Um 180 behauptet Irenäus zwar, daß es noch charismatische Wundergaben gebe, die rechtgläubige Ansicht aber sei damals gewesen, daß die Weissagung aufgehört habe. Schleiermacher notiert: „Das Abnehmen der Weissagung und das Fixiren des kanonischen Wortes.“230

Doch er hat darüber keine weiteren Betrachtungen angestellt. Als erste exegetische Werke erwähnt Schleiermacher die Kommentare Basilides’ zu seinem eigenen Evangelium, Tatians Sammlung exegetischer Probleme und die Lösung dieser Probleme durch Tatians (nicht-enkratitischen) Schüler Rhodon.231 Tertullians polemischen Werken gegen Praxeas, Marcion und die Gnostiker bescheinigt er eine falsche, tendenziöse Bibelauslegung.232 Kritische Schriftforschung ist zuerst bei den römischen Adoptianern belegt. Worauf die Kritik der Texte beruhte, nur auf Vergleich der Überlieferungen oder auch auf inhaltlichen Prämissen, werde nicht deutlich; klar sei aber, daß solche Studien die Adoptianer in Verruf brachten.233 Mit der alexandrinischen Schule, Stätte sowohl des Katechumenenunterrichts als auch der Lehrerausbildung und der wissenschaftlichen Theologie, beginnt auch für die Schriftauslegung ein neues Kapitel. Origenes bedient sich bei der Exegese der allegorischen Methode. Porphyrius leitet diese aus der griechischen Allegorisierung der Mythen ab, tatsächlich dürfte sie aber von Philos allegorischer Auslegung der Tora kommen. Ihr spekulativer Hintergrund ist die Annahme einer wörtlichen Eingebung der Schrift durch den Heiligen Geist; alles, auch das scheinbar Verkehrte oder Unbedeutende, mußte also einen tieferen, wahren Sinn haben. All das sei trotz manchem, was uns gekünstelt vorkomme, aber nicht reine Willkür, sondern gehe von allegorisierenden Stellen in der Schrift selbst aus (hier ist wohl an Stellen wie 1 Kor 9,9 f.; Gal 4,22–31 gedacht) und wende deren Regeln auf andere Stellen an. Spätere allegorische Schrift­ ausleger wie Augustin seien viel willkürlicher.234 Origenes bemühte sich um die niedere Kritik (die Textkritik), aber ohne seinem System zuliebe Konjekturen zu machen; besonderen Ruhm erwarb er sich durch seine mehrspaltige Bibelausgabe, die Hexapla. 230  Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde (KGA II/6, S.  53); Kollektaneum 28 (KGA II/6, S.  148) 231  Kirchengeschichte 1821/22, 18., 21. und 25. Stunde (Nachtrag 1825/26) (KGA II/6, S.  42. 52. 61); Kollektaneum 107 (KGA II/6, S.  163 f.) 232  Kirchengeschichte 1821/22, 23. Stunde (KGA II/6, S.  56) 233 Kirchengeschichte 1821/22, 24. Stunde (KGA II/6, S.   58); Kollektaneen 34; 143 (KGA II/6, S.  149. 172). Im Aufsatz über die Trinität vermutet Schleiermacher, daß bei den Adoptianern wie bei den Neologen der Neuzeit historische und dogmatische Kritik ineinandergriffen (Ueber den Gegensaz, S.  300 f., KGA I/10, S.  228; Vorarbeiten dazu, KGA II/6, S.  758). 234  Kirchengeschichte 1821/22, 25.–26. Stunde (KGA II/6, S.  62 f.). In Kollektaneum 976 (KGA II/6, S.  392) schreibt Schleiermacher dagegen, Porphyr habe mit seiner Ableitung der origenischen Methode von den Griechen nicht unrecht. – In der Geschichte der neueren Philosophie 1812, 21. Stunde (SW III/4,1, S.  174) urteilt Schleiermacher, das falsche philologische Prinzip der Allegorese habe Origenes nicht zu einer Verunreinigung seiner Anschauungen geführt.

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C.  Materialer Teil

In der höheren Kritik (der kritischen Prüfung der Verfasserschaft und der Literarkritik) beschäftigte Origenes sich u. a. mit den katholischen Briefen und dem Hebräerbrief; doch in diesem Fach war ihm sein afrikanischer Zeitgenosse Julius Africanus überlegen.235 Mit Gegnern der Allegorisierung, Anhängern des damals schon verstorbenen Bischofs Nepos, disputierte Origenes’ Meisterschüler Dionys über die Johannesoffenbarung und den Chiliasmus; Dionys konnte sie schließlich im Guten überzeugen.236

6.3.3.  Bedeutende Einzelgestalten Die Ungleichheit zwischen den hervorragenden Einzelnen und der Masse ist in den ersten Perioden der Kirchengeschichte am größten. Daher ist die Entwicklung stärker als später an einzelne Individuen und ihre Biographien geknüpft (vgl. oben Abschnitt 4.5.). Tatsächlich spielt das Biographische in Schleiermachers Darstellung des apologetischen Zeitalters aber eine eher geringe Rolle; dies liegt wohl auch daran, daß die Quellen eine wirkliche Rekonstruktion und Würdigung der Persönlichkeiten nicht hergeben und daß ein Kompendium weniger ins Einzelne gehen kann. Irenäus erscheint als Mann von redlicher kirchlicher Gesinnung, aber auch geistiger Beschränktheit: Gegen die Gnosis polemisiert er unter Berufung auf die kirchliche Überlieferung, ohne aber auf die gegnerische Position wirklich einzugehen und die aufgeworfenen Probleme selbständig zu durchdenken. Im Kirchenregiment ist er von lobenswerter Mäßigung und verhindert, daß der Osterstreit zu einer Kirchenspaltung führt.237 Tertullian ist ein Exponent der afrikanischen Rigidität, also eher vom afrikanischen Christentum geprägt als dieses selbst prägend. Er bekämpft die Gnostiker ebenso leidenschaftlich wie die Laxität und Leidensscheu der „Psychiker“ und die griechisch-römische Bildung und läßt sich auch in den monarchianischen Streit verwickeln. Die Nachwelt stellt er vor die Frage, ob er eigentlich ein Mann der Kirche war.238 Tertullians alexandrinisches Pendant ist Clemens: Er setzt sich in seinen Hauptwerken mit Heidentum und Gnosis auseinander, verwirft sie aber nicht wie Irenäus oder Tertullian kategorisch, sondern will sie für das Christentum gewinnen, das er ihnen wissenschaftlich darlegt. Die griechisch-römische Philosophie und das 235 Kirchengeschichte

1821/22, 26. Stunde (KGA II/6, S.   63  f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  722); Kollektaneen 976 f. (KGA II/6, S.  391–393) 236  Kirchengeschichte 1821/22, 26. Stunde (KGA II/6, S.  65); Kollektaneen 41 f. (KGA II/6, S.  151). – Weiter stellt Schleiermacher exegetische Werke Clemens’ und Hippolyts und die wissenschaftlich-kritischen Arbeiten Pierius’ und Hesychius’ vor, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 25. und 28. Stunde (KGA II/6, S.  61. 71); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  161 f. 164. 188); Kollektaneen 975; 978; 990 (KGA II/6, S.  389 f. 392 f. 396). 237  Kirchengeschichte 1821/22, 19.–20. Stunde (KGA II/6, S.  4 8. 51); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  721) 238  Kirchengeschichte 1821/22, 22.–23. Stunde (KGA II/6, S.  55–58); Kollektaneen 51; 153 (KGA II/6, S.  153. 174). Vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 18. Stunde (SW III/4,1, S.  165)

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alttestamentliche Gesetz sind für ihn Stationen eines Bildungsprozesses, der seine Vollendung im Christentum hat; christliche Vollkommenheit und vollkommene Gnosis sind eins. Der elitäre oder esoterische Zug, den Clemens’ Christentum damit hat, äußert sich auch darin, daß er (wie die Gnostiker) zwischen Christi öffentlicher Lehre und seiner Lehre an den eingeweihten Jüngerkreis unterscheidet.239 Unter den Gestalten dieses Zeitalters ist Origenes diejenige, die am meisten Schleiermachers Interesse auf sich zieht und einer eigenen biographischen Betrachtung gewürdigt wird. Schleiermacher wägt Eusebs Nachrichten über Origenes’ christliche Eltern und seinen jugendlichen Eifer für das Christentum (Historia ecclesiastica VI, 2 f.) und die des Porphyrius, Origenes sei griechisch erzogen worden, habe bei Ammonius Saccas studiert und sei erst dann zur christlichen „Barbarei“ übergegangen (Euseb: Historia ecclesiastica VI, 19,5– 8), gegeneinander ab und meint, beides lasse sich nicht mit Schröckh miteinander vereinbaren, es habe also wohl zwei Origenesse gegeben, den christlichen Theologen und einen heidnischen Philosophen, Schüler des Ammonius und Mitschüler Plotins; Porphyrius aber habe beide irrtümlich miteinander identifiziert. Doch auch der Christ und Kirchenvater Origenes sei zweifellos rhetorisch gebildet und mit der platonischen Philosophie bekannt gewesen. Obwohl er seinem Geist und seiner Wirksamkeit nach zu den größten Männern der Kirche überhaupt gehöre, habe Origenes (ebenso wie Tertullian und Clemens) nie einen höheren Rang im Klerus bekleidet, vielmehr habe er im Streit mit seinem Bischof und dessen Despotismus gelegen.240 Auch bei Origenes stehen die beiden Dogmen dieses Zeitalters im Mittelpunkt des theologischen Denkens, die Monarchie Gottes durch die Heilsgeschichte und die göttliche Würde Christi als Logos; zwischen den Extremen (wie Gnostizismus, Doketismus, Ebionitismus, Adoptianismus und Monarchianismus) sucht er nach der katholisch-kirchlichen Mitte. Während sich Schleiermacher über das wissenschaftlich-philosophische Niveau der früheren Apologeten eher zurückhaltend äußert,241 stehen Clemens und Origenes wissenschaftlich auf der Höhe ihrer Zeit. Mehr als seine Vorgänger geht Origenes den häretischen Umbildungen tatsächlich auf den Grund. Er setzt der gnostischen Erklärung des Übels aus der Minderwertigkeit des Schöpfers und der Schöpfung die Vereinbarkeit der Übel mit der göttlichen Monarchie, Weisheit und Allmacht entgegen: Die Übel kämen aus der von Gottes Allmacht mitgeteilten Freiheit des Willens und seien einerseits Folge des schlechten Gebrauchs der Freiheit, andererseits Mittel zur Läuterung und Erziehung; die Erlösung zur Liebe des Guten und zum rechten Gebrauch der Freiheit komme aber nicht aus 239  Kirchengeschichte 1821/22, 25. Stunde (KGA II/6, S.  61); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  159–162); Kollektaneen 48; 975 (KGA II/6, S.  152. 390) 240  Kirchengeschichte 1821/22, 25. Stunde (KGA II/6, S.  61 f.) 241  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  720)

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den läuternden Übeln, sondern durch die Erscheinung des Logos. Gegenüber dem späteren pelagianischen Streit verhält sich seine Theorie noch indifferent, denn sie fragt nicht danach, inwiefern die Willensfreiheit der zu Erlösenden durch die Sünde geschwächt ist. Die christliche Erlösungsidee hat Origenes aber in höherem Sinne als die meisten Zeitgenossen aufgefaßt.242 – Wie die Gnostiker verbindet Origenes’ System nun die Soteriologie mit einem philosophisch-spekulativen Weltbild, das bei ihm Elemente der jüdischen Engellehre und der griechischen Kosmologie integriert. Da Origenes nun die christliche Lehre ganz auf die Schrift gründen will, greift er auf die allegorische Auslegungsmethode zurück: Was die Schrift an mythologischen Aussagen habe, das sei nicht im buchstäblichen Sinne zu verstehen, sondern nach seiner tieferen Bedeutung. Und bei Fragen, die die Schrift nicht oder eben nur in mythischen Andeutungen behandele, könne man die Antwort in der philosophischen Spekulation suchen, ohne die Autorität der Schrift zu verletzen und das Christentum zur Philosophie umzudeuten.243 Daß christliche Glaubenssätze nicht von wissenschaftlich-spekulativen Sätzen abhängen sollten, haben indessen die Mon­ archianer besser verstanden als Origenes. Von problematischen Vorstellungen über verdienstliche Bußleistungen ist Origenes nicht frei (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.4.); sein trinitätstheologisches Modell überzeugt Schleiermacher weniger als das sabellianische. Trotzdem und trotz seinem niedrigen Rang in der kirchlichen Ämterhierarchie entspricht Origenes von allen Gestalten seiner Zeit am meisten Schleiermachers Ideal des Kirchenfürsten, das religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist im möglichsten Gleichgewicht für die Theorie und Praxis des Kirchenregiments vereint: 244 Origenes ist ein Meister der Wissenschaft und Kritik seiner Zeit, aber nicht weniger zeichnet er sich durch seinen religiös-kirchlichen Sinn aus: Er gründet die Erlösung allein auf Christus und dementsprechend die Lehre allein auf das biblisch-apostolische Zeugnis, er sucht die gesunde Mitte zwischen den Extremen, und er ist kein Ketzermacher wie etwa Irenäus und Tertullian, sondern urteilt milde und versucht, Andersdenkende im Guten zu überzeugen.245 242 Kirchengeschichte 1821/22, 25.–26. Stunde (KGA II/6, S.   62 f.). – Schleiermacher kann aber auch sagen, Origenes’ Theorie, daß die Einleibung der Seele nur zur Strafe und Läuterung geschehe, tendiere zum Doketismus (Kollektaneum 78, KGA II/6, S.  158). 243 Kirchengeschichte 1821/22, 25.–26. Stunde (KGA II/6, S.   62 f.). – Zu Origenes’ Weltbild nach Schleiermacher vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 14.–15. und 21. Stunde (SW III/4,1, S.  157–160. 174): Gott und die Welt sind Korrelate, Gott ist ewig Schöpfer, die Welt wird also auch als ewig gedacht. Sein Weltbild paßt Origenes dem Christentum an, indem er die Materie als Folge der Sünde entstehen und die geistige Welt bei der Erlösung von ihr wieder befreit werden läßt. Die Seele steht zwischen Geist und Materie, sie ist das Prinzip der Freiheit. 244  Vgl. Kurze Darstellung 2 , §  9 (KGA I/6, S.  329 f.). 245  Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 24. und 26. Stunde (KGA II/6, S.  6 0. 65); Kollek­ taneen 37; 74 (KGA II/6, S.  150. 157). – Heinrich Scholz: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre, Berlin 1909, S.  48, konstatierte eine besondere Affinität

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Neben Origenes ist sein Schüler Dionys von Alexandrien Schleiermachers Lieblingsgestalt in diesem Zeitalter. Dionys verbindet wie sein Lehrer die wissenschaftliche Kritik mit Bibeltreue, Milde und dem Bemühen, die Kirche gegen alle Spaltungstendenzen zusammenzuhalten. Das letztere beweist er in den Händeln um die libyschen Sabellianer, die ägyptischen Chiliasten, Novatian und Paul von Samosata.246 Cyprian dagegen ist vor allem Praktiker, kein Wissenschaftler, und dazu von echt afrikanischer Schroff heit. Als Episkopaler verteidigt er für die Freiheit des Bischofs in seinem Sprengel gegen Charismatiker und niedere Kleriker, aber auch gegen die Ambitionen des Bischofs von Rom. Sein Buch über die Einheit der Kirche demonstriert nur deren Notwendigkeit, trägt aber nichts zur Lösung der Frage bei, worin sie eigentlich bestünde. Doch „sowol an unmittelbarem Einfluß auf die Kirche als auch an Klarheit und Reinheit des Styls“ übertrifft er seinen Landsmann Tertullian.247 Paul von Samosata schließlich ist der Inbegriff des reinen Kirchenpolitikers, der seinen weltlichen Ehrgeiz in einem kirchlichen Amt befriedigen will und sich auch im Streit um die Wahrheit rein opportunistisch verhält.248

6.3.4.  Die Entwicklung der Kirche im apologetischen Zeitalter Kennzeichnend für die Entwicklung der Kirche im apologetischen Zeitalter ist zweierlei: ihre Unsicherheit im Verhältnis zur Welt und ihre mangelnde Fähigkeit, zwischen abweichenden, aber legitimen individuellen Gestalten des Christentums einerseits und Häresien andererseits zu unterscheiden. Im ersten Bereich gibt es einen echten Erkenntnisfortschritt: Am Anfang des Zeitalters gelingt die Abweisung einer drohenden Überfremdung des Christlichen durch das Jüdische (Ebionitismus) und Hellenisch-Heidnische (Gnostizismus). Am Ende der Periode hat die Kirche ihren Ort in der Welt gefunden. Sie steht nicht mehr in Totalopposition gegen Gesellschaft und Staat, ordnet sich aber auch nicht mehr den anderen ethischen Formen unter. Ausbrüche des Enthusiasmus (Montanismus) werden eingedämmt; die Kirche kommt allmählich, zunächst noch unausgesprochen, zu der Einsicht, daß der Geist Christi in ihr nicht in ekstatischen Erlebnissen und neuen Offenbarungen wirksam ist, sondern in den verschiedenen Lebensäußerungen der um Christi Wort verzwischen Schleiermacher und Origenes: Beider Werk kreise um die Brennpunkte Kirche und Wissenschaft, und bei beiden stimme die Lebenspraxis mit der Lehre überein. Auch Neander verglich Schleiermacher und Origenes; vgl. unten Abschnitt 10.4. 246  Kirchengeschichte 1821/22, 26.–28. Stunde (KGA II/6, S.  65–69) 247  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.  6 8) 248  Kirchengeschichte 1821/22, 28. Stunde (KGA II/6, S.   69 f.). Vgl. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 6. Stunde (KGA II/6, S.  15): „Hieher [zum Bestreben des Staates, sich die Kirche in Verkennung seines und ihres Wesens zu unterwerfen] sind nun auch zu rechnen alle die nur äußerlich zur Kirche gehören und sich an die Spize derselben zu stellen suchen, welche eigentlich von jeher Politiker waren.“

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sammelten, organisierten und als stetige Größe in der Welt existierenden Gemeinschaft. Die Gemeinden schaffen sich untereinander in Form von Schriftenverkehr und Synoden ein Forum und eine Öffentlichkeit, um sich miteinander auszutauschen und reinigend und erweiternd aufeinander einzuwirken. Schon um 200 existiert die Kirche in der Welt nicht nur in Form von zahlreichen Einzelgemeinden, sondern auch einer eine zusammenhängende Gesamtorganisation bildenden Ökumene. Die Schaffung dieser ecclesia catholica kann Schleiermacher (anders als etwa Semler) durchaus positiv würdigen. Aber gerade dieser wachsende Zusammenhang zwischen den Gemeinden wird nun zum Anlaß für Reibungen, Streit und Spaltungen. Die Differenzen, die sich aus der Verbreitung des Christentums ergeben, werden, je enger die Gemeinden miteinander verbunden sind und je mehr sich die Ökumene untereinander austauscht, umso mehr als störend empfunden (zuerst in der Reichsmetropole Rom, wo alle Gegensätze unmittelbar aufeinandertreffen). Die Gemeinden und Einzelnen versuchen also, die Unterschiede untereinander auszugleichen. Wo das Individuelle nicht als das erkannt wird, was es ist, gilt ein äußerer Unterschied, der abweichender Ostertermin oder sogar die strittige Wahl eines Klerikers, schnell als eine Differenz im Wesen der Religion selbst, als Abweichung vom Christentum, die unter Androhung des Ausschlusses assimiliert werden muß. Andererseits gibt es aber auch Streitigkeiten, in denen es nicht um individuelle Äußerlichkeiten geht, sondern um die Sache selbst, und wo zwar nicht der der gegenseitige Ausschluß gerechtfertigt ist, aber doch das reinigende Einwirken beider Seiten aufeinander (so im Streit um Milde oder Strenge gegenüber den lapsi). Da nun das Problem selbst, die notwendige Unterscheidung zwischen individuell Abweichendem und Unchristlichem, nicht erkannt wird, bleiben nur pragmatische Weisen, um mit ihm umzugehen und die immer häufiger drohenden Spaltungen zu verhindern: Milde in der Beurteilung von Abweichungen (Dionys von Alexandrien, Pamphilus) oder wenigstens die Vermeidung eines völligen Bruchs (Irenäus), die wechselseitige Taufanerkennung (Stephan von Rom) und das Zurückgreifen auf staatliche Hilfe, um Synoden zu organisieren und auf ihnen auch Äußerlichkeiten verbindlich zu regeln. An die zeitgenössische Wissenschaft findet das Christentum mit den Alex­ andrinern, besonders Origenes, den Anschluß. Bei manchem, was von den ersten beiden Jahrhunderten her im Christentum allgemeine Verbreitung und kategoriale Bedeutung bekam, hält Schleiermacher es für möglich, daß es zuerst in Dokumenten und bei Gruppen erschien, die später keine kirchliche Anerkennung hatten: die ersten exegetischen Kommentare haben wohl Gnostiker geschrieben, die ersten Evangelien waren wohl nicht die, die später kanonisch wurden, einen neutestamentlichen Kanon hat als erster vielleicht Marcion zusammengestellt, und wissenschaftliche Theologie haben vielleicht zuerst Gnostiker betrieben.

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Erste Korruptionen schleichen sich in die äußere Gestalt des Christentums ein. Der Hang zum Jenseitigen hängt vielleicht noch mit der anfänglichen Unsicherheit zusammen, ein Verhältnis zur Welt und einen Standpunkt in ihr zu finden. Spätere Fehlentwicklungen sind die übergroße Strenge der Zucht gegenüber den Sündern und das Einsickern des Verdienstgedankens ins Bußwesen und der bildenden Künste und äußerlichen Rituale in den Kultus. Die Entwicklung der Welt wird nicht eigens dargestellt, weder die politische Situation in den drei ersten christlichen Jahrhunderten noch die Geschichte des wissenschaftlich-philosophischen Denkens. Angesichts der in diesem Zeitraum vorherrschenden Weltferne der christlichen Kirche ist das konsequent: Schleiermacher will in seinen Vorlesungen eine innere Geschichte des Christentums vorlegen; er betrachtet den christlichen Geist in seiner Bewegung und die Welt, sofern sie durch den Geist in Bewegung gesetzt wird oder ihm widerstrebt (vgl. oben Abschnitt 5.1.), aber nicht die Welt als bedingenden oder mitwirkenden Faktor der Kirchengeschichte.

7.  Die zweite Periode 7.1.  Die zweite Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte 7.1.1.  Die Eigenart der zweiten Periode Die zweite Periode der Kirchengeschichte ist die Geschichte von der Blüte und dem Niedergang der reichskirchlichen Ökumene. Ihre wichtigsten Inhalte sind die Vollendung der bischöflich-aristokratischen Kirchenverfassung in und unter dem römischen Staat, die innere Lehrentwicklung und die Verbreitung und Konsolidierung des Christentums unter den barbarischen Völkern außer den Reichsgrenzen.1 Der Höhe- und Wendepunkt dieser knapp 500 Jahre währenden Periode liegt schon nach dreiviertel Jahrhunderten, in der Zeit zwischen 380 und 400: Die griechische christliche Literatur erlebt eine letzte Blüte, und das lateinische Christentum schwingt sich zu einer neuen geistigen Höhe auf. Von da an aber beginnt der politische und geistige Niedergang der griechisch-römischen Welt.2 Am Ende der Periode haben sich im Abendland neue christliche Völker und Staaten etabliert; und durch sie wird das Abendland schließlich zum Mittelpunkt der Kirche.3 In neueren Überblicken über die Kirchengeschichte pflegt mit dem Konzil von Chalcedon der Vorhang über der Alten Kirche zu fallen, um bei Chlodwigs Taufe, Benedikt von Nursia und dem Pontifikat Gregors des Großen kurz gelüftet zu werden und sich etwa bei Bonifatius endgültig zum Mittelalter zu heben.4 Bei Schleiermacher und seinen Zeitgenossen war die Periodeneinteilung eine andere; 5 hier kommt manches ausführlich vor, was sonst im Nie1 Kirchengeschichte 1821/22, 7. Stunde (KGA II/6, S.   25 f. 485 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  691 f. 697 f.) 2  Kirchengeschichte 1821/22, 42. und 52. Stunde (KGA II/6, S.  104 f. 514); Kollektaneum 241 (KGA II/6, S.  195) 3  Kirchengeschichte 1821/22, 7. und 61. Stunde (KGA II/6, S.  2 6. 486. 542); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  692. 698) 4  Z. B. Hans von Schubert und Erich Dinkler: Grundzüge der Kirchengeschichte, 11.  Aufl., Tübingen 1950; Kurt Dietrich Schmidt: Grundriß der Kirchengeschichte, 5.  Aufl., Göttingen 1967; Ekkehard Mühlenberg: Epochen der Kirchengeschichte, Heidelberg 1980; Bernd Moeller: Geschichte des Christentums in Grundzügen, 9.  Aufl., Göttingen 2008 5  Vgl. oben Abschnitt 4.6.1. Vgl. dazu auch damals gängige Kompendien: Ludwig Timotheus Spittler: Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche, 4.  Aufl., Göttingen 1806;

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mandsland zwischen Alter Kirche und Mittelalter verschwindet: der christologische Streit nach dem Konzil von Chalcedon, die westgotische und vandalische Kirche des sechsten Jahrhunderts, die justinianische Reichskirche, das Concilium quinisextum. Das Chalcedonense selbst erscheint dabei als kein besonders hervorgehobener Punkt.

7.1.2.  Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise Das von Schleiermacher zu dieser Periode zusammengetragene Material übertrifft an Umfang bei weitem dasjenige zur ersten Periode. Das allermeiste hat Schleiermacher aus Johann Matthias Schröckhs Kirchengeschichte (Band 5–20) geschöpft. Er hat dieses Werk 1821/22 nach Bänden durchgearbeitet und exzerpiert. Dabei zeigen sich bei der Ausführlichkeit und Genauigkeit der Exzerpte (und wohl auch bei der Intensität der Lektüre) charakteristische Unterschiede: Am dichtesten und detailliertesten sind die Exzerpte zu den dogmatischen Streitigkeiten; 6 summarischer sind sie, wenn es sich um die Missionsgeschichte, die Entwicklung der Kirchenverfassung und Disziplin oder auch die Geschichte des Kultus und Aberglaubens handelt.7 Aus der Papstgeschichte hat sich Carl Friedrich Stäudlin: Universalgeschichte der christlichen Kirche, 3.  Aufl., Hannover 1827; Johann Matthias Schröckh: Historia religionis et ecclesiae Christianae, 7.  Aufl. von Philipp Marheineke, Berlin 1828. 6  Kollektaneen 191–198 (KGA II/6, S.  184 f.) über den Anfang des arianischen Streites aus Schröckh 5, S.  325–345; Kollektaneen 248–269 (KGA II/6, S.  196–202) über den weiteren arianischen Streit aus Schröckh 6, S.  55–202; Kollektaneen 380–395 (KGA II/6, S.  222– 226) über die Streitigkeiten um 400 mit Manichäern, Priscillianern und Donatisten aus Schröckh 11, S.  248–461; Kollektaneen 395–400 (KGA II/6, S.  226 f.) über den Ausgang des arianischen Streites aus Schröckh 12, S.  7–77; Kollektaneum 405 (KGA II/6, S.  228 f.) über Apollinaris aus Schröckh 13, S.  224–270; Kollektaneen 411–445 (KGA II/6, S.  231– 239) über den pelagianischen Streit aus Schröckh 14, S.  337–438; 15, S.  7–147 (wobei die Kollektaneen nicht genau der Reihenfolge von Schröckhs Darstellung folgen); Kollektaneen 448–455 (KGA II/6, S.  240–242) über den semipelagianischen Streit aus Schröckh 18, S.  132–175; Kollektaneen 476–491 (KGA II/6, S.  245–250) über den nestorianischen Streit aus Schröckh 18, S.  183–311; Kollektaneen 496–522 (KGA II/6, S.  250–259) über den eutychianischen, monophysitischen und Drei-Kapitel-Streit aus Schröckh 18, S.  437–627; Kollektaneum 586 (KGA II/6, S.  271–276) über den monenergetischen und monotheletischen Streit aus Schröckh 20, S.  387–451; Kollektaneen 587 f. (KGA II/6, S.  277–279) über den Bilderstreit des achten Jahrhunderts aus Schröckh 20, S.  514–611. – Demgegenüber hat Schleiermacher sich für die erste Periode z. B. zum Ketzertaufstreit praktisch gar keine Kollektaneen gemacht, sondern offenbar aus dem Kopf vorgetragen, was er vorher gelesen hatte (Kirchengeschichte 1821/22, 27.–28. Stunde, KGA II/6, S.  67 f.). 7  Vgl. z. B. die Exzerpte (Kollektaneen 245–247; 299; 301; 467–472, KGA II/6, S.  196. 207. 243 f.) aus Schröckhs Kapiteln über Verbreitung und Verfolgung des Christentums außer dem Reich (Schröckh 6, S.  16–52; 7, S.  355–396; 16, S.  199–323), die Exzerpte (Kollektaneen 302–305; 309–312; 320–322; 473–475; 573–579, KGA II/6, S.  207–209. 211. 244 f. 268–270) aus Schröckhs Kapiteln über Kirchenverfassung und Disziplin (Schröckh 8, S.  3 –214; 16, S.  324–443; 19, S.  4 05–484; überschlagen wird das Kapitel über kirchliche Gesetzessammlungen in Schröckh 17, S.  362–395) und die Exzerpte (Kollektaneen 343–353;

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C.  Materialer Teil

Schleiermacher ausgewählte charakteristische Daten notiert.8 Die bei Schröckh sehr umfangreichen Kapitel über verschiedene Kirchenväter (mit Biographie und ausführlichen Inhaltsangaben der wichtigsten Werke) hat er eher sporadisch rezipiert.9 Aus einem Kapitel über die christliche Apologetik hat sich Schleiermacher allerlei Interessantes aus Augustins Büchern vom Gottesstaat notiert wie die Vorstellung von einer Inspiration der altlateinischen Bibelübersetzung; den Anlaß und die Grundgedanken des Jahrtausendwerkes hat er aber übergangen.10 Weitgehend unberücksichtigt bleibt das, was nicht die Kirche betrifft, sondern etwa die politische Geschichte oder den Islam.11 545–547; 591–598, KGA II/6, S.  215–217. 264. 280 f.) aus Schröckhs Kapiteln über den Aberglauben und seine Gegner (Schröckh 9, S.  170–328; 17, S.  466–568; 20, S.  100–190; überschlagen wird das Kapitel in Schröckh 5, S.  128–149). 8  Vgl. die Exzerpte (Kollektaneen 307 f.; 313–319; 523–541; 580–585, KGA II/6, S.  2 08– 211. 260–263. 270 f.) aus Schröckhs Kapiteln über die römischen Bischöfe (Schröckh 8, S.  24–180; 17, S.  48–361; 19, S.  484–611). 9  Vgl. das Kapitel über Euseb von Cäsarea (Schröckh 5, S.  185–232) in Kirchengeschichte 1821/22, 38. Stunde (KGA II/6, S.  94), wo einige Werke kurz charakterisiert werden, über Epiphanius (Schröckh 10, S.  3 –107) in Kollektaneum 363 (KGA II/6, S.  218 f.) mit einer kurzen biographischen Notiz, über Johannes Chrysostomus (Schröckh 10, S.  267– 532) in Kollektaneen 371–376 (KGA II/6, S.  220 f.), wo außer Eckdaten aus Chrysostomus’ Leben noch Weniges über seine Trinitätslehre und über den Anfang des Weihnachtsfestes steht, über Hieronymus (Schröckh 11, S.  3–244) in Kollektaneen 377–379 (KGA II/6, S.  221 f.) mit Daten zur Biographie und – was Schleiermacher wohl bemerkenswert fand – Hieronymus’ Verständnis des Schlüsselwortes an Petrus (Matth 16,18 f.), über Athanasius (Schröckh 12, S.  101–270) in Kollektaneen 401 f. (KGA II/6, S.  228) mit Notizen zu Atha­ nasius’ Verhältnis zum Apollinarismus (Athanasius’ Lebensumstände kommen schon bei in der Geschichte des arianischen Streites hinlänglich vor), über Hilarius (Schröckh 12, S.  271–368) in Kollektaneen 403 f. (KGA II/6, S.  228) mit biographischen Eckdaten und Wenigem über die Trinitätslehre und Christologie, über Basilius (Schröckh 13, S.  3 –220) in Kollektaneen 406; 408–410 (KGA II/6, S.  229–231) mit Notizen über Basilius’ Trinitätslehre, Pneumatologie und Lehre vom Bösen, über Theodor von Mopsuestia (Schröckh 15, S.  176–218) in Kollektaneen 446 f. (KGA II/6, S.  240) mit Notizen zu Theodors Verständnis des Sündenfalls und der messianischen Weissagungen, über Cyrill von Alexandrien (Schröckh 18, S.  313–354) in Kollektaneen 492 f. (KGA II/6, S.  250) mit zwei Notizen u. a. zu Cyrills Vorstellung von der Erbsünde und über Theodoret (Schröckh 18, S.  355–432) in Kollektaneen 494 f.; 509 (KGA II/6, S.  250. 255) zu Theodorets Biographie – dabei auch zu der morgenländischen Sitte, die durch Fürbitte von Asketen erhaltenen Kinder deren Lebensweise zu weihen – und zu der Schrift „Eranistes“. – Nicht berücksichtigt hat Schleiermacher die Kapitel über Lactanz (Schröckh 5, S.  232–280), Cyrill von Jerusalem (Schröckh 12, S.  369–476), Gregor von Nazianz (Schröckh 13, S.  275–466), Gregor von Nyssa und Ambrosius (Schröckh 14, S.  3 –332) sowie Augustin (Schröckh 15, S.  219–530). 10  Kollektaneen 290–298 (KGA II/6, S.  2 06 f.) aus Schröckh 7, S.  2 63–355 11 Aus den Kapiteln über die politische Geschichte und die Gelehrsamkeit und Kunst (Schröckh 7, S.  3 –213; 16, S.  3 –198; 19, S.  3 –115) hat Schleiermacher nur exzerpiert, was das Christentum betrifft (Kollektaneen 277–287; 457–465; 548–560, KGA II/6, S.  203–205. 242 f. 264–266). Aus dem großen Kapitel über die äußeren Verhältnisse des Christentums zwischen 605 und 814 (Schröckh 19, S.  115–405) hat Schleiermacher sich Einiges über die christliche Mission herausgeschrieben; über den Islam bleibt nicht viel mehr als Mohammeds Geburts- und Todesdatum (Kollektaneen 561–572, KGA II/6, S.  266–268).

7.  Die zweite Periode

255

Außer dem Schröckh hat Schleiermacher im Zusammenhang nur – ganz am Anfang der Periode – die drei „synoptischen“ Kirchenhistoriker Socrates, Sozomenus und Theodoret ausgewertet, und zwar über die Anfänge des arianischen Streites.12 Sonst hat er noch punktuell Quellentexte benutzt, so Hilarius, Eusebs Schriften gegen Marcell von Ancyra und (wie schon für die erste Periode) die ketzerbestreitenden Werke Epiphanius’ und Theodorets.13 In die Exzerpte sind wieder eigene Reflexionen eingestreut.14 Die eigenen schriftlichen Ausarbeitungen der Vorlesungsstunden hat Schleiermacher noch etwa bis zur Mitte der Periode fortgeführt; nach der 46. Stunde brechen sie ab. Für die Vorlesung von 1825/26 hat Schleiermacher ein paar Zettelchen mit Dispositionen und Zeittafeln beschrieben.15 Weiteres Material hat er teils in Glossen zu den bisherigen Kollektaneen,16 teils in neuen Kollektaneen gesammelt. Die letzteren folgen nun mehr dem Verlauf der Vorlesung in thematischen Blöcken als den exzerpierten Vorlagen.17 Hauptquelle ist wieder Schröckh; dazu kommen z. B. einige Exzerpte aus Gieselers neuer Kirchengeschichte und aus Photius’ Bibliothek.18 Bei dem großen Umfang des zu bewältigenden Materials und der weitgehenden Abhängigkeit von Schröckh ist Schleiermacher zum Geschäft der histo12  Sozomenus: Historia ecclesiastica I, 15–17 in Kollektaneen 204–206 (KGA II/6, S.  186 f.); Socrates: Historia ecclesiastica I, 8–11 in Kollektaneen 206–217 (KGA II/6, S.  187–190); Theodoret: Historia ecclesiastica I, 2–31 in Kollektaneen 219–231 (KGA II/6, S.  190–193); Sozomenus: Historia ecclesiastica II, 16–33 in Kollektaneen 231–235 (KGA II/6, S.  192 f.) 13  Kollektaneen 236; 238; 240; 265 f.; 407 (KGA II/6, S.  194 f. 200 f. 230) 14  Kollektaneen 237; 413 f.; 418; 453; 468; 594 (KGA II/6, S.  194. 232 f. 241. 243. 280) 15  KGA II/6, S.  135–140 16  Vgl. die Liste KGA II/6, S. XLIV. 17 Kollektaneen 993–1012 (KGA II/6, S.   396–401) über den Ausgang des arianischen Streites, das Konzil von Konstantinopel und Apollinaris (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  137); Kollektaneen 1014–1024 (KGA II/6, S.  4 01–403) über Priscillianer und Donatisten (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  137 f.); Kollektaneen 1026–1031 (KGA II/6, S.  4 03 f.) über den Aberglauben und seine Gegner; Kollektaneen 1032–1058 über den Manichäismus (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, 45. Stunde, KGA II/6, S.  138 f.); Kollektaneen 1059–1078 (KGA II/6, S.  4 09–412) über den pelagianischen Streit (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  292–306); Kollektaneen 1079–1086 (KGA II/6, S.  412–414) über den origenistischen Streit und Johannes Chrysostomus (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  306–314); Kollektaneen 1087–1106 (KGA II/6, S.  414–419) über den christologischen Streit (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  316–333); Kollektaneen 1107– 1127 (KGA II/6, S.  419–423) über die abendländische Kirche zwischen Cassian und Gregor dem Großen (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, S.  139; SW I/11, S.  338–352); Kollektaneen 1128–1133 (KGA II/6, S.  423–425) über den monotheletischen und Bilderstreit (vgl. Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  353–374) 18  Kollektaneen 380 Glosse; 407 Glosse; 519 Glosse; 586 Glossen; 1001; 1003; 1006; 1010; 1057; 1129 f. (KGA II/6, S.  222. 230. 259. 272–276. 397–400. 408. 424). – Eigene Reflexionen Schleiermachers stehen in Kollektaneen 1058; 1063 f.; 1112; 1129 (KGA II/6, S.  4 09. 420 f. 424)

256

C.  Materialer Teil

rischen Kritik, also der eigenen Rekonstruktion des geschichtlichen Hergangs aus den Quellen, nur bei den ersten Jahrzehnten der Periode gekommen: Er macht sich ein Bild von Konstantins Vision,19 vom Anfang des Streites zwischen Arius und seinem Bischof Alexander,20 vom Verlauf des nicänischen Konzils,21 von den Ursachen des schnellen Umschwungs nach dem Konzil 22 und von den Anfängen Apollinaris’.23 1825/26 hat Schleiermacher sich eingehender mit dem Manichäismus beschäftigt; dazu hat er ins dritte Jahrhundert zurückgegriffen und Band 4 von Schröckh über Mani und seinen Mythos konsultiert, außerdem verschiedene Werke Augustins, Gregors von Nyssa und Cyrills von Jerusalem, Photius’ Bibliothek und die griechische Literaturgeschichte von Johann Albert Fabricius.24

7.2.  Die Kirche als organisiertes gemeinsames Leben 7.2.1.  Reichskirche und ökumenische Synode Am Anfang des vierten Jahrhunderts war die bisherige Kirchenverfassung an ihre Grenzen gekommen: Die rasche Ausbreitung der Kirche hatte immer mehr (vor allem ethische) Differenzen zwischen den verschiedenen Gemeinden und Regionen gezeitigt, andererseits wurde das Bestreben immer stärker, die Einheit der Kirche auch in einerlei äußerer Sitte darzustellen. Seit Konstantin stellte nun der Staat der Kirche Hilfs- und Rechtsmittel zur Verfügung, um die auseinanderstrebenden Teile der Ökumene zu integrieren und bei auftretenden Differenzen über Leben und Lehre dasjenige, was überall gelten soll, zu beschließen und auch durchzusetzen. Die Verbindung des Staates mit der Kirche und die mit ihrer Hilfe hergestellte äußere Kircheneinheit bedeuten den epo­ chalen Wendepunkt zwischen der ersten und der zweiten Periode. Eine Unterdrückung und Verfolgung der Kirche durch den Staat kommt zwar im Perserreich und unter der kurzen Regierung Julians noch vor,25 bleibt aber für Schlei-

19  Kirchengeschichte 1821/22, 30. Stunde (KGA II/6, S.  75); Kollektaneum 183 (KGA II/6, S.  182) 20  Kirchengeschichte 1821/22, 33. Stunde (KGA II/6, S.  81–83); Kollektaneen 191–196; 204; 219 (KGA II/6, S.  184–186. 190) 21  Kirchengeschichte 1821/22, 34.–36. Stunde (KGA II/6, S.  86–89); Kollektaneen 206; 208–211; 216; 218; 223–231 (KGA II/6, S.  187–192) 22  Kirchengeschichte 1821/22, 36. Stunde (KGA II/6, S.   9 0 f.); Kollektaneen 228; 231 (KGA II/6, S.  192 f.) 23  Kollektaneum 9 (KGA II/6, S.  144 f.) 24  Kirchengeschichte 1825/26, 45. Stunde (KGA II/6, S.  138 f.); Kollektaneen 380 Glosse; 384 Glosse; 407 Glossen; 1032–1058 (KGA II/6, S.  222 f. 230. 404–409) 25  Kirchengeschichte 1821/22, 38. und 40.–41. Stunde (KGA II/6, S.  94. 101–103); Kollektaneen 247; 276; 301 (KGA II/6, S.  196. 203. 207)

7.  Die zweite Periode

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ermacher ein vorübergehendes Randphänomen, das die Gesamtentwicklung nicht in Frage stellt. Die vom Staat veranstaltete ökumenische Synode ist das hervorragende Instrument, die allgemeine auch äußere Kircheneinheit sowohl herzustellen als auch zum „anschaulichen Bewußtsein“ zu bringen; 26 sie ist also ein Organ des wirksamen wie des darstellenden Handelns. Als Institution stellt sie den folgerichtigen Abschluß der Entwicklung dar, die seit dem zweiten Jahrhundert zu einer immer stärkeren Organisation der Gemeinden untereinander geführt hatte. Für das Konzil von Nicäa notiert Schleiermacher, daß hier auch zahlreiche Kleriker niederer Ränge und sogar Laien teilnahmen; 27 doch im Ganzen waren die Synoden eine Angelegenheit der Bischöfe. – Die Gestalt indessen, in der die neue Einrichtung mit der Reichssynode in Arles und mit dem Konzil von Nicäa ins Leben tritt, erscheint Schleiermacher mangelhaft: Die allgemeine Synode kommt nicht etwa in einem regelmäßigen Turnus zusammen, um dann (und erst dann) alle Streitfragen zu besprechen, die sich angesammelt haben, sondern sie wird vom Kaiser einberufen, und zwar eben dann, wenn es ihm, dem Kaiser, gut scheint. Ihre Beschlüsse bedürfen der kaiserlichen Bestätigung. Schließlich aber muß auf ihr auch kein Einvernehmen mehr hergestellt werden (wie das noch im apostolischen Zeitalter gewesen war, vgl. oben Abschnitt 6.2.1.), vielmehr wird nach Mehrheit entschieden: Die Majorität zwingt der Minderheit ihren Willen auf und tut die, die sich nicht fügen, in den Bann.28 Nach Schleiermachers Theorie des reinigenden Handelns in der Kirche ist das ein vorzeitiger Abbruch des ethischen Prozesses und letztlich Separatismus.29 Daß ein Konflikt nicht zuletzt durch das gemeinsame, herrschaftsfreie Suchen nach dem Guten und Richtigen einvernehmlich beigelegt werden könnte, ist in Schleiermachers Ekklesiologie ebensowenig vorgesehen wie in seiner Staatslehre.30 Die ganze Art der Einrichtung hat zur Folge, daß die Synoden eben die Kirche eher spalteten, als daß sie die Einheit hergestellt hätten, und daß das auf ihnen Be26 Kirchengeschichte

1821/22, 32. Stunde (KGA II/6, S.  81); vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697). 27  Kirchengeschichte 1821/22, 34. Stunde (KGA II/6, S.  86); Kollektaneum 206 (KGA II/6, S.  187) 28 Kirchengeschichte 1821/22, 34. Stunde (KGA II/6, S.   85 f.); vgl. Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, Berlin 1817, S.  34 (KGA I/9, S.  133); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  214). 29  So sagt Schleiermacher etwa in den Augustana-Predigten, das Verdammen als Abbruch der Gemeinschaft unterbinde zu aller Schaden das weitere gemeinsame Forschen und das reinigende Einwirken aufeinander (Predigt 158 [10.10.1830] über Luk 6,37 [Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, S.  162–166; KSP 3, S.  117–120). Vgl. dazu auch oben Abschnitt 4.3.3. und 4.4. 30 Vgl. Denis Thouard: Gefühl und Freiheit in politischer Hinsicht, in: Hg. Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Schleiermacher-Archiv 22, Berlin und New York 2008, S.  355–374, hier 370–373.

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C.  Materialer Teil

schlossene eben keine dauerhafte Geltung hatte, sondern leicht revidiert werden konnte: Wenn der Kaiser seine Meinung änderte oder ein neuer Kaiser kam, konnte eine neue Versammlung mit neuer Mehrheit zusammentreten und das genaue Gegenteil des bisher Gültigen verabschieden.31 Die neue Verbindung zwischen Kirche und Staat hat auch sonst für die Kirchenverfassung die größten Folgen: Die bislang teils verfolgte, teils ignorierte, teils geduldete Kirche wird nunmehr vom Staat und seinen Gesetzen reich ­privilegiert.32 Die Geistlichen und die Kirchengebäude genießen teilweise Immunität, ja, der Kaiser läßt sogar auf eigene Kosten prächtige Kirchen bauen; 33 aber dafür regiert er auch kräftig in die Kirche und ihre Angelegenheiten hin­ ein. Der Staat mischt sich in den Verlauf der theologischen Streitigkeiten ein,34 und er erläßt selbst Gesetze gegen die Häretiker.35 Seit Kaiser Justinian reagiert der Staat nicht nur, sondern diktiert sogar selbst die weitere Entwicklung der Lehre; gegen Patriarchen, die sich den kaiserlichen Vorgaben nicht fügen wollen, kommt es zu Zwangsmaßnahmen.36 Die Haltung der Kleriker zu diesem staatlichen Kirchenregiment kommt nur am Rande vor; sie hängt davon ab, wie weit beider Ziele miteinander übereinstimmen. Ambrosius verteidigt seine Kirchengebäude gegen den Zugriff der Kaiserin, die einige den Arianern überlassen will.37 Bei Streitigkeiten untereinander versuchen alle Seiten, die Regierung in ihrem Sinne zu beeinflussen.38 Als im Jahr 380 mit Priscillian der erste Ketzer auf kaiserlichen Befehl hingerichtet wird, protestieren Ambrosius und Martin von Tours scharf und entziehen denen, die daran mitgewirkt haben, die Kirchenge-

31  Kirchengeschichte 1821/22, 54. Stunde (KGA II/6, S.  521); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697 f. 726; SW I/11, S.  278 f.); Kollektaneum 201 (KGA II/6, S.  186). In der schon erwähnten Predigt kann Schleiermacher die Beeinflussung der Konzilsentscheidungen durch fremde Motive so stark hervorkehren, daß er sich stark der eigentlich von ihm abgelehnten pragmatischen Auffassung annähert, der er vorwirft, die Dogmatik zu dekreditieren, indem sie alles auf sachfremde Zufälle zurückführt (Predigt 158 [10.10.1830] über Luk 6,37 [Predigten in Bezug auf die Feier, S.  150–153; KSP 3, S.  109–112]); vgl. oben Abschnitt 3.1. 32  Kirchengeschichte 1821/22, 31., 37. und 38. Stunde (KGA II/6, S.  76 f. 92–94); Kollektaneen 185; 202; (KGA II/6, S.  183. 186) 33  Kirchengeschichte 1821/22, 31. und 37. Stunde (KGA II/6, S.  76. 92); Kollektaneen 185; 308–310; 1081 (KGA II/6, S.  183. 208 f. 413) 34 Kirchengeschichte 1821/22, 40., 43., 45., 54.–55. und 58.–59. Stunde (KGA II/6, S.  99–101. 109. 113 f. 522–524. 531–536); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697 f. 735); Kollektaneen 198; 231; 244; 260–262; 267; 397–400; 514; 516 f.; 586; 588; 1005; 1023; 1128 f. (KGA II/6, S.  185. 193. 195. 199. 201. 226 f. 256–258. 271–279. 398. 402 f. 423 f.) 35  Kirchengeschichte 1821/22, 36., 43., 47., 48. und 51. Stunde (KGA II/6, S.  9 0. 108 f. 501. 503. 512); Kollektaneen 199; 213; 289; 357; 381; 389; 393; 434; 1009; 1021; 1023 (KGA II/6, S.  185. 189. 205 f. 217. 222. 225 f. 237. 399 f. 402 f.) 36  Kirchengeschichte 1821/22, 55. und 58.–59. Stunde (KGA II/6, S.  524. 533–535); Kollektaneen 517 f.; 534; 577; 585 f.; 588; 1103 (KGA II/6, S.  257 f. 262. 269. 271. 275–278. 418) 37  Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.  114); Kollektaneum 400 (KGA II/6, S.  227) 38  Kirchengeschichte 1821/22, 53. und 55. Stunde (KGA II/6, S.  518. 523); Kollektaneen 262; 485; 487; 517 (KGA II/6, S.  199. 248 f. 257)

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meinschaft.39 Der freisinnige Bischof Synesius von Cyrene behauptet sein bischöfliches Ansehen auch gegenüber der weltlichen Gewalt, indem er einen kaiserlichen Statthalter wegen dessen Grausamkeit exkommuniziert.40 Zur gleichen Zeit rechtfertigt aber Augustin, daß die Donatisten durch staatlichen Zwang der katholischen Kirche eingegliedert werden.41

Schleiermacher mißbilligt zweifellos die staatliche Kirchenregierung. Daß der Staat sich aus den inneren Angelegenheiten der Kirchen herauszuhalten habe,42 gilt für ihn nicht nur für die Gegenwart; das Eingreifen der weltlichen Macht in die donatistischen Händel nennt er die erste Verunreinigung der Kirchenzucht.43 Die Einmischung in theologische Streitigkeiten sollte zwar eigentlich die Einheit der zerstrittenen Christen wiederherstellen, bewirkte aber tatsächlich eher das Gegenteil: 44 Der Streit zog sich wegen der Schwankungen in der Regierungspolitik nur unnötig in die Länge und machte den christlichen Glauben unter den Heiden zum Gespött.45 Männer wie der Heide Themistius und der afrikanische Bischof Facundus werden dafür gelobt, daß sie die Kaiser zu religiöser Toleranz auffordern oder sich der kaiserlichen Religionspolitik widersetzen.46 Andererseits aber plädiert Schleiermacher eben auch nicht für eine Rückkehr zur „Reinheit“ der ersten Periode. Die Tolerierung und Unterstützung der Kirche durch den Staat seit Konstantin stellt für ihn schließlich einen bedeutenden Fortschritt dar, hinter den die späteren Perioden nicht mehr zurückfallen können,47 und eine Opposition der Kirche gegen Staat und Gesellschaft ist für ihn 39 Kirchengeschichte 1821/22, 44. Stunde (KGA II/6, S.   109 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  137); Kollektaneen 7; 387 (KGA II/6, S.  144. 224) 40  Kirchengeschichte 1821/22, 47. Stunde (KGA II/6, S.  499); Kollektaneum 286 (KGA II/6, S.  205) 41  Kirchengeschichte 1821/22, 44. und 50. Stunde (KGA II/6, S.  109. 510); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  137); Kollektaneen 358 f.; 391 (KGA II/6, S.  218. 225) 42  Z. B. Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche für den preußischen Staat (1808) (KGA I/9, S.  3. 17 f.); Staatslehre 1817, 73. Stunde (KGA II/8, S.  369); Ueber die Religion, 3.  Aufl., Berlin 1821, S.  4 0 f. 334–347 (Erläuterung 5 zur 1. Rede und Erläuterungen 18–23 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  38 f. 237–246); Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten, Göttingen 1824 (KGA I/9, S.  211–269); Kirchliche Statistik 1827, 37., 55.–56. und 68. Stunde (KGA II/16, S.  321–323. 391–396. 444). – Vgl. Wilhelm Gräb: Die sichtbare Darstellung der Versöhnung, in: Hg. Dietrich Korsch und Hartmut Ruddies: Wahrheit und Versöhnung, Gütersloh 1989, S.  232–256, hier 233–239; Christoph Dinkel: Kirche gestalten, Schleiermacher-Archiv 17, Berlin und New York 1996, S.  233– 238; Albrecht Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, Unio et confessio 20, Bielefeld 1997, S.  66 f.; Simon Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), S.  183–214, hier 190–192. 43  Kirchengeschichte 1821/22, 29.–31. Stunde (KGA II/6, S.  73. 76 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  134); Kollektaneum 187 (KGA II/6, S.  183) 44  Kirchengeschichte 1821/22, 41. Stunde (KGA II/6, S.  103) 45  Kirchengeschichte 1821/22, 36. und 39. Stunde (KGA II/6, S.  9 0–92. 98) 46  Kirchengeschichte 1821/22, 39., 45. und 55. Stunde (KGA II/6, S.  98. 113. 524); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  135); Kollektaneen 398; 517 (KGA II/6, S.  227. 258) 47 Kirchengeschichte 1821/22, 6. Stunde (KGA II/6, S.   25. 484); Kirchengeschichte

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mindestens ebenso verkehrt (wenn auch für die ersten Jahrhunderte erklärlich) wie eine Ein- oder Unterordnung der Kirche unter den Staat. Erst eine rechtlich anerkannte und gesicherte Kirche, die Staat, Wissenschaft und Kultur nicht ablehnt, kann mit ganzer Kraft positiv wirken, nach außen zur Verbreitung des Christentums, auch unter den Völkern außerhalb der Reichsgrenzen, und nach innen zur Ausgestaltung der Lehre und Organisation und zur Rezeption der antiken Bildung.48 Das Verflochtensein der Kirche in das staatliche und kulturelle Leben führt andererseits aber auch dazu, daß ihr Leben mit deren Verfall ebenfalls verfällt.49 Die zweite Periode bringt aber nicht nur die Verbindung der Kirche mit dem Staat, sondern auch die Vollendung der aristokratischen Kirchenverfassung in den fünf Patriarchaten und den zahlreichen Metropolen und Kirchenprovinzen 50 und in den niederen Rängen des Klerus. Zum Weihegrad der Exorzisten meint Schleiermacher, diese hätten wohl keine Dämonen ausgetrieben, denn für ein solches Charisma sei dieser Rang zu niedrig und zu häufig gewesen; wahrscheinlich hätten sie die Aufsicht über die Katechumenen geführt, indem zur Taufvorbereitung ja die Absage an den Teufel gehört habe.51 Die genauere Ausgestaltung der Verfassung obliegt den Synoden; deren rechtliche und disziplinarische Kanones und die staatlichen Gesetze über die Wahl und Amtsführung der Kleriker hat Schleiermacher eifrig exzerpiert.52 Bald entstehen nun Herrschsucht und Machtstreitigkeiten unter den hohen Klerikern; eine Seite sucht, sich auf den Synoden mit listigen Kanones und Verfahren zweifelhafter Legalität gegen die andere durchzusetzen.53 Die origenistischen Streitigkeiten eskalieren aus persönlichen und machtpolitischen Gründen; der christologische Streit seit dem fünften Jahrhundert 1825/26 (KGA II/6, S.  691 f. 695). Vgl. Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, S.  47 (KGA I/9, S.  142): „Sagte sich der Staat ganz los von allem, was auf den Glauben und die Frömmigkeit Bezug hat: dann wäre der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt, und der in den Gemüthern der Gläubigen waltende Geist würde dann schon sich eine Form gestalten, wie er es in der Urzeit des Christenthums, wie er es immer, wo eine alte Form abgestorben und zerfallen war, gethan hat. Gott bewahre den Staat und die Kirche vor einem solchen Rükschritt“ (aber selbst dann fände die protestantische Kirche die ihrem Geist entsprechende Form); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  24,1 (KGA I/13,1, S.  165). 48 Kirchengeschichte 1821/22, 7. Stunde (KGA II/6, S.   25. 485); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697) 49  Kirchengeschichte 1821/22, 32. und 52. Stunde (KGA II/6, S.  79. 514) 50  Kirchengeschichte 1821/22, 7., 31., 46. und 57. Stunde (KGA II/6, S.  25 f. 77. 115. 486. 529); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697); Kollektaneen 230; 311 f. (KGA II/6, S.  192. 209) 51  Kirchengeschichte 1821/22, 21. und 31. Stunde (KGA II/6, S.  53. 77 f.); Kollektaneen 189 f.; 322 (KGA II/6, S.  183 f. 211) 52  Kirchengeschichte 1821/22, 31., 35., 38., 57., 59. und 60. Stunde (KGA II/6, S.  78. 89. 95. 529. 533 f. 538); Kollektaneen 189; 230; 251–253; 274; 303–305; 473–475; 535; 575 f.; 579; 590; 1013; 1018; 1130 (KGA II/6, S.  183. 192. 197. 203. 207 f. 244 f. 262. 269 f. 280. 401 f. 424) 53 Kirchengeschichte 1821/22, 40. Stunde (KGA II/6, S.   99); Kollektaneen 258; 368; 1080 (KGA II/6, S.  198. 220. 413)

7.  Die zweite Periode

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wird von solchen Machtkämpfen überschattet.54 – Schleiermacher lobt indessen ausdrücklich, daß der Klerus von den Gemeinden gewählt wird, die Kirchenverfassung also nach unten offen bleibt und die Repräsentation sich nicht gegen die Impulse und Bedürfnisse der Basis verschließen kann.55

7.2.2.  Verbreitung des Christentums, Entstehung des Abendlandes In der zweiten Periode breitet sich das nunmehr vom Staat begünstigte Christentum im Reich weiter aus. Daß es sich dabei nicht um erheuchelte Übertritte aus Opportunismus handelte, sondern das Christentum in der Bevölkerung wirklich Fuß gefaßt hatte, während die geistige Macht des Heidentums gebrochen war, sieht Schleiermacher an der Geschichte Julians: Nirgends ergriff die heidnische Bevölkerung unter ihm die Gelegenheit zu größeren Aufständen gegen die Christen. Wenn wiederum nach Julians Tod Jovian die Kaiserwürde zunächst ablehnte, da das Heer heidnisch, er aber Christ sei, so besage das nicht, daß tatsächlich viele Soldaten Heiden gewesen seien, sondern nur, daß sie an von Julian eingeführten heidnischen Zeremonien teilgenommen hätten, ohne deren tatsächliche Bedeutung zu erkennen, weil sie das Heidentum nicht einmal mehr aus der Anschauung kannten.56 Auch zu Völkern außer dem griechisch-römischen Kulturkreis innnerhalb und außerhalb des Reiches wird das Christentum nun gebracht, zunächst einfach durch den friedlichen und kriegerischen Austausch untereinander: zu den Äthiopiern, Goten und Iberern, Arabern und Persern.57 Zwischen griechischem und lateinischem Christentum zeichnete sich bereits im zweiten Jahrhundert ein Gegensatz ab. In der zweiten Periode vertieft sich diese Kluft, auch bedingt durch den Zerfall der Reichseinheit.58 Daß sich das Abendland allmählich als eigene Größe etabliert, vollzieht und äußert sich be-

54  Kirchengeschichte

1821/22, 32., 46., 52. und 53. Stunde (KGA II/6, S.  80. 116 f. 514. 517 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  306–311; KGA II/6, S.  735); Kollektaneen 363–370; 482; 485; 1079 f.; 1091 (KGA II/6, S.  218–220. 247 f. 412 f. 416) 55  Kollektaneum 322 (KGA II/6, S.  211); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697). Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 57. und 60. Stunde (KGA II/6, S.  529. 539); Kollektaneen 274; 473; 535; 542 (KGA II/6, S.  203. 244. 262 f.); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  102v); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  124. 130). Vgl. oben Abschnitt 6.3.1.4. 56  Kirchengeschichte 1821/22, 41. Stunde (KGA II/6, S.  102 f.). – Im sechsten Jahrhundert läßt Kaiser Justinian die letzten Heiden zwangsbekehren, in Kleinasien immerhin noch 70000, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 56. Stunde (KGA II/6, S.  524 f.); Kollektaneum 472 (KGA II/6, S.  244) 57  Kirchengeschichte 1821/22, 7., 32. und 38. Stunde (KGA II/6, S.  81. 94. 485 f.); Kollektaneen 245–247; 299 (KGA II/6, S.  196. 207) 58  Kirchengeschichte 1821/22, 32. Stunde (KGA II/6, S.   79–81). Vgl. auch unten Abschnitt 7.3.2.1. und 7.3.2.4. zur unterschiedlichen Rolle des Ostens und Westens in der Dogmengeschichte.

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sonders in einer Institution, die in der zweiter Periode emporkommt und zunimmt: dem Papsttum. Die Bildung des Papsttums kommt für Schleiermacher von Anfang an aus nicht genuin christlichen, sondern fremden Motiven: Er unterscheidet bei den fünf Patriarchaten zwischen denen, deren Vorrang auf religiöser Autorität beruht habe, Jerusalem, Antiochia und Alexandria, und denen, die ihren Vorrang aus der politischen Bedeutung ihrer Sitze gewonnen hätten; dies letztere sei bei Rom und Konstantinopel der Fall.59 Die wachsenden Ansprüche der römischen Bischöfe rechnet Schleiermacher mit unter die allmählich zunehmende Korruption in der Kirche, die sich auch im Reliquien- und Märtyrerkult äußere.60 In der kirchlichen Statistik nennt Schleiermacher das Streben des römischen Patriarchen nach einer monarchischen Position in der Gesamtkirche den eigentlichen Unterschied zwischen dem lateinisch-katholischen und dem aristokratisch verfaßten östlichen Christentum: Den Patriarchen von Konstantinopel etwa waren derartige Ambitionen stets ganz fremd; sie dachten nie daran, sich die anderen Patriarchen zu unterwerfen oder die Entstehung neuer Patriarchate neben sich zu unterbinden.61 – Die Entwicklung vom Bischof von Rom und westlichen Patriarchen zum Papst zeichnet Schleiermacher auffallend detailliert nach. In einem bei Epiphanius auf bewahrten Brief Marcells von Ancyra an Julius von Rom findet Schleiermacher, daß jener den „Papst“, obwohl er seine Unterstützung sucht, einfach „μακαριώτατος συλλειτουργός“ nennt, „liebster Genosse im Dienst“.62 Julius’ Nachfolger werden im Auftreten gegen ihre Amtsbrüder immer herrischer und berufen sich dafür auf einen Kanon von Serdica und auf Petrus; sie versuchen, den Bischof von Thessalonich zu ihrem Vikar im Osten zu machen und sich in Afrika als Appellationsinstanz in dogmatischen und disziplinarischen Fragen aufzubauen. Der Erfolg ist zunächst gering.63 Einen ersten positiven Widerhall gibt der Afrikaner Optatus von Mileve in der Auseinandersetzung mit den Donatisten: Die katholische Kirche und nicht die donatistische sei die rechte, weil sie in Kontinuität und in Gemeinschaft mit dem Stuhl Petri in Rom 59  Kirchengeschichte 1821/22, 7. Stunde (KGA II/6, S.  25 f. 486). Vgl. aber auch Kollektaneum 311 (KGA II/6, S.  209), wonach bei Rom, Alexandria und Antiochia bürgerliche und kirchliche Gesichtspunkte zusammenkamen. 60  Kirchengeschichte 1821/22, 42.–43. Stunde (KGA II/6, S.  106 f.) 61 Kirchliche Statistik 1827, 16. Stunde (KGA II/16, S.   245 f.). Vgl. unten Abschnitt 9.3.4.1. 62  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  243); Kollektaneum 998 (KGA II/6, S.  397) nach Epiphanius: Panarion 72, 2,1 63  Kirchengeschichte 1821/22, 43., 51. und 57. Stunde (KGA II/6, S.  107. 511. 528); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  731); Kollektaneen 307; 313; 316–319; 430; 434; 1018 (KGA II/6, S.  208–211. 236 f. 402). – Die Dekrete der Konzile von Konstantinopel und Chalcedon werden wegen des in ihnen dem Stuhl von Konstantinopel zugeschriebenen Ranges zunächst nicht rezipiert, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 46., 57. und 59. Stunde (KGA II/6, S.  115. 528. 534); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  136); Kollektaneum 532 (KGA II/6, S.  261).

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stehe (vgl. unten Abschnitt 7.2.3.). Optatus’ Konzept weist in die Zukunft, ist einstweilen freilich nichts weniger als allgemein anerkannt: Die Lateiner pflichten ihm insofern bei, als es sich als Argument gegen die Donatisten verwenden läßt, und die Griechen arbeiten gleichzeitig gegen den Vikar in Thessalonich. Wie wenig Optatus’ Darlegungen der damaligen Realität entsprechen, erhellt schon daraus, daß bei mehreren Doppelwahlen in Rom um 400 die Kandidaten vielmehr selbst bei den anderen Bischöfen um Anerkennung ihres Pontifikats und Gemeinschaft nachsuchen müssen.64 Leo der Große dehnt seinen Machtbereich auf Gallien und Spanien aus; dabei unterstützen ihn kaiserliche Gesetze.65 Die gotische Herrschaft in Italien läßt die römischen Bischöfe in den monophysitischen Auseinandersetzungen gegenüber dem Kaiser selbstbewußter auftreten, ihm gar mit Bann drohen und ihn schließlich ihrem dogmatischen Willen (d. h. hier: dem Chalcedonense) unterwerfen.66 Um 500 erklärt Ennodius von Pavia, ein römischer Bischof könne nicht von Menschen gerichtet werden.67 Gregor der Große, der wieder unter oströmischer Herrschaft steht, verkündet hundert Jahre später, alle Bischöfe seien dem römischen unterworfen, und ohne seine Einwilligung sei kein Synodalschluß gültig; er mischt sich ein, wo er kann.68 Mit den Patriarchen von Konstantinopel beginnt ein langer Streit darüber, wem der Titel eines ökumenischen Patriarchen gebühre.69 Entscheidend für die weitere Entwicklung ist, daß die jungen Kirchen in England und im Frankenreich die päpstliche Obergewalt anerkennen und daß sich die Päpste, gestützt auf die Völker außerhalb des Reichs, allmählich wieder – und diesmal endgültig – von der kaiserlich-byzantinischen Herrschaft losmachen können. Gregor der Große hatte dem Angelsachsenmissionar Augustin das erzbischöfliche Pallium verliehen und damit die englische Kirche ihm als Metropoliten und Primas und zugleich sich selbst als dem Stifter dieser Würde unterworfen. Bald zeigen die Engländer eine besondere Anhänglichkeit an den römischen Stuhl; bei ihnen gibt es erstmals eine Appellation an den Papst als an eine oberste kirchenrechtliche Instanz. So wie Augustin von Canterbury missioniert ein gutes Jahrhundert später der Angelsachse Bonifaz mit päpstlicher Beauftragung im Frankenreich; die schon von den Iroschotten begründete Kirche unterwirft er der römischen Oberhoheit und den römisch-lateinischen Gebräuchen.70 64 Kirchengeschichte 1821/22, 43. Stunde (KGA II/6, S.   107 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  278); Kollektaneen 313; 318; 390; 1015 (KGA II/6, S.  209 f. 225. 401) 65 Kirchengeschichte 1821/22, 57. Stunde (KGA II/6, S.   528); Kollektaneen 523; 528 (KGA II/6, S.  260) 66 Kirchengeschichte 1821/22, 54. Stunde (KGA II/6, S.   521 f.); Kollektaneen 512 f. (KGA II/6, S.  255 f.). – Aus der Anrede in einem Brief Felix’ III. an den oströmischen Kaiser Zeno, in der jener diesen „gloriosissimus et serenissimus filius“ nennt, schließt Schleiermacher, daß die römischen Bischöfe nunmehr nicht mehr sich als kaiserliche Untertanen ansahen, sondern den Kaiser als ihren Sohn, der von ihnen Weisung und Belehrung anzunehmen habe, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 57. Stunde (KGA II/6, S.  528); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  345); Kollektaneum 525 (KGA II/6, S.  260). 67  Kirchengeschichte 1821/22, 57. Stunde (KGA II/6, S.  529); Kollektaneum 533 (KGA II/6, S.  261 f.) 68  Kirchengeschichte 1821/22, 57. Stunde (KGA II/6, S.   528); Kollektaneen 524; 1124 (KGA II/6, S.  260. 422) 69 Kirchengeschichte 1821/22, 57.–58. Stunde (KGA II/6, S.   528. 530 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  735); Kollektaneen 524; 580 (KGA II/6, S.  260. 270) 70  Kirchengeschichte 1821/22, 57. und 60. Stunde (KGA II/6, S.  529. 537); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  139 f.; SW I/11, S.  366); Kollektaneen 471; 561–565; 1118

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C.  Materialer Teil

Da auf der anderen Seite die Konflikte mit dem Kaisertum immer schwerer werden,71 streben die Päpste danach, die Kirche von der unsteten weltlichen Macht unabhängig zu stellen, und zeigen schon Ansätze zu der Vorstellung einer Unterordnung des Weltlichen unter das Geistliche, die sich aber erst in der dritten Periode voll entwickeln sollte.72 Seit Gregor III. verbindet sich das Papsttum, politisch und kirchlich von Byzanz bedrängt und stets von den Langobarden bedroht, mit dem Reich der Franken. Die Dethronisation der Merowinger und die Erhebung der Karolinger von Hausmeiern zu fränkischen Königen geschieht mit päpstlichem Segen und päpstlicher Salbung. Die Karolinger wiederum werden zu weltlichen Schutzherren der Päpste; sie schenken dem Stuhl Petri ein Territorium zum weltlichen Besitz, wenn auch unter ihrer politisch-kirchlichen Oberhoheit. (Die politischen Ambitionen finden einstweilen also wieder Ziel und Grenze.) Indem das Papsttum mit Karl dem Großen den Herrscher eines der jungen Völker zum Kaiser des Westens krönt und sich so nach fünf Jahrhunderten der Verbindung zwischen Kirche und römisch-byzantinischem Kaisertum das germanisch-romanische Abendland mit westlichem Kaisertum und Papsttum als eigene kirchengeschichtliche Größe etabliert, ist der epochale Punkt erreicht, der in die nächste Periode der Kirchengeschichte führt.73

In den jungen abendländisch-germanischen Reichen nimmt die Kirche trotz der Übernahme der bischöflichen Verfassung eine eigentümlich andere Gestalt an als im römisch-byzantinischen Reich: Jene waren feudal verfaßt; wenn also ein Herrscher die Kirche und ihre Mission fördern wollte, belehnte er sie mit Grundbesitz. Auf diese Weise werden die Bischöfe und Äbte zu Lehnsmännern (KGA II/6, S.  244. 266 f. 421). – In der Sittenlehre sagt Schleiermacher, der römische Stuhl habe die barbarischen Sprachen damals für ungeeignet gehalten, Organe der christlichen Kirche zu sein. Damit habe er aber einerseits die intensive Kraft des Christentums unter diesen Völkern gehemmt und andererseits künftige Reibungen der Völker, die doch irgendwann religiös mündig werden mußten, mit Rom eingeleitet, vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  136 f.). 71  Im monotheletischen und Bilderstreit des siebten und achten Jahrhunderts verhängen die Päpste im großen Stil Absetzungsurteile und versuchen wieder, im Orient Vikare zu installieren, werden aber ihrerseits noch von manchen Sanktionen der allmählich schwächer werdenden kaiserlichen Macht getroffen. Am Ende des monotheletischen Streites setzt sich die seit 638 von den Päpsten vertretene dyotheletische Lehre gegen den lange in Konstan­ tinopel favorisierten Monotheletismus durch, allerdings so, daß neben vielen anderen auch Papst Honorius postum als Ketzer verurteilt wird. Ehrenvoll vom Kaiser empfangen, willigt Papst Konstantin in die von Rom zunächst abgelehnten kirchenrechtlichen und disziplinarischen Kanones der trullanischen Synode. Wenig später aber widersteht Gregor II. dem kaiserlich verordneten Ikonoklasmus. Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 58.–59. Stunde (KGA II/6, S.  531–535); Kollektaneen 577; 581; 583–586; 588; 1130 (KGA II/6, S.  269–277. 424) 72  Kirchengeschichte 1821/22, 32. Stunde (KGA II/6, S.   81). So stellte Gregor II. den Grundsatz auf, der Kaiser solle sich nicht in die geistlichen Angelegenheiten mischen, so wie die Geistlichen sich auch nicht in die weltlichen einmischten, habe das aber, urteilt Schleiermacher, für seine eigene Seite nicht ganz rein gemeint; die Bilderfreunde planten nämlich schon, gestützt auf den Papst, in Italien einen Gegenkaiser auszurufen, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde (KGA II/6, S.  534 f.); Kollektaneum 585 (KGA II/6, S.  271) 73  Kirchengeschichte 1821/22, 7., 60. und 62. Stunde (KGA II/6, S.  4 86. 539 f. 542 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  698); Kollektaneen 585; 589 (KGA II/6, S.  271. 279 f.); vgl. Kirchliche Statistik 1827, 50. Stunde (KGA II/16, S.  371).

7.  Die zweite Periode

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der Könige und politischen Funktionsträgern, sie beteiligen sich an Kriegen und werden als Schriftkundige an allen Staatsgeschäften beteiligt; ihren eigentlichen Lehrberuf drohen sie darüber zu vernachlässigen. Geistliche und weltliche Angelegenheiten vermischen sich: Synoden und Reichstage unterscheiden sich kaum noch, und die von den Geistlichen beratenen Könige nehmen ihrerseits Einfluß auf die Wahl der hohen Kleriker.74 Die Verbreitung des Christentums unter diesen Völkern stellt auch insofern einen anderen Tatbestand dar als die Ausbreitung innerhalb des römischen Reichs, als sie nicht auf eine schon bestehende Kultur auf baut, sondern die Völker überhaupt erst in einen Zustand der Zivilisation eintreten läßt, Christianisierung und Kultivierung also eins sind.75 So kann Schleiermacher zwar auch einmal auf geistige Leistungen unter den christlichen Germanen hinweisen, zu denen er auch den großen Gelehrten Isidor von Sevilla rechnet,76 konstatiert aber ein insgesamt niedriges Niveau der Geistesbildung. Nur sei das eben nicht dem Christentum anzulasten und bedeute auch keinen Rückschritt in der Kirchengeschichte gegenüber früheren Jahrhunderten, sondern sei der gewöhnliche Gang der Kulturentwicklung. An neubekehrte Völker dürfe man eben noch keine übertriebenen Forderungen richten.77 So herrschten unter ihnen zunächst die äußeren Gebräuche und in der Disziplin strenge Gesetze und eine harte Zucht vor; die Bischöfe genössen hohe Autorität.78 (Andererseits bemerkt Schleiermacher über den semipelagianischen Streit des frühen sechsten Jahrhunderts im damals zwischen Franken, Burgunden, Ost- und Westgoten umstrittenen Südgallien, daß der Streit hier wegen des stärkeren persönlichen Freiheitsbewußtseins unter den neuen Völkern besonders heftig und ungehemmt war.79 ) Das Ganze faßt Schleiermacher unter dem Begriff der „mosaischen Periode“ in der Entwicklung dieser Völker zusammen; 80 ehe die Zivilisation selbständig angeeignet ist, ist sie eine von außen auferlegte autoritative Ordnung. 74  Kirchengeschichte 1821/22, 60. Stunde (KGA II/6, S.  538 f.); Kollektaneen 576–578 (KGA II/6, S.  269) 75  Kirchengeschichte 1821/22, 61. Stunde (KGA II/6, S.  540 f.) 76  Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde (KGA II/6, S.   536); Kollektaneen 465; 550; 557 (KGA II/6, S.  265 f.) 77 Kirchengeschichte 1821/22, 32., 56. und 61. Stunde (KGA II/6, S.   81. 527. 540 f.); Kollektaneum 468 (KGA II/6, S.  243) 78  Kirchengeschichte 1821/22, 7., 32. und 61. Stunde (KGA II/6, S.   26. 81. 486. 541); Kollektaneen 320; 590; 594 (KGA II/6, S.  211. 280) 79  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  3 41 f.); Kollektaneum 453 (KGA II/6, S.  241) 80  Kollektaneum 594 (KGA II/6, S.  2 80). In diesem Sinne schreibt August Neander: Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Band 3, Hamburg 1834, S.  2 f., bei den unzivilisierten Völkern habe es neben einer Vermischung des Christentums mit fremden Elementen auch eine Veräußerlichung der Idee des Reiches Gottes gegeben, die Vorstellung von einer notwendigen Vermittlung durch äußere Riten und ein Weihepriester­ tum; die Kirche Christi habe Formen der alttestamentlichen Theokratie angenommen. Diese harte, gesetzliche Zucht sei für die rohen Völker aber ein notwendiger Durchgangspunkt gewesen, „um zur Mündigkeit des christlichen Mannesalters erzogen zu werden“.

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Die intensive Aufnahme des Christentums folgt gemäß einem allgemeinen Gesetz der Entwicklung allmählich der äußeren Annahme seiner Regeln; erst dann ist die übergangsweise strenge Gesetzlichkeit an ihr Ziel gelangt.81 Die Annahme des Christentums selbst, so betont Schleiermacher auch hier, sei nicht geheuchelt oder durch falsche, unchristliche Interessen motiviert, auch dann nicht, wenn sie wie im Falle Chlodwigs und der Franken plötzlich erfolgt sei und nicht allmählich wie bei den Briten. Das Motiv, eine Schlacht zu gewinnen, sei zwar etwas zweifelhaft; aber hier das echt religiöse Interesse zu bezweifeln und eine rein politische Absicht zu vermuten, lege eben an die Barbaren schon den Maßstab einer höheren Geistesbildung und Durchdringung durch das Christentum an, wie sie erst allmählich entstehen konnte, und zwar aus der Annahme des Christentums. Nur weil es beides, die allmähliche und die schnelle Ausbreitung, nebeneinander gegeben habe, habe das Christentum in dieser Zeit so schnell allgemein werden können.82 – Auch die schon damals umstrittene Sachsenmission Karls des Großen verteidigt Schleiermacher: Sie sei eigentlich keine Zwangsbekehrung gewesen, sondern eher ein Kampf der fränkischen Ordnung gegen die sächsische Anarchie. Letztere kannte keine politischen Institutionen und kein die Gesellschaft einigendes Band als nur das Heidentum und empfand daher das schon von Bonifaz und anderen unter den Sachsen gesäte Christentum als Umsturz der Gesellschaft. Die Sachsen bekämpften also das Christentum mit dem Schwert und gefährdeten durch ihre Nachbarschaft auch die Ordnung und beginnende Bildung unter den Franken. Insofern seien Karls Kriege mit den Sachsen eher defensiv als offensiv gewesen, deren Zivilisierung (die natürlich nicht ohne Christianisierung denkbar war) ein Gebot der Stunde.83 Die Entwicklung dieser Völker von der Rohheit zur Kultur und zum Christentum ist beispielhaft dafür, wie die Kirchengeschichte insgesamt Teil des ethischen Bildungsprozesses ist. Im Zusammenhang der Alemannenschlacht Chlodwigs überliefert der Nachschreiber eine interessante Bemerkung Schleiermachers: Die Alemannen waren schon christlich, die Franken bis dato noch überwiegend heidnisch, aber die letzteren bewog ihr Sieg, auch das Christentum anzunehmen,

81 Kirchengeschichte 1821/22, 56. und 61. Stunde (KGA II/6, S.   527. 541). Vgl. oben Abschnitt 4.3.5. – Schleiermacher kann allerdings auch sagen, daß sich schon unter Bonifaz der „Hauptcharakter der deutschen Kirche“ gezeigt habe, nämlich gegen die von außen auferlegte Superstition zu opponieren (Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  369). 82  Kirchengeschichte 1821/22, 56. Stunde (KGA II/6, S.  527); Kollektaneen 467 f. (KGA II/6, S.  243) 83 Kirchengeschichte 1821/22, 61. Stunde (KGA II/6, S.   540); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  379 f. 398); Kollektaneen 567–569 (KGA II/6, S.  268). Vgl. demgegenüber Schleiermachers Quelle (Schröckh 19, S.  258–265), die gegenüber Karl viel kritischer ist.

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„und so wurden die alten Christen, die Allemannen, der neuen wegen aufgeopfert.“84

Wenn wir nach dem Subjekt dieses im Passiv formulierten Vorgangs fragen, so kommen wir wieder auf die göttliche Weltregierung, auf deren erkennbare Spuren Schleiermacher auch schon bei der Entstehung des liberalen Heidenchristentums andeutungsweise aufmerksam gemacht hat (vgl. oben Abschnitt 6.2.1.). Auf den höheren Zweck hin, die Ausbreitung des christlichen Prinzips, wirken alle Faktoren zusammen, und ihm zugute muß auch einmal ein schon christliches Volk als Subjekt der Geschichte vom Schauplatz verdrängt werden.

7.2.3.  Einheit und Spaltung Die individuelle Ausdifferenzierung des Christentums in verschiedene, vor allem sprachlich und kulturell unterschiedliche Gemeinschaften bedeutet noch nicht, daß die Massen einander feindlich entgegenträten (vgl. oben Abschnitt 4.4.). So ist es auch in dieser Periode: Das dritte Konzil von Konstantinopel z. B. wird auch von der langobardischen, englischen und fränkischen Kirche beschickt.85 Das Papsttum betreibt seit Gregor dem Großen die Christianisierung der germanischen Völker; es wahrt die Kircheneinheit (in seinem Sinne) dadurch, daß es überall auf römische Observanz und lateinischen Kult dringt. Für die erste Periode hatte Schleiermacher festgestellt, daß vor allem praktisch-ethische Differenzen zu Kristallisationspunkten würden, an denen sich die Massen voneinander schieden und sammelten, während dogmatisch-spekulative Fragen weniger zu Spaltungen führten; typische Schismen der ersten Periode sind der Montanismus, Novatianismus und Donatismus.86 Das Neue der zweiten Periode gegenüber dem Bisherigen besteht darin, daß die Kirche sich auch und sogar vor allem anhand von dogmatischen Differenzen spaltet. Die diesbezügliche „Urkatastrophe“ ist der Anfang des arianischen Streites.

84 

Kirchengeschichte 1821/22, 56. Stunde (KGA II/6, S.  527) 1825/26 (SW I/11, S.  361); Kollektaneum 586 (KGA II/6, S.  276 Fußtext) 86  Auf die weitere Geschichte dieser kleinen Gemeinschaften kommt Schleiermacher gelegentlich zurück, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 41. und 43. Stunde (KGA II/6, S.  103 f. 108). Neue Gruppen dieser Art kommen im vierten Jahrhundert hinzu; sie verbinden Freimütigkeit gegenüber äußeren Ritualen mit Enthusiasmus und strenger Askese: Audianer, Messalianer, Aerianer, Eustathianer und Priscillianisten. Die Besonderheit der Letztgenannten rekonstruiert Schleiermacher als einen poetisch ausgeschmückten spiritualistischen Origenismus; die Vorwürfe des Sabellianismus und Manichäismus seien wohl unzutreffend. – Auch die Anhänger abgesetzter Bischöfe wie Eustath und Meletius in Antiochia und Paulus in Konstantinopel bilden kleine Gemeinschaften, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 41. und 44. Stunde (KGA II/6, S.  104. 109 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  137 f.); Kollektaneen 270–273; 387 f.; 1014 (KGA II/6, S.  202. 224. 401). 85  Kirchengeschichte

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C.  Materialer Teil

Alexander, Bischof von Alexandrien, erklärt sich öffentlich gegen die Lehre, die sein Presbyter Arius ebenfalls öffentlich vorgetragen hat; 87 so weit entspricht der Verlauf noch dem Regelwerk für das reinigende Handeln in der Kirche, wie es Schleiermacher für Differenzen in der Kirche aufgestellt hat und in dem vor allem auf die Öffentlichkeit Wert gelegt wird (vgl. oben Abschnitt 4.3.3.). Dann aber versammelt Alexander seine ägyptischen Suffragane, exkommuniziert Arius samt seinen Gesinnungsgenossen und verweist ihn der Stadt. Beide Seiten wenden sich dann nach außen. Euseb von Nicomedien versammelt eine Synode in Bithynien, die sich für Arius ausspricht. Alexander wiederum mahnt die Bischöfe brieflich von der Gemeinschaft mit Arius ab. Dieser kehrt mit einem Gutachten mehrerer Bischöfe nach Alexandria zurück, in dem es heißt, er dürfe weiter öffentlich lehren, nur solle er sich mit Alexander aussöhnen. Als Konstantin die Herrschaft im Osten übernahm, war aus dem Streit zwischen einem Bischof und seinem Presbyter eine Spaltung geworden, die mitten durch die gesamte östliche Kirche ging, indem die einen Gemeinschaft mit Arius hielten und die anderen den Bann über ihn als gültig ansahen.88 Grund dafür war letztlich die vorschnell über Arius verhängte Exkommunikation; als die weitere Öffentlichkeit mit der Sache befaßt wurde, konnte sie, da Alexander bereits Fakten geschaffen hatte, nur noch wählen, mit welcher Seite sie es halten und welcher sie die Gemeinschaft auf kündigen wollte.

In der Sittenlehre fragt Schleiermacher, wer daran die Schuld trage, daß viele der alten Häresien („Häresie“ meint hier nicht Irrlehre, sondern Abweichung vom Ganzen) Spaltungen hervorgebracht hätten, und sieht beide Seiten in der Verantwortung: Die Urheber der Häresien wollten die Kirche unter Berufung auf die normativen Urkunden reinigen – ein legitimes Anliegen; sie hielten dabei aber nicht den Instanzenweg der damals durchaus intakten Kirchenorganisation ein, der es dem Ganzen gestattet hätte, die Impulse auf ordentlichem Wege zu prüfen und zu rezipieren. Das Ganze mit seinen Repräsentationen wiederum zielte nur darauf, die Abweichler zu assimilieren oder auszuschließen, statt ihre Anliegen ernsthaft zu prüfen. „Aber es ist schwer, rein vom ethischen Standpunkte aus zu entscheiden, welches und wie viel Unrecht jede Seite gehabt habe. Auch kommt noch der Umstand mit in Betracht, daß meistens jeder der streitenden Theile sich für die allein wahre Kirche hielt und den entgegengesezten ausschloß. So bei den montanistischen, so bei den arianischen Streitigkeiten. Wir können also hier nur von der Voraussezung ausgehen, jeder der streitenden Theile sei von der Wahrheit seiner Sache auf sittliche Weise überzeugt gewesen, und es fragt sich bloß, ob auch jeder von seiner Ueberzeugung aus auf die rechte Weise sei zu Werke gegangen.“89

Von nun an wird es zum festen Bestandteil theologisch-dogmatischer Streitigkeiten, daß die Parteien und Kontrahenten einander verdammen und in den

87  Kirchengeschichte 1821/22, 33. Stunde (KGA II/6, S.  81–83); Kollektaneen 194; 204 (KGA II/6, S.  184. 186) 88  Kirchengeschichte 1821/22, 34. Stunde (KGA II/6, S.  83–85); Kollektaneen 195; 197; 205; 221–223 (KGA II/6, S.  184–187. 190 f.) 89  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  133 f.)

7.  Die zweite Periode

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Bann tun.90 In der Glaubenslehre schreibt Schleiermacher, daß die spaltende Gewalt den einzelnen Differenzen in der Lehrentwicklung nie wieder so stark eingewohnt habe wie eben im Zeitalter der Häresien und allgemeinen Syn­ oden; Abweichungen, die unter normalen Umständen nahezu unbemerkt wieder verschwänden, hätten dann noch mehr spaltende Kraft, wenn persönliche Geltungssucht den Streit anfache und die Differenz befestige.91 Die Spaltungen aufgrund dogmatischer Differenzen können dazu führen, daß ganze Regionen und Reichsteile feindlich gegeneinander treten. So stehen sich im arianischen Streit um 340 Griechen und Lateiner gegenüber.92 Etwas später bilden sich die ersten germanischen Kirchen. Sie übernehmen das gerade im Osten herrschende arianische Bekenntnis und bleiben auch nach der Wiederherstellung der Orthodoxie in der gesamten Reichskirche bei ihm. So wird das Dogma einer der Unterscheidungspunkte zwischen dem griechisch-römischen Christentum und dem der Goten, Burgunder und Vandalen. Mit einer wirklichen dogmatisch reflektierten Aneignung der arianischen Lehre könne man bei den Germanen freilich eher nicht rechnen, meint Schleiermacher.93 Der Apollinarismus bildet eigene Gemeinden und hat seinen Hauptsitz in Syrien. Wenn seine Gegner von verschiedenen apollinaristischen Parteien berichten, meine das wohl nur Schulrichtungen und nicht organisierte Kirchenparteien.94 Die Nestorianer und Monophysiten erwähnt Schleiermacher eher kurz und im Zusammenhang der christologischen Streitigkeiten. Sie erscheinen bei ihm vor allem als (auch untereinander zerstrittene) dogmatische Parteien, weniger als Nationalkirchen.95

Da die gemeinsamen Versuche von Kirche und Staat, die Einheit als Lehr- und Sitteneinheit mittels ökumenischer Synoden und Gesetze von oben herzustellen, das Ziel nicht erreichen, ja für Schleiermacher eher zur Kirchenspaltung gereichen als zu deren Überwindung,96 muß sich die Kirche mit der Frage zu 90 

Kirchengeschichte 1821/22, 40., 46., 51., 53., 54. und 58. Stunde (KGA II/6, S.  99. 116 f. 512. 516 f. 519–521. 532 f.); Kollektaneen 259; 261; 267; 365; 369; 479 f.; 405; 434; 496; 498; 501; 512; 517; 586 (KGA II/6, S.  199. 201. 219 f. 229. 237. 246 f. 251 f. 255 f. 258. 273–275) 91  Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 2, Berlin 1831, §  150,1 (KGA I/13,2, S.  436) 92  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  728 f.) 93  Kirchengeschichte 1821/22, 38. und 56. Stunde (KGA II/6, S.  94. 525); Kollektaneum 246 (KGA II/6, S.  196). Im zweiten Kolleg geht Schleiermacher ausführlicher auf die germanischen Arianer ein und erwähnt die Verfolgung der Katholiken im Vandalenreich und ein Religionsgespräch in Karthago (484), auf dem sich die Arianer auf die Synode von Rimini (359) beriefen, vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  342 f.); Kollektaneen 1110 f. (KGA II/6, S.  420). 94  Kirchengeschichte 1821/22, 47. Stunde (KGA II/6, S.  500 f.); Kollektaneen 358; 405 (KGA II/6, S.  218. 229) 95 Kirchengeschichte 1821/22, 53. und 55. Stunde (KGA II/6, S.   519. 522 f.); Kollek­ taneen 491; 514; 519–522; 1093 (KGA II/6, S.  250. 256. 258 f. 416). 96  Vgl. oben Abschnitt 7.2.1. – Den Monophysiten suchen Zeno, Justinian der Große und Heraclius auf halbem Wege entgegenzukommen; Heraclius bringt sogar einen Unionsschluß mit den Monophysiten zustande. Daß diese Projekte aber letztlich scheiterten, lag nach Schleiermacher daran, daß Kaiser und Bischöfe jeweils etwas anderes unter der Einheit der Kirche verstanden: Die Kaiser wollten die Einheit im Raum, also eine Einheit mit den Monophysiten auch unter Korrektur der bisherigen Dogmen, die Bischöfe wollten die zeitliche

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C.  Materialer Teil

befassen, worin die Kircheneinheit eigentlich bestehe, also gewissermaßen einen Standpunkt über dem eigenen Standpunkt einzunehmen. Und dabei erweist sich für Schleiermacher das katholische Modell, das an die Haltung Stephans von Rom zur Ketzertaufe anknüpft, als letztlich elastischer und brauchbarer als die konkurrierenden Modelle der Donatisten und Arianer. Das Konzil von Arles will kein Wirken des Heiligen Geistes bei den Donatisten anerkennen, legt aber den Übertretenden nur eine Kirchenbuße und Handauflegung auf, keine zweite Taufe, da die ihrige schon nach der gültigen Formel gespendet war.97 Denselben Grundsatz wendet das Konzil von Nicäa an, wenn es bestimmt, die Novatianer und Melitianer brauchten nicht wiedergetauft zu werden, und ihre Kleriker könnten durch Handauflegung in den katholischen Kirchendienst übernommen werden, die Anhänger Pauls von Samosata müßten dagegen wiedergetauft werden; ebenso das Konzil von Konstantinopel mit seinem Kanon, der Ketzer erster und zweiter Ordnung unterscheidet.98 Einen Versuch, diese Differenzierung zwischen Parteien, von denen man absolut getrennt sei, und solchen, deren Taufe man als gültig ansehen müsse, theo­ retisch einzuholen, macht Hieronymus, der zwischen Ketzerei und Schisma unterscheidet, also zwischen unchristlicher Substanz und bloß hierarchisch-organisatorischer Trennung. Allerdings konterkariert er diese Einsicht sofort selbst, indem er sagt, jedes Schisma ersinne sich eine Ketzerei, auf die bloße Trennung folge also unweigerlich auch material Unchristliches.99 Um 400 machen Augustin und Optatus gegenüber den Donatisten geltend, die Gültigkeit und Wirksamkeit der Sakramente beruhe nicht auf der Person und Würdigkeit des Spenders, sondern nur auf der die Gnade gebenden Trinität Einheit, also die Bewahrung des in früheren Zeiten Festgesetzten. Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 54., 55. und 58. Stunde (KGA II/6, S.  521. 523 f. 531); Kollektaneen 508; 510; 517; 586; 1128 (KGA II/6, S.  254 f. 257. 271–273. 423); vgl. auch unten Abschnitt 7.3.2.3. 97  Kirchengeschichte 1821/22, 30. Stunde (KGA II/6, S.  76); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  134); Kollektaneum 186 (KGA II/6, S.  183) 98  Kirchengeschichte 1821/22, 35.–36., 41. und 46. Stunde (KGA II/6, S.  89. 103. 115); Kollektaneen 227; 230; 355 (KGA II/6, S.  192. 217). Arianer, Macedonianer, Novatianer, Quartodecimaner und Apollinaristen werden nach der Bestimmung von Konstantinopel durch bloße Salbung aufgenommen, Eunomianer, Montanisten und Sabellianer seien dagegen wie Heiden zu behandeln, also zu taufen. Schleiermacher vermutet, daß bei dem nicänischen Kanon gegen die Paulinianer, die die Taufformel doch sicher nicht abgeändert hätten, die Maxime herrsche, daß die Formel nicht nur gültig gesprochen sein müsse, sondern auch (trinitarisch) korrekt verstanden und ausgelegt werden müsse, was also einen Rückschritt gegen die vorsichtige Regel von Arles darstelle. Daß in Konstantinopel die Taufe der Arianer und der Eunomianer ungleich rezipiert werde, liege wohl daran, daß die Eunomianer die Formel abgeändert hätten. Die Sabellianer würden wohl bloß darum strenger beurteilt, weil die Nicäner den Vorwurf der Arianer hätten entkräften wollen, sie, die Nicäner, dächten eigentlich sabellianisch. Die Novatianer wiederum genössen wegen alter Präzedenzfälle ein milderes Urteil als die Montanisten. 99  Kirchengeschichte 1821/22, 44. Stunde (KGA II/6, S.  109); Kollektaneum 360; vgl. auch 408 (KGA II/6, S.  218. 230)

7.  Die zweite Periode

271

und dem Glauben des Empfängers. Dazu machen die Katholischen den donati­ stischen Geistlichen das (dem nicänischen Kanon über die Melitianer ähnliche) Angebot, ohne ein strenges Bußverfahren oder eine erneute Weihe in den (weniger streng disziplinierten) katholischen Kirchendienst überzugehen. Die Donatisten ihrerseits können ihren Rigorismus nicht durchhalten: Als es unter ihnen zu einer damals nicht seltenen umstrittenen Bischofswahl und damit zu einer vorübergehenden Spaltung kommt, werfen sie das Unterscheidungsmerkmal über Bord, durch das sie sich gegenüber den Katholischen profiliert hatten, nämlich die altafrikanische Nichtanerkennung der Ketzer- und Schismatikertaufe; denn die Anhänger des umstrittenen Bischofs Maximian werden bei ihrer Rückkehr zur donatistischen Mehrheitspartei nicht wiedergetauft. Insofern beschleunigt das staatliche Vorgehen gegen die Donatisten seit 411 nur die Selbstzersetzung der donatistischen Partei.100 Die katholische Lehre wiederum weist hier schon voraus auf das papale Kirchenkonzept des mittelalterlichen Katholizismus, gegen das dann die Reformation auftrat: Die Sakramente seien zwar, ordentlich vollzogen, immer gültig und müßten nicht wiederholt werden, zum Heil wirkten sie allerdings erst in und unter der katholischen Kirche, also doch wieder im Rahmen der auch äußerlich-organisatorischen Einheit. Diese äußere Einheit aber, sagte Optatus, finde sich in der Sukzession der Bischöfe, und da auf den meisten Bischofssitzen auch einmal Arianer gesessen hätten, sichtbar und nachweisbar in der Sukzession der Bischöfe von Rom und bei denen, die mit den Bischöfen von Rom in Kirchengemeinschaft stünden.101 Die katholische Auffassung ist der donatistischen also darin überlegen, daß sie außerhalb ihrer gestiftete Sakramente als gültig anerkennt und insofern von einer selbstzerstörerischen Skrupulosität frei ist. Indem sie aber die Teilhabe an der christlichen Erlösung dann doch an eine bestimmte äußere Institution bindet, ist sie nicht weniger separatistisch als der Donatismus. In den Lehrkontroversen wird die dogmatische Mäßigung ein Mittel, um Spaltungen vorzubeugen. Schon Kaiser Konstantin hatte sie vor der Einberufung des Konzils von Nicäa den beiden Protagonisten Arius und Alexander dringend empfohlen: Die strittige Frage sei so spitzfindig, daß man sie gar nicht hätte aufwerfen müssen und auf jeden Fall nicht vor dem Volk verhandeln sollte.102 Im weiteren Verlauf des Streites sieht Schleiermacher gelegentlich Ver100  Kirchengeschichte 1821/22, 43. Stunde (KGA II/6, S.  108 f.); Kollektaneen 390–393; 1017; 1023 (KGA II/6, S.  225 f. 401–403) 101  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  278); Kollektaneen 390; 1015; 1024 (KGA II/6, S.  225. 401. 403). Vgl. oben Abschnitt 7.2.2. 102  Kirchengeschichte 1821/22, 34. und 37. Stunde (KGA II/6, S.  85. 94); Kollektaneen 198; 203 (KGA II/6, S.  185 f.). – Daß es dann anders kam und der Kaiser nicht darauf bestand, den öffentlichen Streit zu unterbinden und die Frage einer ruhigen Erörterung durch Fachleute zu überlassen, habe, so vermutet Schleiermacher, daran gelegen, daß man damals noch keine Theologen vom Fach gehabt habe, sondern nur zahlreiche Kleriker in unendlich vielen Abstufungen und Rängen und ohne bestimmte wissenschaftliche Bildung, vor allem aber

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C.  Materialer Teil

suche, zur Schlichtung des Streites die anstößigen dogmatischen Ausdrücke des Nicänums zurückzunehmen und eine breitere gemeinsame Basis zu finden. Er beurteilt das als ambivalent: Daß man die Kirchengemeinschaft habe erhalten wollen, sei zwar löblich, aber es geschehe hier auf Kosten der dogmatischen Klarheit. Beides miteinander zu vereinbaren, Bestimmtheit und dialektische Schärfe des theologisch-dogmatischen Ausdrucks und Milde ohne Verketzerung gegenüber Andersdenkenden, sei damals nicht möglich gewesen.103 Schließlich sind es aber die Nicäner, die unter Athanasius und Hilarius nicht mehr auf einer bestimmten Sprachregelung bestehen, sondern die Ausdrücke „eine Hypostase“, „drei Hypostasen“ und „drei Personen“ in gleicher Weise gelten lassen. Während die Arianer in ihren dogmatischen Ausdrücken immer subtiler wurden und sich immer weiter zersplitterten, auch durch ihren Boykott der ökumenischen Synode in Konstantinopel manifestierten, wie wenig ihnen an der Kirchengemeinschaft gelegen war, gelang es den Nicänern, immer mehr Bischöfe und Gemeinden zu ihrer Seite herüberzuziehen und das nicänische Symbol zur Grundlage einer wiederhergestellten dogmatischen Einigkeit zu machen.104 Wie in der Konkurrenz mit den Donatisten ist also diejenige Gemeinschaft letztlich erfolgreich, die weniger Starrsinn und mehr Elastizität und darum das größere Potential zur Integration hat.

7.2.4.  Religiöses Leben Noch mehr als in der ersten Periode beschreibt Schleiermacher, wie das Ritualwesen, das werkheilige, gesetzliche Beobachten äußerer Satzungen und der Aberglaube in der Kirche zunehmen. Grundsätzlich betont er, daß gewiß ein großer Teil der Christen im rein evangelischen Sinn gelebt hätten, da die Kirche sonst untergegangen wäre. Neben das einfache, evangelische Christentum treten aber einerseits die „ethnisierende Frivolität“, also ein nur oberflächlich christlich übertünchtes heidnisch-sinnliches Lasterwesen, andererseits (und als Reaktion auf die heidnische Asebie) die „nach außen gerichtete Rigidität“, die Enthaltsamkeit von der Welt und das Halten und Hochhalten asketischer Übundaran, daß Konstantin sich mit seinem Brief (einem „kaiserlichen Kabinettstück“, das der theologische Berater Hosius von Cordoba wohl nicht vorher durchgesehen habe) selbst theologisch verheddert und kompromittiert habe. Konstantin schrieb nämlich, einig müsse man sich vor allem über die göttliche πρόνοια sein. Das klinge nach reinem Naturalismus, auch wenn es wohl nicht so gemeint gewesen sei, da ja auch das Erlösungswerk ein Teil der Vorsehung sei; wahrscheinlich hatte Konstantin die Idee bei Lactanz aufgeschnappt, der in Konstantinopel Rhetorik unterrichtete und in seinen Ausdrücken dogmatisch ziemlich unkorrekt war. Konstantin hielt sich aber darauf hin erst einmal zurück und ließ den Dingen ihren Lauf. 103  Kirchengeschichte 1821/22, 38.–40. Stunde (KGA II/6, S.  95. 99); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  729); Kollektaneen 254; 257 (KGA II/6, S.  197 f.) 104  Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.  113. 115); Kollektaneen 396; 399 (KGA II/6, S.  226 f.)

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gen. Beiden Tendenzen fördern die nun einsetzende Überschwemmung des Christentums mit äußerlichen Ritualen: Diese entsprechen der moralischen Äußerlichkeit der Asketik ebenso wie der Äußerlichkeit eines innerlich noch nicht christianisierten Heidenchristentums, das nach sakralen Gegenständen verlangt und an unverstandene Symbole gewöhnt ist.105 – Bei einigen katholischen Mißbräuchen betont Schleiermacher aber auch, daß es sie in der zweiten Periode noch nicht gegeben habe: die Kommunion sub una, die Transsubstantiationslehre und das Meßopfer.106 Der christliche Kultus wird in dieser Periode reicher und prunkvoller. Zum Osterfest, für das nun endgültig der Sonntagstermin festgesetzt wird,107 kommen Weihnachten und (als Analogie zu den römischen Lupercalien) Mariä Reinigung hinzu.108 Kaiser Justinian und Papst Gregor der Große bereichern den Gottesdienstraum und die Liturgie.109 Dementsprechend werden auch die Kleriker weniger als Lehrer denn als Priester und Nachfolger des israelitisch-jüdischen Opferpriesterums angesehen; die Ordination wird zur sakramentalen Priesterweihe.110 Die Erbaulichkeit der Gottesdienste leidet noch darunter, daß die anhaltenden dogmatischen Streitigkeiten auch die Predigten dominieren; bei den Arianern arten diese zu frivolen Wortspielereien aus, bei den Nicänern zu trockenster dogmatistischer Buchstäblichkeit.111 Die Tendenz zu gesetzlicher Asketik äußert sich in einer Abwertung des ehelichen Lebens und in einer Aufwertung der Enthaltsamkeit als des eigentlichen sittlichen Ideals. Auf dem Konzil von Nicäa kann der greise ägyptische Bischof Paphnutius, wiewohl selbst Asket, noch einen Kanon abwenden, der dem gesamten Klerus die Enthaltsamkeit zur Pflicht machen sollte.112 Sonst aber werben die Kleriker für die Jungfräulichkeit und stiften kleinere und größere asketische Lebensgemeinschaften für Männer und Frauen, Geistliche und Laien.113 Noch einmal kommt Schleiermacher auf die Anfänge des Mönchtums zu sprechen, das seine Basis in der Ehrfurcht vor dem ehelosen Stand und in der Verwerfung des 105  Kirchengeschichte 1821/22, 32. und 42. Stunde (KGA II/6, S.  79. 106); Kollektaneum 328 (KGA II/6, S.  212) 106  Kirchengeschichte 1821/22, 44. und 57. Stunde (KGA II/6, S.  110. 529 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  732); Kollektaneen 89; 290; 345; 531; 538 (KGA II/6, S.  160. 206. 215. 261. 263) 107  Kirchengeschichte 1821/22, 30. und 35. Stunde (KGA II/6, S.  76. 89); Kollektaneen 186; 229 (KGA II/6, S.  183. 192). Vgl. oben Abschnitt 6.3.1.4. 108  Kirchengeschichte 1821/22, 58. Stunde (KGA II/6, S.   530); Kollektaneen 374; 546 (KGA II/6, S.  221. 264) 109  Kirchengeschichte 1821/22, 57. Stunde (KGA II/6, S.  529 f.); Kollektaneen 458; 538; 545; 1126 (KGA II/6, S.  242. 263 f. 280. 423). – In der pseudonymen Schrift Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten, S.  19–24 (KGA I/9, S.  222–225) legt Schleiermacher aus gegebenem Anlaß dar, daß die Kaiser in dieser Periode qua Amt noch nicht befugt waren, die Liturgie der Kirche festzusetzen und zu predigen. 110  Kirchengeschichte 1821/22, 57. Stunde (KGA II/6, S.  528); Kollektaneen 526 f.; 1016 (KGA II/6, S.  260. 401) 111  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  729 f.) 112  Kirchengeschichte 1821/22, 36. Stunde (KGA II/6, S.  91); Kollektaneum 215 (KGA II/6, S.  189) 113  Kirchengeschichte 1821/22, 42. und 44. Stunde (KGA II/6, S.   106. 110 f.); Kollek­ taneen 281; 326–331; 378 (KGA II/6, S.  204. 212. 222)

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C.  Materialer Teil

geselligen Lebens überhaupt als einer ungeistlichen Lust hatte.114 Für die Zeit der großen Kirchenväter konstatiert Schleiermacher, daß die zunehmende Verbreitung des Mönchswesens einen „großen Fortschritt in der Corruption“ bedeute. Die Korruption besteht eben in der Nutzlosigkeit und geistigen Unfruchtbarkeit dieser Lebensform. Hieronymus ist das „verwerfliche Vorbild“ derer, die dem Mönchsleben zuliebe ihre geistige Begabung der Wissenschaft und Lehre entziehen; kein Wunder, daß er bald selbst über den Mangel an geeigneten Schnellschreibern klagen muß. Unter den Mönchen sind etliche so ungebildet, daß sie von Gott die gröbsten anthropomorphen Vorstellungen haben. Im Osten mischen sie sich randalierend in die dogmatischen Auseinandersetzungen ein; in der lateinischen Kirche leben sie von reichen Spenden und gründen mit deren Hilfe weitere Klöster. Der heidnische Rhetor Libanius verspottet die Mönche (mit Recht, wie Schleiermacher findet) als schwarze Seelen mit erkünstelter Blässe, gefräßiger als Elefanten und fauler als satte Ochsen.115 Durch Kirchengesetze wird das Mönchswesen immer mehr von einer temporären zu einer lebenslangen, verbindlichen Lebensform. – Der allgemeinen Zerstörung, zu der ein so breiter Selbstausschluß vom tätigen Leben unfehlbar führen mußte, konnte nur dadurch abgeholfen werden, daß an die Stelle der alten Völker neue traten, die keine Lust zum mönchischaske­t ischen Leben hatten.116 Es dauert lange, bis die abendländischen Mönche anfangen, etwas Nützliches zu tun. Cassiodor möchte in Rom mit ihnen eine theologische Schule gründen, doch erst Gregor der Große kann sie für die Kirche nutzbringend einsetzen: Er macht sie zu Missionaren und schickt sie nach England.117 Im zweiten Kompendium sieht Schleiermacher auch einen eigenen Beitrag des Mönchtums zur geistigen Entwicklung: Die Abgeschiedenheit von der Welt und ihren Geschäften führt zu scharfer, aber auch kleinlicher Beobachtung der Welt und des Ich, und so wird die Betrachtung der Sünde ein wesentlicher Bestandteil des Christentums. Bei Macarius und Augustin führte das zu der tiefen und wahren Erkenntnis, daß kein noch so gutes Werk des Menschen ohne Gottes Gnade und Geist Gott wohlgefällig sein könne; wo hingegen nicht die Betrachtung des Inneren, sondern des Äußeren dominierte, glaubte man, daß die Sünde durch verstärkte asketische Bußübungen ausgetrieben und vernichtet werden könne.118 Bei der Kirchenbuße kommt im Westen das öffentliche Sündenbekenntnis allmählich außer Gebrauch. Statt seiner legt man Wert auf die satisfactio, deren Bedeutung es laut Gennadius von Marseille ist, die Ursache der Sünde wegzuräumen und den Sünder zur Heiligung zu führen. Diese an sich richtige Ansicht wird jedoch durch zeittypische Irrtümer getrübt und weist im Ansatz schon auf das spätere mittelalterliche Ablaßwesen:

114 

Kirchengeschichte 1821/22, 37. Stunde (KGA II/6, S.  93 f.); Kollektaneum 202 (KGA II/6, S.  186). Vgl. oben Abschnitt 6.3.1.4. 115  Kirchengeschichte 1821/22, 44., 46. und 56. Stunde (KGA II/6, S.  110 f. 116 f. 525 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  726. 730; SW I/11, S.  328); Kollektaneen 323– 327; 330; 369; 485; 543; 988; 1003; 1079 (KGA II/6, S.  211 f. 220. 248. 263. 395. 398. 412) 116 Kirchengeschichte 1821/22, 56. Stunde (KGA II/6, S.   527); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  348 f.); Kollektaneen 331; 544; 1107; 1119; 1125 (KGA II/6, S.  212. 263 f. 419. 422 f.) 117  Kirchengeschichte 1821/22, 56. Stunde (KGA II/6, S.   527); Kollektaneen 457; 463 (KGA II/6, S.  242 f.) 118 Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   725 f.); Kollektaneum 987 (KGA II/6, S.  395)

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Almosen und Geschenke an die Kirche gelten als Werke, durch die die Sünde abgelassen werden kann.119 Neben einer harten, rigiden Moral, einem unfruchtbaren Asketenwesen und einer Buße in genugtuenden äußeren Handlungen zeitigt das Äußerlichwerden des Christentums auch einen Zuwachs des Aberglaubens. Dazu gehört der Märtyrer- und Heiligenkult, den viele Kirchenväter verteidigen.120 Den Auftakt zur Reliquienverehrung hatte Kaiserin Helena gegeben, die bei ihrer Pilgerfahrt ins heilige Land der Kirche den „üblen“, wenn auch zunächst wohl ganz unschuldigen Dienst tat, das Kreuz Christi wiederzufinden. Gregor der Große verschenkt bereits als besondere Gnade Reliquien wie Glieder von der Kette Petri und gibt sie den Missionaren mit.121 Schließlich schlich sich auch noch die Verehrung heiliger Bilder ein, verbunden mit abgeschmackten Wundergeschichten und Legenden. Im Bilderstreit des achten Jahrhunderts beruft sich Papst Gregor II. für die Bilder auf altes Herkommen und erklärt, ohne Bilder besuche schon lange kein Bischof mehr eine Synode, ja gehe kein guter Christ auf Reisen. Die Juden erklären den christlichen Bilderdienst schlicht für Abgötterei und machen es den Christen schwer, sich dagegen zu verteidigen.122 – Schleiermacher hält die bildende Kunst sowieso für weniger geeignet für das darstellende Handeln der Kirche als die geistigeren tönenden Künste: Der christliche Geist wirke vor allem auf den psychisch-geistigen Organismus des Menschen. Dieser mit seinen beiden Funktionen, dem Verstand und dem Willen, sei auch das erste Organ des christlichen Geistes; er äußere sich künstlerisch vor allem auf den Gebieten der Sprache und der Musik. Wo die leiblich-sinnlichen Künste aber die Überhand gewönnen, da neige sich die Kirche zur Aufnahme heidnischer Elemente.123 Gegen die Äußerlichkeit des Christentums und den Aberglauben gibt es aber auch eine Opposition. Um 400 polemisiert Jovinian dagegen, der Jungfräulichkeit, dem Fasten und der Weltflucht eine höhere Verdienstlichkeit zuzuschreiben als dem ehelichen und weltlichen Leben. Jovinians Zeitgenosse Vigilantius wandte sich besonders gegen das Sammeln und Verehren von Reliquien.124 Bei den Irrlehrern und unsittlichen 119 Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.   339–344); Kollektaneen 529; 1107; 1113 (KGA II/6, S.  261. 419. 421) 120  Kirchengeschichte 1821/22, 42. und 45. Stunde (KGA II/6, S.  106. 114); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  259); Kollektaneen 343–345; 348 (KGA II/6, S.  215 f.). – Ein eigenes Gebiet ist die Marienverehrung: In ihr verbindet sich der dem antiken Heroenkult verwandte Heiligenglaube nicht mit der Hochschätzung des Martyriums, sondern mit der der Jungfräulichkeit: Marias „Josephsehe“ wird zum sittlichen Ideal erklärt. Einige Väter bestreiten noch Marias Sündlosigkeit und schreiben ihr Ehrgeiz zu; Augustin enthält sich ausdrücklich eines Urteils in dieser Frage. Zur Ketzerei wird es gerechnet, Maria kleine Kuchen zu opfern, umgekehrt aber auch, ihre ewige Jungfrauschaft zu leugnen; vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.  106); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  270–272); Kollektaneen 347; 351; 1006; 1027; 1113 (KGA II/6, S.  215 f. 399. 403 f. 421) 121  Kirchengeschichte 1821/22, 36. und 57. Stunde (KGA II/6, S.  9 2 Fußtext. 530); Kollektaneum 539 (KGA II/6, S.  263) 122 Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde (KGA II/6, S.   534 f.); Kollektaneen 587 f.; 1132 (KGA II/6, S.  277. 425) 123 Christliche Sitte 1809/10, §   87 (SW I/12, Beilage, S.   29); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  14–15); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  150 f.; SW I/12, S.  538–540) 124  Kirchengeschichte 1821/22, 44. Stunde (KGA II/6, S.  111 f.); Kollektaneen 350; 352; 1026; 1028 (KGA II/6, S.  216. 403 f.)

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C.  Materialer Teil

Geistlichen unter den Franken und Iren, über die sich Bonifaz 300 Jahre später bei seinem Papst beklagt, handele es sich wohl auch bloß um Leute, die sich abergläubischen Gebräuchen wie dem Reliquienkult und den Wallfahrten widersetzten und die sich nicht den Zölibat auferlegen lassen wollten.125 Als Opposition gegen ein veräußerlichtes Christentum deutet Schleiermacher die Audianer und Aerianer,126 aber auch einige Züge des Manichäismus: Faust von Mileve lehne den Märtyrerkult ebenso ab wie eine bloß äußerliche, an der alttestamentlichen Gesetzlichkeit orientierte Moral; bei ihm gebe es eine Tendenz zur reinen Anbetung ohne Gebräuche.127 Auch bei Kaiser Leo III. und den Bilderfeinden vermutet Schleiermacher wohl dieses Motiv; jedenfalls weist er gehässige Legenden von einer jüdischen Anstiftung ebenso zurück wie die These von einem politischen Motiv, nämlich die Situation der Christen unter der Herrschaft der streng bilderfeindlichen Moslems zu verbessern.128 Freilich identifiziert sich Schleiermacher mit den Ikonoklasten offenbar weniger als mit Jovinian und Vigilantius.129 Diese Gegenbewegungen bleiben aber doch Randerscheinungen: „Beide [ Jovinian und Vigilantius] wurden verdammt und hatten so wenig Anhang daß man sieht dieser Strom war nicht mehr aufzuhalten.“130 Diese Feststellung steht unausgeglichen neben dem Postulat, daß ein Großteil der Christen dies im reinen, evangelischen Sinn war, ohne gesetzliche, asketische oder superstitiöse Verzerrungen.

Wie kommt es, daß der Strom nicht mehr aufzuhalten ist? Schleiermacher vermutet, daß abergläubische Vorstellungen und zeittypischer rhetorischer Schwulst der Prediger einander gegenseitig hochschaukeln, bis die Lehrer selbst vom Aberglauben ergriffen sind und bis die rhetorisch-emphatischen Aus­ drücke für die Wirklichkeit genommen und von Klerikern ebenso wie vom Kirchenvolk geglaubt werden. Das sei in der Mariologie so und ebenso beim Gedächtnis der Märtyrer und Verstorbenen, die als lebendig und anwesend angeredet wurden, bis man glaubte, sie seien tatsächlich da und könnten als Mittler betend vor Gott für die irdische Gemeinde eintreten.131 Schleiermacher ist 125  Kirchengeschichte 1821/22, 60. Stunde (KGA II/6, S.  538); Kollektaneum 563 (KGA II/6, S.  267) 126  Kirchengeschichte 1821/22, 41. Stunde (KGA II/6, S.   104); Kollektaneen 270; 272 (KGA II/6, S.  202) 127 Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.   106); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  286); Kollektaneen 384; 1050; 1052 (KGA II/6, S.  223. 407 f.). Vgl. unten Abschnitt 7.3.2.4. 128  Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde (KGA II/6, S.  534); Kollektaneum 588 (KGA II/6, S.  277) 129  Er stellt nicht nur die Argumente der Bilderfeinde auf dem Konzil von 754 ausführlich dar, sondern auch Johannes Damascenus’ Verteidigung der Bilder; auch seien die Ikonoklasten gewalttätig vorgegangen (Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde, KGA II/6, S.  535 f.; Kollektaneen 588; 1133, KGA II/6, S.  277–279. 425). 130  Kirchengeschichte 1821/22, 44. Stunde (KGA II/6, S.  112) 131 Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.   105 f.); Kollektaneum 344 (KGA II/6, S.  215). Vgl. auch Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  732): Der berühmte Kanzelredner Johannes Chrysostomus nennt das Abendmahl ein „schaudervolles Mysterium“ und Opfer und befördert damit ein irrationales, ja magisches Verständnis der Kulthandlungen.

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ohnehin der Meinung, daß viele falsche Meinungen und unfruchtbare Streite­ reien daher rühren, daß man rhetorische oder poetische Ausdrücke für wissenschaftlich-dialektische Bestimmungen nimmt, statt die verschiedenen Sprachgebiete sorgfältig zu unterscheiden (vgl. oben Abschnitt 4.2.1.). Um nun die bestehenden und neu aufgekommenen Gebräuche gegen eine Überprüfung und Kritik anhand der normativen Darstellung des Christentums, also des Neuen Testaments, zu immunisieren, beanspruchte man für sie eine schriftlich nicht fixierte, bei zu den Aposteln zurückreichende kirchliche Tradition. Augustin stellte dafür den Grundsatz auf, daß alles das, von dem nicht nachweisbar war, daß es erst später entstanden ist, als apostolisch angesehen werden müsse; das galt vor allem für die Gebräuche, doch waren diese ja auch immer mit bestimmten inhaltlichen Vorstellungen verbunden. Augustins Grundsatz leugnet die Unterscheidung zwischen der kanonischen Norm und der Realität. Das reinigende Einwirken auf das Ganze anhand des Kanons, also die Kirchenverbesserung, wird so geradezu unmöglich; jede geschichtliche Forschung mußte von vornherein als Polemik gegen das Bestehende erscheinen. Für das kirchliche Leben wurde dieser geschichtsvergessene Traditionalismus noch schädlicher als für das Gebiet der Lehre; dieses beruhte auf schriftlich fixierten literarischen Zeugnissen, war also der kritischen Rückschau nicht in gleichem Maße entzogen.132 Noch verderblicher als den unkritischen Traditionalismus findet Schleiermacher die beginnende Unaufrichtigkeit der Kirchenlehrer: Daß man sich zur Ausforschung der Ketzer verstellen und lügen dürfe, wird von den Besseren noch empört zurückgewiesen. Aber Johannes Chrysostomus verteidigt es, anders zu lehren als man eigentlich denkt, um faßlicher und eingängiger zu sein und um Anstoß zu vermeiden; dies nennt er den haushälterischen und herablassenden Umgang mit der Wahrheit. Schleiermacher urteilt, es werde natürlich jede Äußerung, sofern sie nicht reine Selbstdarstellung sei, von der Rücksicht auf denjenigen modifiziert, an den sie gerichtet sei, aber doch so, daß dabei noch immer die wahre Überzeugung erkennbar sei. Ein bewußtes Abweichen von der unter den gegebenen Umständen natürlichsten Äußerung zeige Schwäche, und dies allgemein freizustellen, sei eine große Untüchtigkeit.133 Es verhindert eben den offenen, freien Austausch der Gedanken und die Verbreitung einer besseren Einsicht. Das gegenüber dem apostolischen und dem apologetischen Zeitalter schon stark veräußerlichte Christentum der zweiten Periode aber kann gerade dadurch unter den unkultivierten Völkern etabliert werden. 132  Kirchengeschichte 1821/22, 45. und 57. Stunde (KGA II/6, S.  112. 528); Kollektaneen 340 f.; 532 (KGA II/6, S.  214. 261) 133 Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.   112 f.); Kollektaneum 362 (KGA II/6, S.  218)

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C.  Materialer Teil

„Herrschaft der Gebräuche um das Christenthum unter den jungen Völkern fest zu stellen“,

notiert Schleiermacher über die zweite Periode.134 Die jungen Völker werden erst mit ihrer Christianisierung zu Subjekten der Geschichte. Zunächst, in ihrer „mosaischen Periode“ (vgl. oben Abschnitt 7.2.2.), müssen sie noch vor dem Rückfall in wilde Barbarei bewahrt werden, und dazu bedarf es vor allem einer äußerlichen, von außen auferlegten Ordnung, die sich an dem orientiert, was einstweilen machbar ist.135 Und so könnte Schleiermacher das paulinische Bild vom Gesetz als Pädagogen, das bis zur Mündigkeit und auf sie hin erzieht (Gal 3,23–25), auch auf das Christentum der äußeren Gebräuche und auf seine Bedeutung für den Eintritt der germanischen Völker in die Kirchengeschichte und in die menschliche Kulturgeschichte überhaupt anwenden.136

7.3.  Wissenschaft und Lehre 7.3.1.  Die Kirche im Geistesleben ihrer Zeit Die konstantinische Wende beendet nicht nur die rechtlich prekäre Lage der Kirche in Staat und Gesellschaft, sondern verstärkt in der Kirche auch die Rezeption der profanen Wissenschaft und Kultur, wie sie mit der Apologetik eingesetzt hatte.137 Umso mehr empört Schleiermacher das „boshafte“, „gefährliche“ und „sophistisch motivirte“ Dekret Kaiser Julians, die Christen vom Unterricht der heidnisch-hellenischen Bildung auszuschließen, da diese auf die Verehrung der Götter gebaut sei, die die Chri­ sten mißachteten. Zweck des Dekrets war es, gebildete junge Christen heidnischen Lehrern in die Hand zu spielen und dem Christentum zu entfremden. Doch bei der Kürze seiner Regierung scheitert das Vorhaben.138 In der Zeit nach Julian entspannt sich das Verhältnis zwischen Christen und Heiden. Die Heiden akzeptieren es, daß die Herr134 

Kirchengeschichte 1821/22, 7. Stunde (KGA II/6, S.  26) Vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  351); Kollektaneen 468; 470 (KGA II/6, S.  243 f.). 136  Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 32. Stunde (KGA II/6, S.  81): „Es war nun natürlich daß die neuen Völker nur ein sehr veräußerlichtes Christenthum zuerst überkamen mit dem sie sich auch lange behalfen und an den Streitigkeiten über die Lehre nur theilnahmen sofern sich ein anderes Interesse damit verbunden. Es beweist aber den tiefen Sinn der germanischen Völker denen in der Folge die ganze freiere Entwiklung des Christenthums übertragen war daß sie so bald von der Schale wieder zum Kern durchdrangen.“ 137  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   697); vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 7. Stunde (KGA II/6, S.  25). In der Praktischen Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  62v) heißt es, solange die Kirche in Opposition zur Gesellschaft gestanden habe und die Wissenschaft eine Sache der Heiden gewesen sei, sei es verpönt gewesen, daß ein Geistlicher sich als Gelehrter betätige. 138  Kirchengeschichte 1821/22, 41. Stunde (KGA II/6, S.  102); Kollektaneum 276 (KGA II/6, S.  203) 135 

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schaft an die Christen gefallen sei und daß das Christentum eine unter den Religionen sei, die mit der Vernunft vereinbar seien; sie versuchen nunmehr, die geistige und politische Daseinsberechtigung des alten Glaubens zu verteidigen. Die Christen wiederum lernen Rhetorik und Jurisprudenz auch bei Heiden. Besonders unter den abendländischen Kirchenschriftstellern steigt so das geistige und theologische Niveau, denn Ambrosius, Hieronymus und Augustin stünden doch auf einer anderen Stufe als noch Tertullian und Cyprian.139 Schleiermacher würdigt die Leistungen der Christen in verschiedenen profanen Disziplinen: Nemesius von Emesa entwickelte eine philosophische Anthropologie, zwar auf christlicher Grundlage, aber ohne Bindung an einen bestimmten dogmatischen Standpunkt.140 Die christlichen Literaten wählen sich in gleicher Weise heidnische und christliche Themen zum Gegenstand. Die heidnische Mythologie kann von ihnen darum rezipiert werden, weil sie nunmehr als etwas Historisches, nicht mehr Lebendiges genommen wird, darum auch nichts mehr ist, von dem man sich abgrenzen oder mit dem man sich auseinandersetzen müßte.141 Auch sich selbst nimmt die Kirche nun als Gegenstand der geschichtlichen Entwicklung und darum auch der historischen Gelehrsamkeit wahr. In der Geschichtsschreibung sind die christlichen Kirchenhistoriker zwar nicht mit den hellenischen Mustern vergleichbar, aber das liege auch am Gegenstand: Die politische und gesellige Seite trete bei ihnen natürlich zurück. Gegenüber Euseb, der noch zwischen Chronisten und Rhetor laviere, bedeuteten Socrates und Sozomenus einen Fortschritt. Socrates, den manche für einen Novatianer hielten, zeige ebenso wie der Arianer Philostorgius eine lobenswerte Überparteilichkeit. Theodorets kirchengeschichtliche Werke dagegen gehörten zu den schwächeren Arbeiten dieses verdienstvollen Kirchenschriftstellers.142 Das wichtigste Kunstgebiet dieser Zeit aber sei die Beredsamkeit gewesen. In ihr überträfen Gregor von Nazianz, Basilius und Johannes Chrysostomus tatsächlich die alexandrinischen und antiochenischen Väter der ersten Periode. Freilich folgten sie dem schwülstigen Muster, das sich damals nach dem Verschwinden der großen politischen Rede entwickelt hatte und für das Libanius das größte Vorbild war, und leisteten mit ihrem rhetorischen Bombast manchem Aberglauben Vorschub.143

Indem das christliche Geistes- und Kulturleben mit dem griechisch-römischen weitgehend eins geworden ist, verfällt es zusammen mit dessen Niedergang und mit dem Einbruch der Barbaren seit dem fünften Jahrhundert.144 Während aber die alte platonische und aristotelische Philosophie noch eine letz139 Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.   104 f.); Kollektaneum 278 (KGA II/6, S.  203 f.) 140  Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.  105); Kollektaneen 286; 1006 (KGA II/6, S.  205. 398) 141  Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.  105); Kollektaneen 283 f. (KGA II/6, S.  204 f.) 142 Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.   105); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697. 733); Kollektaneum 287 (KGA II/6, S.  205) 143 Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.   105 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  732). In der Praktischen Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  45v) empfiehlt Schleiermacher den Studenten, die Homilien Chrysostomus’ als Muster ihrer Gattung zu studieren; er hat das selbst auch getan, vgl. oben Abschnitt 6.1.1. 144  Kirchengeschichte 1821/22, 52. und 56. Stunde (KGA II/6, S.  514. 524 f.); Kollektaneum 459 (KGA II/6, S.  242)

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C.  Materialer Teil

te Blüte erlebt – auch unter den monophysitischen Christen, die versuchen, deren Kategorien für die Trinitätslehre fruchtbar zu machen –,145 werden schon neue Institutionen gestiftet, Bibliotheken und Schulen, die das antike Erbe hin­ über in die neue Zeit retten. Cassiodor, erst Staatsmann, dann Mönch, sammelt für seine Mönche das Wissen seiner Zeit in Kompendien und wird so zum Vater der Klosterschulen und der scholastischen Wissenschaft.146 Die griechische Geschichtsschreibung der folgenden Zeit zeugt bloß vom Verfall des griechischen Geisteslebens, und ebenso verhält es sich mit den kulturellen Leistungen der altrömischen Bevölkerung im Abendland. Dagegen zeigen die ersten Historiker der germanischen Völker, wie unter ihnen allmählich das Bewußtsein vom Zusammenhang der menschlichen Dinge erwacht. Durch Theodor, einen Griechen aus Kilikien, der zum Erzbischof von Canterbury erhoben wird (668), kommt die griechische Bildung nach England. Von Canterbury geht sie mit Egbert nach York über (732), und von der Schule in York mit Alcuin auf das europäische Festland (782). Alcuins gelehrte Schule in Tours wird dann zur Pflanzstätte der karolingischen Renaissance und der deutschen Gelehrsamkeit147 und stellt damit den Übergang des antiken Erbes und der zweiten Peri­ ode in die dritte Periode dar.

7.3.2.  Dogmen- und Lehrentwicklung 7.3.2.1.  Der Gang der Entwicklung Die Dogmenentwicklung setzt in der zweiten Periode die unvollendete Arbeit der ersten Periode fort, nimmt aber in der nunmehr politisch sichergestellten Kirche einen anderen Charakter an: Sie wendet sich nun nicht mehr nach außen, grenzt die Lehre also nicht mehr von ethnisierenden und judaisierenden Verzerrungen ab, sondern nimmt „die Richtung nach innen“, zur systematischen Durchdringung des Glaubens und zur Rechenschaft vor sich selbst.148 Die Unterscheidung zwischen beiderlei Richtung kommt aus der theologischen Enzyklopädie: Diese nennt die Richtung nach außen zur Feststellung des gemeinsamen Glaubensbewußtseins die christlich-religiöse, diejenige nach innen zur genauen Formulierung des lehrmäßigen Ausdrucks aber die wissenschaftliche. In der Dogmengeschichte gebe es Zeiten, wo die eine und Zeiten, wo die andere Richtung vorherrsche (vgl. oben Abschnitt 4.3.4.). 145 Kirchengeschichte

1821/22, 55.–56. Stunde (KGA II/6, S.  523–525); Kollektaneen 460–462; 519 (KGA II/6, S.  242 f. 259). Vgl. unten Abschnitt 7.3.2.3. 146  Kirchengeschichte 1821/22, 56. Stunde (KGA II/6, S.   525); Kollektaneen 457; 463 (KGA II/6, S.  242 f.) 147 Kirchengeschichte 1821/22, 59. und 61. Stunde (KGA II/6, S.   536 f. 541); Kollek­ taneen 464 f.; 548–557; 1131; 1135 (KGA II/6, S.  243. 264–266. 425) 148  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  695)

7.  Die zweite Periode

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Mit der konstantinischen Wende beginnt für die Dogmengeschichte also eine Periode der inneren, wissenschaftlichen Arbeit. „Verfolgungen begünstigen nicht die Speculation; sie erzeugen eine Begeisterung die sich mehr rhetorisch und poetisch äußert, der aber die strenge Begriffsbildung fremd bleibt. Nun aber Ruhe ward mußte sich wol dieser Trieb schneller entwikkeln und weiter verbreiten.“149

Dabei geht die Entwicklung nach einem allgemeinen Gesetz in Schwankungen und Gegensätzen, die sich aneinander abarbeiten. Da nun diese Gegensätze bei der inneren Richtung weniger bedeutend sind als bei der Abgrenzung gegen Judentum und Heidentum, „so sollte man erwarten, weil eben die Differenz schwächer sein mußte, daß die Behandlung dieser Differenz den Charakter von geringer Entfernung und Annäherung hätte. Das finden wir jedoch nicht; aber es war auch besonders die Analogie mit der Apologetik, in welche diese innere Differenz gestellt werden konnte gegen die äußere, wodurch sich dieser Charakter fortpflanzte.“150

Gemeint ist: Die zweite Periode steht, was die Schärfe der Auseinandersetzungen betrifft, dem apologetischen Zeitalter nicht nach, obwohl es damals um viel fundamentalere Fragen gegangen war. Die Polemik bei innerchristlichen Kontroversen um subtile Fragen des Lehrbegriffs hat vielmehr noch denselben Charakter wie die äußeren Abgrenzungen gegen den Gnostizismus und Judaismus: Was abweicht, mag der tatsächliche Gegensatz auch noch so gering sein, wird schnell für schlechthin unchristlich erklärt und in den Bann getan. – Trotz solchen Fehlern und Fehlentwicklungen: Notwendigkeit und Wert der Dogmenbildung steht für Schleiermacher (anders als etwa für Johann Salomo Semler, der stets Gewissenzwang fürchtete) außer Frage. Der Weg, den die Entwicklung des christlichen Lehrbegriffs nimmt, hängt nun nicht an äußeren Faktoren, sondern verdankt sich dem eigentümlichen Wesen des Christentums selbst. Ist das Christentum eine auf die Person Christi konzentrierte Erlösungsreligion,151 so erscheint als erstes die trinitarische Frage, also das Problem, wie sich der Erlöser zur Gottheit verhalte und wie die Einheit Gottes und die Göttlichkeit des Erlösers miteinander zu vereinbaren seien. Im weiteren Sinne gehört dazu auch die Frage nach dem Wesen und der Göttlichkeit des Heiligen Geistes. Das trinitarische Problem berührt aber mit der Person des (menschgewordenen) Erlösers und mit dem im Menschen innewohnenden Heiligen Geist auch schon das Gebiet des Menschen und der menschlichen Subjektivität, und so folgen aus ihm notwendig zwei weitere Themenkreise: als zweiter das christologische Problem, also die Frage nach der Einheit und Zweiheit des Göttlichen und Menschlichen in der Person des Erlösers, und als dritter 149 

Kirchengeschichte 1821/22, 32. Stunde (KGA II/6, S.  79) Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  695) 151  Vgl. Der christliche Glaube2 1, §  11; 22,2 (KGA I/13,1, S.  93–102. 156–158) 150 

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C.  Materialer Teil

die Frage nach dem Zustand des Menschen vor und unter der Erlösung, also das Problem, wie sich das natürliche Vermögen des Menschen zur Erlösung verhalte und in welchem Verhältnis die göttliche Gnadenwirkung zur menschlichen Ansprechbarkeit und Selbsttätigkeit stehe. Bei diesem dritten Problemkreis übernimmt erstmals der lateinische Westen die geistige Führung in der Entwicklung.152 Neben der eigentlichen dogmatischen Arbeit ist die Schriftauslegung die zweite Form, in der sich die innere Lehrentwicklung dieser Periode vollzieht.153 Auf die Kanonisierung und Auslegung der Schrift wirft Schleiermacher aber nur kurze, verstreute Blicke. In seinen Notizen und Vorträgen erwähnt er gelegentlich Kanonverzeichnisse, wobei ihn nicht zuletzt interessiert, ob die von ihm wenig geliebte Johannesoffenbarung als kanonisch galt.154 In der griechischen Kirche entsteht eine Richtung, die die allegorische Auslegung ablehnt und die Schrift grammatisch-historisch auslegt, also nach ihrem buchstäblichen Verständnis; dazu zählen Photin, Apollinaris, Theodor von Mopsuestia, Johannes Chrysostomus, Nestorius und Theodoret. Diese Leute sind dann meist auch zurückhaltend dabei, etwa alttestamentliche Stellen auf den präexistenten Logos oder den irdischen Christus zu beziehen. Ihre exegetischen Werke haben sich, soweit erhalten, noch bis in die neue Zeit als brauchbar erwiesen.155 Im Abendland lieferte Hieronymus mehrere Arbeiten von tüchtiger Gelehrsamkeit, nicht zuletzt eine neue lateinische Bibelübersetzung, und ging dabei hinter die sonst (z. B. bei Augustin) als inspiriert geltende Übersetzung der Septuaginta zurück. In der brieflichen Debatte mit Augustin über den Streit zwischen Petrus und Paulus erweist sich aber der letztere als besserer Exeget.156 Doch auch zu Augustin als Schriftausleger äußert sich Schleiermacher eher zurückhaltend: Er schwebe zwischen allegorischem und buchstäblichem Verständnis und liebe es, über die Bedeutung der Zahlen zu spekulieren; beim Allegorisieren sei er viel willkürlicher als Origenes. Immerhin tue die falsche Exegese dem Wert seiner theologischen Einsichten oft keinen Eintrag.157 Die viel gelesenen Moralia Gregors des Großen (ein Kommentar zu Hiob) kennen einen dreifachen Schriftsinn. Gregor liebt Allegorien und Zahlensymbolik. Des Griechischen 152  Kirchengeschichte

1821/22, 7., 32., 49. und 52. Stunde (KGA II/6, S.  25. 79 f. 485. 504 f. 515); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  696. 734 f.); Kurze Darstellung 2, §  178 (KGA I/6, S.  388 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  178 (hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  167) 153  Kirchengeschichte 1821/22, 7. Stunde (KGA II/6, S.  4 85) 154  Kirchengeschichte 1821/22, 41. und 57. Stunde (KGA II/6, S.  104. 528); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  314); Kollektaneen 274; 333 f.; 337; 532; 599; 1018 f. (KGA II/6, S.  203. 213 f. 261. 281. 402); vgl. Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §  108 (SW I/8, S.  466–470). 155  Kirchengeschichte 1821/22, 39., 47. und 50. Stunde (KGA II/6, S.  97. 501. 507. 509); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  245. 312 f.; KGA II/6, S.  733); Kollektaneen 41; 146; 371; 405; 446 f.; 495; 1082 (KGA II/6, S.  151. 173. 220. 228 f. 240. 250. 413) 156 Kirchengeschichte 1821/22, 52. Stunde (KGA II/6, S.   514); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  314 f.); Kollektaneen 295; 335; 337–339; 361; 379 (KGA II/6, S.  206. 213 f. 218. 222) 157  Kirchengeschichte 1821/22, 26. und 52. Stunde (KGA II/6, S.  63. 514); Kollektaneen 1048; 1069 (KGA II/6, S.  4 07. 410)

7.  Die zweite Periode

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unkundig, erhebt er sich nicht über das (verglichen mit Chrysostomus und Augustin gesunkene) Niveau seiner Zeit.158

7.3.2.2.  Trinitarischer Streit Die Fragen, um deren Lösung die trinitarischen Streitigkeiten rangen, waren schon in der ersten Periode aufgeworfen worden, und so kann Schleiermacher den Streit des Dionys von Alexandrien mit den libyschen Sabellianern einen ersten Keim des arianischen Streites nennen.159 Arius’ Lehre steht für Schleiermacher eindeutig in der Kontinuität des Origenes. Dieser unterschied mehrere göttliche Personen, identifizierte zur Wahrung der Einheit Gottes aber die Person des Vaters mit der Gottheit selbst und nannte den Logos und den Geist nur insofern Gott, als sie aus der Gottheit des Vaters hervorgegangen seien, an ihr teilhätten und mit ihr eine Willensrichtung hätten (vgl. oben Abschnitt 6.3.2.3.). Arius’ Lehre ist der letztlich tragische, weil zum Scheitern verurteilte Versuch, alles durch einen konsequent zu Ende gedachten Subordinatianismus in einen Zusammenhang zu bringen: das monotheistische Interesse, die Unterscheidung mehrerer göttlicher Personen, die Gleichsetzung des αὐτόθεος mit der Person des Vaters und die Identität des Schöpfungsmittlers mit dem fleischgewordenen Göttlichen.160 Doch bis auf wenige Außenseiter waren auch Arius’ Gegner Origenisten und vertraten eine innergöttliche Wesenspluralität unter Subordination des Sohnes und Geistes unter den Vater. Die verschiedenen Positionen und ihre Entwicklung hat Schleiermacher sehr subtil und anhand der Quellen rekonstruiert. Mit Origenes ging Arius davon aus, daß es nur einen Ungezeugten gebe und daß man den αὐτόθεος von demjenigen unterscheiden müsse, das erst durch ihn vergöttlicht werde, also den Gott kraft seiner selbst vom Gott kraft Teilhabe. Weiter konnte er sagen, daß nicht ungezeugt zu sein immer eine Abhängigkeit bedeute und daß der Sohn abgesehen von dieser Abhängigkeit nicht sei. Aus Hippolyts Satz gegen Noet wiederum, daß Gott nie ohne Wort und Weisheit gewesen sei, daß er aber zu einer Zeit, als er es wollte, das Wort als eigenes Subjekt habe aus sich ausgehen lassen, ohne andererseits dadurch ἄλογος zu werden, ging für Arius die bleibende Unterscheidung zwischen dem Gott einwohnenden Logos und dem subjektgewordenen Logos hervor und weiter die Zeugung des subjektgewordenen Logos erst in der Zeit und seine Unvollkommenheit gegenüber dem Gott einwohnenden Logos. So konnte Arius zu Sätzen kommen wie denen, daß der Logos-Sohn in der Zeit aus nichts geschaffen sei (er sei ja weder ein Teil des ungezeugten Gottes noch aus etwas anderem gemacht, also sei er aus nichts gemacht), daß er eine unvollkommene Kenntnis Gottes und seiner selbst habe und daß er 158 

Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  348 f.); Kollektaneen 536; 1120; 1123 (KGA II/6, S.  262. 422) 159  Kirchengeschichte 1821/22, 26. Stunde (KGA II/6, S.  65) 160 Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.   112 f.); Ueber den Gegensaz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität, in: Theologische Zeitschrift 3 (1822), S.  295–408, hier 402–405 (KGA I/10, S.  301–303), wonach sich die Arianer nicht mit Unrecht auf Origenes und Dionys beriefen.

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veränderlich, also zum Bösen fähig sei. Denen, die seine Sicht nicht teilten, warf Arius vor, sie müßten zwei Ungezeugte (also nicht ein, sondern mehrere Prinzipien) annehmen, sie sabellianisierten, indem sie Vater und Sohn nicht unterschieden, oder sie müßten zu einer gnostisch-manichäischen Emanationenlehre kommen, der zufolge sich der eine Gott teile und vervielfältige. Der in den Streit hineingezogene Euseb von Nicomedien bestätigte das und wies darauf hin, daß der Begriff „Zeugen“ in der Schrift nicht nur von Eltern und Kindern nach der Natur gebraucht werde, sondern auch übertragen vom Schaffen Gottes; der Sohn habe an der ungezeugten Natur des Vaters keinen Anteil, sei dem Vater jedoch an Stellung und Macht ähnlich.161 (Schleiermacher hat hier richtig erkannt, daß für die Arianer das Ungezeugtsein Gottes Wesen und Substanz und auch seine Einheit und Einzigkeit ausmacht, hat aber nicht gesehen, daß diese Meinung ganz unorigenistisch ist.) Bischof Alexander kann keine letztlich überzeugende Gegenposition zu Arius auf bauen; er beruft sich auf die Einzigartigkeit des Sohnes gegenüber der Schöpfung, verliert sich aber darin, daß das Verhältnis des Sohnes zum Vater jenseits dessen liege, was menschlich denkbar und aussagbar sei.162 Bei den Verhandlungen auf dem Konzil von Nicäa, so rekonstruiert es Schleiermacher aus den verschiedenen Nachrichten, brachten zunächst sechs ariusfreundliche Bischöfe eine Formel vor; Eustath von Antiochien, der das berichtet, schrieb die Formel dem Euseb (von Nicomedien) zu, was auch stimmen könne. Diese Formel wurde aber gleich zerrissen und allgemein verworfen, worauf hin vier der sechs Bischöfe Arius verdammten. Das erklärt Schleiermacher so: Die Formel habe wohl Arius’ Anliegen in möglichst milder, wenig profilierten Form vorgetragen, etwa nach Art seines Briefs an Alexander und des Briefes Eusebs von Nicomedien an Paulin von Tyrus. Die Majorität habe indessen gemeint, Arius wolle sich hinter der scheinbar harmlosen Formel ver­ stecken, um als rechtgläubig zu gelten, lehre aber eigentlich viel ärger; so habe sie in die Ausdrücke der Formel mehr hineingelesen, als eigentlich darin enthalten gewesen sei. 161  Kirchengeschichte 1821/22, 33.–34. Stunde (KGA II/6, S.  82–84); Kollektaneen 191; 193; 195 f.; 200; 204; 221–223 (KGA II/6, S.  184–186. 190 f.). – Im dogmengeschichtlichen Aufsatz über die Trinitätslehre vermutet Schleiermacher, daß bei Arius’ Logoslehre, vergli­ chen mit derjenigen des Origenes, das Kosmologische, also die Frage nach einem Mittler­ wesen zwischen Gott und der materiellen Welt, gegenüber der religiös-soteriologischen Frage an Gewicht gewinnt: Ueber den Gegensaz, S.  351 (KGA I/10, S.  264). 162  Kirchengeschichte 1821/22, 33. Stunde (KGA II/6, S.  83); Kollektaneen 192; 194 (KGA II/6, S.  184): Einerseits sagt Alexander, die menschliche Seele könne sich keinen Begriff von einem Unterschied zwischen Vater und Sohn machen, andererseits nennt er den Sohn eine Natur in der Mitte zwischen dem Vater und den aus nichts geschaffenen Dingen (was ja der späteren Definition von der Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater widerspricht). Wenn der Unterschied zwischen dem Sohn und der Schöpfung nach Alexander in der Ewigkeit bestehen soll, in der der Sohn gezeugt ist, so überzeuge das auch nicht, weil man auch eine Ewigkeit der Schöpfung annehmen könne, und ebenso wenig, wenn die Zeugung des Sohnes unaussagbar und unerklärlich genannt wird: Unaussagbar sei ja auch das Schaffen Gottes, und wenn von zwei Dingen gesagt werde, daß man nichts weiter über sie wisse, dann unterschieden sie sich darin gerade nicht. Schließlich sagt Alexander, daß die Sohnschaft des Sohnes nichts gemein habe mit der Gotteskindschaft der Gläubigen, weil sie in der Natur Gottes liege. Wenn sie in der Natur liege, fragt Schleiermacher zurück, frage sich, was mit dem Heiligen Geist sei und ob sein Hervorgehen auch in der Natur Gottes liege oder ob er dann doch nur eins der Geschöpfe sei. Er korrigiert diesen Einwand dann aber selbst und stellt fest, daß Alexander hier keine metaphysischen Aussagen über Gottes Natur machen wolle, sondern nur die unveränderliche Sohnschaft des Gottessohnes der nicht in der Natur liegenden, daher veränderlichen Gotteskindschaft der Gläubigen gegenüberstelle.

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Darauf hin hätten vier der sechs Bischöfe gesagt, sofern Arius wirklich solche Dinge lehre, die in der Formel ja auch gar nicht enthalten seien, verdammten auch sie ihn.163 Eigentlich war man sich also weitgehend einig; nur Mißtrauen und Mißverständnisse säten die Zwietracht, und hier waren es die angeblichen Arianer, die versuchten, das Vertrauen wiederherzustellen. – Als nächster trug Euseb von Cäsarea eine Formel vor, die im Gegensatz zur vorigen auch überliefert ist und die mit allgemeinem Wohlwollen aufgenommen wurde. Diese Formel war auch tatsächlich schriftgemäß, indem sie sich auf Ausdrücke wie „eingeboren“ ( Joh 1,18) und „erstgeboren“ (Kol 1,15) beschränkte; aber gerade darum ließ sie die Hauptfrage unentschieden. Eusebs Lehrer Pamphilus hatte die Maxime aufgestellt, daß man über die Schrift hinaus zwar forschen dürfe, aber keine Verdammungsurteile aussprechen solle (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.7.). Eben das aber wollte der Kaiser durchaus. Nach und nach wurde Eusebs Formel also mit Begriffen erweitert: „aus Gott“, „aus der Substanz des Vaters“, „Bild Gottes“, „wahrer Gott“, und jedes Mal akzeptierten Euseb von Nicomedien und die Seinen die Erweiterung, weil sie sie auch in ihrem Sinne verstehen konnten. Schließlich brachte der Kaiser selbst den Begriff „ὁμοούσιος – eines Wesens“ ein. Ihm konnte die Gegenpartei nicht mehr zustimmen: Unter einem mit dem Vater wesenseinen Sohn konnte sie nur eine Emanation im Sinne der Gnosis, das leibliche Kind eines leiblichen Vaters oder einen zweiten Gott denken. Nun wurde das nicänische Symbol ausgearbeitet, auf der Grundlage der Eusebschen Formel, aber um das ὁμοούσιος und einige weitere antiarianische Klauseln erweitert. Das Nicänum unterzeichneten alle Bischöfe bis auf zwei, auch die beiden Eusebe. Als zu der Formel aber noch Anathematismen hinzukamen, verweigerte Euseb von Nicomedien die Unterschrift. Euseb von Cäsarea, dem es um den Frieden zu tun war, stimmte sowohl dem Symbol als auch den Anathematismen zu und rechtfertigte das gegenüber seiner Gemeinde damit, daß der in der Schrift freilich nicht belegte Begriff ὁμοούσιος schon von früheren Schriftstellern im guten Sinne gebraucht worden sei und daß die Anathematismen nur unschriftgemäße Ausdrücke verböten, deren sich auch Arius leicht enthalten könne. Athanasius verteidigte später das ὁμοούσιος mit der Behauptung, der Ausdruck sei schon im dritten Jahrhundert in Rom und Alexandria gebraucht worden. Tatsächlich sei aber bloß überliefert, daß die Synoden gegen Paul von Samosata den Ausdruck verurteilt hätten (vgl. oben Abschnitt 6.3.3.3.).164 Mit der Entscheidung von Nicäa war der Streit nun aber mitnichten vorüber: Bald werden die Verurteilten rehabilitiert und die Vorkämpfer und Verteidiger des Nicänums abgesetzt. Für dieses Umschlagen erwägt Schleiermacher drei Erklärungen: 1) Dem Kaiser sei es ohnehin weniger um die nicänische Formel gegangen als um den Kirchenfrieden, und da sich Arius und Euseb von Nicomedien nach dem Konzil besser betragen hätten als Athanasius und Eustath, habe er seine Gunst ihnen zugewandt. 2) Die Schwester des Kaisers Constantia habe sich für die Arianer eingesetzt, weil diese die Geistlichen ihres Vertrauens gewesen seien. 3) Der Kaiser habe sich (wieder, vgl. oben Abschnitt 7.2.3.) theologisch kompromittiert, als er bei den Verhandlungen auf dem Kon163  Kirchengeschichte 1821/22, 35. Stunde (KGA II/6, S.  87); Kollektaneum 225 (KGA II/6, S.  191) 164  Kirchengeschichte 1821/22, 35. Stunde (KGA II/6, S.   87 f.); Kollektaneen 208–211 (in Nr.  208 hat sich Schleiermacher selbst eine Synopse der Formel Eusebs und des Nicänums angefertigt); 218; 226 (KGA II/6, S.  187 f. 190 f.). – Die öfter geäußerte Vermutung, das Symbol Eusebs von Cäsarea sei identisch mit der zerrissenen Formel, von der Eustath berichtet, dieser meine mit Euseb also den von Cäsarea, nicht den von Nicomedien, hat Schleiermacher nicht erwogen.

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zil von sich gab, der Sohn sei vor seiner Zeugung potentiell als Ungezeugter im Vater gewesen: das sei entweder Sabellianismus, oder es mache den Sohn zu einem Teil der Welt, die ebenfalls vor ihrer Erschaffung noch als Potenz im Schöpfer gewesen sei. Als dem Kaiser darauf hin klar geworden sei, wie schwer es sei, das Richtige zu treffen, habe er resigniert seinen Eifer für eine bestimmte Lehrform aufgegeben.165 Bald fängt man an, sich über das ὁμοούσιος zu streiten, woraus erhellt, daß es faktisch schon nicht mehr galt: Euseb von Cäsarea (der dem Wort auf dem Konzil noch zugestimmt hatte) macht gegenüber Eustath geltend, daß es nur entweder sabellianisch (ein Wesen) oder polytheistisch (zwei Wesen einer Gattung) verstanden werden könne.166 Die wiedererstarkenden Arianer greift Marcell von Ancyra an, „und man kann nicht läugnen auf eine solche Art, daß er in den Sabellianismus verfiel.“ Marcell erklärte das ὁμοούσιος nämlich so, daß die Gottheit des Vaters und des Logos unteilbar eine sei, Vater und Logos also keine zu unterscheidenden Hypostasen oder Personen innerhalb der Gottheit seien. Der Logos sei vielmehr Gott selbst, er trete erst mit der Menschwerdung Christi aus dem Vater hervor und ziehe sich zuletzt, indem Christus sich und sein Reich dem Vater unterwerfe, auch wieder in diesen zurück. Die Einwohnung des Logos im Menschen sei also nur eine vorübergehende Fulguration; die Gottheit dehne sich im Rahmen der Heilsökonomie aus und ziehe sich wieder in sich selbst zusammen. Ebenbild des Vaters (Kol 1,15) und diesem somit ontologisch unterlegen und subordiniert sei nicht der Logos, sondern der Fleischgewordene; denn ein Ebenbild müsse sichtbar sein und müsse von dem, dessen Bild es sei, unterschieden sein, was beides für den Logos in bezug auf Gott nicht zutreffe.167 – Schleiermacher erklärt dazu, daß die zeitliche Begrenzung Christi und seines Reiches durch Marcell in der Tat dem christlichen Gefühl unmittelbar zuwider sei. Wenn Marcell (so wie Sabell und Beryll) keine dem göttlichen Wesen an sich eigene innere Pluralität der Personen annimmt und erst im Fleischgewordenen den Sohn und das Ebenbild Gottes sieht, muß das Schleiermacher freilich mehr befriedigen als die origenistische Auffassung und was aus ihr hervorgegangen ist. So sieht er bei Marcell vor allem die Schwäche, daß er die Einwohnung des Göttlichen in Christus nicht analog zur Einwohnung des Geistes in den Gläubigen gedacht habe, also fortdauernd; in diesem Falle hätte er das Anstößige beseitigt, ohne in die Aporien des pluralen Monotheismus zu geraten.168 Eine mit Marcell verwandte Anschauung vertrat Photin von Sirmium: Vater und Sohn hätten eine Wirkung, der Logos Gottes sei ewig, aber der Sohn Gottes beginne erst mit der Fleischwerdung. Er differenzierte also (auch bei seiner Exegese des Alten Testaments) zwischen dem Wort Gottes und dem Sohn Gottes. Die Gegner schlossen daraus, er habe den Sohn wie einst die Ebioniten für einen bloßen Menschen erklärt.169 165  Kirchengeschichte 1821/22, 36. Stunde (KGA II/6, S.  9 0 f.); Kollektaneen 228; 231 (KGA II/6, S.  192 f.) 166  Kirchengeschichte 1821/22, 36.–37. Stunde (KGA II/6, S.  91 f.); Kollektaneum 232 (KGA II/6, S.  193) 167  Kirchengeschichte 1821/22, 37. Stunde (KGA II/6, S.  9 2 f.); Kollektaneen 141; 235– 240 (KGA II/6, S.  172. 193–195). Zu den Zeugnissen über Marcells Denkart ohne Hypostasenlehre gehört für Schleiermacher auch das an Julius von Rom geschickte Bekenntnis (Epiphanius: Panarion 72, 3,1), in dem spätere Forscher das altrömische Taufsymbol und damit eins der ältesten Denkmäler der Symbolgeschichte gesehen haben. 168 Kirchengeschichte 1821/22, 37. Stunde (KGA II/6, S.   92  f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  230 f.) 169  Kirchengeschichte 1821/22, 39. Stunde (KGA II/6, S.  97); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  244 f.); Kollektaneen 146; 994; 996 (KGA II/6, S.  173. 396 f.)

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Auf der anderen Seite erneuerten Aetius und Eunomius mit scharfer aristotelischer Dia­ lektik den reinen Arianismus. Sie gingen (mit Arius) davon aus, daß das Wesen Gottes das Ungezeugtsein sei. Dann bewiesen sie, daß dieses tatsächlich eine positive Wesensbestimmung sei und weder eine Negation noch eine menschlich gebildete Abstraktion. Schleiermacher hat die Beweisführung offenbar mit einer gewissen Faszination rezipiert und reproduziert.170 Für ihn zeigt sie mit schneidender Schärfe die entscheidende Schwäche der stets latent subordinatianischen Trinitätslehre, daß nämlich eine der trinitarischen Personen als identisch mit der Abstraktion, dem göttlichen Wesen an sich gesetzt werde. Doch Marcell, Photin und die Neuarianer bleiben Außenseiter; im Ganzen ist man sich, unbeschadet allen Streites über die richtigen Begriffe, darin einig, in den Personen der Trinität verschiedene selbständig subsistierende Einzelwesen einer gemeinsamen Gattung zu sehen. Euseb von Nicomedien, ein Gegner des Nicänums, meinte, der Begriff ὁμοούσιος sei für Vater und Sohn deshalb unangemessen, weil er nur für Materielles von einerlei Gattung passe, nicht für Geistwesen, die nämlich keine Gattungen bildeten, sondern deren jedes ein ens sui generis sei (was mindesten für das göttliche Wesen auch stimme, meint Schleiermacher). Die Nicäner dagegen differenzierten zwischen Substanz oder Natur auf der einen, Person oder Hypostase auf der anderen Seite und gebrauchten das eine für die Gemeinsamkeit, das andere für die Besonderheit (Zeugen bzw. Gezeugtsein). Die Differenz zwischen Eusebianern und Nicänern lag also nur in der Frage, ob man bei Gott von Substanz oder Natur im Sinne einer Gattung reden könne. Eine Schwierigkeit bestand in der Übersetzung des Begriffs Hypostase ins Lateinische: Die genaue Übersetzung „substantia“ stand schon für das Gemeinsame, „subsistentia“ für das Dasein als solches, und „persona“ klang sabellianisch.171 Die äußere Geschichte, der Streit um Begriffe wie wesenseins, wesensgleich und ähnlich und die Versuche, unter wechselnder kaiserlicher Gunst auf neuen Synoden Begriffe und Formeln zu sanktionieren, hat Schleiermacher zwar recht detailliert exzerpiert und vorgetragen, sie erscheint ihm aber als wenig bedeutend. Entscheidend wird es, daß Athanasianer (Homousianer) und Basilianer (Homoiusianer) miteinander übereinkamen, daß die Formeln der jeweils anderen nicht arianisch oder ebionitisch bzw. nicht sabellianisch gemeint seien, daß also in Gottes einer Substanz oder Natur mehrere 170 Kirchengeschichte 1821/22, 39. Stunde (KGA II/6, S.   97  f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  729 f.); Kollektaneen 266; 993 (KGA II/6, S.  200 f. 396): Wäre Ungezeugtsein bloß die Negation der Position Gezeugtsein, dann stünde das Gezeugte als Positives auf einer höheren Stufe als das Ungezeugtsein, was aber nicht der Fall sei. Ungezeugtsein könne aber auch kein erst menschlich gebildeter Ausdruck sein, denn dann wären die Menschen, die die Vorstellung von einem schlechthin unabhängigen weil ungezeugten Dasein haben, besser als Gott, weil in ihrer Vorstellung etwas Höheres als das Wesen Gottes gegeben wäre. Ist Gott mithin seinem Wesen nach ungezeugt, dann kann er dieses sein Wesen nicht durch Zeugung weitergeben und dem Gezeugten ähnlich sein bzw. im Gezeugten ein ihm selbst ähnliches Abbild erkennen; und wenn der eine Gott doch den anderen als wesensgleich zeugte, dann wären sie beide nicht die ungezeugte Substanz, sondern diese stünde über beiden. Wäre andererseits Gott seinem Wesen nach zeugend, dann müßte der aus ihm Gezeugte weiterzeugen. Käme wiederum das Zeugen und Gezeugtsein Gott nicht ganz zu, sondern geteilt, so daß er teils zeugend, teils gezeugt wäre (so wie es die Trinitätslehre der Jungnicäner bestimmte), so gäbe es in dem schlechthin einfachen, vollkommenen Wesen Gottes Gegensätze und Teilung. 171  Kirchengeschichte 1821/22, 39. Stunde (KGA II/6, S.  95 f.); Kollektaneen 263; 265 (KGA II/6, S.  199 f.)

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Subsistenzen, Personen oder Hypostasen zu unterscheiden seien. Schon vorher hatte Hilarius, der abendländische Vorkämpfer des Nicänums, die Homoiusianer als ebenfalls rechtgläubig anerkannt.172

Am Ende des Streites wird auch der Heilige Geist zum Thema. Das Nicänum hatte ihn noch so gut wie übergangen, und nur wenige Theologen hatten bis dahin überhaupt eine Geistlehre vorgetragen: Tertullian mußte sich als Montanist für den Geist-Parakleten interessieren und entwickelte eine Theorie von den Ausflüssen aus dem Vater, Origenes stellte den Geist nach dem Sohn eine weitere Stufe tiefer und räumte ihm ein gegenüber Vater und Logos kleineres Wirkungsfeld ein, nämlich die heiligen Vernunftwesen, für Sabellius war der Geist das Wesen Gottes, insofern es die Gläubigen besucht, und Didymus faßte den Geist als selbständige Weisheit und Heiligkeit in einem mit Vater und Sohn verbundenen, von den Geschöpfen unterschiedenen göttlichen Wesen. Ihnen allen gemeinsam ist, daß sie nicht vom Heiligen Geist in der Taufformel, vom Geist als innertrinitarischer Funktion oder von der Inspiration der alttestamentlichen Propheten ausgehen, sondern von der Frage nach dem Dasein und Wirken Gottes in den Gläubigen bzw. der Kirche.173 Auch Schleiermachers eigene Pneumatologie hat ihren Ort in der Lehre von der Kirche: Der Heilige Geist ist der Gemeingeist der Kirche, kraft dessen die Einzelnen geordnet aufeinander und miteinander wirken und ein Ganzes bilden, das streng auf das in Christus geoffenbarte Göttliche bezogen bleibt. Wie in der Person Christi findet hier eine Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur statt.174 Mit der Ausgießung des Geistes Christi auf die Kirche beginnt die Kirchengeschichte (vgl. oben Abschnitt 4.6.1.). Einige Arianer wandten ihre verschärfte Form des origenistischen Subordinatianismus konsequent auch auf den Heiligen Geist an: Er stehe noch unter dem „Sohn“ genannten Logos-Geschöpf, sei durch den „Sohn“ geschaffen und diesem als Diener unterworfen. Der Geist gehöre also in eine Klasse mit den Engeln, sei gleichsam der dienstbare Schutzgeist der Kirche. Die Macedonianer oder Pneumatomachen stellten also keine

172 Kirchengeschichte 1821/22, 38.–40. und 45. Stunde (KGA II/6, S.   94–101. 113 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  729); Kollektaneen 244; 254; 257; 259; 261 f.; 265; 267; 396–400; 1005 (KGA II/6, S.  195. 197–202. 226 f. 398) 173 Kirchengeschichte 1821/22, 26., 35. und 45. Stunde (KGA II/6, S.   64 f. 88 f. 114); Kollektaneen 145; 158 f.; 167 f.; 279 (KGA II/6, S.  173. 175 f. 178. 204); Ueber den Gegensaz, S.  314 f. 319 f. 357–362. 380–384. 408 (KGA I/10, S.  238. 241 f. 268–272. 286–289. 305 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  728) 174  Der christliche Glaube2 2, §  121–125 (KGA I/13,2, S.  278–303); Leben Jesu 1832, 45. Stunde (SW I/6, S.  318. 322–324). Vgl. Wilfried Brandt: Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, Studien zur Dogmengeschichte und systematischen Theologie 25, Zürich 1968, S.  53–57. 88–101; Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte, Göttinger theologische Arbeiten 14, Göttingen 1980, S.  153 f. 208; Martin Diederich: Schleiermachers Geistverständnis, Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theo­logie 88, Göttingen 1999, S.  221–223 und passim.

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eigene Partei oder Richtung dar, sondern waren bloß Arianer, die sich mit dem Wesen des Geistes beschäftigten.175 Die zweite ökumenische Synode versammelte Theodosius der Große in Konstantinopel; besucht wurde sie wie die nicänische nur aus dem Osten. Ihr Zweck war nicht speziell die Verurteilung der Pneumatomachen, sondern die Wiederherstellung des Kirchenfriedens insgesamt durch Versöhnung der Basilianer und Athanasianer und Ausschluß des Arianismus. Dazu wurde das Nicänum bestätigt und eine neue Formel sanktioniert, die den zweiten Artikel um einige Ausdrücke ergänzte und im dritten Artikel die gemeinsame Anbetung des Heiligen Geistes mit Vater und Sohn und sein Ausgehen aus dem Vater formulierte, nicht jedoch die Wesenseinheit des Geistes mit Vater und Sohn.176

Schleiermachers Urteile über den Verlauf des Streites lassen sich nicht unmittelbar auf einen Nenner bringen. Er kann den Sieg der „athanasianischen“ Lehre (wie er das trinitarische Dogma oft nennt, z. B. im Titel seines bekannten Aufsatzes) über den Arianismus geradezu als Beleg dafür anführen, daß sich in der Kirchengeschichte immer dasjenige durchsetze, was aus dem Wesen des Christentums selbst hervorgegangen sei (vgl. oben Abschnitt 4.3.1.). Am Anfang seiner Darstellung des arianischen Streites stellt er den Grundsatz auf, daß der innere Wert und die innere Notwendigkeit des dogmatischen Streites für die Entwicklung der Lehre zu trennen sei vom äußeren Verlauf.177 Gemeint ist offenbar, daß Gegenstand und Ergebnis des Streites trotz der sittlichen Unvollkommenheit von dessen äußerem Verlauf aus dem Wesen des Christentums selbst hervorgehen.178 Dagegen heißt es aber in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums, daß Inhalt und Genese eines gesellschaftlich gegebenen Zustandes des Christentums gerade nicht voneinander zu trennen seien, sondern einander entsprächen und bedingten.179 Danach kann der äußere Verlauf für das Ergebnis nicht einfach bedeutungslos sein; aus einer zweifelhafte Genese muß man auf einen ebensolchen Inhalt schließen und umgekehrt. Eine Vorlesung zur theologischen Enzyklopädie erläutert diesen Paragraphen, indem sie abermals den arianischen Streit als Beispiel nimmt: Das geschichtliche Faktum, das durch die leidenschaftlichen Umstände seiner Genese allerdings disqualifiziert werde, sei hier die Formulierung der „athanasianischen“ Lehre mit Begriffen wie Person und Hypostase. Doch solle mit dieser Feststellung nicht 175 Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.   114); Kollektaneen 269; 399 (KGA II/6, S.  202. 227) 176 Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.   114 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  260 f.); Kollektaneen 354; 1001 (KGA II/6, S.  217. 397 f.) 177  Kirchengeschichte 1821/22, 33. Stunde (KGA II/6, S.  81) 178  Vgl. auch Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  179 (hg. Sachs, S.  167 f.): Von sachfremden, kontingenten Umständen und der Persönlichkeit der Beteiligten sei im arianischen Streit zwar manches abhängig, aber eben nicht die Hauptsachen: Die Streitfrage lag in der Luft, Alexandria war der Ort, wo an der wissenschaftlich-dialektischen Dogmatik gearbeitet wurde, und der Arianismus widersprach dem christlichen Gemeingefühl. 179  Kurze Darstellung 2 , §  3 4 (KGA I/6, S.  339); vgl. oben Abschnitt 4.3.4.

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der Arianismus auf den Schild gehoben werden, der zur „athanasianischen“ Lehre auch in gar keinem strengen Gegensatz stehe, dergestalt, daß, wenn das eine falsch sei, sei das andere notwendigerweise wahr wäre, und der genauso leidenschaftlich entstanden sei. Sondern die Kritik des Inhalts anhand der Genese treffe nur den geschichtlichen Inhalt, d. h. die begriffliche Formulierung der Lehre; der „wesentliche“ Inhalt sei ganz unabhängig davon und bleibe unbestritten.180 Das Problem ist damit freilich nicht gelöst: Was ist dieses Wesentliche, das nicht mit der begrifflichen Formulierung steht und fällt, und: in wiefern kann es nun doch als unabhängig von der Genese gesetzt werden? Offenbar ist Schleiermacher der Meinung, daß die „athanasianische“ Trinitätslehre im Gegensatz zum Arianismus in der Tat einen entscheidenden Punkt richtig trifft, daß aber ihre Formulierung auf dem Konzil dieses Richtige teilweise verdunkle. „Die Hauptaufgabe nämlich wäre die gewesen, das göttliche in Christo als ein wahrhaft göttliches ohne Unterordnung so zu beschreiben daß es weder als eine bloße ἐνέργεια Sabellianisch erschien noch ein Polytheismus herauskam.“181

Diese Hauptaufgabe verfehlt der Arianismus: Er verneint das wahrhaft Göttliche in Christus offen und widerspricht damit dem christlichen Gemeingefühl. Er degradiert Christus zu einer Art gnostischem Scheinwesen, das in der Mitte zwischen Gott und Mensch steht und weder das eine noch das andere ist.182 Dies nicht zu tun, ist der Vorzug und die Berechtigung der „athanasianischen“ Lehre gegenüber dem Arianismus. Die Diskussion und ihr dogmatisch sanktioniertes Ergebnis werden nun aber von falschen Voraussetzungen getrübt, von denen (als Schüler Origenes’) beide Seiten, Arianer wie „Athanasianer“, ausgingen, nämlich 1) als den Sohn Gottes nicht erst den Fleischgewordenen zu nehmen, sondern schon den Präexistenten, oder, anders ausgedrückt: das Göttliche in Christus auch abgesehen von der Menschwerdung als Person neben dem Vater aufzufassen, 2) bei der so entstandenen Pluralität der göttlichen Personen ihrer eine, nämlich den Vater, mit Gott selbst zu identifizieren und den anderen Personen überzuordnen, und 3) überhaupt in dem Streit nicht von dem Problem auszugehen, wie man Christus denken müsse, damit er der göttliche Erlöser der Welt sein könne, sondern wie man den Polytheismus vermeide (obwohl die Auseinandersetzung mit dem Po180  Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  3 4 (hg. Sachs, S.  37–39). Vgl. Der christliche Glaube2 2, §  95,1 (KGA I/13,2, S.  58 f.). Ähnlich heißt es in der Einleitungsvorlesung von 1806, die kirchliche Trinitätslehre stehe und falle ihrem Gehalt nach eben nicht mit ihrer zeitbedingten platonisch-philosophischen Formulierung, sonst hätte sie die geistige Herrschaft des Platonismus nicht überdauert, vgl. Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 11. Stunde (KGA II/6, S.  18). 181  Kirchengeschichte 1821/22, 35. Stunde (KGA II/6, S.  87). Vgl. Der christliche Glaube2 2, §  170,1 (KGA I/13,2, S.  515). 182  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  728)

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lytheismus schon in der vorigen Periode abgeschlossen war).183 Und so kann Schleiermacher im Aufsatz über die Trinitätslehre den ganzen Streit letztlich auf eine der origenistischen Position einwohnende inneren Spannung zurückführen; die zwei Elemente, die Origenes habe vereinbaren wollen, träten in seiner Schule schließlich in Gegensatz zueinander: Auf der einen Seite stehe eine Subordination, die so stark gemacht werde, daß sie nur den Vater als eigentlichen Gott anerkenne und den Logos-Sohn zum Geschöpf degradiere, auf der anderen, im Streit siegreichen Seite ein Insistieren auf der Gottheit des Sohnes als hypostasierten Logos, das nie aus dem Schwanken zwischen Tritheismus, Sabellianismus und Subordinatianismus herauskomme.184 Und über die nicänische Formel selbst kann Schleiermacher urteilen, daß sie die Lehre gar nicht weiterbrachte: Sie enthalte sowohl subordinatianische Elemente als auch solche, die dem entgegenstünden, sie beziehe die Prädikate, die die Gottheit des Sohnes bezeichneten, (wohl aus Versehen) auch auf den Menschen, und sie lehre über den Geist gar nichts.185 Dies also stellt den unvollkommenen, auf unvollkommene Weise entstandenen geschichtlichen Inhalt dar. Hätte also die Kirche das Problem weniger leidenschaftlich diskutiert, dann hätte sie sich vielleicht von den origenistischen Aporien freigemacht und wäre zu einer besseren, stabileren Lösung gelangt, die es vermieden hätte, in Gott eine Wesenstrinität zu setzen, eine Pluralität der Hypostasen Gottes auch abgesehen von seiner schöpferischen und erlösenden Beziehung auf die Welt. Wie diese ausgesehen hätte, deutet Schleiermacher kurz an, wenn er Hilarius lobt: Dieser habe den Hauptpunkt getroffen, nämlich „das Verhältniß Christi zum Vater mit unserm Verhältniß zu Christo zu parallelisi­ ren“.186

Schleiermacher denkt wohl an johanneische Ausdrücke: einerseits „ich im Vater und der Vater in mir“, andererseits „ihr in mir und ich in euch“ ( Joh 14,10. 20; 15,5; 17,21–23). Das Göttliche in Christus ist das Sein des Vaters in ihm und seine Sinnes- und Willenseinheit mit dem Vater, und entsprechend ist das Göttliche in der christlichen Kirche (der Heilige Geist oder Gemeingeist) das Sein

183  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.   727 f.). Insofern bedauert Schleiermacher es, daß das Konzept des Beryll, das diese Probleme vermieden hätte (vgl. oben Abschnitt 6.3.2.3.), sich nicht durchsetzen konnte, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 33. Stunde, Nachschrift Hagenbach (Joachim Boekels: Schleiermacher als Kirchengeschichtler, Schleiermacher-Archiv 13, Berlin und New York 1994, S.  250–252); 39. Stunde (KGA II/6, S.  98); Ueber den Gegensaz, S.  4 07 (KGA I/10, S.  305); Der christliche Glaube2 2, §  96,1; 172,3 (KGA I/13,2, S.  62. 530–532). 184  Ueber den Gegensaz, S.  4 05–408 (KGA I/10, S.  3 04–306). Vgl. Der christliche Glaube2 2, §  171,2 f. (KGA I/13,2, S.  521–524); dazu Brandt: Der Heilige Geist, S.  229–236. 185  Kirchengeschichte 1821/22, 35. Stunde (KGA II/6, S.  8 8 f. Fußtext) 186  Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.  113 f.)

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Christi in ihr.187 Das einzusehen heißt einerseits den Arianismus zurückzuweisen, demzufolge das Göttliche in Christus und der Heilige Geist dem Vater subordinierte Geistgeschöpfe sind, andererseits aber auf philosophisch-metaphysische Spekulationen über das Sein Gottes an sich und das Sein des Sohnes und Heiligen Geistes abgesehen von ihrer Verbindung mit dem Menschen Christus und mit der christlichen Gemeinde zu verzichten. 7.3.2.3. Christologie Den jahrhundertelangen Streit um die Christologie hat Schleiermacher weniger sorgfältig bearbeitet als den trinitarischen, sowohl was die Auswertung der Quellen als auch was die Deutung der verschiedenen Positionen betrifft. Apollinaris stellte, von der katholisch-nicänischen Trinitätslehre und vom platonischen und origenistischen trichotomischen Menschenbild ausgehend, Spekulationen darüber an, wie sich die Einheit von Göttlichem und Menschlichen in der Natur Christi denken lasse. Er meinte, daß zwei vollkommene Dinge nicht eins werden könnten, daß die zweite Person der Trinität aber nicht unvollkommen denkbar sei und daß neben der göttlichen Vernunft als agens der einen Person keine vollkommene menschliche Vernunft denkbar sei. Als Lösung für das Problem der Vereinigung bleibt also: Die Menschheit Christi sei unvollkommen gewesen; die Stelle des Geistes und der Vernunft, mithin das oberste Prinzip des Denkens und Handelns, habe in ihr der Gott-Logos als zweite Person der Trinität ausgefüllt. Die Fleischwerdung habe Apollinaris als schöpferischen Akt der göttlichen Natur denken können. Diese einfache, gegen den Doketismus gerichtete Theorie war nur auf der Grundlage des Nicänums möglich; für die Arianer war der Logos ein niedrigeres, unvollkommenes Gottwesen und hätte sich mit einem menschlichen Organismus nur scheinbar vereinigen können. (Tatsächlich dachten die Arianer hier noch radikaler als Apollinaris, daß nämlich das Logos-Geschöpf sich mit einem seelenlosen menschlichen Leib verbunden habe und in diesem nicht nur wie nach Apollinaris die Funktion des Geistes, sondern auch die vitalen Funktionen der Seele wahrnehme.) Die Lehre des Apollinarismus wurde bald bestritten und verurteilt. Die bei den Gegnern gängige Behauptung, Apollinaris vereine die unvollkommene menschliche Natur so genau mit der göttlichen, daß sie mit dieser wesenseins und gleich ewig sein und folglich im Himmel präexistiert haben und bei der Menschwerdung von dort herabgestiegen sein müsse, sei aber sicher unterschoben.188 In die nächste Runde ging die Kontroverse mit dem nestorianischen Streit. Nestorius ließ sich als neuer Bischof von Konstantinopel in Predigten darüber aus, ob Maria mit Recht Gottgebärerin genannt werde. Den Streit darüber hatte er bei Amtsantritt wohl schon vorgefunden. Nestorius als Schüler der antiochenischen Exegese (vgl. oben Ab187 Vgl. Leben Jesu 1832, 41. und 45. Stunde (SW I/6, S.   287. 290–292. 321 f.); dazu Gräb: Humanität, S.  154. 208. 188  Kirchengeschichte 1821/22, 47. und 52. Stunde (KGA II/6, S.   499–501. 515); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  137; SW I/11, S.  264–268. 334); Kollektaneen 9; 405; 1002; 1006; 1010; 1012 (KGA II/6, S.  144 f. 229. 398–401). – In der kirchlichen Statistik von 1827 sagt Schleiermacher, auch das nicäno-konstantinopolitanische Symbol habe Klauseln, die sich gegen die apollinaristisch-monophysitische Christologie richteten (11. Stunde, KGA II/16, S.  227).

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schnitt 7.3.2.1.) unterschied bei Aussagen auch der Schrift über Christus genau, ob sie sich auf die göttliche oder die menschliche Natur bezögen; letzteres sei etwa gemeint, wenn von Geburt, Wachstum, Ortsveränderung und Tod Christi die Rede sei. Beide Naturen, der Gott-Logos und der Mensch Jesus, hingen aber unzertrennlich aneinander und wirkten alles zusammen. Insofern sei der Ausdruck „Gottgebärerin“ zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht sehr glücklich; besser wäre „Christusgebärerin“.189 Nestorius’ auswärtige Gegner, die bald auf den Plan traten, Cyrill von Alexandrien und Coe­ lestin von Rom, hatten, wie Schleiermacher meint, wenig Interesse an der Dogmatik und ihrer Weiterentwicklung, dafür umso mehr an ihrer kirchlichen Machtstellung. Dogmatisch wollte Cyrill nur bei den (was das christologische Problem betrifft ja recht heiklen) Bestimmungen von Nicäa bleiben und ansonsten von ihm bevorzugte Aus­ drücke wie „Gottgebärerin“ sanktioniert wissen, die auf eine Vermischung der Prädikate beider Naturen hinausliefen, allerdings gar nicht wissenschaftlich-dialektisch, sondern nur rhetorisch waren. Nestorius antwortete auf Cyrills Anathematismen in Gegen­ anathematismen, derselbe könne nicht nach der Natur Gott und Mensch zugleich sein. Zwischen Natur und Person unterschied Cyrill dagegen gar nicht.190 Die äußere Geschichte des Streites nennt Schleiermacher einen „Schandfleck“.191 Der dogmatische Ertrag war gering; Nestorius wurde verurteilt, aber Cyrill mußte sich zu einer Union mit Johannes von Antiochien bequemen, die auf den Unterschied beider Naturen auch nach der Vereinigung und damit im Wesentlichen auf die von Nestorius vertretenen Positionen der Antiochener hinauslief. Ein Resultat des Streites war, daß sich die nestorianische oder chaldäische Kirche unter Bischof Ibas von Edessa von der griechisch-römischen trennte. Sie entwickelte Nestorius’ Lehre weiter und nahm zwei Söhne Gottes an, den Gott-Logos und den Menschen Jesus.192 Eutyches, Abt eines Klosters bei Konstantinopel, sprach einige Jahre danach offen aus, was bei Cyrill mehr angedeutet war: Die beiden Naturen Christi seien durch seine Menschwerdung zu einer Natur zusammengewachsen. Er wurde dafür als Apollinarist angeklagt und verurteilt (und insofern auch mit Recht, als bei ihm nur die menschliche Vernunft den Vereinigungspunkt beider Naturen darstellen könne).193 Nachdem Eutyches zwischendurch von dem gewalttätigen Bischof Dioskur von Alexandria auf der berüchtigten ephesinischen Räubersynode rehabilitiert worden war, erklärte der römische Papst Leo in einem Gutachten, Christus sei wesensgleich mit der Menschheit. Beide Naturen behielten auch nach der Menschwerdung ihre Eigentümlichkeiten, und jede tue das Ihrige in Gemeinschaft mit der anderen; insofern sei Maria auch Gottesmutter, weil in der vollkommenen menschlichen Natur Christi zugleich der wahre Gott geboren werde. Der berühmte Tomus Leonis bringt zwar keine eigentlich neuen Er189  Kirchengeschichte

1821/22, 52. Stunde (KGA II/6, S.  514–516); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  316. 320); Kollektaneen 476–478; 480; 1087 f. (KGA II/6, S.  245–247. 414 f.) 190  Kirchengeschichte 1821/22, 52.–53. Stunde (KGA II/6, S.  516 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  317–320. 322); Kollektaneen 479–481; 1087–1090 (KGA II/6, S.  246 f. 414–416) 191  Kirchengeschichte 1821/22, 53. Stunde (KGA II/6, S.  517) 192 Kirchengeschichte 1821/22, 53. Stunde (KGA II/6, S.   517–519); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  320–323); Kollektaneen 482–491; 1091–1093 (KGA II/6, S.  247–250. 416) 193  Kirchengeschichte 1821/22, 54. Stunde (KGA II/6, S.  519); Kollektaneum 496 (KGA II/6, S.  250 f.)

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kenntnisse, zeigt aber, daß sich das lateinische Abendland die dogmatische Arbeit der Griechen inzwischen selbständig angeeignet hatte.194 Das Konzil von Chalcedon setzte auf der Grundlage des Tomus Leonis eine neue Glaubensformel auf. Sie definierte Christus als eine Person ( ὑπόστασις, πρόσωπον) nicht nur aus, sondern auch in zwei Naturen. Deren Zusammenhang wurde mit vier Prädikaten beschrieben: einerseits ohne die Naturen zu vermischen und zu wandeln (ἀσυγχύτως, ἀτρέπτως ), andererseits ohne sie voneinander zu scheiden und zu trennen (ἀδιαιρέτως, ἀχωρίστως ).195 Die Definition von Chalcedon ist die Grundlage aller nun folgenden orthodoxen Christologie, auch der protestantischen. Sie brachte aber keine Beruhigung, sondern Empörungen unter maßgeblicher Beteiligung der Mönche. Die Gegner beharrten dar­ auf, aus zwei Naturen bedeute nicht in zwei Naturen. Monophysiten konnten immer wieder Bischofs- und Patriarchensitze besetzen; auch die Regierung versuchte wiederholt, das Chalcedonense stillschweigend (Zeno, Anastasius) oder gar offen (Basiliscus) zu suspendieren. Anfang des sechsten Jahrhunderts wurde das Chalcedonense zwar (unter postumer Löschung der nichtchalcedonischen Patriarchen und Kaiser aus den Di­ ptychen) wiederhergestellt. Die Monophysiten hatten sich aber inzwischen so etabliert, daß sie eigene Kirchen in Ägypten, Syrien und Armenien bildeten. (Das erklärt Schleiermacher so, daß die unterdrückten und versteckten Arianer des Ostens zu den Monophysiten übergingen, denn auch die Arianer hatten ja in Christus das Menschliche und das – bei ihnen mindere – Göttliche vermischt.) 196 Für das sechste Jahrhundert sieht Schleiermacher bei den Monophysiten sogar die größere dogmatische Produktivität. Die katholische griechische Kirche habe die Glaubenslehre mangels dialektischer Kraft gar nicht mehr weiterentwickelt, sondern sich bloß um liturgische Formeln gestritten. Das Kolleg von 1825/26 beurteilt aber auch das theologische Niveau der Monophysiten als nicht allzu hoch: Ihre Diskussionen hätten den Kontakt zur Erlösungslehre und zum wirklichen Leben der Kirche völlig verloren.197 Am Drei-Kapitel-Streit um die postume Verurteilung dreier antiochenischer Theologen zum Zweck der Verständigung mit den Monophysiten interessiert Schleiermacher vor allem der Zustand der abendländischen Kirche: Auf der einen Seite steht ein Papst, der zu schwach ist, seine Position gegenüber den dogmatischen Vorgaben des Hofes durchzuhalten und dessen wetterwendisches Wesen schließlich dazu führt, daß sich ganze Provinzen der Kirche von Rom lossagen, auf der anderen der afrikanische Bischof

194 Kirchengeschichte 1821/22, 54. Stunde (KGA II/6, S.   519 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  324–326); Kollektaneen 496–501; 1097 f. (KGA II/6, S.  251 f. 417) 195 Kirchengeschichte 1821/22, 54. Stunde (KGA II/6, S.   520 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  327 f.); Kollektaneum 503 (KGA II/6, S.  253). Schleiermacher meint, ἀτρέπτως schließe ἀσυγχύτως schon ein, weil eine Vermischung auch immer eine Wandlung wäre, und ebenso schließe ἀχωρίστως schon ἀδιαιρέτως ein, weil das erste die räumliche, das zweite jegliche Trennung meint. 196  Kirchengeschichte 1821/22, 54.–55. Stunde (KGA II/6, S.  521 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  328–331. 337); Kollektaneen 505–514; 521; 1100–1102 (KGA II/6, S.  253–256. 259. 418) 197  Kirchengeschichte 1821/22, 54.–55. und 56. Stunde (KGA II/6, S.  522 f. 525); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  330 f. 333–336); Kollektaneen 514; 516; 519; 522; 1106 (KGA II/6, S.  256–259. 419)

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Facundus, der die Zwei-Naturen-Lehre verteidigt, ein Muster sowohl an Gelehrsamkeit als auch Freimütigkeit, der aber in seiner Zeit schon nicht mehr verstanden wird.198 Die letzte Runde dieser Kontroverse, die monenergetischen und monotheletischen Streitigkeiten des siebten Jahrhunderts, hat Schleiermacher auffallend detailliert exzerpiert und beschrieben. Sie begann wieder mit dem Wunsch eines Kaisers, sich mit den Monophysiten zu einigen. Der dogmatische Streitpunkt war die Frage, ob man in Christus, um die Einheit seiner Person aufrechtzuerhalten, von einer beiden Naturen gemeinsamen Wirksamkeit und Willensrichtung reden müssen, oder ob die Annahme eines gemeinsamen Willens eine apollinaristische Vermischung der Naturen wäre, weil sie die Integrität der menschlichen Tätigkeiten nicht festhalten kann und weil eine zusammengesetzte Willensrichtung auch einen zusammengesetzten Wollenden voraussetzt. Am Ende wurde der Monotheletismus verurteilt. Das Abnehmen der geistigen Kraft zeigt sich darin, daß beide Seiten versuchten, ihre Position auf die Autorität der Tradition zu stützen.199

In die Darstellung streut Schleiermacher eigene Bemerkungen und Reflexionen ein. Das Hauptbild des Nestorius für die beiden Naturen, daß die Gottheit in der Menschheit als in einem Tempel wohne, hält Schleiermacher für durchaus angemessen und findet es auch in einem Weihnachtslied des pietistischen Dichters Johann Anastasius Freylinghausen wieder.200 Die Verurteilung des Eutychianismus erklärt er dagegen für berechtigt: Es sei ein Anliegen der christlichen Frömmigkeit, daß Christus Gott sei und daß er Mensch sei. Die Lehre von einer aus Gottheit und Menschheit zusammengewachsenen Natur in Christus verletze beiderlei Anliegen. Daß Eutyches aber über Gott gar nicht als über eine Natur reden wollte, sei löblich, denn bei Gott könne man tatsächlich von keiner Natur reden (denn nur das Begrenzte kann Objekt des menschlichen Erkennens sein und als Natur beschrieben werden). Auf den fleischgewordenen Christus dagegen müsse man die Kategorie Natur anwenden, sonst ginge sein lebendiges Verhältnis zur menschlichen Natur, die er erlösen solle, verloren.201 Eine monotheletisch aufgefaßte Personeneinheit würde wiederum dazu führen, daß die Zwei-Naturen-Lehre von Chalcedon zu einer bloßen Abstraktion des menschlichen Verstandes würde, die Eigenständigkeit der menschlichen Funktionen und Tätigkeiten in Christus also tatsächlich verlorenginge.202 Den 198 Kirchengeschichte 1821/22, 55. Stunde (KGA II/6, S.   523 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  331–333); Kollektaneen 517 f. (KGA II/6, S.  257 f.) 199 Kirchengeschichte 1821/22, 58.–59. Stunde (KGA II/6, S.   531–533); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  353–364; KGA II/6, S.  734 f.); Kollektaneen 586; 1128 f. (KGA II/6, S.  271–276. 423 f.) 200  Kollektaneum 1092 (KGA II/6, S.   416); vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  319). 201  Kirchengeschichte 1821/22, 54. Stunde (KGA II/6, S.  519); Kollektaneum 496 (KGA II/6, S.  251); vgl. Dialektik 1822, 41.–42. Stunde (KGA II/10,1, S.  255 f.; II/10,2, S.  531– 537). 202  Kollektaneum 586 (KGA II/6, S.  272 f.). So sei auch die Glaubensformel des postum verdammten Papstes Honorius apollinaristisch, weil sie das von Paulus im Menschen aufgefundenen doppelte Gesetz (Röm 7,23) auf die beiden Naturen Christi verteilen will und so

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Dyotheletismus sieht Schleiermacher als Vorläufer der Leibnizschen Theorie von der prästabilierten Harmonie: Zwei Subjekte (Monaden) harmonieren in ihrer Wirkung nach außen, so daß es so aussieht, als bestünde zwischen ihnen eine Abhängigkeit. Tatsächlich wirkten sie aber ganz eigenständig und unabhängig voneinander; ihre Harmonie verdanke sich (wie bei zwei Uhren, die unabhängig voneinander dieselbe Zeit anzeigten) ihrer ursprünglichen Einrichtung durch Gott.203 – Im Kolleg von 1825/26 sieht Schleiermacher in einer von dem zuletzt auch verurteilten Monenergeten Theodor von Pharan in die Diskussion eingebrachten Formel einen Kompromiß, auf den sich beide Seiten hätten einigen können: Es sei eine Wirkung beider Naturen, ihr Künstler und Erschaffer sei Gott, ihr Organ aber die Menschheit. Nur müßte dabei das Or­g an nicht ohne eigenen Antrieb und eigenes νοερόν gedacht werden, sondern so, daß es sich selbsttätig dem göttlichen Willen unterordnet; ob man dies dann als zweiten Willen oder begrifflich anders bezeichne, sei dann nur eine philosophische Frage, also kein Unterschied im Glauben.204 Die Dogmenentwicklung wird insgesamt vom Niedergang der griechisch-römischen Welt affiziert. Schleiermacher bemerkt gelegentlich, daß einen wirklichen Einfluß auf die Lehrentwicklung nur dasjenige ausübe, was wirklich aus dem christlichen Prinzip heraus motiviert sei, daß aber eben dies Produktive im Laufe dieser Periode zurückgehe und an seine Stelle zwei unproduktive, daher im Resultat bedeutungslose Faktoren träten: einerseits die persönlichen Verhältnisse der Beteiligten, also Ehrgeiz, Kirchenpolitik, Parteiwesen, bloße Rechthaberei, persönliche Animositäten usw., andererseits die bloße Wiederholung und Reproduktion des schon Festgesetzten.205 Doch kann er den monophysitischen, monotheletischen und semipelagianischen (vgl. unten Abschnitt 7.3.2.4.) Streitigkeiten trotzdem zubilligen, daß in ihnen und durch sie die Lehre so weit zum Abschluß gekommen sei, wie es eben in dieser Periode möglich gewesen sei.206

die niedere Funktion der Seele der menschlichen Natur, die höhere aber nicht dem menschlichen Geist, sondern dem Gott-Logos zuschreibe. 203  Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde (KGA II/6, S.  533). Vgl. dazu auch Schleiermachers Leibniz-Exzerpte von 1797/98 (KGA I/2, S.  87 f. 90). 204  Kirchengeschichte 1825/25 (SW I/11, S.  353 f.; KGA II/6, S.  734); Kollektaneum 586 (KGA II/6, S.  273) 205  Kirchengeschichte 1821/22, 7., 32., 45., 52. und 53. Stunde (KGA II/6, S.  2 6. 80. 113. 486. 514. 517); Kirchengeschichte 1825/25 (KGA II/6, S.  735); Kollektaneen 586; 588 (KGA II/6, S.  272. 274. 276. 278 f.); Kurze Darstellung 2, §  179 (KGA I/6, S.  389). Vgl. oben Abschnitt 3.1. und 4.3.4. 206  Kirchengeschichte 1825/25 (KGA II/6, S.  734 f.)

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7.3.2.4.  Erlösung und Sünde Der dritte Themenkreis unterscheidet sich von den ersten nicht nur dadurch, daß bei ihm erstmals der Westen die geistige Führung hat. Nach der in der theologischen Enzyklopädie für die Lehrentwicklung getroffenen Differenzierung zwischen der mehr inneren und der mehr äußeren, systematischen Lehrentwicklung (vgl. oben Abschnitt 4.3.4.) gehört die Sünden- und Erlösungslehre – anders als Trinitätslehre und Christologie – auf die innere Seite, die Seite der Betrachtung des christlichen Selbstbewußtseins. Sie beruht weniger auf einem Fortschritt im wissenschaftlichen Denken als auf einem höheren Niveau der Selbstreflexion, wie es bei Macarius und besonders Augustin zu finden ist (vgl. oben Abschnitt 7.2.4.). Über den Manichäismus hat Schleiermacher neben Schröckh verhältnismäßig viele Quellen ausgewertet (vgl. oben Abschnitt 7.1.2.) und sich ein Bild von einer Weltanschauung gemacht, in deren Mittelpunkt die Frage nach der Ursache des Übels und der Dualismus zweier Grundwesen steht.207 Daraus folgen eigenartige, mythologische Vorstellungen von der Weltschöpfung und Erlösung,208 der Glaube an eine äußere, naturgegebene Determination des Willens209 und – wo ein stärkerer christlicher Einfluß vorliegt – eine sabellianische oder auch gnostisch-emanatorische Auffassung der Trinität und eine doketische Christologie.210 Schleiermacher meint, daß der Manichäismus (trotz Nachrichten, die besagen, Mani sei christlicher Presbyter gewesen) nicht aus dem Christentum hervorgegangen sei, sondern eine Mischung von Gnostizismus und persischem Zoroastrismus mit Motiven des Christentums darstelle.211 Für das Ethos der Manichäer, für ihre Ablehnung des Alten Testaments und ihre freie Kritik am Neuen Testament äußert Schleiermacher gewisse Sympathien.212 Die Polemik gegen den Manichäismus griff zunächst die Vorstellung von einem zweiten, bösen Prinzip neben Gott an. Titus von Bostra machte geltend, daß es bei zwei Prinzipien noch ein drittes geben müsse, was sie voneinander scheide und fernhalte, da sie einander sonst sofort neutralisiert hätten; er dachte die Prinzipien also räumlich und 207 Kirchengeschichte 1821/22, 47.–48. Stunde (KGA II/6, S.   501–503); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  138; SW I/11, S.  279. 281–283); Kollektaneen 384; 407; 413; 1040 f.; 1047; 1058 (KGA II/6, S.  223. 230. 232. 405–407. 409) 208 Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde (KGA II/6, S.   502); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  138 f.; SW I/11, S.  282–285); Kollektaneen 384; 407; 1037; 1040 (KGA II/6, S.  223. 230. 405) 209 Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde (KGA II/6, S.   503); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  285 f.); Kollektaneen 383; 385; 407 (KGA II/6, S.  223 f. 230) 210 Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde (KGA II/6, S.   502); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  138 f.; SW I/11, S.  284 f.); Kollektaneen 195; 384; 407; 1039; 1046; 1055 (KGA II/6, S.  184 f. 223. 230. 405. 407 f.) 211 Kirchengeschichte 1821/22, 47. Stunde (KGA II/6, S.   501 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  138. 730 f.; SW I/11, S.  279–281); Kollektaneen 117; 1042 f.; 1056 (KGA II/6, S.  166. 406. 408) 212  Kirchengeschichte 1821/22, 42. und 48. Stunde (KGA II/6, S.  106. 502); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  139. 731; SW I/11, S.  286 f.); Kollektaneen 384; 1038; 1044; 1050–1053 (KGA II/6, S.  223. 405–408). Vgl. auch die Ausführungen zu den Paulicianern (Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  365; Kollektaneum 602, KGA II/6, S.  282).

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in der Welt. Gregor von Nyssa (tatsächlich Johannes von Cäsarea) versuchte, in Syllogismen zu beweisen, daß ein böses Prinzip nicht denkbar sei: Es müßte dem anderen Prinzip in allem entgegengesetzt sei, wäre also dieses seiend, so jenes nichtseiend; Gegensätze höben einander auf, und nichts könnte unzerstörbar sein, dem am Anfang etwas entgegengesetzt sei, und was (wie das Böse) vernichtet werden könne, könne nicht ungeworden sein. Der Alexandriner Didymus wiederholte, was Origenes gegen den Gno­ stizismus gesagt hatte: Das Böse sei etwas Sekundäres gegenüber dem guten Prinzip und bestehe im Mißbrauch der Freiheit.213 Darauf insistierte auch Augustin, der den Manichäern selbst neun Jahre angehört hatte: Die Natur des Menschen sei nicht böse; Gutes wie Böses kämen aus der Einwilligung der Seele und seien nur durch sie möglich. Die Manichäer, die im Menschen zwei Seelen annahmen, die sich jeweils ihrer Natur nach notwendig zum Guten bzw. zum Bösen neigten, erwiderten, wenn Gott dem Menschen die Möglichkeit zur Sünde gebe, dann wolle er auch das Böse. Dies, sagt Schleiermacher, sei auch nie ganz zu widerlegen.214

Obwohl der Manichäismus seiner Genese nach nicht aus dem Christentum kommt, kann Schleiermacher ihn eine „eigenthümliche Ausartung des Christenthums“ nennen. Er meint damit eine strukturelle Affinität des Christentums zu dualistischen Ausartungen: „wenn wir uns erlösungsbedürftig fühlen und wir uns sehnen nach einer höheren Gemeinschaft, so liegt doch darin, daß es eine andere Gemeinschaft gebe, die denn auch auf ein anderes Princip zurückginge. Manichäische Andeutungen finden sich daher immer wieder im Einzelnen.“215

Daß es also zwischen Manichäismus und Christentum zu heftigen Begegnungen kam, zu Kontroversen, aber auch Vermischungen, erklärt sich aus dem Wesen des Christentums selbst und der ihm innewohnenden Spannung, einerseits alles auf Gott zurückzuführen, andererseits im Menschen die Sünde und die Notwendigkeit der Erlösung zu sehen, oder anders ausgedrückt: zwischen dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit von Gott und dem Gefühl der Erlösung von einer Verstrickung ins Böse.216 Schon in der ersten Periode stritten sich gnostische Dualisten und Anhänger der göttlichen Monarchie darüber. – Einen speziellen Anknüpfungspunkt im Christentum habe das Manichäische in der Vorstellung der Asketik gehabt, daß der menschliche Leib und die sinnlich-materielle Welt das Prinzip der Versuchung und Sünde seien.217

213 Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde, (KGA II/6, S.   502 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  288 f.); Kollektaneen 117; 282; 380; 382; 407; 409; 1036; 1041; 1045 (KGA II/6, S.  166. 204. 222. 230. 231. 405–407) 214 Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde, (KGA II/6, S.   503); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  290–292); Kollektaneen 383; 385; 1046 (KGA II/6, S.  223 f. 407) 215  Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde (KGA II/6, S.  503) 216  Kirchengeschichte 1821/22, 47. und 49. Stunde (KGA II/6, S.  501. 504 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  138; SW I/11, S.  281–283); Kollektaneum 1042 (KGA II/6, S.  406) 217  Kirchengeschichte 1821/22, 42. und 47. Stunde, (KGA II/6, S.  106. 501); Kirchenge-

7.  Die zweite Periode

299

Die dem Manichäismus entgegengesetzte Einseitigkeit in Schleiermachers Typologie der Ketzereien ist der Pelagianismus: Während für den Manichäismus ein Teil der Wirklichkeit so schlecht ist, daß er aus dem göttlichen Wirkungsbereich herausfällt, denkt der Pelagianismus die Hemmung des Gottesbewußtseins im Menschen so gering, daß dieser sie aus eigenen Kräften überwinden kann und der Erlösung von außen im Grunde nicht bedarf.218 „Die Manichäer greifen die Einheit des Abhängigkeitsgefühls an um die Duplicität des christlichen Typus zu erhalten. Die Pelagianer erklären diese Duplicität für Schein um jene Einheit zu erhalten.“219

Wenn es im Wesen des Christentums begründet ist, daß es je und je zu manichäisch-dualistischen Ausartungen kommt, so gilt dasselbe für den Pelagianismus. Das geschichtliche Phänomen des Pelagianismus hängt nicht an der Person des Pelagius, nach der es benannt ist.220 Speziell wenn der manichäischen Vorstellung, daß die Natur den Willen zum Bösen prädestiniere, entgegengehalten wurde, die Natur sei gut, und der Wille habe sehr wohl die Freiheit der Wahl zwischen gut und böse, war es fast unmöglich, den Pelagianismus zu vermeiden.221 Eine dogmatische Definition darüber, wieviel Freiheit der menschliche Wille habe und was das Werk der Gnade sei, war zunächst nicht als notwendig empfunden worden. „Im christlichen BeWußtsein unmittelbar lag keine Veranlassung zu Trennung und die Reflexion mußte erst auf einen gewissen Punkt gekommen sein.“222

Noch Origenes stand den durch den Pelagianischen Streit aufgeworfenen Alternativen indifferent gegenüber. Daß im Abendland der Pelagianismus schließlich doch bestritten wurde, hänge nicht, wie oft behauptet, an der Persönlichkeit Augustins; das Bedürfnis nach einer dogmatischen Klärung folge vielmehr der inneren Logik, den die Reflexion des eigenen Selbstbewußtseins und die Spekulation über das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Wirksamkeit in ihm nehmen mußte.223 schichte 1825/26 (KGA II/6, S.  138; SW I/11, S.  281); Kollektaneum 1042 (KGA II/6, S.  4 06) 218 Der christliche Glaube2 1, §   22,2 (KGA I/13,1, S.   157); vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde (KGA II/6, S.  504). 219  Kollektaneum 414 (KGA II/6, S.  2 32) 220  Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde (KGA II/6, S.   503 f.). – Diese Einsicht war nicht neu: Schon fast 100 Jahre zuvor erschien Johann Georg Walch: Dissertatio de Pelagianismo ante Pelagium ( Jena 1738); in ihr hatte der ältere Walch den Grundirrtum des Pelagianismus bei Clemens von Alexandrien, Origenes und anderen gefunden, ja auch in der griechischen Philosophie und im frühen Judentum. 221 Kirchengeschichte 1821/22, 48. Stunde (KGA II/6, S.   504); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  731; SW I/11, S.  295 f.); Kollektaneen 409 f.; 1083 (KGA II/6, S.  231; 413) 222  Kollektaneum 416 (KGA II/6, S.  2 32) 223  Kirchengeschichte 1821/22, 49. Stunde (KGA II/6, S.  504 f.)

300

C.  Materialer Teil

Bei Pelagius, mit dem der Streit anfängt, sieht Schleiermacher neben der Opposition gegen den Dualismus auch noch ein monastisch-asketisches Motiv: Der Mensch soll zu geistlichen Leistungen angehalten werden; zusätzlich wird zwischen einer für alle verbindlichen Sittlichkeit und einer noch höheren, nur angeratenen Vollkommenheit unterschieden. Bis zur Tiefe des christlichen Bewußtseins seien Pelagius und seine Freunde gar nicht gedrungen, ihre Lehren seien bloß eine triviale Moralphilosophie. Zugespitzt könnte man sagen, daß der Pelagianismus als unterentwickeltes Sünden- und Erlösungsbewußtsein eben die Erbsünde selbst sei.224 Die göttliche Gnade besteht für die Pelagianer einerseits in der geschöpflichen Ausstattung des Menschen mit Erkenntnis des sittlich Guten, andererseits auch in der durch die Taufe vermittelten Vergebung und Stärkung des guten Willens; daß einer gerecht werde und der andere nicht, habe seine Ursache nicht im göttlichen, sondern im menschlichen Willen. Mindestens theoretisch könne ein Mensch auch ohne die Erlösung sündlos leben. – Letztendlich konnten die Pelagianer nicht deutlich machen, worin der qualitative Unterschied des Erlösungswerkes Christi gegenüber den durch die Natur gegebenen Möglichkeiten des Menschen liegt.225

Augustins (zugegebenermaßen sehr eiferndes) Auftreten gegen die Pelagianer ging aus seiner tiefen Erfahrung dessen hervor, was das Christentum sei. Augustin kannte an sich selbst beide Zustände, die unerlöste Bildung und Tugendhaftigkeit und die Erlösung. Daraus erwuchs ihm eine „eigne großartige geschichtliche Ansicht des Christenthums“: Das Erlösungswerk Christi bedeute eine allgemeine Restitution des ganzen menschlichen Geschlechts. Der unerlöste Mensch könne das Gute eben nicht vollbringen; ihm fehle dazu nicht nur die Erkenntnis, wie die Pelagianer meinten.226 Um seine religiöse Erkenntnis zu stützen, stellte Augustin nun aber Theorien auf, die von seinen Gegnern teilweise zu Recht angegriffen wurden. So erklärte Augustin die natürliche Ausstattung des Menschen, besonders den Geschlechtstrieb, für sündig; „dies ist einer von den Fehlern, die durch ihn in den Streit gebracht sind.“227 Die Allgemeinheit der menschlichen Sünden- und Todesverfallenheit leitete Augustin aus der Sünde Adams, des Urmenschen, ab: Die habe nicht bloß ein fatales Beispiel gegeben, sondern habe sich auf die Nachkommen fortgepflanzt, deren Seelen (nach Röm 5,12) alle schon in Adam enthalten gewesen seien. Gegen den Manichäismus wie-

224 Kirchengeschichte 1821/22, 48.–49. Stunde (KGA II/6, S.   503–505); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  295); Kollektaneen 412 f.; 427; 1063 f. (KGA II/6, S.  231 f. 235. 409) 225 Kirchengeschichte 1821/22, 49. Stunde (KGA II/6, S.   505 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  293 f. 340); Kollektaneen 412; 420; 423; 426; 429; 435 f.; 445 (KGA II/6, S.  231–237. 239) 226 Kirchengeschichte 1821/22, 49. Stunde (KGA II/6, S.   506 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  296); Kollektaneen 415; 442; 1068–1070 (KGA II/6, S.  232. 238. 410); vgl. Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, in: Theologische Zeitschrift 1 (1819), S.  1–119, hier 2 f. (KGA I/10, S.  148). 227 Kirchengeschichte 1821/22, 49. Stunde (KGA II/6, S.   505); vgl. 50. Stunde (KGA II/6, S.  510); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  302); Kollektaneen 437 f. (KGA II/6, S.  237 f.)

7.  Die zweite Periode

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derum macht Augustin geltend, daß die menschliche Natur nicht an sich schlecht sei. Im Urstand habe der Mensch die Fähigkeit zum wahrhaft Guten gehabt, er habe sie aber verloren, und zwar durch freien Willensentschluß.228 Die Gegner fanden diese Erbsündenlehre gleichwohl manichäisch, weil sie trotz allem darauf hinauslaufe, daß die Natur selbst verdorben werden könnte; die Theorie von einer direkten Abstammung der Seelen von denen der Voreltern verspotteten sie als Traduzianismus.229 Schließlich blieb noch die Frage, warum, wenn der Mensch nur durch göttlichen Beistand zum Guten gelangen kann, dieser Beistand nicht allen zuteil wird. Augustin konnte und wollte im Menschen selbst keinen Bestimmungsgrund dazu finden, weil ein solcher ja bedeutete, daß sich der menschliche Wille doch schon ohne Gottes Beistand auf das Gute hin ausrichten könnte. So kam er zur Lehre von Gottes Vorherbestimmung auch zum ewigen Tod, die von uns nicht erforscht werden könne, die aber notwendig gerecht sein müsse. Heilsnotwendig sei die Taufe, auch für kleine Kinder. Die Kindertaufe wollten auch die Pelagianer nicht preisgeben und machten verschiedene Versuche, sie zu begründen.230

Daß Augustin alles Gute konsequent auf Gottes Gnade zurückführt und jede menschliche Kooperation ausschließt, lobt Schleiermacher als dem christlichen Gefühl entsprechend. Seine Theorie von einer Prädestination zum Schlechten verletze das christliche Gefühl aber: Der vornehmste christliche Glaubenssatz ist ja für Schleiermacher die universale Heilsmittlerschaft Christi; wenn das Heil auch nicht allen zur gleichen Zeit mitgeteilt wird, so ist doch niemand für immer von ihm auszuchließen. Weiter widerspräche das Bewußtsein davon, daß der eine (und wohl größere) Teil der Menschheit ewig verdammt wäre, dem menschlichen Gattungsgefühl und bedeutete damit auch für die Geretteten eine Trübung ihrer Seligkeit. Die Aufspaltung der Menschheit in zwei Teile, deren einen das Erlösungswerk Christi nicht erreicht, wäre im Grunde manichäisch.231 Origenes habe besser als Augustin in den göttlichen Strafen keine endgültigen Urteile gesehen, sondern Läuterungen zum Guten.232

228 Kirchengeschichte

1821/22, 49.–50. Stunde (KGA II/6, S.  506–508); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  297. 300 f. 304); Kollektaneen 298; 412; 425 f.; 1073 f. (KGA II/6, S.  207. 231. 234 f. 411 f.) 229  Kirchengeschichte 1821/22, 49.–50. Stunde (KGA II/6, S.  504 f. 507 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  295 f. 299 f.); Kollektaneen 418; 426; 445 (KGA II/6, S.  233. 235. 239) 230  Kirchengeschichte 1821/22, 50. Stunde (KGA II/6, S.  507–510); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  298. 300–303); Kollektaneen 424; 431; 440 f.; 443; 1060–1062 (KGA II/6, S.  234. 236. 238 f. 409). – Vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 21. Stunde (SW III/4,1, S.  174): „Augustinus gerieth, besonders weil das höchste im Menschen ihm als eine Willkühr in Gott erschien, in vertheidigende Bestrebungen, mit denen er nicht zu Stande kam, aber es lag eine genauere und klarere Einsicht zum Grunde.“ 231 Kirchengeschichte 1821/22, 50. Stunde (KGA II/6, S.   509); vgl. Ueber die Lehre, S.  103–114 (KGA I/10, S.  212–219); Der christliche Glaube2 2, §  117 f.; 120, Zusatz; 163, Zusatz (KGA I/13,2, S.  244–257. 275 f. 490–492). 232  Kirchengeschichte 1821/22, 50. Stunde (KGA II/6, S.  509); Kollektaneum 168 (KGA II/6, S.  179)

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C.  Materialer Teil

Schleiermacher erzählt den Verlauf des Streites von den Anfängen in Afrika über die Händel in Palästina bis zur afrikanischen Verurteilung des Pelagianismus und ihrer Durchsetzung in Rom und bei der weltlichen Gewalt.233 Dabei fragt er auch, warum die griechische Kirche für den Streit so wenig Interesse und Verständnis zeigte und sich etwa bei Johannes Chrysostomus Äußerungen finden, auf die die Pelagianer sich berufen konnten. Die Griechen seien keine Pelagianer gewesen, meint Schleiermacher, sondern bloß in dieser Frage indifferent. Er erklärt das mit der verschiedenen geistigen Prägung der Lateiner und Griechen: Bei jenen habe die stoische Philosophie geherrscht und damit die Frage nach dem Willen und der persönlichen Freiheit, bei diesen dagegen die platonische und aristotelische, die daran wenig Interesse gehabt habe. Und die Kommunen der Griechen seien traditionell republikanisch verfaßt gewesen, die Lateiner dagegen hätten in der Monarchie gelebt; daraus zieht Schleiermacher die zunächst etwas überraschende, allerdings mit seiner Staatslehre durchaus übereinstimmende Folgerung, bei den republikanischen Griechen habe der Einzelne sich in das Allgemeine eingeordnet und nach seinem individuellen Willen weniger gefragt, während in der römischen Monarchie das Individuum sich seiner selbst als in Opposition zum Allgemeinen stehend bewußt wurde.234 An anderer Stelle heißt es, die Abendländer hätten sich mehr für das Praktische interessiert, die Morgenländer mehr für Spekulationen über das Göttliche, die ihren Sitz im Leben in Liturgie und Kultus haben.235 Obwohl der Pelagianismus verurteilt wurde, konnte sich Augustins Lehre im Westen nicht ganz durchsetzen. Besonders unter den gallischen Mönchen wurde versucht, die Härten der doppelten Prädestination auf einem Mittelweg zu vermeiden, dem später sog. Semipelagianismus: Gottes Gnade und der menschliche freie Wille zum Guten wirkten zusammen. Der Wille sei auch durch die Sünde Adams nicht ganz getilgt, und die Gnadenwahl sei keine reine Willkür: Gott ordne es so, daß denjenigen die Gnade – also vor allem die Taufe – zuteil werde, von denen er vorausgesehen habe, daß sie glauben und im Glauben verharren würden. Der Semipelagianismus wurde zwar im sechsten Jahrhundert, mitten im Niedergang und in den Wirren der Völkerwanderung, verurteilt, kam dann aber wieder hervor und wurde im Mittelalter zur herrschenden Anschauung.236 233 Kirchengeschichte 1821/22, 51. Stunde (KGA II/6, S.   511 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  292–294. 297–300); Kollektaneen 419; 423; 427–435; 1059; 1065; 1067; 1071 f.; 1075 (KGA II/6, S.  233–237. 409–412) 234 Kirchengeschichte 1821/22, 51. Stunde (KGA II/6, S.   512 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  305 f.; KGA II/6, S.  732); Kollektaneen 1076 f.; 1083 (KGA II/6, S.  412 f.); Kirchliche Statistik 1827, 11. Stunde (KGA II/16, S.  229). Vgl. zu der Auffassung, in der frühen Demokratie sei die Differenz zwischen allgemeinem und privatem Interesse noch nicht voll zum Bewußtsein gelangt, Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, in: Abhandlungen der philosophischen Klasse der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften aus den Jahren 1814–1815, Berlin 1818, S.  17–49, hier 29–31. 34 f. (KGA I/11, S.  107–109. 112 f.); Staatslehre 1817, 18. und 34. Stunde (KGA II/8, S.  267–271. 305); Pädago­ gik 1820/21, 19. Stunde (hg. von Christiane Ehrhardt und Wolfgang Virmond, Berlin und New York 2008, S.  121 f.). Auch den Beitrag der neubekehrten Völker zum ­semipelagianischen Streit deutet Schleiermacher anhand ihres politisch-gesellschaftlichen Zustandes, vgl. Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  341 f.); Kollektaneum 453 (KGA II/6, S.  241). 235  Kirchengeschichte 1821/22, 55. Stunde (KGA II/6, S.  524) 236  Kirchengeschichte 1821/22, 51.–52. Stunde (KGA II/6, S.  513 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  338–342); Kollektaneen 444; 448–455; 1078; 1107 f. (KGA II/6, S.  239–242. 412. 419 f.)

7.  Die zweite Periode

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Die Vorstellung von einer Erwählung ex praevisa fide läßt sich schon bei Didymus belegen; 237 Schleiermacher denkt bei ihr wohl auch an den Gegensatz der lutherischen Dogmatik gegen die reformierte Prädestinationslehre.238 Er selbst lehnt es (mit Calvin) ab, bei Gott zwischen Vorauswissen, passiver Zulassung und wirksamer Vorherbestimmung zu unterscheiden. Der Knoten der Prädestinationslehre und überhaupt die Schwierigkeit, die Allwirksamkeit Gottes bei der Schöpfung und Erlösung und die Existenz des Bösen miteinander zu vereinbaren (also das Problem, das den Ausartungen des Christentums zur manichäischen und pelagianischen Seite zugrunde liegt, vgl. oben), löst sich für ihn nur durch die Annahme eines das Ganze umfassenden, schaffenden und ordnenden Heilsratschlusses Gottes, in den auch die Sünde und die für die Entwicklung notwendigen Gegenwirkungen eingeschlossen sind.239

7.4.  Bedeutende Einzelgestalten Die zweite Periode der Kirchengeschichte ist die Periode der Kirchenväter, also derjenige Zeitraum, in dem die Entwicklung durch das Wirken herausragender Männer vorangebracht wird.240 Trotzdem bleiben viele dieser glänzenden Gestalten in Schleiermachers Vortrag eher blaß; dazu gehören die drei großen Kappadozier und Bonifatius. Schleiermachers Ideal eines Kirchenfürsten meint die Vereinigung von religiösem und kirchlichem Interesse einerseits und wissenschaftlichem Geist andererseits, beides im höchsten Grade und beides im möglichsten Gleichgewicht für Theorie und Praxis. Dem Ambrosius kann er eine „ächt kirchliche Standhaftigkeit die sich nicht den Umständen fügt“ nicht absprechen; löblich sei auch, daß er Glaubensfragen nicht von weltlichen Richtern habe entscheiden lassen wollen, sondern nur von Kirchenversammlungen. Daß er für seine redlichen Ziele kämpfte, indem er das Volk mit recht dubiosen Wunder- und Reliquiengeschichten „enthusiasmirte“, sei für die damalige Zeit begreiflich.241 Wie er, so gehört auch Athanasius eher zu den Praktikern (Klerikern) als zu den Theoretikern (Theologen): Aus guter christlicher Überzeugung heraus verficht er eine 237  Kirchengeschichte 1821/22, 51. Stunde (KGA II/6, S.  513); Kollektaneum 280 (KGA II/6, S.  204) 238 Vgl. Ueber die Lehre, S.   6–18 (KGA I/10, S.  151–159); Der christliche Glaube2 2, §  119,3; 120,2 (KGA I/13,2, S.  263 f. 270 f.). – Zur Vorstellung von einer Erwählung ex praevisa fide und die Frage, wie weit sie in der lutherischen Orthodoxie tatsächlich im synergi­ stischen, semipelagianischen Sinne gemeint ist, vgl. Rune Söderlund: Ex praevisa fide, Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums, Neue Folge 3, Hannover 1983, bes. S.  65–151. 239  Ueber die Lehre, bes. S.  18–21. 42–49. 62–109 (KGA I/10, S.  159–161. 174–179. 187– 216); Der christliche Glaube2 2, §  117,4; 119 f. (KGA I/13,2, S.  247 f. 258–277) 240  Kirchengeschichte 1821/22, 7. und 42. Stunde (KGA II/6, S.  104. 485); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697) 241  Kirchengeschichte 1821/22, 45. Stunde (KGA II/6, S.  114); Kollektaneen 348; 398; 400 (KGA II/6, S.  216. 227).

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C.  Materialer Teil

bessere Theorie als seine arianischen Gegner, ist dabei aber allzu leidenschaftlich, ja demagogisch; an Gewandtheit und denkerischer Klarheit ist ihm sein abendländischer Mitstreiter Hilarius überlegen.242 Epiphanius ist ein bornierter Ketzerjäger, und Theophil von Alexandrien schrickt im Kampf für seine kirchenpolitischen Interessen auch vor Intriguen und Rechtsbrüchen nicht zurück. Ihnen gegenüber steht Johannes Chrysostomus, das reine Ideal eines Bischofs, der für das Ansehen und die Freiheit der Kirche und ihres Amtes lebt, von rechtlicher Gesinnung, in seinen Urteilen unbestechlich und freimütig, ein treuer und gewissenhafter Exeget und Prediger. Zeitbedingt ist seine Rhetorik nicht ohne barocken Schwulst; vom Priestertum und dem Wert der Enthaltsamkeit denkt er allzu groß.243 Über den Irrtümern seiner Zeit stand Synesius: Er übernahm das ihm angetragene Bistum von Ptolemais nur, als ihm versichert worden war, daß er nicht alle kirchlichen Dogmen vertreten müsse (Schleiermacher nennt das „aufrichtige Heterodoxie“) und seine Ehe weiterführen dürfe. „Wahren Kirchensinn“ zeigt er, als er Theophil zur Milde gegen Johannes Chrysostomus ermahnt und den Statthalter wegen dessen Grausamkeit aus der Kirchengemeinschaft ausschließt.244 Die bedeutendsten Päpste der Periode sind Leo der Große und Gregor der Große. Beide setzen sich für Macht und Ansehen des römischen Stuhls ein, doch geht ihr Blick darüber hinaus: Leo beteiligt sich kompetent am christologischen Streit. Er ist auch ein eifrigerer Prediger als seine Vorgänger; allerdings stellt er die christlichen Kleriker und den Gottesdienst in die Kontinuität des alttestamentlichen Priestertums und Opferkultes und trägt so zum Übergewicht des Zeremonienwesens gegenüber der Lehre bei. Durch seine Abschaffung der öffentlichen Buße legte er den Grundstein zur Privatbeichte und damit auch zum Ablaßwesen. – Gregor streitet mit Konstantinopel über den Vorrang und mischt sich in die Angelegenheiten außerhalb seines Sprengels ein, aber er bringt auch weitsichtig die Mission außerhalb des Kaisertums voran. Als Schriftausleger ist er trotz seinem Ruf als Gelehrter bloß ein Kind seiner Zeit; er befördert auch mancherlei Aberglauben und bringt die Vorstellung vom Fegefeuer auf, aber er äußert sich etwa in der Bilderfrage verständig. Bei ihm finden sich schon Ansätze für die auch politische Herrschsucht der Päpste, er ist aber zugleich ein umsichtiger Verwalter und Mehrer des kirchlichen Grundbesitzes. Als Liturgiker bereichert Gregor den kirchlichen Kultus und Festkalender und bemüht sich, die römische Form überall durchzusetzen; etliche spätere Mißbräuche wie die stille Messe und die Transsubstantiation sind ihm noch unbekannt.245 Zu den bemerkenswerten Gestalten auf der mehr theoretischen, theologischen Seite gehören Apollinaris (der bestreitet, daß Maria und Joseph nach der Geburt Christi eine „Josephsehe“ geführt hätten), Theodoret und Facundus. Ihnen allen gesteht Schleiermacher philologische Bildung und Freisinnigkeit in ihren Forschungen und Urteilen 242 

Kirchengeschichte 1821/22, 38. und 45. Stunde (KGA II/6, S.  94. 113 f.) 1821/22, 46. Stunde (KGA II/6, S.   117); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  309–314; KGA II/6, S.  731 f.); Kollektaneen 363; 366; 368–376; 1079 f. (KGA II/6, S.  219–221. 412 f.). Über den Sturz des Johannes Chrysostomus sagt Schleiermacher: „Man kann hier recht sehen, wie, wenn ein tüchtiger Ränkeschmidt [Theophil], ein alter Schwachkopf [Epiphanius] und eine gekränkte Frau [Kaiserin Eudoxia] zusammenkommen, alles verloren ist.“ (Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  311) 244 Kirchengeschichte 1821/22, 47. Stunde (KGA II/6, S.   498 f.); Kollektaneum 286 (KGA II/6, S.  205) 245  Kirchengeschichte 1821/22, 54. und 57.–58. Stunde (KGA II/6, S.   519 f. 528–530); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  325 f. 343 f. 347–351); Kollektaneen 497; 499; 501– 503; 523–529; 536–543; 1097; 1120–1127 (KGA II/6, S.  251–253. 260–263. 417. 422 f.) 243 Kirchengeschichte

7.  Die zweite Periode

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zu, dazu den Mut zu öffentlicher Kritik an der bisherigen kirchlichen Lehre und Praxis und der staatlichen Religionspolitik.246 Diesen Dienst an der Kirche nennt Schleiermacher sonst die „freie Geistesmacht“.247 Euseb von Cäsarea schrieb nicht nur gelehrte Werke historischen und apologetischen Inhalts, sondern verhielt sich auch in den Auseinandersetzungen um die Trinitätslehre vorbildlich, indem er stets die kirchliche Mitte und die Verständigung suchte und sich bei der Polemik von fremden Motiven rein hielt.248 Hieronymus gehört zu den „großen Namen“ dieser Zeit; 249 er hat sich als Philologe um das Studium der Bibel verdient gemacht. Zugleich hat er aber mit seiner Eitelkeit und Streitsucht und mit seiner werbenden Anhänglichkeit an das Ideal des asketischen Lebens seinen Teil zu den Verirrungen dieser Zeit geleistet.250

Neben dem Sieg der „athanasianischen“ Lehre über den Arianismus ist Augustin das Beispiel schlechthin dafür, daß sich in der Kirchengeschichte auf die Dauer dasjenige durchsetzt, was wirklich aus dem Wesen des Christentums hervorgegangen ist.251 Augustin hat, auch aufgrund seiner eigenen Biographie, erfaßt, daß im Zentrum der christlichen Religion die ethische Erlösung der Menschheit durch Christus steht. Dank seinem tiefen Verständnis konnte er drohende Überfremdungen des Christentums durch eine spekulative dualisti­ sche Naturphilosophie oder durch eine triviale Tugend- und Morallehre abwehren. Augustins Beiträge zur Dogmatik gehen (trotz seiner philosophischen Bildung) nicht von philosophisch-spekulativen Grundsätzen aus, sondern rein von religiösen, von der „inneren Selbstbeschauung des Christen“.252 Seine lehrhafte Formulierung der Erlösungslehre ist aber selbst nicht frei von Fehlern (vgl. oben Abschnitt 7.3.2.4.). Und auch davon abgesehen beurteilt Schleiermacher Augustin stärker ambivalent als etwa Origenes, der eine ähnlich große Bedeutung hat: Augustin scheint oft nicht den letzten Mut zu haben, sich mit seinen Geistesgaben über seine Zeit zu erheben, sondern macht sich zum Verfechter der herrschenden Vorstellungen. So polemisiert er gegen den freisinnigen Jovinian und beruft sich gegenüber der Evangelienkritik des Manichäers Faust bloß auf die kirchliche Autorität. Statt sich an der kritischen Prüfung dessen, was in der Kirche als Tradition gilt, zu beteiligen, wird er selbst zum Ideologen des Traditionalismus. Zum beginnenden marianischen Aberglauben will er bewußt schweigen. Und gegenüber den Donatisten und Pelagianern geht er schließlich

246  Kirchengeschichte 1821/22, 47. und 55. Stunde (KGA II/6, S.  499. 524); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  264; KGA II/6, S.  733); Kollektaneen 405; 517; 1004; 1006 (KGA II/6, S.  228 f. 258. 398 f.) 247  Kurze Darstellung 2 , §  328 (KGA I/6, S.  4 42 f.) 248  Kirchengeschichte 1821/22, 38. Stunde (KGA II/6, S.  94) 249  Kirchengeschichte 1821/22, 42. Stunde (KGA II/6, S.  104) 250  Kirchengeschichte 1821/22, 44. und 46. Stunde (KGA II/6, S.  111. 116); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  270); Kollektaneen 365; 367; 377 f. (KGA II/6, S.  219. 221 f.) 251  Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 6. Stunde (KGA II/6, S.  15) 252  Kirchengeschichte 1821/22, 52. Stunde (KGA II/6, S.  514)

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C.  Materialer Teil

so weit, sie von der Staatsgewalt ihrer Bischofsstühle und des Landes verweisen zu lassen.253 Interessant ist noch Schleiermachers Deutung zweier Herrschergestalten: Julians des Abtrünnigen und Konstantins des Großen. – Ein Rücktritt vom Christentum in eine polytheistische Religion oder auch ins Judentum oder den Islam ist in Schleiermachers Religionsphilosophie eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit; die Menschheit entwickelt sich vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren, in der Religionsgeschichte also zum Christentum. (Daß das Christentum nicht nur die gegenwärtig vollkommenste, sondern auch die wahre Religion sei, ist aber ein christlicher Glaubenssatz, der weder geschichtlich noch spekulativ zu beweisen ist.) Wo dennoch ein solcher Abfall vorkommt, kann das Christentum noch nicht wirklich aufgenommen worden sein.254 Eben dies war für Schleiermacher auch bei Julian der Fall, wobei er aber weniger das Individuum Julian im Blick hat als die Familie: „Die christliche Gewöhnung in der Constantinischen Familie war auch noch nicht so alt daß sich nicht heidnisches Blut hätte regen können in Julians Adern“.

Bei Julian kam ein literarischer, schöngeistiger Sinn hinzu, der ihm den Neuplatonismus attraktiver als das Christentum erscheinen ließ und ihn zum erst heimlichen, dann öffentlichen Übertritt zum Heidentum veranlaßte. Doch seine Reaktion gegen das Christentum hat nicht nur die persönliche, individuelle Seite; in ihm äußert sich auch eine überindividuelle Kraft, das Auf bäumen des Heidentums gegen das gerade in dieser Zeit durch innere Zerstrittenheit und Veräußerlichung geschwächte Christentum. Nach dieser letzten Kraftprobe resigniert das Heidentum. Griechische Bildung und christliche Frömmigkeit gehen von nun an eine Synthese ein.255 – Julians persönliche Religiosität, ein Hauptgegenstand in Neanders einfühlender Monographie über ihn,256 ist bei Schleiermacher kein Thema. Dagegen wird bei Julian Schleiermachers Programm greif bar, bei der Geschichtsbetrachtung über die bedingte Notwendigkeit des Kausalzusammenhangs hinaus die überindividuellen Ideen und Kräfte

253  Kirchengeschichte 1821/22, 42., 44., 45., 48., 51. und 52. Stunde (KGA II/6, S.  106. 109. 112. 502. 512. 514); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  271 f.); Kollektaneen 336; 341; 351; 358 f.; 391; 434; 1026 (KGA II/6, S.  213 f. 216. 218. 225. 237. 403). Vgl. auch Geschichte der neueren Philosophie 1812, 21. Stunde (SW III/4,1, S.  174). Dort vermutet Schleiermacher daß Augustins größere Anhänglichkeit an den Buchstaben als die des Origenes damit zusammenhänge, daß Origenes als Christ aufgewachsen sei, Augustin aber von der Philosophie zum Christentum übergegangen sei. 254  Pädagogik 1820/21, 8. Stunde (hg. Ehrhardt/Virmond, S.  82 f.); Der christliche Glaube2 1, §  8,3 f. (KGA I/13,1, S.  68–71) 255 Kirchengeschichte 1821/22, 40.–42. Stunde (KGA II/6, S.   101–105); Kollektaneen 276; 278 (KGA II/6, S.  203 f.) 256  August Neander: Ueber den Kayser Julianus und seine Zeit, Leipzig 1812, bes. S.  103–128

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aufzuzeigen, die den Einzelnen zu ihrem Organ machen und so aus der Zufälligkeit in die höhere Notwendigkeit und Unsterblichkeit erheben. Bei der Deutung Konstantins setzt sich Schleiermacher von zwei anderen Sichtweisen ab: einmal von der supranaturalen Deutung, nach der Konstantin durch das unmittelbare Eingreifen der höheren Macht zum Christentum bekehrt worden sei, und dann von der skeptischen Deutung, wonach Konstantin das Christentum bloß im Interesse der politischen Nützlichkeit gefördert habe. Der ersten Sichtweise hält er entgegen, daß Konstantins Übertritt nichts schlechthin Neues gewesen sei, da das Christentum ja schon vor ihm in die Nähe der Kaiser gelangt sei und Philippus Arabs und Julia Mammaea sogar schon als Christen gegolten hätten. Konstantins Vater Constantius Chlorus habe das Christentum begünstigt, und Diokletians Verfolgung habe Konstantins Pietät weiter geweckt; so sei das Christentum in ihm schließlich zum Durchbruch gekommen. Einen politischen Grund aber, das Christentum zu fördern, hätte Konstantin gar nicht gehabt: Die Christen seien schon mit einer vollkommenen Duldung ohne alle Privilegien zufrieden gewesen, eher als die Christen für sich zu gewinnen konnte er die Heiden durch eine Bevorzugung der Christen gegen sich erbittern, und im Heer, auf das er sich in den damaligen Machtkämpfen stützen mußte, gab es kaum Christen. Schließlich sei auch die von Heiden lancierte Erzählung sicher unzutreffend, wonach Konstantin sich aus Gewissensbissen wegen der von ihm angeordneten Hinrichtung seiner Frau Fausta und seines Stiefsohns Crispus habe taufen lassen, denn dem Christentum habe er ja schon Jahrzehnte vor seiner Taufe auf dem Sterbebett angehangen.257 Schleiermacher denkt sich Konstantins Hinwendung zum Christentum als einen Prozeß mit mehreren Stationen: der Errichtung des Kreuzes als kaiserlicher Standarte, dem (von ihm später datierten) Toleranzedikt, dem Auftreten als Schutzherr und Förderer der christlichen Kirche und schließlich der Taufe.258 Die Wirksamkeit Konstantins für die Kirche, seine Kirchengesetze, seine Beiträge zu den dogmatischen Streitigkeiten und überhaupt sein Verständnis für das Christentum, beurteilt Schleiermacher eher zurückhaltend. Trotzdem ist er weit davon entfernt, dem Kaiser unlautere Motive vorzuwerfen. Auch teilt er nicht die seit Gottfried Arnold von vielen geäußerte Ansicht, daß die konstantinische Wende der Sündenfall der Kirche gewesen sei und mit ihm in das bis257 

Kirchengeschichte 1821/22, 30. Stunde (KGA II/6, S.  74) 1821/22, 30. Stunde (KGA II/6, S.  74 f.); Kollektaneen 183; 185 (KGA II/6, S.  182 f.). Die von den Schriftstellern unterschiedlich berichtete Kreuzesvision Konstantins war nach Schleiermachers Rekonstruktion ein nächtlicher Traum (so erzählen es auch Lactanz und Sozomenus). Nach Euseb, der die Geschichte so geschrieben haben will, wie sie ihm der Kaiser selbst erzählt habe, trug sich die Erscheinung zwar am hellen Mittag vor den Augen des Heeres zu; aber das sei nicht die Realität gewesen, sondern eben der Inhalt des Traumes. Konstantin habe das wohl als bekannt vorausgesetzt, und Euseb habe ihn ja schlecht mit Rückfragen unterbrechen können; später habe er das Ganze noch nach Art der Schriftsteller mit Monologen, Reden und der Kreuzesumschrift ausgeschmückt. 258  Kirchengeschichte

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C.  Materialer Teil

lang reine Christentum Herrschsucht und Gewalttätigkeit eingerissen seien.259 Die Regierung Konstantin mit allen ihren Grenzen ist vielmehr (ähnlich wie diejenige Julians) selbst Organ und Exponent einer sich vollziehenden Entwicklung, die das Christentum allmählich zu politischen und geistigen Ehren bringt ihm und so sein universales Wirkungsfeld bereitet.

7.5.  Die Entwicklung der Kirche in der zweiten Periode Politisch durch die konstantinische Wende sichergestellt, entfaltet sich das Christentum in dieser Periode nach innen und außen. Im Geistesleben tritt es das Erbe des griechisch-römischen Altertums an. Aber auch die Veräußerlichung des Christentums schreitet voran: eine vergesetzlichte Ethik, der Glaube an die Verdienstlichkeit guter Werke, besonders des asketischen Lebens, der Ritualismus im Kult und eine ihm entsprechende Auffassung des kirchlichen Amts, Bilder- Heiligen- und Reliquiendienst, der abergläubische Formen annehmen kann. Mit der griechisch-römischen Kultur verfällt auch das christliche Geistesleben; Traditionalismus und Dogmatismus treten an die Stelle der Originalität. – Schleiermachers zweite Periode umfaßt nach der später üblichen Periodisierung den Ausgang der alten Kirchengeschichte und den Anfang des Mittelalters. Die spätere Einteilung zeichnet sich aber bei Schleiermacher ebenfalls ab: Der Blüte und dem Verfall der Kirche unter der griechisch-römischen Kultur steht das Erwachen einer neuen Gestalt des Christentums in den jungen Völkern gegenüber. Und mindestens in den Nachschriften kommt auch schon einmal der Begriff „Mittelalter“ vor.260 Gegenüber der ersten Periode hat der „Gemeingeist“ der Christen ab- und die Spaltungssucht zugenommen. Dogmatische Differenzen sind jetzt regelmäßig Anlaß zu Exkommunikationen und Kirchenspaltungen; die kaiserliche Kirchenregierung, die dem steuern will, verstärkt das eher noch. Die reichskirchliche Ökumene zerbricht schließlich; zu groß sind die geistigen und kulturellen Differenzen geworden. Der Bischof von Rom als ranghöchster Kleriker des Westens strebt nach dem Primat in der Kirche, sowohl gegenüber den östlichen Patriarchen als auch gegenüber den Missionskirchen in den germanischen Staaten. Eigene Akzente bei der Gestaltung des überreichen Materials setzt Schleiermacher besonders in der Dogmengeschichte und der Missionsgeschichte. Bei der Lehrentwicklung kommt er zur Ausdifferenzierung in drei große Themenkreise, die sich aus dem Wesen des Christentums selbst ergeben, die Trinitäts259 

Vgl. oben Abschnitt 4.1. Ähnlich urteilt z. B. Schröckh 12, S.  16. Kirchengeschichte 1821/22, 7. und 51. Stunde (KGA II/6, S.  487. 513); vgl. Praktische Theologie 1815/16, 12. Stunde (SW I/13, S.  742); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  22); Kirchliche Statistik 1827, 4., 9. und 11. Stunde (KGA II/16, S.  198. 219. 226); Praktische Theologie 1833 (Nachschrift Anonym, SN 557, pag. 67). 260 

7.  Die zweite Periode

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lehre, die Zwei-Naturen-Christologie und die Erbsündenlehre, die beiden ­ersten Kreise vorwiegend spekulativ, der dritte auch praktisch und ethisch. Das Niveau der Lehrbildung ist gegenüber der ersten Periode gestiegen. Besonders die überwiegend im Westen diskutierte Sünden- und Gnadenlehre zeigt schon einen hohen Grad an Reflexion über das christliche Gefühl. Bei vielen Völkern geht die Christianisierung Hand in Hand mit der Kultivierung überhaupt. Für diese bislang barbarischen Völker wird gerade das äußerliche, heteronome, „mosaische“ Christentum zum Anfang der Kultur und zum Eintritt in die Geschichte, bis die Entwicklung zu einer eigenen, freien Geistestätigkeit fortgeschritten ist. Diese beginnt für die germanische Welt mit dem Übergang in die nächste Periode. Und so läßt sich in Schleiermachers Darstellung dieser Periode beides beob­ achten: einerseits der Glaube an ein äußeres und inneres Fortschreiten des Christentums und an eine Annäherung an das Ziel seiner universalen Bestimmung, andererseits die klassisch-protestantische Vorstellung vom Niedergang der Kirche bis zu ihrer Reformation (vgl. oben Abschnitt 4.1.). Den Niedergang macht Schleiermacher aber nicht an der konstantinischen Wende als solcher fest, auch wenn er die staatliche Bevormundung der Kirche kritisch beurteilt, sondern an der wachsenden Veräußerlichung des Christentums und an einem Klerus, der diese aus verschiedenen Motiven heraus fördert.

8.  Die dritte Periode 8.1.  Die dritte Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte 8.1.1.  Die Eigenart der dritten Periode Die dritte Periode der Kirchengeschichte führt von der Etablierung des neuen christlichen Abendlandes im Reich der Karolinger bis an den Vorabend der Reformation und umfaßt einen Zeitraum fast von der Länge der ersten beiden Perioden zusammen. In der traditionellen protestantischen Sicht liegt in diesem Zeitraum der Höhepunkt der päpstlichen Tyrannei und damit der Tiefpunkt in der Entwicklung der Kirche. In diesem Sinne äußert sich auch Schleiermacher in seiner Methodenvorlesung von 1806: „Die Blüthe beider Corruptionen [der Vermischung der Kirche mit dem Staat und derjenigen der Religion mit der Wissenschaft] fällt zusamen im 12–14ten Jahrhundert, höchste Ausbildung der Hierarchie und der theologischen Dialektik.“1

Nach einer Notiz Schleiermachers bildet in dieser Periode die Zeit bis etwa 1050 die erste Hauptmasse: An ihrem Ende sind die beiden wichtigsten Kennzeichen dieser Periode voll entwickelt, einerseits die endgültige Trennung zwischen Ost- und Westkirche (1054), andererseits mit dem veränderten Papstwahlgesetz (1059) die Emanzipation des Papsttums als der obersten geistlichen Gewalt im Westen von der weltlichen Gewalt.2 Das hier Erreichte wird zum Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung. Schon bei der Darstellung der zweiten Periode hat Schleiermacher der Geschichte des Papsttums große Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. oben Abschnitt 7.2.2.). In der dritten Periode wird die Papstgeschichte zum Rahmen und Gerüst der ganzen Darstellung. In sie eingefügt ist die Entwicklung der anderen sachlichen Gebiete. – Das neunte Jahrhundert nimmt einen breiten Raum ein (1821/22 mit gut zehn Stunden über ein Drittel der Periode); Schleiermacher behandelt ausführlichst die Debatten um das Abendmahl, die Streitigkeiten über die Prädestination und den Stand der Kirchenverfassung, ebenso auch die 1 

Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 7. Stunde (KGA II/6, S.  16) Kollektaneum 611 (KGA II/6, S.  285); vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 66., 72. und 73. Stunde (KGA II/6, S.  555 f. 571. 573 f.). In der 73. Stunde (S.  574) heißt das Papstwahlgesetz „ein neuer Punct in der Entwicklung des Einflusses der Bischöfe“. 2 

8.  Die dritte Periode

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Auseinandersetzungen zwischen West- und Ostkirche: den Streit um das filioque und die Kämpfe zwischen Photius von Konstantinopel und den Päpsten. Danach wird die Darstellung – schon aus Zeitgründen – knapper und geht mehr an ausgewählten Schwerpunkten entlang. Der wichtigste unter diesen ist die Scholastik. Hier werden Personen und Systeme vorgestellt, die heute nur in der Spezialliteratur auftauchen: Gilbert de la Porre, Peter von Poitiers, Odo von Cambrai, Hugo von Rouen, Robert Pulleyn und Robert von Melun. Im Kolleg von 1825/26 hat Schleiermacher die Darstellung der Scholastik noch einmal verbreitert, was zur Folge hatte, daß die ganze Vorlesung nur noch bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts kam. Neben der Scholastik werden die neue Kirchenverfassung des elften Jahrhunderts und die Vorbereitung der Reformation zu Schwerpunkten.

8.1.2.  Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise Der Befund ist hier zunächst ähnlich wie für die zweite Periode: Schleiermacher exzerpiert Johann Matthias Schröckhs Kirchengeschichte abschnittsweise, und zwar besonders detailliert bei theologischen Streitigkeiten,3 mit charakteristischen Daten bei der Papst- und Verfassungsgeschichte und der Geschichte der Frömmigkeit,4 mehr überblicksweise bei der Missionsgeschichte.5 Etwa von Kollektaneum 700 an hat jedes der numerierten Exzerpte einen eigenen Gegenstand (statt daß ihrer mehrere aufeinanderfolgend ein Thema behandeln). Von nun an löst sich Schleiermacher auch immer mehr von Schröckh; er springt je nach Thema zwischen den Bänden (wobei er sich wohl am Register in Band 35 orientiert),6 und er benutzt auch andere Literatur: Zunächst werden als Ergän-

3  Kollektaneen 604–606 (KGA II/6, S.  2 82–284) über die Streitigkeiten unter Karl dem Großen aus Schröckh 20, S.  459–511; Kollektaneen 687–691; 701 (KGA II/6, S.  301–312. 315–317) über Streitigkeiten des neunten bis elften Jahrhunderts aus Schröckh 23, S.  314– 554; 24, S.  3 –240. 4  Kollektaneen 635–652; 695 f. (KGA II/6, S.  2 89–295. 313 f.) über die Päpste von 814 bis 1073 aus Schröckh 22, S.  3 –395 (wobei Schleiermacher die längere Passage über die sagenhafte Päpstin Johanna [S.  75–110] überschlagen hat); Kollektaneen 397 f. (KGA II/6, S.  314 f.) über die Rechtsgeschichte aus Schröckh 22, S.  395–457; Kollektaneen 653–662; 698–700 (KGA II/6, S.  295–298. 315) über die Sitten und Pflichten des Klerus aus Schröckh 22, S.  457–592; Kollektaneen 670–678 (KGA II/6, S.  299 f.) über die Geschichte der Religion und des Aberglaubens aus Schröckh 23, S.  120–256; Kollektaneen 679–686 (KGA II/6, S.  300 f.) über die Geschichte der Theologie aus Schröckh 23, S.  257–313. Die Papstgeschichte von 1073 bis 1303 (Schröckh 25, S.  424–536; 26) ist (zusehends knapper und eklektischer) exzerpiert in Kollektaneen 702; 705; 707; 723; 731 f.; 735; 738–740; 758 f.; 774; 782 (KGA II/6, S.  318–322. 330–335. 338 f. 341 f. 344 f.). 5  Kollektaneen 626–634; 693 f. (KGA II/6, S.  2 88 f. 312 f.) aus Schröckh 21, S.  292–553 6  So ist Schleiermacher in den Kollektaneen 713–718 (KGA II/6, S.  326–328) über die Scholastik des zwölften Jahrhunderts hin- und hergesprungen zwischen Schröckh 24 (Wissenschaftsgeschichte), 27 (Rechtsgeschichte) und 28 (Theologiegeschichte).

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C.  Materialer Teil

zung zu Schröckh die Werke Anselms von Canterbury,7 die recht breite Nacherzählung scholastischer Werke in Johann Andreas Cramers deutscher Bearbeitung von Jacques-Bénigne Bossuets Einleitung in die Geschichte 8 und auch Heinrich Philipp Konrad Henkes Kirchengeschichte9 herangezogen, dann nehmen anstelle Schröckhs die knappen, nach Jahrhunderten und Themen geordneten, aber ziemlich unzusammenhängenden (und formal Schleiermachers Kollektaneen nicht unähnlichen) Auszüge Johann Salomo Semlers aus der Kirchengeschichte einen immer breiteren Raum ein. Bei ihrer Benutzung zeigt Schleiermacher ähnliche Schwerpunkte wie bei den Exzerpten aus Schröckh: Die Papstgeschichte ist durch ein recht dichtes Netz von Daten vertreten,10 die 7  Kollektaneen 708 f. (KGA II/6, S.  322–324); ausgewertet sind Anselm von Canterbury: Cur Deus homo, De processione spiritus sancti und die Epistola de incarnatione verbi. 8  Cramer schreibt selbst, er sei der erste gewesen, der sich, um das Schlechte und Gute aus der dunklen Zeit der Kirche gerecht zu würdigen, der Mühe unterzogen habe, die Scholastik ausführlich aus ihren Quellen darzustellen (Johann Andreas Cramer: Einleitung in die Geschichte der Welt und der Religion, Band 5,2, Leipzig 1772, Vorrede [ohne Seitenzählung]). – Schleiermacher exzerpiert aus einem Kapitel über den Charakter der scholastischen Philosophie und ihr Verhältnis zur Religion (Cramer: Einleitung 5,2, S.  435–504) Passagen über Alanus ab Insulis und Bonaventura (Kollektaneen 790; 793, KGA II/6, S.  346 f. Die Seiten über Alanus hat er für das zweite Kompendium noch einmal exzerpiert, diesmal ausführlicher und sachgerechter: Kollektaneum 1213, KGA II/6, S.  452 f.), dann aus einem Kapitel über die an der Tradition orientierte damalige Dogmatik mit Referaten über Honorius von Autun, Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Victor und andere (Johann Andreas Cramer: Einleitung in die Geschichte der Welt und der Religion, Band 6, Leipzig 1785, S.  131–309) einiges über die Sakramentenlehre und die Mariologie (Kollektaneen 719–721, KGA II/6, S.  328), aus dem Kapitel über Petrus Abaelard (Cramer: Einleitung 6, S.  309– 442) dessen Lebenslauf und den Theologie- und Gottesbegriff der Theologia Scholarium, aus der Theologia christiana dagegen nur die Pneumatologie (Kollektaneum 722, KGA II/6, S.  328 f.), aus dem Kapitel über Robert Pulleyn (Cramer: Einleitung 6, S.  4 42–529) einen Querschnitt über dessen materiale Dogmatik (Kollektaneum 724, KGA II/6, S.  331), aus dem Kapitel über den Streit um Gilbert von Poitiers auf der Synode von Reims 1148 (Cramer: Einleitung 6, S.  530–552) nur knapp, worum der Streit ging (Kollektaneum 725, KGA II/6, S.  331), aus dem Kapitel über Robert von Melun (Cramer: Einleitung 6, S.  553– 586) bloß dessen Christologie (Kollektaneum 726, KGA II/6, S.  332), später aus dem langen Abschnitt über Petrus Lombardus (Cramer: Einleitung 6, S.  586–754) nur wenige Stichproben über Gott und die Satisfaktion (Kollektaneen 787 f., KGA II/6, S.  345 f.) und aus dem Kapitel über Peter von Poitiers (Cramer: Einleitung 6, S.  754–790) eine kurze Notiz zu dessen Rechtfertigungslehre (Kollektaneum 789, KGA II/6, S.  346). Johann Andreas Cramer: Einleitung in die Geschichte der Welt und der Religion, Band 7 (Leipzig 1786) über das 13. Jahrhundert gliedert sich mehr nach Themen als nach Autoren. Hier hat Schleiermacher aus einem Kapitel zum Auf bau und Charakter der Dogmatik seit der Wiederentdeckung des Aristoteles (Cramer: Einleitung 7, S.  161–309) einiges über Alexander von Hales und Duns Scotus exzerpiert (Kollektaneen 794 f., KGA II/6, S.  347). 9  Kollektaneen 744; 753; 773 (KGA II/6, S.  335. 337. 341) 10  Kollektaneen 782; 798; 830–837 (KGA II/6, S.  3 43 f. 348. 355–357) aus Johann Salomo Semler: Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte, Band 1, Halle 1773, S.  556–563. 625–629; Band 2, Halle 1774, S.  5 –50). Ausführlich und weniger stichwortartig kommen dann noch die Hussiten und die Vorläufer der Reformation vor: Kollektaneen 840–853 (KGA II/6, S.  358–362) aus Semler: Versuch 2, S.  79–167.

8.  Die dritte Periode

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Geschichte von Theologie, Frömmigkeit und Kirchenverfassung mehr durch charakteristische Schlaglichter.11 In den Kollektaneen über Konziliarismus und Vorreformatoren geht es teilweise zwischen den Schröckh-Bänden und Semler hin und her; manchmal ließ sich die Quelle auch nicht ermitteln.12 Zur Präparation der Vorlesung von 1825/26 hat Schleiermacher besonders den Schröckh noch einmal durchgearbeitet; außerdem hat er noch Anselm und Alanus ab Insulis im Original herangezogen und zu Alanus auch noch einmal Cramers Werk zur Scholastik. Das neue Material ist wieder teils in den alten Kollektaneen nachgetragen,13 teils in neuen Kollektaneen niedergeschrieben. Diese neuen Kollektaneen bilden wieder thematische Blöcke. Gerade die Ordensgeschichte und die Scholastik des 13. Jahrhundert, 1821/22 nur flüchtig behandelt, kommen nun ausführlicher vor.14 Zu einer eigenen wissenschaftlich-kritischen Aneignung des wiederum sehr umfangreichen Materials ist Schleiermacher in dieser Periode noch weniger gekommen als in der zweiten Periode.

11  So stellen Kollektaneen 783–787 (KGA II/6, S.  3 45), vier Exzerpte aus Semler: Versuch 1, S.  567–600, zusammengenommen ein in seiner aphoristischen Kürze eindrucksvolles Bild der geistigen Situation in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts dar: Die Scholastik führt sich selbst ad absurdum (Simon von Tournai sagt, er könne mit Hilfe der Dialektik die Kirchenlehre ebensogut beweisen wie widerlegen), der Aberglaube blüht (die Templer schick­en eine Reliquie vom Blut Christi nach England), die Papstmonarchie weckt Widerstand (Petrus Johannis Olivi polemisiert gegen die römische Kirche), und die kirchliche Autorität wird allmählich hinterfragt (eine Synode in London bestimmt, neue und subtile Fragen nicht mehr nach der Tradition und nach lehramtlichen Entscheidungen, sondern nach Schrift und Vernunft zu entscheiden). 12  Vgl. besonders Kollektaneen 814–828 (KGA II/6, S.  351–355). 13  Vgl. die Liste KGA II/6, S. XLIV. 14  Kollektaneen 1134–1137 (KGA II/6, S.  425–427) über die Religionsstreitigkeiten unter Karl dem Großen, 1139–1143 (KGA II/6, S.  427 f.) über den Bilderstreit, 1145–1155 (KGA II/6, S.  428–432) über die Streitigkeiten unter den späteren Karolingern, 1156–1159 (KGA II/6, S.  432 f.) über den Streit um Photius, 1162–1165 (KGA II/6, S.  435 f.) über die Mission, 1167 f. (KGA II/6, S.  437) über Gegner der Transsubstantiation, 1172 (KGA II/6, S.  438 f.) über Berengar, 1176–1182 (KGA II/6, S.  4 40–442) über die Anfänge der Scholastik, 1183– 1185 (KGA II/6, S.  4 43) über „Gnostiker“ und Dissidenten, 1187–1196 (KGA II/6, S.  4 44– 447) über die weitere Scholastik, 1197–1202 (KGA II/6, S.  4 47 f.) über Kleriker und Mönche, 1203–1207 (KGA II/6, S.  4 48–450) über Katharer und Waldenser, 1209–1211 (KGA II/6, S.  450 f.) über die Kreuzzüge, 1213–1221 (KGA II/6, S.  452–460) über die Scholastik des 13. Jahrhunderts und 1223 (KGA II/6, S.  461–463) über das abendländische Schisma und die Vorreformatoren. Dazwischen eingeschoben ist die Papstgeschichte (Kollektaneen 1160 f.; 1166; 1173–1175; 1185 f.; 1205; 1212; 1215; 1222, KGA II/6, S.  433–436. 439 f. 443. 449. 451 f. 454 f. 460 f.). – Cramer: Einleitung 5,2 ist ausgewertet in Kollektaneum 1213 (KGA II/6, S.  452 f.), Anselm: Proslogion, die Epistola de incarnatione verbi, De conceptu virginali und De libero arbitrio in Kollektaneum 1181 (KGA II/6, S.  4 41 f.) und Alanus: Regulae theologicae in Kollektaneum 1214 (KGA II/6, S.  453).

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C.  Materialer Teil

8.2.  Die Kirche als organisiertes gemeinsames Leben 8.2.1.  Papstgeschichte, Transformation der Kirchenverfassung Am Anfang dieser Periode wird Karl, König der Franken und Langobarden und Patricius von Rom, von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt. Die Verbindung mit den karolingischen Herrschern bedeutet zunächst eine Unterwerfung unter deren politische Oberhoheit. Für sich selbst beanspruchte der Papst unter den Bischöfen des Frankenreichs nur die Stelle eines primus inter pares; gemäß der Ordnung aus der Zeit der byzantinischen Herrschaft war der Patricius von Rom als Großer und Krieger auch tatsächlich zur Wahl des Papstes befugt. Wenn Leo nun Karl zum Kaiser krönte, machte er damit öffentlich, daß Karl und nicht mehr der byzantinische Kaiser der weltliche Herrscher und Schutzherr von Rom war.15 In der Folgezeit löcken die Päpste öfter wider den Stachel, erkennen aber zunächst noch an, daß der Kaiser die weltliche Oberhoheit über Rom hat. Bei den politischen und familiären Wirren der Karolinger wird aber die Kirchenzucht (nicht nur für die Päpste, sondern auch für die Bischöfe) zum Instrument, sich eigene weltliche Gewalt zu verschaffen. Dabei sei die kirchliche Disziplinierung auch von Herrschern nicht an sich zu tadeln, sondern nur ihre Verunreinigung mit politischen Zwecken; zu dieser hatte freilich die Kirchenverfassung des fränkischen Reichs, die die Bischöfe zu Reichsständen machte, eine Affinität.16 In der spätkarolingischen Zeit erscheinen zum ersten Mal die pseudo-isidorischen Dekretalen, unterschobene Kirchenrechtsquellen, die die Macht der Päpste auf Kosten der Erzbischöfe stärken. Doch solle man ihre Wirkung auch nicht überschätzen, meint Schleiermacher: Sie seien mehr Symptom und Resultat des päpstlichen Machtstrebens als dessen Ursache. Auch müsse man den Kompilator, der sich mit ihnen vielleicht gegen seinen Erzbischof wehren wollte, nicht zu streng beurteilen: Es sei damals gang und gäbe gewesen, das, was man für recht und billig hielt, durch geliehene Autoritäten zu untermauern. „Es hängt daher alles an der Unkritik der Zeit und der Lehre von der Continuität der Päpste.“17 Über die Bischöfe sagt Schleiermacher einerseits, ihr Zusammenhang untereinander und das Synodalwesen nähmen in den unruhigen Zeiten des späten neunten Jahrhun15  Kirchengeschichte

1821/22, 60. Stunde (KGA II/6, S.  539 f.); Kollektaneen 535; 589 (KGA II/6, S.  262. 279 f.) 16 Kirchengeschichte 1821/22, 63.–64. Stunde (KGA II/6, S.   548–551); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  394–396. 424 f.); Kollektaneen 637–644; 698; 1144; 1146; 1160 (KGA II/6, S.  290–292. 315. 428 f. 433 f.) 17  Kirchengeschichte 1821/22, 64. Stunde (KGA II/6, S.  550); Kollektaneen 635 f. (KGA II/6, S.  289 f.)

8.  Die dritte Periode

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derts ab, und dies nutze das Papsttum aus, um Kompetenzen an sich zu ziehen.18 Dann heißt es aber wieder, die Bischöfe eines Landes hätten immer mehr eine geschlossene Korporative in jedem Staat gebildet. Einstweilen stehen sie noch unter der weltlichen Gewalt, greifen aber selbst auch in weltliche Angelegenheiten wie Rebellionen gegen die Könige ein.19

Für die Zeit um und nach 900 erzählt Schleiermacher viele Geschichten über Pornokratie, Verwicklungen der Päpste in die italienischen Adelskämpfe und die verbreitete Korruption bei der Vergabe kirchlicher Ämter. Leider habe man diese „größesten Verwirrungen und Gräuel“ nicht dazu benutzt, Rang und Ansehen der römischen Bischöfe zu mindern; vielmehr setzten die Päpste auch in dieser Zeit des Tiefstandes ihre Anmaßungen fort und beriefen sich dabei auf die falschen Dekretalen. Aus den Verstrickungen können erst die deutschen Könige das Papsttum heben, um 1000 für ein paar Jahre Otto III., dann seit 1046 Heinrich III.20 Der bedeutendste der von Heinrich eingesetzten deutschen Päpste ist Leo IX.; Schleiermacher nennt ihn gar „rühmlich“. Auf Anraten des Kardinalklerikers Hildebrand, der hier zum ersten Mal erscheint, tritt Leo nicht eher als Papst auf, als bis auch Klerus und Volk von Rom ihn ordnungsgemäß gewählt haben. Er greift hart gegen Bischöfe durch, die ihr Amt durch Simonie erworben haben. Leos Nachfolger versuchen dann, sich vom Einfluß der deutschen Krone und der weltlichen Mächte überhaupt zu befreien. Bisher sind geistliche und weltliche, bischöfliche und königliche Gewalt ineinander verschlungen und greifen ins jeweils andere Gebiet über; die geistliche Gewalt versucht jetzt, sich in sich selbst zu gründen.21 Das Bestreben des Papsttums ist aber insofern nicht rein, als sein Ziel weniger die Unabhängigkeit beider ethischer Formen, Staat und Kirche, voneinander war als die Unterordnung auch des Staates unter die oberste kirchliche Gewalt. Nikolaus II. bringt die Bestrebungen zu einem vorläufigen Abschluß, indem er 1059 eine neue Ordnung für die Papstwahl erläßt: Der Papst sollte von nun an nicht mehr von den Großen, dem Klerus und der Gemeinde gemeinsam gewählt werden, sondern von den Kardinalbischöfen und Kardinalklerikern. Schleiermacher hat dieses Gesetz ausführlich besprochen und zu zeigen versucht, daß es trotz seiner Neuheit doch mehr Kontinuität als Umbruch darstelle. Die Tendenz sei nicht so sehr gegen den Kaiser gewesen, sondern mehr gegen die von den Adelsparteien verursachten Tumulte und Skandale. Denn die Kaiser als Außenste18 

Kirchengeschichte 1821/22, 63. Stunde (KGA II/6, S.  548) 1821/22, 65. Stunde (KGA II/6, S.  551); Kollektaneum 642 (KGA II/6, S.  292) 20  Kirchengeschichte 1821/22, 65.–66. Stunde (KGA II/6, S.  551–555); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  425–429. 433–436. 444–446); Kollektaneen 645–652; 1161; 1166; 1171; 1173 (KGA II/6, S.  292–295. 434–436. 438–440) 21  Kirchengeschichte 1821/22, 66., 72. und 73. Stunde (KGA II/6, S.  555 f. 571 f. 574 f.); Kollektaneen 652; 695 (KGA II/6, S.  295. 313) 19  Kirchengeschichte

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C.  Materialer Teil

hende hätten auch bisher nur die eher indirekte Funktion gehabt, bei Unregelmäßigkeiten durchzugreifen, und eben diese Funktion hätten durch das neue Gesetz die dazu bestimmten Kleriker übernommen, die bessere Kenntnisse der inneren Verhältnisse gehabt hätten. – Eine weitere Frage ist, ob Nikolaus bei der nominellen Oberherrschaft des Kaisers über Rom eigentlich kompetent war, solch ein Gesetz zu geben. Da das zweifelhaft sei, verdiene die Bemerkung des Petrus Damiani Glauben, daß auch bisher schon die Kardinalbischöfe den Papst gewählt hätten. Insofern stellt das Papstwahlgesetz rein rechtlich bloß die genauere Bestimmung und „die völlige Organisation dieser älteren Art von Leitung der Wahlen“ dar. – Schließlich merkt Schleiermacher dazu noch an, daß die Papstwahl einen so „provinziellen Charakter“ habe: Nur die Kleriker der Kirchenprovinz Rom wählten den Papst, obwohl das bei seinem Anspruch auf einen Primat doch ein Konzil der gesamten abendländischen Kirche hätte tun müssen. (Dies hat Schleiermacher auch in seiner kirchlichen Statistik bemerkt, vgl. unten Abschnitt 9.3.4.1.) Die vom Papst angestrebte Stellung war eben damals nichts weniger als allgemein anerkannt.22

Vor den großen Veränderungen, die mit dem neuen Papstwahlgesetz beginnen, hält Schleiermacher inne, um noch einmal in großer Breite den bisherigen Stand der Kirchenverfassung zusammenzufassen.23 Er meint offenbar, daß der rechtliche und der tatsächliche Zustand an diesem Wendepunkt der Periode um 1050 auseinandergehen: In Kraft ist noch das Recht der nach Bistümern und Metropolen aristokratisch verfaßten römischen Reichskirche; hinzu kommen Veränderungen durch die politische Funktion der Bischöfe in den germanischen Landeskirchen. Die entstehende Papstmonarchie bringt mit Pseudo-Isidor und dem Papstwahlgesetz zwar neue Gesetze hervor, doch bedeuten diese zunächst noch keinen Bruch mit dem bisherigen Recht. Dahinter steht allerdings bereits ein ganz anderes Kirchenmodell als das de iure noch bestehende. Nun erzählt Schleiermacher ausführlich über die Politik der Reformpäpste und die ersten Zusammenstöße mit Heinrich IV. Hildebrand, der leitende Kopf der Bewegung, wird schließlich selbst zum Papst gewählt (Gregor VII.). Aus dem Kampf gegen simonistische Mißbräuche wird unter ihm ein generelles Verbot der Laieninvestitur. Dies bedeutet dann wirklich eine gänzliche Umkehr der bisherigen Verhältnisse. Daß der deutsche Episkopat sich von Gregor schließlich überzeugen läßt, auch der König gehöre zu der Petrus und seinen Nachfolgern anvertrauten Herde, dürfe also von diesem unter Lösung der Untertanen von ihrem Diensteid gebannt werden, zeige abermals die verhängnisvolle Verwirrung von geistlicher und weltlicher Gewalt.24

22 Kirchengeschichte

1821/22, 72.–73. Stunde (KGA II/6, S.  572–574); Kollektaneum 695 (KGA II/6, S.  313) 23 Kirchengeschichte 1821/22, 73.–74. Stunde (KGA II/6, S.   575–577); Kollektaneum 698 (KGA II/6, S.  314 f.) 24 Kirchengeschichte 1821/22, 75.–76. Stunde (KGA II/6, S.   580–583); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  449. 452–454); Kollektaneen 696; 702; 1174 (KGA II/6, S.  313 f. 318 f. 440)

8.  Die dritte Periode

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Obwohl Gregor Heinrich zum Gang nach Canossa zwingen und demütigen kann, setzt er sich nicht durch: Er stirbt im normannischen Exil, während in Rom der unter der Ägide Heinrichs gewählte Papst Clemens (III.) sitzt.25 In Deutschland ist die königliche Investitur noch so selbstverständlich, daß sogar der von der päpstlichen Partei gegen Heinrich IV. erhobene Konrad sie ausübt. Gregors Nachfolger suchen eine Lösung der Investiturfrage. 1111 schließt Heinrich V. mit Paschalis II. in Sutri einen Vertrag, laut dem der König auf die Investitur verzichten, die Kirche aber die ihr seit Karl dem Großen übereigneten Güter und Regalien zurückgeben und sich mit Zehnten und freiwilligen Schenkungen begnügen soll. Schleiermacher hält das für einen billigen Vergleich: Die Güter, mit denen die Abteien und Bistümer ausgestattet worden waren, sollten diese zu Stützpunkten der Mission und Kolonisation machen, und Ring und Stab als (zugegebenermaßen geistliche) Symbole, die der König bei der Investitur verlieh, hätten an die mit den Gütern übertragenen Pflichten erinnern sollen. Inzwischen war die Kirche zu einer ansehnlichen Standesherrschaft geworden, erfüllte die Pflichten aber nicht mehr, und der Papst sah die Dotationen jetzt als ursprünglichen kirchlichen Besitz an. – Der Vertrag scheiterte, und zwar, wie Schleiermacher vermutet, am Widerstand der deutschen Bischöfe, die ihre fürstliche Stellung nicht aufgeben wollten; die weltlichen Fürsten hätten hingegen nicht, wie wohl vermutet würde, Grund zu der Befürchtung gehabt, daß der König bei Rückgabe der Güter zu mächtig geworden wäre, da ja vieles bei Rückgabe an sie gefallen wäre. Leider sei niemand auf die Idee gekommen, die Kirchengüter erst bei Erledigung und Neubesetzung eines Bischofssitzes den weltlichen Herrschaften zurückzugeben.26 – Der König gibt schließlich nach und verzichtet im Wormser Konkordat von 1122 auf das Recht der Investitur mit Ring und Stab, ohne dafür (wie im Vertrag von Sutri vorgesehen) von den Geistlichen die Lehen zurückzubekommen. Nur das wird dem König zugestanden, daß die Wahl eines Bischofs in seiner Gegenwart, d. h. unter seinem Einfluß, erfolgt und daß der Bischof als weltlicher Fürst vom König belehnt wird.27 Damit ist diese Entwicklung für die dritte Periode zu ihrem Abschluß gekommen. Schleiermacher berichtet zwar noch viele weitere Ereignisse aus der Papstgeschichte, doch sie erscheinen bei ihm eher als eine lockere Folge von Episoden, die sich aus der durch den Ausgang des Investiturstreits sanktionierten Konstellation der Kräfte ergeben. Neue Ideen bringt allenfalls noch der Konziliarismus, doch den hat Schleiermacher aus Zeitgründen nicht mehr ausführlich darstellen können. 25  Kirchengeschichte 1821/22, 75.–76. Stunde (KGA II/6, S.  581–584); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  453–458); Kollektaneen 702; 1175 (KGA II/6, S.  318–320. 440) 26 Kirchengeschichte 1821/22, 78. Stunde (KGA II/6, S.   587 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  463); Kollektaneum 707 (KGA II/6, S.  322) 27 Kirchengeschichte 1821/22, 78. Stunde (KGA II/6, S.   589); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  485); Kollektaneum 712 (KGA II/6, S.  326)

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C.  Materialer Teil

Bei der angeblich freien Wahl ohne königlichen Einfluß haben die angesehenen Familien, aus denen die Kanoniker kommen, das entscheidende Wort. Dies zeigt sich schon 1124 und 1130, als die Kardinäle sich bei der Papstwahl spalten und zwei Päpste wählen. Kaiser Friedrich I. Barbarossa sagte einige Jahrzehnte später, vor dem Konkordat seien die Bischofsstühle besser besetzt gewesen.28 Bei der Anarchie, die nun – auch wegen des schwindenden königlichen Ansehens – in Italien um sich greift, kann sich der Papst nicht dauerhaft in Rom halten. Die Stadt gibt sich eine Munizipalverfassung, und der Volksprediger Arnold von Brescia prangert dort Reichtum und politischen Ehrgeiz der Kleriker und Päpste an. Bernhard von Clairvaux und Innozenz II. sehen einen Zusammenhang zwischen Arnolds Rebellion und der dialektischen Wissenschaft Petrus Abaelards; Innozenz verurteilt Abaelard also dazu, seine Bücher zu verbrennen, und wirft ihm vor, ohne päpstliche Erlaubnis publiziert zu haben – eine Anmaßung, die später öfter wiederholt wurde. Innozenz ist es auch, der auf einer Kirchenversammlung im Lateran die geistlichen Stellen insgesamt als vom Papst verliehene Lehen bezeichnet.29 Demgegenüber kämpfen Friedrich I. Barbarossa und Heinrich II. von England gegen den Papst um die königliche Herrschaft über die Landeskirche. Friedrich hilft dem Papst unbegreiflicherweise bei Arnolds Beseitigung; nach einer weiteren Doppelwahl streitet er gegen Papst Alexander III. Alex­ ander läßt schließlich, um weiteren Doppelwahlen zu steuern, 1179 das Papstwahlgesetz dahin ändern, daß 2/3 der Stimmen auf einen Kandidaten fallen müssen.30 Nach den Tode Friedrich Barbarossas und Heinrichs VI. schwingt sich das Papsttum unter Innozenz III. zu neuer Machthöhe auf. Innozenz beansprucht, über die deutsche Thronfolge zu entscheiden, annektiert die weltliche Herrschaft im Kirchenstaat und zwingt König Johann Ohneland von England, sich ihm zu unterwerfen und England aus seiner Hand als Lehen zu empfangen.31 Nach ihrem Höhepunkt unter Innozenz oszilliert die päpstliche Macht, d. h. bald sinkt sie, bald steigt sie wieder. Friedrich II. kämpft mit den Päpsten und schwächt ihr Ansehen, als er politische Kabalen und Geldgier der Päpste aufdeckt und öffentlich anprangert. Dies tut auch der englische Bischof Robert Grosseteste, von dem Innozenz IV. verlangt hatte, einen Sechsjährigen zum Kanoniker zu weihen. Gregor X. ändert das Wahlgesetz nach einer längeren Vakanz dahin, daß immer gleich ein Nachfolger gewählt werden muß (und zwar, wie Schleiermacher vermutet, weil zu befürchten war, daß sich die Kirche während einer längeren Sedisvakanz allzusehr mit dem Zustand der Papstlosigkeit anfreunde). Bonifaz VIII. hebt das Papsttum wieder: Er führt den Jubel­ ablaß ein, verbietet den Klerikern Abgaben an die Laien und verkündet die generelle Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt. Bonifaz’ Nachfolger stehen unter französischer Herrschaft und müssen vieles wieder zurücknehmen. Sie sammeln 28  Kirchengeschichte 1821/22, 78. und 81. Stunde (KGA II/6, S.  589. 596 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  485 f.); Kollektaneen 712; 723 (KGA II/6, S.  326. 330) 29  Kirchengeschichte 1821/22, 78., 81. und 82. Stunde (KGA II/6, S.  589. 596–598. 600); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  485–488); Kollektaneen 712; 722 f.; 1185 f. (KGA II/6, S.  326. 328–331. 443) 30  Kirchengeschichte 1821/22, 81. und 82. Stunde (KGA II/6, S.  597. 600 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  489–491); Kollektaneen 727; 731 f.; 735 f. (KGA II/6, S.  332– 334) 31 Kirchengeschichte 1821/22, 83.–84. Stunde (KGA II/6, S.   603–605); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  518–521); Kollektaneen 737–740; 758 f.; 762; 1212 (KGA II/6, S.  334 f. 338 f. 451 f.)

8.  Die dritte Periode

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große Schätze und entscheiden über wunderliche Lehrfragen; Johann XXII. entgeht nach einer solchen Entscheidung nur knapp einer Anklage wegen Ketzerei durch die Universität Paris. Heinrich VII., der kurz vor einer Erneuerung der kaiserlichen Macht in Italien steht, wird mit einer Hostie vergiftet. Ludwig der Bayer verbündet sich mit oppositionellen Franziskanern gegen die Kurie in Avignon. Die Opposition erklärt, daß der Papst in Glaubensfragen dem Konzil untergeordnet sei und daß ihm die weltliche Gewalt überhaupt nicht zustehe. Als der Streit zwischen Ludwig und der Kurie andauert, erklären die deutschen Kurfürsten, ihre Wahl sei auch ohne päpstliche Bestätigung gültig.32 – Neu und bedeutend sind in dieser Zeit die französische Dominanz über das Papsttum und dessen Übergang von der Machtgier zur Geldgier: „also trat die Geldgier an die Stelle der Herrschsucht, wie dies auch eine psychologische Bemerkung ist, daß der Geiz später ist als die Herrschsucht. Damit hing nun das Ablaßwesen zusammen.“33 Kurz nach der Rückkehr des Papsttums aus Avignon beginnt nach einer Doppelwahl das große Schisma: Da die Versuche, es zu beseitigen, zunächst erfolglos sind, veranstalten die Kardinäle Konzile in Pisa und Konstanz, an denen zahlreiche gelehrte Theologen und Kirchenjuristen teilnehmen. Diese erneuern die Theorie von der Überordnung des Konzils über den Papst, das allein die Einheit der Kirche repräsentiere, und setzten Päpste ab und ein. Auf dem Konzil in Basel kann sich der Papst aber auf die Dauer gegen das Konzil durchsetzen, und der von diesem erhobene Gegenpapst dankt ab. Der Literat und ehemalige Anhänger des Konzils Aeneas Silvius Piccolomini verurteilt als Papst (Pius II.) Appellationen an das Konzil als Häresie.34 In den letzten Jahrzehnten dieser Periode ähnelt das Papsttum wieder dem Zustand um 1000: Es treffen sich höchste Machtansprüche gegenüber allen geistlichen und weltlichen Instanzen (und Reaktionen dagegen wie die französische pragmatische Sanktion), Verwickelung in die Niederungen der italienischen Machtkämpfe und die Förderung von mancherlei Aberglauben.35

8.2.2.  West- und Ostkirche Die Trennung zwischen Morgenland und Abendland hat sich für Schleier­ macher schon früh abgezeichnet. Nun sie vollzogen ist, beginnt eine neue Pe­ riode.36 Es gibt zwar wie in der vorigen Periode reichlich Exkommunikationen aus disziplinarischen und dogmatischen Gründen und nun auch Interdikte; über dem Streit um Gilbert de la Porre hätten sich im 12. Jahrhundert fast die römische und die gallikanische

32 Kirchengeschichte 1821/22, 85.–87. Stunde (KGA II/6, S.   609–615); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  521–524. 532–536. 545–549); Kollektaneen 766; 774; 776– 778; 782; 796–798; 801 f.; 815; 1212; 1215; 1222 (KGA II/6, S.  340–345. 347–349. 351. 452. 454 f. 460 f.); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 41. Stunde (SW III/4,1, S.  227). 33  Kirchengeschichte 1821/22, 85. Stunde (KGA II/6, S.  6 09; vgl. auch 120: „Der Papst geht in Geiz über.“) 34 Kirchengeschichte 1821/22, 89.–90. Stunde (KGA II/6, S.   621–623); Kollektaneen 831; 836–838; 847; 849; 854 f. (KGA II/6, S.  355. 357. 360. 362) 35 Kirchengeschichte 1821/22, 90.–91. Stunde (KGA II/6, S.   624–627); Kollektaneen 831; 856–858; 860; 866 f.; 870 (KGA II/6, S.  355. 362–365) 36  Kirchengeschichte 1821/22, 62. Stunde (KGA II/6, S.  544)

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C.  Materialer Teil

Kirche getrennt.37 Aber all das ist nur Teil der Kirchenzucht, also der Versuch, Abweichendes zu disziplinieren und dem Ganzen wieder zu assimilieren; dauerhafte neue Gemeinschaften entstehen so nicht. Was es in dieser Periode wiederum an Abspaltungen kleiner Gruppen von den großen Kirchen gibt, interessiert als Opposition gegen die Hierarchie und die Veräußerlichung und Überfremdung des Christentums (vgl. unten Abschnitt 8.4.), aber nicht unter dem Aspekt der Gemeinschaftsbildung. Nur die Waldenser und Hussiten, die schon einen Übergang zu den evangelischen Kirchen der vierten Periode darstellen, betrachtet Schleiermacher wieder aus kirchensoziologischer Perspektive.

Generell ist Schleiermacher der Meinung, daß das griechische Christentum um 800 die Periode seiner geistigen Kreativität schon hinter sich hat, während die noch nicht lange christianisierten und kultivierten Völker des Westens sich erst allmählich zu eigener geistiger Produktivität entwickeln: „die steigende Macht des Abendlands und das Sinken des Morgenlands laufen parallel. Den Mangel an Productivität sehn wir ähnlich auf der frankfurter Synode [von 794, die erklärte, sich lieber an das Tradierte zu halten als Neues zu formulieren], nur daß sie hier noch nicht geweckt, dort im Verfall war. […] Wir werden in der griechischen Kirche nur in der Folge immer ein Absterben, im Abendlande eine immer steigende Wissenschaftlichkeit finden.“

Die griechische Kirche verfiel durch innere Unruhen, durch die Angriffe des Islam und durch abnehmende religiöse Produktivität.38 Schleiermacher müßte also dort, wo die faktisch schon bestehende Spaltung zwischen östlichem und westlich-lateinischem Christentum von den Kirchen nun auch als gegenseitiger Bann vollzogen wird, eher auf der Seite des aufgehenden Westens als auf der des niedergehenden Ostens stehen. Tatsächlich liegen Schleiermachers Sympathien aber mehr bei der östlichen Seite, und zwar wohl aus Abneigung gegen das Papsttum, also deshalb, weil der Osten für ihn im Recht ist, wenn er Versuche Roms, den eigenen Patriarchatssprengel auf Kosten der anderen zu erweitern, ebenso zurückweist wie Einmischungen und Primatsansprüche der Päpste.39 – Die dogmatische Seite der Trennung zwischen Konstantinopel und Rom, die Frage, ob man den dritten Artikel des nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses um die Bestimmung ergänzen solle, daß der Geist vom Vater „und vom Sohn“ (filioque) ausgeht, hat Schleiermacher sehr interessiert (vgl. unten Abschnitt 8.3.1.2.).

37  Kirchengeschichte 1821/22, 81. und 82. Stunde (KGA II/6, S.  596. 598 f.); Kollektaneum 725 (KGA II/6, S.  331) 38  Kirchengeschichte 1821/22, 62. und 63. Stunde (KGA II/6, S.  543. 547); vgl. Kollekta­ neum 605 (KGA II/6, S.  283) 39  Vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 63. Stunde (KGA II/6, S.  548): „Die römischen Bischöfe suchten nun ihr Ansehn auch auf die Gegenden auszudehnen die ursprünglich durch die griechische Kirche waren christlich geworden. Das gab auf der anderen Seite wieder Veranlassung zur Trennung von der griechischen Kirche.“

8.  Die dritte Periode

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Die Umstände des Schismas zwischen Nikolaus dem Großen und Photius erzählt Schleiermacher in aller Ausführlichkeit. Für ihn ist Rom mehr im Unrecht, muß aber zuletzt eine Schlappe einstecken, indem Konstantinopel den auf einer recht kläglichen, von Rom aber für ökumenisch erklärten Synode über Photius verhängten Bann später wieder kassiert. Nicht ohne Niveau sind immerhin die Beiträge Photius’, Ratramnus’ und anderer zum theologischen Streit über das „filioque“ und die Priesterehe.40 Zur selben Zeit werden die griechischen Bulgarenmissionare Cyrill und Methodius, die in Mähren eine neue Kirche begründet haben, von den benachbarten deutschen Bischöfen und vom Papst unter römische Obödienz gebracht, immerhin unter Zugestehung der slawischen Gottesdienstsprache. Daß die beiden Missionare auf diese Anmaßungen eingingen, mag nach Schleiermacher daran liegen, daß sie sich aus politischen Gründen mit Rom gut stellen wollten, oder auch daran, daß sie Gegner der in Konstantinopel gerade restituierten Bilderverehrung waren.41 Im elften Jahrhundert greift Patriarch Michael Caerularius von Konstantinopel die abendländische Kirche an, und zwar besonders ihren Brauch, das Abendmahl mit ungesäuertem Brot zu halten. Eigentliche Ursachen dieser Polemik seien aber wohl die Konkurrenz beider Kirchen in Bulgarien und die Errichtung einer lateinischen Kirche und lateinischer Klöster in Konstantinopel gewesen, die Michael denn auch schließen ließ. Kaiser Konstantin IX. Monomachos, der mit Rom ein Bündnis gegen die Normannen anstrebt, versucht vergeblich zu vermitteln: Die römischen Gesandten in Konstantinopel bannen Michael und die östliche Kirche, und Michael erwidert den Bann. Schleiermacher erzählt noch, Michael habe die Patriarchen unter islamischer Hoheit gebeten, sich seinem Bann anzuschließen; Petrus III. von Antiochien antwortete, man dürfe bei barbarischen Nationen, wie es die Lateiner eben seien, keine so großen Kenntnisse und Einsichten erwarten; solange sie nur keine Zusätze zum Symbol machten und verheiratete Priester nicht verachteten, solle man mit ihnen Frieden halten. Doch auch er vollzog die Trennung.42 An Versuchen der Kirchen, die Gemeinschaft wiederherzustellen, fehlt es nicht; Schleiermacher kommt oft darauf zurück. Dabei sind aber beide Seiten eigennützig: Die Griechen brauchen Unterstützung gegen die islamische Bedrohung, die Päpste wollen ihren Primat und ihren Ritus über den Osten ausdehnen. Da mithin kein echtes religiöses Interesse vorliegt, kommt eine dauerhafte Union nicht mehr zustande.43 Dagegen gelingt der lateinischen Kirche die Union mit einigen orientalischen Kirchen. Deren Motiv war nicht wie bei den Griechen die Suche nach einem Verbündeten gegen den

40 Kirchengeschichte 1821/22, 71. Stunde (KGA II/6, S.   567–570); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  414–422); Kollektaneen 620; 638; 662; 691; 1156; 1158 f. (KGA II/6, S.  286 f. 290. 297 f. 308–310. 432 f.) 41  Kirchengeschichte 1821/22, 63. und 72. Stunde (KGA II/6, S.  547 f. 570); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  398); Kollektaneen 631; 693 (KGA II/6, S.  289. 312) 42 Kirchengeschichte 1821/22, 72. Stunde (KGA II/6, S.   570 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  438–440); Kollektaneen 691; 1169 (KGA II/6, S.  311 f. 437). Vgl. zum Letzten auch Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  421), wonach das griechische Bildungssystem im neunten Jahrhundert dem westlichen überlegen gewesen sei. 43 Kirchengeschichte 1821/22, 77.–79., 83., 86.–87. und 89.–90. Stunde (KGA II/6, S.  586. 589–591. 602. 611. 614 f. 621 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  480–482. 516 f.); Kollektaneen 704 f.; 708; 710; 731; 744; 782; 803; 831; 837; 859; 1211 (KGA II/6, S.  320 f. 323–325. 332. 335. 344. 349. 355. 357. 363. 451)

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C.  Materialer Teil

Islam, sondern die Hoffnung, durch den Papst mit der abendländischen Kirche und so mit der Tradition und Weiterentwicklung des Christentums verbunden zu bleiben.44

8.2.3.  Mission und Kreuzzüge Während in der zweiten Periode die äußere Verbreitung hinter der inneren Entwicklung zurücktrat,45 dominiert in der dritten Periode der Eifer für die Verbreitung des Christentums und für die Feststellung der kirchlichen Verhältnisse zu den bürgerlichen; demgegenüber verliert das Christentum an intensiver Kraft.46 „Wenn wir uns aber das innere dieses Christenthums vorstellen wollen: werden wir sehen, wie bei der Ausbreitung in Masse das innere und die Reinheit des Christenthums aufgeopfert worden, und eine neue Bewegung nöthig war dies wiederherzustellen, nur war jezt die Zeit dazu noch nicht gekommen.“47 Die Geschichte der Mission unter den Wenden, Nordgermanen, Polen, Ungarn und östlichen Slawen handelt Schleiermacher eher überblicksartig ab. Christianisierte Völker wie die Sachsen und Böhmen wollen das Christentum zu den Nachbarn weitertragen. Bei denen hat das Christentum lange eine wechselhafte Geschichte: Es wird mit den alten Religionen vermischt, der Wunderglaube spielt eine nicht geringe Rolle; auch ist die Religion bei den zahlreichen inneren Kriegen Parteisache und Hilfsmittel bei der Suche nach Verbündeten.48 – Um die Mähren, Bulgaren und Völker des Baltikums treten Missionare der lateinischen und griechischen Kirchen in Konkurrenz zueinander, und hier sympathisiert Schleiermacher wieder mit der östlichen Seite: Den Lateinern geht es mehr um den Sprengel des römischen Papstes als um das Christentum als solches. Bei den Mähren und Bulgaren setzen sie für ihre Zwecke noch diplomatische Mittel ein; die von den Russen friedlich zum griechischen Christentum bekehrten Livländer bekehren die Deutschen gewaltsam zum römischen.49

Die Wurzeln der Kreuzzüge verfolgt Schleiermacher zurück bis zu Papst Silvester II. und Gregor VII.; 50 unter Urban II. kommen sie zustande. Um diese „große Weltbegebenheit“51 zu erklären, unterscheidet Schleiermacher den unmittelbaren Anlaß (den Willen, das Christentum im Orient zu stärken) und Urbans 44 Kirchengeschichte 1821/22, 82. und 90. Stunde (KGA II/6, S.   601 f. 622); Kollek­ taneen 741; 831 (KGA II/6, S.  335. 355) 45  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  697) 46  Kirchengeschichte 1821/22, 74. Stunde (KGA II/6, S.  577) 47  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  432) 48  Kirchengeschichte 1821/22, 63., 72. und 82. Stunde (KGA II/6, S.  546–548. 570–572. 600); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  396–398. 429–432); Kollektaneen 627–634; 693 f.; 728; 1162–1164 (KGA II/6, S.  288 f. 312 f. 332. 435 f.) 49 Vgl. oben Abschnitt 8.2.2., weiter Kirchengeschichte 1821/22, 83. und 90. Stunde (KGA II/6, S.  603. 622); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  397); Kollektaneen 1146; 1164; 1210 (KGA II/6, S.  429. 436. 450). 50  Kirchengeschichte 1821/22, 66. und 78. Stunde (KGA II/6, S.  555. 589); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  4 44 f. 480); Kollektaneen 651; 704 (KGA II/6, S.  294. 320) 51  Kirchengeschichte 1821/22, 66. Stunde (KGA II/6, S.  555)

8.  Die dritte Periode

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Zweck (den Primat über die Ostkirchen) und seine Mittel (Ablässe und Legaten) von der tieferen Ursache. Die liege nicht im zufälligen Zusammentreffen der Anlässe oder auch in der europäischen Machtpolitik, sondern im religiösen Zustand der damaligen Zeit: Der Glaube hängt sich an Äußeres, hier an Palästina als heilige Stätte, und Wallfahrten gelten als verdienstliche Werke. So unternimmt man bewaffnete Wallfahrten an die heiligen Stätten, die diese wieder in den Besitz der Christen bringen. Das Ganze ist also eigentlich reli­g iös motiviert. Unbewußt wirken freilich bald auch die anderen Impulse und Motive dieser Zeit mit, die politischen Ziele der geistlichen und weltlichen Mächte und auch der Wandertrieb der abendländischen Völker, der damals noch nicht ganz erloschen, in Europa aber nicht mehr zu befriedigen gewesen sei.52 Insofern sind die Kreuzzüge zugleich Produkt und Spiegel der den damaligen Prot­agonisten vielfach nicht bewußten überpersönlichen Instinkte, Kräfte und Ideen. Schleiermacher teilt ansonsten die Abscheu seiner Zeitgenossen gegen Aberglauben, Brutalität und Pöbelhaftigkeit der Kreuzfahrer: 53 Die tatsächlichen Teilnehmer am Kreuzzug sind mehr Abenteurer und Umhertreiber als Helden des Glaubens. Walter Habenichts führt einen Zug Gesindel an, der unterwegs brutal gegen Juden wütet und bald zersprengt wird; Jerusalem wird unter einem Blutbad erobert. Gottfried von Bouil­ lon und Tankred von der Normandie glänzen immerhin auch mit ritterlichen Taten. Bald kommt es zu Konflikten mit dem griechischen Klerus im Orient und zu Intriguen der Kreuzfahrer gegeneinander; Üppigkeit und Sittenverderbnis reißen ein und können nur durch angebliche Wunder und Visionen gedämpft werden. Dabei verfahren die Moslems gegen die Europäer sehr rechtlich.54

8.2.4.  Religiöses Leben Wieder beschreibt Schleiermacher ausführlich die Trübung des Christentums dadurch, daß sich der Glaube an Äußeres und an äußere Bräuche hängt. Nach einer Notiz am Anfang der Kollektaneen haben Reliquienverehrung, Heiligendienst und die Vorstellung von einer Transsubstantiation der Elemente im Altarsakrament eine gemeinsame Ursache, nämlich die „Sehnsucht nach 52  Kirchengeschichte 1821/22, 78.–79. Stunde (KGA II/6, S.  589–591); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  480 f.); Kollektaneen 704; 710 (KGA II/6, S.  320. 325) 53  Vgl. z. B. Semler: Versuch 1, S.  375–377. 54 Kirchengeschichte 1821/22, 79. Stunde (KGA II/6, S.   590 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  481–484); Kollektaneum 710 (KGA II/6, S.  324 f.). – Schleiermacher kommt hier und da auf die weitere Entwicklung zu sprechen: auf neue Kreuzzüge, die meist ebenso erfolglos bleiben wie die Versuche, die Begeisterung wiederzubeleben, und auf den allmählichen Verlust aller Besitzungen an die Moslems, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 82.–83., 86. und 90. Stunde (KGA II/6, S.  600 f. 610 f. 624); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  516–518. 533); Kollektaneen 729 f.; 766; 779; 781; 856; 1211 (KGA II/6, S.  332. 340. 343. 362. 451). Die Sachsen unternehmen ihre Kreuzzüge nicht nach Palästina, sondern gegen die Wenden und die Heiden im Ostseeraum, vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 82., 83. und 85. Stunde (KGA II/6, S.  600. 603. 609 f.); Kollektaneen 729; 756; 772; 1210 (KGA II/6, S.  332. 338. 341. 450).

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C.  Materialer Teil

Vergegenwärtigung der Wunder“.55 Es handelt sich also um das Problem des nachapostolischen Zeitalters, das geschichtlich notwendige Ende der ersten Be­ geisterung zu verarbeiten und das christliche Leben Geist unter den Bedingungen des „fleischgewordenen“ Geistes zu führen. – Eine Nachricht, zu Beginn der Periode seien in den Klöstern so viele Wunder geschehen, daß sie den Mönchen schön lästig geworden seien und die um ein Ende derselben gebetet hätten, erzählt Schleiermacher weiter, ohne daß klar wäre, ob er sie glaubt oder nicht.56 Wenn aber tatsächlich Wunder geschehen sind, dann eben nur dadurch, daß sich in der Missionssituation das Urchristentum gewissermaßen noch einmal wiederholt; dazu gehören Begeisterung und Wunder, aber eben auch das, daß der christliche Gemeingeist noch von außen kommt und noch nicht zum Besitz einer religiös mündigen Gemeinde geworden ist (und das entspricht wiederum der streng heteronomen, „mosaischen“ Gesetzlichkeit, in der die jungen Völker zunächst leben, vgl. oben Abschnitt 7.2.2.). Der Versuch, das Urchristentum durch Wunder und wunderbare materielle Gegenstände zu perpetuieren, bedeutet nun aber eine Korrumpierung des wahren Enthusiasmus „durch Aufnahme der Zauberei in die Religion“; 57 letztlich will man in religiöser Unmündigkeit und auf einer tieferen Stufe der Religionsgeschichte verharren, bei der partielle und totale Abhängigkeit noch nicht unterschieden werden.58 In die Heiligenverehrung kommt insofern ein neues Element, als es seit dem späten zehnten Jahrhundert ein neues, geregeltes Verfahren der Kanonisation gibt. Die Kirche hatte schon deshalb einen Bedarf an neuen Heiligen, weil sie deren Reliquien brauchte, denn neue Kirchen und selbst Hauskapellen konnten ohne Reliquien nicht geweiht werden.59 (Angebliche) Reliquien werden zur begehrten Handelsware. Durch die Fahrten nach Palästina und die Kreuzzüge nimmt die Sache noch einen Aufschwung.60 Die beiden großen Bettelorden streiten sich um ihre Heiligen: Die Dominikaner mißgönnen den Franziskanern die Anerkennung der Stigmata des heiligen Franz, und Six55 

Kollektaneum 2 (KGA II/6, S.  143) 1821/22, 65. Stunde (KGA II/6, S.   553); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  389); Kollektaneum 591 (KGA II/6, S.  280) 57  Kollektaneum 2 (KGA II/6, S.  143) 58  Vgl. Ethik 1812/13, Güterlehre, Vollkommene ethische Formen, §  2 03. 227 f. (Werke 2, S.  120. 124 f.); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  8,1–3; 47; 54,1 (KGA I/13,1, S.  64–70. 276–286. 325 f.). In einer handschriftlichen Randglosse Schleiermachers zu §  8,2 der Glaubenslehre heißt es: „b) Zauberer; die unendliche Causalität ist in der endlichen als magisch mit enthalten; c) willkürliches Haften des Abhängigkeitsgefühls an einem einzelnen Gegenstand.“ (KGA I/13,1, S.  66) Damit ist wohl der Götzendienst gemeint, es gilt aber z. B. auch für den Glauben an wundertätige Reliquien. 59 Kirchengeschichte 1821/22, 65.–66. Stunde (KGA II/6, S.   553); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  434); Kollektaneen 592; 650; 671; 675; 1166 (KGA II/6, S.  280. 294. 299 f. 436) 60 Kirchengeschichte 1821/22, 68., 83. und 91. Stunde (KGA II/6, S.   558. 602. 625); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  525); Kollektaneen 673 f.; 745; 831 (KGA II/6, S.  299. 335. 355) 56 Kirchengeschichte

8.  Die dritte Periode

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tus IV. greift auf Seiten seines Ordens, der Franziskaner, in den Streit um die Wundmale der Dominikanertertiarin Katharina von Siena ein und erklärt sie für unecht.61 Allmählich setzt sich das neue Verständnis des Altarsakraments durch als einer Opferhandlung mit gewandelter, heiliger Materie. Den Zweifelnden kann die Verwandlung durch ein Wunder demonstriert werden.62 Das Abendmahl wird nun als Opferung des Leibes Christi gehalten, für die es der Kommunion der Gläubigen nicht unbedingt bedarf. Es wird auch für Verstorbene dargebracht.63 Aus der Kirchenzucht entwickelt sich das Buß- und Ablaßwesen: Die Geistlichen orientieren sich bei der den Büßenden auferlegten Satisfaktionen an der ihnen geläufigen Mönchsdisziplin und schreiben äußerliche Dinge vor wie Kasteiungen und Psalmensingen, die mit innerer Besserung wenig zu tun haben. Als Buße können ersatzweise auch andere Dinge geleistet werden, die als verdienstlich gelten, etwa Gaben an die Kirche und Wallfahrten. Damit beginnt der Ablaß. Die Mißbräuche im Bußwesen erklärten sich aber auch aus der Mangelhaftigkeit der damaligen weltlichen Gerechtigkeitspflege.64 Später kann der Papst Sündenablaß für die Teilnahme am Kreuzzug und für die Pilgerfahrt nach Rom im Jubeljahr erteilen; die Pilgerreisen brachten viel Geld ein, deshalb wurden die Jubeljahre immer öfter angesetzt.65

Der religiöse Bildungsstand der Laien ist niedrig; das Predigen, das daran etwas bessern könnte, wird nicht gepflegt, indem die meisten Kleriker dazu auch gar nicht in der Lage sind und sowieso andere Interessen haben. Laut einer Visitationsordnung aus karolingischer Zeit sollte bei den Laien vor allem darauf geachtet werden, daß sie keine Zauberei trieben, nicht in Unzucht lebten und die Fasten hielten. Für die vornehmen Laien schrieb Jonas von Orleans damals eine Anweisung zum christlichen Leben, die „nicht übertrieben mönchisch“ war.66 – Als generelle Regel gilt, daß die Kleriker explizit glaubten, was die Kirche glaube, die Laien hingegen implizit, indem sie den von der Kirche festgesetzten Glaubensinhalten beistimmten, ohne sie im Einzelnen genau zu kennen.67 Die Bestimmungen über die Qualifikation der Geistlichen zu Beginn der Periode zeigen, wie Schleiermacher ausführlich darlegt, ebenfalls ein niedriges Bildungsniveau. Zu Bischöfen wurden in der Regel Hofgeistliche oder Mönche gemacht; die einen wa61 Kirchengeschichte 1821/22, 84. und 91. Stunde (KGA II/6, S.   605 f. 625); Kollek­ taneen 773; 831 (KGA II/6, S.  341. 355) 62  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  4 05 f.); Kollektaneen 1153; 1216 (KGA II/6, S.  432. 456) 63 Kirchengeschichte 1821/22, 69. Stunde (KGA II/6, S.   560 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  389 f.); Kollektaneen 593; 597 (KGA II/6, S.  280 f.) 64  Kirchengeschichte 1821/22, 67. und 91. Stunde (KGA II/6, S.  558. 626 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  524); Kollektaneen 593; 670; 863; 870; 1142; 1213 (KGA II/6, S.  280. 299. 364 f. 428. 453). – Vgl. zu Schleiermachers Ablehnung von Fasten, Kasteiungen und Selbstpeinigungen als Buße und Kirchenzucht auch Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  105–107; SW I/12, S.  141–150) 65  Kirchengeschichte 1821/22, 78., 85., 87. und 91. Stunde (KGA II/6, S.  590. 609 f. 615. 625); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  524 f.); Kollektaneen 782; 819; 823; 857; 1213 (KGA II/6, S.  345. 352 f. 363. 453) 66  Kirchengeschichte 1821/22, 67. Stunde (KGA II/6, S.  556. 558); Kollektaneen 658 f.; 686; 1140 (KGA II/6, S.  296. 301. 427) 67  Kirchengeschichte 1821/22, 86. und 89. Stunde (KGA II/6, S.  613. 619); Kollektaneen 809; 833 (KGA II/6, S.  350. 356)

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C.  Materialer Teil

ren weltlich gesinnt, die anderen ungebildet. Die geistlichen Aufgaben der Bischöfe, auch das Predigen, versahen vielfach deren Presbyter. Für die Predigten erstellt Paulus Diaconus ein Homiliarium aus den Werken der Kirchenväter; synodale Kanones schärfen ein, in den neuen Volkssprachen zu predigen, die sich gerade vom Lateinischen gelöst hatten. (Da die Geistlichen aber oft in eine andere Provinz des Reichs mit anderer Sprache berufen wurden, war das schwer umzusetzen.) 68 Von den Presbytern verlangte man den Besitz verschiedener Bücher für Liturgie und Lesungen. Aus der Bibel mußten sie die Perikopen der Sonntage kennen, außerdem die Genesis (wohl wegen der Erbsündenlehre).69 Vom Kloster Cluny und den von ihm ausgehenden Impulsen erwähnt Schleiermacher kurz die strengere Mönchszucht und ausführlicher das hohe Ansehen der Äbte und ihre direkte Unterstellung unter den Papst. Da der Papst den Bischöfen untersagte, über Mitglieder cluniazensischer Klöster den Bann zu sprechen, mußte die Disziplin doch wieder verfallen.70 – Im 14. Jahrhundert findet sich wieder der Zustand vor der von Gregor VII. angestrengten Reform: Die Bischöfe und Kanoniker sind ganz weltlich gesinnt und gebärden sich als weltliche Machthaber, und die Geistlichen halten den Zölibat nicht ein, sondern leben im offenen Konkubinat. Die Bildung der Geistlichen sei übrigens durch die Universitäten nicht besser geworden; kompetent seien sie nur in scholastischen Spitzfindigkeiten gewesen wie dem Problem, was es bedeute, wenn eine Maus an der Hostie nage.71 Das Reformkonzil von Konstanz traf immerhin die gute Einrichtung, daß Bischof nur werden dürfe, wer Doktor oder Lizentiat der Theologie oder des kanonischen Rechts sei.72

Daß die Kirche in dieser Periode gerade dem Mönchtum Innovationsschübe verdankte, hat Schleiermacher nicht gesehen. Die zisterziensische Bewegung und die Bettelorden werden kaum am Rande erwähnt, die Dominikaner als Detail in der Geschichte der Inquisition.73 Über die Kartäuser sagt Schleiermacher, sie „legten ein besonderes Verdienst auf die Schweigsamkeit, aber eine christliche Anstalt von vornherein auf sie zu basiren, ist etwas ungeheures, da das Wort eben das Prinzip des Christenthums ist.“74

Um die Liebe zum Christentum im Volk zu erhalten, das vor allem auf äußer­ liche Reize anspricht, entfalten die Gottesdienste große liturgische Pracht; die68  Kirchengeschichte 1821/22, 61., 63. und 74. Stunde (KGA II/6, S.  541. 546. 577); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  388); Kollektaneen 559 f.; 574; 594 (KGA II/6, S.  266. 269. 280. 300) 69  Kirchengeschichte 1821/22, 67. und 73. Stunde (KGA II/6, S.  556 f. 575); Kollektaneen 654–659; 698 (KGA II/6, S.  295 f. 314 f.) 70 Kirchengeschichte 1821/22, 67. Stunde (KGA II/6, S.   557); Kollektaneen 664; 667 (KGA II/6, S.  298) 71  Kirchengeschichte 1821/22, 86. Stunde (KGA II/6, S.  613); Kollektaneum 809 (KGA II/6, S.  350 f.) 72  Kirchengeschichte 1821/22, 88. Stunde (KGA II/6, S.  618); Kollektaneum 835 (KGA II/6, S.  357) 73 Kirchengeschichte 1821/22, 83. Stunde (KGA II/6, S.   602 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  509 f.); Kollektaneen 756; 1201 (KGA II/6, S.  338. 448) 74  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  508)

8.  Die dritte Periode

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ses scheinbare Entgegenkommen gegenüber den Bedürfnissen der Gemeinde befestigt in ihr allerdings eher Heidentum und Aberglauben.75 „Diese Kunstausbildung müssen wir als eine Art von Ersatz ansehn für die wissenschaftliche Ausbildung.“76 In fränkischer Zeit gibt es eigene Sängerschulen. Die Orgel ist schon recht verbreitet. Die Liturgie wird lateinisch zelebriert, bleibt dem Volk also unverständlich. Den äußerlichen Reiz des Christentums sollen bald neue Feste weiter erhöhen: das Fest Allerseelen, das Fronleichnamsfest und verschiedene Heiligen- und Marientage; in ihnen finden auch die Vorstellungen vom Fegfeuer, von der Transsubstantiation und von der immerwährenden Jungfräulichkeit und Sündlosigkeit Mariens ihre praktische Darstellung.77

Das Beharren auf dem Lateinischen als Sprache der Liturgie nennt Schleiermacher in der Sittenlehre die Ursache großer Korruptionen und Reibungen. Es sei zwar zunächst berechtigt gewesen, um bei der äußeren Verbreitung die Einheit der Kirche zu wahren; doch habe man nicht bedacht, daß die jungen Völker nicht ewig Barbaren bleiben würden und daß ihre Sprachen sich so weit ent­ wickeln und vervollkommnen würden, daß sie auch zu Mitteln der christlichen Darstellung werden konnten. Das Christentum, so an seiner Individualisierung gehindert, konnte auf die Völker nicht seine ganze Kraft äußern, und wo doch ein lebendiges Interesse am Christentum entstand, opponierte man gegen das von Rom aufgelegte Joch der fremden Sprache.78

8.3.  Wissenschaft und Lehre 8.3.1.  Bis zum Auf kommen der Scholastik 8.3.1.1.  Die Kirche im Geistesleben ihrer Zeit Am Anfang der Periode hat das politisch im Reich der Franken wieder aufgestiegene Abendland angefangen, sich das geistige Erbe der Antike anzueignen und selbst wieder geistig produktiv zu werden. Karl der Große baut in seinem Reich mit Gelehrten aus verschiedenen Völkern wie dem Briten Alcuin ein Bildungs- und Schulwesen auf (vgl. oben Abschnitt 7.3.1.). Dazu gehören Schulen für den Klerus an jedem Bischofssitz, an denen die Kanoniker unterrichten; der gelehrteste unter ihnen ist der scholasticus. Auch an den Klöstern werden Schulen eingerichtet; wegen der weltlich-politischen Gesinnung der Bischöfe laufen sie den bischöflichen Schulen bald den Rang ab. An einer solchen Klosterschule, der in Fulda, lehrt Alcuins Schüler Hrabanus Maurus. Er und andere nach ihm sammeln das überkom75 

Kirchengeschichte 1821/22, 67. und 85. Stunde (KGA II/6, S.  558. 609) Kirchengeschichte 1821/22, 74. Stunde (KGA II/6, S.  577) 77  Kirchengeschichte 1821/22, 67., 85. und 90. Stunde (KGA II/6, S.  558. 609. 624 f.); Kollektaneen 672; 675 f.; 745; 782; 857 (KGA II/6, S.  299 f. 336. 344. 363) 78  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  136 f.) 76 

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mene Wissen aus den Kompendien (anderes wurde einstweilen kaum rezipiert) und fassen es in neuen Kompendien für den Unterricht zusammen. Eigenes wird hier einstweilen nur im Fach Musik geleistet, das wegen der gottesdienstlichen Musik unmittelbar mit der kirchlichen Praxis zusammenhing.79 In der Geschichtsschreibung bringt die klösterliche Wissenschaft aber einige beachtliche Werke hervor.80

Im Osten und Westen beschränkt man sich einstweilen darauf, die Anschauungen der Väter und der alten Synoden zu reproduzieren und zu sammeln, da man selbst nicht mehr imstande sei, eigene angemessene Formulierungen für den apostolischen Glauben zu finden. Johannes Damascenus schrieb eine Dogmatik, die Schleiermacher auch in seiner Glaubenslehre gelegentlich zitiert und der er Achtung zollt: Sie stelle zwar keine originelle systematische Leistung dar, zeichne sich aber durch eine scharfe dialektische Fassung der Begriffe aus. Da allerdings die Autoritäten, an die der Damaszener sich halte, weniger eine eigene religiöse Anschauung hätten als vielmehr fremde Anschauungen abwehrten, hätten die meisten Formeln bei ihm einen negativen Charakter.81 – Die biblischen Kommentare, von denen etwa Alcuin und Hraban etliche schrieben, waren nur Kompilationen aus den Werken der Kirchenväter; für den Schulbetrieb ihrer Zeit waren solche Arbeiten indessen wertvoll. Stärker eigenständige Werke schrieben im späten neunten Jahrhundert Photius im Osten und Druthmar (Christian von Stablo) im Westen.82 Ein Solitär in dieser Zeit ist Johannes Scotus Eriugena: Er beherrschte das Griechische, las Plato und Aristoteles im Original und übersetzte die Schriften des christlichen Neuplatonikers Dionysius Areopagita. Scotus war kein Kleriker und kein Theologe. An den Streitigkeiten über das Abendmahl und die Prädestination beteiligte er sich und tat das als Erster so, daß er theologische Probleme nicht vom Standpunkt der Religion, sondern der Philosophie aus erörterte.83 In der Scholastik sollte man versuchen, auf diesem Weg weiterzugehen. 79 Kirchengeschichte

1821/22, 61.–63. Stunde (KGA II/6, S.  541. 545 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  380 f.); Kollektaneen 548 f.; 553; 555; 613; 621; 623; 1135; 1138 (KGA II/6, S.  264–266. 285. 287. 425. 427) 80  Kirchengeschichte 1821/22, 63. Stunde (KGA II/6, S.  546); Kollektaneen 615; 618 f. (KGA II/6, S.  286). – In der Pädagogik würdigt Schleiermacher die karolingische Zeit als pädagogische Regierung (Pädagogik 1820/21, 1. Stunde, hg. von Christiane Ehrhardt und Wolfgang Virmond, Berlin und New York 2008, S.  59). 81 Kirchengeschichte 1821/22, 62. Stunde (KGA II/6, S.   543 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  389. 392); Kollektaneen 600; 601; 605; 1140 (KGA II/6, S.  281–283. 427). Vgl. Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Band 1, Berlin 1821, §  49,1 f.; Band 2, Berlin 1822, §  117,1; 118,2; 119,4. Zusatz 1 (KGA I/7,1, S.  142. 144; I/7,2, S.  35. 44. 55. 57) 82 Kirchengeschichte 1821/22, 68. Stunde (KGA II/6, S.   560); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  405. 422 f.); Kollektaneen 553; 680–683; 1150; 1159 (KGA II/6, S.  265. 300 f. 431. 433) 83  Kirchengeschichte 1821/22, 63. und 70. Stunde (KGA II/6, S.  546. 565 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  4 09 f.); Kollektaneen 622; 669 (KGA II/6, S.  287. 299)

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8.3.1.2. Lehrentwicklung Für die Weiterentwicklung des Lehrbegriffs sieht Schleiermacher zwei Motive: Einerseits habe es noch einige Themen gegeben, die bisher noch nicht bearbeitet worden seien, wie die Abendmahls- und Sakramentenlehre.84 Das andere Motiv ist die Aneignung der bisherigen Dogmenentwicklung durch die jungen abendländischen Völker. Als solche deutet Schleiermacher den adoptianischen Streit um 800 und den Prädestinationsstreit ein halbes Jahrhundert später. Im adoptianischen Streit ging es für Schleiermacher im Prinzip noch einmal um die Fragen des nestorianischen und monotheletischen Streites. Anlaß ist die Lehre ­einiger spanischer Bischöfe, die zwischen Christus als Gott und eingeborenem Sohn ( Joh 1,18) und als Menschen und Erstgeborenem der neuen Menschheit (Röm 8,29) unterschieden; der letztere sei nur adoptierter Sohn Gottes. Alcuin und Paulin von Aquileia hielten dem entgegen, daß die Menschheit Christi angenommen, aber nicht adoptiert sei, vielmehr den Gläubigen zur Adoption durch Gott verhelfe, und daß sich auch gar kein Zeitpunkt nennen ließe, zu dem die Adoption hätte erfolgen können. Die Sache schlief dadurch ein, daß die Spanier teils widerriefen, teils ­sowieso nicht unter fränkischer, sondern arabischer Herrschaft standen, teils sich unter diese begaben. Der Streit litt nach Schleiermacher noch immer an der Unklarheit, ob mit dem Sohn Gottes der ewige Logos oder der Fleischgewordene gemeint sei.85 Im Prädestinationsstreit trägt der Sachse Gottschalk, gegen seinen Willen zum mönchischen Leben gezwungen, nach intensivem Studium die augustinische Prädestinationslehre offen vor. Er wird dafür von Hraban, damals Erzbischof von Mainz, gemaßregelt, dann, ins westfränkische Reich zu Hinkmar verschickt, auch von diesem auf einer Synode verurteilt. Die zweite Verurteilung macht die Sache öffentlich, und nun äußern sich noch viele Theologen zu der Frage. Der Ausgang bleibt unentschieden, nur Gottschalk wird bis an sein Ende in strenger Klosterhaft gehalten. – Den Verlauf und die Meinungen der verschiedenen Personen und Synoden hat Schleiermacher hier wieder sehr detailliert wiedergegeben. Er sympathisiert mit den Prädestinatianern wie Gottschalk, Ratramnus und den Vätern der Synode von Valence, würdigt aber auch die originelle, philosophische Lösung Eriugenas: Das Böse und die ewige Unglückseligkeit seien (nach platonischer Lehre) rein negativ, und das, was nicht da sei, habe Gott auch nicht vorherbestimmt oder vorhergewußt.86

Eine nicht geringe Faszination hat auf Schleiermacher offenbar die Frage ausgeübt, ob der Geist seiner Substanz nach nur vom Vater oder auch vom Sohn ausgehe. Das letztere wurde Lehre im Abendland und durch den Zusatz „filioque“ zuerst in der spanisch-westgotischen, unter Karl dem Großen auch in der fränkischen Kirche ins Nicäno-Constantinopolitanum aufgenommen. Papst Leo III. lehnte den Zusatz allerdings (für Schleiermacher mit Recht) ab, nicht weil es falsch sei, sondern weil es ein für das Kirchenvolk zu schwieriges Pro84 

Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  736) 1821/22, 61. Stunde (KGA II/6, S.   542); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  381–385); Kollektaneen 604; 1136 (KGA II/6, S.  282 f. 426 f.) 86 Kirchengeschichte 1821/22, 70. Stunde (KGA II/6, S.   563–567); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  4 06–413); Kollektaneen 690; 1155 (KGA II/6, S.  305–308. 432) 85 Kirchengeschichte

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blem sei.87 Der eigentliche Streit zwischen beiden Kirchen um den Zusatz entstand erst, als Photius und Nikolaus der Große einander exkommunizierten. Photius wies in einer Schrift den Abendländern mit dialektischer Schärfe nach, daß aus dem filioque eine Zweigötterlehre folge: Ginge nämlich der Geist vom Sohn auf identische Weise wie vom ungezeugten Vater aus, dann müßte der Sohn auch ungezeugt sein, mithin gäbe es zwei Ungezeugte und zwei Prinzi­ pien. Ginge der Geist aber vom Sohn anders als vom Vater aus, dann hätte der Geist zwei verschiedene Prinzipien. Beides widerspräche der Monarchie Gottes des Vaters. Ratramnus berief sich in seiner Antwort darauf, daß der Sohn das habe, was auch der Vater habe ( Joh 14,15). Ansonsten unterschied er zwischen Gezeugtwerden und Ausgehen, damit der Geist nicht als Sohn gelte, meinte aber, die Bedeutung dieses Unterschieds sei unbegreiflich. Schleiermacher bemerkt zu Ratramnus’ Beweisgründen, daß Joh 14,15 dann konsequenterweise auch auf das Ungezeugtsein des Vaters angewandt werden müßte (das Ratramnus natürlich nicht auch dem Sohn zuschreibt) und daß es sinnlos sei, etwas terminologisch zu unterscheiden und zugleich zu erklären, daß die reale Seite des Unterschiedes ganz unbegreiflich sei. Tatsächlich zeigten sich in dieser Kontroverse wieder die alten Aporien der Trinitätslehre zwischen Subordinatianismus, Polytheismus und Sabellianismus: Die Morgenländer hätten den Abendländer vorgeworfen, zu arianisieren, und die verteidigten sich dagegen so, daß sie in den Sabellianismus verfielen.88 Etwas Neues stellt der Abendmahlsstreit dar: Die Vorstellungen über das Sakrament hatten sich zunächst unabhängig von der dogmatischen Reflexion entwickelt, und zwar durch rhetorische Ausdrücke (vgl. oben Abschnitt 4.2.1. und 7.2.4.). Um diese theoretisch einzuholen und nicht einfach dem Bereich der allegorischen Rede zuzuweisen, schrieb Paschasius Radbert aus dem Kloster Corbie eine Abhandlung, die erstmals eine Verwandlung der Elemente in den Leib und das Blut Christi lehrt, dergestalt, daß sie nicht mehr Brot und Wein seien. Dies sei möglich nach Analogie der Schöpfung aus dem Nichts; es sei ein Wunder, das aber zur Prüfung des Glaubens nicht als solches erscheine. Radbert benutze allerdings auch Ausdrücke, die der Vorstellung einer Wandlung widersprachen und eher zu einem symbolischen Verständnis paßten. – Ratramnus, von Karl dem Kahlen nach seiner Meinung zu Radberts Buch gefragt, wollte den von Maria geborenen Leib Christi unterscheiden von dem im Sakrament geistlich genossenen Leib; die Elemente seien eine geistliche Speise, ohne aber aufzuhören, zu sein, was sie waren. – Schleiermacher stellt auch noch die Meinungen Hrabans, Eriugenas und anderer ausführlich dar. Der ganze Streit blieb, 87 Kirchengeschichte 1821/22, 62. Stunde (KGA II/6, S.   544 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  385–388); Kollektaneen 600; 606; 1008; 1123; 1134; 1137 (KGA II/6, S.  281 f. 284. 399. 422. 425. 427) 88 Kirchengeschichte 1821/22, 71. Stunde (KGA II/6, S.   568 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  416–419); Kollektaneum 691 (KGA II/6, S.  309 f.)

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wie er ausdrücklich würdigt, in den Grenzen der offenen Diskussion um die richtige Formulierung der Lehre und um das rechte Verständnis der Schrift; niemand dachte daran, bei abweichenden Meinungen den Glauben in Frage zu stellen oder den Bann auszusprechen. Radberts Buch, das damals nur eine Meinung unter vielen darstellte, leistete indessen dem späteren Transsubstantiationsdogma Vorschub.89 Im elften Jahrhundert wurde noch einmal über das Abendmahl gestritten: Berengar, ein geachteter scholasticus in Tours, verteidigte in Briefen Eriugenas Beitrag zum Abendmahlsstreit des neunten Jahrhunderts aus den Schriften der Kirchenväter und schrieb, daß Radberts Meinung von damals (die inzwischen offenbar um sich gegriffen hatte) eine allzu sinnliche Meinung des Pöbels sei. Berengars literarischer Hauptgegner wurde Lanfranc von Bec; auf sein und des Kardinals Humbert Betreiben wurde Berengar wiederholt abgemahnt und vor Synoden geladen. Berengars eigentliche Meinung sei es offenbar gewesen, daß Leib und Blut Christi im Sakrament spiritualiter und ohne Verwandlung gegenwärtig seien und durch die Gläubigen geistlich genossen würden; auf den Synoden bekannte er dagegen die substantielle Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Altarsakrament. (Diese offenbar geringe Standfestigkeit entschuldigt Schleiermacher damit, Berengar habe nicht um einer Differenz willen, die für ihn nur die Formulierung der Lehre, nicht die Substanz des Glaubens betraf, Mißhandlung und Scheiterhaufen riskieren wollen.) Auch hier hat Schleiermacher noch die Meinungen vieler Zeitgenossen dargelegt. Für besonders verhängnisvoll hält er Lanfrancs Äußerung, daß eine von der kirchlichen Lehre abweichende Meinung nie wahr sein könne, weil dann die Kirche untergegangen wäre: Hier werde die Tradition mit dem Bestand der Kirche gleichgesetzt und damit für schlechthin unangreif bar erklärt. Zuletzt erklärte Papst Gregor VII. kurz nach seiner Thronbesteigung Berengar für rechtgläubig und den Streit für beendet.90

8.3.2.  Die Zeit der Scholastik 8.3.2.1. Scholastik Für die Scholastik zeigt Schleiermacher ein ganz auffallendes Interesse, nicht nur in seiner Kirchengeschichte, sondern auch in seiner Philosophiegeschichte. In einem Brief an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann schrieb Schleiermacher 1812: „Ich habe nun schon zweimal Geschichte der Philosophie gelesen zu meiner großen Belehrung und könnte mit mehr solchen Monographien wie der Heraclit im Museum auch aus der dunkeln Zeit des Mittelalters hervortreten.“91 89 Kirchengeschichte

1821/22, 68.–70. Stunde (KGA II/6, S.   560–563); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  399–406); Kollektaneen 622; 689; 1145; 1147–1153 (KGA II/6, S.  287. 302–305. 428–432) 90  Kirchengeschichte 1821/22, 74.–75. Stunde (KGA II/6, S.  578–580); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  4 40–444); Kollektaneen 701; 1168; 1172 (KGA II/6, S.  315–317. 437–439) 91  Brief (4.7.1812) an Carl Gustav von Brinckmann (Briefe 4, S.  186). Die Rede ist von

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Monographien über die mittelalterliche Philosophie hat Schleiermacher dann doch nicht geschrieben. Was ihn aber an der Scholastik wohl zugleich anzog und abstieß, war ihr Ringen um die Frage, die auch für Schleiermachers System zentral ist, nämlich wie sich Religion, Wissenschaft und Theologie zueinander verhalten, ob zwischen ihnen Abhängigkeiten, Konvergenzen oder auch Widersprüche bestehen.92 Wenn Schleiermacher sonst von Scholastik und scholastisch redet, meint er so etwas wie eine antiquierte Mischung von christlicher Religionslehre und spekulativer Metaphysik, die in kleinen Schritten schematisch und oft nach vorgegebenen Loci voranschreitet und in der das Bilden und Zergliedern der Begriffe und Formeln eine große, die lebendige Fülle der natürlichen und geschichtlichen Phänomene dagegen kaum eine Rolle spielt. Die Scholastik kann Schleiermacher einen Tiefpunkt, aber auch die höchste Blüte der Dogmatik nennen.93 In der Kirchengeschichte weist Schleiermacher zunächst darauf hin, daß die Scholastik sich und ihren Namen einer bestimmten Wissenschaftsorganisation verdankt, nämlich den Kathedral- und Klosterschulen mit den scholastici, wie sie in der karolingischen Zeit eingerichtet wurden. Die Scholastik ist somit eine Frucht des karolingischen Bildungsprogramms, die aber erst eingebracht wird, als die Bemühungen um die äußere Verbreitung des Christentums zu einem vorläufigen Ziel gekommen sind. Die beginnende wissenschaftliche Eigenständigkeit des Abendlandes zeigt sich auch in der Medizin und der Rechtskunde,

Schleiermachers Studie „Herakleitos, der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten“, in: Museum der Alterthumswissenschaft 1 (1808), S.  313–533 (KGA I/6, S.  101–241). 92  Vgl. dazu z. B. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi (30.3.1818) (hg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, in: Hg. Walter Jaeschke: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Quellenband, Philosophisch-literarische Streitsachen 3,1, Hamburg 1994, S.  394–398); Der christliche Glaube1 1, §  1,4; 2,2; 31,1.4 (KGA I/7,1, S.  12. 15 f. 109–112); Dialektik 1822, 50.–51. und 55. Stunde (KGA II/10,1, S.  265–267. 271 f.; II/10,2, S.  565–571. 584–586); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  2 . 30 f. 89–93); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), S.  255– 284. 481–532, hier 276–278. 492–496. 502–509. 526–530 (1. und 2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  328–330. 348–352. 359–366. 388–391); Der christliche Glaube2 1, §  16 Zusatz; 28,3; 33,3 (KGA I/13,1, S.  133–136. 188 f. 209–211). 93  Vgl. Über die Religion, Berlin 1799, S.  2 6 (1. Rede) (KGA I/2, S.  199 f.); Dialektik 1814/15, 1. Stunde (§  10) (KGA II/10,1, S.  76); Dialektik 1818/19, 2. Stunde (KGA II/10,1, S.  209); Der christliche Glaube1 1, §  5,3; 64,2–4 (KGA I/7,1, S.  19. 189–192); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  13); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  507–509. 522 (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  365 f. 382); Der christliche Glaube2 1, §  16, Zusatz; 28,3 (KGA I/13,1, S.  134 f. 188); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  97 (hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  100). In der Philosophiegeschichte schreibt Schleiermacher, die Scholastik sei zuletzt an der Unmöglichkeit gestorben, Philosophie weiter in einer solchen Trennung vom Realen zu betreiben (Geschichte der neueren Philosophie 1812, 42. Stunde, SW III/4,1, S.  229).

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die einstweilen empirisch betrieben werden, d. h. bei denen zunächst einfach das bisher Bekannte oder Festgesetzte zusammengetragen wird.94 Für die Theologie der Scholastik ist zunächst ihre Form typisch, nämlich die Zerlegung eines Gegenstandes in nacheinander abzuhandelnde Einzelfragen (quaestiones) und die Disputation, sodann die Anwendung der Dialektik, d. h. die Bildung von wissenschaftlich möglichst exakten Begriffen und deren syllogistische Verknüpfung. Die Anwendung der Dialektik beobachtet Schleiermacher schon beim Streit zwischen Berengar und Lanfranc; das „atomistische“ Verfahren, die Teilung der theologischen Gegenstände in einzelne Fragen, führt er auf Augustin zurück. (Anselm von Canterbury, der zusammenhängende Abhandlungen schrieb und nicht Folgen von Einzeldisputationen, war in diesem Sinne kein Scholastiker.) Schließlich sieht Schleiermacher auch in Eriugena einen Vorläufer der Scholastik: Er habe als Erster Glaubensfragen philosophisch abgehandelt, habe sich also nicht auf die Geschichte und die Schrift bezogen, sondern das Geschichtlich-Positive der Religion philosophisch deduziert nach dem Grundsatz, wahre Theologie und wahre Philosophie seien dasselbe.95 Insofern die theologische Arbeit sich mehr auf eine philosophische Metaphysik gründet als auf die Auslegung der geschichtlichen Urkunde des Christentums, der Bibel, kann Schleiermacher auch sagen, der Anfang der Scholastik bedeute einen Verfall der Exegese. Um diese voranzubringen, hätten auch einfach die philologischen Kenntnisse gefehlt; man las einfach die Kommentare der lateinischen Kirchenväter.96 8.3.2.2.  Ansätze des scholastischen Denkens Die Philosophie der Scholastik und ihre Entwicklung prägt der Gegensatz zwischen Realismus und Nominalismus, also zwischen einer Auffassung, die die allgemeinen Begriffe und Ideen für real seiend hält, und einer solchen, die die Allgemeinbegriffe für Abstraktionen und Ordnungsschemata des menschlichen Geistes hält.97 Zur Philosophiegeschichte gehört auch Schleiermachers Bemerkung, der Scholastik habe die Identität des Tranzendentalen und Formalen in der Philosophie schon dunkel im Bewußtsein gelegen (sie habe also geahnt, daß 94 Kirchengeschichte

1821/22, 82.–84. Stunde (KGA II/6, S.  601 f. 606); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  736); Kollektaneen 751; 771 (KGA II/6, S.  337. 341) 95  Kirchengeschichte 1821/22, 70. und 79. Stunde (KGA II/6, S.  565. 591 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  698 f.; SW I/11, S.  4 40; KGA II/6, S.  738–740. 742); Kollektaneen 690; 1179 f. (KGA II/6, S.  306. 441); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 22.–24. Stunde (SW III/4,1, S.  176–179. 184). Vgl. zum Begriff der dialektischen Sprache Der christliche Glaube1 1, §  31 (KGA I/7,1, S.  108–112). 96  Kirchengeschichte 1821/22, 79. Stunde (KGA II/6, S.  592 f.); Kollektaneen 1176; 1180 (KGA II/6, S.  4 40 f.) 97  Kirchengeschichte 1821/22, 77. und 79. Stunde (KGA II/6, S.   584. 591 f.); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 23., 26. und 39. Stunde (SW III/4,1, S.  179. 188 f. 220–222).

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der transzendente Grund des Seins und die formalen Prinzipien allen Denkens und Wissens und alles Denkbaren, also Metaphysik und Logik, in eins fielen), aber eben nur einseitig, nämlich als syllogistische Deduktion aus einem Anfang, dessen Setzung dann immer den Schein des Willkürlichen behalten habe.98 Die Theologie der Scholastik ist durch einen anderen Gegensatz geprägt: Auf der einen Seite steht Anselm von Canterbury, der vom Glauben ausgeht und der dessen Inhalt mit Hilfe der Philosophie explizieren und vertiefen will, auf der anderen Seite Roscellin und Petrus Abaelard, die von der Maxime ausgehen, man könne nur glauben, was man verstehe, und die so die Glaubenssätze einer kritischen Prüfung unterziehen und weiterentwickeln. Anselm ist als Lehrer also mehr ein Mann der Kirche, Abaelard mehr der Schule. Dieser Gegensatz geht quer über den philosophischen, denn Anselm und Abaelard waren Realisten, Roscellin Nominalist. Viele Scholastiker hätten auch das kirchliche und das kritische Prinzip miteinander verbunden: Sie wollten den kirchlichen Glauben verständlich darlegen, auch für die, die ihn nicht teilten, und die Glaubenssätze kritisch näher bestimmen. Auf diese Weise sollten falschen Einseitigkeiten vermieden werden, einerseits ein leeres, areligiöses Formelwesen, andererseits eine sich nach außen hin isolierende, unverständliche religiöse Selbstversunkenheit.99 – Die freie Richtung Roscellins und Abaelards wird dort, wo die Spekulation nicht den kritischen Verstand, sondern das religiöse Bewußtsein zum Ausgangspunkt für ein tieferes Verständnis nimmt, zur my­ stischen Theologie.100 Mystizismus war um und nach 1800 ein Kampf begriff gegen diejenigen, die sich auf übervernünftige, übersinnliche und übernatürliche Wahrheiten beriefen;101 z.T. bedeu-

98  Geschichte der neueren Philosophie 1812, 24. Stunde (SW III/4,1, S.  184). Zur Sache vgl. z. B. Dialektik 1814/15, 2., 9. und 40. Stunde (§  14–16. 76–85. 226 f.) (KGA II/10,1, S.  76 f. 88 f. 151 f.). 99  Kirchengeschichte 1821/22, 77. und 79.–80. Stunde (KGA II/6, S.  584 f. 591–594) 100 Kirchengeschichte 1821/22, 80. Stunde (KGA II/6, S.   593); vgl. auch Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  491 f. 539), wo es heißt, das Scholastische und das Mystische ließen sich nicht gegeneinander ausspielen; das eine meine die dialektische Behandlung einer Frage, das andere das Ausgehen von der inneren Erfahrung. 101  1800 schrieb Kant gegen „eine gewisse Geheimlehre, Mystik genannt“, die sich auf die Möglichkeit einer übersinnlichen Erfahrung berufe, was ein Widerspruch mit sich selbst sei (Immanuel Kant: Prospectus zum inliegenden Werk, in: Reinhold Bernhard Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehn­lichkeit mit dem reinen Mystizism, Königsberg 1800, S.  5 –8, hier 7, Akademie-Ausgabe 8 = I/8, S.  4 41). Vgl. weiter z. B. Johann Severin Vater: Ueber Mysticismus und Protestantismus, Königsberg 1812; ironisch Johann Gottlieb Fichte: Die Anweisung zum seeligen Leben, Berlin 1806, S.  53–57. 149 f. (Akademie-Ausgabe I/9, S.  75–77. 113). Der supranaturalistische reformierte Theologe und Pädagoge Johann Ludwig Ewald: Briefe über die alte Mystik und den neuen Mysticismus, Leipzig 1822, S.  303–367; schrieb, der wahre Mystizismus im schlechten Sinne sei nicht die schrifttreue Theologie, sondern der Rationalismus und die spekulative Religionsphilosophie.

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tete Mystizismus auch einfach Pietismus.102 In diesem Sinn kann auch Schleiermacher das Wort „mystisch“ gebrauchen.103 Weiter kann er mit Mystik (und Mythologie) einen falschen religiösen Realismus bezeichnen, also eine Systematisierung des Inhalts religiöser Vorstellungen unter Absehung von ihrem eben subjektiv-religiösen Bedeutungszusammenhang.104 In der Dialektik sagt er, daß ohne Verbindung mit der Wirklichkeit und der realen Wissenschaft die Philosophie zur Scholastik würde oder auch zur Mystik, d. h. zum bloßen Grübeln über sich selbst.105

Die mystische Theologie nun, wie sie Schleiermacher hier faßt, steht seinem eigenen Konzept der Religion und Theologie nicht fern, und „Mystik“ im Sinne einer erlebten Unmittelbarkeit des religiösen Subjekts zur Transzendenz war das Schlagwort, unter dem in den 1920er Jahren Emil Brunner in seinem bekannten Pamphlet Schleiermacher und dessen theologische Erben angriff.106 Für Schleiermacher haben Glaubenslehre und Kultus das religiöse Bewußtsein zum Gegenstand; 107 dieses Bewußtsein allerdings – und darin kann Schleiermacher sich dann, ähnlich wie auf dem Gebiet der Philosophie, vom Mystischen abgrenzen – gibt es nicht als Spekulation in der Abgeschiedenheit, nicht als von der Wirklichkeit des Endlichen abstrahiertes Gefühl des Absoluten und des Selbst, sondern immer nur zusammen mit der Beziehung auf die Welt und mit dem Bewußtsein, in der Welt zu sein.108 102  Z. B. Carl Friedrich August Fritzsche: Ueber Mysticismus und Pietismus, Halle 1832; Johann Friedrich Theodor Wohlfarth: Ueber die Bedeutung und die Folgen des Streites zwischen Rationalismus, Supernaturalismus und Mysticismus, Halle 1833 103 Glückwünschungsschreiben an die Hochwürdigen Mitglieder der von Sr. Majestät dem König von Preußen zur Aufstellung neuer liturgischer Formen ernannten Commission, Berlin 1814, S.  13 (KGA I/9, S.  59 f.); Ueber das liturgische Recht, S.  63 (KGA I/9, S.  254); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende, Leipzig 1827, S.  43 f. (KGA I/9, S.  429) 104  Über die Religion, 2.  Aufl., Berlin 1806, S.  83 (2. Rede) (KGA I/12, S.  67 f.) 105  Dialektik 1814/15, 1. Stunde (§  10) (KGA II/10,1, S.  76); Dialektik 1818/19, 2. Stunde (KGA II/10,1, S.  209). Vgl. Gedankenheft V (1802/03), Nr.  154 (KGA I/3, S.  322): „Das höhere Leben ist ununterbrochen fortgehende Beziehung des Endlichen aufs Unendliche. Dieses in Verbindung gesezt mit dem Beziehen des endlichen auf einander ist das wahre Philosophiren. Diese lezten Beziehungen um jener willen auf heben, das ist was man im schlechten Sinne Mystik nenen kann“; Geschichte der neueren Philosophie 1812, 43. Stunde (SW III/4,1, S.  231): „Mysticismus, bloßes Brüten über dem transcendentalen“. Ähnlich auch Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente 1796, Nr.  4. 13. 39 f. (Kritische Ausgabe 18, S.  505 f. 509). 106  Emil Brunner: Die Mystik und das Wort, 2.  Aufl., Tübingen 1928, S.  4 8–77. 352– 361. 391–399 u.ö. 107  Der christliche Glaube2 1, §  15; Band 2, Berlin 1831, §  133,1 (KGA I/13,1, S.  127–130; I/13,2, S.  343). In diesem Sinne kann Schleiermacher in der Glaubenslehre dasjenige, was sich auf die innere Erfahrung bezieht und ihr zugänglich ist, mystisch nennen oder auch gegen den Vorwurf verteidigen, allzu mystisch zu sein, vgl. Der christliche Glaube1 1, §  1,2; (KGA I/7,1, S.  11); Der christliche Glaube2 2, §  100,3; 101,3; 124,2; 166,1 (KGA I/13,2, S.  110. 115. 295. 500). 108  Der christliche Glaube2 1, §  4 (KGA I/13,1, S.  32–40). Ebenso entzündet sich die Religion in den Reden nicht nur an der Betrachtung des Selbst oder des Unendlichen, sondern

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C.  Materialer Teil

Das Anselmsche „credo ut intellegam“ und „qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelliget“ hat Schleiermacher bekanntlich zum Motto seiner Glaubenslehre gemacht:109 Der Glaube ist nicht aus der Einsicht abgeleitet, sondern umgekehrt die Einsicht und die wissenschaftliche Dogmatik haben den Glauben und die Glaubenserfahrung zur Voraussetzung und zum Gegenstand. In der Kirchengeschichte ändert Schleiermacher Anselms Diktum (wohl ohne es zu merken) dahingehend, daß das experiri dem credere (statt dem intellegere) vorangehe. Während bei Anselm also tatsächlich der Weg vom Glauben über die Erfahrung zur Einsicht führt, macht Schleiermacher daraus einem Dreischritt von der Glaubenserfahrung (oder dem Gefühl) zum Glauben (als Glaubensinhalt) und von da zur vernünftigen Einsicht und Rechenschaft. – Jedenfalls habe Anselm erkannt, daß Frömmigkeit und theologische Spekulation einen gemeinsamen Grund hätten und nicht auseinandergerissen werden dürften. Nur habe er gemeint, intellegere sei gleichbedeutend mit demonstrare, und so habe er versucht, die (nicht auf spekulativem Wege gewonnenen) Glaubenssätze doch vernünftig und auf syllogistische Weise zu beweisen.110 Anselms Gottesbeweis sei übrigens nicht unter seine theologischen, sondern unter die philosophischen Arbeiten zu rechnen, da er sich rein auf vernünftige Kombination und nicht auf kirchliche Glaubenssätze gründe.111 Die Gegenseite dazu müßte nun beanspruchen, die Glaubenssätze ganz aus der wissenschaftlichen Reflexion abzuleiten, müßte also Philosophie und Theo­ logie identisch setzen. Bei näherem Hinsehen kann Schleiermacher das aber doch nicht aufrechterhalten: Auch Abaelard, der das Verstehen dem Glauben vorordnet, geht von den kirchlich sanktionierten Glaubenssätzen aus, verknüpft sie aber und zieht aus ihnen Schlüsse. Was ihm aber fehle, sei die Einsicht in die Frömmigkeit selbst, die Wurzel und den Einheitspunkt der Glaubenssätze. Zu Abaelards (schon von den Zeitgenossen angefochtenen) Versuchen in der Trinitätslehre bemerkt Schleiermacher, Abaelard habe sich vom „Etymologischen“ leiten lassen (womit hier nicht die Entstehungsgeschichte von Begriffen gemeint ist, sondern wohl ihre Analyse und Verknüpfung), das sei aber auf etwas Historisches (die Heilsgeschichte und den Gegenstand des Glaubens) gar nicht anwendbar. Andererseits ist Abaelard seinen Zeitgenossen darin voraus, daß er

an der Anschauung des Einzelnen und Endlichen als Universum und Ganzes (Über die Religion1, S.  51–58. 158–160. 283 f., 2., 3. und 5. Rede, KGA I/2, S.  211–215. 258 f. 313). 109  Der christliche Glaube1 1, Titelblatt (KGA I/7,1, S.  1); Der christliche Glaube2 1, Titelblatt (KGA I/13,1, S.  1) 110  Kirchengeschichte 1821/22, 77. und 79. Stunde (KGA II/6, S.  584. 593); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  740 f.); Kollektaneen 709; 1181 (KGA II/6, S.  323 f. 441). Zur Sache vgl. z. B. Der christliche Glaube2 1, §  15–17 (KGA I/13,1, S.  127–139). 111 Kirchengeschichte 1821/22, 77. Stunde (KGA II/6, S.   586); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  740). Vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 25. Stunde (SW III/4,1, S.  184–187).

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kein rein theoretisches Verständnis des Glaubens hat: Der Glaube sei eine Erkenntnis sowohl von Wahrheiten als auch von Gütern, also nicht nur dessen, was für sich feststeht, sondern auch dessen, was erst durch den Glauben zuteil wird, der Seligkeit und des Reiches Christi als des höchsten Zieles.112 Schleiermacher führt nun noch viele weitere Theologen vor, die meist Abaelard darin ähneln, daß sie die Aussprüche der Autoritäten sammeln, in Fragenkomplexe einordnen, miteinander verknüpfen und ausgleichen, die aber kirchlicher und konservativer sind, mithin mit weniger dialektischer Schärfe ans Werk gehen.113 Das klassische Lehrbuch dieser Art von Dogmatik und die Zusammenfassung alles Bisherigen sind die Sentenzen des Petrus Lombardus; sie orientieren sich an Abaelards Arbeiten.114 Die scholastische Behandlung der christlichen Lehre stößt im zwölften Jahrhundert noch auf Mißtrauen und Widerstand: Der französische Augustinerchorherr Walter von St. Victor schreibt Ende der 1170er Jahre eine Polemik gegen die „vier Labyrinthe Galliens“, Petrus Abaelard, Gilbert von Poitiers, Petrus Lombardus und Petrus von Poitiers.115 Abaelard und Gilbert werden tatsächlich für bestimmte Lehren auf Synoden verurteilt, und Abaelard muß mehrere seiner Bücher selbst verbrennen; der Anstifter dazu war jeweils Bernhard von Clairvaux.116 Alanus ab Insulis hat um 1200 denselben Ansatz wie Anselm: Er geht von dem aus, was im Glauben erfahren und erkannt wird, legt es aber dann ohne Rekurs auf Bibel, Kirche und Tradition dar, um es auch den Unchristen und Ketzern einsichtig zu machen.117 – Im zweiten Kompendium, nach genauerer Durcharbeitung von Cramers Darstellung des Alanus, korrigiert Schleiermacher das dahin, daß der Glaube bei Alanus erst aus dem wissenschaftlichen Beweis folge und daß das Dasein und die Eigenschaften Gottes doch philosophisch bewiesen würden.118

112 Kirchengeschichte 1821/22, 81. Stunde (KGA II/6, S.   595); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  494 f.); Kollektaneum 722 (KGA II/6, S.  329). Zum Glauben als ursprünglich auch praktischer Erkenntnis vgl. z. B. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  22– 24. 32–38). 113 Kirchengeschichte 1821/22, 80.–81. Stunde (KGA II/6, S.   594–596); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  506 f.); Kollektaneen 714; 717 f.; 724; 1192 (KGA II/6, S.  327 f. 331. 446). Dazu gehören Honorius von Autun, Hugo von St. Victor, Robert Pulleyn und Hugo von Rouen. Hugo von St. Victor rechnet Schleiermacher zu den Mystikern, weil er lehrte, die Gottesliebe sei nicht rein uneigennützig, sondern strebe auch nach dem Besitz und Genuß Gottes. 114 Kirchengeschichte 1821/22, 82. Stunde (KGA II/6, S.   599 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  502); Kollektaneen 713; 1188 (KGA II/6, S.  327. 444); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 28. Stunde (SW III/4,1, S.  194 f.). 115 Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.   493); Kollektaneen 763; 1189 (KGA II/6, S.  340. 444) 116  Kirchengeschichte 1821/22, 81. Stunde (KGA II/6, S.  596–598); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  499–501); Kollektaneen 722; 725; 727; 1187; 1189 (KGA II/6, S.  328 f. 331 f. 444 f.) 117  Kirchengeschichte 1821/22, 84. Stunde (KGA II/6, S.  6 07); Kollektaneum 790 (KGA II/6, S.  346) 118  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  528); Kollektaneum 1213 (KGA II/6, S.  452). In diesem Sinne auch Geschichte der neueren Philosophie 1812, 30. Stunde (SW III/4,1, S.  198–200).

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C.  Materialer Teil

Für die scholastische Wissenschaft bedeutet die Zeit um 1200 einen Wendepunkt: Die Kreuzzüge bringen die griechische Gelehrsamkeit wieder ins Abendland, griechische Sprachkenntnisse und antike und christliche griechische Autoren wie Aristoteles und Johannes Chrysostomus. Die Philosophie, die empirische Wissenschaft und die Auslegung der Schrift bekommen dadurch eine neue Richtung, und unter Klerikern und Laien erwacht die Opposition gegen das bisherige veräußerlichte Christentum. In dieser Zeit werden auch die ersten Universitäten gestiftet.119 Im dreizehnten Jahrhundert lösen die franziskanischen Theologen die Theologie allmählich aus ihrer Vermischung mit der philosophischen Metaphysik: Zum Gegenstand habe die Theologie nicht wissenschaftliche, sondern Glaubenssätze. Mit dem Franziskaner Alexander von Hales beginnt der Aristotelismus in der Scholastik. Für ihn ist die Theologie keine spekulative Wissenschaft, sondern mehr praktische Weisheit und Einsicht in das, was geglaubt (und nicht gewußt) wird.120 Von Alexanders Ordensgenossen Bonaventura sagt Schleiermacher: „seine ganze Speculation war christlich und herzergreifend und ging darauf aus, das Verhältniß des Menschen zum Erlöser darzustellen.“ Bonaventura hat zwar auch einen Sentenzenkommentar geschrieben, aber sein theologisches Denken gründet nicht auf metaphysischen Prämissen und Schlüssen, sondern auf der Betrachtung des Selbstbewußtseins. Die spätere mystische Theologie lehnt sich besonders an ihn an.121 Dagegen macht der deutsche Dominikaner Albert der Große Gott zu einem Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis und die Theologie zu einer Wissenschaft neben den anderen. Er folgt Aristoteles’ Metaphysik, allerdings unter Umgehung alles dessen, was der Kirchenlehre widerspricht (wie der Vorstellung von der Ewigkeit der Welt). In der Theologie hält Schleiermacher Alberts Bedeutung für gering, für umso größer aber in den realen Wissenschaften, für die er seine Aristoteles-Kenntnisse fruchtbar machen kann.122 Der englische Franziskaner Johannes Duns Scotus, ein scharfer Dialektiker aber schlechter Lateiner, machte gegenüber den Dominikanern geltend, daß es für die Gotteserkenntnis der übernatürlichen Erkenntnis bedürfe; diese Erkenntnis sei nur in der Schrift gegeben. So verband Duns den Anselmschen Ansatz der fides quaerens intel-

119  Kirchengeschichte 1821/22, 82.–85. Stunde (KGA II/6, S.  6 01 f. 606 f. 609); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  525 f. 532. 539); Kollektaneen 750; 752; 764; 766; 782; 1220 (KGA II/6, S.  337. 340. 343 f. 457) 120  Kirchengeschichte 1821/22, 84.–85. Stunde (KGA II/6, S.   607); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  531); Kollektaneen 792; 794; 1216 (KGA II/6, S.  346 f. 455 f.). In der Philosophiegeschichte sagt Schleiermacher, Alexander sei kein origineller Denker, sondern habe bloß die Ideen des Alanus und des Richard von St. Victor in eine Summe mit quaestiones umgearbeitet; vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 31. Stunde (SW III/4,1, S.  201 f.). 121 Kirchengeschichte 1821/22, 85. Stunde (KGA II/6, S.   608); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  539 f.); Kollektaneum 793 (KGA II/6, S.  346 f.); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 32. Stunde (SW III/4,1, S.  205 f.). 122 Kirchengeschichte 1821/22, 85. Stunde (KGA II/6, S.   608); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  537); Kollektaneum 1217 (KGA II/6, S.  456); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 33.–34. Stunde (SW III/4,1, S.  207 f. 210 f.)

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lectum mit einem Rückgang auf die Schrift; vom Aristoteles rezipierte er nur die logischen Maximen.123

8.3.2.3.  Themen der scholastischen Theologie In der theologischen Enzyklopädie bemerkt Schleiermacher, daß die Scholastiker die Lehre mehr äußerlich entwickelt hätten, d. h. sie hätten nicht so sehr neue Themen durch Reflexion über das christliche Gefühl lehrhaft erschlossen als vielmehr versucht, die schon vorhandenen Lehren miteinander in Übereinstimmung zu bringen und wissenschaftlich exakter zu formulieren.124 Schleiermacher hat reichlich exzerpiert und kritisch kommentiert, was er über die dogmatischen Arbeiten der Scholastiker gefunden hat. In der Trinitätslehre versuchen die Scholastiker, die Einheit und Eigentümlichkeit der trinitarischen Personen und ihr Verhältnis untereinander mit Hilfe der wiedergewonnenen exakten philosophischen Sprache klarer zu formulieren. Roscellin, der als Nominalist nur den Einzeldingen Realität zuschreibt, sagte, die trinitarischen Personen könnten nicht dasselbe Wesen (res) sein, oder mit dem Sohn müßten auch der Vater und der Geist inkarniert sein; von derselben res könne nämlich logisch nicht zugleich die Affirmation (inkarniert) und die Negation (nicht inkarniert) wahr sein. Anselm als Realist entgegnete, daß so, wie verschiedene Einzelmenschen als Gattung trotzdem nur ein Mensch seien, ebenso die trinitarischen Personen tres res personales seien, aber nur una res essentialis; die Unterscheidung der Personen beziehe sich nicht auf die Substanz, sondern auf das Verhältnis, andernfalls wäre Gott eine zusammengesetzte Natur.125 Anselm verteidigte gegen die Griechen die abendländische Lehre vom Ausgehen des Geistes auch aus dem Sohn: Sohn und Geist müßten so, wie sie jeweils mit dem Vater zusammenhängen, auch untereinander eine Relation haben, sonst wären sie voneinander getrennt; es müsse also einer aus dem anderen geboren sein oder hervorgehen. Nun könne aber der Sohn nicht vom Geist sein: Aus dem Geist geboren sein könne er nicht, sonst hätte er zwei Väter, und aus dem Geist hervorgehen auch nicht, das höbe die personale Unterscheidung zwischen beiden auf. Es müsse also der Geist vom Sohn sein, und zwar nicht geboren, weil es dann zwei Väter gäbe, sondern hervorgehend. Am Ende blieben die drei Personen Deus de quo est Deus (Vater), Deus de Deo de quo est Deus (Sohn) und Deus de Deo (Geist), und so unterscheiden sie sich durch ihr Verhältnis untereinander. – Schleiermacher kann Anselms Gedankenführung die Scharfsinnigkeit nicht absprechen, meint indessen, das alte Problem der Trinitätslehre, daß nämlich der

123  Kirchengeschichte 1821/22, 85. Stunde (KGA II/6, S.  6 08); Kollektaneum 795 (KGA II/6, S.  347). – In der Philosophiegeschichte hält Schleiermacher Duns’ theologische Bedeutung für geringer: Mit der Unerkennbarkeit Gottes meine er bloß die mathematische Unerkennbarkeit, ansonsten bringe er seine Theorie des Willens in seine Gottesanschauung; vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 37. Stunde (SW III/4,1, S.  218). 124  Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  177 (hg. Sachs, S.  166 f.) 125  Kirchengeschichte 1821/22, 77. Stunde (KGA II/6, S.  584–586); Kollektaneum 709 (KGA II/6, S.  323 f.); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 26. Stunde (SW III/4,1, S.  189).

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Vater der Gott an sich sei und Sohn und Geist aus ihm abgeleitet und ihm untergeordnet seien, bleibe doch in ihr stehen.126 Viele Theologen versuchen auch, die Trinität durch Analogien mit der menschlichen Subjektivität und mit der Konstitution der Dinge aus dem Wesen Gottes selbst abzuleiten. Nach Anselm ist der Sohn als Wort die intelligentia und memoria des Vaters, der Geist wiederum das wechselseitige Liebesverhältnis zwischen beiden.127 Alanus beweist Juden und Moslems die Trinität, indem er Gott aristotelisch als die höchste Ursache faßt und auf die dreifache Ursache verweist, die jede Substanz habe: die Materie (Vater), die Form (Sohn) und die Zusammensetzung beider (Geist). Dies sei allerdings, wie Schleiermacher bemängelt, ganz von der Erlösungslehre abgekoppelt, die ja der eigentliche Ort der Trinität sei; denn warum sollte gerade die causa formalis zum Erlöser werden?128 – Von den scholastischen Spekulationen über das Wesen der Gottheit interessieren Schleiermacher die Gottesbeweise129 und die (ursprünglich griechisch-philosophische) Theorie von der Einfachheit Gottes,130 besonders aber die Frage, ob Gottes Macht über das hinausgeht, was er tut, ob also Gottes Dasein und Vermögen auch abgesehen von seiner wirklichen Beziehung auf die Welt zu denken sei.131 Odo von Cambrai wandte seinen realistischen Denkansatz auf die Erbsündenlehre an: In den Ureltern sei das menschliche Wesen (nicht nur als abstrahierter Begriff, sondern real) enthalten gewesen, und so sei mit Adam und Eva die Sünde über die Menschheit überhaupt gekommen. Der Knoten dabei sei, meint Schleiermacher, daß man dann eine Korrumpierung des (als reale Substanz gedachten) Allgemeinen durch das Einzelne 126  Kirchengeschichte 1821/22, 77. Stunde (KGA II/6, S.  586); Kollektaneum 708 (KGA II/6, S.  323) 127  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  742). Vgl. zu solchen Versuchen auch Geschichte der neueren Philosophie 1812, 27. Stunde (SW III/4,1, S.  192); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  496. 540. 542); Kollektaneen 718; 722; 1192; 1221 (KGA II/6, S.  327– 329. 446. 459). 128 Kirchengeschichte 1821/22, 84. Stunde (KGA II/6, S.   607); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  528 f.); Kollektaneen 790; 1213 (KGA II/6, S.  346. 452); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 30. Stunde (SW III/4,1, S.  200). 129  Vgl. oben Abschnitt 8.3.2.2. zu Anselms Gottesbeweis; weiter den Beweis des Petrus von Poitiers aus der Zufälligkeit der endlichen Dinge und dem Bewußtsein der menschlichen Seele von ihrem Anfang (Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  504; Kollektaneum 1190, KGA II/6, S.  4 45) und Alberts aristotelischen Beweis Gottes als des ersten Bewegers (Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.  537; Kollektaneum 1217, KGA II/6, S.  456). 130  Alanus sagt, daß aus diesem Grunde Begriffe adäquater von Gott gebraucht würden als Verben, weil das Verbum eine auf einen Begriff bezogene Aussage sei, also etwas Zusammengesetztes und auf Gott nur uneigentlich Anwendbares. Schleiermacher sagt dazu, ihm erscheine im Gegenteil die Aussage „Gott liebt“ adäquater zu sein als die Aussage „Gott ist die Liebe“; das Nomen mit Kopula sei ja auch bloß die Auseinanderziehung des Verbums (Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, S.   528–530; Kollektaneen 1213  f., KGA II/6, S.  452 f.). 131 Kirchengeschichte 1821/22, 81. Stunde (KGA II/6, S.   595 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  496 f. 505); Kollektaneen 722; 724; 1191 (KGA II/6, S.  329. 331. 445 f.); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 28. Stunde (SW III/4,1, S.  193). Für Schleiermacher sind Gott und Welt einander korrelierende Ideen; er ist also (mit Abaelard) der Meinung, daß Gottes Macht mit seinem Wirken und mit dem Weltzusammenhang zusammenfällt, vgl. Dialektik 1814/15, 36.–39. Stunde (§  216–225) (KGA II/10,1, S.  143–151); Dialektik 1822, 52.–54. Stunde (KGA II/10,1, S.  268–271; II/10,2, S.  574–579); Der christliche Glaube2 1, §  41,2. Zusatz; 54,2 f. (KGA I/13,1, S.  238–240. 326–329).

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annehmen müsse.132 Nach Abaelard ist Sünde nur das, worein der Mensch selbst wissentlich einwilligt. Insofern sei von Adams Sünde die Strafe, aber nicht die Sünde selbst auf seine Nachkommen übergegangen. Dies wurde Abaelard so ausgelegt, als behaupte er, der Wille könne aus eigener Kraft sündlos bleiben. Tatsächlich, meint Schleiermacher, sei Abaelard auf dem richtigen Weg gewesen, einen Irrtum Augustins zu korrigieren.133 Das eigentümlichste und bemerkenswerteste theologische Werk Anselms ist für Schleiermacher „Cur Deus homo“. Darin wird bewiesen, daß die Erlösung der Menschen und das Werk des Gottmenschen Christus notwendig seien; allerdings kenne Anselm nicht, wie ihm oft zugeschrieben werde, ein stellvertretendes Strafleiden, sondern nur ein stellvertretendes Auslösen der menschlichen Schuldigkeit. Diese Idee zum Zentrum der Erlösungslehre zu machen, sei das eigentlich Neue bei Anselm. Schleiermacher kritisiert, daß Anselms Beweisführung damit einsetzt, der Mensch sei zum Ersatz für den von Gott abgefallenen Teil der Engel bestimmt; das sei ein rein spekulativer Satz aus der kirchlichen Lehre, der mit der menschlichen Erfahrung in gar keinem Zusammenhang stehe.134 – Lombardus dagegen bringt die Vorstellung vom Verdienst Christi mit der kirchlichen Lehre von der Buße und den kanonischen Strafen zur Genugtuung in Zusammenhang und sagt, die Wirkung der Leiden Christi sei es, daß sie die den Bußfertigen von der Kirche auferlegten Strafen verminderten. Damit sei die Kirche über Christus gestellt, sagt Schleiermacher, Christi Werk werde als ein Element in das Kirchenrecht eingebaut, und dies sei das Prinzip des Katholizismus, daß nämlich die Kirche als Mittelsperson zwischen Christus und den Einzelnen trete.135 Auf diesem Wege gehen die Späteren weiter: Alexander von Hales stellt die Theorie vom Kirchenschatz auf, „ein schlechtes Verdienst“, wie Schleiermacher findet. Danach teilt der Klerus aus dem Schatz der überverdienstlichen Werke nicht nur Christi, sondern auch der Heiligen denen, die Buße tun, Sünden- und Strafablaß zu. Albert und Thomas von Aquino bauen diese Lehre aus.136

132  Kirchengeschichte 1821/22, 80. Stunde (KGA II/6, S.  594); Kollektaneum 715 (KGA II/6, S.  327 f.). – Rückblickend auf die vorige Periode (vgl. oben Abschnitt 7.3.2.4.) meint Schleiermacher, Augustins Meinung von der Abstammung der Seelen sei realistisch, die Meinung des Hieronymus dagegen (wie die des Hugo von Rouen) nominalistisch (denn wenn jede Seele für sich von Gott erschaffen sei, gebe es das Allgemeine nicht als Realität), vgl. Kollektaneum 718 (KGA II/6, S.  328). Zum Problem vgl. Der christliche Glaube2 1, §  72,4 (KGA I/13,1, S.  4 49–452). 133 Kirchengeschichte 1821/22, 82. Stunde (KGA II/6, S.   598); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  497 f.); Kollektaneum 722 (KGA II/6, S.  330); vgl. Geschichte der neueren Philosophie 1812, 27. Stunde (SW III/4,1, S.  191 f.). Vgl. auch Anselm über das Problem (Kollektaneum 1181, KGA II/6, S.  4 41 f.). 134 Kirchengeschichte 1821/22, 77. Stunde (KGA II/6, S.   585); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  473 f.); Kollektaneum 708 (KGA II/6, S.  322 f.) 135 Kirchengeschichte 1821/22, 84. Stunde (KGA II/6, S.   605); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  503); Kollektaneum 788 (KGA II/6, S.  346). Vgl. Der christliche Glaube2 1, §  24 Leitsatz (KGA I/13,1, S.  163 f.). 136 Kirchengeschichte 1821/22, 85. Stunde (KGA II/6, S.   607); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  531. 542 f.); Kollektaneen 1216; 1221 (KGA II/6, S.  456. 458 f.)

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8.4.  Opposition und Erneuerung Obwohl in dieser Periode der Kirchengeschichte unter einer christlichen Oberfläche viel Heidnisches fortlebt – sowohl Ursache als auch Resultat der veräußerlichten kirchlichen Praxis – gibt es doch einen bald schmaleren, bald breiteren Strom der Opposition dagegen, nicht nur unter den Gelehrten, sondern auch im Volk, der letztlich in die Reformation einmündet. Schon den Bilderstreit des neunten Jahrhunderts deutet Schleiermacher so (vgl. auch oben Abschnitt 7.2.4.). Freunde und Verteidiger der Bilder sind griechische Mönche; das Volk im byzantinischen Reich erhebt sich hingegen nicht für die Bilder. Nur durch Kaiserin Theodora II. und ihren Sohn Michael III. setzt sich der Bilderdienst im Osten durch. Für das Abendland können die Päpste, die zunächst gegen Kaiser und Kirche nicht hatten durchdringen können, schließlich mit hundertjähriger Verspätung auch die Beschlüsse des zweiten Konzils von Nicäa rezipieren. – Daß Schleiermacher größere Sympathien für die Gegner der Bilder hat, ist deutlich. Auf der anderen Seite zitiert er aber auch den „ausgezeichneten“ Bilderfreund Theodor von Studion ohne Widerspruch, der zur Verteidigung der Christus-Ikonen geltend machte, daß im Bild zugleich das Urbild angebetet werde, also die Menschheit Christi, und dieser gebühre kraft der Menschwerdung die Anbetung. Die Abbildung Christi zu verwerfen hieße also, die Gottheit Christi und ihre Menschwerdung zu leugnen.137 – In anderem Zusammenhang heißt es, mit dem Ausgang des Bilderstreits zugunsten der Bilder siege der Kunstsinn im Christentum und zugleich der Trieb der äußeren Verbreitung (unter Anpassung an die Umstände und Bedürfnisse derer, die bekehrt werden sollen) über den der inneren Steigerung.138

In der Karolingerzeit widersetzen sich etliche Geistliche dem Bilder-, Heiligen und Reliquiendienst und dem liturgischen Prunk.139 Später mehren sich die kritischen Stimmen der Gelehrten und Kleriker, die den Betrug beim Reliquienglauben aufdecken und gegen Mißstände in der Verfassung und magische Vorstellungen von den Sakramenten opponieren.140 Indessen: „Bedeutender als diese einzelnen speculativen Oppositionen war die Reaction die vom Volk selbst ausging.“141

Zu Beginn des elften Jahrhunderts gibt es in Frankreich und den Niederlanden Gesellschaften, die als Manichäer hart verfolgt werden und dann verschwinden. 137 Kirchengeschichte 1821/22, 68. Stunde (KGA II/6, S.   559); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  391–393); Kollektaneen 688; 1140 (KGA II/6, S.  302. 427) 138  Kirchengeschichte 1821/22, 74. Stunde (KGA II/6, S.  577). Vgl. dazu auch Kollektaneum 5 (KGA II/6, S.  143 f., oben in Abschnitt 4.3.5. zitiert und besprochen). 139  Kirchengeschichte 1821/22, 68. und 74. Stunde (KGA II/6, S.  559 f. 577); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  393 f.); Kollektaneen 677; 688; 1139; 1142 f. (KGA II/6, S.  300. 302. 427 f.) 140 Kirchengeschichte 1821/22, 83. Stunde (KGA II/6, S.   602); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  525); Kollektaneen 745; 747; 749 f.; 1208 (KGA II/6, S.  335–337. 450) 141  Kirchengeschichte 1821/22, 83. Stunde (KGA II/6, S.  6 02)

8.  Die dritte Periode

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Sie lehnen mit dem liturgischen Ritus und dem Heiligendienst gleich auch die Sakramente ab; ihre gnostische Feindschaft gegen die Materie äußert sich in einer sehr rigorosen Moral bis hin zur Verwerfung der Ehe und im symbolisch-doketischen Verständnis Christi.142 Daß Schleiermacher darin sowohl Unchristliches, Fremdreligiöses sieht als auch eine berechtigte Opposition gegen Mißstände in der Kirche, galt auch für seine Deutung der Gnosis und des Manichäismus: Diese waren zugleich Gegenbewegungen gegen Unbildung und falsche Martyriumssehnsucht, gegen Heiligenkult und Aberglauben und gegen eine unkritische Rezeption des Alten Testaments. Schleiermacher zieht selbst die Parallele zwischen den neuen „Manichäern“ und den alten Gnostikern und Manichäern. Der Oppositionsstrom verbreitert sich um 1200: Paulicianer, Katharer, Albigenser und Bogomilen protestieren gegen die Hierarchie, gegen die große Äußerlichkeit des Gottesdien­ stes und gegen neue Lehren wie die vom Fegfeuer und von der Transsubstantiation, tun das aber so, daß sie auf gnostische Weise zugleich das Geschichtliche im Christentum verwerfen. Nicht nur, daß die Katharer der römischen Kirche bestreiten, etwas mit Petrus zu tun zu haben; Christus selbst wird bei ihnen zu einer Gestalt des gnostischen Mythos.143 Dazu merkt Schleiermacher an: „Auf dieser Basis konnte weder eine Gemeinschaft gestiftet werden noch die Gemeinschaft mit der Kirche erhalten, weil diese ganze auf dem Geschichtlichen ruhte. Die Ausweichung war natürlich, da eben das Aeußerliche seinen Halt suchte im Geschichtlichen.“144

Also: Um gegen Mißbräuche und Tyrannei der Kirche anzugehen, war es das einfachste und wirkungsvollste Mittel, das Geschichtliche in der Religion selbst abzulehnen. Nur wird auf diesem Weg zusammen mit den Mißbräuchen auch das Christentum insgesamt verneint, das eben auf der geschichtlichen Erscheinung Christi beruht, und zugleich jede Stiftung einer Religionsgemeinschaft unmöglich gemacht. Andere Bewegungen sind ohne solche gnostischen Extravaganzen, werden von Schleiermacher aber demselben breiten Oppositionsstrom gegen Aberglauben, Veräußerlichung, Traditionalismus und klerikale Herrschsucht zugerechnet: die Waldenser und die Anhängerschaft verschiedener Volksprediger; auch Arnold von Brescia gehören dazu. Speziell den Waldensern gesteht Schleiermacher die Reinheit ihres Unternehmens zu: Sie wollen sich zunächst nicht von

142  Kirchengeschichte 1821/22, 68. Stunde (KGA II/6, S.  560); Kollektaneen 687; 712; 1167 (KGA II/6, S.  301. 326. 437) 143  Kirchengeschichte 1821/22, 83. und 87. Stunde (KGA II/6, S.  6 02 f. 614); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  365. 482. 511 f.); Kollektaneen 602; 748; 753; 1183; 1203 (KGA II/6, S.  282. 336 f. 443. 448 f.) 144  Kirchengeschichte 1821/22, 83. Stunde (KGA II/6, S.  6 03)

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der Kirche lossagen; erst von der Hierarchie werden sie nach draußen gedrängt.145 In späterer Zeit kommen die Beghinen und Begarden, die Spiritualen und der Apostelorden, die auf strenge Armut nach dem angeblichen Vorbild Christi und der Apostel drängen. Schleiermacher zieht eine Parallele zu der auch sozialrevolutionären Gruppe der radikaldonatistischen Circumcellionen im vierten Jahrhundert. Erst hier erwähnt er kurz, daß die Entstehung der Bettelorden mit der Oppositions- und Armutsbewegung zusammenhing. Bei den Geißlern schließlich ist sich Schleiermacher im Unklaren, ob es sich um eine ordensartige Gesellschaft, um eine Protestbewegung gegen die priesterliche Schlüsselgewalt oder um eine Landplage handelt.146 Die mittelalterliche Mystik hatten wir kennengelernt als Seitenzweig der Scholastik: Sie geht nicht von Sätzen des festgesetzten Lehrbegriffs oder der wissenschaftlichen Metaphysik aus, sondern von der Selbstreflexion des religiösen Subjekts. Nun deutet Schleiermacher sie als positive Entsprechung der Armutsbewegung: Diese setzte sich der kirchlichen Macht und Pracht durch Verachtung und Verneinung des Eigentums entgegen, jene drang positiv auf ein innerliches Christentum und kam so dazu, die Vorstellung von der Verdienstlichkeit und genugtuenden Kraft der äußeren Werke zu bestreiten. Das theoretische Fundament der Mystik sieht Schleiermacher in einer Lehre des Scholastikers Petrus von Poitiers, daß nämlich die Rechtfertigung ein reales Geschehen sei und in der (nicht durch die von der Kirche verordneten sakramentalen Handlungen vermittelten) Eingießung der Gerechtigkeit in die menschliche Seele bestehe. Einige der Mystiker kommen so zum Quietismus. – Ein paralleles Phänomen in der griechischen Kirche, wo sich ansonsten wenig Erwähnenswertes ereignet, ist der Hesychasmus der Mönche vom Athos. Diese wollen durch Zurückziehen in sich selbst zur mystischen Anschauung des göttlichen Lichtes gelangen. Gregor Palamas behauptet die Identität des Wesens Gottes mit seinen Wirkungen, diese seien also ebenfalls unerschaffen. Palamas’ Anhänger freilich sind roh und ungebildet und zu solchen Spekulationen nicht imstande.147 Das Ganze reagiert seit dem 13. Jahrhundert auf die Dissidenten mit einer Gegenmission, die mit Predigten anfängt, aber bald gewaltsam wird. Das wichtigste Instrument dieses Unternehmens ist der Dominikanerorden, dem die Inquisition übertragen wird.148 Die Mystiker werden vor allem dann verfolgt, 145 Kirchengeschichte 1821/22, 83. Stunde (KGA II/6, S.   602); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  486. 514 f.); Kollektaneen 747 f.; 1184; 1204 (KGA II/6, S.  336. 443. 449) 146 Kirchengeschichte 1821/22, 87. Stunde (KGA II/6, S.   613); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  511); Kollektaneen 799; 816; 1207 (KGA II/6, S.  348 f. 351 f. 450) 147  Kirchengeschichte 1821/22, 87. Stunde (KGA II/6, S.  614); Kollektaneen 789; 805– 807 (KGA II/6, S.  346. 350) 148 Kirchengeschichte 1821/22, 83.–85. und 87. Stunde (KGA II/6, S.   602 f. 605. 610.

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wenn zu befürchten war, daß ihr inneres Christentum (so wie das Katharertum) das äußerliche Christentum ganz niederreißen würde.149 Da Streben nach einem freieren Christentum, zugleich Ursache und Resultat der Fortschritte auf dem Gebiet der Bildung, äußert sich am Ende der Periode auf verschiedene Weise: als zwar scholastisch, aber frei geführter theologischer Disput, als mystische Theologie, als Widerspruch gegen die päpstlichen Herrschaftsansprüche gegenüber Kirche und Staat, als Studium des Griechischen und der Antike, als Rückgang hinter die Tradition auf die Schrift. Seit dem 14. Jahrhundert werden an der Universität Paris, die sich „als das eigentliche Fundament der Kirche darstellte“, verschiedene Meinungen freisinnig und ohne Rücksicht auf päpstliche Urteile disputiert.150 Griechen aus dem untergehenden byzantinischen Reich verbreiten bei ihrem Weg ins Abendland dort die Kenntnis des Griechischen und regen die Bewegung des Humanismus an. Die Humanisten machen die kirchlichen Zustände zum Ziel ihres satirischen Spottes und widerlegen die Machtan­ sprüche des Papsttums aus der angeblichen Schenkung Konstantins mit Hilfe historischer Kritik.151 Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham unterstützen den Kaiser beim Kampf um die Unabhängigkeit der weltlichen Gewalt von der geistlichen und beschuldigen den Papst verschiedener Ketzereien; die Herrschaft des Papstes über die Kirche bestreiten die Konziliaristen. All das gipfelt in der schon seit dem elften Jahrhundert vereinzelt aufgestellten Grundsatz, daß Fragen des Glaubens nicht durch Autorität und Tradition entschieden werden könnten, sondern anhand der Schrift.152

Zu der Zeit verbreitert sich der Strom der Opposition wieder. Die Bewegung hat zwei Ausgangspunkte: den Professor John Wyclif in Oxford und das Emmaus-Kloster bei Prag, wo der Gottesdienst auf Tschechisch und das Abendmahl in beiderlei Gestalt gehalten wird. Das Kolleg von 1821/22 sagt über Wyclif, er sei albigensisch gesinnt gewesen, und meint damit, er habe die Abstufungen priesterlichen Ränge als schriftwidrig abgelehnt und sich gegen die Wandlungslehre ausgesprochen. Das Kolleg von 1825/26 berichtet etwas ausführlicher: Wyclifs Trialogus fordert für alle Fragen einen Rückgang auf die Schrift und stellt klar, daß die Wahrheit des Glaubens hier nicht bewiesen, sondern nur für die, die den Glauben schon hätten, verständlich und anhand der Schrift dargelegt werde. Es wird also nicht nur wie bei Anselm das Verstehen dem Glauben nachgeordnet, sondern auch der Anspruch einer dem Glauben 613); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  514 f.); Kollektaneen 746; 748; 756; 762; 764; 770; 775; 779 f.; 804; 1205 f. (KGA II/6, S.  336. 338–343. 349. 449 f.) 149  Kirchengeschichte 1821/22, 87. Stunde (KGA II/6, S.  614); Kollektaneum 805 (KGA II/6, S.  350) 150 Kirchengeschichte 1821/22, 85. und 88. Stunde (KGA II/6, S.   608. 619); Kollek­ taneen 812; 814; 817; 841 (KGA II/6, S.  351 f. 358) 151 Kirchengeschichte 1821/22, 87. und 90. Stunde (KGA II/6, S.   614. 622 f.); Kollek­ taneen 818; 851 (KGA II/6, S.  352. 361) 152  Kirchengeschichte 1821/22, 83. und 85. Stunde (KGA II/6, S.  6 02. 608); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  443. 547. 550 f.); Kollektaneen 760; 785; 822; 1172; 1222 (KGA II/6, S.  339. 345. 353. 439. 460)

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nachgeordneten demonstratio überhaupt abgelehnt. Wyclif verwirft auch die Lehre von der Verdienstlichkeit der Werke und setzt an ihre Stelle eine Art Prädestinationslehre.153 Durch Engländer, die nach Böhmen reisen, kommen beide Stränge zusammen und vereinen sich in der Lehre und Bewegung des Jan Hus. Schleiermacher profiliert Hus und seine Anhänger als eine Art frühe Protestanten: Sie erklärten sich gegen den Reliquienkult und die Lehre vom Kirchenschatz und der Satisfaktion, sahen die wahre Kirche in der unsichtbaren Gemeinschaft der Gerechten und verlangten, aus der Schrift zu belegen, was als heilsnotwendiger Glaubenssatz gelten sollte. So nannte man die Geistlichen von Hus’ Partei den clerus evangelicus. Hus wurde auf dem Konzil von Konstanz verbrannt.154 Die Impulse der Bewegung werden – wie es dem katholischen Kirchenverständnis entspricht (vgl. oben Abschnitt 4.3.3.) – vom Ganzen von vornherein abgewiesen: Der Glaube stehe seinem Inhalt nach dank Vätern und Konzilen ja schon fest, man müsse sich dem nur unterwerfen.155 In seinem Prozeß stößt Hus mit dem Reformkatholizismus seiner Zeit zusammen, denn an seiner Verurteilung hatten auch die langjährigen Kanzler der ruhmreichen Pariser Universität teil, Pierre d’Ailly und Jean Gerson. Diese beiden stellten die Autorität des Papstes unter diejenige der Universität und des Konzils. Sie seien damit allerdings auf halbem Wege stehengeblieben, meint Schleiermacher: Die Vorstellung einer Unfehlbarkeit der repräsentierten Kirche bleibe auch dann bestehen, wenn man das Konzil und nicht den Papst als deren oberste Repräsentation ansieht. Mit Hus standen d’Ailly und Gerson in philosophischem Gegensatz – sie waren Nominalisten, Hus ein Realist. Entscheidend sei aber etwas anderes gewesen: D’Ailly und Gerson hätten Hus auf hal­ bem Wege entgegenkommen wollen und von ihm einen Zustimmung zu einer milden Widerrufsformel erwartet, Hus aber habe den Widerruf verweigert und so die beiden Franzosen zur Konsequenz der Verurteilung gezwungen. Hier seien also schon katholische Diplomatie und Behutsamkeit und protestantischer Freimut aufeinandergestoßen. Andererseits sei Hus’ Ideal einer presbyterial verfaßten Kirche mit Gersons Kirchenmodell unvereinbar gewesen.156 153  Kirchengeschichte

1821/22, 88. Stunde (Joachim Boekels: Schleiermacher als Kirchengeschichtler, Schleiermacher-Archiv 13, Berlin und New York 1994, S.  408 f.; KGA II/6, S.  616 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  548. 553 f.); Kollektaneen 805; 820; 825; 1223 (KGA II/6, S.  350. 352. 354. 463) 154 Kirchengeschichte 1821/22, 88. Stunde (KGA II/6, S.   617 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  554–557); Kollektaneen 828; 835; 840; 844; 1223 (KGA II/6, S.  355. 357–359. 462 f.) 155 Kirchengeschichte 1821/22, 88. Stunde (KGA II/6, S.   618 f.); Kollektaneum 830 (KGA II/6, S.  355) 156 Kirchengeschichte 1821/22, 88.–89. Stunde (KGA II/6, S.   618. 620); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  550 f.; KGA II/6, S.  744 f.); Kollektaneen 840; 845 (KGA II/6, S.  358 f.)

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Die Hussiten bilden nun ein eigenes Kirchenwesen aus, trennen sich dabei in eine mildere und eine radikalere Richtung, die milderen Calixtiner und die strengeren Taboriten. Die ersten geben sich mit Laienkelch, Priesterehe und Predigt in der Landessprache zufrieden, behalten aber die Sakramente und die Ränge des Klerus bei. Die anderen schaffen alles nicht Schriftgemäße ab; zuletzt findet sich bei ihnen auch die Lehre vom rechtfertigenden Glauben und die zwinglianische Abendmahlslehre. Die Calixtiner schließen mit dem Baseler Konzil eine Konvention und assimilieren sich allmählich wieder der katholischen Kirche. Die Taboriten werden durch Kriege und Verfolgungen dezimiert; in Ungarn schließen sie sich mit den Waldensern zusammen.157 Um 1500 sind die reformgesinnten Kräfte bis auf wenige Reste beseitigt oder wieder der monarchischen Spitze der Kirche unterworfen; auch die konziliare Bewegung ist zum Erliegen gekommen. Zum Abschluß der Vorlesung von 1825/26 fragt Schleiermacher, warum der hussitische Reformversuch im Gegensatz zur hundert Jahre späteren Reformation insgesamt scheiterte, und vermutet drei Gründe: Luther, obwohl nicht mäßiger, sondern eher noch radikaler als Hus, sei doch in seiner Wendung an die Öffentlichkeit maßvoller und vorsichtiger gewesen, die hussitische Bewegung sei zu sehr eine tschechische Natio­ nalbewegung geblieben, um über Böhmen hinaus allgemein zu wirken, und die die Reformation vorbereitende Bildungsarbeit der Universitäten sei in den hundert Jahren zwischen beiden Reformversuchen weiter vorangekommen.158

8.5.  Bedeutende Einzelgestalten Die Protagonisten dieser Periode erscheinen in Schleiermachers Darstellung insgesamt weniger originell als die der ersten beiden Perioden. Von den großen religiösen Individuen der Zeit, Bernhard und Franz von Assisi, hat Schleiermacher auch keine hohe Meinung. Bernhard als Gegner der frühen Scholastiker sei diesen geistig unterlegen gewesen; in ihren dialektischen Künsten habe er nur Frivolität und Zersetzung sehen können. Wenn Bernhard in Abaelard den geistigen Brandstifter erkannte, der für die politischen Unruhen Arnolds von Brescia verantwortlich war, hatte er aber wohl den richtigen Instinkt; nicht, daß Abaelard tatsächlich Arnold inspiriert hätte, aber daß beide Phänomene aus demselben Prinzip hervorgingen.159 Im zweiten Kompendium heißt es, man müsse auf Bernhard kein großes Gewicht legen: Sein Frömmigkeitsideal, seine mönchisch-asketische Strenge, seine positiv geäußerten Lehren und seine weltliche 157  Kirchengeschichte 1821/22, 89.–91. Stunde (KGA II/6, S.  619. 621–624. 627); Kollektaneen 833; 836; 846; 848; 850; 861 (KGA II/6, S.  356 f. 359 f. 364) 158  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  745); vgl. Kirchengeschichte 1821/22, 91. Stunde (KGA II/6, S.  627). 159  Kirchengeschichte 1821/22, 82. Stunde (KGA II/6, S.  597 f.); Kollektaneum 722; vgl. 1185 (KGA II/6, S.  329. 443)

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Herrschsucht ließen sich nicht in Übereinstimmung bringen. Immerhin sei er gegen eine falsche Vermischung von Dogmatik und Philosophie eingetreten.160 Franz bleibt eine Randfigur; durch seine Stigmata wird er aber bald als heilig verehrt.161 Das zweite Kompendium sagt: „Seine Privatneigung nach seiner Bekehrung war der Schmuz, so daß er aussäzige überall aufsuchte, sie küßte u.s.w. Er basirte seine Gesellschaft auf die drükkendeste Armuth“.162

Karl der Große hat als epochemachende Herrschergestalt eine ähnliche Bedeutung wie Konstantin und erfährt von Schleiermacher eine ähnlich günstige Gesamtbeurteilung. Während die Stauferkaiser den päpstlichen Anmaßungen trotzen, erweisen sich die Kaiser Heinrich II. und Lothar von Supplinburg als allzu willige Werkzeuge der Päpste.163 Die Periode sieht viele tüchtige Kleriker: Hinkmar von Reims, die große Bischofsgestalt der spätkarolingischen Zeit, in mancherlei Auseinandersetzungen verwickelt, verteidigt das alte bischöfliche Ansehen gegen Kaiser, Papst und die auf kommenden pseudo-isidorischen Dekretalen; er betont, die Schlüsselgewalt gebühre nicht bloß dem Papst, sondern allen Bischöfen.164 Im zehnten und elften Jahrhundert widerstehen Rather von Verona und Petrus Damiani der Simonie und dem moralischen Verfall; Rather muß deshalb ein unstetes Leben führen, Damiani zieht sich schließlich in ein Kloster zurück, wirkt aber von dort aus auf die Mächtigen der Zeit für die Kirchenreform. Obwohl Schleiermacher die asketischen Ideale der beiden so nicht teilt, würdigt er ihre Sit­ tenstrenge und ihren Ernst inmitten allgemeiner Frivolität.165 Eine Ausnahmegestalt ist Papst Silvester II. (Gerbert). Er war der wohl größte Gelehrte seiner Zeit, äußerte sich auch freisinnig über das Abendmahl. Als Erzbischof von Reims wurde er vom französischen König auf Druck des Papstes abgesetzt und durch seinen wegen Verrats am König aus dem Amt entfernten Vorgänger ersetzt. Von Kaiser Otto III. selbst zum Papst erhoben, war Silvester frei von Herrschsucht und Anmaßungen und behielt seinen Grundsatz bei, daß man auch den römischen Bischof für einen Heiden und Zöllner achten dürfe,

160 Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.   501 f.); Kollektaneum 1187 (KGA II/6, S.   4 44) 161 Kirchengeschichte 1821/22, 84. Stunde (KGA II/6, S.   605 f.); Kollektaneum 773 (KGA II/6, S.  343) 162  Kirchengeschichte 1825/25 (SW I/11, S.   510); vgl. Kollektaneum 1201 (KGA II/6, S.  4 48). 163  Kirchengeschichte 1821/22, 78. und 81. Stunde (KGA II/6, S.  589. 597); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  4 45); Kollektaneen 712; 723; 1173 (KGA II/6, S.  326. 330. 439) 164  Kirchengeschichte 1821/22, 64. Stunde (KGA II/6, S.  549 f.); Kollektaneen 636; 638; 640 (KGA II/6, S.  290 f.) 165 Kirchengeschichte 1821/22, 66. Stunde (KGA II/6, S.   555); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  427. 450 f.); Kollektaneen 657; 660 f. (KGA II/6, S.  296 f.)

8.  Die dritte Periode

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wenn er es verdiene; gegen seine früheren Gegner zeigte er sich großmütig. In der Papstgeschichte bleibt Silvesters Pontifikat aber eine Episode.166 Bei der Transformation der Kirchenverfassung seit Mitte des elften Jahrhunderts ist Hildebrand (Gregor VII.) die profilierteste Gestalt: Er steht im Hintergrund, als sich die Reformpartei von der kaiserlichen Macht emanzipiert; als Papst beansprucht er gegenüber Klerus und weltlicher Herrschaft eine bisher unerhörte Machtfülle. Als Motiv für Gregors Kampf gegen Laieninvestitur und Priesterehe sieht Schleiermacher weniger die Absicht, die Geistlichen von den bürgerlichen Verhältnissen zu lösen und enger an den päpstlichen Stuhl zu binden, als vielmehr einen hohen Begriff von der Heiligkeit des Priestertums, der noch von der sich damals verbreitenden Vorstellung von der Transsubstantiation verstärkt wurde. Gregor ging es nach Schleiermacher also tatsächlich um kirchliche Ziele (das gesteht er dem Historiker Johannes Voigt zu, der als einer der ersten Protestanten die Gestalt Gregors günstig beurteilt hatte); auch sei Gregors Sittenstrenge heilsam gewesen. Das Streben nach Macht zur Durchsetzung seiner Ziele verselbständigte sich aber schließlich zu einem Kampf gegen jegliche weltliche Gewalt; es mußte letztlich seine Absichten konterkarieren und die Würde der Kirche beschädigen. Als besonders perfide beurteilt Schleiermacher, daß Gregor die Deutschen von ihrem Eid gegenüber Heinrich IV. löste: Heinrich habe ja gar nicht zu dem Sprengel gehört, über den Gregor die Kirchenzucht innegehabt hätte, und die Absetzung eines Herrschers sei auch kein ordentliches Element der kirchlichen Disziplin.167 Von den ehrgeizigen Päpsten seiner Zeit hebt sich Photius von Konstantinopel durch seine Bildung, Bescheidenheit und Würde auch im Unglück ab; obwohl lange ein Laie, war er dank seiner Muttersprache und dank dem griechischen Bildungswesen in theologischen Fragen kompetenter als die meisten westlichen Bischöfe.168 Unter den westlichen Theologen waren Alcuin und Hraban tüchtige, wenn auch wenig originelle Schulmänner. Eine gewisse Vorliebe scheint Schleiermacher für Ratramnus zu haben, der in den Debatten über das Abendmahl und die Prädestination Positionen vertrat, die der späteren reformierten Lehre ähneln. 166  Kirchengeschichte 1821/22, 65.–66. und 69. Stunde (KGA II/6, S.  552 f. 555. 562); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  435 f.; KGA II/6, S.  738); Kollektaneen 623; 649; 689; 1152; 1171 (KGA II/6, S.  287. 293 f. 304. 431. 438). – Daß Silvester den Erzbischof von Mainz suspendieren wollte, weil der seinem Kardinallegaten auf einer Synode den Vorsitz verweigert hatte, hat Schleiermacher notiert (Kollektaneum 663, KGA II/6, S.  298, zunächst aber falsch, indem er den Vorfall auf Benedikt VIII. bezog), aber nicht weiter beachtet; es hätte seiner Deutung Silvesters widersprochen. 167 Kirchengeschichte 1821/22, 76. Stunde (KGA II/6, S.   582 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  429. 451. 456–458; KGA II/6, S.  738); Kollektaneum 702 (KGA II/6, S.  318 f.) 168 Kirchengeschichte 1821/22, 63., 68. und 71. Stunde (KGA II/6, S.   547. 560. 568– 570); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  421–424); Kollektaneen 680; 691; 1159 (KGA II/6, S.  300. 308–310. 433)

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C.  Materialer Teil

Neben Photius kommt in dieser Periode vielleicht Anselm von Canterbury Schleiermachers Ideal des Kirchenfürsten am nächsten: Er ist nicht nur der größte Philosoph und Theologe seiner Zeit, sondern steigt auch zum Primas der englischen Kirche auf; im Investiturstreit zerstreitet er sich zunächst mit König und Klerus, trägt dann aber zur Beilegung des Streites bei.169 Sein jüngerer Zeitgenosse Abaelard dagegen erscheint bei Schleiermacher als glänzender und gefeierter, aber auch eitler und nervöser Universitätsprofessor. Ihm fehlen der Sinn für die christliche Gemeinschaft und das fromme Gefühl: „er sezte die innere Erfahrung voraus, aber hat sie wol selbst nicht gehabt.“170

Die ganze Widersprüchlichkeit des scholastischen Zeitalters spiegelt sich in der Gestalt Johannes’ von Salisbury: Er war einerseits ein gelehrter Philosoph und Staatstheoretiker, der sich nicht in die beengenden Formen der damaligen Theo­logie schicken mochte und der sich auch über die päpstliche Autorität sehr freisinnig äußern konnte; andererseits aber stand er loyal zu Thomas Becket, dem Erzbischof von Canterbury, der sich mit seinem König überworfen hatte, weil er nach Prinzipien handelte, nach denen kein weltliches Regiment neben dem geistlichen hätte bestehen können.171 D’Ailly und Gerson, Nikolaus von Kues und Pico della Mirandola würdigt Schleiermacher als Denker, Lehrer und Kirchenleute, die durch Gelehrsamkeit, Freisinn und Frömmigkeit in Gegensatz zum Papalismus kamen.172 Sie blieben aber beim katholischen Verständnis der Kirche; die beiden Franzosen stellten sich gegen Hus wegen dessen Opposition gegen die Repräsentation der sichtbaren Kirche. Dagegen stand Johannes Wessel Gansfort von Groningen mit Wyclif, Hus u. a. auf der evangelischen Seite: Er erklärte den Willen Gottes für die Alleinursache der Welt und hob so die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen auf, er sah die Einheit der Kirche ganz im Heiligen Geist, unabhängig von Papst und Konzil, und er näherte sich der späteren Lehre Calvins von einer geistigen Gegenwart Christi im Sakrament und einem geistlichen Genuß des Abendmahls durch die Gläubigen.173 Am Ende der Periode tritt mit dem Dominikaner Hieronymus Savonarola noch einmal ein Prediger auf, der sein Amt ernst nimmt und sich tatsächlich auf 169 Kirchengeschichte 1821/22, 76.–77. Stunde (KGA II/6, S.   584. 586 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  464–466); Kollektaneen 705 f.; 1181 (KGA II/6, S.  321. 441) 170 Kirchengeschichte 1821/22, 80. Stunde (KGA II/6, S.   594 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  494 f.); vgl. auch Geschichte der neueren Philosophie 1812, 27. Stunde (SW III/4,1, S.  190 f.). 171  Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  743 f.) 172  Kirchengeschichte 1821/22, 89.–91. Stunde (KGA II/6, S.  620. 624. 627 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  550 f.); Kollektaneen 822; 842; 845; 853 (KGA II/6, S.  353. 358 f. 361 f.) 173 Kirchengeschichte 1821/22, 89. Stunde (KGA II/6, S.   620 f.); Kollektaneum 845 (KGA II/6, S.  359)

8.  Die dritte Periode

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das wesentlich Christliche konzentriert (womit wohl gemeint ist, daß er zur Buße rief, statt Legenden zu erzählen). Allerdings mischt er sich zugleich auch demagogisch in die italienische Politik ein. Der gewalttätige Papst Alexan­der VI. läßt ihn als Ketzer verbrennen.174

8.6.  Die Entwicklung der Kirche in der dritten Periode Die dritte Periode der Kirchengeschichte sieht die Konsolidierung einer spezifisch abendländischen Ausprägung des Christentums. Das Christentum breitet sich über ganz Europa aus, und in der Scholastik bildet sich ein neuer Typus des wissenschaftlichen Denkens heraus, der sich das dogmatische Erbe der beiden ersten Perioden aneignet, um es dann eigenständig fortzuentwickeln. Im Verlauf der Periode nehmen die Mißbräuche und Korruptionen durch päpstliche und klerikale Herrschsucht, Veräußerlichung des Glaubens bis hin zu einem geradezu fetischistischen Aberglauben und eine von der Metaphysik überfremdete Theologie immer mehr zu, so daß die Notwendigkeit einer Kirchenreform immer offener zutage tritt. Dabei gibt es aber auch immer wieder Impulse zur Reform und Erneuerung, die bald von Einzelnen ausgehen, bald von einer breiten Basis im Kirchenvolk. Diese Impulse haben in sich schon das ganze Programm der späteren Kirchenreformation: das Schriftprinzip und das Prinzip des freien, ungehemmten Austausches der Gedanken und Gefühle, die Vergeistigung der Religion, die wissenschaftliche, historische und philologische Bildung, die Trennung der Kirchenorganisation vom Staat, die Abschaffung der Ränge im Klerus und den freien Zugang des Einzelnen zu Gott unabhängig von priesterlich-sakramentaler Vermittlung. Eigenes Interesse hat Schleiermacher vor allem an drei Themen: an den Konstellationen der verschiedenen Mächte, ihren Zielen und ihrem Ringen um eine Vormacht, an der Entwicklung der christlichen Lehre vor und unter der scholastischen Wissenschaft und eben an den immer neuen Impulsen zu einer Kirchenverbesserung. Besonders seine Aufmerksamkeit für die scholastische Wissenschaft, bei der neben aller Kritik doch auch Sympathie und Anerkennung für die systematische Denkleistung zu erkennen ist, fällt auf. Wenig Inter­ esse und Verständnis hat Schleiermacher für die mittelalterliche Religiosität. Schließlich läßt sich besonders in dieser Periode eine Eigenart der Schleiermacherschen Geschichtsanschauung beobachten: Für Schleiermacher gibt es in der Geschichte keine absoluten Brüche und Neuanfänge; Stetigkeit im Geschichtsverlauf einerseits, Neuerung und Neuwerdung andererseits sind nach ihm einander nicht streng entgegengesetzt, sondern stellen nur relative, quanti174 Kirchengeschichte

(KGA II/6, S.  355. 361)

1821/22, 91. Stunde (KGA II/6, S.  625); Kollektaneen 831; 852

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C.  Materialer Teil

tative Unterschiede dar.175 Insofern muß sich das, was in der dritten Periode bestimmend ist, in die Vergangenheit zurückverfolgen lassen. Und tatsächlich kommt das Papsttum schon in der zweiten Periode allmählich hervor, die Trennung zwischen östlicher und westlicher Kirche sogar in der ersten. Auf der anderen Seite sind die Ideen der Reformation, wenn auch vereinzelt und unterdrückt, schon jetzt vorhanden.176 Der Kampf Heinrichs II. von England um die Herrschaft in der Kirche seines Reichs ist ein Vorspiel der Suprematsakte Heinrichs VIII.,177 und bei den von ihm ausführlich notierten und vorgetragenen Meinungen vom Abendmahl stellt Schleiermacher immer auch die Verbindung zum 16. Jahrhundert her: In noch vielfach unklaren Ausdrücken hatte doch Paschasius die katholische Transsubstantiationslehre, Hraban die Theorie Luthers, Walafrid Strabo und Druthmar die Ansicht Zwinglis und Ratramnus und Berengar die Meinung Calvins.178

175  Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2.  Aufl., Berlin 1830, §  71 f. (KGA I/6, S.  354 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  71 f. (hg. Sachs, S.  77–79). Vgl. oben Abschnitt 4.6.1. 176  So haben die antihierarchischen Albigenser schon das Prinzip der Reformation, die nur im Glauben begründete Rechtfertigung und Lebensgemeinschaft mit Christus (Kirchengeschichte 1821/22, 83. Stunde, KGA II/6, S.  603), und so konnte Luther sagen, man könne ihm vorwerfen, nur wiederholt zu haben, was schon Wessel gesagt habe (Kirchengeschichte 1821/22, 89. Stunde, KGA II/6, S.  621). Vgl. auch Geschichte der neueren Philosophie 1812, 44. Stunde (SW III/4,1, S.  230): „Die scholastische Philosophie enthält alle Keime der neueren Philosophie“. 177  Kirchengeschichte 1825/26 (SW I/11, S.  490) 178 Kirchengeschichte 1821/22, 75. Stunde (KGA II/6, S.   579 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  736 f.)

9.  Die vierte Periode 9.1.  Die vierte Periode in Schleiermachers Kirchengeschichte Mit der vierten Periode der Kirchengeschichte tritt das Christentum in diejenige Konstellation ein, die noch die Gegenwart bestimmt: das Gegenüber von Katholizismus und Protestantismus in der abendländischen Kirche. Die Epoche der Reformation am Anfang dieser Periode hat Schleiermacher am Ende seines ersten Kompendiums noch in geraffter Form darstellen können; um noch etwas Zeit dafür zu gewinnen, hat er die letzten drei Vorlesungstermine zu Doppelstunden erweitert. Das zweite Kompendium ist nicht mehr bis zur Reformation gekommen. Allerdings geben beide Kompendien schon in den vorigen Peri­ oden viele Hinweise auf die Reformation; besonders die dritte Periode wird am Ende zu einer Vorgeschichte der Reformation. – Mit der Konsolidierung der evangelischen Kirche durch den Augsburger und den westfälischen Frieden beginnt die kirchliche Zeitgeschichte, die nicht mehr in die Disziplin Kirchengeschichte gehört, sondern in die kirchliche Statistik. Trotzdem hat Schleiermacher sich am Ende der Vorlesung von 1821/22 noch Zeit genommen, die wichtigsten Entwicklungslinien in die Gegenwart aufzuzeigen. Die Reformationsepoche ist – darin dem Urchristentum vergleichbar – von kategorialer Bedeutung für die gesamte evangelische Theologie: Diejenige Religionsgesellschaft, zu deren Leitung evangelische Theologie betrieben wird und ohne die es diese Wissenschaft nicht gäbe, tritt ihrem Wesen nach eben mit der Reformation hervor. Insofern ist die Reformation in weit größerem Umfang als die Jahrhunderte zwischen den Apostelschülern und den Vorreformato­ ren auch außerhalb des Faches Kirchengeschichte ein Thema: Evangelische Glaubens- und die Sittenlehre stehen auf dem Fundament der Reformation und orientieren sich an der reformatorischen Theologie, ja, die Sittenlehre kann anhand der Reformation demonstrieren, was sittliches Handeln im evangelischen Sinne sei. Im darstellenden Handeln der evangelischen Kirche hat die feiernde und deutende Erinnerung an die Reformation ihren Ort, und Schleiermacher hat sich als Liturg und Prediger daran beteiligt. Und wo er sich zu aktuellen kirchlichen Fragen geäußert hat, zur Kirchenverfassung, zur Union, zur Bekenntnisfrage und zur Agende, da hat Schleiermacher ebenfalls auf die Reformation rekurriert. (Protestantische Reformationsgeschichtsschreibung

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hat es immer, nicht nur bei Schleiermacher, auch mit Identitätsstiftung kraft Erinnerung und mit Selbstdeutung zu tun.1) In der gezwungenermaßen knappen Darstellung der Reformationsgeschichte bekommt vieles, was in neueren Überblicksdarstellungen eher am Rande vorkommt, auffallend viel Raum: die Reformation in Nord-, West- und Osteuropa und die innerprotestantischen Lehrstreitigkeiten nach Luthers Tod. Umgekehrt kommen etwa der Wormser Reichstag, Luthers Wartburgaufenthalt und der Bauernkrieg überhaupt nicht vor; die Frage nach Luthers religiöser Prägung und reformatorischer Wende und der allmählichen Genese der reformatorischen Theologie hat Schleiermacher ebenfalls nicht sehr interessiert, und statt des Zusammenhanges der Ereignisse in den 25 Jahren zwischen Luthers Klostereintritt und dem Augsburger Reichstag werden immer nur einzelne Situationen hervorgehoben und mit den Phänomenen an den anderen Schauplätzen der Reformation verglichen. All das hat seinen Grund in Schleiermachers Deutung der Reformation, aber auch darin, daß er sich für die Frühzeit der Reformation auf Johann Salomo Semler gestützt hat.

9.2.  Die Epoche der Reformation 9.2.1.  Kirchengeschichte 1821/22 9.2.1.1.  Schleiermachers Quellen und Arbeitsweise Wieder können wir Schleiermacher beim Zusammentragen des Materials – diesmal ist es nicht so viel – über die Schulter schauen. Die Kollektaneen sind jetzt wieder kürzer und gehen – ähnlich wie in der zweiten Periode – meistens an der Vorlage entlang. Hauptquelle ist Johann Salomo Semlers fruchtbarer Auszug der Kirchengeschichte (Band 2); 2 auf Semler hatte Schleiermacher sich schon für die zweite Hälfte der dritten Periode gestützt. Es ist bemerkenswert, daß sich Schleiermacher zur Orientierung in diesem höchst wichtigen Zeitraum an ein Werk angelehnt hat, das damals schon fast 50 Jahre alt war und dessen 1  Vgl. z. B. Magdalena Herbst: Karl von Hase als Kirchenhistoriker, Beiträge zur historischen Theologie 167, Tübingen 2012, S.  280–285. 2  Kollektaneen 869–882 (KGA II/6, S.  365–367) sind ein Exzerpt aus Johann Salomo Semler: Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte, Band 2, Halle 1774, S.  217–257 (es handelt sich um die äußere Geschichte der Reformation, die Semler im Abschnitt Papstgeschichte abhandelt), Kollektaneen 883–906 (KGA II/6, S.  367–372) aus Semler: Versuch 2, S.  340–427 (hier wird die vor allem innere Geschichte der „lutherischen Kirche“ behandelt; Schleiermacher folgt Luthers Streit mit der Papstkirche bis zur Leipziger Disputation, geht zum Abendmahlsstreit mit Zwingli und zum inneren Auf bau der Kirche über), und Kollektaneen 909–927 (KGA II/6, S.  372–379) aus Semler: Versuch 2, S.  527– 588 (hier geht es im Abschnitt über die lutherische Kirche um die Protestanten in Ost-, Süd- West- und Nordeuropa und um die Schwenckfelder und dann um die Anfänge der reformierten Kirche).

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wenig zusammenhängende und wenig geordnete Aufzählung einzelner Fakten weder dem Stand der Forschung entsprach noch ästhetisch befriedigen kann. Wahrscheinlich hat er Semlers Kürze geschätzt. Für die Zeit ungefähr seit Luthers Tod hat Schleiermacher dann vor allem auf Heinrich Philipp Konrad Henkes Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche (Band 3 und 4) zurückgegriffen.3 In die Exzerpte aus Henke und Semler sind noch einige Analekten aus Johann Matthias Schröckhs (von Heinrich Gottlob Tzschirner vollendeten) Kirchengeschichte seit der Reformation eingestreut, aber auch ein ausführliches Exzerpt aus der Confessio Augustana.4 Einmal hat Schleiermacher auch den Semler anhand der Quelle (es ist die Confessio fidei Gallicanae) korrigiert.5 Andere neuere Darstellungen hat Schleiermacher gar nicht benutzt, weder die Reformationsgeschichte seines Berliner Kollegen Philipp Marheineke (von der er auch nicht viel hielt, vgl. oben Abschnitt 2.4.2.) noch Gottlieb Jacob Plancks Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs, obwohl er beide Werke besaß,6 noch auch Karl Ludwig Woltmanns Reformationsgeschichte. 9.2.1.2.  Ursprung der Reformation Wenn wir anhand von Schleiermachers Hinweisen über die Vorbereitung der Reformation in der dritten Periode der Kirchengeschichte (vgl. oben Abschnitt 8.4.) bestimmen, was denn das Wesen der Reformation sei, so ist es negativ die Bekämpfung des Aberglaubens, der Materialisierung des Kultus und der geistigen Bevormundung der Laien und sodann positiv die Bildung, die kritische Prüfung der Tradition und die Rückbindung aller kirchlichen Lehre und Praxis an die Schrift, der unmittelbare Zugang des Christen im Glauben zu Gott ohne Vermittlung durch äußere Werke oder durch eine priesterliche Hierarchie. Zusammenfassen läßt sich das vielleicht als ungehemmtes Leben im Geiste Christi, freier Austausch der religiösen Gedanken und des Gefühls und beständiges gemeinsames Forschen in der Schrift und Suchen nach dem Besten. 3  Kollektaneen 945–952 (KGA II/6, S.  381–383) sind ein Exzerpt aus Heinrich Philipp Konrad Henke: Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche nach der Zeitfolge, Band 3, 3.  Aufl., Braunschweig 1799, S.  306–359 (hier geht es um die Sozinianer, um die gnesiolutherischen Streitigkeiten und um die Fortschritte des Calvinismus in Deutschland). Kollek­ taneen 931–943; 956; 958 (KGA II/6, S.  379–381. 383–386, vor allem über das Tridentinum, den Streit zwischen Remonstranten und calvinistischen Prädestinatianern und das 17. Jahrhundert) sind meist Henke: Allgemeine Geschichte 33 ; Band 4, 3.  Aufl., Braunschweig 1801, entnommen, springen innerhalb der Bände aber hin und her. 4 Kollektaneum 918 (KGA II/6, S.   375 f.). Zu den Exzerpten aus Johann Matthias Schröckh: Christliche Kirchengeschichte seit der Reformation vgl. die Zusammenstellung (KGA II/6, S.  793). 5  Kollektaneum 915 (KGA II/6, S.  374) 6 Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, 2.  Aufl. (KGA I/15, S.  766. 790).

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– Am Ende der Einleitung der Kompendien nennt Schleiermacher als Haupttendenz der Reformation die Demokratisierung der Kirchenverfassung (besonders durch Bildung und durch den freien Zugang der Laien zur Schrift) und die Lösung der Kirche aus den Verwicklungen in die politische Sphäre (vgl. oben Abschnitt 4.6.2.). Wir haben weiter gesehen, daß für Schleiermacher die Bedeutung der hervorragenden Individuen im Laufe der Kirchengeschichte geringer wird und daß gerade die Reformation hier ein wichtiger Punkt in der Entwicklung ist (vgl. oben Abschnitt 4.5.). Daraus können wir bereits zwei Dinge schließen: 1) Die Reformation ist für Schleiermacher nicht die Tat Martin Luthers und der anderen Reformatoren; die Reformatoren zeichnen sich für ihn eher dadurch aus und haben darin ihre Bedeutung und Würde, daß sie keine religiösen Genies und Mittler von etwas Neuem sind, sondern Organe für die Wirksamkeit des Geistes Christi. 2) Die Reformation ist nicht nur (und nicht einmal in erster Linie) Reinigung und Wiederherstellung eines vorübergehend korrumpierten, ursprünglich guten Zustandes; sie ist nicht Rückschritt, sondern Fortschritt, indem sie das gemeinsame Leben im Geiste Christi auf eine höhere Stufe hebt. Also: Neues bringt die Reformation, indem sie dem Christentum eine neue Sozialgestalt gibt; nichts Neues bringt sie, insofern der diese Gestaltung bestimmende, erneuernde Geist identisch ist mit dem Geist, der sich schon längst in der Opposition gegen Verweltlichung, Aberglauben und Unbildung in der Kirche geäußert hat und der letztlich der Geist des Christentums selbst ist. – Schon Semler hatte die Reformation weniger als etwas Neues, Originelles gedeutet denn als den glücklichen Durchbruch derjenigen Gedanken und Impulse, die schon in den mittelalterlichen Reform- und Oppositionsbewegungen hervorgetreten waren.7 In einem Kollektaneum notiert sich Schleiermacher, worauf er bei der Darstellung der Reformationsgeschichte sein Augenmerk richten will: „Hauptpunkte 1.) In wie fern eins und warum nicht mehr? 2.) Wie weit ausgebreitet, warum und warum nicht mehr? NB Ueber den Einfluß persönlicher Charakter. Ueber die Verbindung des politischen und kirchlichen.“8

Schleiermachers Frage ist also einerseits, in wiefern ist die mannigfache reformatorische Bewegung an ihrem Ursprung eines ist und trotzdem nicht zu voller kirchlicher Gemeinschaft gelangen konnte, und andererseits, unter welchen individuell gegebenen Bedingungen die Bewegung verschiedene Gestalten annahm, sich verbreitete und eingedämmt wurde. So wird seine Darstellung der Reformation (auch aus Zeitgründen) weniger eine zusammenhängende Erzählung als eine exemplarische Erläuterung der Probleme und Konstellationen. 7  8 

Semler: Versuch 2, S.  78 f. 195–197. 340 Kollektaneum 887 (KGA II/6, S.  368)

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In seiner Darstellung weist Schleiermacher zunächst noch einmal darauf hin, daß die Reformation in Kontinuität zu den älteren Reformversuchen steht. Es gibt aber neue Momente, die dem Impuls zur Verbesserung jetzt mehr Erfolg verleihen als früher: die Gründung vieler Universitäten in Deutschland, die Erfindung des Buchdrucks, die Fortschritte der humanistischen Bildung, die mit ihrer philologischen Arbeit an den Quellen der alten scholastischen Wissenschaft den Rang abläuft und die in den Händeln zwischen Johann Reuchlin und den Inquisitoren einen vollständigen moralischen Sieg erringt. In dieser Zeit erscheint auch Erasmus’ Ausgabe des griechischen Neuen Testaments. Das höhere Niveau der Wissenschaft, die weitere Verbreitung der Bildung und die verbesserten Kommunikationsmittel verleihen dem, was die Reformatoren anfangen, also eine Breite und Tiefe der Wirkung, die es vorher nicht gegeben hatte. Weiter nennt Schleiermacher noch die politischen Rahmenbedingungen: Im Deutschen Reich gab es, anders als in Zentralstaaten wie Frankreich und Spanien, eine komplizierte Verfassung und damit viele machtpolitische Reibungspunkte zwischen dem Kaiser, den weltlichen und geistlichen Fürsten und dem Papst und zwischen den Bischöfen und ihren Stiftsherren und auch viele Nischen, in denen das Neue dem Zugriff der zentralen Instanzen weniger ausgesetzt war; dadurch waren auch viele niedere Stände mit kirchlichen Angelegenheiten befaßt und standen in Opposition zur päpstlichen oder bischöflichen Gewalt.9 Schleiermacher betont sodann, daß in den verschiedenen Individuen, die die Reformation an verschiedenen Orten begonnen hätten, ein und derselbe Geist wirksam gewesen sei. Die Reformation habe ja die Kirche als eine und ganze (er meint hier wohl die abendländische Kirche) erschüttert. Allgemeine Bewegungen nun hätten in Einzelnen zwar ihre Initiatoren, aber das Neue, das sich in den Einzelnen konzentriere, müsse als Maxime auch im Ganzen, aus dem die Einzelnen ja hervorgetreten seien, schon latent vorhanden gewesen sein; und so sei es kein individuelles Prinzip, sondern ein allgemeines und identisches. „Wir müssen nicht bei den einzelnen Personen stehen bleiben, in denen zwar herrliche Erscheinungen sich finden.“10

Unter den Ausgangspunkten der Reformation ist zunächst Sachsen in Deutschland zu nennen. Hier war eine praktische Sache der Anlaß, der Ablaß und die mit ihm verbundenen Mißbräuche. Luther äußerte sich zuerst zu diesem Einzelproblem; erst indem er auf den Widerstand der damaligen Kirchenleitung stieß und sich verteidigen mußte, gelangte er allmählich in anderen Punkten der Lehre und Praxis zu einem reformatorischen Standpunkt bis hin zur Lehre 9 Kirchengeschichte 1821/22, 91. Stunde (KGA II/6, S.   627–629); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  700. 745); Kollektaneen 843; 862; 864; 885 (KGA II/6, S.  358. 364. 368). Vgl. oben Abschnitt 8.4. 10  Kirchengeschichte 1821/22, 91.–93. Stunde (KGA II/6, S.  629)

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von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben und allein aus Gnaden und von der alleinigen Autorität der Schrift. Dank seiner Redegabe breiteten sich Luthers Impulse schnell aus, verbanden sich mit der politischen Opposition gegen das Papsttum und wurden von Philipp Melanchthon als Erstem als zusammenhängende Dogmatik dargestellt.11 In der Schweiz als zweitem Ausgangspunkt war ebenfalls der Sinn für das Praktische der Anlaß, aber hier ging man bei der Neuerung bedächtiger und weniger impulsiv, dafür aber systematischer, theoretischer und kritischer zu Werke: Nicht bloß das, was sich dem Besseren in den Weg stellte, sondern schlicht alles in der Praxis, was sich biblisch nicht rechtfertigen ließ, wurde abgetan. Während in Deutschland die zahlreichen Disputationen wenig ausrichteten, wurden in der Schweiz zwar nicht die altgläubigen Theologen, aber doch die politischen Obrigkeiten überzeugt, sich der Reformation anzuschließen.12 Als dritten, indessen häufig vergessenen und unterschlagenen Ausgangspunkt nennt Schleiermacher Frankreich; er denkt an den Humanistenkreis um Jakob Faber Stapulensis. Alles kam hier von der theologisch-philologischen Gelehrsamkeit her. Die Franzosen wurden aber auch zu Vermittlern zwischen Deutschland und der Schweiz, indem ihre Einsichten einerseits von den Schweizern rezipiert und praktisch nutzbar gemacht wurde und indem andererseits manche der Franzosen in Wittenberg studierten und Melanchthons dogmatische Werke nach Frankreich brachten.13 Schleiermacher weist dann auf Italien hin: Wo Luthers und Melanchthons Werke dort rezipiert wurden, da kam die Opposition gegen das päpstliche Kirchenwesen zu einer viel kritischeren Stellung gegenüber der dogmatischen Tradition. War es Luther und den Schweizern nie eingefallen, die Dogmen der altkirchlichen Konzile zu bezweifeln, so folgerten die Italiener aus der Ablehnung der Ablaßlehre, daß auch die Lehren von der durch Christus geleisteten Genugtuung und von der Trinität hinfällig seien. Schleiermacher meint, daß das Prinzip der frühen italienischen Antitrinitarier dasselbe christlich-reforma­ torische Prinzip sei wie das der Deutschen und Schweizer, nämlich alle menschlichen Festsetzungen kritisch an der Schrift zu überprüfen. Nur sei es in Italien nicht möglich gewesen, zur praktischen Seite der Reformation zu schreiten und eine Gemeinde auf Grundlage der neuen Einsichten aufzubauen (oder höchstens durch die Einsetzung eines Reformpapstes wie unter dem Konziliarismus oder durch Anschluß an politische Bewegungen wie bei Savonarola), und so

11 Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.   629–631); Kollektaneen 874; 886 (KGA II/6, S.  365 f. 368) 12 Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.   629–632); Kollektaneen 884; 888; 909 (KGA II/6, S.  367 f. 372 f.) 13  Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.  629 f.); Kollektaneum 915 (KGA II/6, S.  374)

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habe sich die kritische Arbeit einseitig auf die theoretische Seite, die Lehre konzentriert.14 Erst später, im Zusammenhang der Konkordienformel, geht Schleiermacher noch auf den „linken Flügel“ der Reformation ein. Ob hier eine eigene, originelle Gestalt des reformatorischen Prinzips vorliegt oder Abhängigkeit von Luther und Zwingli, wird nicht gefragt. – Die Ansicht der Anabaptisten von der Ungültigkeit der Kindertaufe hätten schon die Waldenser und Katharer gehabt. Die ersten Vertreter dieser Lehre, die Zwickauer Propheten und die Wiedertäufer von Münster, nennt Schleiermacher Fanatiker und Chiliasten, das Werk der letzteren sei mit der bürgerlichen Ordnung unvereinbar gewesen. Die späteren Mennoniten hätten sich aber davon gereinigt. Ihre Lehre, daß die Taufe mit der Wiedergeburt zusammentreffen müsse, sei von der evangelischen Lehre auch gar nicht so verschieden; nur hätten die Evangelischen die Taufe in zwei Teile geteilt, Taufe und Konfirmation, hätten also durch die letztere dasjenige nachgeholt, was die Taufgesinnten bei der Kindertaufe vermißten. – Kaspar von Schwenckfeld charakterisieren zwei Lehren: die dem Monophysitismus verwandte Vorstellung, die menschliche Natur Christi sei in der Ungeschaffenheit des Gott-Logos aufgegangen, und die (der Confessio Augustana entgegenstehende) Lehre, daß der göttliche Geist in seiner Wirksamkeit nicht an Äußeres wie Sakrament und Wort gebunden sei. Diese letztere sei extravagant und löse die geschichtliche und äußere Einheit auf (indem nämlich die Wirkung des Geistes vom geschichtlich-immanenten Kausalzusammenhang gelöst werde), allerdings sei sie nicht geradezu unchristlich, insofern Schwenckfeld ja die Wirkungen des göttlichen Geistes noch an Christus gebunden habe.15

9.2.1.3.  Verlauf der Reformation Schleiermacher kommt nun dazu, wie in Deutschland und der Schweiz die evangelische Kirche gestaltet wurde: In der Schweiz wurde in Übereinstimmung mit der staatlichen Obrigkeit der Gottesdienst radikal vereinfacht und alles abgeschafft, was der Superstition Vorschub leisten konnte. In Sachsen trat der Landesherr, der sich sonst herausgehalten hatte, bei der allgemeinen Kirchenvisitation als kirchliche Autorität hervor. Luther ging bei der Gestaltung des Gottesdienstes und der Kirchenverfassung behutsamer als die Schweizer vor und behielt viele alte Bräuche bei, betonte aber zugleich, daß seine Ordnung keine verpflichtende oder das Gewissen bindende Vorschrift sei und daß besonders dort, wo nur die zusammenkämen, die schon ganz Christen seien und die nur noch wenig Sinnliches bräuchten, weniger Ritual sein könne. Trotz den 14 Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.   631–633); Kollektaneum 913 (KGA II/6, S.  374). Vgl. auch Kirchengeschichte 1821/22, 94.–97. Stunde (KGA II/6, S.  642–644); Kollektaneen 912; 945; 958 (KGA II/6, S.  374. 381 f. 384). Kritischer beurteilt Schleiermacher die Sozinianer in der kirchlichen Statistik: Unter ihnen gab es auch schon manche, „die an eine Vernichtung des eigenthümlich christlichen sich anschlossen“, die also nicht nur die christliche Überlieferung kritisch sichten wollten, sondern das Geschichtliche im Christentum insgesamt verwarfen (Kirchliche Statistik 1827, 51. Stunde, KGA II/16, S.  375). 15 Kirchengeschichte 1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S.   650–652); Kollektaneen 923 f.; 929; 938 (KGA II/6, S.  377–379. 381)

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Unterschieden in der Ausführung sei er, was das Prinzip betreffe, mit Zwingli weitgehend einig gewesen.16 Die beginnende Bekenntnisbildung verknüpft Schleiermacher eng mit dem ausführlich beschriebenen Abendmahlsstreit und mit dem wechselhaften Kampf um die politische Anerkennung der evangelischen Kirchen. Warum das eine reformatorische Prinzip nicht zur Organisation einer gemeinsamen Kirche führte, war ja eine seiner Ausgangsfragen, und hier sieht er das entscheidende Moment: Der Differenzpunkt, also die Frage, wie Christus im Sakrament des Altars gegenwärtig sei, sei eigentlich harmlos und betreffe bloß die Lehre, nicht das reformatorische Prinzip oder gar den Glauben selbst, sie habe ihren Ort auch gar nicht in Gottesdienst und Predigt, sondern gehöre auf die Universität. Da aber Luther – nicht die „liberalen“ Schweizer – diese Differenz als kirchentrennend einstufte und da sie in das Augsburger Bekenntnis eingeschrieben wurde, unter dem die Protestanten schließlich rechtlich-politische Anerkennung bekamen und das somit nicht ohne Gefahr geändert werden konnte, verhinderte die unterschiedliche Abendmahlslehre einstweilen, daß Deutsche und Schweizer zu einer Kirchengemeinschaft zusammenwuchsen. Die Sachsen und die Oberdeutschen schlossen zwar in Wittenberg eine Konkordie, der sich auch die Schweizer anschlossen, doch auch die konnte Luther nicht dauerhaft von seinem Mißtrauen gegen die Schweizer abbringen. – Die Confessio Augustana stellt Schleiermacher recht detailliert vor. Den Hauptpunkt sieht er in der Rechtfertigungslehre; er stellt sie der katholischen Auffassung von der Rechtfertigung als einem durch das Tun der von der Kirche auferlegten Werke erlangten habitus und von der Sündenvergebung als kirchlich vermittelter Zuteilung des Verdienstes Christi gegenüber, kritisiert aber auch die einseitig imputativ-deklaratorische Rechtfertigungslehre der Konfession: Richtig verstanden seien doch die Rechtfertigung und die Versetzung des Menschen in eine reale Lebensgemeinschaft mit Christus dasselbe. – Zu den problematischen Seiten der Konfession rechnet Schleiermacher neben der Verurteilung der „secus docentes“ im Abendmahlsartikel besonders die unkritische Rezeption des altkirchlichen Dogmas, die die Freiheit der weiteren Untersuchung gehemmt habe.17 Luther und die sächsischen Reformatoren waren insofern noch im alten Denken befangen, als sie die Einheit der Lehre für konstitutiv für die Kircheneinheit hielten und als sie ihre Kontinuität mit dem bisherigen Christentum darin gewährleistet sahen, daß sie sich bis zu einem bestimmten Punkt an das alte Dog16  Kirchengeschichte

1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.  634 f.); Kollektaneen 891– 893; 907 f. (KGA II/6, S.  369. 372). In einer nicht ganz klaren Bemerkung heißt es, die katholische Vorstellung vom Unterschied zwischen Laien und Geistlichen sei noch unbewußt in Luther gewesen, wenn auch mit abnehmender Tendenz. 17 Kirchengeschichte 1821/22, 92.–95. Stunde (KGA II/6, S.   635–640); Kollektaneen 874; 878 f.; 889 f.; 896–899; 902 f.; 905; 910; 918; 928 (KGA II/6, S.  366. 368–373. 375 f. 379)

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361

ma anschlossen. Sie waren indessen nicht in der Lage, historisch und systematisch genau zu bestimmen, wie weit sie das Dogma rezipierten und von welchem Punkte an sie legitimerweise davon und von den Konzilsbeschlüssen abwichen; das habe der sächsischen Reformation einen unsicheren Charakter gegeben. (Es ist eigenartig, daß Schleiermacher hier den Schweizern eine größere Freisinnigkeit zuschreibt.) 18 Schleiermacher folgt dann dem Gang der Reformation durch die Länder Europas und betrachtet die ersten päpstlichen Gegenwirkungen. Die französischen Protestanten gingen auf den Abendmahlsstreit gar nicht ein und sind so für Schleiermacher der Beweis, daß schon damals eine evangelische Abendmahlslehre und -praxis ohne Parteienstreit möglich war und daß die Differenz nicht notwendig die Kirchen trennte. – Das nach langen Anläufen noch zustande gebrachte Trienter Konzil stand von Anfang an unter dem Papst und war zu unparteiischen Verhandlungen keineswegs geeignet; im Jesuitenorden, der den drei Gelübden noch das zum unbedingten Gehorsam gegen den Papst hinzufügte und dessen Glieder sich u. a. als Beichtväter an die Höfe einschlichen, bekam das Papsttum ein Instrument zur Bekämpfung der Reformation. In Schweden war die Untergrundarbeit des Ordens schon weit fortgeschritten, als ein Regierungswechsel doch noch den Protestantismus sicherstellte. – Die englische Kirche fing an als katholische Landeskirche unter Heinrich VIII. Dessen Nachfolger milderten den strengen Katholizismus und führten einige evangelische Glaubensartikel und eine neue Liturgie ein. Durch Flüchtlinge, die nach der Protestantenverfolgung unter Königin Maria nach England zurückkehrten und die im Exil andere Formen des Protestantismus kennengelernt hatten, kam der Gegensatz von Konformisten und Dissenters in die englische Kirche. – In Polen bildeten sich neben den reformierten auch sozinianisch-unitarische Gemeinden, die Fausto Sozinis Maxime folgten, daß man nur glauben könne, was sich auch denken lasse. Da sie trotz allem an der Erlösung durch Christus festhielten, will Schleiermacher sie nicht aus dem Gebiet des Christentums ausschließen; ihre Einseitigkeiten, die sie allerdings gehabt hätten, hätten sich noch mildern und ausgleichen können, wenn ihnen nicht die ebenso einseitig auf das Trinitätsdogma festgelegten Anhänger der Augsburger Konfession den Austausch und Dialog verweigert hätten. – Die Böhmen korrespondierten früh mit Luther, der anerkannte, daß ihre kleine Gemeinschaft ein vollkommeneres christliches Leben als die sächsische Kirche eingerichtet habe. In ihnen sieht Schleiermacher den Typus der kleinen Gemeinschaft (wohl besonders der Herrnhuter) vorgebildet, bei denen nicht wie bei den Großkirchen die theologisch-dogmatische Wissenschaft, sondern das religiöse Leben im Mittelpunkt stehe. Kleine und große Gemeinschaften bedürften einander und befruchteten sich gegenseitig. – Später wurden die böhmischen Taboriten nach Mähren und Polen vertrieben; sie hatten dadurch das Interesse, sich mit den anderen Protestanten verschiedener Richtungen zu vereinigen und wurden so (wie die Franzosen) zu Initiatoren einer gesamtprotestantischen Gemeinschaftlichkeit.19

18 

Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.  631–633) 1821/22, 94.–97. Stunde (KGA II/6, S.  640–644); Kollektaneen 881; 906; 911 f.; 915; 917; 919–922; 927; 932; 936; 940; 945 (KGA II/6, S.  367. 372–377. 379–382) 19 Kirchengeschichte

362

C.  Materialer Teil

Sehr ausführlich hat Schleiermacher dann die innerprotestantischen Lehrstreitigkeiten und den Abschluß der Konfessionsbildung dargestellt und kommentiert. Jean Calvin schloß mit den Zürchern Übereinkünfte über das Abendmahl und die Prädestination. Die deutschen Lutheraner wechselten mit Calvin heftige Schriften über die Abendmahlsfrage, während die Franzosen sich weiter neutral zu dieser Streitfrage und in evangelischer Simplizität hielten. Die Deutschen sahen sich bei den nun vom Kaiser veranstalteten Religionsgesprächen mit den Katholiken immer wieder genötigt, zu beweisen, daß sie von der Augsburger Konfession nicht abwichen und somit noch auf dem Boden des 1555 geschlossenen Religionsfriedens stünden. Unter diesen Umständen schwang sich, nachdem Wittenberg an die albertinische Linie gefallen war, die neue ernestinische Universität Jena zur selbsternannten Hüterin der lutherischen Rechtgläubigkeit auf gegenüber dem angeblich nach allen Seiten hinkenden Wittenberg unter Melanchthon. Bei den katholisch-protestantischen Religionsgesprächen konnte man sich übrigens in vielen Lehrpunkten einigen und hatte doch das Gefühl von einer nicht in Buchstaben zu fassenden inneren Differenz gegeneinander.20 – Beim Streit darum, wie weit man in Adiaphora nachgeben könne, erklärt Schleiermacher Luthers Regel, daß das, was nicht aus Glauben komme, Sünde sei (vgl. Röm 14,23), für das beste: Bei dem, was für das eigene religiöse Leben gleichgültig sei, könne man um der Einheit und des Friedens willen nachgeben, aber nachzugeben, weil andere das täten, sei eine Verletzung des Gewissens. Im antinomistischen Streit hat Schleiermacher Sympathien mit Johann Agricola und hält Luthers Festhalten an den Geboten in der Religionslehre für inkonsequent; Luther meinte ja selbst, die Gebote seien die Fundamentallehre für die, die noch Christen werden wollten, und Agricola habe eben den christlichen Geist, der dieser Fundamentallehre nicht mehr bedürfe, schon als gegeben vorausgesetzt.21 Zum synergistischen Streit meint Schleiermacher, die flacianische Lehre von der totalen, auch passiven Unfähigkeit des Menschen unter der Erbsünde zum Guten sei härter als Calvins Prädestinationslehre. Die lutherischen Beiträge zum Prädestinationsproblem hält er generell für unausgegoren.22 Beim Osiandrischen Streit erklärt Schleiermacher (wie schon im Zusammenhang des Augsburger Bekenntnisses) die deklaratorische Rechtfertigungslehre, wonach Rechtfertigung als Zurechnung der Gerechtigkeit Christi unterschieden wird von der Gerechtigkeit und Heiligung des Gläubigen, für eine Abstraktion in toten Formeln; Andreas Osiander habe richtig die Rechtfertigung identisch gesetzt mit der Heiligung und Neuwerdung des Menschen kraft seiner Aufnahme in die Le-

20 Kirchengeschichte

1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S.  644–646; Kollektaneen 882; 926; 930; 939; 944; 947 (KGA II/6, S.  367. 379. 381 f.) 21  Kirchengeschichte 1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S.  6 46 f.); Kollektaneen 933; 935; 946; 957 (KGA II/6, S.  380. 382. 384). Vgl. Hermann Peiter: Schleiermacher und der Antinomismus, in: Hg. Kurt-Victor Selge: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Teilband 2, Schleiermacher-Archiv 1,2, Berlin-West und New York 1985, S.  1017– 1029. 22  Kirchengeschichte 1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S.  6 47 f. 650); Kollektaneum 946 (KGA II/6, S.  382). Vgl. zum Thema oben Abschnitt 7.3.2.4. und 8.3.1.2., weiter Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  22,2; 68,2 f.; Band 2, Berlin 1831, §  119,3 (KGA I/13,1, S.  156. 414–417; I/13,2, S.  263–266).

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bensgemeinschaft mit Christus.23 – Indem Johannes Brenz und andere Luthers Lehre von der Ubiquität der menschlichen Natur Christi erneuerten und ihr in der Konkordienformel schließlich zu symbolischer Bedeutung verhalfen (woran sich dann scholastische Fragen anschlossen wie die, ob Christus schon in seinen Erdentagen als Mensch zugleich allgegenwärtig gewesen sei), trugen sie zur Verbreitung des Calvinismus in Deutschland bei, der nicht die doppelte Prädestinationslehre rezipierte, sondern sich bloß weigerte, die schwer verständliche und kaum einleuchtende Ubiquitätslehre für heilsnotwendig zu achten und sich lieber an eine simple Abendmahlslehre hielt. Die Konkordienformel wurde nicht von allen lutherischen Ländern und Territorien angenommen. Tatsächliche Unterscheidungsmerkmale zwischen deutschen Lutheranern und Reformierten waren, da die Lehrunterschiede wenig populär waren, die lutherische Privatbeichte und der Exorzismus bei der Taufe, die bei den Lutheranern aber allmählich auch außer Gebrauch kamen.24

9.2.1.4.  Bedeutende Einzelgestalten Das Prinzip der Reformation ist nicht die Errungenschaft eines Einzelnen, es trat, nachdem es sich schon in den Jahrhunderten vorher immer wieder gezeigt hatte, in mehreren Individuen zugleich und unabhängig voneinander stark hervor, und es zielt auf eine weitere Verbreitung und Vertiefung des Christentums in der Masse. Man muß sich nach Schleiermacher die ersten Reformatoren als Leute vorstellen, die von dem (an sich nicht neuen) Prinzip der Reformation besonders kräftig ergriffen waren, die also eine gesunde, christliche Ansicht über Schrift und Tradition, Bildung und Aberglauben, Inneres und Äußerliches usw. hatten und die dann bei gegebenem Anlaß damit hervortraten, andere erweckten, sich mit ihnen austauschten und immer breiter wirkten. Bei Luther hebt Schleiermacher besonders seine gewinnende Kraft der Rede und seine Überzeugungsstärke hervor. In der Abendmahlsfrage äußerte sich letztere freilich in einer der gemeinsamen Sache nicht förderlichen Starrheit, aber auch diese weiß Schleiermacher noch zu verteidigen: Sie sei nicht aus unchristlicher Streitsucht und Rechthaberei gekommen, sondern aus dem christlichen Gefühl einer mystischen Lebensgemeinschaft mit Christus, die sich nicht nur geistig, sondern auch leiblich darstellen mußte. (Dieselbe Unbeugsamkeit hatte später Calvin in Bezug auf die Prädestination, nur daß sich die Schweizer nicht überzeugen ließen, zur Glaubens- und Kirchengemeinschaft bedürfe es eines identischen Lehrbegriffs.) In praktischen Fragen wiederum war Luther oft liberal und kompromißbereit. Insgesamt ergänzten und korrigierten Luthers Kraft und Beharrlichkeit und eben auch Neigung zur Härte einerseits, Melanchthons Milde und Nachgiebigkeit andererseits einander: Ohne Luther wäre etwa Melanchthons Vorschlag vielleicht durchgekommen, dem Papst doch ei23  Kirchengeschichte 1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S.  6 48 f.); Kollektaneum 935 (KGA II/6, S.  380). Vgl. Der christliche Glaube2 2, §  109 (KGA I/13,2, S.  191–202). 24  Kirchengeschichte 1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S.  6 49 f. 652 f.); Kollektaneen 926; 948–952 (KGA II/6, S.  378 f. 382 f.)

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C.  Materialer Teil

nen Ehrenprimat zu lassen.25 – Die Frage der neueren Lutherforschung, ob es bei Luther einen Zeitpunkt der reformatorischen Wende gebe und wenn ja, wann der anzusetzen sei, hat sich Schleiermacher so nicht gestellt; die Originalität Luthers und der anderen Reformatoren schätzt er nicht hoch genug ein, um sich mit der Frage der reformatorischen Wende zu beschäftigen. Schleiermacher wäre aber eher zu den Spätdatierern zu rechnen: Der Luther der Ablaßthesen teilt und verteidigt nach Schleiermacher noch allzu viele katholische Vorstellungen, von denen er sich erst später frei machte, durch Austausch mit Gleichgesinnten, besonders aber durch den Streit mit den Gegnern.26 Für Luthers innere Kämpfe und Anfechtungen hat Schleiermacher natürlich wenig Sinn, da dergleichen für ihn ja aus einer temporären Unkräftigkeit und Unstetheit des Gottesbewußtseins kommt. Kaiser Karl V. hat nach Schleiermacher im allgemeinen Urteil die undankbare Position zwischen den Stühlen: Für romtreue Katholiken ist er ein Ketzer, weil er dem Papst nicht gehorchte, für Protestanten ist er ein Feind des Protestantismus. Der Kaiser habe sich selbst im Sinne der alten Kaiseridee als Oberhaupt der Kirche und den Papst als Entscheider der Lehre angesehen; so habe er vom Papst beständig die Abstellung der Mißbräuche und die Wiederherstellung der Lehreinheit auf einem Konzil gefordert. Was die Notwendigkeit einer Lehr­einheit angeht, war der Kaiser mit Luther einer Meinung. Für die spanische Inquisition habe er nichts gekonnt, ihre Gewalt sei schon zu fest gegründet gewesen und hätte eher den Kaiser bedrohen können als umgekehrt. Insgesamt dürfe man weder beim Kaiser noch bei den Reformatoren den Persönlichkeiten eine zu große Bedeutung zuschreiben.27 – Erasmus wiederum war bei der Lehre freier als Luther und Karl. Er meinte, ein Dissens in Lehrfragen könne ruhig bestehen, bis er sich irgendwann von selbst löse; solange nur das praktisch Schädliche eingedämmt werde und die Bildung voranschreite, setze sich nämlich auf die Dauer die bessere Einsicht durch und verschwinde der Irrtum. Das entspricht etwa Schleiermachers Bild von der Kirchenverbesserung. Allerdings beließ es Erasmus dann bei seiner reinen Idee und beteiligte sich nicht am Reformationswerk; was ihn hinderte, war wohl nicht, wie manchmal behauptet, die Menschenfurcht, sondern eher eine allerdings tadelnswerte und weltfremde übergroße Skrupelhaftigkeit.28 25  Kirchengeschichte 1821/22, 92.–97. Stunde (KGA II/6, S.  630 f. 635–637. 640 f. 645); Kollektaneen 891; 936 (KGA II/6, S.  369. 380) 26  Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.  630 f. 636); Kollektaneum 889 (KGA II/6, S.  368) 27 Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.   633); Kollektaneum 879 (KGA II/6, S.  366). In der Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  700) sagt Schleiermacher, daß Deutschland ganz der Reformation zugefallen wäre, wenn es nicht einen Kaiser gehabt hätte, der zugleich Herrscher eines romanischen Landes war. 28  Kirchengeschichte 1821/22, 92.–93. Stunde (KGA II/6, S.  633 f.); Kollektaneum 910 (KGA II/6, S.  371). Dieser letzte Tadel ist gewichtig, und insofern ist Schleiermachers Sym-

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365

Matthias Flacius Illyricus schließlich ist für Schleiermacher ein typischer Vertreter derjenigen Anschauung, für die die Reformation nicht ein fortdauernder Prozeß ist, im Geist Christi das Bessere zu suchen, sondern schon von Luther abgeschlossen wurde, dergestalt, daß die Aufgabe der Späteren nicht darin besteht, im Sinne Luthers weiterzumachen, sondern darin, das von Luther Erreichte festzumachen und zu verteidigen und insbesondere die Lehre Luthers ihrem Buchstaben nach zur Grundlage der Kircheneinheit zu machen. Die von Flacius herausgegebenen Magdeburger Centurien seien aber eine tüchtige Leistung kirchengeschichtlicher Forschung und Darstellung gewesen.29

9.2.2.  Deutung der Reformation in anderen Werken Schleiermachers 9.2.2.1.  Texte und Themen Schleiermachers theologische Sittenlehre stellt die Reformation vor als Beispiel und Vorbild für das Vorgehen bei der Kirchenverbesserung: Einzelne sind mehr als das Ganze vom Geist Christi durchdrungen und sind dem Ganzen an Einsicht in das Christliche voraus. Sie suchen den Austausch und die Öffentlichkeit, stellen ihre Einsichten zur Diskussion, machen dabei aber nicht ihre individuelle Gestalt des Christlichen geltend, sondern das, was in der Kirche allgemein obligatorisch ist (sie orientieren sich also besonders am Neuen Testament). Eine Trennung suchen sie nicht, nehmen es aber eher in Kauf, ihrerseits exkommuniziert zu werden, als daß sie sich wider bessere Einsicht dem Ganzen assimilieren (vgl. oben Abschnitt 4.3.3. und 4.4.). Als Kirchenreinigung deutet Schleiermacher die Reformation auch andernorts, sagt aber zugleich, die Reformation und die weitere Existenz der evangelischen Kirche seien nicht nur als fortwährendes reinigendes Einwirken auf den Katholizismus zu begreifen.30 In der Praktischen Theologie sagt Schleiermacher einmal, zur Exemplifikation anhand der Geschichte eigneten sich für die protestantische Predigt neben Begebenheiten aus dem apostolischen Zeitalter auch noch solche aus der Reformationszeit, und zwar deshalb, weil sie – anders als etwa die katholischen Heiligenlegenden, in denen sich, wenn man das Falsche abziehe, durchaus viel pathie für Erasmus doch nicht ganz ungetrübt (gegen Klaus Martin Beckmann: Der Begriff der Häresie bei Schleiermacher, Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus X,16, Göttingen 1959, S.  92; Brian A. Gerrish: From Calvin to Schleiermacher: the Theme and the Shape of Christian Dogmatics, in: Hg. Selge: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984 2, S.  1033–1051, hier 1038). 29 Kirchengeschichte 1821/22, 96.–97. Stunde (KGA II/6, S.   648); Kollektaneum 942 (KGA II/6, S.  381) 30  Predigt 60 (25.6.1820) über Apg 4,13–21 (SW II/4, S.  105); Predigt 371 (2.11.1823) über Joh 2,12–17 (KGA III/7, S.  1017 f.); Predigt 135 (7.11.1824) über Lukas 21,15 (KGA III/8, S.  626); Der christliche Glaube2 1, §  24,1 (KGA I/13,1, S.  164 f.); Predigt 155 (1.8.1830) über Hebr 10,12 (Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, S.  98 f.; KSP 3, S.  75 f.)

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Schönes finde – allen Hörern erreichbar seien, d. h. weil man bei allen Hörern so viel Kenntnis der Reformationszeit voraussetzen kann, daß Beispiele aus ihr richtig eingeordnet und verstanden werden.31 Das Reformationsfest wurde indessen damals, wie Schleiermacher in einer Predigt erwähnt, nicht jedes Jahr begangen.32 Das dreihundertjährige Jubiläum von Luthers Thesenanschlag wurde im Herbst 1817 in den meisten deutschen Staaten im großen Stil und mit großer Beteiligung gefeiert, oft über mehrere Tage. Das Fest war im politisch neugeordneten Deutschland zugleich eine Bestandsaufnahme des Protestantismus und ein Ruf zur Selbstbehauptung; in Preußen gab es einen Anstoß zur Union, in Nassau wurde die Union auf dem Fest vollzogen. Die Vorgaben von Seiten der Regierungen waren mannigfach, mannigfach war auch, wie man die Reformation feierte: als Auf bruch der Menschheit aus der Dunkelheit zum Licht, als Sieg der Gewissensfreiheit und Toleranz über die Unterdrückung der Gedanken, als Durchbruch der Wissenschaft und des Schriftprinzips, als deutsche Heldentat (so wie die eben erst ausgefochtenen Befreiungskriege gegen Napoleon), aber auch als Mahnung zur Erweckung aus der Schlaff heit und Glaubens­ trägheit der Gegenwart; die Töne gegenüber dem Katholizismus waren bald hochmütig, bald versöhnlich.33 Schleiermacher steuerte zum Fest eine Schulpredigt am zweiten Tag des Fe­ stes34 und eine Predigt am dritten Festtag bei, der auch der 22. Sonntag nach

31 

Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  23v. 24) Predigt 135 (7.11.1824) über Lukas 21,15 (KGA III/8, S.  622 f.) 33 Vgl. Theologische Nachrichten 1818, S.   37–43. 66–87. 122–165. 197–245. 263–293. 321–337. 367–393. 427–433 (Berichte über die staatlichen und kirchlichen Bestimmungen und über die Feiern in den deutschen Staaten, Lieder und Texte zum Jubiläum); Erich Foer­ ster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, Band 1, Tübingen 1905, S.  267–283; Wichmann von Meding: Kirchenverbesserung, Unio et Confessio 11, Bielefeld 1986; Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, S.  361–363; Bernhard Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers, Schleiermacher-Archiv 20, Berlin und New York 2002, S.  81–83; Dorothea Wendebourg: Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108 (2011), S.  270–335, hier 278 f. 284 f. 290–298. 311–319. – In Karl August Varnhagen von Enses Erinnerungen heißt es über das Fest: „Die Theilnahme war groß und allgemein, das Volk verstand dieses Fest; die religiöse Stimmung des gemeinen Mannes verlangt Vorstellungen des Muthes, der Tapferkeit, hier fand sie solche in dem Helden des Tages, dem gepriesenen Doktor Luther, der aus der alten Zeit wie von selbst an die Seite Blücher’s trat, und in Wittenberg eben jetzt auch im ehernen Standbild sichtbar wurde. Lieder, Reden, Lebensabrisse, Denkmünzen, Kupferstiche, Steindrücke erschienen in Menge, das würdigste Denkmal aber neben dem ehernen war die Reformationsgeschichte Marheineke’s, welche längst vorbereitet in diesem Zeitpunkt herauskam.“ (Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten, 37. Abschnitt [Denkwürdigkeiten und Vermischte Schriften, 2.  Aufl., Band 9, Leipzig 1859, S.  193; hg. von Konrad Feilchenfeldt, Band 3, Bibliothek deutscher Klassiker 25, Frankfurt am Main 1987, S.  198 f.]) 34  Predigt 47 (1.11.1817) über Matth 18,5 f. (KGA III/5, S.  241–258) 32 

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Trinitatis war.35 Eine lateinische Rede hielt er am 3. November als Dekan der theologischen Fakultät beim Festakt der Berliner Universität.36 Die Universitätsrede und die Schulpredigt betonen – wie auch andere Festreden aus Brandenburg 37 – die Bedeutung der Reformation für das Bildungswesen und die sich daraus ergebenden bleibenden Verpflichtungen für Unterricht und Lehrfreiheit. Dabei stellt die Universitätsrede in den Mittelpunkt, wie das theologische Studium auf der Grundlage der Reformation beschaffen sein solle und wie sich der reformatorische Ansatz gegenüber orthodoxem Scholastizismus, pietistischer Verachtung der Studien, auf klärerisch-frivoler Religionsfeindschaft und obrigkeitlicher Einmischung stets behauptet habe und weiter behaupten müsse.38 Die Schulpredigt schärft nicht nur ein, daß schon die Jugend mit der Schrift vertraut gemacht werden solle, sondern versucht auch – damals durchaus originell – den Bogen zu schlagen von der reformatorischen Rechtfertigungslehre zur religionspädagogischen Aufgabe: Gerade die Schulkinder seien aufgrund ihrer Situation für die Erfahrung der Rechtfertigung ohne Gegenleistung ansprechbar; eine einseitig auf die Vermittlung von Wissen und Moral ausgerichtete, nach Gehorsam und Verdienst belohnende oder bestrafende Päd­ agogik hingegen verfehle den Auftrag Christi und das Wesen der Reformation.39 Ausgestaltet wird der Gottesdienst mit damals neuen (und inzwischen längst vergessenen), vom Prediger und Liturgen subtil bearbeiteten Liedern (aus Sammlungen, die eigens für das große Fest zusammengestellt wurden) und mit drei Nummern aus dem zweiten Teil von Georg Friedrich Händels „Messias“, die das Werk der Boten Christi besingen; Schleiermacher unterstreicht, daß die Reformation nicht das vergangene Werk weniger Heroen, sondern die bleibende Aufgabe für die ganze Kirche sei.40 – Die Sonntagspredigt weist darauf hin, daß beständiger Wechsel die Heilsgeschichte ebenso bestimme wie die Geschichte der Reformationskirche, sie mahnt zu Bekennermut und zur Stärkung der innerkirchlichen Gemeinschaft und verheißt, daß Gott die Seinigen auch in den zukünftigen Wechseln und Hemmungen bewahren werde. Die 35 

Predigt (2.11.1817) über Luk 10,21–24 (KGA III/5, S.  260–265) Oratio in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi die III. Novembris A. MDCCCXVII. habita, in: Orationes in solemnibus ecclesiae per Lutherum emendatae saecularibus tertiis in Universitate litterarum Berolinensi d. III. Novembr. A. MDCCCXVII. habitae, Berlin o.J. (1817), S.  14–27 (KGA I/10, S.  1–15) 37 Vgl. Meding: Kirchenverbesserung, S.  47. 138. 38  Vgl. KGA I/10, S. VIII f.; Nowak: Schleiermacher, S.  364 f.; Wendebourg: Die Reformationsjubiläen, S.  294 f. 39 Vgl. Meding: Kirchenverbesserung, S.  185–189; B. Schmidt: Lied, S.  95–100; ders.: Schleiermachers Liedblätter 1817, Schleiermacher-Archiv 23, Berlin und New York 2008, S.  230–233. 40 KGA III/5, S.   258 f. Vgl. ausführlich B. Schmidt: Lied, S.  83–94. 101–106; ders.: Schleiermachers Liedblätter 1817, S.  223–230. 233–236. Die Bedeutung der Union für das Fest schätzt Schmidt wohl etwas zu hoch ein. 36 

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Lieder greifen aus der Reformationsthematik Stichworte auf wie Geist und Glaube, Kampf und Leiden, Irrtum und Wahrheit.41 – Unter den zahlreichen Stimmen zum Jubiläum gehört also Schleiermacher zu denen, die die religiöse, theologische und kirchliche Bedeutung der Reformation in den Mittelpunkt stellen. Wenige Tage nach dem Abschluß des ersten kirchengeschichtlichen Kompendiums hielt Schleiermacher eine Predigt anläßlich der Vereinigung der zur Berliner Dreifaltigkeitskirche gehörigen Lutheraner und Reformierten zu einer Gemeinde. Hier blickt er auch auf die Reformationszeit zurück, in der es nicht zur vollen Kirchengemeinschaft zwischen beiden Richtungen gekommen war.42 Anfang November 1824 erinnerte Schleiermacher in einer Predigt an den vergangenen Jahrestag des Thesenanschlags und an den kommenden Geburtstag Luthers und machte ebenfalls die Reformation zum Thema; er deutete sie hier unter dem Predigttext „ich will euch Mund und Weisheit geben, welcher nicht sollen widersprechen mögen, noch widerstehen alle eure Widerwärtige“

als Sprachereignis.43 Das bedeutendste Wort des Predigers Schleiermacher über die Reformation sind zweifellos die „Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession“. Das 300jährige Jubiläum der Confessio Augustana von 1830 war, anders als das Jubiläum 13 Jahre zuvor, vom Streit überschattet, den Rationalisten und Repristinationstheologen über die Frage austrugen, ob die Bekenntnisse in der evangelischen Kirche noch immer bindende Autorität hätten.44 In der Feststunde der Berliner Universität hielt Georg Friedrich Wilhelm Hegel auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin eine lateinische Rede; er feierte die von den Fürsten dem Kaiser übergebene Konfession als Ereignis, das die Laien und den Staat von der ethischen, religiösen und politischen Bevormundung durch den Klerus zur Mündigkeit befreie.45 Schleiermacher predigte am Tag des Jubiläums in der Dreifaltigkeitskirche. 1831 veröffentlichte er zehn Predigten, die er zwischen Juni und November 1830 gehalten hatte, als Reihe und in sich abgeschlossene Sammlung anläßlich des Augustana-Jubiläums. Unter dem Motto, er feiere mehr die Tat des Bekenntnisses als dessen buchstäblichen

41 

KGA III/5, S.  266 f. Vgl. B. Schmidt: Schleiermachers Liedblätter 1817, S.  237–244. Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  88–103) 43  Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  622–653) 44 Vgl. Erich Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, Band 2, Tübingen 1907, S.  240 f.; Wendebourg: Die Reformationsjubiläen, S.  272. 280–282. 284. 298–303. 45  Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Oratio in Sacris Saecularibus Tertiis Traditae Confessionis Augustanae ab Universitate Regia Friderica Guilelma die XXV. M. Iunii A. MDCCCXXX. rite peractis, Berlin und Stettin 1830 (Gesammelte Werke 16, S.  313–322) 42 

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Inhalt,46 betrachtet Schleiermacher die Reformation als Vermächtnis und Aufgabe für die Kirche, ihre Größe und ihre notwendige Zeitbedingtheit, ihre unhintergehbaren Errungenschaften und die Punkte, an denen die evangelische Kirche über das im 16. Jahrhundert Festgesetzte hinaus fortschreiten müsse. Nicht erst um 1830, schon im Zusammenhang des Jubiläums von 1817 war es zu Kontroversen um die Bekenntnisfrage gekommen, nicht zuletzt durch die Aufsehen (und mehr Widerspruch als Zustimmung) erregenden 95 Thesen Claus Harms’ aus Kiel. Harms geißelte den bekenntnisvergessenen Rationalismus als modernen Wiedergänger der päpstlichen Tyrannei und lehnte zum Schluß auch die Union ab. Als der eigentlich als Rationalist bekannte sächsische Oberhofprediger Christoph Friedrich von Ammon eine Streitschrift gegen die Union publizierte und sich darin auf Harms berief, antwortete Schleiermacher, der Ammon eines falschen Spiels verdächtigte, mit einem offenen Brief „An Herrn Oberhofprediger D. Ammon“. Im zweiten Band des Erfurter Reformationsalmanachs veröffentlichte Schleiermacher einen Aufsatz „Ueber den eigen­ thümlichen Werth und das bindende Ansehen der symbolischen Bücher“.47 – Schärfer war der Streit um Bekenntnis und Rationalismus zur Zeit des Augustana-Jubiläums. Die uneingeschränkte Geltung der Symbole wurde inzwischen von einer breiten Front innerhalb der Kirche gefordert; zugleich zeichnete sich die Separation der Altlutheraner von der preußischen Union ab. Den Streit ausgelöst hatte Ernst Wilhelm Hengstenbergs Evangelische Kirchen-Zeitung durch eine Artikelserie, in der gefordert wurde, die Hallenser Rationalisten Wilhelm Gesenius und Julius August Ludwig Wegscheider zu entlassen, da sie nicht auf dem Boden des geltenden Bekenntnisses und damit außerhalb der Kirche stünden; auch Lehrfreiheit könne es nicht unbegrenzt geben. Schleiermacher wollte zwischen Rationalisten und Konfessionalisten vermitteln; er geriet alsbald selbst zwischen die Fronten und wurde von beiden Seiten der Doppelzüngigkeit und des Jesuitismus beschuldigt. In einem Sendschreiben „An die Herren D. D. D. von Cölln und D. Schulz“, zwei Rationalisten an der Universität Breslau, und in der Vorrede zur Sammlung der Augustana-Predigten legte Schleiermacher dar, daß die von der anderen Seite geforderte Bekenntnisverpflichtung tatsächlich weder Hochschullehrern noch Geistlichen drohe, daß aber selbst eine solche die 46  Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  2 0–24; KSP 3, S.  25–28); Predigt 160 (7.11.1830) über Phil 1,6–11 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  192 f.; KSP 3, S.  136 f.); An die Herren D. D. D. von Cölln und D. Schulz, in: Theologische Studien und Kritiken 4 (1831), S.  3 –39, hier 7 (KGA I/10, S.  4 01); Predigten in Bezug auf die Feier, S. IV–VIII (KSP 2, S.  263–265). – Ebenso urteilte auch noch Emanuel Hirsch: Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation, Göttingen 1930, S.  5 f. 47 Vgl. Foerster: Die Entstehung 2, S.  36–43; Hans-Friedrich Traulsen: Schleiermacher und Claus Harms, Schleiermacher-Archiv 7, Berlin-West und New York 1989, S.  4 4– 175; Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Beiträge zur historischen Theologie 77, Tübingen 1989, S.  153–157; KGA I/10, S. XV–XLV; Nowak: Schleiermacher, S.  365–368.

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Kirche nicht spalten und den Protestantismus zerstören würde.48 – Die Autorität der symbolischen Bücher gehört auch zu den Einleitungsfragen der Glaubenslehre. Die Praktische Theologie als Theorie des Kirchenregiments und des Kirchendienstes muß sich ebenfalls auf die Reformation beziehen, und tatsächlich rekurrieren die Vorlesungen in dieser Disziplin bei der Erörterung fast jedes Problems auf sie. Zu zwei damals diskutierten Themen hat Schleiermacher auch eigene Schriften veröffentlicht: zur Kirchenverfassung und zur Liturgik. Besonders in den Schriften zur Liturgie (die aber auch das Gebiet der Verfassung betreffen) geht es um das reformatorische Erbe und die Frage, wer sich wofür auf es berufen könne. Der König wünschte eine liturgische Erneuerung für seine evangelische Kirche; er hatte Luthers liturgische Arbeiten gründlich studiert und, gestützt auf sie und andere ältere Formen, eine neue Agende erarbeitet, die er als summus episcopus seiner Kirche geben wollte. Schleiermacher bestritt in (meist anonymen) Schriften einerseits das Verfahren, indem es nie Sache der politischen Regierung gewesen sei, der Kirche die liturgischen Formulare vorzugeben, andererseits auch den Inhalt der Liturgie, der keine Rückkehr zur Reformation bedeute, sondern einen Schritt hinter sie zurück.49 9.2.2.2.  Ereignisse und Gestalten der Reformationszeit Um die Epoche der Reformation recht zu würdigen, kann Schleiermacher große und feierliche Worte wählen: Es waren die „ewig denkwürdigen und gesegneten Zeiten der Kirchenverbesserung“,50 Zeiten „göttlicher Fügungen“, in denen „die theuren Rüstzeuge des Herrn“ wirkten,51 „preiswürdige Heroen unserer Kirche“, „Gottgesandte“.52 In der Reformationsgeschichte zeige sich exemplarisch, daß Gott sein Reich, wie Christus es verheißen habe, durch das Wort ausbreite und erhalte.53 Harms, ansonsten ein guter Prediger und redlicher Kirchenmann, habe sich überhoben, als er den ernsten, in ihrer Schlichtheit und Bescheidenheit durchschlagenden Thesen des Titanen Luther 95 eigene Sätze an die Seite gestellt habe, die meisten unausgegorene Bonmots, keine

48 Vgl.

Foerster: Die Entstehung 2, S.  241–248; KSP 2, S.  257–260. 292–300; Ohst: Schleiermacher, S.  144–151. 158–174; KGA I/10, S. LXXXVIII–CXII. 49 Vgl. Foerster: Die Entstehung 2, S.  55–210; Ohst: Schleiermacher, S.  96–98; KGA I/9, S. XLVI–XLVIII. LXXI–LXXXIV. CX–CXII; Nowak: Schleiermacher, S.  385–389. 50  Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  9 0) 51  Predigt 47 (1.11.1817) über Matth 18,5 f. (KGA III/5, S.  242); Predigt (2.11.1817) über Luk 10,21–24 (KGA III/5, S.  262 f.); Predigt 151 (20.6.1830) über 1 Kor 7,23 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  5 ; KSP 3, S.  15) 52  Glückwünschungsschreiben an die Hochwürdigen Mitglieder der von Sr. Majestät dem König von Preußen zur Aufstellung neuer liturgischer Formen ernannten Commission, Berlin 1814, S.  19 f. (KGA I/9, S.  63) 53  Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  623–627)

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Donnerschläge, wie Ammon schreibe, sondern bloß Raketen, die nicht recht zünden wollten.54 Dabei betont Schleiermacher auch hier, die Reformation sei nicht die Tat dieses einen gewesen – den übrigens auch die Reformierten wie er, Schleiermacher, „für ein seltenes und auserwähltes Rüstzeug Gottes“ anerkennten, auch auf die Gefahr hin, daß dadurch Zwingli und Calvin zu sehr in den Hintergrund träten.55 Viele hätten daran teilgehabt, es sei das Werk eines gemeinsamen Geistes gewesen, der sich auch schon vor den eigentlichen Reformatoren gezeigt habe.56 Nur seien die verschiedenen Gestalten, die die Kirche damals an unterschiedlichen Orten unter dem einen reformatorischen Geist angenommen habe, noch nicht zu voller Kirchengemeinschaft zusammengewachsen.57 Und andererseits ist die Reformation mit all ihren Helden und Heldentaten doch nichts anderes als ein eben besonders herausragendes Beispiel dafür, was nach evangelischem Verständnis allezeit das Wesen und der Weg der christlichen Kirche ist.58 Kurz nach den Jubiläumsfeiern von 1817 kann Schleiermacher sogar rückblickend sagen, daß, wenn man das Reformationsfest alljährlich beginge, kein solcher geradezu katholischer Personenkult daraus entstanden wäre, sondern vielmehr eine Besinnung auf den tragenden Grund der Kirche.59 Zum sittlichen Vorgehen der Reformatoren bei ihrem Werk gehört es, daß sie nicht die Trennung und Spaltung beabsichtigten, sondern den öffentlichen kirchenverbessernden Dialog (auch in der Bereitschaft, sich ihrerseits überzeugen zu lassen) bis zur Beilegung aller Streitfragen fortführen wollten. Darin indessen, daß es dann doch zur Kirchenspaltung kam, diese aber nicht von der evangelischen Seite ausging, sondern von denen, die die Evangelischen in den Bann taten (daß es also die katholische Seite war, die sich selbst absonderte), 54 An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Säze, Berlin 1818, S.  4 –6. 11 f. (KGA I/10, S.  23 f. 28 f.) 55  An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  8 0 (KGA I/10, S.  83) 56  Oratio in solemnibus, S.  14 f. (KGA I/10, S.  3 f.). Vgl. B. Schmidt: Lied, S.  102; ders.: Schleiermachers Liedblätter 1817, S.  227. 236, der feststellt, daß Schleiermacher bei der Liedauswahl zum Reformationsgottesdienst am 1.11.1817 bewußt auf die namentliche Nennung der Helden verzichtet, abgesehen von einer Strophe, die neben Luther auch Zwingli nennt, dessen Anteil allzu leicht vergessen werde. 57 Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, S.  4 (KGA I/4, S.  370); An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  84–87 (KGA I/10, S.  86–88); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  99v); Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  90–92); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  66 f.); Kirchliche Statistik 1827, 53.–54. Stunde (KGA II/16, S.  383. 385 f.); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  34; KSP 3, S.  34); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  499 f.) 58  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  111 f.; SW I/12, S.  178–182); Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  623–637); An die Herren, S.  18 (KGA I/10, S.  410). Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  78–80. 59  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  54v)

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darin kann Schleiermacher ein Werk der göttlichen Weisheit sehen: Auf diese Weise blieb das protestantische Prinzip seinem Ursprung und Wesen nach sittlich gerechtfertigt und frei vom Separatismus; auf diese Weise konnte es andererseits seine Kräfte zur Gestaltung der Kirche frei entfalten, was in einer Gemeinschaft mit und unter dem römischen Papst nicht möglich gewesen wäre, Kräfte, die bei dem auch durch die katholische Selbstabsonderung ja nicht völlig abgebrochenen Austausch und Dialog dann letztlich auch wieder den Altgläubigen zugute kommen.60 – Schleiermacher betont gelegentlich die Bedeutung der Visitation Ende der 1520er Jahre dafür, die reformatorischen Impulse zu einem geordneten evangelischen Kirchenwesen innerhalb der politischen Territorien umzuschaffen.61 In der theologischen Sittenlehre stellt Schleiermacher Luther und Erasmus einander als zwei ausgezeichnete Männer gegenüber, die angesichts der drohenden Kirchenspaltung aufgrund ihrer Individualität zu verschiedenen Folgerungen in Bezug auf ihr eigenes Verhalten kamen, ohne daß man einem von ihnen Unsittlichkeit vorwerfen könne: Luther beabsichtigte keine Trennung, nahm sie aber um der Reinheit der christlichen Darstellung willen als unvermeidlich in Kauf; Erasmus wollte die Trennung verhindern, machte sich damit aber nicht zum Verteidiger des auch von ihm als unvollkommen erkannten alten Zustandes.62 Unter den die Reformation bestimmenden Umständen erwähnt Schleiermacher die politische Verfassung des Reichs, die den Fürsten gegenüber der kaiserlichen Obergewalt viel Freiraum ließ,63 und die Druckerpresse, ein damals revolutionäres Kommunikationsmittel, dessen sich die Reformatoren für den zu ihrem Zweck obligatorischen öffentlichen Austausch sofort im großen Stile bedienten (abermals ein Beweis dafür, daß sie in sittlicher Weise vorgingen).64 Auch den Nationalcharakter nennt er.65 Luther war ein Mensch von großer Kraft; er folgte dem Beispiel der Apostel, wenn er nicht dem Befehl seiner geistlichen Vorgesetzten gehorchte, zu widerrufen und zu schweigen.66 Schleiermacher erinnert aber auch an Luthers Heftigkeit: Luther habe nicht alles mit Besonnenheit geredet und geschrieben; manches sei dementsprechend zu beurteilen.67 In der Praktischen Theologie ist Luther das passende Beispiel dafür, daß bei einem Geistlichen, der in heftigen theologischen Kontroversen steht (wie sie die Reformation eben mit sich brachte), die Leidenschaftlichkeit auf seine sonstigen Amts60  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  91v); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  104; SW I/12, S.  138 f. 203 f.); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  206 f.); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  209–212); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  26–28; KSP 3, S.  29 f.) 61  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  41v); Kirchliche Statistik 1827, 53. und 57. Stunde (KGA II/16, S.  383. 398); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  499) 62  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  156; SW I/12, S.  577 f.) 63  Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  27; KSP 3, S.  29) 64  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  188) 65  Ueber die Religion, 3.  Aufl., Berlin 1821, S.  459 (Erläuterung 2 zur Nachrede) (KGA I/12, S.  320) 66  Predigt 60 (25.6.1820) über Apg 4,13–21 (SW II/4, S.  105) 67  An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  4 6 (KGA I/10, S.  56)

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geschäfte abfärbt, zu deren Schaden.68 An der Entzweiung von Sachsen und Schweizern trägt nach Schleiermacher Luther die Hauptschuld. Andererseits kann er aber auch würdigen, daß Luther sich bei der Abfassung seiner Thesen von seiner Heftigkeit gereinigt habe, auch einmal Milde gezeigt habe und in den großen Streit wider seinen Willen gezogen worden sei,69 wie denn Luther überhaupt, was seine Person betraf, von vorbildlicher Bescheidenheit war.70 Als Prediger war Luther kraftvoll und mitreißend, aber auch, der damaligen Situation geschuldet, polemisch; Schleiermacher betont bei aller Bewunderung, daß die Gegenwart andere Predigten brauche.71 Wie in der Vorlesung zur Kirchengeschichte meint Schleiermacher, daß sich in Luther das evangelische Prinzip im Laufe seines Lebens und der Auseinandersetzungen zu immer größerer Klarheit entwickelt habe.72 Daher sagt er in seiner Universitätsrede zum Reformationstag, ein passenderer Reformationstag als Jubiläum des Thesenanschlages wäre das von Luthers Verbrennung der Bannandrohungsbulle, da der Luther des Thesenanschlags ja noch loyal zum Papst und zu vielen katholischen Vorstellungen gestanden habe, die er später verworfen habe.73 Ähnlich äußerten sich damals auch andere.74 Karl V. wird in einer Predigt Schleiermachers zur tragischen Gestalt: Er war der „große deutsche Kaiser“, der Luther zum Widerruf nötigen wollte und alle seine Macht gegen die Reformation auf bot. Die evangelischen Fürsten blieben loyal zu ihm, hielten sich aber an die Maxime, daß sie Gott noch mehr gehorchen müßten. Der Kaiser konnte die Fürsten in einem Krieg, den diese nur widerwillig aufnahmen, schlagen, aber dann resignierte er, nahm die Krone vom müden Haupt und verbrachte das Ende seiner Tage in selbstgewählter nachdenklicher Einsamkeit.75

Luther, Zwingli, Calvin und ihre Freunde waren für Schleiermacher, unbeschadet ihrer Auseinandersetzungen untereinander, doch Leute eines Geistes. Im „linken Flügel“ der Reformation dagegen, den „Schwärmern“, sieht Schleiermacher einen anderen Geist: Ihr Fanatismus habe nun nicht darin bestanden, daß sie unbedingt ihrer Überzeugung gefolgt seien, das seien die Reformatoren auch, sondern darin, daß sie eben die falsche Überzeugung gehabt hätten. Anders als die Reformatoren seien sie nämlich nicht dem Schriftprinzip gefolgt, sondern hätten teils ihr angemaßtes inneres Licht über die Schrift gesetzt, teils 68 

Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  62) Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  11 f. 22 (KGA I/10, S.  28 f. 36 f.); Predigt 153 (4.7.1830) über Gal 2,16–18 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  60; KSP 3, S.  50) 70  Predigt 377 (4.1.1824) über Joh 3,22–30 (KGA III/8, S.  17 f.) 71  Ueber die neue Liturgie für die Hof- und Garnision-Gemeinde zu Potsdam und für die Garnisonkirche Berlin, Berlin 1816, S.  30 (KGA I/9, S.  104); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  36. 45v) 72  Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende, Leipzig 1827, S.  4 (KGA I/9, S.  386 f.) 73  Oratio in solemnibus, S.  15 f. (KGA I/10, S.  4 f.); vgl. Predigten in Bezug auf die Feier, S. V (KSP 2, S.  264). Hirsch: Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis, S.  11, und Ohst: Schleiermacher, S.  77, vermuten, daß Schleiermacher, wenn er seine Vorliebe für Luthers Verbrennung der Bulle öffentlich äußerte, sich zugleich – damals durchaus mutig – zum Wartburgfest der Studenten bekannte. 74 Vgl. Meding: Kirchenverbesserung, S.  24 f. 75  Predigt 60 (25.6.1820) über Apg 4,13–21 (SW II/4, S.  114 f.) 69  An

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hätten sie ihre falsche Schriftauslegung absolut gesetzt und seien nicht mehr zur Diskussion bereit gewesen, um sich eines besseren belehren zu lassen. Das sei aber geistlicher Hochmut und verhindere die wirkliche Kirchenverbesserung.76 9.2.2.3.  Das bleibende Vermächtnis der Reformation Bei der Erörterung von Streitfragen beruft sich Schleiermacher, wo er das kann, gern auf die Praxis der Reformationszeit. So betont er, daß es in der Reformationszeit die Liturgie eben nicht von der politischen Obrigkeit verordnet worden sei,77 daß Luther in liturgischen Fragen ein Feind von Gesetzlichkeit und Zwang gewesen sei78 und daß eine Konsistorialverfassung für die Kirche nicht im Sinne Luthers sei.79 Andererseits könne man an Luther lernen, wie wichtig die Praktische Theologie als theologische Disziplin sei.80 Luther ist auch Kronzeuge für die Priorität der Frömmigkeit gegenüber der Theologie.81

Gemeinsam ist den verschiedenen Äußerungen Schleiermachers aber, daß für ihn die evangelische Kirche nicht dann der Reformation treu bliebe, wenn sie beim Zustand des 16. Jahrhunderts verharrte, sondern daß das Wesen der Reformation eben in einem fortdauernden beständigen Suchen und Vollbringen des Besseren bestehe. „Die Reformation geht noch fort“,

heißt es programmatisch am Ende einer Streitschrift zum Agendenstreit.82 Was im 16. Jahrhundert schön und passend war, kann, im 19. Jahrhundert buchstäblich festgehalten, etwas Falsches, Erstarrtes, Erstorbenes sein.83 Treu bleibt sich die Kirche der Reformation nur, wenn sie sich weiterentwickelt. Das liebevolle gemeinsame Forschen in der Schrift, das Suchen, Finden und Verwirklichen des Besten ist ein nie endender Prozeß.84 76 Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.   205); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  209. 214) 77  Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten, Göttingen 1824, S.  18. 37– 41. 52 f. 57. 66 f. (KGA I/9, S.  222. 234–236. 247 f. 250. 255 f.) 78 Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.   21. 27 f. (KGA I/9, S.  4 05. 412 f.) 79  Oratio in solemnibus, S.  17–19 (KGA I/10, S.  6 –8); Ueber das liturgische Recht, S.  71 f. (KGA I/9, S.  258 f.) 80  Oratio in solemnibus, S.  19 f. (KGA I/10, S.  8 f.) 81  Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), S.  255–284. 481–532, hier 266 (1. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  319) 82  Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  85 (KGA I/9, S.  471) 83  Glückwünschungsschreiben, S.  24–26 (KGA I/9, S.  65); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  106v–107v); Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  98); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  4 f. (KGA I/9, S.  386 f.); An die Herren, S.  6 –8 (KGA I/10, S.  4 00 f.) 84  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  575 f.); Predigt 158 (10.10.1830) über Luk 6,37 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  161 f.; KSP 3, S.  117); Predigt 160 (7.11.1830) über Phil

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Die wesentliche bleibende Errungenschaft der Reformation, die allen weiteren Entwicklungen zugrunde liegt, sieht Schleiermacher aber, wie er in seinen Reformationspredigten immer wieder betont, in zweierlei: erstens im Schriftprinzip, zweitens in der Lehre von der Rechtfertigung ohne Werke; dabei meint das Schriftprinzip sowohl die Prüfung aller Lehre und Praxis an der Schrift als auch die Bibelübersetzung und –verbreitung, die die Laien mündig macht, sich an der Prüfung zu beteiligen.85 Schriftprinzip und Rechtfertigungslehre hängen aber zusammen und haben darin ihren Grund, daß der einzelne Christ mit Christus in ein unmittelbares Verhältnis gesetzt ist, das keiner weiteren Vermittlung bedarf, weder durch die Kirche als priesterlicher Institution noch durch die Tradition noch auch durch die Kirche als Autorität, die das Verständnis des ursprünglichen, kanonischen Christuszeugnisses vorgibt, noch auch durch die Kirche als Gesetzgeberin von Dogmen oder äußeren Handlungen.86 Es ist mithin eben das, was Schleiermacher in dem berühmten Leitsatz in der Glaubenslehre ausspricht: „Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rükkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war, sondern eine eigenthümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensaz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältniß zu Christo, der leztere aber umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältniß zur Kirche.“87 1,6–11 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  208–220; KSP 3, S.  147–154); An die Herren, S.  37 f. (KGA I/10, S.  424 f.). Vgl. Martin Rössler: Protestantische Individualität, in: Hg. Arnulf von Scheliha: Das protestantische Prinzip, Stuttgart 1998, S.  55–75, hier 64 f. – Vgl. auch oben Abschnitt 4.3.3. 85  Predigt 47 (1.11.1817) über Matth 18,5 f. (KGA III/5, S.  243 f. 247 f.); Oratio in solemnibus, S.  14. 20 f. (KGA I/10, S.  3. 9 f.); Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen der symbolischen Bücher, in: Reformationsalmanach 2 (1819), S.  335–380, hier 376 f. (KGA I/10, S.  141 f.); Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  626 f.); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  24–29. 32 f.; KSP 3, S.  27–31. 33); Predigt 153 (4.7.1830) über Gal 2,16–18 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  42–50; KSP 3, S.  39–44); Predigt 160 (7.11.1830) über Phil 1,6–11 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  201–203. 210 f.; KSP 3, S.  142 f. 148 f.); vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  81 f. 106 f. – Vgl. auch Albrecht Ritschl: Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1893, S.  234– 247. Danach hat es sich seit den 1820er Jahren (also kurz nach Schleiermachers Beiträgen zum Jubiläum von 1817, die Ritschl hier nicht mitberücksichtigt hat) schnell durchgesetzt, Schriftprinzip und Rechtfertigungslehre als das formale und das materiale Prinzip des Protestantismus zu unterscheiden und einander zuzuordnen. 86  Daher gehören in diesen Zusammenhang auch Schleiermachers Lob der reformatorischen Freiheitlichkeit und sein Insistieren darauf, daß die Kirche der Reformation weder ein Meßopfer noch Beichtzwang kenne, vgl. Predigt 151 (20.6.1830) über 1 Kor 7,23 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  11 f.; KSP 3, S.  19 f.); Predigt 155 (1.8.1830) über Hebr 10,12 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  9 0 f. 96–98; KSP 3, S.  70 f. 74 f.); Predigt 156 (15.8.1830) über Jak 5,16 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  111–119; KSP 3, S.  82–89). 87  Der christliche Glaube2 1, §  24 Leitsatz (KGA I/13,1, S.  163 f.)

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C.  Materialer Teil

Aus diesem Prinzip der Reformation folgen auch die Hauptmerkmale, die den Protestantismus in der Gegenwart vom Katholizismus unterscheiden: die protestantische Bestimmung des Gegensatzes zwischen Klerikern und Laien und die protestantische Form des Kultus in der Volkssprache und ohne ein vorgeschriebenes äußerliches Zeremonienwesen (vgl. unten Abschnitt 9.3.5.1.). Gelegentlich deutet Schleiermacher an, daß die Wirkung der Reformation auch über das Gebiet der protestantischen Kirchen hinausgeht auf die anderen Kirchen und zu einer allgemeinen bürgerlichen Kultur, Bildung und Sittlichkeit.88 9.2.2.4.  Die Notwendigkeit, über das 16.  Jahrhundert hinauszugehen Es gehört zu den Grundgegebenheiten der Geschichte, daß eine Idee sich erst in einem längeren Entwicklungsprozeß entfaltet und Wirklichkeit wird (vgl. oben Abschnitt 3.1.). Die Reformatoren waren im Zeitalter ihrer Herkunft verwurzelt und kamen selbst erst allmählich zu immer größerer Klarheit über das Prinzip der Reformation. Dasselbe gilt für die evangelische Kirche insgesamt. Daß die Reformation fortgehen muß, liegt also nicht nur daran, daß der Fortschritt ihr ureigenes Prinzip ist, sondern auch an diesem allgemeinen Gesetz der Geschichte. Dies macht Schleiermacher denn auch in den Augustana-Predigten geltend.89 Wenn er Punkte aufzählt, bei denen sich die evangelische Kirche gegenüber der Reformationsepoche weiterentwickeln müsse, um ihre Erscheinung ihrem Wesen weiter anzunähern, dann kritisiert er damit weniger die Protagonisten der Reformation als diejenigen, die noch in der Gegenwart den Zustand des 16. Jahrhunderts für bindend erklären. Ein Punkt, an dem die Gegenwart anhand des Prinzips der Reformation die Reformation über das das 16. Jahrhundert hinaus fortsetzen muß, ist die gesamtprotestantische Einheit, die sich in der Gegenwart auch tatsächlich langsam zu vollziehen scheine (vgl. unten Abschnitt 9.3.5.2.). Damals aber wuchs noch nicht zusammen, was zusammengehörte; das charakteristische Ereignis dafür ist das Marburger Religionsgespräch, wo die Einheit besonders an Luthers Widerwillen gegen die Schweizer scheiterte.90 88 

Oratio in solemnibus, S.  22–24 (KGA I/10, S.  10–12); Predigt 60 (25.6.1820) über Apg 4,13–21 (SW II/4, S.  105); Kirchliche Statistik 1827, 47. Stunde (KGA II/16, S.  359); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  494 f. (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  350 f.); Predigt 160 (7.11.1830) über Phil 1,6–11 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  205–208; KSP 3, S.  145–147) 89  Predigt 160 (7.11.1830) über Phil 1,6–11 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  192–198. 201–203; KSP 3, S.  136–140. 142 f.) 90  An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  2 2 f. 46. 52. 65–67. 74 f. 84–87 (KGA I/10, S.  36 f. 56. 61. 71 f. 79. 86–88); Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, Berlin 1817, S.  7 (KGA I/9, S.  114); Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  90–92); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  499 f.)

9.  Die vierte Periode

377

Die Kirchenverfassung muß ebenfalls noch dem reformatorischen Prinzip angepaßt werden. Weil sich in Deutschland damals die kirchlichen Oberen der Reformation nicht anschlossen, übernahmen in den Territorien die Fürsten und die von ihnen bestellten Konsistorien die Kirchenleitung. Diese Institution agierte zunächst umsichtig, später wurde sie willkürlicher und herrischer. Davon abgesehen fehlte der über die Territorialgrenzen hinausgehender Verband, den es bei der Organisation der Kirche nach Diözesen, Kirchenprovinzen und Patriarchaten gegeben hatte. Dem Wesen der evangelischen Kirche entspricht eine Ordnung und Bevormundung durch den Staat aber ebensowenig wie eine klerikale Herrschaft über die Gewissen.91 Noch für die Gegenwart konstatiert Schleiermacher, daß die protestantischen Kirchen stärker mit dem Staat verflochten sind als die katholischen, so daß sie von manchen sogar für staatliche Institutionen gehalten werden; dies hänge auch damit zusammen, daß der Protestantismus ein starkes Interesse an höherer Bildung und an Bildungsanstalten habe, wie sie nur der Staat organisieren könne.92 Trotzdem meint er, die evangelische Kirche bedürfe nunmehr der staatlichen Hilfe nicht mehr zu ihrer Organisation.93 Von den vorhandenen Kirchenverfassungen entspricht die auf die Teilhabe der Laien ausgerichtete presbyterial-synodale Verfassung mehr dem Wesen der evangelischen Kirche als die bischöfliche oder konsistoriale; 94 allerdings billigt Schleiermacher in der kirchlichen Statistik auch der konsistorial verfaßten sächsischen Kirche und den episkopal verfaßten Kirchen Skandinaviens zu, daß in ihnen ein guter Geist herrsche.95

Schließlich liegt es in der Konsequenz der Reformation auch, daß die Liturgie schlichter wird; dies setzt Schleiermacher dem König entgegen, der ja ältere 91  Vorschlag zu einer neuen Verfaßung der protestantischen Kirche für den preußischen Staat (1808) (KGA I/9, S.  3 ); Oratio in solemnibus, S.  17–19 (KGA I/10, S.  6 –8); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  154. 154v); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 35. 48. 58); Ueber das liturgische Recht, S.  78–81 (KGA I/9, S.  262–264); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  206 f.); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  74–76 (KGA I/9, S.  461–463); Kirchliche Statistik 1827, 57. Stunde (KGA II/16, S.  398) 92  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  159v–161); Ueber die Religion 3, S.  334–338 (Erläuterung 18 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  237–240); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 57–59. 67 f. 76 f.); Kirchliche Statistik 1827, 55.–56. Stunde (KGA II/16, S.  390–396). Hier weist Schleiermacher auch allgemein auf die gemeinsamen Interessen von Kirche und Staat hin, die den Staat veranlassen, eine Kirche zu fördern und in sie hineinzuregieren. 93  Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  75 f. (KGA I/9, S.  4 61– 463) 94  Oratio in solemnibus, S.  17–19 (KGA I/10, S.  6 –8); Ueber die Religion 3, S.  3 47 f. (Erläuterung 24 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  246 f.); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  100–106); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 44–54. 59. 73 f. 77); Ueber das liturgische Recht, S.  70–86 (KGA I/9, S.  258–266); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  65–68 (KGA I/9, S.  451–454); Kirchliche Statistik 1827, 63. und 66. Stunde (KGA II/16, S.  425. 435 f.); Protestantische Kirche 26 (KGA II/16, S.  137). – Vgl. auch Albrecht Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, Unio et confessio 20, Bielefeld 1997, S.  61–153; KGA I/9, S. X–XIX. XXV–LIV. 95  Kirchliche Statistik 1827, 58. und 60.–61. Stunde (KGA II/16, S.  4 00 f. 411 f. 416)

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C.  Materialer Teil

Formen wiederbeleben wollte und beanspruchte, damit den Gottesdienst wieder Luthers Ideal anzunähern. Daß Luther in seinen liturgischen Arbeiten noch viel Traditionelles beibehalten habe, liege nur an seiner Weitherzigkeit und Kompromißbereitschaft. Luther habe zunächst bloß das abschaffen wollen, was dem evangelischen Glauben genau widerspreche (wie Winkelmessen und Meßopferlehre), und es den Späteren überlassen, auf der Grundlage des so gewonnenen Standpunktes auch das Übrige zu überarbeiten und der neuen Erkenntnis anzupassen. Tatsächlich sei er sich hier mit Zwingli, der alles sofort habe ändern können, weitgehend einig gewesen. Die Liturgie für immer so zu konservieren, wie sie bei Luther geordnet sei (der in seinen Entwürfen ja selbst zu einer immer schlichteren und freieren Form fortgeschritten sei), wäre also gar nicht in Luthers Sinne, wäre vielmehr ein Rückfall in den Katholizismus.96 Daß Schleiermacher indessen nicht alles, worin die Gegenwart von der Reformationszeit abweicht, als Fortschritt im Geiste der Reformation ansieht, sieht man aus einer Bemerkung zur Kirchenzucht: „als sie auf hörte, war das nur die Folge eines sinkenden religiösen Lebens keinesweges eine Weiterbildung des Protestantismus.“97

9.2.2.5.  Wert und Grenze der Bekenntnisschriften Besonders im Zusammenhang der seinerzeit kontrovers diskutierten Bekenntnisfrage hat sich Schleiermacher um Klärung bemüht, wo die Äußerungen der Reformation auch für den Protestantismus der Gegenwart noch bindend sind und wo sie nach Weiterarbeit und Verbesserung verlangen. Die Bekenntnisse der Reformationszeit sind das erste Zeugnis, mit dem sich der evangelische Geist öffentlich äußert und in seiner Abgrenzung gegenüber der römisch-katholischen Gestalt des Christentums darstellt. Schleiermacher kann die Bekenntnisse gar in die Nähe der neutestamentlichen Schriften rücken, in denen sich das Christentum zum ersten Mal äußert und die daher kanonische, normative Bedeutung haben; allerdings ist der Protestantismus nicht in der Weise etwas Neues wie das Christentum selbst, er beansprucht nicht für sich, eine neue Offenbarung zu sein, bezieht sich vielmehr zurück auf die kanonischen Texte des Christentums, und die Bekenntnisse sind nicht so frei von fremdem 96  Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  6 –17. 31. 34 f. 69 (KGA I/9, S.  389–400. 416. 420 f. 455); vgl. Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  82v). – In der Praktischen Theologie argumentiert Schleiermacher in Bezug auf die in der lutherischen Kirche nicht so radikal wie in der reformierten abgeschafften Bilder zunächst ähnlich, fährt dann aber fort, daß die Haltung eines lutherischen Bilderfreundes, er könne die notwendige Unvollkommenheit eines Bildes bei der Darstellung des Göttlichen im Geiste korrigieren, auch wieder eine größere Geistigkeit und Freisinnigkeit habe als der bilderfeindliche Puritanismus (Praktische Theologie 1817/18, Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  29v–31). 97  Praktische Theologie 1817/18, Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  130

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Geist wie die kanonischen Schriften. Auch richten sich die Bekenntnisse als Norm in erster Linie nicht nach innen wie die frühchristliche Literatur, sondern nach außen. (Für die Katechismen gilt Letzteres freilich nicht, die Schleier­ macher daher auch nur bedingt der Gattung Bekenntnis zurechnet.) 98 Ver­ glichen mit dem Schriftwort sind die Bekenntnisse Menschenwort und dürfen das Gewissen nicht binden.99 – Dabei gibt es die Bekenntnisse von Anfang an in der Mehrzahl: Keines ist bei allen Protestanten anerkannt.100 Innerhalb der Bekenntnisschriften unterscheidet Schleiermacher solche der ersten und der zweiten Formation: Die der zweiten Formation sind keine Darstellungen und Apologien des Protestantismus nach außen, sondern haben inzwischen ausgebrochene innerprotestantische Auseinandersetzungen zum Thema; sie haben gegenüber der ersten Formation die mindere Dignität. Zur zweiten Formation rechnet Schleiermacher die lutherische Konkordienformel und die Beschlüsse der Dordrechter Synode.101 Einer Verpflichtung der Geistlichen auf den Buchstaben des Bekenntnisses rät Schleiermacher entschieden ab: Ganz abgesehen davon, daß die Bekenntnisse gar nicht für sich selbst beanspruchten, unrevidierbar zu sein,102 widerspräche eine immerwährende Festlegung auf den Wortlaut der Bekenntnisse dem Wesen des Protestantismus: Der Protestantismus sei ja diejenige Gestaltung der Kirche, die mit einer beständigen Weiterentwicklung und Verbesserung der Erscheinung der Kirche rechne, insbesondere mit Fortschritten in der Auslegung der Schrift – und aus gegenwärtiger Sicht falsche Auslegungen gebe es in den Bekenntnissen tatsächlich. Eine solche Festlegung wäre also unvereinbar mit dem Schriftprinzip (wäre vielmehr eine Rückkehr zum katholischen Traditionsprinzip),103 außerdem auch mit der Rechtfertigungslehre (weil sie etwas Äußerliches zum Vermittlenden zwischen Christus und dem Gläubigen

98 Ueber

den eigenthümlichen Werth, S.  368–374 (KGA I/10, S.  137–140); Kirchliche Statistik 1827, 53. Stunde (KGA II/16, S.  383 f.); An die Herren, S.  35 f. (KGA I/10, S.  423) 99  An die Herren, S.  37 (KGA I/10, S.  424) 100  Kirchliche Statistik 1827, 53. Stunde (KGA II/16, S.  383); Der christliche Glaube2 1, §  27,2 (KGA I/13,1, S.  177); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  500. 502) 101  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  70v); Ueber den eigen­ thümlichen Werth, S.   373–375 (KGA I/10, S.   139–141); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  104); Der christliche Glaube2 1, §  27,2 (KGA I/13,1, S.  177) 102 Glückwünschungsschreiben, S.   20 f. (KGA I/9, S.  63); Ueber den eigenthümlichen Werth, S.  360 f. (KGA I/10, S.  133); An die Herren, S.  6 f. (KGA I/10, S.  4 00 f.) 103  An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  9 f. (KGA I/10, S.  27); Ueber den eigen­ thüm­ l ichen Werth, S.   350. 360–362 (KGA I/10, S.   127 f. 133 f.); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  87v. 88); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  77 (KGA I/9, S.  463); An die Herren, S.  18 (KGA I/10, S.  410); Der christliche Glaube2 1, §  25, Zusatz; 2, §  131,2 (KGA I/13,1, S.  172; I/13,2, S.  334–336)

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C.  Materialer Teil

machte) 104 und überhaupt mit der protestantischen Freiheitlichkeit.105 Und sie wäre nutzlos: Es sei ja ein ganz berechtigtes Anliegen, die Kirche vor irreligiöser Freigeisterei zu schützen, nur tauge dazu eine Bekenntnisverpflichtung gar nicht, sie würde eher Streit säen, indem Unberufene sich zu Richtern über die Bekenntnistreue der Pfarrer aufspielten.106 Gelegentlich kommt Schleiermacher auch auf das Problem zurück, ob die legitime Existenz der evangelischen Kirche kraft des Religionsfriedens an die Geltung der Bekenntnisse gebunden sei (vgl. oben Abschnitt 9.2.1.3.); er verneint das natürlich.107 Trotzdem will sich Schleiermacher nicht den Rationalisten anschließen, die den Bekenntnissen für die Gegenwart nur die Bedeutung beliebiger dogmatischer Meinungsäußerungen ausgezeichneter Einzelpersonen zugestehen wollen.108 Als erste gemeinsame (nicht bloß private) Äußerung dessen, was als protestantisch zu gelten hat, sind die protestantisch-dogmatischen Disziplinen, in denen es ja nicht um Privatmeinungen, sondern um die Lehre der evangelischen Kirche geht, weiter an sie gewiesen (auch wenn sie eben nicht in einer buchstäblichen Reproduktion der Bekenntnisse bestehen, was abgesehen von den obengenannten Gründen auch deshalb unmöglich ist, weil die Bekenntnisse ja gar nicht den ganzen Glauben und die ganze Sitte behandeln und keine zusammenhängende Lehre darstellen, sondern immer nur einzelne, gerade umstrittene Punkte thematisieren).109 So zitiert die Glaubenslehre denn auch zu den verschiedenen Loci die einschlägigen Stellen der Bekenntnisse (und, abgesehen vielleicht von Calvins Institutiones, waren die Bekenntnisse das, was Schleiermacher an reformatorischer Theologie aus erster Hand kannte).

104  Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  96–98); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  32; KSP 3, S.  32 f.); Predigt 153 (4.7.1830) über Gal 2,16–18 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  55–58; KSP 3, S.  47–49) 105  Ueber den eigenthümlichen Werth, S.  357–362 (KGA I/10, S.  131–134); Predigt 151 (20.6.1830) über 1 Kor 7,23 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  2 –4; KSP 3, S.  13–15); Predigt 153 (4.7.1830) über Gal 2,16–18 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  59; KSP 3, S.  50); An die Herren, S.  29–33 (KGA I/10, S.  418–421) 106  Ueber den eigenthümlichen Werth, S.  3 46–360 (KGA I/10, S.  125–133); Ueber die Religion 3, S.  327 f. (Erläuterung 12 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  231 f.) 107  Ueber den eigenthümlichen Werth, S.  339–346 (KGA I/10, S.  121–125); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  106v. 107). Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  115 f. 108 Ueber den eigenthümlichen Werth, S.   367 f. (KGA I/10, S.  136 f.); An die Herren, S.  39 (KGA I/10, S.  425 f.) 109  Christliche Sitte 1809/10, §  36 (SW I/12, Beilage, S.  12); Ueber den eigenthümlichen Werth, S.  368 (KGA I/10, S.  137); Der christliche Glaube2 1, §  27,1 (KGA I/13,1, S.  175–177). Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  111–113. 211–218. – Martin Stiewe: Das Unionsverständnis Friedrich Schleiermachers, Unio et confessio 4, Witten 1969, S.  152 f., trifft Schleiermachers Intention dagegen nicht, wenn er schreibt, bei Schleiermacher trete die Bindung der Dogmatik ans Bekenntnis an die Stelle des altprotestantischen Schriftprinzips, und die Bekenntnisschriften gäben die verbindliche Auslegung der Schrift vor.

9.  Die vierte Periode

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Bindend für alles, was protestantisch sein will, ist das Bekenntnis auch weiter, nämlich in seinem negativen Teil, d. h. darin, worin es sich vom römisch-katholischen Christentum abgrenzt. Das sind nun abermals das Schriftprinzip und die Rechtfertigungslehre, die mithin negativ verstanden werden als Zurückweisung alles, was sich dem freien Forschen, dem freien Walten des Geistes Christi und dem unmittelbaren Verhältnis des Gläubigen mit Christus (vermeintlich vermittelnd, tatsächlich hemmend) in den Weg stellen will. Wer damit übereinstimme, der sei bei allen Abweichungen vom Buchstaben doch bekenntnistreu. Der Zweck der Bekenntnisschriften ist es nach Schleiermacher also gerade nicht, die Lehre festzulegen, vielmehr die Lehre für weiteres Forschen offenzuhalten und das Christentum von der Knechtschaft des Buchstaben frei zu machen.110 Aber auch für das Verhältnis der Kirche zum Staat kann Schleiermacher sich auf die Bekenntnisse berufen: Die Bekenntnisse sehen keine staatliche Kirchenregierung vor, und die Art und Weise, wie sie aufgestellt wurden, nämlich durch das freien Zusammentreten und Formulieren der Christen aus verschiedenen Territorien, widerlege bereits die gelegentlich geäußerte Behauptung, daß die protestantischen Landeskirchen Anstalten ihrer jeweiligen Staaten seien.111 Den Vorschlag von rationalistischer Seite, die Symbole für die Gegenwart zu revidieren oder neue, zeitgemäße Symbole aufzustellen, lehnt Schleiermacher ab: Ganz abgesehen davon, daß ein Bekenntnis, das man je und je nach Bedarf verändere, schwerlich von großer Autorität sein könne – wenn in der Zeit, in der sich der Protestantismus seinen Platz erkämpfen und behaupten mußte, das Aufstellen eines Bekenntnisses richtig gewesen sei, müsse das doch nicht auch für die Gegenwart gelten. Die Bedeutung für das 16. Jahrhundert beurteilt Schleiermacher dabei verschieden: 1818 schreibt er, die Übergabe des Bekenntnisses qualifiziere Lutheraner und Reformierte als Konfessionskirchen und konstituiere ihre Gemeinschaft gegenüber dem Katholizismus. 1831 heißt es, man habe sich bei der Übergabe der Konfession über die wohlgelungene Arbeit gefreut, ohne daß aber dadurch etwas Großes für die evangelische Kirche erreicht oder ein dringendes Bedürfnis gestillt worden wäre. In der Gegenwart 110 Ueber

den eigenthümlichen Werth, S.  375–381 (KGA I/10, S.  141–144); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  77 (KGA I/9, S.  463); An die Herren, S.  7 f. (KGA I/10, S.  4 01); Praktische Theologie 1833 (Nachschrift Anonym, SN 557, pag. 123). Dieses Prinzip scheint Schleiermacher in der pfälzischen Union zu sehen: Man bezeuge den Bekenntnissen Achtung, Glaubens- und Lehrnorm sei aber bloß die Schrift; „Achtung“ könne hier nur bedeuten, daß man beim Gegensatz gegen den Katholizismus auf die Bekenntnisse zurückgehe (Kirchliche Statistik 1827, 66. Stunde, KGA II/16, S.  435; Protestantische Kirche 10, KGA II/16, S.  131). – Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  118–120. 111  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  103v. 104); Ueber das liturgische Recht, S.  4 4–46 (KGA I/9, S.  238 f.); Kirchliche Statistik 1827, 56. Stunde (KGA II/16, S.  394); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  30; KSP 3, S.  31 f.)

382

C.  Materialer Teil

jedenfalls brauche der Protestantismus nichts mehr, was der Forschung und Lehre neben der Schrift die Richtung vorgäbe, und es gebe auch gar keine Instanz, die befugt sei, Symbole aufzustellen.112 Kein symbolischer Buchstabe steht also für immer fest und kann das Gewissen binden; die Lehre der Kirche ist nicht unveränderlich fest, sie ist einem steten Veränderungs- und Verbesserungsprozeß unterworfen.113 Daß über die Lehre kontrovers gestritten wird, gehört zum Leben der Kirche.114 Die Einheit der Kirche besteht gemäß reformatorischen Prinzipien nicht in einem einheitlichen, festgeschriebenen Lehrbergriff.115 Hier setzt denn auch Schleiermachers inhaltliche Hauptkritik ein: Die Reformatoren, besonders Luther und seine Anhänger, suchten die Kircheneinheit noch in der dogmatischen Einheit. Dabei übernahmen sie viele Lehren der alten Kirche zunächst ohne weiteres in ihren Lehrbegriff. Damit wollten sie die Legitimität ihrer Sache und ihre Kontinuität mit der bisherigen Kirche zeigen; hinzu kam, daß sie die Streitpunkte, deren es schon genug gab, nicht noch vermehren wollten.116 Dementsprechend rezipierten die Bekenntnisse ohne weiteres das Verfahren und das Ergebnis der altkirchlichen Dogmenbildung (vgl. oben Abschnitt 7.2.1.): die auf den Konzilen nach Mehrheit festgelegten Lehren, die ausgesprochenen Verdammungen und das Verdammen als solches, den Abbruch des wechselseitigen Austausches.117 Seine Einsicht, daß die Einheit der Kirche nicht in der Lehre bestehe, hatte Schleiermacher nicht nur den Reformatoren voraus; auch seine sonst miteinander uneinigen rationalistischen und neuorthodoxen Zeitgenossen sahen das an112  An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  19 (KGA I/10, S.  3 4); Ueber den eigen­ thümlichen Werth, S.  363–367 (KGA I/10, S.  134–136); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  68 (KGA I/9, S.  454); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  32; KSP 3, S.  32 f.); An die Herren, S.  7 f. 34–37 (KGA I/10, S.  4 01. 422–424); Predigten in Bezug auf die Feier, S. XV (KSP 2, S.  269) 113  Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  2 2–24; KSP 3, S.  26 f.); Der christliche Glaube2 1, §  25,1; 2, §  154,2 (KGA I/13,1, S.  170; I/13,2, S.  4 47 f.); Christliche Sitte 1831, 68. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  184); Praktische Theologie 1833 (Nachschrift Anonym, SN 557, pag. 114 f.) 114 Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.   88); An die Herren, S.  9. 36–39 (KGA I/10, S.  4 02. 423–425) 115  Der christliche Glaube2 1, §   25,1 (KGA I/13,1, S.  170); An die Herren, S.  33 (KGA I/10, S.  421); Praktische Theologie 1833 (Nachschrift Anonym, SN 557, pag. 116); vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  180–184. Vgl. auch oben Abschnitt 4.4. 116  Ueber den eigenthümlichen Werth, S.  352 (KGA I/10, S.  128 f.); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  29v); Der christliche Glaube2 1, §  25,2; 27,2; 37,2 (KGA I/13,1, S.  170–172. 178. 223) 117 Ueber den eigenthümlichen Werth, S.   345 f. (KGA I/10, S.  125); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  68 f. 77 (KGA I/9, S.  454 f. 463); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  23 f.; KSP 3, S.  27 f.); Predigt 158 (10.10.1830) über Luk 6,37 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  148 f. 153–155. 162–166; KSP 3, S.  108 f. 112 f. 117–120); Der christliche Glaube2 1, §  27,2; 2, §  154,2 (KGA I/13,1, S.  178; I/13,2, S.  4 48)

9.  Die vierte Periode

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ders. – Bei den noch im evangelischen Geiste zu revidierenden Lehren denkt Schleiermacher vor allem an das trinitarische und christologische Dogma. In den Augustana-Predigten behandelt er aber auch zwei Themen der reformatorischen Lehre: Die Rechtfertigungslehre sollte nicht wie im Augsburger Bekenntnis forensisch-imputatv gefaßt werden,118 und sie sollte nicht vom Zorn Gottes reden; daß Gott zornig sei, sei ein Relikt aus dem alten Bund und ein Irrtum des Menschen unter der Sünde, ein Irrtum, der durch die Rechtfertigungserfahrung überwunden werde.119

9.2.3.  Bedeutung der Reformation Prinzip der Reformation und des Protestantismus ist es, daß der einzelne Christ zu Christus dem Erlöser in einem unmittelbaren Verhältnis steht und daß er, vom Geist Christi durchdrungen, mit den anderen Christen zu einer Gemeinschaft des Glaubens und Lebens zusammentritt, zu ungehemmtem wechselseitigem Austausch des christlich-religiösen Gefühls. Die dieser Gemeinschaft entsprechende Gestalt muß ungezwungen, freiheitlich sein – allerdings nicht ungeordnet, da auch die protestantische Kirche einen Klerus und ein Kirchenregiment hat, und nicht beliebig, da es ja der dem Ganzen gegebene Geist Christi ist, der die Gemeinschaft leitet. Reformatorisches, protestantisches Christentum ist nicht unmittelbar an das apostolische Zeitalter anschließend möglich; es bedarf dazu einer langen Entwicklung, extensiven Verbreitung und intensiven Aneignung des Christentums, eines langen Prozesses, in dem die Masse der Christen ein gewisses Niveau der religiösen Mündigkeit, auch der kulturellen Bildung angenommen haben muß. Zum Protestantismus gehört aber auch die Einsicht, daß nicht nur die Verbreitung, sondern auch die Erkenntnis und Aneignung des Christentums immer weiter geht. „Liegt nicht im Wesen des Protestantismus der Glaube an eine, trotz aller Irrthümer, in die wir verfallen sind, und aller Rückschritte, die wir gemacht haben mögen, dennoch unauf haltsam unter uns fortschreitende Entwicklung des religiösen Geistes, so 118  Predigt 154 (18.7.1830) über Gal 2,19–21 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  70–73; KSP 3, S.  57–59) 119  Predigt 159 (24.10.1830) über 2 Kor 5,17 f. (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  170– 190; KSP 3, S.  123–135). Vgl. Hirsch: Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis, S.  39–46; Hans-Walter Schütte: Die Ausscheidung der Lehre vom Zorn Gottes in der Theologie Schleiermachers und Ritschls, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 10 (1968), S.  387–397; KSP 3, S.  372. – Entsprechend seinem Antinomismus (vgl. oben Abschnitt 9.2.1.3.) bezeichnet es Schleiermacher in der Praktischen Theologie als den Hauptfehler des (ansonsten wegen seiner Volksmäßigkeit und Offenheit für verschiedene theologische und pädagogische Anwendungen sehr brauchbaren) Lutherschen Katechismus, „daß der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium nicht genug heraustritt, daß die zehn Gebote mit den christlichen Anwendungen gleich hervortreten“ (Praktische Theologie 1817/18, Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  124v. 125).

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daß wir überzeugt sein müssen, wenn wir selbst unsere Irrthümer und Rückschritte im großen geschichtlichen Zusammenhange übersehen könnten, wir darin Mittel zur Fortschreitung, ja auf eine gewisse Weise, sogar Theile derselben entdecken würden?“120

Protestantisches Christentum geht immer wieder über sich selbst hinaus zum Besseren – vergleichbar dem Paradigma der modernen Geschichte nach Friedrich Schlegel, der unendlichen Fortschreitung (vgl. oben Abschnitt 2.2.3.). Dabei muß es – bei allem Bewußtsein eines gemeinsamen Geistes – auch die Gestalt hinter sich lassen, die die evangelische Kirche als erstes angenommen hatte. Dafür, daß das protestantische Christentum mit dem reformatorischen Durchbruch der Idee nicht unmittelbar auch schon in der Wirklichkeit ganz und vollkommen da ist, weder in den Initiatoren der Reformation noch in der frühen evangelischen Kirche, beruft Schleiermacher sich noch einmal auf das Wort von der Fleischwerdung (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.1.): Das göttliche Wort, der göttliche Geist geht ein in die Menschheit, beginnt und vollendet sich auf menschliche Weise, bedient sich menschlicher Organe; damit gilt auch in der Heilsgeschichte das Gesetz der Menschheitsgeschichte, daß das Neue als Idee erst allmählich die Wirklichkeit durchdringt.121 Das Wesen der Kirchengeschichte, der geschichtlichen Erscheinung der Kirche, ist es, daß der christliche Geist auf das Fleisch wirkt und es gestaltet. Dabei gibt es Entwicklungen und Epochen, die sich mehr der Idee des Christentums selbst verdanken, und solche, die sich mehr den individuellen Umständen verdanken, der Beschaffenheit und Ausprägung des Fleisches, auf das der Geist wirkt. Das erste überwiegt, wo die innere Entwicklung, die intensive Steigerung des Christentums vorherrscht, das zweite, wo die extensive Entwicklung, die äußere Verbreitung des Christentums dominiert. Daß das Christentum den Enthusiasmus des apostolischen Zeitalters hinter sich läßt, daß es sich mit seiner Umgebung auseinandersetzt und den Weg vom Rand in die Mitte der Gesellschaft sucht, liegt schon in seinem Wesen; wie sich diese Auseinandersetzung gestaltet, liegt an den individuellen geschichtlichen Gegebenheiten. In der karolingischen Epoche am Übergang von der zweiten zur dritten Periode sind vor allem die äußeren Umstände bestimmend: die Verbreitung des Christentums und seine Aneignung durch die jungen Völker, aber auch der historische Übergang von der antiken Welt zur europäischen Staatenwelt. Die Reformation nun gehört zu den Epochen, die sich mehr der Idee selbst verdanken: Es liegt im Wesen des Christentums, daß sich die Masse immer mehr zur Mündigkeit des Glaubens entwickelt, daß der Geist das Ganze immer mehr durchdringt, daß die äußerliche Autorität immer weniger vonnöten ist. Die Gestalt, unter der die Reformation wirklich wird, ist auch geprägt von den 120 

Glückwünschungsschreiben, S.  24 f. (KGA I/9, S.  65) Predigt 160 (7.11.1830) über Phil 1,6–11 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  192–194; KSP 3, S.  136 f.) 121 

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Mißständen, die sie auslösten, von der Individualität der Protagonisten, von den politischen Umständen, von den Nationalcharakteren.122 Daß das Christentum sich in seiner Geschichte aber irgendwann – sei es unter Kämpfen und Widerständen, wie es tatsächlich geschah, sei es ohne diese – zur protestantischen Gestalt, zu einer Gemeinschaft mit freiheitlich-protestantischen Grundsätzen hin entwickelt, liegt schon in seinem Wesen.

9.2.4. Ausblick 9.2.4.1. Entwicklungslinien Die letzte Doppelstunde der Vorlesung von 1821/22 kann Schleiermacher noch einem Ausblick auf die Entwicklungslinien zur Gegenwart widmen; diese charakterisiert er kurz durch das Gegeneinander einer progressiveren und einer konservativeren Richtung (Rationalismus und Supranaturalismus bzw. Neologie und Orthodoxie).123 Dabei geht es zunächst darum, wie die Reformation als reinigender, erneuernder Impuls auf die ganze Kirche äußerlich und innerlich beschränkt und eingedämmt wurde, und dann darum, wie sich ein neues, freieres Geistesleben regte. Die alte Kirche scheidet mit dem Konzil von Trient das reformatorische Element aus sich aus; sie erklärt die Vulgata für den authentischen Bibeltext und die Auslegung durch die Kirchenväter für die rechte; auch die philologische Belebung der Auslegungskunst durch eingewanderte Griechen (vgl. oben Abschnitt 8.3.2.2.) wird abgewiesen. Die Kirche wird auf den Stand vor den Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts zurückversetzt zu einer vom Papst und seinen Organen (den Nuntien, Kardinälen und Jesuiten) regierten Anstalt; die Durchsetzung der Tridentiner Beschlüsse bricht sich aber zum Teil an den Regierungen der Nationalstaaten. Mit der Ausgabe des Catechismus Romanus wird die katholische Glaubenslehre für abgeschlossen erklärt.124 Für die evangelische Kirche bedeutet das, daß sie ihre Kräfte nun nicht mehr auf den Streit mit den Repräsentanten des alten Systems verwenden muß, sondern sich ganz dem eigenen inneren Ausbau widmen kann. In den Augustana-Predigten sagt Schleiermacher, daß dieser von den Protestanten nicht beabsichtigte Ausschluß, eigentlich ein vorläufiges Scheitern der kirchenverbessernden Bemühungen, dem 122  Vgl. zu den letzteren Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  138 f.); Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  700). 123  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  653). Vgl. oben Abschnitt 4.3.3.: Es gibt in der Kirche allezeit das Gegeneinander eines neuernden, eines altgläubigen und eines ruhenden Moments. 124  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  653–655); Kollektaneum 958 (KGA II/6, S.  384). Das Kollektaneum enthält auch Notizen zum Streit um die augustinische Gnadenlehre und zur katholischen Gelehrsamkeit, die aber nicht verwertet wurden. – Zur Rezeption des Tridentinums vgl. Kirchliche Statistik 1827, 28. Stunde (KGA II/16, S.  290); Katholische Kirche 90 (KGA II/16, S.  88).

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Protestantismus letztlich zum Segen gereicht habe, da sich die evangelische Kirche nur ohne Papst zu einer Kirche der Freiheit habe entwickeln können.125 Doch die Zustände der evangelischen Kirche sind zunächst wenig erfreulich: Der Religionsfriede gibt den Protestanten zwar in protestantischen Territorien einigermaßen Rechtssicherheit, aber zu ihm gehören auch das reservatum ecclesiasticum, das den geistlichen Ständen den Übertritt zum Protestantismus verbietet, und die Rechtsunsicherheit protestantischer Untertanen in katholischen Territorien. Aus diesen Verhältnissen erwächst der Dreißigjährige Krieg. Der Westfälische Friede schließt die Reformierten mit ein, läßt damit aber auch das Interesse an der Annäherung der evangelischen Religionsparteien erlahmen. In der lutherischen Kirche entsteht ein Gegensatz zwischen einer strengen buchstäblichen und einer freieren Richtung, die zum Mystischen tendiert. Die buchstäbliche Richtung hat noch im Sinn, daß man sich durch genaues Beachten der Augsburger Konfession die Rechtssicherheit des Religionsfriedens bewahre. Sie identifiziert den reformatorischen Impuls und das Wesen der evangelischen Frömmigkeit mit dem im Bekenntnis festgestellten Buchstaben der Lehre. Aus dem Wunsch, die symbolischen Lehrpunkte systematisch auszubilden und zu verknüpfen, entstehen dogmatische Werke, die aber an ihrer polemischen Ausrichtung leiden und sich formal der Scholastik und ihren quaestiones nähern.126 Während die buchstäbliche Richtung ihren Hauptsitz in Wittenberg hat, hat die freiere den ihren in Helmstedt. Die Helmstedter Ireniker Georg und Friedrich Ulrich Calixt, von den Wittenberger des Kryptokatholizismus geziehen, konnten diesen entgegenhalten, daß die Wittenberger, wenn die den Glauben mit der Annahme symbolischer Lehrsätze identifizierten, selbst die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben beeinträchtigten. Während dieser Streit auf das akademische Gebiet beschränkt blieb, äußerte sich das durch die scholastische Orthodoxie unbefriedigte religiöse Bedürfnis in einer Mystik, die sich indessen leicht von der Gemeinschaft isolierte und mit Fremdem vermischte. Einerseits griff Johann Arndt (wie am Ausgang der vorigen Periode der Mystiker Johann Tauler und die von Luther geschätzte „deutsche Theologie“) direkt auf die Schrift zurück und stellte das innere religiöse Bewußtsein in biblischen Ausdrücken dar; dies wurde dann zur Grundlage des Pietismus. Andererseits zogen sich Valentin Weigel, Jakob Böhme und andere ganz auf das Gebiet der inneren Wahrnehmung zurück, kamen damit aber auch vom religiösen Gebiet ab zu einer Art esoterischer, mystisch-allegorischer Naturspekulation. In diesem Zusammenhang erwähnt Schleiermacher noch zwei 125  Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  27 f.; KSP 3, S.  30). Vgl. oben Abschnitt 9.2.2.2. 126  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  655–657); Kollektaneum 958 (KGA II/6, S.  386); vgl. Oratio in solemnibus, S.  21 f. (KGA I/10, S.  10). Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  137: Die Bekenntnisschriften wurden faktisch zu einem retardierenden Moment im Protestantismus.

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Richtungen des englischen Protestantismus, die Methodisten und die Quäker, von denen die ersten sich zwar an die anglikanische Kirche anschlossen, aber hinter das Bekenntnis auf Schrift und Gefühl zurückgingen zu einer strengen Morallehre, die anderen ebenfalls das Moralische in den Mittelpunkt stellten, dabei aber das geistliche Amt verwarfen und sich für den literarischen Austausch nicht interessierten.127 Auf reformierter Seite kam es zum Streit zwischen Remonstranten (Arminianern) und Gomaristen um die Prädestination und die Verlierbarkeit der göttlichen Gnade und über die Autorität der Symbole. Allerdings blieben viele reformierte Kirchen in der Streitfrage indifferent. Von der Dordrechter Synode ausgeschlossen, bauten die Remonstranten in den Niederlanden eine eigene Gemeinschaft mit eigenen Schulen auf. Ihre Haupttendenz war die freie philologische Forschung in der Schrift ohne Bindung an den Buchstaben eines Bekenntnisses.128 Hugo Grotius machte durch seine exegetischen Arbeiten das remonstrantische Prinzip unter den Protestanten populär. Gleichzeitig verbreitete sich, ausgehend vom Katholizismus, von Frankreich und England aus ein religionsspötterisches, libertinistisches Wesen, das sich mit der berechtigten Forderung nach Freiheit der Wissenschaft verband. Der Streit zwischen Irreligiosität einerseits, symbolischer Buchstäblichkeit andererseits drohte die evangelische Kirche aufzureiben. In der Gegenwart aber habe sich die remonstrantische Einsicht weitgehend durchgesetzt, daß die Fesselung in ein Bekenntnissystem nicht das geeignete Mittel sei, um die Kirche vor dem Verlust der Religion zu bewahren. „Die Ausbildung des Lehrgebäudes und die theologische Gelehrsamkeit auf dem Grund der philosophischen Bestrebungen und historischen Forschungen des 18 Jahrhunderts ist gesichert“.129

Nach drei Jahrhunderten Entwicklung unter dem protestantischen Prinzip ist der Symbolzwang also weitgehend überwunden und einer freieren Entwicklung die Bahn geöffnet. Aufgabe der Gegenwart schließlich bleibe es, nun auch die Kirchenverfassung und Organisation des kontinentalen Protestantismus zu erneuern und fester zu machen, damit er sich bei der freieren und pluraleren theologischen Diskussion sich nicht so leicht zerspalte wie der englisch-amerikanische Protestantismus. (Schleiermacher denkt offenbar an eine drohende Spaltung zwischen Rationalisten und Supranaturalisten.) Generell sei jede grö127  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  657 f.); Kollektaneum 958 (KGA II/6, S.  386). – Unter Pietismus versteht Schleiermacher – so wie seine Zeitgenossen (vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 2005, S.  22 f.) – die von Philipp Jacob Spener und August Hermann Francke ausgehende Bewegung in der lutherischen Kirche, aber nicht die Herrnhuter Brüdergemeine. 128  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  658 f.); Kollektaneum 958 (KGA II/6, S.  385); vgl. Hermeneutik und Kritik 1832/33 (KGA II/4, S.  853). 129  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  659 f.)

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ßere Kirche in der Gefahr, in symbolischer Buchstäblichkeit oder in Äußerlichkeit zu erstarren; deshalb sei es gut, daß es als Gegengewicht noch lebendige kleine Gemeinschaften wie die Herrnhuter gebe, die weder die Lehre noch die Disziplin in einen festen Buchstaben faßten, in denen der christliche Geist lebendig sei und die auf die großen Kirchen und das Ganze zurückwirkten.130 9.2.4.2.  Die Aufklärung – eine Epoche? Während Schleiermacher 1827 darüber räsonieren kann, ob die Gegenwart für die Entwicklung der christlichen Kirche eine Epoche darstelle (vgl. oben Abschnitt 4.6.2.), hat er den später so genannten Übergang vom Altprotestan­ tismus zum Neuprotestantismus131 offenbar nicht dafür gehalten, weder den Pietismus noch die Auf klärung. Der Pietismus ist bei ihm eine Oppositionsbewegung gegen den protestantisch-orthodoxen (besonders lutherischen) Scholastizismus, religiös nicht ohne Recht, aber mit der Tendenz, sich in einem Biblizismus einzuigeln und von der allgemeinen wissenschaftlich-geistigen Entwicklung abzukapseln (also als Phänomen entfernt vergleichbar mit dem Anachoretentum).132 – Mit dem Einzug der Auf klärung in der Kirche begann für Ludwig Timotheus Spittler und Carl Friedrich Stäudlin eine neue kirchengeschichtliche Periode.133 Stäudlin stellt zu Beginn seiner Kirchlichen Geographie und Statistik die Parteien des gegenwärtigen Christentums, ihre Symbole und ihre Verbreitung vor134 und schließt daran einen Paragraphen an, der unter dem Motto: „Sonst aber gehört es selbst zu den Zeichen der Zeit, daß viele Mitglieder dieser Secten in ihrem Glauben von diesen Symbolen sehr abweichen“,

die Wandlungen durch die Auf klärung behandelt, als da wären ein verbreiteter Widerwille gegen das Dogma, eine Abnahme des Aberglaubens und Zunahme 130  Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  6 60 f.); vgl. An die Herren, S.  10–29 (KGA I/10, S.  4 03–418). 131  Vgl. z. B. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München und Berlin 1911, S.  24–28 (Kritische Gesamtausgabe 8, S.  224–228); Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 2, Gütersloh 1951, S.  107–109; Hans-Joachim Birkner: Über den Begriff des Neuprotestantismus, in: Hg. ders. und Dietrich Rössler: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Wolfgang Trillhaas zum 65. Geburtstag, Berlin-West 1968, S.  1–15. 132  Vgl. oben Abschnitt 4.3.5. und 9.2.4.1. Vgl. auch Oratio in solemnibus, S.  2 2 (KGA I/10, S.  10). 133 Vgl. oben Abschnitt 4.6.1. Johann Matthias Schröckh: Christliche Kirchengeschichte seit der Reformation, Band 6, Leipzig 1807, S.  31 f., würdigt wie Spittler die Gründung der Universität Halle 1694 als zukunftsweisenden Triumph der Geistes- und Forschungsfreiheit, dabei aber doch (ähnlich wie Schleiermacher) mehr als Durchbruch der reformatorischen Prinzipien denn als Beginn eines neuen Zeitalters. 134  Carl Friedrich Stäudlin: Kirchliche Geographie und Statistik, Band 1, Tübingen 1804, S.  50–93

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der Toleranz, eine geringere Verehrung des geistlichen Standes und eine Vereinfachung der Zeremonien.135 Was man (bei aller Unschärfe des Begriffs) gemeinhin unter dem Begriff „Auf klärung“ subsumiert – also etwa den Wandel der philosophischen und naturwissenschaftlichen Weltanschauung und der Kultur unter dem Vorzeichen der autonomen Vernunft, die Relativierung der geschichtlich gegebenen Institutionen und Überlieferungen anhand für übergeschichtlich geltender Vernunftmaßstäbe, ein geradezu naives Zutrauen zu den Möglichkeiten menschlicher Weltgestaltung, das Projekt einer breiten Volksbildung, ein neues Staatsverständnis, den Toleranzgedanken, Fortschritte in der Geschichtswissenschaft durch historisch-philologische Kritik, Deismus und Kirchenfeindschaft bis hin zur Dekonstruktion der positiven Religion, andererseits aber auch den Nachweis von deren Plausibilität und Legitimität oder auch die Umformung des Christentums entsprechend den neuen Erkenntnissen und Denkarten –, das kann Schleiermacher auch darunter verstehen; 136 der Begriff „Auf klärung“ gehört indessen eher in seinen passiven als aktiven Wortschatz. Vor allem aber man hat den Eindruck, daß Schleiermacher all das nicht als Einheit auffaßt. Da ist zunächst ein aus Westeuropa herrührendes libertinäres, frivoles, diesseitig-hedonistisches, religionsverspottendes kirchenfeindliches Wesen (das Schleiermacher als falsches Extrem neben eine geistlose, hyperorthodoxe Buchstäblichkeit stellen kann).137 Die Gebildeten der Religionsverächter zeichnet er 135  Stäudlin: Kirchliche Geographie 1, S.   106–118. Ähnlich z. B. Gottlieb Jacob Planck: Abriß einer historischen und vergleichenden Darstellung der dogmatischen Systeme unserer verschiedenen christlichen Hauptparteien nach ihren Grundbegriffen, ihren daraus abgeleiteten Unterscheidungslehren und ihren praktischen Folgen, 3.  Aufl., Göttingen 1822, S.  145–169. 136  Vgl. Ueber den Styl (1790/91) (KGA I/1, S.  381): Die Auf klärung stellt einen nützlichen Inbegriff fast aller Künste und Wissenschaften zu allgemeiner Kenntnis zusammen. – Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter, Berlin 1799, S.  22 f. 27 f. (2. Brief ) (KGA I/2, S.  340. 342): Nur einem Juden würde die gelehrte Welt es noch verzeihen, sich in mystischer Opposition der theologisch-pädagogischen Auf klärung zu widersetzen, und nur einem Juden kann es entgangen sein, daß im Christentum nicht mehr buchstäblich auf das Dogma gehalten wird. – Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  10 (KGA I/4, S.  373): Die wohlmeinenden Menschenfreunde überschätzen die tatsächliche Verbreitung der Auf klärung in den unteren Klassen. – Über die Religion, 2.  Aufl., Berlin 1806, S.  51 f. 200 (2. und 3. Rede) (KGA I/12, S.  47 f. 164): Auf klärung als mißratene Verbesserung der Religion. – Praktische Theologie 1815/16, 12. Stunde (SW I/13, S.  742): Die Auf klärungszeit ruinierte den Kultus dadurch, daß sie das Individuell-Christliche durch Allgemein-Religiöses meinte ersetzen zu sollen. – Rezension zu Johann Joachim Spalding’s Lebensbeschreibung, hg. von G. L. Spalding, Halle 1804, in: Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 2 (1805), Band 1, Nr.  18 (21.1.), Sp.  137–144, hier 139 (KGA I/5, S.  32); Die Weihnachtsfeier, Halle 1806, S.  41 (KGA I/5, S.  58); Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, S.  4 4 (KGA I/9, S.  140): Auf klärung als Religions- und Christentumsfeindschaft bzw. als Schimpfwort, das sie unterstellt. 137  Über die Religion, Berlin 1799, S.  17 (1. Rede) (KGA I/2, S.  196); Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, S.  4 4 (KGA

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ähnlich, hält sie aber eher für indifferent als religionsfeindlich und traut ihnen noch eine gewisse religiöse Ansprechbarkeit zu.138 Die Neologie als eine theologische Richtung, die sich durch Tendenzkritik, gewagte Konjekturen und allzugroße Neuerungssucht auszeichnet (Schleiermacher verdankt ihr freilich selbst viel), gehört schon wieder der Vergangenheit an. Daß sie nicht, wie sie selbst meinte, eine Epoche war, erhellt daraus, daß positiv wenig von ihr geblieben ist.139 Die pragmatische Geschichtsauffassung ist unzureichend. Dann gibt es eine theologische und kirchliche Richtung, die dazu neigt, die Religion mit Metaphysik und Moral zu vermischen; sie meint, der Religion zu dienen, wenn sie deren Berechtigung anhand der moralischen Nützlichkeit verteidigt, treibt mit ihrer Schulmeisterei aber tatsächlich vielen die Frömmigkeit aus. Ohne Sinn für das Schöne des geschichtlich Gewordenen sucht sie, aus den positiven Religionen die allen schmackhafte Vernunftreligion zu destillieren.140 Der Versuch, das Christentum zu universalisieren, d. h. auf das allgemein Religiöse zu reduzieren unter Ausscheidung des Individuellen, positiv Christlichen, führte bloß zu einem Verlust allen religiösen Gehaltes.141 Dem Rationalismus als theo­ logischer Schule begegnet Schleiermacher aber durchaus mit Respekt.142 Und schließlich gibt es eben das remonstrantische Prinzip, die Kirche und ihre Lehre nicht im Buchstaben des Lehrbegriffs zu binden, sondern dem Forschen in der Schrift und dem Dialog mit der zeitgenössischen Philosophie und der Geistes- und Naturwissenschaft alle Freiheit zu lassen. Dieses Prinzip bedeutet in der Kirchengeschichte wirklich einen Markstein – aber es ist eben keine neue Epoche, es ist nichts anderes als das von seinen den Reformatoren noch anhaftenden mittelalterlichen Restbeständen gereinigte reformato-

I/9, S.  140); Predigt (2.11.1817) über Luk 10,21–24 (KGA III/5, S.  263); Oratio in solemnibus, S.  22 (KGA I/10, S.  10); Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  660); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 78); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  42 (KGA I/9, S.  427 f.); Kirchliche Statistik 1827, 38., 64. und 70. Stunde (KGA II/16, S.  324. 426. 457); An die Herren, S.  8 (KGA I/10, S.   402); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §   69 (hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  76 f.) 138  Über die Religion1, S.  2 f. 11. 20 (1. Rede) (KGA I/2, S.  189 f. 193. 197) 139 Briefe bei Gelegenheit, S.   25 (2. Brief ) (KGA I/2, S.  341); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  40); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  66v. 67. 83v. 91v) 140  Über die Religion1, S.  25. 31–36. 116 f. 144–156. 162 f. 242–248. 272–279 (1.–3. und 5. Rede) (KGA I/2, S.  199. 202–204. 240. 252–257. 260. 296–299. 308–311); Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  102–107 (KGA I/4, S.  419–421); An die Herren, S.  29 (KGA I/10, S.  418) 141  Praktische Theologie 1815/16, 12. Stunde (SW I/13, S.   742); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 167) 142  Vgl. z. B. Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  271–274 (1. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  323–327); An die Herren, S.  3 –13 (KGA I/10, S.  397–406).

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risch-protestantische Prinzip. Und insofern steht Schleiermacher, der hier ebenfalls remonstrantisch denkt, selbst noch in direkter Kontinuität zur Reforma­ tion und ihren Prinzipien, ohne daß man eine weitere Epoche dazwischenstellen müßte.

9.3.  Kirchliche Statistik 9.3.1.  Entwicklungsstufen und individuelle Gestaltungen des Christentums Die Kirchengeschichte als theologische Disziplin hat ihre Fortsetzung in der kirchlichen Statistik. Diese stellt das Christentum der Gegenwart dar, weniger als Entwicklung denn als Querschnitt an einem zeitlichen Punkt, jedoch so wie die Kirchengeschichte als Erweis des Geistes und der Kraft des christlichen Prinzips und der von ihm gestifteten Gemeinschaften.143 Dabei ist aber die Statistik stärker als die Kirchengeschichte von ihrem praktischen Endzweck bestimmt, der Kirchenleitung.144 Über weite Strecken ist sie eine Erörterung der verschiedenen Kirchenverfassungen, ihrer Vorteile und Nachteile, und so überschneidet sie sich thematisch mehr als die Kirchengeschichte mit der Praktischen Theologie. Schleiermacher kann die Statistik eine „gemeinschaftliche Ergänzung zur Kirchengeschichte und zur praktischen Theologie“ nennen.145 Bei der einleitenden Erörterung der Frage, wie denn der Stoff disponiert werden solle, verweist Schleiermacher darauf, daß sich die Kirchen der Gegenwart zu größeren Verbänden gruppierten, und daß diese Gruppen zugleich verschiedene Entwicklungsstufen des Christentums darstellten. Das Christentum der Gegenwart ist damit zugleich Spiegel und Abbild seiner Entwicklungsgeschichte und seiner Dynamik. (Die Geographie des Christentums ähnelt also einer geologischen Karte, der zu entnehmen ist, welchen Zeitaltern der Erdgeschichte die verschiedenen Formationen der Erdoberfläche entstammen.) Und so will Schleiermacher anfangen mit den Formen des Christentums, die in der Gegenwart den ältesten Entwicklungsstand repräsentierten, den altorientalischen Kirchen, um von dort zu den orthodoxen Kirchen fortzuschreiten, dann zu den katholischen und protestantischen Kirchen des Abendlandes. In diesen Formen bildet sich zugleich der Gang des Christentums von den Völkern und Ländern des Orients zu denen des Westens und Nordens ab. Dazu bemerkt Schleiermacher noch, daß die älteren Formen des 143  Kirchliche Statistik 1827, 1.–2. Stunde (KGA II/16, S.  188–190); Kirchliche Statistik 1833/34, 1. Stunde (KGA II/16, S.  464) 144  Kirchliche Statistik 1827, 1. Stunde (KGA II/16, S.  184–187) 145  Brief (18.8.1826) an August Twesten (Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, S.  388)

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Christentums in einem Zustand der Abnahme und des Verfalls begriffen seien, während das abendländische Christentum in der Blüte seiner Kraft stehe. Zur Peripherie der Abnahme im Orient und zum Zentrum in Europa kommt die jüngste Gestalt des Christentums hinzu, die englisch-amerikanischen Freikirchen und die Missionskirchen; letztere sie sind noch nicht voll entwickelt und liegen wie die orientalischen Kirchen an der Peripherie, allerdings an der Peripherie der Zunahme.146 Es wurde öfter bemerkt, daß in Schleiermachers Geschichtsanschauung das Prinzip der Entwicklung zu einem gemeinsamen, identischen Ziel und das Prinzip der unableitbaren Individualität und der individuellen Teleologie nebeneinander bestehen; 147 darin ähnelt Schleiermacher Johann Gottfried Herder. Diese Eigenart zeigt sich nun auch, wenn Schleiermacher die Vielgestaltigkeit des Christentums deutet: Die verschiedenen Gestalten der Kirche sind einerseits individuelle Modifikationen des christlichen Prinzips, andererseits Stufen der Höherentwicklung des Christentums. Martin Ohst hat darauf aufmerksam gemacht, daß Schleiermacher besonders in den Predigten betont, daß es legitimerweise verschiedene Individuationen des Christentums nebeneinander gibt (und es offen läßt, ob er mehr an die Konfessionsfamilien denkt oder an die Typen protestantischer Frömmigkeit).148 Ein drittes Moment kommt nun noch dadurch hinzu, daß es im Zuge des reinigenden Handelns in der Kirche zu Kirchenspaltung und Polemik kommen kann, bei der eine Seite der anderen gegenüber geltend macht, was für alle Gestaltungen des Christentums verbindlich sein sollte149. Insofern stellen sich abweichende Gestalten des Christentums (Schleier­ macher setzt sich natürlich besonders mit dem römischen Katholizismus ausein­ ander) sowohl als eigene legitime, mit dem Nationalcharakter und anderen Faktoren zusammenhängende Individuationen des Christentums dar als auch als Verunreinigung des Christlichen mit Unchristlichem als auch als Entwick146  Kirchliche Statistik 1827, 2.–4. Stunde (KGA II/16, S.  192–201); Kirchliche Statistik 1833/34, 4. Stunde (KGA II/16, S.  472 f.) 147  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, Buch 1 (Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922, S.  125 (Kritische Gesamtausgabe 16,1, S.  312); Friedrich Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn, 5.  Aufl., Stuttgart 1951, S.  102–106 (Werke 4, S.  344– 346); Wilhelm Pauck: Schleiermacher’s Conception of History and Church History, in: Journal for Theology and the Church 7 (1970), S.  41–67, hier 42 f. 49–51; Giovanni Moretto: Etica e storia in Schleiermacher, Istituto italiano per gli studi filosofici. Seria Studi 2, Neapel 1979, S.  4 04 f. 546–551. 148  Ohst: Schleiermacher, S.  36. Vgl. Predigt 34 (19.1.1812) über Joh 4,4–26 (Predigten. Dritte Sammlung, Berlin 1814, S.  36–40; KGA III/1, S.  450–452); Predigt 117 (10.6.1821) über Apg 2,41 f. (Predigten. Fünfte Sammlung, Berlin 1826, S.  384–387; SW II/2, S.  228– 230); Predigt 450 (26.8.1821) über Matth 10,17–20 (SW II/10, S.   250 f.); Predigt 307 (3.7.1831) über Kol 4,5 f. (KGA III/12, S.  585 f.); Predigt 263 (26.8.1832) über Mark 6,1–6 (KGA III/13, S.  4 06); Predigt 230 (8.12.1833) über Röm 15,8 f. (SW II/3, S.  718 f.). 149  Vgl. dazu auch oben Abschnitt 4.3.3., 4.3.5., 4.4. und 4.5.

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lungsstufen des Christentums, die der Protestantismus schon hinter sich gelassen hat. Diese drei verschiedenen Momente hält Schleiermacher nun aber nicht recht auseinander; sie fließen ineinander: Das Übergewicht des Rituals gegenüber dem Wort kann Schleiermacher die legitime, von protestantischer Polemik gar nicht attackierte Eigenart der älteren Kirchen nennen, er kann umgekehrt aber auch gerade darauf die Defizite und Abirrungen der älteren Kirchen zurückführen: „Es gehört zu dem eigenthümlichen des Christenthums; daß die Religiosität in demselben ganz geistig ist und ausgedrückt werden muß weit mehr in Worten als in symbolischen Handlungen; wie wir überhaupt sehn daß alle eigenthümliche Kraft im christlichen überall in das Wort gelegt ist. Die Abweichung hievon in der Katholischen Konfession ist uns als ein fremdes beseitigt und erkennen wir es als eine verringerte Christlichkeit.“150

Für die Kirchenverfassungen des Abendlandes, das dominierende Thema in Schleiermachers kirchlicher Statistik, haben die rund drei Jahrzehnte der Französischen Revolution, der napoleonischen Hegemonie und der Restauration, ein Zeitraum der Umbrüche, den Schleiermacher bewußt miterlebt und in seinem Bereich auch mitgestaltet hat, nun doch die Bedeutung einer Epoche. Schleiermacher nennt sie zwar nicht ausdrücklich so, bezieht sich aber immer wieder auf sie zurück als auf den Ursprung der gegenwärtigen Zustände.151 Für die kirchliche Statistik hat Schleiermacher mehr Quellen benutzt als für die Kirchengeschichte:152 Reiseberichte aus dem Orient, Kirchenzeitungen wie die Darmstädter Allgemeine Kirchen-Zeitung und die Frankfurter Theologischen Nachrichten, Rechtsquellen wie das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, die Akten des Wiener Kongresses und Regierungsblätter der deutschen Bundesstaaten und Fachliteratur wie das Kirchenhistorische Archiv und John Howard Hintons Geschichte und 150  Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 168); vgl. Kirchliche Statistik 1827, 8. und 47. Stunde (KGA II/16, S.  214. 360); Kirchliche Statistik 1833/34, 6.–8. Stunde (KGA II/16, S.  482. 486 f.). – Ulrich Barth: Sichtbare und unsichtbare Kirche, in: Hg. Klaus Tanner: Christentumstheorie. Trutz Rendtorff zum 24.01.2006, Theologie – Kultur – Hermeneutik 9, Leipzig 2008, S.  179–230, hier 223 f., hat also unrecht, wenn er schreibt, Schleiermacher habe den katholisch-protestantischen Gegensatz allein als Neben­einander verschiedener Individualisierungen des Christentums erklärt, auf den der Gegensatz von wahr und falsch gar nicht anzuwenden sei. In seiner Zeit gehörte Schleiermacher gegenüber dem Katholizismus eher zu den Polemikern als zu den Irenikern, und er hätte auch gar nicht ganz auf den Gegensatz von wahr und falsch verzichten können, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten, da er dann ja eine Theorie als nicht unwahr hätte anerkennen müssen, die sich selbst für allein wahr und seine, Schleiermachers, Theorie für falsch erklärt. 151  Kirchliche Statistik 1827, 16.–17., 21., 25.–26., 28., 31., 35., 37.–38., 40., 44., 52. und 62. Stunde (KGA II/16, S.  246. 248. 250. 263. 277. 279–281. 289–291. 301. 313 f. 321. 326. 333 f. 349. 378 f. 417); Katholische Kirche 9 f.; 51; 66–68; 89; 93; 106; 117–119 (KGA II/16, S.  64. 74. 79 f. 88 f. 92–95); Protestantische Kirche 17 f.; 50; 61 (KGA II/16, S.  133 f. 144. 150) 152  Vgl. im einzelnen Simon Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), S.  183–214, hier 184; KGA II/16, S. XIX f. XXIII f. XXX. 526–534.

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Topographie der Vereinigten Staaten. Die Hauptquelle ist aber Stäudlins Kirchliche Geographie und Statistik von 1804, ein in seiner Weise bahnbrechendes Werk,153 das indessen spätestens seit der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß überholt war. Wie in der Kirchengeschichte hat Schleiermacher auf wissenschaftliche Aktualität keinen großen Wert gelegt.

9.3.2.  Orientalische Kirchen Die orientalischen Kirchen reichen von allen Kirchen in ihrem gegenwärtigen Zustand am tiefsten in die Vergangenheit zurück, nämlich in die Zeit der christologischen Kämpfe des fünften Jahrhunderts. Von diesem Punkt hätten sie sich nicht mehr weiterentwickelt, weder dogmatisch noch in ihrem kirchlichen Leben; sie repetierten einfach die damaligen Formeln, verstünden aber schon nicht mehr, worum es eigentlich gegangen sei.154 Bei den Abessiniern deutet Schleiermacher angesichts von deren judaisierenden Gebräuchen gar die Vermutung an, daß sie die paulinische Überwindung des Judenchristentums noch nicht mitvollzogen haben.155 Für Schleiermacher besteht das Leben der Kirche im Austausch der religiösen Gedanken und Gefühle und in der gemeinsamen Ausrichtung an den kanonischen Texten des Christentums. Und gerade daran fehle es in den orientalischen Kirchen weitgehend: Sie hätten sich vom Rest der christlichen Ökumene isoliert und stünden in keinerlei geistigem Austausch mit dem, was sich außer ihnen entwickle,156 und ihr Gottesdienst bestehe in festen Ritualen und werde in dem Kirchenvolk unverständlichen Sprachen wie Altsyrisch zelebriert, so daß auch von daher wenig zu erwarten sei.157 Bei den Maroniten sei die Sitte noch so wenig vom Christentum durchdrungen, daß die Blutrache unter ihnen üblich sei.158 Eine Ausnahme machten allein die Armenier, die in nicht nur merkantilem Austausch mit dem Abendland stünden und bei denen es Ansätze zu Geistesleben und Bibelstudium gebe.159 – Der Unterschied zwischen Klerikern und Laien wird in diesen Kirchen sehr betont, so daß es bei den Armeniern sogar eigene Feste für die Geistlichen gibt. Der Klerus differenziert sich in 153 Vgl

Gerber: Schleiermacher, S.  197–201. Statistik 1827, 5.–6. und 8. Stunde (KGA II/16, S.  204–206. 208 f. 214); Kirchliche Statistik 1833/34, 5. Stunde (KGA II/16, S.  476 f.) 155 Kirchliche Statistik 1827, 8. Stunde (KGA II/16, S.   216 f.); Kirchliche Statistik 1833/34, 8. Stunde (KGA II/16, S.  485 f.); Semitischer Zweig 6; 13; 17 (KGA II/16, S.  20. 24. 26) 156  Kirchliche Statistik 1827, 5. und 8. Stunde (KGA II/16, S.   204 f. 217 f.); Kirchliche Statistik 1833/34, 5.–7. und 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  476 f. 480. 488) 157 Kirchliche Statistik 1827, 5.–9. Stunde (KGA II/16, S.   205 f. 208. 210 f. 214. 220); Kirchliche Statistik 1833/23, 5.–8. Stunde (KGA II/16, S.  476. 480. 482–484. 486 f.); Semitischer Zweig 5; 7; 14; 17; 20 (KGA II/16, S.  20 f. 25 f. 29) 158 Kirchliche Statistik 1833/34, 8. Stunde (KGA II/16, S.   485); Semitischer Zweig 5 (KGA II/16, S.  19) 159  Kirchliche Statistik 1827, 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  219 f. 222) 154  Kirchliche

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viele verschiedene Ränge und Funktionen aus;160 die Mönche sind zum Teil verheiratet.161 Zu dem recht kläglichen Zustand trägt die Unterdrückung durch die Moslems das Ihre bei,162 aber daß die nicht die eigentliche Ursache ist, erhellt schon daraus, daß die abessinische Kirche politisch nicht gedrückt, sondern im Gegenteil in ihrem Land die herrschende Religion ist.163 Daß es unter den Orientalen etliche gibt, die mit Rom uniert sind, macht für den inneren Zustand gar keinen Unterschied.164 In der Vorlesung von 1827 äußert sich Schleiermacher immerhin anerkennend über die Primitivität im guten Sinne, besonders bei den Nestorianern: Papale Herrschsucht, Ikonenkult, Marienkult und manche römisch-katholischen Sonderlehren seien bei ihnen noch unbekannt.165 Pessimistischer urteilt das Kolleg von 1833/34: Zwar könne man kaum glauben, daß aus einem Teil der christlichen Kirche der Geist ganz verschwinde, aber in diesen Kirchen sei es nun offenbar doch so, hier sei nichts als tötender Buchstabe. Vielleicht liege das aber auch am Volkscharakter: Schon zur Zeit der Apostel sei der griechische Teil der Bevölkerung bereiter und aufnahmefähiger für das Christentum gewesen als der orientalisch-semitische, der zudem noch unzivilisiert war (so wie die germanischen Völker bei ihrer Christianisierung); die Religion, unter der diese Völker sich dann zur höheren Kultur entwickelten, war nicht das Christentum, sondern der Islam.166

9.3.3.  Orthodoxe Kirchen Die orthodoxen, oder, wie Schleiermacher sie nach dem Brauch seiner Zeit nennt, griechischen Kirchen teilt Schleiermacher grob ein in die Reste der Orthodoxie in den dann mehrheitlich monophysitischen und islamischen Gebieten im Orient und in Anatolien, in die Griechen unter dem Patriarchen von Konstantinopel und in die von diesen aus christianisierten Russen und Balkanvölker. In der Vorlesung von 1833/34 kommt die von Konstantinopel inzwischen unabhängige Kirche im neuen griechischen Staat hinzu. Die Vorlesung von 160 Kirchliche Statistik 1827, 6.–10. Stunde (KGA II/16, S.   206 f. 209. 211 f. 216. 219. 222); Kirchliche Statistik 1833/34, 6.–8. Stunde (KGA II/16, S.  480. 482. 485); Semitischer Zweig 1–3; 5; 7; 12; 15; 20 (KGA II/16, S.  17–21. 24 f. 27–29) 161  Kirchliche Statistik 1827, 6. und 8. Stunde (KGA II/16, S.  2 07. 215. 217); Kirchliche Statistik 1833/34, 6.–7. Stunde (KGA II/16, S.  483); Semitischer Zweig 7 (KGA II/16, S.  22) 162  Kirchliche Statistik 1827, 7. und 10. Stunde (KGA II/16, S.  211. 213 f. 223); Kirchliche Statistik 1833/34, 6.–7. Stunde (KGA II/16, S.  483) 163  Kirchliche Statistik 1827, 8. Stunde (KGA II/16, S.  217 f.) 164  Kirchliche Statistik 1827, 5.–7. und 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  2 05–207. 209 f. 219. 223 f.); Kirchliche Statistik 1833/34, 6.–7. Stunde (KGA II/16, S.  480. 484 f.); Semitischer Zweig 1; 5; 14; 18 (KGA II/6, S.  17. 19. 25–27); Griechischer Zweig 7 (KGA II/16, S.  31) 165  Kirchliche Statistik 1827, 5.–6. und 8.–10. Stunde (KGA II/16, S.  2 05–208. 214. 220 f. 223); Semitischer Zweig 15 (KGA II/16, S.  25) 166  Kirchliche Statistik 1833/34, 5. und 8.–10. Stunde (KGA II/16, S.  476 f. 486–489)

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1827 rechnet die Griechen als dritten Zweig der orientalischen Kirche nach Nestorianern und Monophysiten, während das zweite Kolleg sie als eigene Form zwischen der orientalischen und abendländischen Kirche zählt.167 In den Kirchengeschichtsvorlesungen ist es eins von Schleiermachers Lieblingsthemen, nachzuzeichnen, wie sich fast von Anfang an ein östlich-griechischer und ein westlich-lateinischer Typ des Christentums auseinander ent­ wickelten. In der Statistik heißt es in diesem Sinne, die Trennung der griechischen Kirche von der abendländischen sei schwer zu datieren. Was die Griechen zu einer Einheit macht – sie bilden ja keine zusammenhängende Organisation und haben auch keine gemeinsame heilige Sprache –, ist dann zunächst etwas Negatives: Einerseits gehören nicht zu den nichtchalcedonisch-orientalischen Christen, andererseits stehen sie nicht unter dem römischen Papst; ihre Patriarchen hatten auch nie den Ehrgeiz des Papstes, denn sie litten von Anfang an andere Patriarchen neben sich und stimmten der Errichtung neuer Patriarchate in neuen Kirchen zu, und als Peter der Große den Moskauer Patriarchat abschaffte, führte das in der russischen Kirche zu keinen ernsthaften Erschütterungen.168 Dann läßt Schleiermacher unter ihnen aber auch eine gewisse dogmatische Einheit gelten: Ihr gemeinsames Symbol sei das Nicäno-Constantinopolitanum (wohingegen das Apostolicum keine Rolle spiele), und ein symbolisches Lehrbuch des 17. Jahrhunderts in Gestalt eines Katechismus (nämlich die Orthodoxa confessio fidei des Petrus Mogilas) finde bei den meisten Anerkennung. Hier erwähnt Schleiermacher auch, daß die Griechen etliche von den Protestanten abgelehnte römisch-katholische Lehren ebenfalls nicht teilten.169 (In der Einleitung der Vorlesung hatte das Verhältnis von griechischer und römischer Kirche noch als Beweis dafür gedient, daß die Einheit der Kirche nicht in der Lehre bestehe: Beide Kirchen unterschieden sich dogmatisch kaum, seien aber absolut voneinander getrennt.170 ) Rückblickend weiß Schleiermacher von Verhandlungen zwischen den Griechen und den protestantischen Reformatoren angesichts des gemeinsamen Gegensatzes gegen das Papsttum zu berichten, von dem Patriarchen Cyrill Lucaris, der sich im 17. Jahrhundert theologisch dem Calvinismus näherte, dann aber auf Betreiben der Jesuiten vom Sultan gestürzt wurde, und von der darauffolgenden Annäherung an die römisch-katholische Dogmatik, die ihren Zenit aber auch wieder überschritten habe. Insgesamt solle man sich aber nicht täuschen: Trotz der Priesterehe und 167  Kirchliche Statistik 1827, 10. Stunde (KGA II/16, S.  15. 224. 226); Kirchliche Statistik 1833/34, 3.–4. und 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  470–473. 489–492); Zur griechischen Kirche 67 (KGA II/16, S.  49 f.) 168  Kirchliche Statistik 1827, 10., 13. und 16. Stunde (KGA II/16, S.  2 24–226. 235. 245 f.); Griechischer Zweig 8; 43 (KGA II/16, S.  31. 40) 169  Exzerpte zur griechischen Kirche 26 (KGA II/16, S.  8 ); Kirchliche Statistik 1827, 11. Stunde (KGA II/16, S.  227–229); Griechischer Zweig 15; 37–39 (KGA II/16, S.  33 f. 39) 170  Kirchliche Statistik 1827, 3. Stunde (KGA II/16, S.  195)

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dem Altarsakrament unter beiderlei Gestalt stünden die Griechen dem Katholizismus viel näher als dem Protestantismus.171 Politisch sind die Griechen unter den Türken vielfach gedrückt (der Patriarch von Konstantinopel hat als hoher geistlicher Würdenträger auch eine politische Funktion, ist dafür aber umso mehr Spielball der Machtinteressen);172 im höchsten Grade herrschend ist die orthodoxe Kirche im Russischen Reich: Als die Herrnhuter in jahrzehntelanger, liebevoller und zäher Arbeit an der Wolga ohne alle Gewalt einige heidnische Kalmüken zur Annahme des Christentums bewogen hatten, zwang das russische Collegium de propaganda fide diese in die russisch-orthodoxe Kirche und wies alle protestantischen Missionen aus. Allerdings steht die Kirche selbst unter der Willkür des Zaren.173 – In katholischen Staaten wie Österreich und Venedig, aber auch in einigen russischen Provinzen, sind viele orthodoxe Gemeinden mit dem römischen Papst uniert und erkennen ihn als Oberhaupt (und die Lehre vom Fegfeuer und das filioque) an. Sie sind dafür zum Teil rechtlich besser gestellt. In den Gebräuchen unterscheiden sie sich von den nichtunierten Griechen gar nicht.174 Den Kultus der Griechen hat Schleiermacher recht ausführlich beschrieben. Insgesamt beurteilt er ihren Zustand ähnlich wie den der Orientalen: Sie sind geistig erstarrt (wenn auch nicht in einem so primitiven Stadium wie diese), vom Geistesleben der christlichen Ökumene isoliert, ihr Gottesdienst ist ein schier endloses Ritual in einer dem Volk unverständlichen heiligen Sprache. Bildung und Mitspracherecht der Laien ist gering. Die Tradition gilt neben der Schrift als Glaubensquelle; nur ist, anders als im Katholizismus, keiner mehr befugt, an der Lehre etwas zu verändern. Eine Eigenart dieser Kirchen ist der geradezu götzendienerische Bilderkult.175 – Die russische Kirche ist ein treues 171  Kirchliche Statistik 1827, 11. und 13. Stunde (KGA II/16, S.  2 27 f. 234); Kirchliche Statistik 1833/34, 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  491 f.); Griechischer Zweig 40 (KGA II/16, S.  4 0); vgl. Der christliche Glaube2 1, §  23,1 (KGA I/13,1, S.  160 f.). In der dritten Auflage der Reden über die Religion macht Schleiermacher die etwas kryptische Bemerkung, griechisches und lateinisches Christentum verhielten sich – bei allgemein anerkannter Norm für alles Christliche, nämlich dem kanonischen Zeugnis von der Christusoffenbarung – zu­ einander wie Text und Übersetzung (Ueber die Religion 3, S.  439 f. [Erläuterung 11 zur 5. Rede] [KGA I/12, S.  306 f.]). Danach wäre der westliche Katholizismus die lateinische Übersetzung der griechischen Orthodoxie. 172  Exzerpte zur griechischen Kirche 1; 9; 12 (KGA II/16, S.  3 –5); Kirchliche Statistik 1827, 12.–13. Stunde (KGA II/16, S.  232–234); Griechischer Zweig 4 f.; 11; 13; 49 f.; 57 (KGA II/16, S.  30–33. 42 f.) 173  Kirchliche Statistik 1827, 15. Stunde (KGA II/16, S.  240 f.); Griechischer Zweig 68 (KGA II/16, S.  45) 174  Exzerpte zur griechischen Kirche 1; 4; 6; 8 (KGA II/16, S.  3 f.); Kirchliche Statistik 1827, 3., 10.–11. und 15. Stunde (KGA II/16, S.  195. 224. 226. 242 f.); Griechischer Zweig 7; 9; 21; 26; 32; 35; 44; 62; 64–66; 70 f. (KGA II/16, S.  31 f. 35 f. 38 f. 41. 44. 46) 175  Exzerpte zur griechischen Kirche 10 f. (KGA II/16, S.   5 ); Kirchliche Statistik 1827, 11.–14. Stunde (KGA II/16, S.  229–236. 238–240); Griechischer Zweig 12; 27 f.; 31; 52; 56; 59; 67 (KGA II/16, S.  32 f. 36 f. 42 f. 45); vgl. Ueber die für die protestantische Kirche des

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Spiegelbild des Volkes: Wie sich dessen Masse in einem Zustand der Sklaverei und Leibeigenschaft befindet, während die Oberschicht gebildet ist, so betragen sich die Popen, auch beim Kultus, oft gemein und unanständig und stechen damit von Würde und Feierlichkeit der heiligen Handlungen in den Kathedralkirchen gewaltig ab.176 Schließlich hat dieser Kirchentyp in Rußland auch die ihm entsprechenden Dissenters hervorgebracht. Die herrschende Kirche nennt sie, ohne zu differenzieren, alle Raskolniken, also Schismatiker, was zeigt, daß sie sie bloß nach dem Äußeren beurteilt, nämlich danach, daß sie eben von der Großkirche abgesondert sind. Die verschiedenen Gruppen dieser Raskolniken zeigen aber eigenartige Mischungen von allerstrengster Buchstäblichkeit, größter Freisinnigkeit bis hin zur Auflösung der Gemeinschaft und Anarchismus. Entstanden sind sie aufgrund völlig bedeutungsloser äußerer Unterschiede in Liturgie und Ritual (besonders bei einer vom Zaren angeordneten Verbesserung der kirchenslawischen Liturgie anhand der griechischen Originaltexte). Da einige der Raskolniken weder die nach den neuen Riten vollzogenen Weihehandlungen anerkennen wollten, noch sich in der Lage sahen, eigene Geistliche zu weihen, verzichteten sie ganz auf Geistliche (was sonst nicht einmal die Protestanten tun, sondern nur kleine Gruppen wie die Quäker) und auf alle Äußerlichkeiten, verweigerten dem Staat Eid und Kriegsdienst und begingen Verbrechen, um hingerichtet zu werden und damit als Märtyrer zu sterben. Diejenigen, die das Priestertum nicht verwerfen, ließen sich oft von Betrügern täuschen, die behaupteten, über eine nach ihren Maßstäben gültige Weihe und gültig geweihtes heiliges Öl zu verfügen. Insgesamt ist es um die Raskolniken wieder ruhiger geworden.177 Schleiermachers Fazit ist: Die orthodoxen Kirchen befinden sich in einem dem spätmittelalterlichen abendländischen Katholizismus in vielerlei Hinsicht vergleichbaren Zustand. Der Unterschied ist nur, daß das Abendland zu dieser Zeit schon die Kräfte entwickelt hatte, die die Mißstände überwinden sollten. Bei den griechischen Kirchen sei davon nichts zu finden (obwohl im Christentum eigentlich immer die Hoffnung auf eine Erneuerung von innen bleibe); es fehle vor allem an der Bildung, sowohl bei den Laien als auch bei den Klerikern.

preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, S.  34 (KGA I/9, S.  133 f.); Ueber die Religion 3, S.  39. 322 (Erläuterung 3 zur 1. Rede und Erläuterung 10 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  37 f. 228). 176  Kirchliche Statistik 1827, 14. Stunde (KGA II/16, S.   238 f.); Griechischer Zweig 69 (KGA II/16, S.  45) 177 Exzerpte zur griechischen Kirche 27 (KGA II/16, S.   8); Kirchliche Statistik 1827, 13.–14. Stunde (KGA II/16, S.  236–238); Griechischer Zweig 6; 14; 16–20 (KGA II/16, S.  31. 33–35). Vgl. Kirchliche Statistik 1833/34, 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  491); dort sagt Schleiermacher, die Raskolniken hätten als Opposition gegen das Feststehende eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Protestantismus (tatsächlich kommt die Opposition allerdings gerade aus Anhänglichkeit an das unveränderlich Feststehende).

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Helfen könne den Orthodoxen geistige und geistliche Unterstützung aus dem Abendland, besonders von den Protestanten.178

9.3.4.  Die römisch-katholische Kirche 9.3.4.1.  Das monarchische Zentrum Von den aristokratisch verfaßten orientalischen und orthodoxen Kirchen hebt sich die römisch-katholische Kirche durch ihre monarchische Spitze ab; diese gilt ihr als wesentlich und notwendig für das Dasein und die äußere Gestalt der Kirche. Insofern kann sie das, was nicht unter ihrem monarchischen Oberhaupt steht, nicht als Kirche, ja nicht einmal als christlich anerkennen, möchte es vielmehr in ihren Schoß aufnehmen (strebt also danach, unter den Christen anderer Kirchen Proselyten zu machen) und erklärt sich selbst für schlechthin katholisch (also allgemein) und für alleinseligmachend.179 Der Grundirrtum des Katholizismus ist es, die Idee der Kirche, also das lebendige Wirken des Geistes Christi in einer menschlichen Gemeinschaft, mit einem bestimmten Moment in der äußeren Gestalt der Kirche zu identifizieren, eben der Papstmonarchie.180 Dieses bestimmte äußere Moment seinem Geist nach zu erfassen, hat sich Schleiermacher in der kirchlichen Statistik bemüht. Im Papsttum fällt dreierlei zusammen, was eigentlich nicht zusammenpaßt: der Papst als Bischof von Rom und zugleich Erzbischof und Patriarch, also als Bischof eines bestimmten Sprengels, der Papst als politischer Beherrscher des Kirchenstaates und der Papst als geistliches Oberhaupt der Weltkirche. Das Bischofsamt ist das Ursprüngliche, auf ihm (d. h. auf der Behauptung, der Nachfolger Petri zu sein, der auch Bischof von Rom gewesen sei, vgl. oben Abschnitt 6.2.2.1.) beruht der Anspruch auf die Oberherrschaft in der Kirche. Tatsächlich ist das Bischofsamt aber ganz bedeutungslos, der Papst fungiert gar nicht als römischer Bischof, sondern dieses Amt verwest einer seiner Kardinäle. Die weltliche Herrschaft schließlich folgt aus der geistlichen Oberherrschaft: Zwar war der Papst unter Napoleon eine Zeitlang seiner weltlichen Herrschaft entsetzt, ohne dadurch an geistlicher Autorität einzubüßen, diese nahm vielmehr zu; aber das Kirchenoberhaupt kann eben nur als immun und unabhängig von jeder anderen weltlichen Oberherrschaft und deren Interessen gedacht werden, sei die nun katholisch oder nicht, wenn es niemand politisch untertan ist. Der Papst muß also immer eine welt178 

Kirchliche Statistik 1827, 16. Stunde (KGA II/16, S.  243 f.) Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  402–407. 572 f.); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  4 08); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  211 f. 428); Kirchliche Statistik 1827, 20., 39., 45., 49., 51. und 53. Stunde (KGA II/16, S.  261. 329 f. 354. 366 f. 369. 375. 385); Der christliche Glaube2 1, §  24,3 (KGA I/13,1, S.  167); Kirchliche Statistik 1833/34, 1., 3. und 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  463 f. 470. 498) 180 Kirchliche Statistik 1827, 19. Stunde (KGA II/16, S.   255 Fußtext); vgl. Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  366 f.). 179 Christliche

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liche Herrschaft innehaben, mag deren Ausdehnung auch noch so klein sein.181 (Hier hat Schleiermacher geradezu prophetisch vorausgesehen, daß dem Papst rund 60 Jahre nach dem Ende des Kirchenstaates der Vatikan als kleines weltliches Territorium eingeräumt wurde.) Schleiermacher beschreibt sodann die Verfassung der Kurie mit ihren Kardinalskongregationen und die Amtsgeschäfte des Papstes. Zum Wahlverfahren bemerkt er, es passe eigentlich mehr zur Funktion des Erzbischofs als zu der des Weltkirchenoberhauptes, da ja die Kardinäle als wählendes Kollegium (wenigstens nominell) ausgewählte Mitglieder des Klerus der Kirchenprovinz Rom seien. Ansonsten kann er sich ein paar bissige Seitenhiebe dagegen nicht verkneifen, daß nach römisch-katholischer Lehre gerade die Wahl des Papstes (als die Konstitution der Papstmonarchie) diejenige Institution sei, in welcher der der Kirche gegebene Geist Christi sich als wirksam erweise: „es ist ja bekannt daß die jetzige Form der Pabstwahl ein regelmäßiger Weise zu Stande gekommenes Resultat von Unregelmäßigkeiten ist, von abscheulichen Intriguen, Unanständigkeiten und weiß Gott, was Alles.“

Daß der Papst immer ein Italiener ist, hängt mit der politischen Bedeutungslosigkeit Italiens zusammen: Ein Kirchenoberhaupt aus einem mächtigen Staat hätten die konkurrierenden Mächte aus Eifersucht und aus Furcht, der Papst würde seine geistliche Autorität zugunsten seiner Heimat in die Waagschale werfen, nie zugelassen. Obwohl der Papst so gut wie unumschränkt herrscht und die Kongregationen nur beratende Funktion haben, tritt er als Individuum doch zurück hinter dem gemeinsamen Geist der Institution, der römischen Kurie. Um einen bedeutenden persönlichen Einfluß auszuüben, sei der Papst auch immer zu alt, sein Pontifikat zu kurz. (Die letzte Handlung, mit der sich ein Papst dem Geist der Kurie widersetzte, war die Auf hebung der Gesellschaft Jesu durch Clemens XIV.) Der Geist pflanzt sich in der Institution fort, indem der amtierende Papst die Kardinäle beruft und diese den nächsten Papst wählen, der dann seinerseits wieder die Kardinäle beruft.182 Was aber ist der Geist der Institution? Es ist der Wille zur Macht, zur geistlichen und politischen Herrschaft über alles. Als christlich wird nur anerkannt, was dem Papst untertan ist,183 bei der Union mit den Ostkirchen geht es immer nur darum, daß diese den Papst als Oberhaupt anerkennen, nicht um irgendei181 

Kirchliche Statistik 1827, 17. Stunde (KGA II/16, S.  247–250); Verschiedene Notizen und Exzerpte 35 (KGA II/16, S.  47) 182  Kirchliche Statistik 1827, 17.–20. Stunde (KGA II/16, S.  251–259); Kirchliche Geographie und Statistik 20 f. (KGA II/16, S.  15); Verschiedene Notizen und Exzerpte 35; 1 f. (KGA II/16, S.  47); Katholische Kirche 14; 27–30; 33 f.; 38–41 (KGA II/16, S.  65. 69–72) 183 Kirchliche Statistik 1827, 16. und 50.–51. Stunde (KGA II/16, S.   245. 371. 375); Kirchliche Statistik 1833/34, 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  488)

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nen geistigen Austausch.184 In allen Staaten fordert der Papst Immunität von weltlicher Gerichtsbarkeit für seine Kleriker ein.185 Nichtkatholische Obrigkeiten haben für den Papst keine Legitimität,186 die katholischen sucht er durch von ihm instruierte Beichtväter in seinem Sinne zu bearbeiten.187 Verträge zu seinen Ungunsten sind für ihn null und nichtig und dürfen jederzeit gebrochen werden.188 Woher kommt das alles? Alle Korruptionen in der Gestalt der christlichen Kirche kommen nach Schleiermacher aus dem Nachwirken der vorchristlichen Vergangenheit, aus demjenigen Fleisch, das noch nicht zum fügsamen Organ des christlichen Geistes geworden ist. So ist es auch hier: Schleiermacher sieht im Geist der Kurie und des Papsttums ein Fortleben des vom Christentum einstweilen unbezwungenen römischen Imperialismus: „man glaubt noch immer, daß Rom die Hauptstadt der Welt sei […] Mit dem Römischen Bisthum hat also das Pabstthum nicht viel zu thun; aber mit dem Römischen Sitz hat es viel zu thun; denn in einer anderen Localität hätte sich schwerlich aus so heterogenen Elementen so etwas gestalten können in einer so fortwährenden Continuität und permanentem Character bei allem Wechsel der Person.“189

9.3.4.2.  Tendenzen und Spannungen im modernen Katholizismus Nun steht das Papsttum nicht für den Katholizismus in seiner Gänze; dieser zeigt sich vielmehr als ein komplexes Gebilde von Kirchen unterschiedlicher nationaler und kultureller Prägung und von miteinander streitenden Interessen und Kräften.190 In Südeuropa herrscht ein hemmungsloser Aberglaube, vom christlichen Prinzip kaum berührt. Das kirchliche Leben besteht vor allem in Heiligenkult, Weihwasserbesprengung und Festen, die einem Jahrmarktstreiben ähneln: Am Festtag des hl. Antonius von Padua, der auch Obergeneral der portugiesischen Armee ist, „gehen die schönsten Ochsen mit den anderen Christen in Procession.“

Die Statuten der römischen Agneskirche bestimmen, daß neben ihr eine Herde Lämmer gehalten wird, aus deren Wolle dann die erzbischöflichen Pallien ge184  Kirchliche Statistik 1827, 5., 15.–16. und 49.–51. Stunde (KGA II/16, S.  2 05. 243. 245. 370 f. 375); Kirchliche Statistik 1833/34, 9.–10. Stunde (KGA II/16, S.  488) 185  Kirchliche Statistik 1827, 27. Stunde (KGA II/16, S.  2 86 f.) 186  Kirchliche Statistik 1827, 50. Stunde (KGA II/16, S.  374) 187  Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 60); Kirchliche Statistik 1827, 17. Stunde (KGA II/16, S.  248–250) 188  Kirchliche Statistik 1827, 35. Stunde (KGA II/16, S.  315 f.); Katholische Kirche 106; 117 (KGA II/16, S.  92–95) 189  Kirchliche Statistik 1827, 18. Stunde (KGA II/16, S.  254) 190  Kirchliche Statistik 1827, 25., 47., 49. und 51. Stunde (KGA II/16, S.  276. 360 f. 369. 376)

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webt werden. Man glaubt an Legenden wie die von einem Jesusbild, das nachts von einer Dominikanerkirche in eine andere Kirche gewandert sei, Mönche entlohnen Freudenmädchen für deren Dienste mit Beichtbescheinigungen, die diese dann weiterverkaufen, und ein Nonnenkloster in Portugal war mehr der Harem für die männlichen Mitglieder der Königsfamilie. Die überaus zahlreichen Kloster- und Weltgeistlichen sind noch unwissender als die Mönche in den entlegensten Winkeln der syrischen Wüste. Viele kirchliche Veranstaltungen dienen auch einfach bloß dazu, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.191 Daß es in Deutschland und Frankreich anders aussieht, liegt einerseits am Nationalcharakter, andererseits aber auch daran, daß dort die Katholiken nicht unter sich leben: Die Nähe und Konkurrenz zum Protestantismus heischt es, daß mehr Wert gelegt wird auf Bildung, gelehrte Studien über Bibel und Kirchenväter, Predigt und Seelsorge. Und all das wirkt der allergröbsten Superstition eben entgegen.192 Die Kurie indessen sucht, wo sie kann, den heilsamen Einfluß des Protestantismus zu hemmen und überhaupt die Geistlichen und Gemeinden von aller höheren Bildung abzuschirmen. Ihr liebstes Werkzeug dazu ist der Jesuitenorden, der seine Niederlassungen denn auch gewöhnlich in der Nähe der Protestanten hat. Innerhalb der katholischen Kirche bilden Kurie und Jesuiten auf der einen Seite, das protestantische Prinzip auf der anderen die beiden Zentralpunkte, den monarchischen und den intellektuellen.193 Im Gegensatz zur Kurie hat der Staat ein Interesse an der Bildung seiner Bürger. Die protestantische Kirche fördert von sich aus die Bildung, die katholische tut das nicht,194 und der Staat muß sich überlegen, welche Vorgaben und Regeln er dem kirchlichen Leben gibt, wie er sich mit der Kurie ins Benehmen setzt und wie er dazu beitragen kann, daß sich zum Wohle aller die Kirche zum Besseren entwickelt (also Frömmigkeit und Bildung wachsen). Das Problem, wie Staat und römische Kurie kommunizieren, wie der Papst seine Willenskundgebungen ausgehen lassen kann und wie der Staat seine Interessen auf rechtliche Weise wahren kann, hat Schleiermacher aus verschiedenen Perspektiven erörtert.195 Dabei ist für ihn staatliche Bevormundung ein geringeres Übel als päpstliche Bevormundung; er hält es für besser, wenn ein Staat die Priester 191  Kirchliche Statistik 1827, 23.–24. Stunde (KGA II/16, S.  271–275); Katholische Kirche 26; 47 f.; 55; 57; 59 (KGA II/16, S.  68. 73. 75–78) 192  Kirchliche Statistik 1827, 24., 30.–31., 47. und 50. Stunde (KGA II/16, S.  274. 297 f. 300. 358–360. 371) 193  Kirchliche Statistik 1827, 38., 47. und 50.–51. Stunde (KGA II/16, S.  325. 358 f. 371 f. 377 f.); Katholische Kirche 132 (KGA II/16, S.  108) 194  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  96v. 97); Kirchliche Statistik 1827, 37. Stunde (KGA II/16, S.  322 f.) 195  Kirchliche Statistik 1827, 20.–21., 29. und 35.–36. Stunde (KGA II/16, S.  2 61 f. 291– 293. 317–321); Verschiedene Notizen und Exzerpte 2 (KGA II/16, S.  47)

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in Schulen unter seiner Aufsicht ausbilden läßt, als sie auf päpstliche Schulen im Ausland gehen zu lassen.196 Schleiermacher erwähnt öfter die josephinische Reform und ähnliche Unternehmen in Bayern und der Toskana; sie seien gut gemeint gewesen, aber mit zu wenig Umsicht umgesetzt worden und hätten so starke Gegenbewegungen provoziert.197 In Preußen dagegen übe der Staat sein Aufsichtsrecht so aus, daß die katholische Kirche sich aller Freiheiten erfreue und prosperiere.198 Die bischöfliche Gewalt hat in diesen Interessenkonflikten keine eindeutige Stellung. Ökumenische Bischofsversammlungen, die der Kurie entgegentreten könnten, sind seit Jahrhunderten undenkbar.199 In Frankreich, Deutschland und Italien hat es allerdings im Namen des Landeskirchentums bischöfliche Proteste und Gegenbewegungen gegen den päpstlichen Zentralismus und das Nuntienwesen gegeben, und auf dem Wiener Kongreß sollte ein Primas für die deutsche katholische Kirche installiert werden.200 Um ihre Interessen zu wahren, haben sich die Bischöfe in der Vergangenheit aber auch oft mit dem Papsttum gegen die weltliche Regierung verbündet, und noch in der Gegenwart nutzten sie ihren Einfluß zur Unterdrückung des protestantischen Prinzips.201 Für die Gegenwart beobachtet Schleiermacher nicht ohne Sorge ein Wiedererstarken des Papsttums, das sich zu einer Macht der Reaktion und Gegenreformation aufzuschwingen drohe. In den katholischen Ländern gehen Jesuitismus und politische Reaktion Hand in Hand, den rechtmäßigen Besitzern säkularisierter Kirchengüter wird dort die ewige Verdammnis angedroht.202 Napoleon, zur Zeit seiner Hegemonie von Schleiermacher leidenschaftlich gehaßt, erscheint jetzt geradezu als positive Gegenfigur zu dem klerikal-bigotten Regime 196  Kirchliche Statistik 1827, 37.–38., 47.–48. und 50. Stunde (KGA II/16, S.   321–325. 359. 365. 372 f.); Protestantische Kirche 21 (KGA II/16, S.  134) 197  Kirchliche Statistik 1827, 21., 30.–31. und 65. Stunde (KGA II/16, S.  2 63 f. 296 f. 300 f. 433 f.); Katholische Kirche 51; 53; 96 f. (KGA II/16, S.  74. 90) 198  Kirchliche Statistik 1827, 42. Stunde (KGA II/16, S.  3 41) 199  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  102v); Kirchliche Statistik 1827, 16., 36. und 50. Stunde (KGA II/16, S.  246 f. 320. 371); Kirchliche Statistik 1833/34, 38.–39. Stunde (KGA II/16, S.  495) 200 Kirchliche Statistik 1827, 25., 28., 30., 35.–36., 46. und 52. Stunde (KGA II/16, S.  276–279. 290. 296. 316 f. 319 f. 358. 381); Kirchliche Statistik 1833/34, 38.–39. Stunde (KGA II/16, S.  497 f.); Katholische Kirche 12; 95; 118 (KGA II/16, S.  64 f. 90. 95). Diese Bewegungen erwähnt Schleiermacher auch in der Praktischen Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  157) und merkt dazu an, es entspreche dem Wesen des Katholizismus, daß sie nicht durchgedrungen seien und daß sich die Kirche nicht habe entsprechend den Staatsgrenzen vereinzeln lassen. 201 Kirchliche Statistik 1827, 27. und 30.–31. Stunde (KGA II/16, S.   286. 295 f. 300); Verschiedene Notizen und Exzerpte 9 (KGA II/16, S.  48); Katholische Kirche 98; 102 (KGA II/16, S.  9 0 f.). Vgl. oben Abschnitt 8.2.1. 202  Kirchliche Statistik 1827, 24., 26.–28., 52. und 66. Stunde (KGA II/16, S.  275. 281– 285. 287 f. 378–380. 436 f.); Katholische Kirche 10; 72; 120; 136 (KGA II/16, S.  64. 81. 95. 109)

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der restaurierten Bourbonen.203 Aber auch protestantische Regierungen haben sich zuletzt gegenüber dem Papsttum oft nachgiebig und blauäugig verhalten, vielleicht aus Sentimentalität oder falscher Pietät.204 Kurz vor seinem Tod hielt Schleiermacher die Spannungen innerhalb des Katholizismus für so groß, daß er prophezeite, ein Großteil der Kirche werde sich von Rom losreißen, teils weil sie aufgrund der Nachbarschaft mit den Protestanten das Abergläubische der Heiligenverehrung und die Doppelmoral und Unsittlichkeit des Zölibats durchschauten, teils auch aus Verbitterung über die Unterstützung, die die Kurie der politischen Reaktion angedeihen lasse. Einen Anfang davon könne man schon bei den romfreien Katholiken in Holland und Frankreich sehen. Übrig würden dem Papst nur die geistig zurückgebliebenen Regionen in Italien und unter den Slawen bleiben.205 9.3.4.3.  Die religiöse Eigenart des Katholizismus Protestantische Glaubenslehre, Sitte und kirchliche Praxis darzustellen heißt für Schleiermacher immer auch, sie dem jeweiligen katholischen Standpunkt gegenüberzustellen. Insofern betrachtet er den Katholizismus als religiöses Phänomen immer auch aus der Perspektive dessen, der sich abgrenzt. Und das, wovon er sich abgrenzt, beruht auf zwei Prinzipien, die aber zusammen gehören: der Unmündigkeit der Laien und ihrer Unterordnung unter die Priester einerseits206 und andererseits der Überführung der Religion in äußerliche Handlungen, besonders im Kult, aber auch in der Sittlichkeit.207 Daß beides zusammen gehört, erhellt z. B. aus einer Bemerkung in der Praktischen Theologie: Der Protestantismus kennt nur wenige Feste und hat schon zu Beginn der Reformation ihrer viele abgeschafft, während im Katholizismus mit den neu kanonisierten Heiligen immer neue Feste in den Kalender kommen. Das komme daher, daß im Katholizismus die Laien gegenüber den Priestern ganz untergeordnet und passiv seien und ihre Auffassungsgabe immer an etwas äußerlich Reizendes wie eben ein Fest gebunden werden müsse.208 Die von Schleiermacher oft beschriebene Äußerlichkeit des katholischen Kultus kommt also von der Priesterherrschaft her und erhält diese zugleich: Sie befriedigt die Sinne und hält die Laien im Status der unmündigen, ganz passiven 203  Ueber die Religion 3, S.  4 61 (Erläuterung 4 zur Nachrede) (KGA I/12, S.  321); Kirchliche Statistik 1827, 26.–27. und 40. Stunde (KGA II/16, S.  280–282. 285. 334); Katholische Kirche 67 f. (KGA II/16, S.  79 f.) 204  Kirchliche Statistik 1827, 52. Stunde (KGA II/16, S.  380) 205  Kirchliche Statistik 1833/34, 38.–39. Stunde (KGA II/16, S.  495–498) 206  Z. B. Ueber die Religion 3, S.  328 f. 348 (Erläuterungen 13 und 24 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  232 f. 246); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  562) 207 Z.  B. Kirchliche Statistik 1827, 47. Stunde (KGA II/16, S.  360); Christliche Sitte 1828/29, 2. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  161) 208  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  53. 53v)

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Zuschauer fest.209 Die Laien werden mit der Verheißung entlassen, ihre bloße, passive, vielleicht rein äußere Anwesenheit werde ihnen als Verdienst angerechnet.210 Auch andere Züge des Katholizismus hängen mit der Priesterherrschaft zusammen: die Ohrenbeichte, die den Priester zum Herrscher über die Gewissen des Laien macht,211 und die Weigerung, die Geistlichen in weltlichen Dingen unter staatliche Aufsicht und Gerichtsbarkeit zu stellen: Auch eine politische Obrigkeit habe eben bloß den Status eines Laien und müsse der Weisung des Priesters folgen.212 Ebenso hält das Traditionsprinzip die Priesterherrschaft aufrecht: Dem Laien steht es nicht zu, das Bestehende anhand des Kanons zu überprüfen.213 Was abweicht, muß wieder assimiliert werden, ohne es auch nur zu prüfen; es gibt kein reinigendes Einwirken des Einzelnen auf das Ganze, keine Kirchenverbesserung.214 Die katholische Dogmatik hat die Tendenz, die Ehre, die Christus gebührt, der Kirche als äußerer Organisation beizulegen.215 Katholische Missionen zielen immer nur auf das Äußere, auf Taufe und Kirchenzugehörigkeit, und rechnen damit, daß sich die innere Aufnahme des Christentums schon durch Gewöhnung ergeben werde, wenn auch vielleicht erst nach mehreren Generationen.216 Das katholische Ordenswesen kann Schleiermacher als Parallelphänomen zu den protestantischen Konventikeln betrachten, es handelt sich im kleine Zirkel, die eine Fröm209 Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.   35v. 36); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  51v); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  151; SW I/12, S.  540 f. 663 f.); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  212). Da es nicht auf das Verständnis der Laien ankommt, kann der Kultus auch in einer einheitlichen, heiligen, aber unverständlichen Sprache zelebriert werden, vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  451. 569 f.). 210 Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.   536); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  533 f. 598) 211  Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  174 f.) 212  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  101); Kirchliche Statistik 1827, 17. Stunde (KGA II/16, S.  249 f.) 213  Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 42); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  378); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  435. 524) 214  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.   91); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  113; SW I/12, S.  188). Vgl. oben Abschnitt 4.4.3. – Ein modernes Lehrstück dazu ist die Reaktion auf das Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Auf bruch“, mit dem römisch-katholische Theologieprofessoren auf die „Dialoginitiative“ der Deutschen Bischofskonferenz vom Herbst 2010 geantwortet hatten; ein wirklicher Dialog kam dann doch kaum zustande. Vgl. Paul Metzger: Die Geister, die ich rief …, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 62 (2011), S.  21 f.; Peter Hünermann: Kirche im Dialog?, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 63 (2012), S.  21 f. 215  Der christliche Glaube2 1, §  24,3 (KGA I/13,1, S.  167) 216  Kollektaneum 537 (KGA II/6, S.  2 62); Predigt 135 (7.11.1824) über Lukas 21,15 (KGA III/8, S.  634); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  522); Kirchliche Statistik 1827, 15. Stunde (KGA II/16, S.  243)

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migkeit von starker individueller Prägung zusammenhält.217 Das Klosterleben beruhe auf der vom Protestantismus nicht geteilten Vorstellung, daß es eine sittlich vollkommenere Form des häuslichen Zusammenlebens gebe als Ehe und Familienleben.218

Die Kehrseite dessen, daß die Laien in der Unmündigkeit festhalten werden, ist es, daß die Gebildeten in einem vom Katholizismus geprägten kulturellen Umfeld, das weder ihren geistigen und religiösen Bedürfnissen entgegenkommt noch ihre Impulse integrieren kann, sich ganz von der Religion abkehren, um sich der Freigeisterei zu ergeben. Der Katholizismus ist der Nährboden von Areligiosität und Atheismus.219 In der Vergangenheit sind evangelische Fürsten immer wieder zum Katholizismus übergetreten,220 und in seiner Gegenwart sieht Schleiermacher nicht nur Papsttum und Jesuiten erstarken, er muß auch Konversionen zum Katholizismus zur Kenntnis nehmen. Die Proselytenmacherei, oft heimlich betrieben oder auch als „Seelsorge“ am Krankenbett, ist eben nicht ganz erfolglos geblieben.221 In einem Nachwort zur zweiten Auflage der Reden über die Religion von 1806 kommt Schleiermacher auf die Konvertiten zu sprechen und unterscheidet solche, die gefunden haben, daß der Katholizismus mehr dem entspricht, was schon immer ihre religiöse Individualität war, solche, die im Katholizismus eine Art magisches Zeremonienwesen gegen allerhand Ängste und Unfälle finden, und solche, die mit großem Pathos Rom und seinen Pomp als Retter der Religion und den Protestantismus als Prinzip der Irreligiosität verkünden. Die ersten achtet er, die zweiten bedauert er, die dritten hält er für verwerfliche Demagogen.222 Trotz allen Rückschritten und obwohl die Protestanten dem festen und zentral organisierten Verband der Papstkirche wenig entgegensetzen können, meint Schleiermacher, daß in der Konkurrenz beider Kirchen doch das protestantische Prinzip dasjenige sei, was sich ausbreitet; so sei ja auch der ganze gegenwärtige Bestand der evangelischen Kirche dem Katholizismus entrissen. Diese Ausbreitung geschehe aber einfach dadurch, daß die evangelische Kirche ihren Prinzipien treu bleibe, also dem freien Austausch der Gefühle und Erkenntnisse und dem gemeinsamen Suchen nach dem Guten aufgrund der Schrift. Daran

217 

Christliche Sitte 1809/10, §  225 (SW I/12, Beilage, S.  88) Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  397 f.); Predigt 157 (29.8.1830) über Eph 4,11 f. (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  138–144; KSP 3, S.  102–105) 219  Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 78); Kirchliche Statistik 1827, 30.–31. und 51. Stunde (KGA II/16, S.  297. 299. 374) 220  Kirchliche Statistik 1827, 44., 46., 51., 57. und 60. Stunde (KGA II/16, S.  3 48 f. 356. 376. 397 f.); Kirchliche Statistik 1833/34, 50. Stunde (KGA II/16, S.  510) 221  Christliche Sitte 1825/26 (SW I/12, S.  216); Kirchliche Statistik 1827, 43., 46. und 54. Stunde (KGA II/16, S.  346. 354. 388) 222  Über die Religion 2 , S.  367–370 (Zusatz) (KGA I/12, S.  315–317) 218 

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brächen sich alle Gegenreformationsversuche aus Rom.223 Den Erfolg kann man etwa im deutschen und französischen Katholizismus betrachten, der eben dank protestantischer Nachbarschaft nicht so abergläubisch und bibelfern ist wie der südeuropäische. Dem Katholizismus deshalb seine Legitimität abzusprechen, weil er eine von der eigenen abweichende Gestalt des Christentums ist, wäre unprotestantisch. Schleiermacher kann schreiben, nur als das Zusammensein von Katholizismus und Protestantismus entspreche die geschichtliche Erscheinung des Christentums in der Gegenwart der Idee, und das (freilich abzulehnende) Papsttum sei nicht das Wesen der katholischen Kirche, sondern ihr Verderben.224 Der Katholizismus könnte sich, ohne seine Eigenart zu verlieren, vom Papsttum verabschieden und zur aristokratisch-episkopalen Verfassung zurückkehren; damit würde er sich zugleich von seinen gröbsten Irrtümern und Irrwegen reinigen. Leider seinen aber gerade die Konvertiten aus dem Protestantismus die schlimmsten Ultramontanisten.225 In der Statistik-Vorlesung heißt dazu allerdings, Katholizismus ohne Papsttum sei bloß eine Fiktion. Wäre etwa unter Napoleon das Papsttum endgültig aufgehoben worden, dann wären die einzelnen Teile der Kirche doch wieder Monarchien geworden, wenn auch in kleinerem Umfang, oder sie hätten sich zum Protestantismus geneigt.226 Das Papsttum (oder wenigstens die geistliche Monarchie, wenn auch im kleineren Umfang) ist also dasjenige, was den Katholizismus zusammenhält und vom Protestantismus fernhält. Hier stoßen wir also wieder auf dieselbe Inkonsequenz bei Schleiermacher wie am Anfang: Er postuliert, daß es im Katholizismus ein eigenes positivchrist­liches Moment gebe, eine eigene Individuation des Christentums jenseits dessen, wogegen sich die protestantische Polemik richtet; aber er kann nicht deutlich machen, was das sei. Alles, was er über die religiöse Eigenart des Katholizismus sagen kann, läuft eben bloß auf Priesterhierarchie und Äußerlichkeit in den Werken hinaus. Was sich davon entfernt, ist immer schon eine Annäherung an den Protestantismus, und der christlich-fromme Widerpart zu Papsttum und Aberglauben innerhalb der katholischen Kirche ist eben das protestantische Prinzip.

223  Kirchliche Statistik 1827, 51. Stunde (KGA II/16, S.  376–378); Katholische Kirche 136 (KGA II/16, S.  109) 224  Über die Religion 2 , S.  366 f. 369 (Zusatz) (KGA I/12, S.  315 f.) 225  Ueber die Religion 3, S.  4 60 (Erläuterung 3 zur Nachrede) (KGA I/12, S.  321) 226  Kirchliche Statistik 1827, 16. und 24. Stunde (KGA II/16, S.  246 f. 275 f.)

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9.3.5.  Protestantische Kirchen 9.3.5.1.  Der Protestantismus als eine Kirche Der Protestantismus bildet keine länder- und staatenübergreifende Organisation. Die katholische Polemik behauptet deshalb, es gebe gar keine Einheit unter den Protestanten, und der Protestantismus sei ohnehin ein destruktives, Einheit und Ordnung auflösendes Prinzip.227 Schleiermacher setzt dagegen, der Protestantismus insgesamt sei nicht weniger eine Individuation des christlichen Prinzips und damit auch eine zusammenhängende Kirche als der römische Katholizismus.228 Dabei hält er eine über die Staatsgrenzen hinausgehende auch äußere Einheit der Protestanten durchaus für wünschenswert; hier könnten die Protestanten durchaus etwas vom römischen Katholizismus lernen, der übrigens von der organisatorischen Zersplitterung der Protestanten profitiere.229 Eine Einheit ist die protestantische Kirche zunächst als Gemeinschaft des auch durch Staats- und Landeskirchengrenzen nicht gehemmten religiösen und wissenschaftlichen Austausches, also als geistige Einheit. Da nun diese Einheit nicht von einer äußerlich übergeordneten Instanz definiert und gewährleistet werden kann – das Fehlen einer solchen Instanz ist ja gerade das Protestantische – muß sie immer schwankend bleiben. Und trotzdem ist sie da, trotzdem gibt es unter den Protestanten eben doch ein Gefühl und Bewußtsein von Zusammengehörigkeit und Einheit, von etwas, was sie, was ihre Art des Christentums gegenüber anderen Arten wie der römisch katholischen verbindet, trotz allen Unterschieden in Bekenntnis und Lehrbegriff, bei der staatlichen und nationalen Zugehörigkeit und bei der Gestaltung des Kultus.230 Für die Kirche oder Religionsgemeinschaft als ethische Form ist die funktionale Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien konstitutiv (vgl. oben Abschnitt 3.3.). Die Art, wie das Verhältnis zwischen Geistlichen und Laien eingerichtet ist, ist nach Schleiermacher nun eben die differentia specifica, durch welche sich die evangelischen Kirchen von den anderen christlichen Kirchen 227  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  156); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  99); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  4 4 (KGA I/9, S.  430); Kirchliche Statistik 1827, 53.–54. Stunde (KGA II/16, S.  383. 388); Der christliche Glaube2 1, §  24,3 (KGA I/13,1, S.  166 f.) 228  Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Syn­ odalverfassung, S.  51 (KGA I/9, S.  144); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  6v–7v); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  99. 99v); Christliche Sitte 1831, 65. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  178) 229  Ueber die Religion 3, S.  458 (Erläuterung 1 zur Nachrede) (KGA I/12, S.  319); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 56 f.); Kirchliche Statistik 1827, 51. Stunde (KGA II/16, S.  378) 230  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  153v–156v); An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  12–25 (KGA I/10, S.  29–39); Kirchliche Statistik 1827, 47., 53.–55. und 57. Stunde (KGA II/16, S.  360. 383–390. 397); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  500 f.)

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unterscheiden und durch welche sie untereinander eine geistige Einheit bilden. Das betont Schleiermacher in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder. Geistliche sind nach evangelischem Verständnis nicht wie in den orientalischen, orthodoxen und katholischen Kirchen Priester, die auf einer höheren Weihestufe als die Laien stehen und diesen die Absolution von den Sünden und den Zugang zum Heiligen vermitteln. (Signifikant für ein solches Verständnis des geistlichen Amtes ist es etwa, wenn Bauern in Rußland sich zuerst mit ihrem Popen prügeln und sich dann von ihm segnen lassen, weil er trotz aller persönlichen Gemeinheit und Würdelosigkeit eben doch ein geweihter Priester ist.) Priesterliche Würde als unvermittelten Zugang zu Gott schreibt die evangelische Kirche allen Getauften zu; der Geist Christi ist der Kirche in ihrer Gesamtheit gegeben, nicht bloß den priesterlichen Amtsträgern. Evangelische Geistliche sind weniger Priester als Seelsorger, Lehrer und Erzieher der Laien, die sie zur religiösen Selbständigkeit anleiten, nicht zuletzt indem sie ihnen das Verständnis der Schrift eröffnen. Evangelische Geistliche müssen religiöse und sittliche Vorbilder sein, sie müssen auch wissenschaftlich ausgebildet sein und sollen das, was sie gelernt haben, so weit es möglich und tunlich ist, weitervermitteln. So ist das Wort, nicht das Ritual Zentrum des evangelischen Kultus, und das Wesen des geistlichen Standes ist das ministerium verbi. Und insofern gehört auch das Interesse an der Bildung zum Wesen der evangelischen Kirche.231 Mit ihrem Verständnis des geistlichen Amtes unterscheidet sich die evangelische Kirche nun aber nicht nur von den älteren Kirchen mit ihrem sakramentalen Weihepriestertum, sondern auch von denjenigen Gemeinschaften, die gar keine Unterscheidung mehr zwischen Klerus und Laien kennen, weder ein Priestertum noch ein ministerium verbi. Beispielhaft dafür sind für Schleiermacher die Quäker. Aber schon in der Reformationszeit habe es schwärmerische Enthusiasten und Fanatiker gegeben, die die Reformatoren denn auch nicht als zu ihrer Sache gehörig anerkannt hätten.232 231  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  59v–60v); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, Beilage, S.  148; SW I/12, S.  175 f. 519–521); Praktische Theo­ logie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 20–23. 43); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  208. 366 f. 432. 434. 522–524); Kirchliche Statistik 1827, 5., 31. und 56.–57. Stunde (KGA II/16, S.  201. 298–300. 394. 396 f.); Predigt 152 (25.6.1830) über 1 Petr 3,15 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  35; KSP 3, S.  34 f.); Predigt 156 (15.8.1830) über Jak 5,16 (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  110–112; KSP 3, S.  82–84); Predigt 157 (29.8.1830) über Eph 4,11 f. (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  133–136; KSP 3, S.  98–100); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 37. 80–84) 232  Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  5v. 6. 154v. 155. 164. 164v); Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  658); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  542–544. 549); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  522. 524); Kirchliche Statistik 1827, 53. Stunde (KGA II/16, S.  385); Praktische Theologie 1830/31 (Nachschrift George, SN 556, pag. 79 f.)

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Die evangelische Kirche ist für Schleiermacher eine spätere, weiter ent­ wickelte soziologische Gestalt des Christentums als die Ost- und katholischen Kirchen. Gelegentlich merkt er aber auch an, daß sich der Protestantismus auch wieder an die frühesten Zustände des Christentums anknüpfe, als die Gemeinden an den verschiedenen Orten auf vielerlei Weise verfaßt waren und es noch keine übergemeindliche Organisation der Gemeinden gab, wohl aber alle sich des gemeinsamen Geistes bewußt waren und ihre Glieder einander wechselseitig empfahlen, und an die Zeit, als der Kultus nicht von denen angeleitet wurde, denen man vor den anderen die priesterliche Würde zuschrieb, sondern von denen, die stärker als die anderen vom Geist Christi und von der Kraft des Glaubens ergriffen waren.233 Der Protestantismus ist eben sowohl eine Weiterentwicklung des Christentums (und insofern später als der Katholizismus) als auch dessen Reinigung von sekundären Entstellungen und insofern primitiver als der Katholizismus. 9.3.5.2.  Protestantische Mannig faltigkeit und Union Auch das protestantische Christentum gibt es in vielen verschiedenen Gestaltungen, die sich nach religiöser Individualität, theologisch-dogmatischem Profil und kultureller und nationaler Prägung voneinander unterscheiden; und seinem Wesen nach bejaht der Protestantismus diese Diversität auch, empfindet sie als Reichtum und meint, daß sie zum gemeinsamen Suchen nach dem Besten beiträgt.234 So ergänzen sich innerhalb Deutschlands der ruhige, eher konservative Charakter der hannöverschen Kirche und der unruhige, mehr innovative Charakter der Kirche in Preußen aufs Beste und bewahren das Ganze vor Einseitigkeiten und Extravaganzen.235 In Württemberg wiederum hat die evangelische Kirche, auch durch die Einrichtung des Tübinger Stiftes, eine ganz eigene, originelle Theologie ausgebildet.236 – Innerhalb einiger Kirchen gibt es aber Tendenzen zu einer Spaltung zwischen den traditionell Eingestellten und den Neuerern.237 Was den Gegensatz der beiden „Hauptzweige“ des festländischen Protestantismus betrifft, der Lutheraner und Reformierten,238 so bedauert Schleiermacher, daß die Kirchengründungen aus dem einen reformatorischen Geist seiner233  Ueber die Religion 3, S.  329 (Erläuterung 13 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  2 33); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  520 f.); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  522. 524); Kirchliche Statistik 1827, 53. Stunde (KGA II/16, S.  384 f.); Predigt 157 (29.8.1830) über Eph 4,11 f. (Predigten in Bezug auf die Feier, S.  134. 145 f.; KSP 3, S.  98 f. 106) 234 Vgl. Rössler: Protestantische Individualität, S.  70–75. Vgl. auch oben Abschnitt 4.4. 235 Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.   70  f. (KGA I/9, S.  455 f.); Kirchliche Statistik 1827, 59. und 64. Stunde (KGA II/16, S.  4 07. 426 f.) 236  Kirchliche Statistik 1827, 60. Stunde (KGA II/16, S.  4 09) 237  Kirchliche Statistik 1827, 62., 64. und 68. Stunde (KGA II/16, S.  419. 427. 447); Protestantische Kirche 60; 71 (KGA II/16, S.  150. 157) 238  Kirchliche Statistik 1827, 57. Stunde (KGA II/16, S.  397)

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zeit nicht zu voller Gemeinschaft zusammenwuchsen. Nun muß er erklären, worin sich Lutheraner und Reformierte so dauerhaft unterschieden und vonein­ ander schieden und warum diese Trennung einstweilen blieb, ohne daß für sie aber dem Christentum ganz fremde Motive ausschlaggebend gewesen wären – denn daß ein unchristliches Prinzip jahrhundertelang im Protestantismus verharren kann, mag er natürlich nicht zugeben.239 Als Trennungsgrund nennt Schleiermacher bald den Lehrbegriff, besonders die Abendmahlsfrage (da ja die strenge Prädestinationslehre gar nicht von allen Reformierten rezipiert wurde),240 bald die kritischere Anwendung des reformatorischen Prinzips durch die Schweizer und ihre schnellere und strengere Umsetzung der protestantischen Maximen im Kultus,241 bald auch die politischen und kulturellen Unterschiede und deren Einfluß auf die Gestaltung der Kirchen.242 Schleiermacher hatte schon als reformierter Prediger an der Berliner Charité zusammen mit seinem lutherischen Kollegen einen Unionsversuch gemacht; 243 die Erfahrungen als Hofprediger einer kleinen, zerstreuten reformierten Minderheitsgemeinde in Hinterpommern bestärkten ihn dann in dem Anliegen.244 Union heißt für Schleiermacher nicht, daß die verschiedenen Ausprägungen des Protestantismus von oben her vereinheitlicht würden oder daß eine neue Konfession gestiftet würde,245 sondern vielmehr daß die protestantischen Kirchen 239  Immerhin kann Schleiermacher in einer Vorlesung über seine Gegenwart sagen, sie sei dogmatisch nicht revolutionär, doch habe sie die Einsicht gebracht, daß die seinerzeitige lutherisch-reformierte Trennung „durch Irrthum und Unbiegsamkeit […] entstanden ist über unwesentliche Dinge, welche man wieder gut machen muß“ (Praktische Theologie 1817/18, Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  70v). 240  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  12 f. 40. 71 (KGA I/4, S.  375. 388. 403); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  66); Kirchliche Statistik 1827, 63. und 67. Stunde (KGA II/16, S.  423. 442); Der christliche Glaube2 1, §  24, Zusatz (KGA I/13,1, S.  168 f.) 241 Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.   15 f. (KGA I/4, S.  375 f.); Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  57v. 58); Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  9 0–92); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  541); Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 92–94); Kirchliche Statistik 1827, 54. Stunde (KGA II/16, S.  386) 242  Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  9 9v); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  65–67); Kirchliche Statistik 1827, 62. und 67. Stunde (KGA II/16, S.  418. 441 f.); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  160 (hg. Sachs, S.  153 f.). – Vgl. aber auch Ueber die Religion 3, S.  333 f. (Erläuterung 16 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  236), wo Schleiermacher andeutet, es gebe doch eine Verschiedenheit des Geistes zwischen beiden Konfessionen. 243 Brief 686 (2.9.1799) an das Armendirektorium (KGA V/3, S.   169–175); Brief 735 (27.11.1799) vom Armendirektorium (KGA V/3, S.  266–269); Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  72 f. (KGA I/4, S.  4 03 f.). Vgl. Simon Gerber: Seelsorge ganz unten – Schleiermacher, der Charité-Prediger, in: Hg. Andreas Arndt: Wissenschaft und Geselligkeit, Berlin und New York 2009, S.  15–41, hier 33–35. 244 Vgl. den Erfahrungsbericht: Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.   29–36 (KGA I/4, S.  382–386). Zum ersten Gutachten als Konzept einer Union vgl. Stiewe: Das Unionsverständnis, S.  17–22. 245  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  2 –5. 40–43. 69 (KGA I/4, S.  369–371. 388–390.

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im Bewußtsein des gemeinsamen Geistes und Prinzips – unbeschadet ihres Bekenntnisstandes und sonstiger Unterschiede – zu voller (auch sakramentaler) Gemeinschaft zusammenwachsen und daß sie, wenn sie sich auf demselben Territorium befinden, also insbesondere innerhalb desselben Staates, und auch eine gemeinsame Sprache haben, auch ihre Kirchenorganisationen miteinander vereinigen. Die Union ist ein Prozeß, der im Wesen des Protestantismus liegt und sich allmählich vollzieht: 246 Eine geistige Gemeinschaft und Austausch bestehen ohnehin, und wo protestantische Kirchen auf einem Gebiet gleichberechtigt nebeneinander bestehen, da nähern sie sich einander an und fangen an, zusammenzuwachsen.247 Dazu weist Schleiermacher noch darauf hin, daß die Einheit der protestantischen Kirche ja nicht in Bekenntnis und Lehrbegriff besteht 248 und daß auch innerhalb der Konfessionen nicht überall dieselben symbolischen Schriften gälten (nicht einmal unbedingt innerhalb einer Kirche, indem z. B. in Hannover nicht überall die Konkordienformel anerkannt sei).249 Ohnehin seien die Differenzen innerhalb der Konfessionen (z. B. zwischen Rationalisten und Supranaturalisten) größer als die zwischen den Konfessionen.250 In praktischen und kultischen Fragen sei der Protestantismus sowieso flexibel und kompromißbereit.251 Die Union besteht de facto auch schon längst: Im preußischen Landrecht war verordnet, daß protestantische Gemeinden Mitglieder der jeweils anderen Konfession gastweise zum Abendmahl zulassen sollten und daß eine solche Teilnahme an der Abendmahlsgemeinschaft der jeweils anderen Konfession nicht als Übertritt anzusehen sei, im Rheinland zur Zeit der französischen Annexion wurden beide Konfessionen zusammen verwaltet, und in Preußen fing man 402); Vorschlag zu einer neuen Verfaßung (1808) (KGA I/9, S.  4 f.); Glückwünschungsschreiben, S.  42–45 (KGA I/9, S.  73–75); An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  72–77 (KGA I/10, S.  77–81); Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, S.  8 (KGA I/9, S.  115). Vgl. Ohst: Schleiermacher, S.  175–180. 246  Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Syn­ odalverfassung, S.  7 (KGA I/9, S.  114) 247 Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.   5  f. (KGA I/4, S.   371); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  501) 248  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  55 f. (KGA I/4, S.  396); Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, S.  7 (KGA I/9, S.  114 f.) 249  Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Syn­ odalverfassung, S.  7 f. (KGA I/9, S.  115); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  104); Kirchliche Statistik 1827, 59.–60. und 63.–64. Stunde (KGA II/16, S.  4 06. 410. 423. 428); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  502); Protestantische Kirche 42; 54 (KGA II/16, S.  141. 146) 250  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  12 (KGA I/4, S.  374); Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, S.  7 f. (KGA I/9, S.  115); Christliche Sitte 1826/27 (SW I/12, S.  66 f.) 251  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  43–47. 72–75 (KGA I/4, S.  390–392. 403–405); Predigt 62 (31.3.1822) über Phil 2,1–4 (KGA III/7, S.  92–95); Protestantische Kirche 49 (KGA II/16, S.  144)

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schon nach der Niederlage von 1806/07 im Zuge der Staatsreformen an, die alte Trennung zu überwinden und die Reformierten mit den Lutheranern unter dem Oberkonsistorium zu verwalten und zugleich eine synodale Verfassung für alle auszuarbeiten.252 Innerhalb der Herrnhuter Gemeinschaft wurde die Union ohnehin praktiziert.253 Die Unionsschlüsse nach 1815254 waren also keine epochalen Wendepunkte, sondern Etappen in einer Entwicklung, die längst begonnen hatte. Einstweilen sei die Union noch schwankend, nicht überall sei sie vollzogen, aber wo sie nicht bestehe, werde doch die Gemeinschaft mit denjenigen Konfessionsgenossen nicht aufgehoben, die sie vollzogen hätten.255 Kurz vor seinem Tod hat Schleiermacher nüchterner gesehen, daß de facto doch eine Triplizität von Unierten, Reformierten und Lutheranern bestehe. Zwar sei die Union keine neue Konfession, sondern die Einheit der beiden bisherigen, aber diese sei eben doch nicht allgemein vollzogen, und wo sie vollzogen sei, erscheine sie manchen als Zwang.256 Dies letzte hatte Schleiermacher erfahren, als er 1831 im Auftrag der Regierung einen Vorschlag ausarbeitete, die Separation der schlesischen Altlutheraner beizulegen, damit aber keinen Erfolg hatte.257 Schleiermacher konnte sich für sein Unionsverständnis nicht ohne Recht dar­ auf berufen, daß Lutheraner und Reformierte nicht so getrennt seien wie Katholiken und Protestanten, daß sie im wissenschaftlichen Austausch stünden und ohne das Erlebnis großer Fremdheit einander im Gottesdienst besuchen könnten,258 daß auch beide Gruppen in sich keineswegs homogen seien, sondern jede einzelne Kirche ihre eigene Ausprägung habe und es theologisch sowieso wichtigere und wesentlichere Gegensätze gebe als die lutherisch-reformierten 252  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  4 0 (KGA I/4, S.  388); Kirchliche Statistik 1827, 53., 62.–63. und 69. Stunde (KGA II/16, S.  384. 419–425. 449); Protestantische Kirche 16; 38; 50 (KGA II/16, S.  133. 140. 144 f.) 253  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  52. 70 (KGA I/4, S.  394. 402) 254  Vgl. Kirchliche Statistik 1827, 58. und 62.–66. Stunde (KGA II/16, S.  4 03. 419. 423 f. 427–429. 431–433. 435); Kirchliche Statistik 1833/34, 50. Stunde (KGA II/16, S.  508–510); Abendländischer Zweig 3 (KGA II/16, S.  51); Protestantische Kirche 3; 6; 10; 40; 50; 64; 67; 99 (KGA II/16, S.  130 f. 140. 144. 151–154. 168–170). 255 Memorandum der zwölf unterschriebenen Berliner Prediger vom 1. März 1826 an König Friedrich Wilhelm III. (KGA I/9, S.  356); Kirchliche Statistik 1827, 54.–55. Stunde (KGA II/16, S.  387. 390) 256  Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. und 50. Stunde (KGA II/16, S.  501 f. 508 f.). – Die Statistik von 1827 ist indessen auch nach der Triplizität disponiert, indem dort erst die nicht unierten lutherischen Kirchen behandelt werden, dann die Kirchen in Ländern, die die Union vollzogen haben und dann die nicht unierten reformierten Kirchen. 257 Vgl. Wichmann von Meding: Schleiermacher und die Schlesische Separation, in: Kerygma und Dogma 39 (1993), S.  166–201; Simon Gerber: Steffens, Schleiermacher und das Altluthertum, in: Hg. Sarah Schmidt und Leon Miodowsky: System und Subversion – Schleiermacher und Steffens, Berlin und Boston (im Druck). 258  An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, S.  47–62 (KGA I/10, S.  57–68); Kirchliche Statistik 1827, 55. Stunde (KGA II/16, S.  389 f.)

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Lehrdifferenzen. Mit seiner Andeutung, der lutherisch-reformierte Gegensatz könne als bloßer Schulgegensatz neben anderen aufgefaßt werden,259 hat er aber das Eigengewicht und die prägende Kraft der Konfessionen unterschätzt. Neben und nach Schleiermacher, vor dem Hintergrund von Annäherung und Union einerseits, Konfessionalismus und Widerwillen gegen das Vereinigen und Vermischen andererseits, fragten viele, ob die lehrhaften Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten nicht doch Ausdruck einer tieferliegenden Differenz in der Religion selbst seien. Schleiermachers älterer Zeitgenosse, der pragmatische Kirchenhistoriker Jacob Friedrich Planck, beurteilte den Unterschied in der Abendmahlslehre wie Schleiermacher als wenig bedeutend; in der Prädestinationslehre und ihren problematischen praktisch-moralischen Konsequenzen sah er aber eine wesentliche Abweichung des Calvinismus vom evangelisch-lutherischen Christentum.260 Um 1840 wurde die Debatte über das Thema lebhafter. Max Goebel, ein rheinischer reformierter Theologe und Archivar, erinnerte einerseits (wie Schleiermacher) an die politischen und geistig-kulturellen Unterschiede zwischen den in der Reformation lutherischen oder zwinglianisch-reformierten Gegenden: Zwingli seien die weiter entwickelten, humanistisch und republikanisch geprägten Gebiete gefolgt. Andererseits repräsentierten Luther und Zwingli auch als Persönlichkeiten diesen Unterschied: Jener sei ein tiefsinniger, mystischer Gottsucher nordostdeutscher Prägung gewesen, dieser sei mehr rational und praktisch gesinnt gewesen, ähnlich den humanistischen Biblizisten, und habe das kirchlich Überlieferte freier und subjektiver gehandhabt. Es gebe also tatsächlich eine prinzipielle Differenz, die allen wirklichen Unterschieden zugrunde liege; allerdings seien beide Seiten auch dazu berufen, einander mit ihren jeweiligen Einseitigkeiten zu ergänzen und zu dienen.261 – Der Deutsch-Däne Andreas Gottlob Rudelbach, ein Gegner der Union und des Rationalismus und Wegbereiter des Neuluthertums, sah den prinzipiellen theologischen Irrtum der Reformierten in der Bestreitung, daß Gott sich in seinem Wirken an Äußeres binde, also besonders an Wort und Zeichen.262 Schleiermachers Schüler Alexander Schweizer wollte in seiner reformierten Glaubenslehre den lutherisch-reformierten Unterschied tiefer erfassen als Goebel. Er sah das Prinzip des reformierten Christentums in dem Willen, die Ehre und Souveränität Gottes zu wahren und alle Vergötterung der Kreatur zurückzuweisen. Das Heil werde also als ein ewiges göttliches Dekret gedacht, nicht als vom Menschen erfahrene Rechtfertigung; Ursache und Bestimmungsgrund für das Heil würden auf keinen Fall im Menschen oder sonst der geschaffenen Welt gesucht, und die menschliche Freiheit dürfe der göttlichen Allwirksamkeit keinen Eintrag tun.263 Ähnlich faßten das (bei Unter259 

Kirchliche Statistik 1827, 63. Stunde (KGA II/16, S.  424) Planck: Abriß3, S.  95–112 261  Max Goebel: Die religiöse Eigenthümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche, Bonn 1837; vgl. Carl Ullmann: Zur Charakteristik der reformirten Kirche, in: Theologische Studien und Kritiken 16 (1843), S.  749–832, hier 754–764. 262  Andreas Gottlob Rudelbach: Reformation, Lutherthum und Union, Leipzig 1839, S.  112–146. Rudelbach fügt noch hinzu, daß die Reformierten das Schriftprinzip nicht an das Prinzip koppelten, daß man der allgemein anerkannten Glaubensregel folgen müsse, und so immer wieder zu willkürlichen Auslegungen kämen. 263  Alexander Schweizer: Die Glaubenslehre der Evangelisch-Reformirten Kirche, Band 1, Zürich 1844, S.  5 –83 260 

9.  Die vierte Periode

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schieden in der einzelnen Beschreibung und in der Beurteilung) z. B. auch Ferdinand Christian Baur und Isaak August Dorner auf.264 Schweizer faßte das mit einem Schleiermacher entlehnten Begriff zusammen: Das Grunddogma der reformierten Kirche sei die schlechthinnige Abhängigkeit von Gott, das Material ihrer Dogmatik das Bewußtsein von der schlechthinnigen Abhängigkeit.265 (Schleiermacher hatte die Formel freilich nicht speziell für das reformierte Christentums gebraucht, sondern zur Bestimmung der menschlichen Frömmigkeit und Religiosität überhaupt.266 ) Insofern würdigte Schweizer die Glaubenslehre seines Lehrers: Mit ihr, obwohl als Dogmatik der Union konzipiert, setze nach mehreren Jahrzehnten Pause die reformierte Dogmatik wieder ein. Allerdings entstelle Schleiermacher den reformierten Typus der Dogmatik, indem er anthropologische Sätze an die Spitze stelle, das Geschichtliche über die ideale Welt stelle und das Alte Testament zurückstelle.267 Baur antwortete, eben das, daß Schleiermacher mit anthropologischen Sätzen zu Kirche und Frömmigkeit beginne, zeige ja gerade, daß seine Dogmatik dem reformierten Typus nicht angehöre.268 Friedrich Lücke sah die Dinge schließlich ähnlich wie sein Freund Schleiermacher: Im Geist sei die Reformation eine gewesen, doch die äußeren Umstände, menschliche Schwächen und unbewältigte Überbleibsel aus dem mittelalterlichen Christentum hätten aus ihr zwei getrennte Konfessionskirchen hervorgehen lassen.269

Von den kontinentaleuropäischen Landeskirchen hebt sich aber der angelsächsische Protestantismus ab. Das liegt in seiner Geschichte begründet: Die anglikanische Kirche begann als katholische Kirche, wenn auch national und romfrei unter königlicher Suprematie, und dies hat sie nie hinter sich gelassen; die Prinzipien der Reformation sind in ihr nie ganz durchgedrungen: Ihre symbolische Schrift, die 39 Artikel, erklären die Kirche für befugt zur Festsetzung der Lehre, insofern kann sich die Schriftforschung nur im Rahmen dessen bewegen, was dem Bekenntnis nicht widerspricht. Der Kultus ist den katholischen Ritualen noch allzu verhaftet, und das theologische Studium ist unzweckmäßig eingerichtet. Die Administration der Kirche ist ganz in die staatliche Verwaltung eingegliedert. Den römischen Katholizismus bekämpft der Staat, alle anderen christlichen Gruppen ignoriert und toleriert er. Auf Kosten der Staatskirche verbreiten sich sowohl der Katholizismus als auch verschiedene protestantische 264  Ferdinand Christian Baur: Ueber Princip und Character des Lehrbegriffs der reformirten Kirche in seinem Unterschied von dem der lutherischen, in: Theologische Jahrbücher 6 (1847), S.  309–389, bes. 322–325. 334–342. 349 f. 366–389; Isaak August Dorner: Geschichte der protestantischen Theologie, besonders in Deutschland, nach ihrer principiellen Bewegung und im Zusammenhang mit dem religiösen, sittlichen und intellectuellen Leben betrachtet, Geschichte der Wissenschaften in Deutschland 5, München 1867, S.  283– 292 265  Schweizer: Die Glaubenslehre 1, S.  4 0–59 und passim 266  Der christliche Glaube2 1, §  4 (KGA I/13,1, S.  32–40) 267  Schweizer: Die Glaubenslehre 1, S.  9 0–96 268  Baur: Ueber Princip, S.  350–355 269  Friedrich Lücke: Bemerkungen über die Geschichte und die richtige Formulirung sowohl des Unterschiedes als der Vereinigung der Lutherischen und Reformirten Kirche, in: Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben 4 (1853), S.  22–46. 49–53, bes. 23–36

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C.  Materialer Teil

Gemeinschaften, die Dissenters. An der Erhaltung des christlichen Geistes in England gesteht Schleiermacher diesen Dissenters das Hauptverdienst zu, doch tendierten sie (als Gegengewicht gegen die zu große Festigkeit der Staatskirche) zur Auflösung der äußeren Kirchlichkeit. Die gesunde, integrierende Mitte fehle dem englisch-amerikanischen Protestantismus eben.270 – Zu den überkonfessionellen englischen Bibel- und Missionsgesellschaften kann Schleiermacher schreiben, sie ähnelten allzu sehr den privaten Handelskompanien, und in ihnen sei mutmaßlich das ökonomische und politische Prinzip stärker als das religiöse.271 Schleiermacher hat erkannt, daß das Freikirchentum neben den protestantischen Landeskirchen eine eigene Form des Christentums darstellt und einen eigenen Typus des gemeinsamen religiösen Lebens. Die Herrnhuter sind für ihn auf der einen Seite das gute Beispiel einer kleinen Gemeinschaft neben den Großkirchen, die die geistige Gemeinschaft mit diesen nicht aufgibt und nicht in Separatismus verfällt, die religiösen Bedürfnissen nachkommt, die die Großkirchen nicht befriedigen können, die ein sehr achtbares Missionswesen hat und die eine eigene Gottesdienstkultur ausbildet und pflegt.272 Auf der anderen Seite stehen die (nicht nur, aber vor allem) englisch-amerikanischen Sekten, die sich ebenso schnell bilden, wie sie sich wieder spalten oder auch ganz auflösen. Im Gegensatz zu den Landeskirchen sind sie von Beeinflussung durch den Staat und dessen Interessen ganz frei. Andererseits gibt es geistigen Austausch fast nur innerhalb der eigenen kleinen Gruppe; das ministerium verbi hat wenig Autorität, das Studium wird gering geachtet, und dem religiösen Individualismus fehlt das institutionelle Gegengewicht, daher mangelt es diesen Gruppen an

270 Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.   95 f. (KGA I/4, S.  416); Ueber die Religion 3, S.  332 f. (Erläuterung 16 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  236); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, Beilage, S.  112; SW I/12, S.  207); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  84 (KGA I/9, S.  471); Kirchliche Statistik 1827, 16., 47.–48., 54. und 69.–70. Stunde (KGA II/16, S.  246. 361–366. 386. 450–455); Katholische Kirche 128 f.; 179 (KGA II/16, S.  107. 125 f.); Protestantische Kirche 72 (KGA II/16, S.  158–161); An die Herren, S.  9 f. (KGA I/10, S.  403); Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  186 (hg. Sachs, S.  175); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  502–504) 271  Ueber die Religion 3, S.  38 f. (Erläuterung 3 zur 1. Rede) (KGA I/12, S.  37) 272  Zwei unvorgreifliche Gutachten, S.  109–111 (KGA I/4, S.  423 f.); Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  661); Christliche Sitte 1824/25 (SW I/12, S.  521 f.); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  71–73 (KGA I/9, S.  457–459); Christliche Sitte 1831, 65. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  181)

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Stetigkeit.273 Für die Statistik-Vorlesungen hat Schleiermacher viel Material dar ­über gesammelt,274 aber es ist ungewiß, ob er das Thema noch behandelt hat.275

273  Ueber

die Religion 3, S.  332. 346 (Erläuterungen 16 und 23 zur 4. Rede) (KGA I/12, S.  235 f. 245); Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, S.  660 f.); Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.  9 0v. 91); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  413–415); Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen, S.  83 f. (KGA I/9, S.  470); An die Herren, S.  9 f. 27 f. 38 (KGA I/10, S.  4 03. 417 f. 425); Kirchliche Statistik 1833/34, 40.–41. Stunde (KGA II/16, S.  504). – Hingegen meint Goebel: Die religiöse Eigenthümlichkeit, S.  24 f., die Neigung, Sekten zu bilden, sei nicht typisch angelsächsisch, sondern typisch reformiert. 274  Abendländischer Zweig 2; 4; 6; 14 (KGA II/16, S.  51 f. 55 f.); Protestantische Kirche 2; 100 (KGA II/16, S.  129. 170); Kleine Parteien (KGA II/16, S.  176–179) 275  Die Vorlesung 1827 endete mit den schottischen Presbyterianern. Die letzten 15 Stunden der Vorlesung von 1833/34 sind nicht überliefert, vgl. KGA II/16, S. XLVIII. 521.

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10. Ausblick 10.1.  Zwischen Pragmatismus und spezialisierter Kirchengeschichtswissenschaft Als Kirchengeschichtler gehört Schleiermacher jener Zeit an, an deren Anfang die pragmatische Geschichtsschreibung steht sowie die romantische und früh­ idealistische Suche nach Vielheit, Einheit und Individualität, Idee, System und Entwicklung in der Geschichte. Schleiermacher wollte das Niveau der neologischen und pragmatischen Kritik halten, aber eben auch eigene geschichts­ theoretische Ideen geltend machen, nicht zuletzt ein neues Konzept dazu, was Religion, Kirche und Christentum ausmacht; zwischen beidem, historischer Kritik einerseits, Konstruktion und System andererseits, versuchte Schleier­ macher mit einem kritischen Verfahren zu vermitteln. – Am Ausgang der Zeit, in die Schleiermachers Kirchengeschichte gehört, steht die Kirchengeschichtswissenschaft als Spezialdisziplin, wie sie sich seit der Jahrhundertmitte herausbildete und durchsetzte, auch als Maßstab und Paradigma für die gesamte theologische Wissenschaft: Monographie, Quellenedition und Spezialforschung lö­ s­ten den Gesamtentwurf ab, die Leistungen und Perspektiven der durch Leopold von Ranke und andere Meister zu neuem Glanz gebrachten Profangeschichte wurden wieder stärker einbezogen; den ungeheuer angewachsenen Wissensstoff ganz zu beherrschen, war dem einzelnen Gelehrten bald unmöglich. Diese spätere Zeit rezipierte den Gedanken der Individualität und der Entwicklung; die Möglichkeit eines das Ganze umfassenden Systems aber erschien zunehmend als problematisch.1 Wie vielleicht kein Zweiter repräsentiert Hermann Reuter diesen Übergang zur kirchengeschichtlichen Einzelforschung. 1844 veröffentlichte Reuter 27jährig einen Aufsatz über Schleiermachers Ethik, die er, wenn auch nicht kritiklos, doch als Gegenentwurf zum Hegelianismus empfahl.2 Eine Monographie über 1 Vgl. Reinhold Seeberg: Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert, 3.  Aufl., Leipzig 1910, S.  368–381; Horst Stephan: Die Geschichte der evangelischen Theo­ logie seit dem Deutschen Idealismus, Die Theologie im Abriß 9, Berlin 1938, S.  216–225. – Peter Meinhold: Geschichte der kirchlichen Historiographie, Orbis academicus III/5, Band 2, Freiburg und München 1967, S.  199. 421, u. a. nennen diese Art, Geschichte und Kirchengeschichte zu betreiben, Historismus; vgl. dazu auch oben Abschnitt 3.5.3. und unten Abschnitt 11.2. 2  Hermann Reuter: Ueber Schleiermacher’s ethisches System und dessen Verhältniß zur Aufgabe der Ethik jetziger Zeit, in: Theologische Studien und Kritiken 17 (1844),

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das Zeitalter Papst Alexanders III. eröffnete Reuter im folgenden Jahr mit vielfach an Schleiermacher erinnernden Reflexionen über die unsichtbare (ideale) und sichtbare (wirkliche) Kirche – letztere entwickle und vervollkommne sich, erstere bleibe die Quelle der Entwicklung –, über Freiheit und Notwendigkeit und über den Einzelnen als Exponenten der Masse.3 Aus der fünfzehn Jahre später erschienenen zweiten Auflage spricht schon ein anderer Geist: Reuter merkt an, das Werk trage wohl noch immer einige Unvollkommenheiten, aber eine wissenschaftliche Kirchengeschichte zu schreiben sei eben auch etwas anderes als eine Anthologie interessanter Einzelheiten, die als „Ideen“ verkauft würden. Gerade die politische Seite der Kirchengeschichte werde seit langem ganz vernachlässigt, eigene Forschungen zu ihr und damit zur welthistorischen Seite des Christentums kämen praktisch nur von den Profanhistorikern. Man könne aber die Kirchengeschichte nicht in die engen Grenzen nach Neander (und eben auch Schleiermacher, den Reuter aber nicht nennt) einschließen.4 – Zusammen mit seinem Schüler Theodor Brieger begründete Reuter 1876 die Zeitschrift für Kirchengeschichte als Fachorgan für die kirchengeschichtliche Forschung. Im Jahr 1886 blickte Adolf (von) Harnack im ersten Band seiner neuen Dogmengeschichte auf die erste Hälfte des Jahrhunderts zurück: „Der grosse geistige Umschwung am Anfange unseres Jahrhunderts, der in der Hauptsache als Reaction gegenüber den Bestrebungen der rationalistischen Epoche zu gelten hat, veränderte auch die Auffassungen von der christlichen Religion und ihrer Geschichte“.

Harnack unterscheidet drei Richtungen der nachrationalistischen Zeit: die Schleiermacher-Neandersche, die Hegelsche und die konfessionelle, wobei die konservativen Elemente der beiden ersten zum Auf bau des modernen Konfessionalismus mitgewirkt hätten. „Allen diesen Richtungen gemeinsam ist das Bestreben, die Geschichte wirklich zu verstehen (sei es als Entwickelung, sei es als That der Individuen) und aus ihr ehrfürchtig zu lernen; hierin und in der vertiefteren Auffassung vom Wesen und der Bedeutung der positiven Religion lag der Fortschritt über den Rationalismus hin­ aus.“

Der Hegelschen Richtung schreibt Harnack (speziell für die Dogmengeschichte) dabei das unvergängliche Verdienst zu, zu einer einheitlichen GesamtauffasS.  567–632. Vgl. Theodor Kolde: Art. Reuter, Hermann, gest. 1889, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3.  Aufl., 16, Leipzig 1905, S.  696–703, hier 698. 3  Hermann Reuter: Geschichte Alexanders des Dritten und der Kirche seiner Zeit, Band 1, Berlin 1845, S.  1–8 4  Hermann Reuter: Geschichte Alexanders des Dritten und der Kirche seiner Zeit, 2.  Aufl., Band 1, Leipzig 1860, S. VI–VIII. – Neanders Frömmigkeit hat Reuter dabei hoch geachtet; er soll seinen Hörern gesagt haben, jeder Theologe müsse mindestens einen Band der Neanderschen Kirchengeschichte gelesen haben, vgl. Kolde: Reuter, S.  697.

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sung gelangt zu sein; allerdings sei sie, was den Respekt vor den historischen Tatsachen und die Einbeziehung der universalhistorischen Perspektive betreffe, hinter den kritischen Rationalismus wieder zurückgefallen. August Neander wiederum habe gegenüber dem Hegelianer Ferdinand Christian Baur eine lebendigere und zutreffendere Auffassung des Christentums gehabt und sich durch Vielseitigkeit der Gesichtspunkte und ein feines Verständnis individueller Bildungen ausgezeichnet, habe für historische Entwicklungen aber weniger Sinn gehabt.5 Bevor wir nach Spuren Schleiermachers in der weiteren Entwicklung der kirchengeschichtlichen Wissenschaft suchen, zwei Vorbemerkungen: 1. Es ist eine oft beschriebene Eigenart der Schleiermacherschen Wirkungsgeschichte, daß es (nicht nur) in der Theologie kaum einen gibt, der von Schleiermacher nicht angeregt und beeinflußt wäre, daß es aber schwerlich gelingt, eine geschlossene, einheitliche Schule Schleiermachers auszumachen.6 2. Zu Schleiermachers Hörern in der Kirchengeschichte gehörten auch August Neander und Karl Rudolf Hagenbach, von denen der letzte ein tüchtiger Kirchenhistoriker war und der erste sogar zu den bedeutendsten Vertretern der Disziplin in den letzten Jahrhunderten gehört. Auf die Kirchengeschichtswissenschaft gewirkt hat Schleiermacher trotzdem sicherlich weniger durch seine Vorlesungen oder sonstige Arbeiten darüber als durch seine systematischen Arbeiten wie die theologische Enzyklopädie und die Glaubenslehre.

10.2.  Vermittlung von Kirchlichkeit und historisch-kritischer Forschung Für die historische Theologie meinte Schleiermacher, daß erst die Verbindung und Vermittlung von kirchlich gebundener christlicher Frömmigkeit und historisch-kritischer Forschung sie als Wissenschaft konstituiere. Eine Nachfolge Schleiermachers kann man auf diesem Gebiet also zunächst dort sehen, wo der Forscher sich an Schrift und Kirchenlehre gebunden weiß, aber eben auch den Regeln der philologischen und historisch-kritischen Wissenschaft verpflichtet 5 

Adolf (von) Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 1, Tübingen 1886, S.  29–31 6 Vgl. Friedrich Lücke: Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S.  745–813, hier 756–760; Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Band 1, Bonn 1870, S.  465–470. 520–541; Franz von Frank: Geschichte und Kritik der neueren Theologie, insbesondere der systematischen, seit Schleiermacher, 4.  Aufl., hg. von Richard Grützmacher, Leipzig 1908, S.  136–138; Stephan: Die Geschichte, S.  127. 171–175; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 5, Gütersloh 1952, S.  364–366. 375–379; Bengt Hägglund: Geschichte der Theologie, München 1983, S.  281. 288; Tobias Kirchhof: Der Tod Schleiermachers, Leipzig 2006, S.  93–103.

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ist, wo er also die Extreme einer unwissenschaftlichen Buchstabengläubigkeit, eines geistlosen Pragmatismus und einer spekulativen Schwärmerei vermeiden will und die kirchliche Mitte sucht, etwa im Sinne der Ankündigung der Zeitschrift „Theologische Studien und Kritiken“ von 1827.7 Insofern nennt sich etwa der Jenenser Dogmengeschichtler Ludwig Friedrich Otto Baumgarten-Crusius einen Schüler Schleiermachers, dem er nie begegnet sei,8 und insofern schreibt der Schweizer Theologe Karl Rudolf Hagenbach in der Widmung seiner theologischen Enzyklopädie an Schleiermacher (an dessen Kurze Darstellung sich Hagenbach vielfach anlehnt) und an Wilhelm Martin Leberecht de 7  Alf Christophersen: Friedrich Lücke (1791–1855), Theologische Bibliothek Töpelmann 94, Band 2, Berlin und New York 1999, S.  421–424. Dort heißt es u. a.: „Die Herausgeber tragen keine Scheu, sich zu dem einfachen biblischen Christenthum in dem Sinne zu bekennen, daß sie dasselbe für das wahrhaftige Wort und Heil Gottes halten. Allein eben deshalb, weil sie in dem Evangelium das Wort der ewigen Wahrheit selbst anerkennen, sind sie fest überzeugt, daß dasselbe als Licht und Leben zugleich nicht weniger unsere Erkenntniß und Wissenschaft, als unsern Glauben in Anspruch nimmt, und daß, so wenig es eine wahrhaft christliche Theologie ohne christlichen Glauben geben kann, eben so sehr eine die edle Gottesgabe der Vernunft und Wissenschaft verachtende Theologie ein Unding ist. Vielmehr halten wir dafür, daß zumal in der evangelischen Kirche, welche eben sowohl durch freye Wissenschaft als lebendigen Glauben geboren ist und besteht, alles wahre Gedeihen der Theologie davon abhängt, daß sich Glaube und Wissen in ihr befreunden und einander durchdringen, daß aber das wissenschaftliche Element nur in dem Maaße fähig ist, sich mit dem religiösen innig zu verbinden, in welchem es, von allen äußeren Fesseln unabhängig, nur dem freien Gesetze der Wahrheit gehorcht, nichts weniger fürchtet, als die Höhen und Tiefen der Erkenntniß, wenn auch durch Zweifel der Weg dahin führen sollte, nichts so sehr aber scheuet und flieht, als auf der einen Seite die Knechtschaft des Buchstabens und aller falschen Autorität, und auf der andern die Ungebundenheit und Gesetzlosigkeit des schwärmerischen Geistes.“ 8  Ludwig Friedrich Otto Baumgarten-Crusius: Ueber Dr. Friedrich Schleiermacher, seine Denkart und sein Verdienst, Jena 1834, S. III f. Von Schleiermachers kirchenhistorischen Arbeiten lobt Baumgarten-Crusius den Aufsatz „Ueber den Gegensaz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität“; Schleiermacher habe die Geschichte des Christentums in Beziehung auf die Glaubenslehre und von ihr ausgehend erforscht (ebd., S.  9 f.). Vgl. auch ders.: Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, Band 1, Jena 1832, S.  11. 17–19. 22 f.; ders.: Compendium der christlichen Dogmengeschichte, Band 1, Leipzig 1840, S.  3 –6. Baumgarten-Crusius grenzt sich hier einerseits von einer Pragmatik ab, die die Prinzipien von Geist und Freiheit nicht wahrnehme und das Bleibende aus den Augen verliere, andererseits von einer einseitig idealen, spekulativen Konstruktion der Entwicklung. – Johann Auer: Art. Dogmengeschichte, in: Lexikon für Theo­ logie und Kirche, 2.  Aufl., 3, Freiburg 1959, Sp.  463–470, hier 468, und Kirchhof: Der Tod, S.  98 f., nennen zusammen mit Baumgarten-Crusius auch Veit Engelhardt (Erlangen) und Friedrich Karl Meier (Gießen) als Schleiermachers Schüler. Friedrich Karl Meier: Dogmengeschichte für akademische Vorlesungen, Gießen 1840, S. VI f. 8 f., will die Dogmen­ geschichte in der Tat wie Schleiermacher genetisch-organisch behandeln, ohne daß mir aber eine nähere Beziehung zu Schleiermacher evident scheint (zumal sich Meier nicht auf Schleiermacher, sondern auf Isaak August Dorner und Ferdinand Christian Baur beruft; erst die von Gustav Baur bearbeitete zweite Auflage [Gießen 1854] würdigt Schleiermacher eigens und zwar als den Überwinder des unfruchtbaren Gegensatzes zwischen Rationalismus und Supranaturalismus [S.  360–362]). Noch weniger ist das bei Engelhardt der Fall (vgl. unten Abschnitt 10.5.).

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Wette (nicht nur Hagenbachs weiland Lehrer in Berlin, sondern auch sein Kollege in Basel): „und nur in wiefern man das Einverstandensein über die wesentlichsten Grundsätze der Wissenschaft eine Schule nennen darf, und mithin zu Ihrer Schule Alle die gehören, welche nicht nur keinem der beiden Extreme huldigen, sondern auch die viel gepriesene Mitte weder in einer eklektischen Verstandesempirik, noch in den neblichten Regionen einer willkürlich deutelnden Spekulation, sondern allein auf dem historisch-philosophischen Wege suchen, werde ich es mir stets zur Ehre anrechnen, mich unter Ihre dankbaren Schüler zählen zu dürfen“.9

Hagenbach hatte 1821–23 in Berlin studiert und dort eine Anzahl Vorlesungen Schleiermachers gehört, auch die Kirchengeschichte,10 die er ein „lebendiges Gemälde“ nannte.11 Als seine Lehrer in der Kirchengeschichte nennt er noch Johann Carl Ludwig Gieseler und August Neander.12 – Der von Schleiermacher und Neander beeinflußte, in Heidelberg und Halle wirksame reformierte Theo­ loge Carl Ullmann schrieb 1829 in einem programmatischen Aufsatz für die Theologischen Studien und Kritiken, der Kirchenhistoriker brauche ebenso Vernunft wie Frömmigkeit, ebenso den Kopf wie das Herz und müsse alle Einseitigkeit nach der einen oder anderen Richtung vermeiden. Ansonsten bedürfe es für die Kirchengeschichte unbestechlicher Forschung anhand der Quellen (ohne aber über der Analyse das Ganze aus den Augen zu verlieren), einer poetischen Gabe für die Darstellung, eines milden und toleranten, gegenüber dem Individuellen verständnisvollen Urteils über das Vergangene und schließlich der Kenntnis und Erfahrung auch des praktischen Lebens. Anders als Schleier­ macher fordert Ullmann vom Kirchenhistoriker auch Überparteilichkeit.13 Wenn Ullmann das Christentum die Geschichte gewordene Vernunft nennt,14 zeigt er, daß er auch Hegel studiert hat. Der oben erwähnte Hermann Reuter schließlich, Bahnbrecher einer neuen Weise der Kirchengeschichtswissenschaft, schrieb in seinen Augustinischen Studien, dem Fazit seiner Lebensarbeit, neue Einsichten (gerade in der Dog9  Karl Rudolf Hagenbach: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, Leipzig 1833, S. VIII f. Vgl. auch ebd., S.  204–212, wo Hagenbach die rechte Mitte sucht zwischen Pragmatismus, Hegelscher Spekulation und Pietismus. 10 Vgl. Joachim Boekels: Schleiermacher als Kirchengeschichtler, Schleiermacher-Archiv 13, Berlin und New York 1994, S.  35 f. 11  Hagenbach: Encyklopädie1, S.  2 01. – Karl Rudolf Hagenbach: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, 2.  Aufl., Leipzig 1845, S.  228, nannte die inzwischen erschienene Bonnellsche Ausgabe von Schleiermachers Kirchengeschichte „ein werthvolles Geschenk aus dessen literarischem Nachlasse, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, mehr eine großartige Skizze in Schleiermacher’s Geiste, als ein Geschichtswerk“. 12  Hagenbach: Encyklopädie1, S.  210 f. 13  Carl Ullmann: Ueber die Stellung des Kirchenhistorikers in unserer Zeit und einige besonders wesentliche Eigenschaften desselben, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), S.  667–684. Vgl. Meinhold: Geschichte 2, S.  165 f. 14  Ullmann: Ueber die Stellung, S.  673 f.

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mengeschichte) verdankten sich oft nicht der kritischen Quellenarbeit und Kombinatorik, sondern dem auf die Geschichte angewendeten dogmatischen und religionsphilosophischen Interesse, spezifisch theologischen Gedanken also, wie sie dem reinen Historiker verborgen seien; auch für solche Einsichten und Konstruktionen müßte freilich noch der streng historische Beweis erbracht werden, sonst blieben sie bloße dogmatische Vorurteile. Ansonsten werde der Forscher oft darauf gestoßen, daß es in der Forschung keinen beständigen, stetigen Fortschritt gebe, sondern daß vieles, was etwa die Patristik neu zutage fördere, schon den alten Benediktinern bekannt gewesen, in der Zwischenzeit aber in Vergessenheit geraten sei.15 Schließlich aber könne die geschichtliche Entwicklung des Christentums nur der verstehen, der selbst persönlich im christlichen Leben stehe; ohne das werde die Kirchengeschichte zur widerwärtigen Karikatur. „Nur ein Christ, der es von ganzem Herzen ist, kann eine Kirchengeschichte geben.“16

10.3.  Die Kirche als Lebensgemeinschaft im Geiste Christi Von Einfluß auch auf die Anschauung der Kirchengeschichte war sodann Schleiermachers Ekklesiologie, sein Begriff von der christlichen Kirche als der von Christus gestifteten, vom Geist Christi durchwirkten Gemeinschaft des religiösen Lebens, in der sich der Geist immer wieder neu realisiert. Das Wesen der christlichen Religion wie aller Religion sei das gemeinsame Leben auf der Grundlage des Gefühls, nicht Denken, Erkenntnis oder Rechtgläubigkeit; vielmehr stellten Erkenntnis und Lehre ihrerseits Funktionen des gemeinsamen Lebens dar.17 Die Gegenposition dazu vertrat etwa Carl Rosenkranz, der in Halle vom Anhänger Schleiermachers zum Hegelianer geworden war:18 Die Religion sei nicht Gefühl, sondern Erkennen und Denken der Idee; Religion sei also Theologie, Theologie sei ihrem Gehalt nach systematische Theologie, und das Ganze falle in eins mit der Philosophie. Und in der Kirche hätten Ver15 

Hermann Reuter: Augustinische Studien, Gotha 1887, S.  1 f. Reuter: Augustinische Studien, S.  514 f. 17  Am Ende der Augustana-Predigten etwa warnt Schleiermacher davor, das Christentum als Religion der Liebe und der Gemeinschaft in Intellektualismus und Dogmatismus aufzulösen (Predigt 160 [7.11.1830] über Phil 1,6–11 [Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, S.  212– 216; KSP 3, S.  149–152]); dort heißt es u. a.: „Wie oft ist man nicht dahin gerathen auch auf dem Gebiet des Glaubens die Entwikklung der Gedanken für etwas hohes und wichtiges zu halten ganz unabhängig von den Früchten der Gerechtigkeit, ja sogar ganz unabhängig von der beseligenden Kraft des Glaubens, welcher doch der Gegenstand jener Gedanken war.“ 18  Vgl. KGA I/13,1, S. LX–LXV; Rolf Schäfer spricht dort von einer regelrechten Bekehrung Rosenkranz’ zu Hegel. 16 

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fassung und Kultus auch eben das zum Zweck: die spekulative Erkenntnis und Gewißheit der Wahrheit.19 Schleiermachers Kirchenbegriff war für Kirchenhistoriker verschiedener Richtungen insofern attraktiv, als er eine Möglichkeit zeigte, dem Einzelnen, Individuellen gerecht zu werden, ohne das Gemeinsame und die Einheit zu verlieren, und umgekehrt diese Einheit nicht rein ideal als spekulative Idee oder dogmatische Rechtgläubigkeit zu fassen. Zu denen, die Schleiermacher hier folgten, gehörte sein Schüler Hagenbach.20 Der bedeutende katholische Theologe Johann Adam Möhler, der 1822/23 vor dem Antritt seiner Tübinger kirchengeschichtlichen Dozentur auf einer Reise u. a. in Göttingen den großen Kirchenhistoriker Gottlieb Jacob Planck und in Berlin Schleiermacher und August Neander kennengelernt hatte, lehnt sich in seinem frühen Werk über die Einheit in der Kirche ebenfalls vielfach an Schleiermachersche Gedanken an: Die Mitteilung des Geistes Christi stifte die Kirche als gemeinsames Leben, der Geist habe gegenüber dem geschriebenen Wort (auch des Neuen Testaments) und gegenüber der formulierten Lehre die Priorität, und im Geist vertrügen sich die Einheit der Kirche und die Vielfalt der christlichen Individualität.21 19  Carl Rosenkranz: Encyklopädie der theologischen Wissenschaften, Halle 1831, S. VIII–XXIV. XXXIV. 3. 176. 246–248. Vgl. Christian Friedrich Kling: Begriff, Geschichte und Litteratur der Dogmengeschichte, in: Theologische Studien und Kritiken 13 (1840), S.  1051–1152; 14 (1841), S.  749–852, hier 782 f.; Werner Elert: Der Kampf um das Christentum, München 1921, S.  109–111. Zu Hegels Position vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Religion 1821 (Vorlesungen 3, S.  24–27. 113–120. 159–163); ders.: Philosophie der Religion 1831 (Vorlesungen 3, S.  351–357). Vgl. zum Verhältnis der Hegelschule zu Schleiermachers Religionsverständnis auch Walter Jaeschke: Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers, in: Hg. Kurt-Victor Selge: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Teilband 2, Schleiermacher-Archiv 1,2, Berlin-West und New York 1985, S.  1157–1169. 20  Hagenbach: Encyklopädie1, S.  19–33. 196–201. Hagenbach hat auch eine mehrbändige Kirchengeschichte veröffentlicht, die aus seinen Vorlesungen darüber hervorgegangen ist und die nicht nur für das akademische Publikum bestimmt war; vgl. Karl (von) Hase: Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen, Band 1, Leipzig 1885, S.  55. 21  Johann Adam Möhler: Die Einheit in der Kirche, oder das Princip des Katholicismus, dargestellt im Geiste der Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte, Tübingen 1825, S.  III f. 3–62. 129–171. Vgl. Harald Wagner: Die eine Kirche und die vielen Kirchen, Beiträge zur ökumenischen Theologie 16, München 1977, S.  52 f. 67–76. 197 f. – In der etwas späteren Symbolik wendet Möhler das Prinzip der Einheit in der Vielheit dann gegen den Protestantismus an: Der Katholizismus unterscheide zwischen dem verbindlichen gemeinsamen Rahmen, dem Dogma, und der individuellen Ausgestaltung, wohingegen der Protestantismus ein zur Allgemeinheit erhobenes Individuelles sei oder, da das keine stabile Gemeinsamkeit stiften könne, ein Fahrenlassen des Allgemeinen (Johann Adam Möhler: Symbolik, oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten, nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, 2.  Aufl., Mainz und Wien 1833, S. XXIII– XXV; freilich kann man fragen, ob nicht die von Pius IX. und Pius XII. proklamierten Dogmen, die Möhler noch nicht kannte, mit größerem Recht ein zur Allgemeinheit erhobenes Individuelles genannt werden können).

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D. Schluß

Auch in Möhlers Vorlesungen zur Kirchengeschichte klingt Schleiermachers Anschauung an.22 Zu nennen ist hier weiter der Mecklenburger Lutheraner Theodor Kliefoth. Kliefoth, später als Superintendent und Domprediger in Schwerin einer der profiliertesten Vertreter des Neuluthertums, schrieb als junger Theologe und Erzieher des späteren Großherzogs Friedrich Franz’ II. eine geistvolle Einleitung in die Dogmengeschichte: Das Christentum sei eine Kraft und Substanz, die sich in vielerlei Gestalt verwirkliche und mit dem menschlichen Leben verflechte und die dabei sowohl Einzelne als auch Gruppen zu ihren Organen mache. Anders als etwa der Geist der Wissenschaft sei der christliche Geist dem Menschen nicht angeboren, sondern sei erst durch Gottes Tat in Christus in die Geschichte der Menschheit eingeführt worden; wo immer er in der Menschheit auftrete, da sei er durch Christus vermittelt.23 Einmal aufgenommen, ent­ wickele sich das Christentum in denjenigen allgemeinen Formen, unter denen der Mensch betätigt und wirksam macht, was er sich geistig angeeignet hat: als Gefühl (passiver Affekt) und als bewußtes Erkennen und Handeln, wobei Erkenntnis und Tat gleich ursprünglich aus dem Gefühl hervorgehen. (Hier ist Kliefoths Anlehnung an Schleiermacher besonders deutlich; nur daß nach Kliefoth Erkenntnis und Tat nicht nur vom Gefühl ausgehen und sich unter­ einander beeinflussen, sondern auch auf das Gefühl rückwirken.) 24 Eine geschichtliche Entwicklung kommt nun ins Christentum durch die Wechselwirkung zwischen Individualisierung einerseits und dem Streben nach Ausgleich und Einheit andererseits; ohne die eine wäre das Christentum uniform und tot, ohne das andere völlig diffus. Da nun bei dem Austausch untereinander die 22 Vgl. Johann Adam Möhler: Vorlesungen zur Kirchengeschichte (wohl 1823) (hg. von Reinhold Rieger, Band 1, München 1992, S.  30–32): Das Prinzip der Kirchengeschichte, das sie zu einer Einheit mache, sei die Realisierung des Reiches Gottes; ders.: Vorlesungen zur Kirchengeschichte (wohl 1826) (hg. Rieger 1, S.  3 –10): Ein Grundgedanke verbinde die Geschichte zum Organismus, mache sie zum Kunstwerk und erhebe sie über Chronik und Pragmatik; die Kirchengeschichte müsse von Christus und seinem Geist ausgehen und könne nicht auf den Gedanken der Gemeinschaft verzichten; der christliche Glaube sei die Voraussetzung für Verständnis und Darstellung der Kirchengeschichte; ders.: Vorlesungen zur Kirchengeschichte (wohl 1827) (hg. Rieger 1, S.  58 f.): Die leitende Idee der Kirchengeschichte sei die Lebenseinheit der Gläubigen. – Vgl. aber Martin Ohst: Dogmenkritik bei Semler und Schleiermacher, in: Hg. Ulrich Barth, Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf und Wilhelm Gräb: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme, Theologische Bibliothek Töpelmann 165, Berlin und Boston 2013, S.  617–645, hier 641, wonach auch beim frühen Möhler mit der – unter dem von Schleiermacher entlehnten Begriff des Gesamtlebens beschriebenen – Einheit in der Kirche nichts anderes gemeint sei als die Einheit der unter dem Papst stehenden hierarchischen Heilsanstalt. 23  Theodor Kliefoth: Einleitung in die Dogmengeschichte, Parchim und Ludwigslust 1839, S.  7–11 24  Kliefoth: Einleitung, S.  14 f.; vgl. Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  17–24); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  3,2–5 (KGA I/13,1, S.  22–32).

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Notwendigkeit entsteht, ein verbindliches Gemeinsames festzusetzen, wird eine kirchliche Organisation geschaffen und wird auf Seiten der Erkenntnis versucht, den Gehalt des Erkannten und gemeinsam Geglaubten in adäquate Begriffe zu fassen; dies Letzte ist das Dogma. Indem die Subjektivität des Einzelnen darin zugunsten des gemeinsamen Glaubens zurücktritt, wird das Dogma zum Symbol der Gemeinschaft.25 – Kliefoth wird bald mehr in der Nachfolge Hegels gesehen, bald mehr in der Nachfolge Schleiermachers.26 Er selbst schreibt, er schließe sich an Schleiermachers und nicht an Hegels Begriff der Religion an, bekennt aber zugleich, von Hegel viel über eine geistige Auffassung der Geschichte gelernt zu haben.27 Auch der Erlanger lutherische Dogmenhistoriker Gottfried Thomasius leitet das Dogma und seine Entwicklung aus einer an Schleiermacher angelehnten Kirchentheorie ab: Das Christentum sei als neues Lebensprinzip und sittlich-religiöse Lebenskraft in die Welt gekommen, als Bewußtsein der durch Christus wiederhergestellten Gottesgemeinschaft; der Geist Christi sei die nicht versiegende Quelle des christlichen Lebens. Als vom Geist Christi gebildeter und geleiteter Organismus habe die Kirche den Beruf, den Gemeinglauben lehrhaft zu formulieren; dies und nicht, wie gern behauptet, die Vermischung urchristlicher Glaubensinhalte mit griechischer Philosophie durch die Kirchenväter sei die Ursache der Dogmenbildung und -entwicklung.28 Von Schleiermacher inspiriert zeigt sich auch der Erlanger (später Leipziger) Kirchenhistoriker Albert Hauck. Der heilsgeschichtlichen Theologie Erlangens nahestehend, schreibt Hauck, die Kirchengeschichte als die Bewegung des kirchlichen Gesamtlebens stelle sich dar als Geschichte der Wirksamkeit des Geistes Christi, der einzelne Menschen in die christliche Heilsgemeinschaft rufe und sammle; in der wirklichen Ge25 

Kliefoth: Einleitung, S.  15–29 Kling: Begriff, S.  831–833, rechnet Kliefoth zu Schleiermachers Schule. Mehr zu Schleiermacher als zu Hegel rechnen ihn Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre 1, S.  521 f., und Karl Gerhard Steck: Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: Hg. Wilhelm Schneemelcher: Das Erbe des 19. Jahrhunderts. Referate vom deutschen evangelischen Theologentag 7.–11. Juni 1960, Berlin-West 1960, S.  21–66, hier 49 f. – Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte1 1, S.  31, und R. Seeberg: Die Kirche3, S.  372; ders.: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 1, 3.  Aufl., Leipzig und Erlangen 1922, S.  23, meinen, Kliefoth folge mehr Hegel als Schleiermacher. Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Evangelium und Dogma, Stuttgart 1959, S.  154 f., Martin Hein: Lutherisches Bekenntnis und Erlanger Theologie im 19. Jahrhundert, Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten 7, Gütersloh 1984, S.  137, und Karlmann Beyschlag: Grundriß der Dogmengeschichte, Band 1, 2.  Aufl., Darmstadt 1988, S.  35, rechnen Kliefoth ganz Hegel zu. Nach Martin Ohst: Theodor Kliefoths „Einleitung in die Dogmengeschichte“, in: Kerygma und Dogma 38 (1992), S.  47–70, bes. 51–57. 62. 69, hat Kliefoth Schleiermacher wie Hegel rezipiert, allerdings unter allerlei Umbiegungen ins Vorkritisch-Gegenständliche und Supranaturale; die Einleitung sei noch mehr ein Dokument konservativer Vermittlungs­ theologie als des späteren Neuluthertums, für das Themen wie Amt und Liturgie, die in der Einleitung keine Rolle spielen, größeres Gewicht hätten. 27  Kliefoth: Einleitung, S.  7. 15 28  Gottfried Thomasius: Die Christliche Dogmengeschichte als Entwicklungs-Geschichte des kirchlichen Lehrbegriffs, Band 1, Erlangen 1874, S.  1–10. 19 f.; vgl. Hein: Lutherisches Bekenntnis, S.  130–132; Karlmann Beyschlag: Die Erlanger Theologie, Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 67, Erlangen 1993, S.  96–98. 26 

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schichte gehe die Wirksamkeit des Geistes aber untrennbar durcheinander mit menschlicher Individualität, Freiheit und mit Irrwegen. Im Gegensatz zu Schleiermacher grenzt Hauck die Kirchengeschichte von der Religionsgeschichte und der Weltgeschichte ab: Diese beschrieben nicht die Aneignung des Menschen durch den göttlichen Geist, sondern die Entfaltung der natürlichen Kräfte des Menschen auf den verschiedenen Gebieten der Kultur.29

Der wohl meistgelesene und gefeiertste Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts war Karl (von) Hase; als Gelehrtengestalt prägte er die Universität Jena von 1830 bis zum Ende des Jahrhunderts.30 Obwohl Hase am Anfang seiner Karriere eher zufällig und aus universitätsinternen Gründen zum Fach Kirchengeschichte kam,31 wurde seine zunächst als Kompendium für Vorlesungen verfaßte Kirchengeschichte zum Lern- und Lesebuch für zwei Generationen von Studenten und Pfarrern.32 Viel gerühmt wurde Hases Kunst der plastischen Darstellung, nicht zuletzt sein „Repräsentativsystem“,33 d. h. seine Fähigkeit, anhand pointiert charakterisierter Individuen große Bewegungen und ganze Zeitalter lebendig zu machen.34 Den Weg zur spezialisierten Kirchengeschichtswissenschaft ist Hase nicht mehr mitgegangen. Hases Theologie verband eine historisch-kritische Grundhaltung, Sympathie für die geschichtlich gewordenen Gestalten des Christentums, die Freude an 29  Albert Hauck: Art. Kirchengeschichte, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2.  Aufl., 7, Leipzig 1880, S.  732–740. Vgl. dazu Meinhold: Geschichte 2, S.  316–318; Beyschlag: Die Erlanger Theologie, S.  132 f.; Martin Teubner: Historismus und Kirchengeschichtsschreibung, Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 94, Göttingen 2008, S.  268–282. 337–344. Teubner zählt verschiedene Parallelen und Übereinstimmungen Haucks mit Schleiermacher (den er vor allem aus Hanna Jurschs Monographie und anderer Sekundärliteratur zu kennen scheint), Neander, Hagenbach, Richard Rothe, Johann Gustav Droysen u. a. auf und schreibt oft von Anlehnung und Übernahme, ohne aber zu einem überzeugenden Gesamtbild von Haucks Auffassung und deren Genese zu gelangen. 30 Vgl. Magdalena Herbst: Karl von Hase als Kirchenhistoriker, Beiträge zur historischen Theologie 167, Tübingen 2012, S.  64–68. 31 Vgl. Bernd Jaeger: Karl von Hase als Dogmatiker, Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten 12, Gütersloh 1990, S.  24–28. 32 Vgl. Herbst: Karl von Hase, S.  9 2–100. 33  Hase: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.   10. Vgl. ders.: Kirchengeschichte, 9.  Aufl., Leipzig 1867, S. XV (Vorrede zur 1.  Aufl. 1834): „Wenigstens der akademische Unterricht wird nur dadurch zu einer vollen Anschauung jedes Zeitalters verhelfen, daß dieses im Leben einzelner Zeitgenossen auf ’s genauste angeschaut wird, und grade diese concrete Darstellung einzelner hoher Gestalten einer Zeit leuchtet am hellsten in der Erinnerung. Shakespeare sagt irgendwo in einem Prolog: Ich bitt’ euch, nehmt die paar fechtenden Comödianten für eine Schlacht! [König Heinrich V., Prolog] Der Geschichtschreiber kann mit gleichem Rechte sagen: Nehmt die geistigen Häupter und Repräsentanten für das Zeitalter selbst.“ 34  Ferdinand Christian Baur: Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung, Tübingen 1852, S.  237 f.; Carl Schwarz: Zur Geschichte der neuesten Theologie, 4.  Aufl., Leipzig 1869, S.  479–482; Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, München 1934, S.  179–181. 192 f.; Stephan: Die Geschichte, S.  133 f.; Meinhold: Geschichte 2, S.  230–239; Herbst: Karl von Hase, S.  237–242. 391 f.

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deren verstehender Rekonstruktion, eine bei aller Pietät freisinnige Haltung zum überlieferten Lehrbegriff und das Wissen um die historische Relativität auch des eigenen Standpunkt zu einem eigentümlichen Ganzen, das im Gegensatz stand gegen den alten Rationalismus (mit seiner Verständnislosigkeit gegen die Phänomene der Geschichte und ihre Schönheit), gegen die Erweckungsbewegung, den neulutherischen Konfessionalismus und die freie Spekulation.35 Werner Elert rechnet Hase zu den Vertretern einer Synthese zwischen Christentum und moderner Geisteskultur, nur sei die Synthese bei ihm nicht philosophisch oder ethisch, sondern ästhetisch.36 Hases Theorie des Christentums weicht von Schleiermachers System insofern ab, als Hase der subjektiven Seite der Religion durchaus eine objektive Entsprechung zuordnet (was Schleiermacher ja vermeidet, um nicht Religion und Metaphysik miteinander zu vermischen), nämlich die Offenbarung als Selbstmitteilung des Göttlichen an die Menschheit und das Verhältnis des Menschen zum Unendlichen und Göttlichen; die diesem ihrem Wesen nach unveränderliche Religion nehme in der Geschichte immer wieder neue Gestalten an, in denen sich das Gemeinsame, Identische mit unableitbar Individuellem verbinde und die zugleich den Entwicklungsstufen der Menschheit entsprächen. Das Christentum nun sei einerseits eine unter diesen geschichtlichen Gestalten, gestiftet von Jesus auf der Grundlage des jüdischen Monotheismus und sich selbst durch viele Gestaltungen entwickelnd, andererseits vollende es die Entwicklung der Religion und mache die Religion selbst ihrem Wesen nach wirklich.37 (Das Letzte erinnert an Schleiermachers Theorie von der Religion der Religionen in der fünften Rede über die Religion 38 und an Hegels Theorie vom Christentum als der vollendeten Religion, in der der Begriff der Religion sich selbst Gegenstand geworden ist.39 ) Die Religion im Allgemeinen und die Beziehung des Christentums zu ihr ist also nicht nur wie bei Schleiermacher ein Thema der Religionsphilosophie und der dogmatischen Prolegomena, sondern bestimmt 35 Vgl.

Frank: Geschichte4, S.  145–147; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  181– 184; B. Jaeger: Karl von Hase, S.  32 f. 66–69. 36  Elert: Der Kampf, S.  126–129; vgl. Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  176– 179. Nach Schwarz: Zur Geschichte4, S.  470–478, vertrat Hase einen durch den romantischen Sinn, für Geschichte, Individualität und Ästhetik verklärten, aber nicht (wie bei den einseitigen Gefühlstheologen und Erweckten) verdorbenen Rationalismus. Tatsächlich hat die Vernunft bei Hase als Organon, um die Religion zu beschreiben und einzuordnen, aber nicht mehr viel gemein mit dem Vernunftbegriff des älteren Rationalismus. Hirsch: Geschichte 5, S.  41, schreibt, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus sei ein gewöhnlicher, Hase ein ästhetisch-idealer und Schleiermacher ein mystisch vermittelnder Rationalist. 37  Hase: Dogmatik4, S.  1–6. 10 (§  2 –7. 11. 18); ders.: Kirchengeschichte9, S.  2 (§  4 ); ders.: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  2 . 13 f. – Hase beschränkt im Unterschied zu Schleiermacher die Religion nicht nur nicht auf die subjektive Seite, sondern will diese auch nicht einseitig bloß als Abhängigkeitsgefühl bestimmen; vgl. Hase: Dogmatik4, S.  33 f. (§  4 4); B. Jaeger: Karl von Hase, S.  97 f. 38  Über die Religion, Berlin 1799, S.  293–310 (5. Rede) (KGA I/2, S.  317–325) 39  Hegel: Philosophie der Religion 1821 (Vorlesungen 3, S.  2 8 f.; Vorlesungen 5, S.  1–5)

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auch die materiale Dogmatik; 40 Hase widerspricht, wenn Schleiermacher nur die Lehre einer bestimmten Kirchengemeinschaft zu einer bestimmten Zeit zum Gegenstand der dogmatischen Darstellung macht.41 Aber auch Hases Kirchengeschichte geht von dem Satz aus, daß die Kirche die von Christus gestiftete Gemeinschaft des religiösen Lebens sei, die lebendige Verwirklichung seines Geistes in menschlichen Individuen und Charakteren; 42 „Leben“ ist bei Hase der Begriff, der die subjektive und objektive Seite der Religion verbindet.43 „Die Kirchengeschichte hat nachzuweisen, wie das Heil, das von Oben gekommen ist, in die Besonderheit eigenthümlicher Menschen und Völker eingehend, in immer wechselnden Gestalten sich dargestellt hat, und wie eine die Jahrhunderte durchschreitende Gemeinde forschender und irrender Menschen versucht hat das Unendliche zu begreifen, das ihnen doch nur als ein Geheimniß offenbart worden ist.“44

Indem die Geschichtsanschauung die einzelnen Ereignisse als Erscheinungen dieses Geistes auffasse, erhebe sie sich über die pragmatische Geschichte zur kritisch-genetischen Geschichte. Hase grenzt sich sowohl von zu stark konstruierenden Modellen der Geschichte etwa bei Hegels Schülern ab als auch von denen, die das Vergangene am Maßstab der eigenen Vernünftigkeit messen und aburteilen.45 Wie Schleiermacher sagt er, daß eine Kirchengeschichte, die ohne Interesse für die Kirche und ohne das Ziel, das Selbstbewußtsein der Kirche zu klären und zu steigern, verfaßt wäre, wertlos wäre. Dabei ist es ihm ein Vorzug gerade der protestantischen Sicht, die eigene Position nicht absolut zu setzen, sondern auch die dem Protestantismus entgegenstehenden Gestaltungen des Christentums zu verstehen und in ihrem Wert und ihrer Berechtigung anzuer40  Hase: Dogmatik4, S.  1. 5–7 (§  1. 10–12). Hases materiale Dogmatik teilt sich dementsprechend in zwei Hauptteile, die Ontologie (die Religion als Christentum) und die Christologie (das Christentum als Religion, die lebendige geschichtliche Wirksamkeit Jesu); vgl. B. Jaeger: Karl von Hase, S.  9 0–93. Zu Schleiermacher vgl. oben Abschnitt 3.4.2. und 5.2. 41  Hase: Dogmatik4, S.  8 (§  14); vgl. Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Beiträge zur historischen Theologie 77, Tübingen 1989, S.  261; B. Jaeger: Karl von Hase, S.  22 f. Vgl. auch oben Abschnitt 3.6. Zu Hases Abgrenzung von Schleiermacher vgl. auch Karl Hase: Anti-Roehr, Theologische Streitschriften 3, 2.  Aufl., Leipzig 1837, S.  60–64. 42  Hase: Kirchengeschichte9, S. XIII f. (Vorrede zur 1.  Aufl. 1834). 1 (§  1); ders.: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  2 . 15. 17. Vgl. Herbst: Karl von Hase, S.  200–207. 212– 219. 43  Hase: Dogmatik4, S.  1. 5 (§  3. 10); vgl. B. Jaeger: Karl von Hase, S.  82. 44  Hase: Kirchengeschichte9, S. VIII f. (Widmung an Großherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach aus der 8.  Aufl. 1858), vgl. 2 (§  5 ). 45  Karl Hase: Die Tübinger Schule, Leipzig 1855, S.  70–76. 94–102; ders.: Kirchengeschichte9, S. XV f. (Vorrede zur 1.  Aufl. 1834). XVIII f. (Vorrede zur 3.  Aufl. 1837); ders.: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  8. 32. 52 f. Umgekehrt bescheinigt Baur: Die Epochen, S.  237–244, bei aller Anerkennung Hases Kirchengeschichte, daß in ihr vor dem Besonderen, dem interessanten Einzelnen, das Verständnis des Ganzen zu kurz komme. Vgl. dazu Herbst: Karl von Hase, S.  313–323. 326–341.

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kennen.46 – Um das Leben der Kirche adäquat zu erfassen, fordert Hase das „Bürgerrecht“ in der Kirchengeschichte auch für „einige ungewohnte Gegenstände“ ein wie die Bau- und Kunstgeschichte.47 Daß in der Kirchengeschichte stets das christliche Prinzip das eigentlich Wirksame sei, wie Schleiermacher nicht müde wird zu betonen, läßt Hase im Großen und Ganzen gelten, merkt aber an: „wie in der Weltgeschichte oft unvernünftig, so ist es in der Kirche oft unchristlich hergegangen.“48

10.4.  Das Christentums als Sauerteig in der Menschheit (Neander) Unter den großen Kirchenhistorikern des 19. Jahrhunderts ist August Neander (seit 1813 Schleiermachers Kollege in Berlin) wohl am meisten von Schleiermacher angeregt worden. Schon Neanders Übertritt vom Judentum zum evangelischen Christentum geschah unter dem Eindruck von Schleiermachers Reden über die Religion.49 Einige Monate nach seiner Taufe in Hamburg hörte Neander als Student in Halle Schleiermachers Vorlesung über Zweck und Methode des Studiums der Kirchengeschichte. Sie zeigte Neander, daß der Mittelpunkt der Theologie und ihre Wissenschaftlichkeit in der Einheit der religiösen Spekulation mit dem äußeren Leben zu suchen sei, und regte ihn zur eigenen Arbeit in der Kirchengeschichte an.50 „Obwohl er in der Vorlesung nur Einzelnes aufzeichnete zur Erleichterung der Wiederholung, so behielt er doch den Vortrag so vollständig, daß er noch nach einem Jahre einigen Theologen, welche das publicum [d. h. die öffentliche Vorlesung] Schleiermacher’s über Kirchengeschichte mit ihm gehört, dasselbe aus dem Gedächtniß dictiren konnte.“51

Nach der französischen Besetzung Halles setzte Neander seine Studien mit Unterbrechungen in Göttingen fort. Hier schloß er sich besonders an Planck an. 46  Hase: Kirchengeschichte9, S. XXIV (Vorrede zur 9.  Aufl.). 2 f. (§  5 ); ders.: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  3. 16 f. In diesem Sinne konnte Hase auch eine Polemik schreiben, die sich um ein umfassendes Verständnis des römischen Katholizismus und seiner Geisteskultur bemüht, ohne dem protestantischen Standpunkt etwas zu vergeben. Vgl. dazu auch Herbst: Karl von Hase, S.  249–252. 298–300. 47  Hase: Kirchengeschichte9, S. XIV (Vorrede zur 1.  Aufl. 1834). 1 f. (§  2 ); ders.: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  6 –8; vgl. Herbst: Karl von Hase, S.  225–228. 276–280. 48  Hase: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  14 49 Vgl. Christian Friedrich Kling: D. August Neander, in: Theologische Studien und Kritiken 24 (1851), S.  459–538, hier 527; Otto Krabbe: August Neander, Hamburg 1852, S.  22; Karl Theodor Schneider: August Neander, Schleswig 1894, S.  18 f.; Hilde Hüttmann: August Neander (David Mendel) in seiner Jugendentwicklung, Hamburg 1936, S.  19. 50 Vgl. Kling: D. August Neander, S.  529 f.; Krabbe: August Neander, S.  25 f.; Schneider: August Neander, S.  23 f.; Hüttmann: August Neander, S.  28–30. 51  Kling: D. August Neander, S.  531

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D. Schluß

Obwohl Plancks historischer Pragmatismus Neander nicht genügte, lernte er von ihm, unbestechlich nach der historischen Wahrheit zu forschen und allem und allen dabei nach Möglichkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.52 Nachdem er eine Anzahl kirchenhistorischer Monographien veröffentlicht hatte, auch in dieser Form dem Vorbild Plancks folgend, begann Neander mit seinem Hauptwerk, der Allgemeinen Geschichte der christlichen Religion und Kirche.53 Der Titel erinnert an Heinrich Philipp Konrad Henkes Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche und verrät zweierlei: Neander wollte Henkes rationalistisch verzerrte Kirchengeschichte durch eine neue Darstellung ersetzen, und er wollte dabei der Religion – noch vor der Kirche – zu ihrem Recht verhelfen. Als Kennzeichen der Neanderschen Kirchengeschichte gilt die Liebe und Pietät, mit der die Betrachtung sich in die verschiedenen Gestalten des Christentums und der christlichen Frömmigkeit einfühlt, oft selbst in das als häretisch Ausgeschiedene. So konnte Neander etwa ein feines historisches Gemälde über eine dem modernen Protestantismus so ferne Gestalt wie Bernhard von Clairvaux schaffen. Über das Christentum schreibt Neander am Anfang seiner Kirchengeschichte, es bleibe zu allen Zeiten im selben Verhältnis gegenüber der menschlichen Natur, die sich anzueignen und deren Verderbnisse zu heilen es bestimmt sei. Das Christentum sei nach Jesu Gleichnis (Matth 13,33) der Sauerteig, der die ganze Masse, die Totalität der menschlichen Natur durchsäuern und durchdringen solle.54 Kritiker meinten, Neanders Kirchengeschichte sei – unbeschadet ihrer stupenden Gelehrsamkeit – mehr erbaulich als kritisch und wissenschaftlich. Dasjenige, wofür dem Frommen das Verständnis oder Interesse fehle, erscheine nur gedämpft oder verkürzt oder werde ganz ausgeblendet: der politisch-weltliche 52 Vgl. Kling: D. August Neander, S.  4 86–488; Krabbe: August Neander, S.  2 6–29; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  159; Hüttmann: August Neander, S.  32–38. – August Neander: Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Band 2,3, Hamburg 1831, ist Planck gewidmet. In der Widmung schreibt Neander, er habe von Planck „zuerst gelernt […] dem suum cuique in der Auffassung der Geschichte nachzustreben“ (S. VII). 53 Vgl. Kurt-Victor Selge: August Neander – ein getaufter Hamburger Jude der Emanzipations- und Restaurationszeit als erster Berliner Kirchenhistoriker (1813–1850), in: Hg. Gerhard Besier und Christof Gestrich: 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, Göttingen 1989, S.  233–276, hier 247–251. 54  August Neander: Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Band 1,1, Hamburg 1825, S. VII f. 1–3; ähnlich ders.: Kleine Gelegenheitsschriften praktisch-christlichen vornehmlich exegetischen und historischen Inhalts, 3.  Aufl., Berlin 1829, S.  125–127. Vgl. Karl Rudolf Hagenbach: Neander’s Verdienste um die Kirchengeschichte, in: Theologische Studien und Kritiken 24 (1851), S.  543–594, hier 569–574; Hase: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  47 f.; Adolf (von) Harnack: Reden und Aufsätze, 2.  Aufl., Band 1, Gießen 1906, S.  206; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  162–168; Meinhold: Geschichte 2, S.  151–161; Gustav Adolf Benrath: Evangelische und katholische Kirchenhistorie im Zeichen der Auf klärung und der Romantik, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 82 (1971), S.  203–217, hier 212–214; Selge: August Neander, S.  235 f. 245 f.

10. Ausblick

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Koeffizient in der Entwicklung, der Zusammenhang mit der Wissenschafts-, Kultur- und Weltgeschichte, die institutionell-soziologische Seite der Kirche, das Dunkle, Gewaltsame, Monströse in der Geschichte des Christentums.55 Hase lobt Neander als den, der die „lebendige Anschauung“ und die „geistige Durchdringung der Thatsachen“ in die Kirchengeschichte gebracht habe, fährt aber dann fort, seine, Hases, Darstellung habe bei Neanders Schule keine Anerkennung zu erwarten, „da es allerdings nicht das Erbauliche im Volksleben war, was ich vorzugsweise auf­ suchte, sondern immer nur das religiös Charakteristische.“56

Der an Hegel geschulte große Tübinger Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur wiederum schreibt in seiner ausführlichen und sehr respektvollen Kritik Neanders, es gebe bei diesem eigentlich keine Entwicklung in der Geschichte; Christentum und Menschheit blieben sich selbst gleich und bildeten, wo jenes auf diese einwirke, verschiedene Individualitäten aus, in die sich dann der Historiker hineinversetze und in denen er den Typus des Allgemeinen wiederfinde. Insofern sei Neanders Kirchengeschichte eher eine Galerie solcher Individualitäten, und die Neanders ingenium angemessene Form sei die Monographie über Einzelne und einzelne Epochen, nicht die Darstellung des Ganzen als Entwicklung. Nun gehöre zu den sich gleichbleibenden Grundgegebenheiten in der Geschichte auch das, daß einander entgegengesetzte Einseitigkeiten sich aneinander abarbeiteten und ausglichen, typischerweise eine mehr rationale und eine mehr supranaturale, positive Richtung. Indem nun Neander das Christentum als Sauerteig außer die Menschheit und ihre Geschichte setze und von außen auf sie wirken lasse, komme er selbst zu einer einseitig supranatura­ listischen Auffassung des Christentums, die sich auch in seiner Wundergläubigkeit für die ersten Jahrhunderte äußere.57 Dabei aber erweist sich Neander als eigenständiger Nachfolger Schleiermachers. Die Kirchengeschichte als religiöse Geschichte zu begreifen, erst aus dem gemeinsamen Gefühl die äußere Gesellschaft abzuleiten und alles Fremde einschließlich der Dogmengeschichte, der Wissenschaftsgeschichte und der politischen Geschichte so weit wie möglich außen vor zu lassen, war ja gerade das 55 Vgl.

Harnack: Reden 2 1, S.  211–214; Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band 1, Halle 1910, S.  620–623; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  168–175. 204; Stephan: Die Geschichte, S.  103 f.; Selge: August Neander, S.  242 f.; vgl. auch oben Abschnitt 10.1. zu Hermann Reuters Urteil über Neander. Hagenbach: Encyklopädie1, S.  200, nennt Neander und Ludwig Timotheus Spittler die beiden „Trefflichsten“ in den Extremen: Neander betone einseitig, daß der religiöse Geist sich selbst die Form schaffe, Spittler, daß sich die fremden Formen der Religion und Kirche aufprägten. 56  Hase: Kirchengeschichte9, S. XIII (Vorrede zur 1.  Aufl. 1834), vgl. XVII f. (Vorrede zur 3.  Aufl. 1837); ders.: Kirchengeschichte (Vorlesungen) 1, S.  47 f. 57  Baur: Die Epochen, S.   202–232; vgl. ders.: Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, Stuttgart 1847, S.  50–53.

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D. Schluß

Programm der Vorlesung von 1806 gewesen, das bei Neander auf so fruchtbaren Boden gefallen war; für seine materialen Vorlesungen hat sich Schleiermacher zum Ziel gesetzt, die innere Seite der Kirchengeschichte darzustellen (vgl. oben Abschnitt 5.3.). Daß das agens der Kirchengeschichte der christliche Geist selbst sei und den fremden Faktoren, anders als die Pragmatiker behaupteten, kein entscheidender Einfluß zukomme, ist der Kerngedanke der Schleiermacherschen Kirchengeschichte, und auch für Schleiermacher steht dieser Geist als Idee selbst außerhalb der geschichtlichen Entwicklung, verwirklicht sich in der Geschichte immer wieder neu und steht zu den Phänomenen der religiösen Geschichte in gleicher Unmittelbarkeit. Wenn Neander schreibt, daß es für ihn keinen Gegensatz zwischen der wissenschaftlichen und der erbaulichen Darstellung gebe, so stimmt er auch hier mit Schleiermacher überein, für den die Theologie als Wissenschaft ja erst durch ihren praktischen Endzweck, das Interesse der Kirchenleitung und der christlichen Frömmigkeit, konstituiert wird. Neander freilich meint, daß die Betrachtung der Kirchengeschichte nicht bloß unerläßlich für die Kirchenleitung sei, sondern auch per se erbaulich; erbauen aber könne immer nur das, was auch wahr sei.58 In der Forschung ist wiederholt auf die Gemeinsamkeiten zwischen Neander und Schleiermacher hingewiesen worden.59 Daß Neander in dem religiösen, aber vom Christentum abtrünnigen Kaiser Julian einen Geistesverwandten finden konnte, erklärt Baur damit, daß für Neander wie für Schleiermacher die Religion ein unmittelbares und unreflektiertes, letztlich inhaltsloses Gefühl sei.60 Das Verhältnis zwischen Schleiermacher und Neander scheint in Berlin, ungeachtet ihrer Gemeinsamkeiten, ein eher distanziertes gewesen zu sein.61 Schon in den Osterferien 1807 soll sich Neander bei Aufenthalten in Hamburg und Hannover von der romantischen Religion der Reden über die Religion dem Neuen Testament und den Kirchenvätern zugewandt haben.62 Schleiermacher wiederum stand der – auch von ihm

58 

Neander: Allgemeine Geschichte 2,3, S. X Harnack: Reden 2 1, S.  209 (vgl. auch oben Abschnitt 10.1.); Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.  159; Selge: August Neander, S.   257–264; ders.: Neander und Schleiermacher, in: Hg. Andreas Arndt und Kurt-Victor Selge: Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?, Berlin und New York 2011, S.  101–118, hier 105 f. 110 f. – Martin Kähler: Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, hg. von Ernst Kähler, Theologische Bücherei 16, München 1962, S.  118–121, sieht den Gegensatz zwischen Neander und Schleiermacher eben darin, daß Neander christliches Leben, Gefühl und Individualität als Geschichte beschrieben habe (zu Kählers Urteil über Schleiermacher als einen abstrakt-spekulativen, ganz unhistorischen Kopf vgl. oben Abschnitt 1.3.). 60  Baur: Die Epochen, S.  2 06 f. 229–232 61 Vgl. Schneider: August Neander, S.  50. – Krabbe: August Neander, S.  42–45 stellt das Verhältnis wohl etwas zu harmonisch dar. 62 Vgl. Kling: D. August Neander, S.   531–533; Schneider: August Neander, S.  31 f.; Harnack: Reden 2 1, S.  202–204; Hüttmann: August Neander, S.  33 f. 59 Vgl.

10. Ausblick

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angestoßenen – Erweckung recht kritisch gegenüber.63 Wie weit er die Gemeinsamkeiten mit Neander erkannt und anerkannt hat, bleibt ungewiß; hätte er sich aber ganz mit Neander einig gewußt, hätte er wohl nicht die Notwendigkeit einer eigenen Durchführung der Kirchengeschichte gesehen. Die Beziehung zwischen Schleiermacher und Neander ist vielleicht überhaupt beispielhaft für das komplizierte, noch kaum zusammenhängend erforschte Verhältnis zwischen Schleiermacher und der Erweckungs­ bewegung. – Seinem Lieblingsschüler und späteren Nachfolger August Twesten, der selbst bekannt hatte, sich im Studium dank Neander nicht vorzeitig auf die Schleier­ machersche Richtung festgelegt zu haben,64 schrieb Schleiermacher 1817 nach Kiel: „Unser Neander will Sie in den Ferien besuchen, höre ich. Wenn es Ihnen doch gelänge, einige Rinden von ihm abzulösen und ihn etwas von seiner immer schroffer werdenden Einseitigkeit zu befreien. Aber ich fürchte, er reist mit ganz entgegengesetzten Assimilationsprojecten zu Ihnen.“65 Gemeint ist offenbar eine von Schleiermacher bei Neander diagnostizierte einseitige, kritikfeindliche Erweckungsfrömmigkeit.66 – Twesten antwortete aus Kiel: „Wie schön und klar haben Sie die Grundsätze ausgesprochen, um welche ich so oft mit Neander gekämpft habe. Ich bin überzeugt, daß dieser dadurch getroffen ist. Denn mehrmals habe ich ihn dahin gehabt, daß er redliches Streben nach Wahrheit sowohl im allgemeinen für hinreichend erkannte, um sich mit den wissenschaftlichen Forschungen eines anderen zu vertragen, als auch dieses de Wetten zugestand. Einmal war er sogar bei Gelegenheit eines öffentlichen Festes in einem Gespräche mit de Wette ganz weich und gerührt geworden, und seine eigene Einseitigkeit schien ihm klar geworden. Nur dauerte dergleichen nicht lange.“67 Neander selbst war offenbar der Meinung, daß Schleiermachers Frömmigkeit zwar über jeden Zweifel erhaben sei, seine Auffassung vom Christentum aber durch die Prämissen aus der spekulativen Philosophie verkehrt sei. Er schrieb an Twesten, als der ihm den ersten Band seiner Dogmatik geschickt hatte: „Von der Richtigkeit Ihres Urteils, daß Schleiermachers philosophische Grundansicht mit dem Christentum vereinbar sei, hat mich freilich auch Ihre Dogmatik, soweit ich sie bis jetzt gelesen, nicht überzeugt, wenngleich ich glaube, daß bei dem auch von mir nicht allein wegen seiner von keinem Menschen zu leugnenden Gaben, sondern vorzüglich seines Charakters wegen hochgeachteten Manne, ein subjektives Christentum immer mehr vorgedrungen, während es sich unwillkürlich in die Ideen dieser fremdartigen philosophischen Ansicht einzwängen lassen muß. Daraus ergiebt sich denn auch die Differenz zwischen unsern beiderseitigen theologischen Grundsätzen bei manchen bedeutenden Berührungspunkten und, Gott gebe, dem Einssein in der Hauptsache.“68 Später, lange nach Schleiermachers Tod und kurz vor dem eigenen, hielt Neander in einem Aufsatz Rückschau über die verflossene erste Jahrhunderthälfte und die Entwicklung der Theologie in ihr. Er würdigt die epochemachende Bedeutung der Reden über die Religion: Sie hätten entscheidenden Anteil daran, daß zu Beginn des Jahrhunderts der einseitige Rationalismus und Ethizismus überwunden und ein neues Bewußt63  Vgl. z. B. Ueber die Religion, 3.  Aufl., Berlin 1821, S. XIII f. (Vorrede) (KGA I/12, S.  10 f.). 64  August Twesten: Brief (17.9.1814) an Christian Brandis (Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, S.  245) 65  Brief (11.5.1817) an A. Twesten (Heinrici: D. August Twesten, S.  293) 66 Vgl. Selge: Neander, S.  107–109. 67  Brief (30.7.1817) von A. Twesten (Heinrici: D. August Twesten, S.  295) 68  August Neander: Brief (1826) an A. Twesten (Schneider: August Neander, S.  292)

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D. Schluß

sein für das eigentümliche Wesen der Religion geweckt worden sei. Schleiermacher mit seinem „vielseitigen, religiösen und speculativen Geiste“ habe als Epochengestalt beide Zeitalter in sich vereinigt, das kritische Jahrhundert Johann Salomo Semlers und das auf neue Weise theologisch schöpferische 19. Jahrhundert. Darin sei er Origenes vergleichbar, der zwei Welten angehört habe, dem Platonismus und dem Christentum, und dessen großes Werk es gewesen sei, die griechische Bildung ins Christentum hinüberzuleiten; dabei habe Origenes aber christlich-religiöse und philosophisch-spekulative Elemente nicht immer recht trennen können und sei so oft auf Widerstand seitens der in ihrem Glauben gekränkten einfachen Gläubigen gestoßen.69 Neander wiederholt hier den Grundsatz aus Schleiermachers Kolleg von 1806: „Wissenschaft und Leben müssen stets zusammenkommen, um neue Schöpfungen in der Kirche und Theologie hervorzurufen und zur Entwickelung zu bringen.“70 Weiter vergleicht Neander Schleiermacher mit dem Helmstedter Theologen Georg Calixt: Wie dessen Anstoß zu freierer Wissenschaft mit der von Philipp Jacob Spener angeregten großen religiösen Bewegung zusammengewirkt habe, so sei der durch das Erlebnis der Befreiungskriege hervorgerufenen Erweckung des christlichen Geistes dank Schleiermacher die angemessene wissenschaftliche Form gegeben worden. Schleiermacher habe herausgestellt, daß der Glaube nicht den Gesetzen der Wissenschaft gehorche, sondern, wiewohl er wissenschaftlich beschrieben werden könne, sich nach seinem eigenen Wesen und seinen Gesetzen entwickele; dieses selbständige Wesen des Glaubens im Leben des Einzelnen, der Gemeinde und der ganzen Kirche habe er das christliche Bewußtsein genannt. Die Theologie habe nach Schleiermacher ihre Erkenntnisquelle also nicht in der Weltweisheit, sondern eben im christlichen Bewußtsein (hier möchte Neander ergänzen: und im Wort der Schrift, aus dem das christliche Bewußtsein seinen Inhalt ableitet), und insofern sei die Philosophie bei ihm endlich nicht mehr Magd oder auch Herrin der Theologie. In seiner Glaubens- und Sittenlehre machten nicht mehr philosophische Begriffe den Mittelpunkt und das konstruktive und kritische Organon aus, sondern die geschichtliche Gestalt des Weltheilands, seine Wirksamkeit und die Beziehung auf ihn. Die philosophische Ethik verdanke Schleiermacher die Einsicht in die Zusammengehörigkeit und wechselseitige Abhängigkeit von Wissenschaft und Leben. Schleiermachers Hermeneutik wiederum habe die Alternative zwischen dem starren, wissenschaftlich unhaltbaren orthodoxen Inspirationsglauben einerseits und dem Rationalismus andererseits aufgebrochen und gelehrt, in der Schrift zugleich den göttlichen Impuls und die Eigentümlichkeit menschlicher Faktoren zu erkennen und so Ehrfurcht und Kritik miteinander zu vereinbaren. Der Grundirrtum Schleiermachers aber bestehe darin, daß er den Glauben inhaltlich ausschließlich als absolutes Abhängigkeitsgefühl gefaßt habe und daß nach ihm der Weltzusammenhang, in dem und von dem der Gläubige sich abhängig fühle, auch die Sünde und das Böse umfasse. Die Freiheit zu bestreiten und das Böse in ein System göttlicher Allwirksamkeit einzuordnen, wohl weniger aus dem reformierten Prädestinationsglauben heraus als

69  August Neander: Wissenschaftliche Abhandlungen, hg. von Justus Ludwig Jacobi, Berlin 1851, S.  223–229. – Den Vergleich zwischen Schleiermacher und Origenes zieht auch Heinrich Scholz: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre, Berlin 1909, S.  48. 70  Neander: Wissenschaftliche Abhandlungen, S.  2 29. Vgl. auch ebd. S.  248: „Es kommt also nun darauf an, daß die Wissenschaft hinter dem Leben nicht zurückbleibe“.

10. Ausblick

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aufgrund pantheistischer Restbestände, das bedeute faktisch eine Verharmlosung der Sünde und des Bösen.71 Im Rückblick sieht Neander also viel Übereinstimmung mit Schleiermacher und einige Differenzen, die er als Historiker durch Schleiermachers Mittlerstellung zwischen alter und neuer Zeit, spekulativer Philosophie und positivem Christentum zu erklären weiß.

10.5.  Dogmengeschichte als Entwicklung Schließlich war Schleiermacher auch einer der ersten, vielleicht der erste, der in der Dogmengeschichte nicht die trotz allen Veränderungen im Wesentlichen doch gleichbleibende kirchliche Wahrheit sah72 oder auch einen bunten Wechsel von Meinungen, Verirrungen und philosophischen Entstellungen des schlichten Evangeliums Jesu,73 sondern eine Entwicklung, die einer Gesetzmäßigkeit folgt, und zwar einer solchen, die nicht von außen auferlegt ist, sondern aus dem Wesen des Christentums selbst kommt. Schon 1811 schreibt Schleiermacher: „Nur wenn man die Bildung des Lehrbegriffs isolirt betrachtet, kann man sich die Aufgabe stellen, eine innere mit dem Wesen des Christenthums in Bezug stehende Gesezmäßigkeit in seiner Entwiklung aufzufinden. […] Die allmählige Bildung des Lehrbegriffs ist auf der einen Seite die fortschreitende Betrachtung der christlichen Princips nach allen Beziehungen, auf der andern das Aufsuchen des Ortes für die Aussagen des christlichen Gefühls in dem geltenden philosophischen System.“74 71  Neander: Wissenschaftliche Abhandlungen, S.   237–248. Vgl. zu Neanders Aufsatz Selge: August Neander, S.  261 f.; ders.: Neander, S.  111–118. 72 So etwa [Heinrich Schmid:] Ueber die Aufgabe und die Behandlung der Dogmen-Geschichte, in: Zeitschrift für Protestantismus und Kirche N. F. 3 (1842), S.  65–101, bes. 72–86, der im Ganzen zum selben Ergebnis kommt wie Christian Wilhelm Franz Walch (vgl. oben Abschnitt 2.1.3.). 73  Vgl. zur pragmatischen Dogmengeschichtsschreibung oben Abschnitt 2.1.3. Aber auch in der sonst instruktiven Dogmengeschichte von Schleiermachers Schüler Hagenbach fehlt die Sicht auf die zusammenhängende Entwicklung weitgehend (daher kritisch zu Hagenbach [Schmid:] Ueber die Aufgabe, S.  75–83). Baumgarten-Crusius: Lehrbuch 1, S.  49–52, möchte ihr Rechnung tragen, indem er von der speziellen Dogmengeschichte eine allgemeine unterscheidet, die die dem Wandel zugrundeliegenden Veränderungen des Denkens und der Gesinnung zum Thema hat (vgl. Kling: Begriff, S.  1110–1121). Eine vermittelnde Haltung zwischen der Dogmengeschichte als gleichbleibender Wahrheit und als Wechsel der Meinungen nimmt Veit Engelhardt: Dogmengeschichte, Band 1, Neustadt an der Aisch 1839, S. III f. 1–4, ein: Nach ihm besteht die Dogmengeschichte in immer neuen Versuchen, die biblische Wahrheit wissenschaftlich zu formulieren und das nicht Schriftgemäße auszuscheiden (vgl. Kling, a.a.O. S.  1131–1134). 74  Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811, Historische Theologie, Kirchengeschichte, §  26. 28 (KGA I/6, S.  283)

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D. Schluß

Zur vollen Entfaltung ist die Erkenntnis dann offenbar Anfang der 1820er Jahre durch das erste kirchengeschichtliche Kompendium gekommen; hier weist Schleiermacher den Weg des christlichen Lehrbegriffs von den beiden Urdogmen des apologetischen Zeitalters über das trinitarische und christologische Problem zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Erlösung und menschlicher Natur und zur wissenschaftlich-kritischen Aneignung des dogmatischen Erbes im neuen Europa des Mittelalters.75 Die Auffassung der Dogmengeschichte als Entwicklung hat das Verständnis der Dogmengeschichte revolutioniert; 76 verbreitet wurde sie indessen weniger durch Schleiermacher als durch seinen philosophischen Kontrahenten Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hegel lehrte, daß die scheinbar sinnlos aufeinanderfolgenden Zufälle, Irrtümer und Wechselfälle der Geschichte in Wahrheit notwendige Elemente des Weltprozesses seien, in dem das Absolute durch Gegensätze und deren Vermittlung und Versöhnung sich selbst entfalte und sich seiner selbst bewußt werde. Für die christlichen Dogmen und Lehren von der göttlichen Dreieinigkeit und von der Selbstentäußerung und Menschwerdung, dem versöhnenden Tod und der Auferstehung des ewigen Gottessohnes hatte der theologische Rationalismus wenig Verständnis; Hegel zeigte, wie eben in ihnen die Entwicklung der menschlichen Religion an ihr Ziel komme und wie dieser Prozeß parallel gehe mit der Verwirklichung der Freiheit in der Geschichte und dem Weg des Absoluten zu sich selbst.77 75  Friedrich Loofs: Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 4.  Aufl., Halle 1906, S.  3, hat also unrecht, wenn er schreibt, Schleiermachers Verdienst liege zwar darin, das Gemeinsame, Bleibende erkannt zu haben (nämlich das christlich-religiöse Bewußtsein), aber die Dogmengeschichte bleibe für ihn dabei ein Wechsel verschiedener individueller Gestaltungen dieses Gemeinsamen. Ebenso hat Emanuel Hirsch (KSP 3, S.  368) unrecht, wenn er schreibt, Schleiermacher sei noch ganz historischer Pragmatiker und habe in den widersprüchlichen Einzelereignissen der Dogmengeschichte noch nicht die verbindende Idee erkennen können, dazu sei erst die Schule Hegels in der Lage gewesen. Loofs und Hirsch stehen vielleicht unter dem Einfluß von Harnacks Einschätzung Neanders (vgl. oben Abschnitt 10.1.). 76  Wolfram Kinzig: Brauchen wir eine Dogmengeschichte als theologische Disziplin?, in: Hg. ders.: Historiographie und Theologie, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 15, Leipzig 2004, S.  181–202, hier 195–197, argumentiert „pragmatisch“ mit der Kontingenz der Vorgänge gegen den Gedanken einer Entwicklung in der Dogmengeschichte. Nur waren die Vertreter des Entwicklungsgedanken eben keine naiven Supranaturalisten, die behauptet hätten, daß das, was sie aus höherer Sicht Entwicklung nannten, außerhalb des kontingenten Zusammenhanges von Ursachen und Wirkungen steht. 77  Z. B. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (System der Wissenschaft 1), Bamberg und Würzburg 1807, S.  705–741 (Gesammelte Werke 9, S.  4 03– 421); ders.: Philosophie der Religion 1824 (Vorlesungen 5, S.  119–154); vgl. auch oben Abschnitt 4.1. zu Schellings und Fichtes spekulativer Auffassung vom Wesen des Christentums. – Texte aus älteren Ausgaben von Hegels Philosophie der Weltgeschichte (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke2 9, S.  387–408; ders.: Sämtliche Werke 8,3, S.  720–748) werden in diesem Zusammenhang ebenfalls gern zitiert (z. B. Steck: Dogma, S.  34–37; Meinhold: Geschichte 2, S.  127–134); sie sind wirkungsgeschichtlich bedeutsam, bleiben aber für Hegel selbst unzuverlässig. Eine kritische Edition der späteren Vorlesungen Hegels in dieser Disziplin liegt noch nicht vor.

10. Ausblick

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Das meiste, um diesen Ansatz für die Dogmengeschichte fruchtbar zu machen, taten Ferdinand Christian Baur und seine Schüler. Der Schwabe Baur hatte 1824/25 als erste größere Arbeit eine religionsphilosophische und phänomenologische Studie über die Religionen des Altertums vorgelegt, die sich ausdrücklich auch an Schleiermacher orientierte.78 Ab Mitte der 1830er Jahre bearbeitete er die Geschichte des Urchristentums, die Dogmengeschichte und die ganze Kirchengeschichte mit stupender Gelehrsamkeit und unter eigenständiger Rezeption der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Programmatisch schrieb Baur 1838 in der Vorrede zu seiner ersten dogmengeschichtlichen Mono­ graphie: „Das Materielle ist jedoch nur die Eine Seite der Aufgabe des Dogmenhistorikers, wichtiger nicht nur, sondern auch schwieriger ist die formelle, den vor uns liegenden, objektiv gegebenen, Stoff so aufzufassen, daß in der geschichtlichen Darstellung die innere Bewegung des Begriffs selbst sich darstellt. Daß in dieser Hinsicht ganz besonders auf dem Boden der Dogmengeschichte erst noch eine neue Bahn gebrochen werden muß, kann schon der noch immer gangbare Name dieser Wissenschaft [nämlich ‚Dogmengeschichte‘ mit Dogmen in der Mehrzahl] zeigen, der für sich schon den ihrer Behandlung noch anhaftenden Mangel zu erkennen gibt. Solange die sogenannte Dogmengeschichte nicht zu einer Geschichte des christlichen Dogma’s fortgeschritten ist, hat sich in ihr auch aus der Vielheit und Mannigfaltigkeit des mit ihrem Namen bezeichneten Stoffs die Idee der Einheit noch nicht entwickelt, ohne deren Bewußtseyn ihrem Inhalt die wahrhaft wissenschaftliche Form nicht gegeben werden kann. […] Dieser Gesichtspunkt, von welchem aus es insbesondere die Aufgabe der christlichen Dogmengeschichte ist, das christliche Dogma im Ganzen und Einzelnen so zu behandeln, daß alle zeitlichen Veränderungen als die wesentlichen und nothwendigen Momente erscheinen, durch die sich der Begriff hindurchbewegt, um von der Negativität jeder zeitlichen Form immer weiter getrieben, Wesentliches und Unwesentliches mit dem immer strengern Gericht des reinen Gedankens zu scheiden, und durch alle Momente hindurch sich selbst in seinem eigenen innersten Wesen zu erfassen, liegt der hier gegebenen Darstellung zu Grunde, in der festen Ueberzeugung, daß nur auf diesem Wege die Geschichte für den denkenden 78  Ferdinand Christian Baur: Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Alterthums, Band 1, Stuttgart 1824, S. IV–VIII. Baur will den universalgeschichtlichen Ort der antiken Religion und Mythologie bestimmen und läßt sich dazu nicht nur von Friedrich Creuzers Symbolik anregen, sondern auch von Schleiermachers Einordnung des Christentums in die verschiedenen Religionsstufen (Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Band 1, Berlin 1821, §  14–18, KGA I/7,1, S.  47–68). Baur klassifiziert also die Hauptformen der Religion aus den verschiedenen Gestalten des Abhängigkeitsgefühls (vgl. bes. Baur: Symbolik 1, S.  113–167). Dabei versteht er Schleiermachers religionsgeschichtliche Einordnung offenbar als einen Erweis, daß das Christentum die absolute Religion sei, vgl. Ferdinand Christian Baur: Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwiklung, Tübingen 1835, S.  633–637. Zu Baurs früher Auseinandersetzung mit Schleiermacher vgl. auch Ulrich Barth: Jesus-Bild und Geschichtsdeutung, in: Hg. Christian Danz: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, S.  45–62, hier 59 f.; vgl. auch oben Abschnitt 6.3.2.2.

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D. Schluß

Geist das seyn kann, was sie ihrer göttlichen Bestimmung zufolge für ihn seyn soll, die Selbstverständigung der Gegenwart aus der Vergangenheit.“79

Baur verstand die Geschichte also im Sinne Hegels als den notwendigen, durch Gegensätze und ihren Ausgleich vermittelten Weg der Idee zum Bewußtsein ihrer selbst; das Christentum und in ihm besonders die Entwicklung des (einen) Dogmas (und eben nicht Dogmen als eines ungeordneten Aggregats von Meinungen) ist ein wesentliches Element dieser Geschichte.80 Was sich durch die „wesentlichen und notwendigen Momente“ hindurchbewegt und verändert, ist dabei nicht der Gegenstand der Erkenntnis (also das Dogma seinem Gehalt nach), sondern die Position, die der Geist als erkennendes Subjekt zu dem Gegenstand seiner Erkenntnis einnimmt.81 Neben Baur haben auch Rosenkranz und Schleiermachers Berliner Kollege Philipp Marheineke versucht, Hegels Philosophie auf die Dogmengeschichte anzuwenden, wenn auch weniger wirkungsvoll als Baur. Rosenkranz erklärt in seiner theologischen Enzyklopädie, die christliche Religion als absolutes Wissen des Geistes von sich selbst sei dem Inhalt nach schon im Gefühl gegeben; die Dogmengeschichte aber stelle den Prozeß dar, wie sich dieses zunächst nur gefühlte Wissen zur absoluten Gewißheit erhebe, und insofern sei sie das „Innere des Inneren“ in der Entwicklung der Kirche. Der Verlauf der Dogmengeschichte habe nicht zufällige Meinungen und Motive zum Prinzip, sondern eben das im Dogma konstruierte absolute Wissen. Demzufolge habe die Dogmengeschichte drei Perioden, die analytische, die synthetische und die systematische. Die erste habe den Inhalt des Glaubens in einzelne Sätze zerlegt, die zweite habe die durch die erste Periode gegebenen Einzelsätze miteinander verknüpft und den dogmatischen Beweis eingeführt, die dritte Periode stelle die Prinzipien des Dogmas auf und versöhne so das dogmatische Wissen mit der Philosophie.82 Die überwiegend griechische analytische Periode entwickelt aus der Selbstreflexion des Glaubens (wie bei Schleiermacher) die drei Dogmenkreise der Trinität, der Christologie und des Verhältnisses des göttlichen zum menschlichen Willen. Die lateinische synthetische Periode entspricht der dritten Periode der Kirchengeschichte nach Schleiermacher; da sich die 79 

Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838, S. V–VII 80 Vgl. Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Band 1, Tübingen 1841, S. XVIII–XX; ders.: Lehrbuch, S.  9 –13. 55–57; ders.: Die Epochen, S.  247–267; ders.: Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, 2.  Aufl., Tübingen 1860, S.  7–9. Dazu Kling: Begriff, S.   795–799; Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, S.   205 f. 211–219; Hirsch: Geschichte 5, S.  520–525; Kantzenbach: Evangelium, S.  114–129; Wolfgang Geiger: Spekulation und Kritik, Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus X,28, München 1964, S.  96–113; Meinhold: Geschichte 2, S.  170–172. 81  Z. B. Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung, S.   12–16 (danach bedeuten Kant, Schleiermacher und Hegel epochale Fortschritte für das letzte Stadium des Entwicklungsganges, das von der errungenen, aber einseitigen Subjektivität der Reformation und Auf klärung zu einer neuen, höheren Objektivität führe); vgl. Thomas Koppehl: Der wissenschaftliche Standpunkt der Theologie Isaak August Dorners, Theologische Bibliothek Töpelmann 78, Berlin und New York 1997, S.  75–80. 90 f. 82  Rosenkranz: Encyklopädie, S.  246–250; vgl. Kling: Begriff, S.  783–791.

10. Ausblick

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Reflexion in ihr immer weiter vom Glauben und dem Prinzip des Dogmas entfernt, stellt sich zuletzt die Mystik dem Dogma entgegen, und die Dogmatik entzweit sich mit sich selbst. In der dritten Periode seit der Reformation trennt sich der Glaube zunächst vom bisherigen spekulativen Denken; unter einer neuen Philosophie gelingt in der spekulativen Theologie dann eine neue, höhere Synthese.83 Marheinekes Dogmengeschichte in Vorlesungen kommt von der Symbolik her, der vergleichenden Darstellung der in den verschiedenen christlichen Gemeinschaften verbindlichen Glaubensbekenntnisse oder Symbole; diese Disziplin hat Marheineke selbst mit begründet und in ihr auch seine ersten wissenschaftlich-theologischen Meriten erworben.84 Sind die Symbole nach Marheineke nicht sekundäre Abstraktionen von Glaubensinhalten, sondern unmittelbarer Ausdruck und Offenbarung des ewigen religiösen Geistes als endliche, individuelle und gemeinschaftsstiftende Erscheinung, wie sie der Geist notwendig im menschlichen Bewußtsein annimmt,85 so gilt dasselbe für das Dogma. Marheineke kennt keinen Gegensatz zwischen der Verkündigung Christi und der Apostel einerseits, dem kirchlichen Dogma andererseits; das Dogma kann mit dem christlichen Glauben, der absoluten Religion, der ewigen Wahrheit Gottes gleichgesetzt werden.86 Mit Hegel und gegen Schleiermacher weist Marheineke die Trennung von Glauben und Wissen zurück: Die dem Glauben selbst immanente Bewegung mache den Inhalt des Glaubens zum Wissen, zum Dogma, und als Dogma gewinne der subjektive Glaube, das subjektive Wissen objektive, allgemeine und öffentliche Bedeutung.87 Die Dogmengeschichte hat die geschichtliche Bewegung des christlichen Glaubens zum Gegenstand.88 Diese Bewegung hat auch äußerliche Faktoren; entscheidend aber ist (mit Hegel) die dem Denken immanente Gesetzmäßigkeit, daß ein Gedanke sich selbst sein Gegenteil setzt, um den Gegensatz auf höherer Ebene zu versöhnen.89 Zum Schema für die Gliederung macht Marheineke die Trinität, da die kirchliche Dogmatik nichts anderes sei als das spekulative Bewußtsein der Dreieinigkeitslehre, in der alle Dogmen enthalten seien.90 Zum Vater gehört hauptsächlich die Auseinandersetzung mit der Gnosis, zum Sohn auch die Versöhnungslehre, aber getrennt von der Erbsündenlehre, die dem Geist zugeschlagen wird.

Isaak August Dorner, der in Tübingen zu Baurs ersten Schülern gehört hatte, veröffentlichte etwa gleichzeitig mit Baurs ersten dogmengeschichtlichen Arbeiten eine Monographie über die Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi. Das Zentrum der Monographie Dorners ist die Idee des Gott83 

Rosenkranz: Encyklopädie, S.  250–325 Simon Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), S.  183–214, hier 201–203. 85  Philipp Marheineke: Christliche Symbolik oder historischkritische und dogmatischkomparative Darstellung des katholischen, lutherischen, reformirten und socinianischen Lehrbegriffs; nebst einem Abriß der Lehre und Verfassung der übrigen occidentalischen Religionspartheyen, wie auch der griechischen Kirche, Band 1,1, Heidelberg 1810, S.  4 –12; ders.: Symbolik (Theologische Vorlesungen 3, S.  1–3. 12–17) 86  Philipp Marheineke: Dogmengeschichte (Theologische Vorlesungen 4, S.  1–5) 87  Marheineke: Dogmengeschichte (Theologische Vorlesungen 4, S.  5 –13) 88  Marheineke: Dogmengeschichte (Theologische Vorlesungen 4, S.  18–21) 89  Marheineke: Dogmengeschichte (Theologische Vorlesungen 4, S.   21–39). Vgl. Kantzenbach: Evangelium, S.  150 f. 90  Marheineke: Dogmengeschichte (Theologische Vorlesungen 4, S.  49 f.) 84 Vgl.

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D. Schluß

menschen, wonach das menschliche Leben in der vollkommenen Einheit mit der Gottheit geführt werde, die Gottheit wiederum sich selbst vollkommen im Menschen darstelle als in dem Wesen, das sie erkennen könne. Diese Idee sei das Ziel der gesamten religiösen und philosophischen Entwicklung; als Lehre und Tatsache sei sie indessen trotz mancherlei Vorbereitungen in den anderen Religionen erst im Christentum hervorgetreten: 91 Christus, der Stifter des Christentums, sei durch das ihm eigentümliche Selbstbewußtsein „die Ursache […], daß die christliche Idee des Gottmenschen sowohl im menschlichen Bewußtseyn aufging, als auf Ihn übertragen wurde“.

Trotzdem sei, wie die Geschichte zeige, die Lehre vom Gottmenschen nicht zu aller Zeit ein konstitutives Element der christlichen Lehre gewesen; die Kirche habe, angestoßen durch unchristliche Einseitigkeiten, die Totalität der Wahrheit, die sie schon in sich gehabt habe, erst entfalten müssen, zunächst in Anlehnung an die Denkmodelle der jüdischen und hellenischen Umwelt. Diesen Prozeß der Entfaltung teilt Dorner in drei Perioden: die fundamentale Festsetzung der Lehre von der Gottheit und Menschheit Christi (bis 381), die Zeit des einseitigen Hervorhebens der göttlichen oder der menschlichen Seite in Christus (bis zu Fichte) und die Zeit der Versuche, das Göttliche und Menschliche als gleichberechtigt in der Einheit zu betrachten (Schelling, die Schule Hegels, Schleiermacher).92 Baur und Dorner kritisierten ihre Konzepte wechselseitig: Baur erklärte es für unmöglich, daß die Menschheit nur in einem wirklichen Individuum (Christus) und nicht vielmehr in der Gattung mit dem Absoluten eins sei; Dorner dagegen schrieb, die Menschheit stelle sich in Christus als Person und als wirklichem, nicht idealem Gottmenschen als Totalität dar, Christus als neuer Adam sei das Zentralindividuum der Menschheit, Baur dagegen mache nach Art der mittelalterlichen Realisten die Gattung zur Substanz und die Subjektivität und Individualität zum bloßen Akzidens. Weiter sah Baur, entsprechend dem Satz Hegels, daß sich das Wesen erst als Resultat der Entwicklung zeige und erst das vollendete Ganze das Wahre sei, die Menschwerdung Gottes erst als Ergebnis der Dogmenentwicklung gegeben, während sie für Dorner schon am Anfang in der Person und im Selbstbewußtsein Christi da ist; die Häresien seien nicht notwendige Punkte für die Entwicklung der Wahrheit, sondern von außen eingedrungene, gegenüber der Wahrheit sekundäre Irrtümer, wenn sie auch durch die Auseinandersetzung mit ihnen zu einer vertieften Erkenntnis

91  Isaak August Dorner: Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, Stuttgart 1839, S.  1–28. Vgl. Kantzenbach: Evangelium, S.  130–134. 92  Dorner: Entwicklungsgeschichte1, S.  2 8–34

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der Wahrheit führten.93 Bei diesen Differenzpunkten steht Dorner gegenüber Baur auf der Seite Schleiermachers.94 Kliefoth und Thomasius, der erste gleichzeitig mit Baurs und Dorners frühen dogmengeschichtlichen Arbeiten, der zweite eine Generation später, sehen die Dogmengeschichte ebenfalls als eine Entwicklung an, die sich aus dem Wesen des Christentums selbst ergibt. Thomasius nennt die Bewegung wie Schleiermacher „organisch“ (vgl. oben Abschnitt 3.1.): Wesen und Substanz entfalteten ihre im Keim angelegten Momente sukzessiv und in der dem Wesen gemäßen Aufeinanderfolge. Die Dogmenkreise, in denen sich die Entwicklung vollzieht, entsprechen etwa denen nach Schleiermacher und Rosenkranz; nur setze sich die Dogmenbildung dann im reformatorischen Bekenntnis fort im Ringen um eine lehrhafte Fassung der subjektiven Heilsaneignung. Während für Thomasius das christliche Dogma in den Symbolen der lutherischen Kirche abgeschlossen ist und die Entwicklung ihr Ziel erreicht hat, erwartet Kliefoth für die Zukunft eine Fortsetzung der Entwicklung auf dem Gebiet der Ekklesiologie und Eschatologie.95 Zu den dieser Selbstentfaltung des Christentums immanenten Gesetzen gehört die Vermittlung von Extremen und Widersprüchen. Thomasius schreibt, es gebe hier in der Tat einen dialektischen Zug „in des Wortes modernem Sinn“, nämlich als Bewegung des Begriffs von der unmittelbaren Einheit über 93 

Hegel: Phänomenologie (System 1), S. XXIII (Gesammelte Werke 9, S.  19); Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung, S.  729–733; ders.: Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Band 3, Tübingen 1843, S.  962–966; Dorner: Entwicklungsgeschichte1, S.  370–376 Fußtext. 527 f.; ders.: Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1851, S. XVIII. 71–77 Fußtext. Vgl. Koppehl: Der wissenschaftliche Standpunkt, S.  21–26. 69–72. 84–87. 94  Am Ende seiner Monographie würdigt Dorner Schleiermachers Christologie als bisher letzten Punkt der Entwicklung: Sie wahre sowohl die Einzigartigkeit und Würde Christi als auch die Möglichkeit, dieses Einzigartige zur Erlösung der Gattung mitzuteilen. Schleiermachers Christologie sei nicht aus der Idee des Gottmenschen abgeleitet, sondern aus dem christlichen Bewußtsein, aus der Erfahrung der Erlösung und der Notwendigkeit eines Urbildes; damit könne sie aber weder die historische Wirklichkeit und Persönlichkeit des Erlösers beweisen noch seine Vollkommenheit (Dorner: Entwicklungsgeschichte1, S.  510–519). 95  Kliefoth: Einleitung, S.  21 f. 50 f. 58. 87–99; Thomasius: Die Christliche Dogmengeschichte 1, S. VI. 6. 11–13. 20. Vgl. Kling: Begriff, S.  851; ders.: Ergänzendes zum zweiten Artikel über die dogmengeschichtliche Litteratur, in: Theologische Studien und Kritiken 16 (1843), S.  217–259; Kantzenbach: Evangelium, S.  163 f.; Steck: Dogma, S.  51–53; Hein: Lutherisches Bekenntnis, S.  138–145; Ohst: Theodor Kliefoths „Einleitung“. Kling lobt Kliefoths Arbeit, zumal was die Bestimmungen über Wesen und Genese des Dogmas angeht, kritisiert aber dessen Einteilung der Dogmengeschichte in Perioden und Dogmenkreise. Ohst zeigt, daß das Ziel der Kliefothschen Einleitung eben in der Prognose einer kommenden dogmatisch produktiven Epoche liegt: Nachdem der Rationalismus mit seiner Kritik die scholastischen und pietistischen Mißbildungen niedergerissen habe, ziehe jetzt für die (evangelisch-lutherische) Kirche ein neues dogmengeschichtliches Zeitalter herauf; das Dogma werde, über das reformatorische Bekenntnis hinausgehend, die derzeitigen Umbrüche und die neue Stellung der Kirche in der Gesellschaft dogmatisch und ethisch einholen.

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den Gegensatz zur Vermittlung.96 Die Anlehnung an Hegel ist hier nicht zu verkennen; aber auch die Vorstellung Möhlers scheint nachzuwirken, daß das Katholische die verbindende Mitte und Vermittlung sei zwischen den falschen Einseitigkeiten.97 – Während es nun etwa für Baur keinen eigentlichen Irrtum in der Entwicklung gibt, sondern nur Durchgangspunkte auf dem Weg zur höheren Einheit, bleiben Kliefoth und Thomasius (wie auch Dorner) dabei, daß das Häretische, wenn auch ein Faktor in der Entwicklung, so doch ein Irrtum und keine notwendige und damit gerechtfertigte Erscheinung auf dem Weg zur Wahrheit sei. Nach Baur gehen die alte dogmatische Rechtgläubigkeit und die sie bestreitende Häresie zusammen in die nächsthöhere Stufe der Entwicklung ein und werden dort aufgehoben; nach Kliefoth und Thomasius wird die Häresie auf der (auch durch die Reaktion auf sie erreichten) höheren Stufe der Erkenntnis ausgeschieden, während die einmal errungene Wahrheit ihren Wert behält und durch die weitere Entwicklung wohl ergänzt wird, aber eben nicht annihiliert und aufgehoben.98 Baur und Dorner, Rosenkranz und Marheineke, Kliefoth und Thomasius haben alle Schleiermacher rezipiert (am wenigsten von ihnen wohl Marheineke); ihre Idee der Dogmengeschichte verdanken sie aber eben mehr Hegelschen als Schleiermacherschen Anregungen. Verglichen mit den späteren Vertretern des Entwicklungsgedanken in der Dogmengeschichte99 steht Schleiermacher der pragmatischen Auffassung näher: Er steht bei allem Respekt für die dogmatische Arbeit der älteren Theologen dem Dogma distanziert und skeptisch gegenüber, hält es nicht für irrtumsfrei und nicht für nicht revidierbar, macht vielmehr immer wieder Vorschläge, wie man das erörterte Problem noch besser 96  Kliefoth: Einleitung, S.  24 f. 63 f.; Thomasius: Die Christliche Dogmengeschichte 1, S.  14 f. Vgl. Hein: Lutherisches Bekenntnis, S.  145–148. 97  Z. B. Möhler: Symbolik 2 , S. X–XII. XVIII, wonach das Katholische das verbinde, was im Protestantismus als Einseitigkeit voneinander geschieden sei: Gefühl bei den Reformato­ ren und Reflexion bei den Sozinianern, Vernunft bei den Rationalisten und das Bestehen auf den Symbolen bei den Positiven. – Auch nach Dorner wird die Entwicklung durch paarweise auftretende Einseitigkeiten und deren Vermittlung vorangetrieben, vgl. Koppehl: Der wissenschaftliche Standpunkt, S.  80–134. 98  Kliefoth: Einleitung, S.   27–31; Thomasius: Die Christliche Dogmengeschichte 1, S.  15–18. Vgl. Hein: Lutherisches Bekenntnis, S.  147–149. 99  Das gilt auch für Christian Friedrich Kling, der in Berlin Schleiermachers und Neanders Schüler war und der zu Schleiermacher offenbar ein vertrautes Verhältnis hatte; jedenfalls nennt er ihn in seinen Briefen (SN 316, bislang noch nicht ediert) „Vater Schleiermacher“. Seinem Literaturbericht über die Dogmengeschichte schickt Kling die eigene Ansicht voraus (Kling: Begriff, S.  1051–1054). Danach ist das Dogma der bestimmte Ausdruck des sich in gemeinsamer Reflexion zum Wissen entwickelnden Glaubensinhalts; die Entwicklung des Dogmas aber sei Teil der Entwicklung des menschlichen Geistes unter dem Geist Christi und der Selbstverwirklichung des Geistes Christi in der als Kirche der erneuerten Menschheit. Am Ende der Arbeit (Kling: Begriff, S.  851) bekennt Kling, nach dem Studium von Kliefoths Werk erscheine ihm sein zu Beginn skizzierter Ansatz dürftig und unzureichend.

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bearbeiten könnte. Auch hält Schleiermacher den Prozeß insgesamt für offen und unabgeschlossen und rechnet etwa mit einer Neufassung der Trinitätslehre in der evangelischen Kirche. Das Ergebnis der Dogmenentwicklung steht für ihn nicht fest, weder als Versöhnung der Idee mit sich selbst (Baur) noch als Einholung der in Christus gesetzten Idee des Gottmenschen durch das Dogma (Dorner) noch auch als symbolischer Lehrbegriff einer Konfession (Thomasius). Schleiermachers distanziertere Haltung zum Dogma hängt aber damit zusammen, daß das Christentum für ihn Leben ist und nicht Dogma oder Erkenntnis und Erkenntnisinhalt. Die Lehre ist eine Funktion der Religion, notwendig zur Verständigung der Religion über sich selbst und zur Kirchenleitung, aber sie ist nicht die Religion selbst oder deren unmittelbarer Ausdruck, sie bleibt dieser gegenüber sekundär. Die christliche Lehre und ihre wissenschaftlich-systematische Formulierung sind für Schleiermacher in einer beständigen Annäherung an die Wahrheit begriffen, ebenso wie sich die Verbreitung des Christentums beständig dem Ziel annähert, die ganze Menschheit mit dem Geist Christi zu durchdringen. In einer dogmatischen Festsetzung sieht Schleiermacher vor allem die Gefahr, etwas noch Unvollkommenes zu sanktionieren und Verbesserungen zu verhindern, damit aber für die Gegenwart hinter das Prinzip der Reformation zurückzufallen (vgl. oben Abschnitt 9.2.2.5.).

10.6.  Verstehende Wissenschaft Zum Schluß wollen wir noch über das Gebiet der Theologie hinausgehen. Seit den späten 1850er Jahren hielt der Historiker Johann Gustav Droysen in Jena und Berlin seine für die Geschichtstheorie und die Methodik der Geschichtswissenschaft so bedeutenden Vorlesungen zur Historik100 – freilich mit zunächst eher geringem Echo. Zu einer Zeit, als das Paradigma der nicht mehr spekulativen, sondern positivistischen Naturwissenschaft zur einzig möglichen wissenschaftlichen Methode erklärt wurde, insistierte Droysen darauf, daß die Erforschung der menschlich-geschichtlichen Welt einer eigenen Methode bedürfe: nicht der physikalisch-naturwissenschaftlichen Methode, die erkläre, also anhand allgemeiner Gesetze in den Vorgängen die Ursachen und Wirkungen aufzeige, auch nicht der apriorisch-spekulativen Methode, mit der die Konstruktionen der Geschichtsphilosophie über das Individuelle hinwegschritten, sondern vielmehr der Methode des Verstehens.101 Droysen ordnet ähnlich 100 Vgl. Horst Walter Blanke, Dirk Fleischer und Jörn Rüsen: Historik als akademische Praxis, in: Dilthey-Jahrbuch 1 (1983), S.  185–255, hier 218. 240. 101  Johann Gustav Droysen: Historik 1857 (Historik, hg. von Peter Leyh und Horst Walter Blanke, Band 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S.  4 –6. 20 f. 29 f. 32 f. 36–41. 159– 163); ders.: Grundriss der Historik, Leipzig 1868, §  8. 13 f. 16 (Historik, hg. von Rudolf Hübner, München und Berlin 1937, S.  328. 330 f.). S.  43–62 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  451–469:

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wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Schleiermacher Ethik und Geschichte einander zu und grenzt sie vom Gebiet der Naturwissenschaft ab: Geschichte ist die menschlich-ethische Welt, angeschaut als Fortschritt und Steigerung in der Zeit. Wie Schleiermacher hält Droysen die Zweiheit von Natur und Ethik für nicht mehr in einer höheren Einheit auflösbar und erklärt die Spannung zwischen Geist und Natur als das eigentümliche und produktive Prinzip in der Geschichte; aus ihr gehen die immer neuen Gestaltungen hervor.102 Daß das Verstehen die Eigenart der historischen Arbeit ausmache, lehnt sich an Wilhelm von Humboldt an, dessen Bedeutung für die Geschichtsschreibung Droysen überhaupt würdigt.103 Stärker als Humboldt macht Droysen geltend, daß die Geschichte eine zusammenhängende Einheit ist; alle einzelnen „Totalitäten“ (Individuen, Zeiträume, Gemeinschaften) in der Geschichte gehörten zusammen, machten eine Gesamtheit aus und seien als solche der eine Ausdruck der „absoluten Totalität“.104 Auch das ist eine Gemeinsamkeit mit Schleiermacher. eine Rezension, die Droysen wegen der gemeinsamen Thematik in seinem Grundriß hat wiederabdrucken lassen. Er setzt sich hier kontrovers auseinander mit Henry Thomas Buckle und dessen Entwurf einer Geschichte auf naturwissenschaftlich-positivistischer und damit nach Buckle überhaupt erst wissenschaftlicher Grundlage. Die Rezension ist auch insofern noch heute lesenswert, als Buckle mit seiner Bestreitung der Geisteswissenschaften in Evolutionsbiologen und Neurowissenschaftlern moderne Wiedergänger hat). Vgl. Ernst Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen von J. G. Droysens „Historik“, in: Historische Vierteljahrsschrift 23 (= 31) (1926), S.  25–63. 199–221, hier 200 f.; Joachim Wach: Das Verstehen, Band 3, Tübingen 1933, S.  144–148. 154–156; Manfred Riedel: Verstehen oder erklären? Stuttgart 1978, S.  114–123; Viktor Lau: Erzählen und Verstehen, Epistemata Reihe Philosophie 271, Würzburg 1999, S.  4 48–451. – Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  373) kann den drei Arten der Erkenntnis, der logisch-spekulativen, naturwissenschaftlich-erklärenden und geschichtlich-verstehenden auch die drei Religionen Buddhismus, Islam und Christentum zuordnen, wobei das Christentum als historische Religion die Vermittlung und Versöhnung der Einseitigkeiten der beiden anderen darstelle. 102  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.   5. 14 f. 19–22. 33 f. 37 f.); ders.: Grundriss1, §  1–3. 15. 87 (hg. Hübner, S.  325 f. 330 f. 357). S.  62. 64–67. 71 f. (hg. Leyh/ Blanke 1, S.  468 f. 470–473. 477); ders.: Grundriss der Historik, 3.  Aufl., Leipzig 1882, §  84 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  4 44); ders.: Historik 1882/83, §  1–7 (hg. Hübner, S.  16). Vgl. oben Abschnitt 3.2. – Vgl. Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, S.  43. 208– 213. 103  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  52 f. 217); ders.: Grundriss1, S.  6 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  419). Vgl. oben Abschnitt 3.5.3. – Vgl. Hermann Blumenthal: Johann Gustav Droysens Auseinandersetzung mit dem Idealismus, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 9 (1933), S.  344–355, hier 352–354. 104  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.   30 f.); ders.: Grundriss1, §  12 (hg. Hübner, S.  329 f.); ders.: Historik 1882/83 (hg. Hübner, S.  29 f.). Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Auf bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Erste Hälfte, Abhandlungen der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften 1910, Philosophisch-historische Classe, Abhandlung 1, Berlin 1910, S.  42 (Gesammelte Schriften 7, S.  114); Georg Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S.  145 f. – Manfred Riedel: Verstehen, S.  123 f., schreibt, Droysen habe die Geschichte im Gegensatz zu Hegel nicht mehr als Totalität begreifen können, sondern nur noch als Kontinuität. Tatsächlich hält Droysen an der Totalität der Geschichte fest, beansprucht aber nicht, sie auf spekulativem Weg erfassen zu können, ebensowenig wie Gott, dessen Ausdruck die Geschichte sei.

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Droysen nennt die Geschichtswissenschaft empirisch: Ihr Material sei eigentlich nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart, d. h. das, was in der Gegenwart noch an Resten, Denkmälern, Aufzeichnungen und Erinnerungen aus der Vergangenheit vorhanden ist. Bei der Ergänzung und Verknüpfung des Materials haben Hypothesen und Kombinationen ihre Aufgaben.105 – Es ist dem Menschen eigentümlich, innerlich nachzuvollziehen, nachzuerleben und zu verstehen, was andere Menschen aus ihrem Inneren äußern; der Mensch lebt und webt in Gemeinschaften des Mitteilens und Verstehens und wird durch diese geprägt. Und da eben menschliche Äußerungen und Überlieferungen ganz verschiedener Art der Gegenstand der Geschichtswissenschaft sind, geht es auch in ihr um das Verstehen. Geschichtliches Bewußtsein bedeutet, auch abgesehen vom Nutzen historischer Kenntnisse, eine Vertiefung des menschlichen Daseins. Und aufgrund der gemeinsamen Menschheit ist das Verstehen auch möglich, selbst wenn es sich um Zeugnisse fremder und vergangener Kulturen handelt.106 Für das Verstehen wiederholt Droysen Schleiermachers Grundsatz, daß das Einzelne im Ganzen und das Ganze aus dem Einzelnen zu verstehen sei.107 Dabei postuliert Droysen für den Historiker (anders als etwa Schelling, Marheineke und Humboldt) keinen überindividuellen, allgemein-menschlichen Standpunkt, sondern gesteht ihm zu, bei seiner Rückschau selbst auf seinem (geschichtlich gegebenen und subjektiven) Standpunkt zu stehen und ihm entsprechend zu urteilen.108 Das Identische in der Geschichte, in dem sich die Individuen immer schon vorfinden, das sie prägt und dessen Fortschreiten sie auch ihrerseits bestimmen, nennt Droysen die geschichtlichen Ideen und die sittlichen Mächte. Mit den Ideen meint er die in einer Gemeinschaft zu einer Zeit leitenden ethischen Vorstellungen; die sittlichen Mächte wiederum sind etwa das, was Schleiermacher die ethischen Formen nennt, also Momente und Ordnungen, die zu allen Zeiten die sittliche Welt ausmachen – etwa Familie und Volk, Religionsgemeinschaft und Staat. Daß diese Gemeinschaften ihrer ethischen Idee nach selbst nicht feststehen, sondern veränderlich sind (also etwa das alte Israel, das 105  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  9 ); ders.: Grundriss1, §  4 –7. 21. 26 (hg. Hübner, S.  326–328. 332 f. 335). Ähnliches hatten schon Friedrich Schiller (vgl. oben Abschnitt 2.2.3.) und Schleiermacher gesagt (Theologische Enzyklopädie 1831/32, §  69, hg. von Walter Sachs, Schleiermacher-Archiv 4, Berlin-West und New York 1987, S.  75 f.). 106  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  21–28); ders.: Grundriss1, §  6 f. 9–12 (hg. Hübner, S.  327–330). S.  51. 53. 69–72 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  459–461. 475–477); ders.: Grundriss3, §  88 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  4 45). Vgl. Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, S.  201–208. 216–219. 107  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.   30 f.); ders.: Grundriss1, §  10 (hg. Hübner, S.  329). Vgl. oben Abschnitt 3.1. 108  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  2 34–238. 283). – Vgl. Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, S.  207; Wach: Das Verstehen 3, S.  185; Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S.  146 f.

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alte Rom und das moderne Preußen ein jeweils ganz anderes Verständnis des Staates hatten), hat sich Droysen klarer bewußt gemacht als Schleiermacher.109 Um gegenüber dem pragmatischen „Positivismus“ ihrer Zeit geltend zu machen, daß es nicht nur in der Natur, sondern auch in der Geschichte eine höhere Ordnung gebe und daß es möglich sei, die Geschichte von dieser höheren Ordnung aus anzuschauen, hatte Johann Gottfried Herder (und nach ihm Schleiermacher und viele andere) Analogien hergestellt zwischen der Geschichte und den Erscheinungen in der Natur, der Ordnung und der natürlichen Entwicklung der Organismen. Droysen vermeidet eben dies; 110 er möchte, um die menschlich-geschichtliche Sphäre von den Ansprüchen einer immer offensiver auftretenden positivistischen Naturwissenschaft freizuhalten, gerade die Eigentümlichkeit, Eigengesetzlichkeit und eigene Rationalität der historischen Wissenschaft herausstellen, die deren Gegenstand den naturwissenschaftlichen Erklärungen entzieht. Auch dem Philosophen Wilhelm Dilthey ging es um die Begründung einer Wissenschaft jenseits der positivistischen Naturwissenschaft. In seiner unvollendet gebliebenen Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 faßt Dilthey diejenigen Wissenschaften, die die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstand haben und historisch-empirisch, gesellschaftstheoretisch oder ethisch-praktisch ausgerichtet sind, unter dem Oberbegriff der Geisteswissenschaft zusammen.111 Dilthey war selbst ausgewiesen durch Arbeiten zur Geistesgeschichte (nicht zuletzt sein berühmtes, ebenfalls unvollendetes „Leben Schleiermachers“). Im zweiten Hauptteil der Einleitung zeichnet Dilthey Entstehung, Typologie, Entwicklung und Verfall der Metaphysik nach; diese gründete die Wissenschaft auf Sätze, die nicht durch die Erfahrung gegeben waren, sondern aller Erfahrung zugrunde liegen sollten, basierend darauf, daß die göttliche Vernunft, die Vernunft des Menschen und die Vernunft in der Natur miteinander korrespondierten.112 Das geschichtliche Bewußtsein habe sich seit Johann Joachim Winckelmann und Herder bereits vom metaphysisch-naturrechtlichen Denken befreit; was in den bisherigen historischen, philologischen und soziologischen Einzelstudien aber noch gefehlt habe und was er, Dilthey, nun liefern wolle, sei eine neue Fundierung der Geisteswissenschaften. Nach dem Ende der Metaphysik könnten diese sich (so wie die Naturwissenschaften) 109  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.   14. 17 f. 288–295. 356 f.); ders.: Grundriss1, §  12. 15. 42. 60–76 (hg. Hübner, S.  329–331. 342 f.). S.  58 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  465). – Vgl. Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, S.  29–42. 206. 110  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  12 f. 163). Vgl. Oben Abschnitt 2.2.2. und 3.1. – Vgl. Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, S.  50–52. 111  Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Band 1, Leipzig 1883, S.  4 –7. 26 f. 32–34 (Gesammelte Schriften 1, S.  4 –6. 21 f. 26 f.) 112  Dilthey: Einleitung 1, S.  151–519 (Gesammelte Schriften 1, S.  121–408), bes. 243– 245. 491–503 (Gesammelte Schriften 1, S.  194 f. 386–395). Vgl. Riedel: Verstehen, S.  45– 48. 57–59.

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nur auf das real in der Erfahrung Gegebene gründen; von den Naturwissenschaften höben sie sich aber dadurch als eigenständig ab, daß sie nicht das Materielle, äußerlich Erfahrene zum Gegenstand hätten, sondern die geistigen Tatsachen, das Leben, das innere Erleben, das Bewußtsein.113 Die Geisteswissenschaften erfaßten das „Singulare, Individuale“, aber auch die Gleichförmigkeiten und Regeln und die ineinandergreifenden Systeme des gesellschaftlichen Lebens.114 Naturwissenschaftliche Methoden, wie sie etwa die Soziologie des Positivisten Auguste Comte anwende, würden der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt nicht gerecht.115 Besonders im Zusammenhang der Psychologie nimmt Dilthey Droysens Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen auf, um die naturwissenschaftlich-experimentelle und die geisteswissenschaftliche Methode gegeneinander zu profilieren: Die geistige Welt ist innerlich zugänglich und verständlich, sie kann nacherlebt werden, weil erkennendes Subjekt und zu erkennender Gegenstand in einem natürlichen und kulturellen Zusammenhang stehen.116 – Die Spannung, daß einerseits das innere Erleben und Nacherleben für die Geisteswissenschaft konstitutiv ist, andererseits aber eine Wissenschaft den Anspruch hat, nicht bloß subjektiv-beliebige Ergebnisse zu zeitigen,117 mag ein Grund

113  Dilthey: Einleitung 1, S. XIV–XVIII. 8–11. 25 f. 35 f. 45. 153 f. 271. 501–503. 511 (Gesammelte Schriften 1, S. XV–XIX. 7–9. 20 f. 28 f. 36. 123 f. 215. 394 f. 401); vgl. ders.: Ausarbeitungen zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1880–1890) (Gesammelte Schriften 19, S.  80–82. 204); ders.: Die Entstehung der Hermeneutik, in: Hg. Benno Erdmann: Philosophische Abhandlungen, Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage am 28. März 1900 gewidmet, Tübingen 1900, S.  185–202, hier 187 f. (Gesammelte Schriften 5, S.  317 f.); ders.: Der Auf bau. Erste Hälfte, S.  45 (Gesammelte Schriften 7, S.  117). – Vgl. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S.  177–179; Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus, München 1992, S.  148 f. 114  Dilthey: Einleitung 1, S.  32–34. 61–65 (Gesammelte Schriften 1, S.  2 6 f. 49–52) 115  Dilthey: Einleitung 1, S.  11–18. 105. 131–137 (Gesammelte Schriften 1, S.  9 –15. 84. 105–109); vgl. ders.: Ueber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in: Philosophische Monatshefte 11 (1875), S.  118–132. 241– 267, hier 248–252 (Gesammelte Schriften 5, S.  53–58); ders.: Vorrede (1911) (Gesammelte Schriften 5, S.  3 ). 116  Dilthey: Einleitung 1, S.   31 f. 45 f. 54 f. 480 f. (Gesammelte Schriften 1, S.  25. 36 f. 43 f. 377 f.); ders.: Ausarbeitungen zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1880–1890) (Gesammelte Schriften 19, S.  276–278); ders.: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Sitzungsberichte der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften 1894, Berlin 1894, S.  1309–1407, hier 1314. 1342 (Gesammelte Schriften 5, S.  144. 172); ders.: Die Entstehung, S.  188 f. (Gesammelte Schriften 5, S.  318 f.); ders.: Der Auf bau. Erste Hälfte, S.  8–12 (Gesammelte Schriften 7, S.  83–87); ders.: Plan der Fortsetzung zum Auf bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) (Gesammelte Schriften 7, S.  205–227. 278). Vgl. Joachim Thielen: Wilhelm Dilthey und die Entwicklung des geschichtlichen Denkens in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert, Trierer Studien zur Kulturphilosophie 3, Würzburg 1999, S.  92–101. 117 Vgl. Dilthey: Die Entstehung, S.   187. 202 (Gesammelte Schriften 5, S.  317. 331); Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, Buch 1 (Gesammelte Schriften,

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dafür gewesen sein, daß Dilthey seine Grundlegung der Geisteswissenschaften trotz wiederholten Anläufen nicht vollenden konnte. Schleiermacher und Dilthey werden gelegentlich als die beiden Urheber einer hermeneutischen Geisteswissenschaft genannt, die nicht mehr nach der Wahrheit fragt und keine Normen und Systeme mehr aufstellt, sondern sich darauf beschränkt, das Gegebene verstehend nachzuvollziehen.118 Tatsächlich ist die Hermeneutik bei Schleiermacher aber nicht die allgemeine Methode der Geisteswissenschaft, sondern eine technische Disziplin oder Kunstlehre mit dem Zweck, sprachliche Äußerungen schriftlicher oder mündlicher Art zu verstehen und Mißverständnisse wo möglich zu vermeiden.119 Schleiermacher kennt auch gar keine spezielle Methode der Geisteswissenschaft gegenüber der Naturwissenschaft, sondern beide haben einen spekulativen und einen historisch-empirischen Teil. Und zwischen der Ethik als spekulativer Geisteswissenschaft und der geschichtlichen Wirklichkeit vermittelt nicht die Hermeneutik, das tun vielmehr die kritischen Wissenschaften wie die Religionsphilosophie.120 Aber nicht nur für Schleiermacher, auch für Dilthey trifft es nicht zu, daß er die Geisteswissenschaft auf das Hermeneutische reduziert, denn für Dilthey gehört es zur Geisteswissenschaft auch, Werturteile, Imperative und Regeln für die Gestaltung der Zukunft aufzustellen.121 Schließlich hat Dilthey zwar reichlich Schleiermacher studiert – schon eine frühe Preisschrift und die Dissertation haben Schleiermachers Hermeneutik und Ethik zum Gegenstand122 –, sich aber mit dessen Positionen nicht unbedingt identifiziert.123 Schleiermacher gehört für Dilthey zusammen mit Hegel zu denen, die versuchen, die Geisteswissenschaft weiterhin auf metaphysische Grundlagen zu bauen.124 Band 3), Tübingen 1922, S.  516–519 (Kritische Gesamtausgabe 16,2, S.  786–789); Jaeger/ Rüsen: Geschichte, S.  149–151. 118  Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Band 1, 5.   Aufl. (Gesammelte Werke, Band 1), Tübingen 1986, S.  189–201. 226–246; Band 2 (Gesammelte Werke, Band 2), Tübingen 1986, S.  57–59. 97–101. 425–427; Jean Grondin: Hermeneutik, Göttingen 2009, S.  20–29. Vgl. dazu Andreas Arndt: Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, S.  326–335. 119  Allgemeine Hermeneutik 1809/10, Einleitung, §  1–3. 16 (KGA II/4, S.  73. 75 f.). Vgl. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1995, S.  96–102. Dagegen meint Wilhelm Gräb: Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie bei Schleiermacher, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 54 (2012), S.  240–261, hier 245, Schleiermacher mache „die Dialektik zusammen mit der Hermeneutik zur Lehre von der Methode des Erkennens der geschichtlichen Wirklichkeit“. 120  Vgl. oben Abschnitt 3.2. und 5.2. Vgl. Scholtz: Ethik, S.  7–10. 86–89. 106–109. 121  Dilthey: Einleitung 1, S.  32 f. (Gesammelte Schriften 1, S.  27) 122  Wilhelm Dilthey: Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik (1860) (Gesammelte Schriften 14,2, S.  597–787); ders.: De principiis ethices Schleiermacheri, Berlin 1864 123 Vgl. Wilhelm Dilthey: Brief (Anfang März 1860) an die Eltern (Briefwechsel 1, S.  131); ders.: Brief (Ende März 1862) an den Vater (Briefwechsel 1, S.  226) 124  Dilthey: Einleitung 1, S.  131 (Gesammelte Schriften 1, S.  104 f.); ders.: Der Auf bau. Erste Hälfte, S.  39 (Gesammelte Schriften 7, S.  111 f.). Vgl. auch Gunter Scholtz: Schleier-

10. Ausblick

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Größer als mit Dilthey sind Schleiermachers Gemeinsamkeiten mit Droysen; nur ist zwischen diesen beiden keine direkte Verbindung oder Abhängigkeit evident. Vermittelt sind die Gemeinsamkeiten wohl durch den Altphilologen August Boeckh, Schleiermachers Schüler in Halle und Freund und später Droysens Lehrer.125 Boeckh sagt, Schleiermachers Hermeneutik habe ihn so geprägt (gemeint ist wohl das Hallenser Kolleg von 1805), daß er im Nachhinein Schleiermachers und seine eigenen Gedanken nicht mehr klar sondern könne.126 Gegenüber Schleiermacher weitet Boeckh den Gegenstand der Hermeneutik aber von gesprochenen und geschriebenen Texten auf Gebiete wie die bildende Kunst und die Technik aus.127 Die Philologie bestimmt Boeckh als die Kenntnis des Erkannten; sie habe es immer mit der Sprache zu tun, die eben das Vehikel des Erkennens sei, und falle mit der Geschichte zusammen: Geschichte sei eben alles das, was vom menschlichen Geist mittels der sprachlichen Zeichen und Symbole erkannt und überliefert sei und neu aufgefaßt werde.128 Diesen Gedanken, daß Geschichte immer gewußte und sprachlich vermittelte Geschichte (und eben nicht das Ereignis selbst) sei, äußert auch Droysen.129 Insofern kann dann das gesamte Gebiet der Geschichte zum Gegenstand einer Theorie des sprachlichen Verstehens werden. (Droysen begründet das Verstehen als historische Methode freilich nicht mit der Sprachlichkeit, sondern mit der Verständlichkeit der Äußerungen und Produkte des menschlichen Geistes.) In seinen Ausführungen zur historischen Kritik kann Schleiermacher ebenfalls machers Dialektik und Diltheys erkenntnistheoretische Logik, in: Dilthey-Jahrbuch 2 (1984), S.  171–189, bes. 177–180. 125 Das vermuten Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, S.   219; ­Giovanni Moretto: Etica e storia in Schleiermacher, Istituto italiano per gli studi filosofici. Seria Studi 2, Neapel 1979, S.  18–20. So erklärt Boeckh (wie Schelling, Schleiermacher und Droysen) die Natur und den Geist und dessen Entwicklung für den Gegenstand aller Erkenntnis und die Physik und die Ethik für die zwei Wissenschaften (August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuscheck, Leipzig 1877, S.  4. 9 f.). – Im Sommersemester 1827 hörte Droysen in Berlin Boeckhs philologische Enzyklopädie, vgl. Christiane Hackel: Die Bedeutung August Boeckhs für den Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen, Würzburg 2006, S.  8. 23. 126  Boeckh: Encyklopädie, S.   75. Boeckh stellt wie Schleiermacher einen hermeneutischen Zirkel zwischen Einzelnem und Ganzem auf und hat für die Hermeneutik das Ziel, den Autor besser zu verstehen als der sich selbst (a.a.O., S.  83–88; vgl. z. B. Allgemeine Hermeneutik 1809/10, Einleitung, §  12; Teil 2, §  4 4, KGA II/4, S.  74 f. 114). 127  Boeckh: Encyklopädie, S.  7 7 f. 128  Boeckh: Encyklopädie, S.   10–12. Vgl. Frithjof Rodi: Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt am Main 1990, S.  78–83. 129  Droysen: Historik 1857 (hg. Leyh/Blanke 1, S.  8 f.). In der späten Fassung der Historik formuliert Droysen eine allgemeine Zeichentheorie für die empirische Welt: Alle Empirie beruht auf Reizung der Sinnesnerven; der Geist empfängt durch sie nicht Abbilder, aber Zeichen von den äußeren Gegenständen und stellt sich so die äußere Welt als ein System von Zeichen und eine sich stets verändernde und erweiternde Welt von Vorstellungen dar (Droysen: Grundriss3, §  4, hg. Leyh/Blanke 1, S.  421 f.; ders.: Historik 1882/83, hg. Hübner, S.  6 –8).

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D. Schluß

die Gesamtheit des historisch Überlieferten als Erzählung fassen (vgl. oben Abschnitt 5.2.). Eine Hermeneutik der Geschichte als Lehre vom Verstehen dieser Erzählung hat Schleiermacher dann aber nicht ausgebildet. Aber auch wenn die Ahnenreihe eines historisch-hermeneutischen Wissenschaftsparadigmas von Schleiermacher über Droysen zu Dilthey insgesamt eine fragwürdige Konstruktion ist – es gibt eine Gemeinsamkeit, die Herder, Schleiermacher, Humboldt, die Berliner historische Schule,130 Droysen und Dilthey samt ihrer jeweiligen Opposition gegen historische Pragmatik, spekulative Konstruktion der Geschichte und naturwissenschaftlich-monistische Geschichtswissenschaft miteinander verbindet, und das ist eben die Einsicht in die Widerständigkeit des Individuellen in der Geschichte gegenüber allen Erklärungen und Gedankensystemen: Das Individuelle läßt sich weder aus Ursachen und Gesetzmäßigkeiten erklären noch begrifflich ganz in ein System integrieren, sondern immer nur in der Wirklichkeit vorfinden; 131 oder mit einem Wort Diltheys: „Daher sind die sociologischen und geschichtsphilosophischen Theorien falsch, welche in der Darstellung des Singularen einen bloßen Rohstoff für ihre Abstraktionen erblicken.“132

130 Vgl.

Wilhelm Dilthey: Rede zum 70. Geburtstag (1903) (Gesammelte Schriften 5, S.  7–9); ders.: Der Auf bau. Erste Hälfte, S.  39. 45 (Gesammelte Schriften 7, S.  112. 117); Ernst Simon: Ranke und Hegel, Historische Zeitschrift, Beiheft 15, München 1928, S.  19– 54; Elert: Der Kampf, S.   69–74; Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S.   89–94; ­Moretto: Etica, S.  543–546; Scholtz: Ethik, S.  288 f. Dilthey sagt rückblickend, er habe in Berlin noch das Ende der Bewegung miterlebt, die die historische Wissenschaft konstituiert habe; dazu rechnet er Humboldt, Friedrich Carl von Savigny, Barthold Georg Niebuhr, Heinrich Ritter, Jakob Grimm und Leopold von Ranke. Schleiermacher und Hegel gesteht er dabei zu, sie hätten die abstrakte Systematik der historischen Begriffe durch das Bewußtsein von deren Geschichtlichkeit durchdrungen. Demgegenüber beschreiben Simon, Iggers und Moretto die Konkurrenz zwischen der historischen und der Hegelschen philosophischen Schule an der Berliner Universität seit den 1820er Jahren; Schleiermacher habe mit seinen philologischen Arbeiten mehr der ersten nahegestanden. 131 Vgl. Troeltsch: Der Historismus 1 (Gesammelte Schriften 3), S.  513 f. (Kritische Gesamtausgabe 16,2, S.  782); Meister: Die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, S.  43– 46. 132  Dilthey: Einleitung 1, S.  115 (Gesammelte Schriften 1, S.  91)

11. Würdigung 11.1.  Wirklichkeit und Idee Die Kunst der Geschichtsschreibung besteht nach Schleiermacher darin, das Vergangene so zu erzählen, daß Äußeres und Inneres, Wirklichkeit und wirksame Ideen und Kräfte einander zugeordnet sind, sich wechselseitig auslegen und eins aus dem jeweils anderen ersichtlich wird. Eine ideenlose Chronik oder pragmatische Darstellung leistet das ebenso wenig wie eine rein spekulative Konstruktion oder auch eine Tendenzschrift aus Rücksicht auf ein System oder eine Ideologie. Die erste Frage ist also, ob Schleiermacher bei seiner kirchengeschichtlichen Darstellung seinem eigenen Ideal gerecht geworden ist. Und man kann wohl zunächst sagen, daß er zumindest nicht völlig daran gescheitert ist: Schleiermachers Vorlesung macht weder den Eindruck, das Material in eine diesem fremde Konstruktion zu zwängen, noch, die geschichtliche Wirklichkeit tendenziös zu verzerren, noch auch, den roten Faden völlig zu verlieren. Die Schwerpunkte der Darstellung weichen freilich oft genug von den gegenwärtigen Konventionen ab. Gelungen ist die Darstellung aber auch nicht gleichmäßig gut. Eine eigene Erarbeitung der Quellen, die Rekonstruktion eines zusammenhängenden Ereignisverlaufes und die Verknüpfung alles dessen mit der Idee der sich in der Zeit und in der Welt entwickelnden und fortschreitenden Gemeinschaft des christlichen Glaubens ist für die erste Periode recht überzeugend geraten. In der zweiten und dritten Periode haben wir ein Übergewicht des Materials über die Verarbeitung; bei der Dogmengeschichte als begrifflicher Selbstentfaltung dessen, was im Wesen des Christentums begründet ist, gelingt hier noch eine überzeugende Verknüpfung von Idee und geschichtlicher Wirklichkeit. In der zweiten Hälfte der dritten Periode treten aus Zeitgründen punktuell ausgewählte Ereignisse an die Stelle des Zusammenhangs. Dies gilt auch für die vierte Periode. Der Darstellung dieser Zeiträume könnte man auch am ehesten vorwerfen, daß sie zu interessengeleitet sei. Daß ihm für eine wirklich fundierte Darstellung der Kirchengeschichte ein zeitaufwendiges gründliches und kritisches Erarbeiten der Quellen fehle, hat Schleiermacher selbst gespürt (vgl. oben Abschnitt 2.4.2.). Eigene Forschung an den Quellen mit kritischem Vergleich der Sekundärliteratur hat Schleiermacher

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D. Schluß

vor allem zu den ersten drei Jahrhunderten angestellt. Es drängt sich auch der Eindruck auf, daß er keinen allzu großen Wert darauf legte, auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu sein: Sein Leitfaden ist die ungeheuer breite, immerhin quellennahe Kirchengeschichte Johann Matthias Schröckhs, damals schon einige Jahrzehnte alt. Das Kompendium von 1821/22 orientiert sich vom ausgehenden Hochmittelalter an Johann Salomo Semlers kurzen und kritischen, fast zusammenhanglos aneinandergereihten Auszügen aus der Kirchengeschichte, einem Werk, das schon rund 50 Jahre alt war. Die neueste Literatur zur Kirchengeschichte hat Schleiermacher kaum berücksichtigt; zu den Ausnahmen gehören eine der Monographien seines Kollegen Neander, die über die gnosti­ schen Systeme, und Band 1 des neuen, ganz an den Quellen ausgerichteten Gieselerschen Lehrbuchs, das Schleiermacher im Kolleg von 1825/26 noch an ein paar Stellen eingearbeitet hat. Den gleichen Befund haben wir bei der Statistik (vgl. oben Abschnitt 9.3.1.). Schleiermachers Vorlesung sollte eine innere Geschichte des Christentums sein, ein Leitfaden dafür, die Grundkräfte der Kirchengeschichte zu erfassen und dadurch selbst fähig zu werden, mit den Quellen und der Fachliteratur zu arbeiten (vgl. oben Abschnitt 5.3.). Diesen Leitfaden konnte er, wo ihm die Zeit für eine eigene gründlichere Aneignung des Stoffs fehlte, zur Not auch mit Hilfe älterer Literatur bestreiten (wobei die Faktenkenntnis, die er sich dergestalt angeeignet hat, immer noch verblüffend ist). – Schleiermacher hat selbst gesagt, der historische Sinn sei auch eine Sache des Alters und der Lebenserfahrung.1 Alter und eigene Erfahrung auf den verschiedenen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens, nicht zuletzt im Kirchendienst, in der Kirchenleitung und in der Politik, sind es, die dem Mangel von Schleiermachers Fachkenntnissen aufgeholfen haben; man kann sagen, daß sie bei ihm die Funktion der ethisch-doktrinalen Kritik wahrnehmen, daß sie also zwischen den (mit August Ludwig von Schlözer zu sprechen) „Tatsätzen“ und den ethischen Ideen vermitteln und so dazu helfen, das Einzelne zu ordnen und zusammenzufügen, zu verstehen und zu bewerten (vgl. oben Abschnitt 5.2.). Weil er sich im Leben und in Kirche und Staat auskannte, darum konnte Schleiermacher aus einer Materialsammlung voller zusammengetragener Einzelheiten ein Kolleg machen, das zeigte, wie der christliche Geist in die geschichtliche Wirklichkeit eintritt und wie die Kirche als Gemeinschaft unter gegebenen äußeren Umständen Gestalt annimmt und sich entwickelt.2 1 

Kirchengeschichte 1825/26 (KGA II/6, S.  677) Wilhelm Pauck: Schleiermacher’s Conception of History and Church History, in: Journal for Theology and the Church 7 (1970), S.  41–67, hier 54, schreibt dazu, wenn Schleiermacher die Einheit von Empirie und Spekulation fordere, so habe er doch weder wie Hegel die geschichtlichen Entwicklungen spekulativ konstruiert noch wie die Pragmatiker und die späteren Positivisten gründliche empirisch-historische Studien getrieben. „One can perhaps say that he observed intuitively and that he judged critically the ways of men in all cultural activities, and particularly in the field of religion, always helped by his own very great dialec2 

11. Würdigung

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11.2.  Geschichtliches Verständnis Ernst Troeltsch stellte in seiner berühmten, aus mehreren Reden und Studien erwachsenen Monographie über den Historismus und seine Probleme eine „grundsätzliche Historisierung unseres Wissens und Denkens“ über „den Menschen, seine Kultur und seine Werte“ fest: Was einst kraft Natur, Vernunft oder göttlicher Setzung schlechthin gegolten habe, erscheine jetzt als individuell und geschichtlich gegeben und darum kontingent und bloß relativ gültig.3 Aus dem Erleben der Geschichte selbst ergebe sich schon die Frage nach dem Sinn; 4 die Vermittlung zwischen der materialen Geschichte einerseits, der Sinnfrage und der Ethik andererseits sei das klassische Feld der Geschichtsphilosophie.5 Doch durch die allgemeine Historisierung und Relativierung seien beide Bereiche nun gegeneinander abgeschlossen: Einerseits ließen sich aus der Geschichte keine allgemein gültigen Werte gewinnen oder auch Fragen nach dem Sinn beantworten,6 und andererseits erscheine es als problematisch, mit den Maßstäben der eigenen (geschichtlich bedingten) Ethik andere Entwicklungen und fremde Kulturkreise zu messen und zu beurteilen.7 Der Historiker Friedrich Meinecke sah zwar wie Troeltsch die Gefahr eines allgemeinen Relativismus; doch für ihn war der Historismus vor allem eine der großen Errungenschaften besonders des deutschen Geistes, nämlich die Überwindung des generalisierenden naturrechtlich-rationalistischen Denkens. Historismus sei nicht bloß ein Wissenschaftsprinzip, sondern auch und vor allem ein Lebensprinzip, eine Auffassung des Lebens als Individualität und Spontaneität und als Entwicklung.8 tical skill in making distinctions and by the love of constructing edifices of thought (Gedankengebäude).“ 3  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, Buch 1 (Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922, S.  9 f. 102. 108 (Kritische Gesamtausgabe 16,1, S.  176–178. 281. 287); ders.: Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 33 (1922), S.  572–590, hier 573 f. (Kritische Gesamtausgabe 15, S.  437 f.) 4  Troeltsch: Der Historismus 1 (Gesammelte Schriften 3), S.  6 8–73 (Kritische Gesamtausgabe 16,1, S.  242–248) 5  Troeltsch: Der Historismus 1 (Gesammelte Schriften 3), S.   79–82. 112 f. (Kritische Gesamtausgabe 16,1, S.  253–258. 298–300) 6  Troeltsch: Der Historismus 1 (Gesammelte Schriften 3), S.  122 f. (Kritische Gesamtausgabe 16,1, S.   309–311); ders.: Die Krisis, S.   582–584 (Kritische Gesamtausgabe 15, S.   4 47–449) 7  Troeltsch: Der Historismus 1 (Gesammelte Schriften 3), S.  73–78. 164–177. 703–711 (Kritische Gesamtausgabe 16,1, S.  248–252. 358–370; 16,2, S.  1020–1029). Vgl. Georg Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S.  244–253; Otto Gerhard Oex­ le: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116, Göttingen 1996, S.  57–60. 103–105. 8  Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München und Berlin 1936, S.  2 –6 (Werke 3, S.  2 –5); ders.: Vom geschichtlichen Sinn, 5.  Aufl., Stuttgart 1951, S.  8 –13. 48–68. 97 f. (Werke 4, S.  48–68. 264–278. 341). Vgl. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S.  14. 28. 45 f. 48 f. 279–287.

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D. Schluß

„Meineckes Werk wurde so zu einer Hymne auf den heilsamen Sieg der Unvernunft im modernen Bewußtsein.“9

Der Ausdruck „Historismus“ verbreitete sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Schlagwort, aber auch als wissenschaftstheoretischer Begriff. Bis heute schillert er zwischen verschiedenen Bedeutungen, die sich voneinander nicht scharf abgrenzen lassen.10 Unter Historismus versteht man die Professionalisierung und Systematisierung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, die Ausweitung der Quellenkenntnis und Fortschritte in der Heuristik, Edition, philologischen und historischen Kritik und Auswertung der Quellen, aber auch die Anschauung der Geschichte als Entwicklung von Individualitäten.11 Historismus ist die Anhäufung von Tatsachenwissen um seiner selbst willen, wie sie Friedrich Nietzsche (der den Begriff selbst noch nicht verwendete) als Lähmung aller Lebendigkeit anprangerte.12 Historismus ist die nachreligiöse und nachmetaphysische Anschauung der Welt als Geschichte,13 wobei die Einsicht, daß die Geschichte aus sich selbst heraus zu begreifen sei und daß alle Normen selbst geschichtlich seien, zu einem historischen Pantheismus führen kann, aber auch zum skeptischen Relativismus.14 Historismus ist das ideologische Fundament für die Legitimität des kleindeutschen Machtstaates als einer gewachsenen, nationalem Wesen entsprechenden, nicht an westlich-demokratischen Normen zu messenden geschichtlichen Individuali-

9  Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S.   46. Oexle: Geschichtswissenschaft, S.  114–133, fällt daher über Meinecke das vernichtende Urteil „Sonderweg“. Tatsächlich ist Meineckes Historismus-Begriff von dem Troeltschs nicht so weit entfernt, wie Oexle meint. 10 Vgl. Karl Heussi: Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932, S.   1–21; Gunter Scholtz: Art. Historismus, Historizismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3, Basel 1974, Sp.  1141–1147; Oexle: Geschichtswissenschaft, S.  30 f. 36. 41–47. 96–113. 11 Vgl. Troeltsch: Der Historismus 1 (Gesammelte Schriften 3), S.  2 80–303 (Kritische Gesamtausgabe 16,1, S.  487–523). Vgl. auch oben Abschnitt 3.5.3., 5.2., 10.1. und 10.6. 12 Vgl. Oexle: Geschichtswissenschaft, S.  21–24. 53–57. 109. 13 Vgl. Karl Mannheim: Historismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52 (1924), S.  1–60, bes. 1–8. 52–60. 14 Vgl. Mannheim: Historismus, S.  58: „Für die Lebensproblematik bedeuten aber diese prinzipiellen Auseinandersetzungen so viel, daß es keine für alle Zeiten, ein für allemal gültige Forderungen gibt, sondern das Absolute sich in jedem Zeitalter anders konkretisiert, daß man aber, indem man die ‚Forderungen des Tages‘, den ‚nächsten Schritt‘, erfüllt, zugleich das ‚bloß Zeitliche‘ insofern transzendiert, als die ganze Bewegung selbst ihre Wahrheit hat. Diese Wahrheit ist aber in ihrem bis zu unserem Standorte führenden Emporwachsen, für uns, von unseren Wollungen aus, perspektivisch sichtbar (durch die Geschichte und die ihr Rückgrat bildende Geschichtsphilosophie). Aus unseren Ahnungen, instinktmäßigen Wollungen heraus wird für uns die Geschichte in einer Querschichtung erfaßbar, und umgekehrt erhalten wir in den aus der Geschichte herausgearbeiteten konkreten Werten, die wir bis zu unserem Standort sich entwickeln sehen, auch inhaltlich explizierbare Erfüllungen für unser zunächst ungeklärt dumpfes Wollen. So gewinnt man aus der Geschichte die konkret-inhaltlich erfüllten Forderungsmaßstäbe, und man gewinnt sie nur insofern, als man sie instinktmäßig (weil getragen vom Gesamtgeist) bereits hat.“

11. Würdigung

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tät.15 Historismus ist ein Schimpfwort aus dem Lager der historischen Sozialwissenschaft gegenüber ereignis- und personenorientierten Geschichtsdarstellungen. Historismus ist schließlich auch ein Kunststil, der sich an Formen vergangener Epochen orientiert. Um 1900 mehren sich in der protestantischen Theologie die Stimmen, die vor einer Alleingeltung der historischen Methode und vor einer Überführung der Theologie in eine historisch-hermeneutische Kulturwissenschaft warnen: Die konsequente Historisierung von Dogma und Religion führe nicht zur Her­ ausarbeitung des übergeschichtlichen und übernatürlichen Kerns des Christentums, auch nicht zum Wahrheitsbeweis des Christentums aus der Geschichte oder Religionsgeschichte, sondern nur zum Relativismus; sie lasse sich nicht vermitteln mit der für den christlichen Glauben konstitutiven Wahrheits- und Heilsgewißheit. In den 1920er Jahren erwuchs daraus die expressionistische Geschichts- und Kulturkritik der „dialektischen Theologie“ und anderer Richtungen.16 Mit dem frühen „Historismus“ gehörte Schleiermacher zusammen durch seine kritischen Arbeiten in der Altphilologie, aber auch als einer derer, die den romantischen Individualitäts- und Entwicklungsgedanken in die Geschichtsanschauung überführten.17 Meinecke zählte Schleiermacher zu den Bahnbrechern der historistischen individuellen Lebensschau.18 Dem Historismus wurde Schleiermacher auch insofern zugerechnet, als zu seiner philosophischen Arbeit nicht nur die Ausbildung eines eigenen Systems gehörte, sondern auch Studien zur Philosophiegeschichte, besonders zur griechischen Philosophie, Studien also, wie sie dann nach der Blütezeit der großen Systeme zu einem Hauptgebiet der akademischen Philosophie wurden.19 Für Schleiermacher war historisches Wissen indessen nie reiner Selbstzweck, sondern sollte immer dazu dienen, die Gegenwart zu verstehen und zu gestalten. 15 Vgl.

Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S.   18–29. 122–128. 137 f. 154–162; Gérard Raulet: Die Hypothek des Sonderwegs, in: Hg. ders.: Historismus, Sonderweg und dritte Wege, Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik 5, Frankfurt am Main 2001, S.  7–31, hier 23–28; Ingrid Voss: Die preußische Ausrichtung der deutschen Historiographie im 19. Jahrhundert, ebd. S.  32–50; Manfred Gangl: Naturrecht, Historische Rechtsschule und staatsrechtlicher Positivismus, ebd. S.  51–78, hier 51–55. 69–78. 16  So etwa Emil Brunner: Geschichte oder Offenbarung? in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 33 (1925), S.  266–278, bes. 270 f., wo es heißt, die Offenbarung sei nicht ein Teil oder der Höhepunkt der Geschichte, sie befreie vielmehr von der Geschichte. Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Geschichte durch Übergeschichte überwinden, in: Hg. Wolfgang Küttler: Geschichtsdiskurs, Band 4, Frankfurt am Main 1997, S.  217–244; Kurt Nowak: Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär, hg. von Jochen-Christoph Kaiser, Konfession und Gesellschaft 25, Stuttgart 2002, S.  433–444. 469. 17  Instruktiv zu diesem Komplex ist noch immer Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Band 3, Freiburg 1934, S.  36–119. 18  Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn 5, S.  102–106 (Werke 4, S.  3 44–346) 19 Vgl. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1995, S.  2 86–313.

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D. Schluß

„Nichts ist unfruchtbarer als eine Anhäufung von geschichtlichem Wissen, welches weder praktischen Beziehungen dient, noch sich Anderen in der Darstellung hingiebt.“20

Schleiermacher ist also seiner romantischen Idee, die Geschichte ästhetisch-religiös als eine Offenbarungsgestalt des Universums anzuschauen,21 nicht treu geblieben. Die um 1900 empfundene Diskrepanz zwischen einer historisch-kritischen und einer dogmatisch-positiven Beschreibung und Beurteilung des Christentums (und besonders seiner Lehren und Lehrmeinungen) 22 hat auch schon Schleiermacher benannt (vgl. oben Abschnitt 4.3.5. und 4.3.6.). Für ihn handelt es sich dabei aber nicht um einander ausschließende theologische Ansätze, sondern um zwei Methoden der historischen Theologie. Zur historischen Darstellung des Christentums sind beide nötig, sie ergänzen einander und herrschen in den Einzeldisziplinen, je nachdem ob die mehr historisch-empirisch oder systematisch-deduktiv ausgerichtet sind. Auf eine der Methoden ganz zu verzichten, wäre aber eine Einseitigkeit. Das von Ernst Troeltsch beschriebene Dilemma des Relativismus, das man vor allem mit dem Begriff „Historismus“ verbindet, kennt Schleiermacher nicht; er hat kein Problem damit, sein spekulativ aus dem Dualismus von Vernunft und Natur gewonnenes Grundgerüst des ethischen Handelns universal auf die menschliche Geschichte und Kultur anzuwenden. Hegelsche Geschichtsphilosophie und Historismus haben je auf ihre Weise das Ideale der Geschichte historisch gedacht; für Schleiermacher steht der ideale Gehalt der Geschichte selbst außerhalb der geschichtlichen Entwicklung.23 Was sich ent­ wickelt, sind die in der Geschichte auftretenden und sich im Rahmen der ethischen Kulturtheorie bewegenden Individualitäten, aber auch diese entwickeln sich nicht der Idee nach, sondern nur insofern sie wirklich werden. Kann man Schleiermacher nun historischen Sinn und Begabung für das geschichtliche Gebiet zuschreiben? Zunächst: Schleiermacher ist sich – im Gegensatz etwa zum jungen Philipp Marheineke (vgl. oben Abschnitt 3.5.1.) – der geschichtlichen Bedingtheit und Positivität seiner Anschauung bewußt. Als historischer Theologe stellt er sich 20  Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2.  Aufl., Berlin 1830, §  191 (KGA I/6, S.  392) 21  Über die Religion, Berlin 1799, S.  9 9–104 (2. Rede) (KGA I/2, S.  2 32–234) 22  Vgl. z. B. Ernst Troeltsch: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften, Band 2), Tübingen 1913, S.  729–753. 23 Vgl. Scholtz: Ethik, S.  3 4. 69 f. 79–84; Stefan Jordan: Schleiermachers Geschichtsbegriff und seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, in: Hg. Dieter Burdorf und Reinold Schmücker: Dialogische Wissenschaft, Paderborn 1998, S.  187–205, hier 202. Gunter Scholtz macht darauf aufmerksam, daß, indem für Schleiermacher die Idee nicht das Produkt der geschichtlichen Entwicklung ist, für ihn die geschichtliche Wirklichkeit auch nicht per se vernünftig oder zielführend ist, vielmehr ein Gegenstand kritischer Prüfung.

11. Würdigung

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auf den geschichtlich gegebenen, weder spekulativen noch übernatürlichen Standpunkt des Christentums, genauer: der evangelischen Kirche. Aber auch die Rechenschaft über die Positivität des eigenen Standpunktes und darüber, daß sich die Geschichte aus einer anderen Perspektive ganz anders darstellt, bedeutet für Schleiermacher keine Relativierung der eigenen Sicht und ihres Wahrheitsanspruchs. Im Gegenteil: Gerade indem die Geschichte aus einer bestimmten ethischen und religiösen Sicht und mit einer bestimmten auch praktischen Fragestellung betrachtet wird, wird sie Geschichte auf der Grundlage einer Idee statt geistlose Chronik. Wilhelm von Humboldt und Johann Gustav Droysen bildeten eine historische Hermeneutik aus, beruhend auf dem Postulat, daß der menschliche Geist fähig sei, Erzeugnisse des menschlichen Geistes verstehend nachzuvollziehen; Karl von Hase konnte in diesem Sinne das vergangene Leben der Kirche auch dort auf sich wirken lassen, nachempfinden und darstellen, wo es seinem eigenen freisinnig-protestantischen Standpunkt fern lag. Für Schleiermacher dagegen gilt, was Friedrich Lücke im Nachruf über die historisch-philologische Arbeit seines Freundes schrieb: „Schleiermacher gehört zu denen, welche weit mehr eigenthümlich auffassen, als sich hingeben, den Schriftsteller mehr zu sich herüberziehen, als sich von ihm ziehen zu lassen.“

Schleiermacher habe seine mächtige Eigentümlichkeit allem aufgeprägt, was in seinen Kreis getreten sei.24 Walter Niggs etwas gehässige Bemerkung, August Neander mache, entsprechend dem eigenen Frömmigkeitstypus, die ganze Kirchengeschichte zu einem neupietistischen Jünglingsverein oder einer alkohol­ freien Gemeindeteestube,25 trifft mutatis mutandis jedenfalls auf Schleiermacher zu: Als Ethiker und Geschichtstheoretiker macht er die Bedeutung des Individuellen und den historisch-individuellen Charakter des Christentums geltend, als Kirchenhistoriker ist er für individuelle Gestalten des Christentums als Idee aber im Grunde verständnislos; was er unter den jeweils gegebenen geschichtlichen Umständen als geistiges Prinzip wirken und sich verwirklichen sieht, ist immer wieder dasselbe Christentum, sein eigenes.26 Bei Schleiermachers historischer Arbeit haben wir also erstens eine Dominanz des eigenen Interesses, mit dem er seinem Gegenstand gegenübertritt, zweitens ein Bewußtsein für die Geschichtlichkeit, Positivität und Individuali24  Friedrich Lücke: Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S.  745–813, hier 771 25  Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, München 1934, S.  172 f. 26  Wilhelm Gräb: Schleiermachers Beitrag zu einer Hermeneutik der Religion, in: Hg. Andreas Arndt und Jörg Dierken: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik – Interpretationen und Perspektiven, Berlin und Boston (im Druck), meint, als Hermeneutiker sei Schleiermacher vor allem anderen ein Hermeneut des Religiösen. Wir hoffen, deutlich gemacht zu haben, daß Schleiermacher gerade das nicht ist.

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tät der menschlich-kulturellen Welt und aller Standpunkte, von denen aus sie betrachtet und gedeutet wird, und schließlich die Vorstellung, daß die Grundkonstellationen in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Kulturschaffens sich doch wesentlich gleich bleiben. Und insofern finden wir bei Schleiermacher nebeneinander einerseits die Beurteilung der Vergangenheit aus der Sicht des eigenen Standpunktes in der Gegenwart und andererseits Versuche, die Vergangenheit aus sich selbst heraus nachzuvollziehen und zu verstehen. Interesse und Verständnis zeigt Schleiermacher für die Dogmen- und Theologiegeschichte; selbst abgelegenere scholastische Probleme haben ihn gereizt, sie mit dem ihm eigenen dialektischen Scharfsinn zu durchdenken und die Lei­ stungen der Vorderen zu würdigen, vor dem Hintergrund ihrer Zeit ebenso wie im Licht der eigenen Gegenwart und als Stufe der Entwicklung dorthin. Aufgrund der eigenen Erfahrungen in Politik, Kirchenregiment und Kirchendienst vollzieht er Konstellationen und Handlungsabläufe der Vergangenheit nach und berücksichtigt umgekehrt bei Gegenwartsfragen die Erfahrungen der Vergangenheit.27 So kann er die Verdammungsurteile der Confessio Augustana mißbilligen, andererseits aber auch verstehen, daß die Reformatoren in ihrer Zeit schärfer und strenger mit dem Ausschließen und Verurteilen von Abweichungen sein mußten, als es in der Gegenwart richtig wäre.28 Denen, die den Bekenntnisschriften rückwirkend alles besondere Ansehen absprechen wollten, bescheinigt er „einen gänzlichen Mangel an geschichtlichem Sinne“.29 Vorwiegend aus der Gegenwart heraus betrachtet Schleiermacher das späte Mittelalter und die Reformation, jenes als Verfall, der die Reformation heraufführt, oder als mehr oder weniger erfolglose Versuche einer Reformation, diese als den Durchbruch des gegenwärtigen Protestantismus. Den kulturellen Umbruch in der zweiten Periode dagegen betrachtet er mehr in sich selbst und sieht eine alte Kultur noch ein letztes Mal auf blühen und dann in geistiger Kraftlosigkeit verfallen und eine neue Kultur aus der Barbarei emporkommen und ihr erstes, „mosaisches“ Zeitalter einer strengen äußerlichen Gesetzlichkeit durchlaufen. Auffällig wenig Verständnis hat Schleiermacher wie gesagt für das, was ihm religiös fernliegt: Mönchtum, Papsttum, Heiligenverehrung und überhaupt das, was sich an äußerlichen Ritualen oder Gegenständen festmacht. Hier sieht er einfach fremde Prinzipien am Werk, von deren Einfluß die Kirche sich reinigen muß.

27 

Vgl. z. B. Praktische Theologie 1817/18 (Nachschrift Jonas, SN 550, fol.  144. 144v), wo Schleiermacher für die Frage nach der moralischen Autorität und Sittlichkeit der Geistlichen die Entwicklung vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart rekapituliert. 28 Praktische Theologie 1821/22 (Nachschrift Klamroth, SN 551, fol.   92v). Vgl. auch oben Abschnitt 9.2.2.5. 29  Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen der symbolischen Bücher, in: Reformationsalmanach 2 (1819), S.  335–380, hier 367 f. (KGA I/10, S.  136 f.)

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11.3.  Geschichte im kirchenleitenden Interesse Schleiermachers System der Theologie und ihrer Einzeldisziplinen (vgl. oben Abschnitt 3.4.2. und 3.6.) ist bis heute eindrucksvoll: Die christliche Theologie ist nicht die Wissenschaft vom Absoluten oder eine Abteilung der beschreibenden Religionswissenschaft, sie verdankt sich als positive Wissenschaft dem Dasein der christlichen Kirche, dem christlich-kirchlichen Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und Selbstreflexion und der Notwendigkeit, wissenschaftlich fundierte Kenntnisse zur Leitung der Kirche zu sammeln, zu organisieren und anzuwenden. Die Kenntnisse und Methoden selbst entstammen anderen wissenschaftlichen Gebieten, nicht zuletzt der Geschichtswissenschaft. Die theologischen Einzeldisziplinen können sich nicht als Spezialgebiete nur für Experten voneinander isolieren, sondern müssen füreinander ansprechbar bleiben und den gemeinsamen „erbauenden“ Endzweck im Auge behalten – eine Mahnung, die für die Gegenwart noch beherzigenswerter ist, als sie es für Schleiermachers Zeit war.30 Um zu begründen, daß die Kirchengeschichte ein eigenes Fach innerhalb der universitas litterarum und eine Disziplin von eigener Relevanz ist, 31 muß also nicht auf Gegenstände oder Methoden verwiesen werden, die ihr allein eigen, anderen Disziplinen aber fremd wären; 32 es reicht aus, auf ihre Notwendigkeit innerhalb der Aufgabe der Theologie hinzuweisen: 33 Solange die christliche 30 Vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermacher-Studien, hg. von Hermann Fischer, Schleiermacher-Archiv 16, Berlin und New York 1996, S.  292–294. 31  Vgl. zur neueren Diskussionen darüber, ob und inwiefern die Kirchengeschichte eine theologische Disziplin ist und wie sie, ihr Gegenstand und ihre Arbeitsweise sich zur allgemeinen Geschichtswissenschaft verhalten, Christian Uhlig: Funktion und Situation der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin, Europäische Hochschulschriften XXIII,269, Frankfurt am Main 1985; Steffen Storck: Kirchengeschichtsschreibung als Theologie, Aachen 1997; Albrecht Beutel: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), S.  84–110; ders.: Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Hg. Wolfram Kinzig: Historiographie und Theologie, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 15, Leipzig 2004, S.  103–118; Nowak: Kirchliche Zeitgeschichte, S.  464–473; Klaus Fitschen: Aktuelle Methodendebatten in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung, in: Hg. Kinzig: Historiographie, S.  39–52; Volker Leppin: Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch, ebd. S.  223–234; Sebastian Kranich: Christentumsgeschichte contra Theologische Kirchengeschichte, in: Hg. Klaus Tanner: Christentumstheorie. Trutz Rendtorff zum 24.01.2006, Theologie – Kultur – Hermeneutik 9, Leipzig 2008, S.  55–81. 32  So beruft sich etwa Heinzpeter Hempelmann: „Erkenntnis aus Glauben“, in: Kirchliche Zeitgeschichte 10 (1997), S.  263–304, bes. 267–282, auf Karl Barth und die „Gegenstandsgemäßheit“ als Kriterium der Wissenschaftlichkeit und begründet die theologische Kirchengeschichte mit dem ihr eigenen hamartologischen Zugriff auf die Geschichte, der dem Gegenstand adäquater sei als die nichttheologischen Ansätze. 33  Vgl. Praktische Theologie 1824 (Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 4): „Es ist offenbar, daß ein jeder Augenblick nur recht verstanden wird, in seinem geschichtlichen Zusammenhang und daß aus Mangel an geschichtlicher oder aus falscher geschichtlicher Ansicht, Ver-

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Kirche sich selbst als geschichtlich versteht, gehört die Erforschung und Darstellung der Kirchengeschichte zur Selbstreflexion der Kirche und ist daher ein notwendiger Teil der theologischen Wissenschaft. In der wissenschaftlichen Methodik unterscheidet sich die Kirchengeschichtswissenschaft nicht von der sonstigen historisch-kritischen und hermeneutischen Wissenschaft; 34 sie kann sich nur solcher Methoden bedienen, die sie vor den anderen Geisteswissenschaften, besonders der Geschichtswissenschaft und der Philologie, verantworten kann. Ihr Forschungsgebiet überschneidet sich mit dem anderer Disziplinen wie der allgemeinen Geschichte, der Geistesgeschichte, der Religionsgeschichte usw.35 Ein solches Verhältnis findet auch sonst statt, etwa da, wo eine Wissenschaft die Geschichte ihres Gegenstandes oder diejenige der Erforschung ihres Gegenstandes betreibt (z. B. Geschichte der Literatur und der Philologie; ebenso wird z. B. innerhalb der Theologie die Theologiegeschichte von Kirchengeschichtlern und Systematikern betrieben). Die Forschungsergebnisse verschiedener Disziplinen über einen gemeinsamen Gegenstand bleiben wechselseitig füreinander brauchbar, wenn die wissenschaftliche Methodik gegenseitig anerkannt ist. Schwieriger ist die Frage, ob sich die Kirchengeschichtswissenschaft über die Methodik der historisch-philologischen Wissenschaften hinaus noch durch einen kirchlich-konfessionellen Standpunkt und durch einen spezifisch eigenen, eben theologischen Zugang zu ihrem Gegenstand auszeichnet, oder ob ein solcher ihre Dialogfähigkeit und Interdisziplinarität konterkarierte. Kurt Nowak wies in diesem Zusammenhang einerseits auf die Gefahr einer „Whig-Interpretation of History“ hin, also einer parteiischen bis tendenziösen Darstellung im Interesse der eigenen Gruppe, andererseits auf die Pluralität und Unübersichtlichkeit der Konfessionen, Theologien und Ekklesiologien hin, aus deren Perspektiven eine theologische Kirchengeschichte geschrieben werden könnte.36 Die Unübersichtlichkeit freilich bliebe auch ohne Theologie bestehen angesichts der mancherlei miteinander konkurrierenden und ineinander verschlungenen Geschichtstheorien, Programme und methodischen Ansätze innerhalb der Geschichtswissenschaft.37 Schleiermacher hat seinen zunehmend positiv-christlichen Zugriff auf die Kirchengeschichte damit legitimiert, daß Geschichte immer angeschaute Geschichte sei und immer vom Standpunkt dessen abhänge, der sie anschaue.38 In diesem Sinne machte Eilert Herms unter Berufung auf Schleiermacher, Fried­ wirrungen in der Kirche entstehn müssen; also die Verbreitung der geschichtlichen Kunde der christlichen Kirche gehört ebenfalls zur Erhaltung und Vervollkommnung der Kirche.“ 34  Kurze Darstellung 2 , §  102 (KGA I/6, S.  364 f.) 35  Kurze Darstellung 2 , §  69 f. (KGA I/6, S.  353 f.) 36  Nowak: Kirchliche Zeitgeschichte, S.  471–473 37  Vgl. z. B. Georg Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Neuausgabe, Göttingen 2007. 38  Vgl. oben 3.4.3. und 3.4.4. Vgl. auch Wilhelm Gräb: Geschichtsphilosophie und Ge-

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rich Schlegel und Johann Gustav Droysen geltend, geschichtliches Erkennen und Verstehen sei ohne Kategorien und Begriffe unmöglich; der christliche Glaube aber sei ein möglicher kategorialer Horizont der Geschichtserkenntnis und -deutung und eine mögliche Perspektive auf die menschlich-geschichtliche Existenz. Daß die christlich-theologische Erkenntnis und Deutung der Geschichte in einer Vielzahl von Variationen auftrete, tue dem keinen Abbruch. Einer solchen christlichen Betrachtung der Geschichte rechnet Herms etwa auch die historischen Werke Rankes und Droysens zu.39 Umgekehrt wies Reinhart Staats am Beispiel von Hans-Ulrich Wehlers „problemorientierter historischer Strukturanalyse“ auf Einseitigkeiten, blinde Flecken und problematische Urteile hin, die auch eine Geschichtsdarstellung von einem dezidiert anderen Standpunkt aus haben kann, aber auch auf die implizit theologische Dimension aller ethischen Wertungen und aller Teleologie.40 Insofern hätte also eine christlich-theologische Kirchengeschichte und Geschichte unter den Bedingungen pluralistischer Unübersichtlichkeit den Vorteil des offengelegten Standortes und „Vorurteils“.41 (Das machte Schleiermacher auch schon 1821 geltend.42 ) Zu einer solchen Kirchengeschichte gehörte dann auch die Reflexion dar­ über, was Christentum und Kirche sind und – wenn anders das Heil nach dem christlichen Glauben in der Geschichte und als Geschichte erscheint und sich in schichtstheologie bei Schleiermacher, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 54 (2012), S.  240–261, hier 243. 39  Eilert Herms: Theologische Geschichtsschreibung, in: Kirchliche Zeitgeschichte 10 (1997), S.  305–330 40  Reinhart Staats: Das Kaiserreich 1871–1918 und die Kirchengeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 92 (1981), S.  69–96. Es bleibt hier Johann Martin ­Chladenius’ Einsicht bestehen, daß man sich vor tendenziösen Verzerrungen hüten müsse, daß aber reine Objektivität unmöglich sei, weil sie den Anschauenden und damit zugleich die Geschichte auf höbe; vgl. oben Abschnitt 2.2.1. 41 Vgl. Christoph Markschies: Art. Christentum II. Kirchengeschichtlich, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4.  Aufl., 2, Tübingen 1999, Sp.  196–209, hier 197; ders.: Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung I. Begrifflichkeit und Voraussetzungen, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4.  Aufl., 4, Tübingen 2001, Sp.  1170–1179, hier 1178 f. – Michael Beyer: Historiographische und theologische Urteilsbildung in neueren Gesamtdarstellungen der Kirchengeschichte, in: Hg. Kinzig: Historiographie, S.  137–152, hier 152, plädiert für eine „bewusst konfessionell rückgebundene theologische Urteilsbildung“ in der Kirchengeschichte, was dem Anliegen von Schleiermachers Rückbindung an Kirche und kirchenleitendes Interesse nahekommt. Dagegen zeigt Steffen Storck: Kirchengeschichtsschreibung in ökumenischer Perspektive, in: Kirchliche Zeitgeschichte 10 (1997), S.  331–347, gleich selbst die Problematik seines Unternehmens: Eine ökumenische Kirchengeschichtsschreibung hätte den gemeinsamen Begriff von Kirche und Christentum, den sie hervorbringen soll, bereits zur Voraussetzung, indem die Protestanten der Institution mehr Gewicht geben müßten und die Römisch-Katholischen von der Identifizierung ihrer Kirche mit der katholischen Kirche des Glaubensbekenntnisses absehen müßten. 42  Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde (KGA II/6, S.  2 2. 471–473)

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der Geschichte behauptet – auch darüber, was Geschichte ist.43 Schleiermacher nähert sich nach der Absage an Pragmatik und reine Spekulation und der Einsicht in die Individualität geschichtlicher Anschauung in der Einleitung zu seinem letztem Kompendium wieder einem heilsgeschichtlichen Konzept.

11.4.  Die sichtbare Verwirklichung des Geistes Das Problem, wie die Kirchengeschichte als eine res mixta von Geschichtswissenschaft und Theologie ihr Forschungsgebiet innerhalb der Geschichte konstituiert und auffindet, wurde schon von der Auf klärungstheologie erörtert. Die deutsche Diskussion beherrscht seit über 65 Jahren die von Gerhard Ebeling in seinem Habilitationsvortrag aufgestellte These, die Kirchengeschichte sei die Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift. „Auslegung“ möchte Ebeling dabei weit verstanden wissen, nicht nur als Exegese im technischen Sinne, sondern als die immer durch Auslegung vermittelte Wirkungsgeschichte des in der Heiligen Schrift niedergelegten Christuszeugnisses.44 In neuerer Zeit wollte Albrecht Beutel Ebelings Ansatz zu der weniger normativen Formulierung modifizieren, die Kirchengeschichte sei die Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen45 (worunter dann freilich auch eine aggressiv kirchenfeindliche Gruppierung wie das „Universelle Leben“ fiele). – Seit dem Ende der 1960er Jahre hat Trutz Rendtorff dem Konzept „Kirchengeschichte“ das Konzept „Christentumsgeschichte“ entgegengesetzt, das sich freilich besonders auf die Zeit seit dem 18. Jahrhundert bezieht, die Schleiermachers Kirchengeschichte schon nicht mehr behandelt. Rendtorff, der sich dafür u. a. auch auf Schleiermachers Unterscheidung zwischen Religion als Frömmigkeit einerseits, Lehre und Dogma andererseits beruft, möchte diese „Christentumsgeschichte“ als Fortschritt zur Emanzipation der Religion von der Kirche verstanden wissen, einer Emanzipation von kirchlicher Bevormundung sowohl institutioneller als auch dogmatischer Art.46 43  Vgl dazu auch Staats: Das Kaiserreich, S.  87–94; ders.: Protestanten in der deutschen Geschichte, Leipzig 2004, S.  13–27. – Daß sich die Kirchengeschichte damit in eine Abhängigkeit von der systematischen Theologie begibt (so Leppin: Kirchengeschichte, S.  226. 233), stimmt nur dann, wenn man die Systematik als die Theologie an sich ansieht. Schleiermacher ist nicht dieser Auffassung; für ihn entwickeln die verschiedenen theologischen Disziplinen gemeinsam die Begriffe (vgl. oben Abschnitt 1.3., 3.4.2., 3.6. und 4.1.). 44  Gerhard Ebeling: Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 189, Tübingen 1947. Vgl. Beutel: Vom Nutzen, S.  103; ders.: Kirchengeschichte, bes. S.  106–114; Leppin: Kirchengeschichte, S.  223 f. 45  Beutel: Vom Nutzen, bes. S.  100 f.; ders.: Kirchengeschichte, S.  114–116 46  Trutz Rendtorff: Art. Christentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe 1, Stuttgart 1972, S.  772–814; ders.: Theorie des Christentums, Gütersloh 1972, S.  81–95. 133–149; vgl. Kranich: Christentumsgeschichte, S.  62–68; Ulrich Barth: Sichtbare und unsichtbare

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Dem Ebelingschen Ansatz liegt die reformatorische, im Kirchenkampf erneuerte Lehre von der Kirche als creatura verbi zugrunde. Schleiermacher hätte ihn sicher nicht verworfen, muß sich doch für ihn das kirchliche Lehren und Handeln immer auf das neutestamentliche Christuszeugnis beziehen und sich an ihm prüfen lassen. Statt von der Wirksamkeit des Wortes hätte Schleiermacher aber eher von der Wirksamkeit des Geistes gesprochen; denn mit der Ausgießung des Geistes beginnt für ihn die Kirchengeschichte, der Geist ist in ihr das wirksame Prinzip, und an der ökonomischen Trinitätslehre Sabells (wie er sie rekonstruierte) sagte ihm nicht zuletzt das zu, daß in ihr das Zeitalter des Geistes in seiner Eigenständigkeit zur Geltung kommt. Nun sind aber der Geist und seine Wirkungen keine rein empirisch zu erhebenden und zu messenden Größen. Was darunter fällt, hat Schleiermacher zunächst möglichst restriktiv gefaßt als äußere und innere Verbreitung des Christentums, innere Kirchenverfassung, Kultus und Sittengeschichte, hat sich dann freilich der konventionellen Auffassung angenähert und auch die Dogmengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und die Geschichte der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche hinzugenommen. Was ihm aber offenbar vorschwebte, war, das, was in der Kirche geschieht und getan wird, wie er es denn selbst aus der Praxis kannte (und in der Sittenlehre und der Praktischen Theologie beschreibt), zum heuristischen Prinzip dafür zu machen, was ins Gebiet der Kirchengeschichte gehört. Dem Ansatz Ebelings hätte Schleiermacher also vielleicht geantwortet, daß bei ihm leicht die reale Seite der Kirchengeschichte, das kirchliche Leben, gegenüber der idealen Seite, dem Gehalt der Verkündigung, zu kurz käme. Gegenüber Beutel hat Schleiermachers Konzept insofern einen normativen Zug, als er zwar auch ihm fremden Gestaltungen der sichtbaren Kirche zugesteht, daß sie nicht ganz ohne den göttlichen Geist seien, daß er aber auch Fälle nennt, wo der Name Christi zwar beansprucht wird, aber nur als Element in einer magischen, heidnischen, jüdischen oder islamischen Religiosität (also als Zauberspruch, als Gott oder Heros neben anderen oder als Prophet); derartiges fällt dann außer die Kirchengeschichte und kirchliche Statistik.47 Von Rendtorff und seinen Freunden aber hebt Schleiermacher sich deutlich durch seine Kirchlichkeit ab. Wirksamkeit des Geistes Christi und christliches Leben kann sich Schleiermacher nur als eine geordnete und verfaßte Gemeinschaft des Auf- und Miteinanderwirkens denken,48 und die theologische WisKirche, in: Hg. Tanner: Christentumstheorie, S.  179–230, hier 216–223. Rendtorffs Ansatz nimmt z. B. Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland, München 1995, bes. S.  9 –12, auf. 47 Kirchliche Statistik 1827, 5. Stunde (KGA II/16, S.   202–204); Kirchliche Statistik 1833/34, 5. Stunde (KGA II/16, S.  477 f.); Semitischer Zweig 8 f. (KGA II/16, S.  23) 48  „Wir können uns das Christenthum unter einer andern Form, als der der gesellschaftlichen nicht denken; das ist schon im Artikel vom Heiligen Geist bevorwortet; der Heilige Geist wird überall in der Schrift als das Gemeingut, nicht als das Gut der einzelnen, in dem

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senschaft als Inbegriff der Kenntnisse zur Erhaltung und Verbreitung des Christentums ist auch deshalb immer kirchlich verankert, weil der Zweck nur so zu erreichen ist. Ein ganz unkirchliches, „freies“ Christentum wäre nicht mehr erkennbar und greif bar, es löste sich auf in eine Kakophonie von Beliebigkeiten. Insofern fragt Schleiermacher immer wieder, welches die Punkte sind, an denen sich das christliche Leben sammelt und organisiert oder auch scheidet. Impulse und Bewegungen, die nicht zur Kirchenbildung gelangen oder sich nicht wenigstens an eine bestehende Kirche anlehnen können, können nicht dauerhaft wirksam werden und verschwinden aus der Geschichte. Dies ist das Schicksal der Gnostiker, Enkratiten und Schwärmer; Tertullianisten und religiöse Konventikler halten Fühlung mit der größeren verfaßten Kirche und können so einerseits auf diese wirken, andererseits sich ohne größere Schmerzen wieder in diese hinein auflösen. Die unsteten englisch-amerikanischen Freikirchen kann Schleiermacher dem kontinentaleuropäischen Protestantismus insgesamt nicht als Vorbild empfehlen. Rendtorff könnte Schleiermacher fragen, ob er die Wirksamkeit des unkirchlichen Christentums nicht doch zu gering einschätzt; von den „Schwärmern“ der Reformationszeit etwa ist, vermittelt über die englischen Dissenters und den Pietismus, doch eine nicht geringe Wirkung ausgegangen. Umgekehrt könnte Schleiermacher Rendtorff aber auch fragen, ob nicht auch ein unkirchliches Christentum für seinen Bestand letztlich an das kirchlich verfaßte Christentum als sichtbaren Traditionsträger gebunden ist.

Schleiermacher hat, verglichen mit Ebeling und Rendtorff, einen katholisierenden Zug, insofern er das reale Leben der sichtbaren Kirche, der Kirche als Institution, als eine (wenn auch noch vorläufige und unvollkommene) Verwirklichung des Geistes Christi ansieht und so das Wort von der Fleischwerdung des Wortes auch auf die wirkliche Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung anwenden kann.49 Das Typische der katholischen Auffassung ist es nach Ebeling gerade, daß sie „die Kirchengeschichte die direkte Fortsetzung der Inkarnation und damit der Geschichte Jesu Christi“ sein läßt.50 Freilich bleibt Schleiermacher doch ganz Protestant: Er setzt die Kirche schlechthin nicht mit einer bestimmten historisch gegebenen Institution identisch, er versteht die Kirche nicht als hierarchische Anstalt zur priesterlich-sakramentalen Vermittlung übernatürlicher Gnaden, und er erklärt die Lebens- und Lehräußerungen der sichtbaren Kirche auch nicht zur sakrosankten Tradition.

Ganzen vertheilt und wirksam dargestellt.“ (Praktische Theologie 1824, Nachschrift Palmié, SN 554, pag. 36); vgl. auch oben Abschnitt 3.3. und 9.3.5.1. 49 Vgl. oben Abschnitt 6.3.1.1. und 9.2.3., außerdem Hermeneutik 1822 (KGA II/4, S.  380 f.); Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.  629). 50  Ebeling: Kirchengeschichte, S.  17

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11.5.  Geschichtszeichen und verborgener Fortschritt Im ersten Brief an die Korinther schreibt Paulus, das Wort vom Kreuz als der Inbegriff der göttlichen Kraft und Weisheit, selig zu machen, erscheine denen, die es nicht annähmen und die verloren gingen, als das Gegenteil dessen, was es sei: den Juden, die Zeichen forderten, als ein Ärgernis und den Griechen, die nach Weisheit fragten, als eine Torheit (1 Kor 1,18–25). Verstehen wir Zeichenforderung und Fragen nach Weisheit als zwei Weisen, die Wahrheitsgewißheit des christlichen Glaubens auf etwas zu gründen, was dem Glauben selbst vor­ aus­geht, dann haben wir auf der einen, der „jüdischen“ Seite das „Geschichts­ zeichen“ (vgl. oben Abschnitt 2.2.3.), die Evidenz aus geschichtlichen Tatsachen, und auf der anderen, der „griechischen“, den philosophisch-spekulativen Wahrheitsbeweis. Das Evangelium als Wort vom Kreuz ist dann das genaue Gegenteil dessen, was dem „natürlichen Menschen“ (1 Kor 2,14) und der „Weisheit der Welt“ (1 Kor 1,20 f.; 2,6) als Geschichtszeichen oder als spekulativer Beweis einleuchtet, und gerade so hat es die Kraft, die heilsame Versöhnung zu stiften.51 Daß Gott sich in seinem Heilshandeln souverän über die Maßstäbe der „Welt“ hinwegsetze, schreibt Paulus, könnten die Glieder der korinthischen Gemeinde ja auch schon an dem niedrigen sozialen Rang erkennen, den sie, die von Gott Erwählten, in der Welt hätten (1 Kor 1,26–29). – Auf die Kirche und die Heilsgeschichte angewendet heißt das: Das wahre Wesen der Gemeinschaft der Heiligen ist unsichtbar, verborgen unter dem Anschein des Gegenteils, nur im Glauben zu erkennen; an der immanenten Weltentwicklung ist der Fortschritt des Reiches Gottes nicht ablesbar. Eine Theodizee wäre ebenso wie ein in der Religionsgeschichte oder der Spekulation gegründeter Anspruch auf Absolutheit des Christentums nur der Versuch, das „Wort vom Kreuz“ der „Weisheit der Welt“ schmackhaft zu machen.52 Ist Schleiermacher der „griechischen“ Aberration nach Paulus anheimgefallen? Einen philosophischen Wahrheitsbeweis des Christentums gibt es für ihn nicht, schon deshalb nicht, weil sich das Christentum als positive, geschichtlich gegebene Religion ebenso wie der Verlauf der Geschichte der rein spekulativen Konstruktion entzieht und weil ein bewiesener Glaube nicht mehr Religion wäre, sondern wissenschaftliche Metaphysik.53 Der christliche Glaube hat seine 51 Vgl.

Reinhold Niebuhr: Glaube und Geschichte, München 1951, S.  176–186. Werner Elert: Morphologie des Luthertums, Band 1, München 1931, S.  436– 438. 450–453; Walther von Loewenich: Luthers theologia crucis, 5.  Aufl., Witten 1967, S.  131–148; Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, 4.  Aufl., Berlin-West und New York 1980, S.  172–176. 306; Gerhard Ebeling: Luther, 4.  Aufl., Tübingen 1981, S.  115. 274; U. Barth: Sichtbare und unsichtbare Kirche, S.  201–203. 53  Über die Religion1, S.  41–43 (2. Rede) (KGA I/2, S.  2 07 f.); Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), S.  255– 284. 481–532, hier 492–496 (2. Sendschreiben) (KGA I/10, S.  348–352); Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 52 Vgl.

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D. Schluß

Evidenz in sich selbst.54 Wenn freilich Schleiermachers Religionsphilosophie schon nicht zeigt, daß das Christentum die einzig wahre oder die höchste denkbare Religion sei, so doch das, daß es innerhalb der bisherigen Religionsentwicklung die höchste Gestalt der Religion sei.55 – Wie steht es mit der „jüdischen“ Aberration? Für Schleiermacher gibt es in der Kirchengeschichte eine durchaus sichtbare fortschreitende Entwicklung hin zur Verwirklichung der in Christus gesetzten Idee, eine (wenn auch nicht von Rückschritten freie) sichtbare extensive und intensive Verbreitung des Christentums und Annäherung der Wirklichkeit an die Idee. Der junge Marheineke war hier vorsichtiger gewesen: Nach ihm verdanken sich die zeitlichen Wandlungen der Kirche den immer erneuten Versuchen, die Religion Christi unter den sich (auch durch den Einfluß des Christentums) ständig verändernden Bedingungen nachzukonstruieren und nachzuleben; zur Idee verhalten sich diese Nachkonstruktionen aber im Prinzip sämtlich gleich (vgl. oben Abschnitt 3.5.1.). Als Ethiker und Geschichtsphilosoph teilt Schleiermacher die Anschauung, daß die Geschichte ein Fortschritt zur Freiheit und Selbstbestimmung sei und den Menschen von den naturgegebenen Unvollkommenheiten befreie.56 Für Schleiermacher ist auch die religiöse Bildung ein Moment dieses Fortschrittsprozesses. Ihr Fortschreiten ist aus christlicher Sicht identisch mit der extensiven und intensiven Ausbreitung des Christentums; die Verchristlichung der Welt geht einher mit dem kulturellen und Wissensfortschritt.57 Christliche Sittenlehre und Eschatologie und philosophische Ethik und Geschichtstheorie haben zwar verschiedene Voraussetzungen und Formen der Darstellung, müssen am Ziel aber übereinstimmend zusammentreffen.58 Und so wie es in der Geschichte zwar einen „negativen Factor in dem Proceß der werdenden Einigung“ von Vernunft und Natur gibt, aber „keine reale Antivernunft“,59 so gibt 2.  Aufl., Band 1, Berlin 1830, §  3,4 (KGA I/13,1, S.  27–29). Vgl. oben Abschnitt 8.3.2.1. und 8.3.2.2. 54 Vgl. Heinrich Scholz: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre, Berlin 1909, S.  12–26; Werner Elert: Der Kampf um das Christentum, München 1921, S.  53–66. 55 Über die Religion1, S.   293–310 (5. Rede) (KGA I/2, S.  317–325); Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3. Stunde (KGA II/6, S.  11); Der christliche Glaube2 1, §  7 f. (KGA I/13,1, S.  60–73) 56 Vgl. R. Niebuhr: Glaube, S.   48–50. 80. 91–93. 200; Andreas Arndt: Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, S.  155–160. 57  Vgl. z. B. Schleiermachers bekanntes Wort, der Knoten der Geschichte dürfe sich nicht so lösen, daß Christentum und Wissenschaft sich trennten, das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben gehe (Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, S.  490 [2. Sendschreiben], KGA I/10, S.  347); Predigt 161 (27.11.1831) über Joh 8,56 (Predigten. Siebente Sammlung, Berlin 1833, S.  13–19; SW II/2, S.  278–281). 58 Vgl. Christliche Sitte 1809/10, §   2–17 (SW I/12, Beilage, S.  3–7); Christliche Sitte 1822/23 (SW I/12, S.  7. 27–29); Christliche Sitte 1828/29, 4.–6. Stunde (SW I/12, Beilage, S.  163–166) 59  Ethik 1812/13, Einleitung, §  47 (Werke 2, S.  250)

11. Würdigung

471

es in der Wirkungsgeschichte des christlichen Geistes zwar eine Widersetzlichkeit des Fleisches gegen den Geist, aber keine satanische Gegenmacht. Martin Luthers Erfahrung, daß die Fortschritte des Evangeliums die böse Macht nicht etwa dämpfen, sondern gerade zu intensiverer Wirksamkeit herausfordern und anstacheln,60 muß Schleiermacher fremd bleiben. Die von ihm hergestellte Harmonie zwischen weltlichem Fortschrittsglauben, Deutung der Kirchengeschichte und christlicher Hoffnung auf die Vollendung hat denn auch Widerspruch gezeitigt.61 Trotzdem: einen Wahrheitsbeweis aus der Geschichte gibt es für Schleiermacher nicht. Er erklärt seinen Standpunkt der Kirchengeschichtsanschauung für einen Standpunkt des Glaubens und weist die Möglichkeit zurück, die Geschichte von einem vermeintlich neutralen Punkt aus zu betrachten, um von da aus die Wahrheit und den allgemein evidenten Standpunkt zu erkennen. Wer keine Idee hat, wird die Idee auch in der Empirie nicht finden. In einer Reformationspredigt legt Schleiermacher gar dar, es stehe unter dem göttlichen δεῖ, daß der Weg des Evangeliums in die Welt nicht als Triumphzug, sondern nur allmählich und unter Widerständen gehe: Gerade so erführen die Christen die Kraft des Glaubens und Bekenntnisses auch in Widerspruch, Verfolgung und äußerlichem Unterliegen und lernten es, sich nicht auf sich selbst, sondern auf die unwiderstehliche göttliche Weisheit zu verlassen. Hier erinnert Schleiermacher auch an die oben zitierten paulinischen Verse von der göttlichen und menschlichen Weisheit.62 Dementsprechend betont Schleiermacher besonders in einer Hinsicht, daß Augenschein und Wahrheit in der Geschichte nicht einfach zusammenfallen und daß sich Ereignisse aus höherer Sicht anders darstellen können, als es eigentlich naheliegt: Oft erweist sich das, was zunächst eine Hemmung und ein Rückschritt zu sein schien, im großen Zusammenhang gerade als Segen und höhere Fügung zur Förderung des Reiches Gottes. Der scheinbar fatale Triumph der heidnischen Franken über die christlichen Alemannen führt zu einer kräftigen Ausbreitung des Christentums unter den barbarischen germanischen Völkern (vgl. oben Abschnitt 7.2.2.). Der ebenso unsittliche weil separatistische als strategisch unkluge Bann der katholischen Kirche gegen die Reformatoren gereichte der ganzen Kirche zum Besten, weil er die erneuernden Kräfte frei setzte, sich ungehemmt von der alten Autorität zu entfalten, ohne selbst separatistisch zu werden (vgl. oben Abschnitt 9.2.2.2.). Auch die charakterliche Differenz zwischen Luther und Melanchthon war ein Segen für die Reformation: Keinem von beiden hätte das Werk ohne die ergänzenden Einseitigkeit des anderen gelingen können (vgl. oben Abschnitt 60  Z. B. Martin Luther: Postillenpredigt 56 (Oculi) über Luk 11,14–28 (Fastenpostille 1525, Weimarer Ausgabe 17,II, S.  220 f.) 61  Z. B. Emil Brunner: Die Mystik und das Wort, 2.  Aufl., Tübingen 1928, S.  271–300; Paul Althaus: Die letzten Dinge, 5.  Aufl., Gütersloh 1949, S.  50–52. 231–250 62 Predigt 135 (7.11.1824) über Luk 21,15 (KGA III/8, S.   627–636). Vgl. auch Predigt (2.11.1817) über Luk 10,21–24 (KGA III/5, S.  264 f.).

472

D. Schluß

9.2.1.4.). Justins des Märtyrers Tod zur Unzeit ist dagegen ein Ereignis, an dessen Sinn Schleiermacher selbst Zweifel hat (vgl. oben Abschnitt 6.3.1.3.). – In einer der Augustana-Predigten kann Schleiermacher sogar der Erscheinung Christi eine eigenartig dia­ lektische Wirkung zuschreiben: Sie brachte dem menschlichen Geist eine ungeheure Erweiterung des Wirkungskreises, aber setzte eben damit auch den Übermut frei, über Christus hinaus fortzuschreiten und seiner nicht mehr zu bedürfen.63

Einstweilen deckt sich die christliche Deutung der Welt noch nicht mit der geschichtlichen Wirklichkeit. Gegen den Augenschein unbeirrt darauf zu vertrauen, daß auch die Widrigkeiten dem guten Endzweck der göttlichen Weltregierung dienen müssen, ist also die sittliche Herausforderung für den, der die Geschichte betrachtet. In seiner frühen, anonymen Schrift zur Reform der preußischen Kirche kommt Schleiermacher auf die Frage nach brauchbarem Liedgut und schreibt, Grundlage aller christlichen Poesie seien die Ideen „von dem Zusammenhang alles Guten und Schönen im Menschen und in der Natur, als dem Abglanz des göttlichen Wesens, von der wachsenden Herrschaft des Guten über das Böse, und von dem Princip derselben, nemlich der Versöhnung, von dem immer fortgehenden und nie vollendeten Bestreben nach Lauterkeit und Allgewalt der guten Gesinnung, als von dem Wirken des göttlichen Geistes im Menschen“. Zu den „herrlichen alten Liedern“, „in denen dieser Geist weht“, zählt Schleiermacher dort auch Gottfried Arnolds Lied „So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen“.64 Dies ist insofern überraschend, als Arnolds Lied 65 ein besonders starker Ausdruck einer Deutung der Geschichte und Kirchengeschichte unter dem Zeichen des Kreuzes ist. Indessen kannte Schleiermacher das Lied offenbar in der Bearbeitung, wie es im Barbyer Gesangbuch der Brüdergemeine stand,66 und hier ist die Strenge des Liedes gemildert von einer Verwerfung menschlichen Stolzes und Durchkreuzung menschlicher Pläne und Geschichtsspekulation zu einem zuversichtlichen Vertrauen auf die göttliche Weisheit und Treue auch dort, wo sie nicht sichtbar ist.67

63  Predigt 154 (18.7.1830) über Gal 2,19–21 (Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession, Predigten. Sechste Sammlung, Berlin 1831, S.  76–79; KSP 3, S.  61–63) 64 Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, S.  108 f. (KGA I/4, S.  422 f.) 65  Z. B. Johann Porst: Geistliche und Liebliche Lieder, 21.  Aufl., Berlin 1798, Nr.  363 66  Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778, Nr.  246 (KGA I/4, S.  488 f.) 67  Entfallen sind in der Fassung des Brüdergemeinegesanbuchs etwa folgende Passagen: „Dein Geist hängt nie an menschlichen Gesetzen, so die Vernunft und gute Meinung stellt. Den Zweifelsknoten kann dein Schwert verletzen und lösen auf, nachdem es dir gefällt. Du reißest wohl die stärksten Band entzwei; was sich entgegensetzt muß sinken hin. Ein Wort bricht oft den allerhärtsten Sinn; dann geht dein Fuß auch durch Umwege frei.“ (Strophe 2) „Also gehst du nicht die gemeinen Wege, dein Fuß wird selten öffentlich gesehn, damit du sehst, was sich im Herzen rege, wenn du in Dunkelheit mit uns willst gehn. Das Widerspiel legst du vor Augen dar von dem, was du in deinem Sinne hast. Wer meint, er hab den Vorsatz recht gefaßt, der wird am End’ ein Andres oft gewahr.“ (Strophe 9) „Will etwa die Vernunft dir widersprechen und schüttelt ihren Kopf zu deinem Weg, so wollst du die Befestung niederbrechen, daß ihre Höh’ sich nur bei Zeiten leg’. Kein fremdes Feuer sich in mir anzünd’,

11. Würdigung

473

In diesen Zusammenhang gehört auch die Überlieferung, Schleiermachers Lieblingslied sei das Lied „Es glänzet der Christen inwendiges Leben“ des hallisch-pietistischen Dichters Christian Friedrich Richter gewesen; 68 dieses Lied beschreibt die vor der Welt unter der Gestalt der Niedrigkeit, ja Verächtlichkeit verborgene göttliche Würde und Herrlichkeit der Christen. Ob die Überlieferung zutrifft, ist allerdings ungewiß.69

Eine ecclesiologia crucis, die im Sinne Paulus’ und Luthers menschliche Vernunft und den geschichtlichen Augenschein dem Evangelium und der Heilsgeschichte entgegensetzt, hat Schleiermacher nicht entworfen; sie wäre auch mit seinem philosophisch-ethischen und theologischen System nicht in Übereinstimmung zu bringen gewesen. Nach Schleiermacher gibt es durchaus Geschichtszeichen, aus denen das Wesen und die Bestimmung der Kirche sichtbar ist, Gemeinschaft des religiösen Lebens im Geist Christi zu sein, sich zur Freiheitlichkeit und Geistigkeit zu entwickeln und sich über die ganze Menschheit auszubreiten. Aber erkennen und recht deuten wird diese Geschichtszeichen nur der, der sie mit den Augen des Glaubens zu lesen versteht.

das ich vor dich in Thorheit bringen möcht’, und dir wohl gar so zu gefallen dächt’. Ach selig, wer dein Licht ergreift und find’t.“ (Strophe 11) 68  Franz August Cunz: Geschichte des deutschen Kirchenliedes vom 16. Jahrhundert bis auf unsere Zeit, Band 2, Leipzig 1855, S.  20; Christian Ernst Karl Göring: Gesangbuchskunde d.i. Anleitung zur Kenntniß, Würdigung und erbaulichen Benutzung der bewährtesten evangelischen Kirchengesänge und Kernlieder, 2.  Aufl., Erlangen 1858, S.  51; Paul Mehlhorn: Aus den Quellen der Kirchengeschichte, Band 1, Berlin 1894, S.  9 ; Johannes Westphal: Das Evangelische Kirchenlied, 6.  Aufl., Berlin 1925, S.  164; Wilhelm Nelle: Geschichte des deutschen evangelischen Kirchenliedes, 3.  Aufl., Leipzig 1928, S.  206. Göring und Nelle schreiben, das Lied sei durch Schleiermachers Eintreten ins Berliner Gesangbuch von 1829 aufgenommen worden (als Nr.  462). 69  Laut den Akten der Gesangbuchkommission sollte zunächst Schleiermacher das Lied bearbeiten, das übernahm dann aber Samuel Christian Gottfried Küster (Bernhard Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers, Schleiermacher-Archiv 20, Berlin und New York 2002, S.  556. 611). Die 8. Auflage des Gesangbuches (1853) wurde auf Bitten vieler Gläubiger um einen Anhang mit dem ursprünglichen Wortlaut beliebter Lieder erweitert; darin steht auch noch einmal „Es glänzet der Christen inwendiges Leben“ (Nr.  889, mit acht statt sechs Strophen). – Laut Auskunft von Bernhard Schmidt ist das Lied auf Schleiermachers gedruckten Liederzetteln zwischen 1812 und 1829 nur einmal nachweisbar, nämlich für den 9.4.1826. Am 10.8.1800, noch als Charitéprediger, hatte Schleiermacher das Lied für einen Gottesdienst im Invalidenhaus angesetzt, wo nicht das Myliussche, sondern das Porstsche Gesangbuch in Gebrauch war, hatte das dann aber wegen der Unfähigkeit der Gemeinde, das Lied zu singen, abgeändert; vgl. KGA III/3, S.  695.

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Register Personen Abaelard, Petrus 312. 318. 334. 336 f. 340 f. 347. 350 Adelung, Johann Christoph 30 Aetius 287 Agricola, Johann 362 Ailly, Pierre d’ 346. 350 Alanus ab Insulis 312 f. 337 f. 340 Albertini, Johann Baptist von 48 Albertus Magnus 338. 340 f. Albrecht, Christian 76 Alcuin, Flaccus 280. 327–329. 349 Alexander, Bischof von Alexandrien 256. 268. 271. 284 Alexander von Hales 312. 338 Alexander III. (Roland Bandinelli), Papst 318. 422 Alexander VI. (Rodrigo Borgia), Papst 351 Algermissen, Konrad 98 Althaus, Paul 471 Ambrosius von Mailand 254. 258 f. 279. 303 Ammon, Christoph Friedrich von 369. 371 Ammonius Saccas 247 Anastasius I., oströmischer Kaiser 294 Andronicus, Statthalter in der Cyrenaica 259. 304 Aner, Karl 22. 26 Anicet, Bischof von Rom 217 f. Anselm von Canterbury 312 f. 333 f. 336. 338–341. 345. 350 Antonius von Padua 401 Apollinaris von Laodicea 29. 253. 255 f. 282. 292. 304 f.

Aristoteles 45. 48. 50. 54. 279 f. 287. 302. 312. 328. 338–340 Arius 165. 208. 256. 268. 271. 283–285. 287. 292 Arndt, Andreas 14. 36. 41–44. 53–56. 66. 71. 179. 452. 470 Arndt, Johann 386 Arnold von Brescia 318. 343. 347 Arnold, Gottfried 31. 111 f. 218. 307 f. 472 Artemon 240. 243 Ast, Friedrich 177 Athanasius von Alexandrien 24. 120. 207 f. 242. 254. 272. 285. 303 f. Athenagoras 231 Auer, Johannes 424 Augusti, Johann Christian Wilhelm 20 Augustin, Aurelius 96. 113. 120. 187 f. 223. 245. 254. 256. 259. 270 f. 274 f. 277. 279. 282 f. 297–302. 305 f. 333. 341 Augustin von Canterbury 263 Augustin, Christian Friedrich Bernhard 48 Barnabas, Joseph 197 f. 200. 203 Baronius, Cäsar 111 Barth, Karl 11 f. 91. 463 Barth, U1rich 53. 89. 108. 393. 441. 466. 469 Basilides 221. 234 f. 237. 244 f. Basiliscus, oströmischer Kaiser 294 Basilius von Cäsarea 29. 254. 279. 303 Baumeister, Christian August 48 Baumgarten, Siegmund Jacob 25. 131

512

Register

Baumgarten-Crusius, Ludwig Friedrich Otto 424. 439 Baur, Ferdinand Christian 11. 19. 22. 24 f. 27. 95. 111 f. 114. 146. 213. 239. 415. 423 f. 430. 432. 435 f. 441–447 Baur, Gustav 424 Becher, Ursula 34 Becket, Thomas 350 Beckmann, Klaus 49. 103. 108. 113. 238 Beckmann, Klaus Martin 7 f. 67. 365 Behrens, Klaus 43. 69. 179 Benedikt Levita 314 Benedikt von Nursia 252 Benedikt VIII. (Theophylact von Tusculum), Papst 349 Benrath, Gustav Adolf 23. 96. 434 Berengar von Tours 313. 331. 333. 352 Bernhard von Clairvaux 312. 318. 337. 347 f. 434 Beryll von Bostra 241–243. 286. 291 Beutel, Albrecht 12. 463. 466 f. Beyer, Michael 465 Beyschlag, Karlmann 26. 429 f. Bingham, Joseph 190 Birkner, Hans-Joachim 5. 14. 72. 76 f. 81. 84. 90. 103 f. 124 f. 136. 140. 153. 158. 388. 463 Blanc, Gottfried Ludwig 57. 59 Blanke, Horst Walter 30 f. 46. 101. 175. 447 Blücher von Wahlstatt, Gebhard Leberecht Fürst 366 Blum, Matthias 109 Blumenthal, Hermann 448 Boeckh, August 453 Böhme, Jakob 386 Böhmer, Georg Rudolf Wilhelm 59 Boekels, Joachim 3. 7. 10 f. 16. 59. 425 Bonaventura ( Johannes Fidanza) 312. 338 Bonifatius (Winfrid) 165. 252. 263. 266. 276. 303 Bonifatius VIII. (Benedikt Caëtani), Papst 165. 318 Bonnell, Eduard 3 f. 6 f. 11. 167. 425 Bossart, Johann Jakob 46 Bossuet, Jacques-Bénigne 32. 312 Bräutigam, Bernd 36. 42

Brandt, Wilfried 170. 239. 242. 288 Brentano, Clemens 57 Brenz, Johannes 363 Brieger, Theodor 422 Brinckmann, Carl Gustav von 50. 96 f. 331 Brunner, Emil 335. 459. 471 Buckle, Henry Thomas 448 Bultmann, Rudolf 73 Burbach, Hartmut 6. 74. 77. 90. 103. 124. 139 Buttmann, Philipp Karl 176 Caecilian, Bischof von Karthago 226 Calixt, Friedrich Ulrich 386 Calixt, Georg 386. 438 Calvin, Jean 303. 350. 352. 362 f. 371. 373 Carpocrates 234. 237 Cassian, Johannes 255 Cassiodor, Flavius Magnus Aurelius 274. 280 Cerdo 216. 233. 235 f. 238 f. Cesana, Andreas 36–38 Chladenius, Johann Martin 30 f. 37. 43. 465 Chlodwig I., König der Franken 252. 266 Christe, Wilhelm 135 Christophersen, Alf 424 Clemens von Alexandrien 58. 190. 216. 232. 237. 246 f. 299 Clemens von Rom 190. 209 Clemens (III.) (Wibert), Papst 317 Clemens V. (Bertrand de Got), Papst 165 Clemens XIV. (Lorenzo Ganganelli), Papst 400 Coelestin I., Papst 293 Comte, Auguste 451 Condorcet, Antoine Marquis de 42 Conradi, Johannes 6. 189 Constantia, Flavia Julia, römische Kaiserin 285 f. Constantius I. Chlorus, römischer Kaiser 307 Cordemann, Claas 38 Cornelius, Hauptmann: 196 Cornelius, Bischof von Rom 225 f.

Personen

Cramer, Johann Andreas 312 f. 337 Cramer, Konrad 74. 76 Creuzer, Friedrich 18. 44–46. 57. 64. 70. 93. 441 Crispus, Caius Flavius Julius Valerius 307 Cunz, Franz August 473 Cyprian, Thascius Caecilius 219. 225. 227. 249. 279 Cyrill von Alexandrien 254. 293 Cyrill von Jerusalem 254. 256 Cyrill (Konstantin), Missionar 321 Dann, Otto 33 Danz, Christian 113 Danz, Johann Traugott Leberecht 20. 24. 130. 165 Daub, Carl 5 Decius, Caius Messius Quintus Traianus, römischer Kaiser 219. 225 Demange, Pierre 158. 172 Demas 209 Demetrius, Bischof von Alexandrien 217. 247 Didymus der Blinde 288. 298. 303 Diederich, Martin 124. 170. 288 Dierken, Jörg 71 f. 76 f. 135 Dierse, Ulrich 33 Dilthey, Wilhelm 13. 38. 49. 53 f. 101. 448. 450–454 Dinkel, Christoph 125. 172. 259 Dinkler, Erich 252 Diocletian, Caius Aurelius Valerius, römischer Kaiser 225. 229. 307 Dionys von Alexandrien 225. 242 f. 246. 249 f. 283 Dionys von Korinth 217 Dionysius Arepagita 328 Dioscur, Patriarch von Alexandrien 293 Dippold, Hans Karl 54 Döderlein, Johann Christoph 20 Dörries, Hermann 111 Domitian, Titus Flavius, römischer Kaiser 193 Donatus 226 Dorner, Isaak August 213. 415. 424. 443–447 Droysen, Johann Gustav 430. 447–451. 453 f. 461. 465

513

Druthmar (Christian von Stablo) 328. 352 Duns Scotus, Johannes 312. 338 f. Ebbrecht, Günter 8. 64. 81 Ebeling, Gerhard 466–469 Eberhard, Johann August 48 Egbert von York 280 Eichhorn, Johann Gottfried 22. 244 Einem, Johann August Christoph von 47 Elert, Werner 91. 113. 427. 431. 454. 469 f. Engelhardt, Veit 424. 439 Ennodius, Magnus Felix, Bischof von Pavia 263 Epiphanius von Salamis 190. 216. 221. 232. 254 f. 286. 304 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 357. 364 f. 372 Erichson, Johann 69 Eudoxia, oströmische Kaiserin 304 Eunomius 287 Euseb von Cäsarea 175. 187. 189 f. 212. 217. 221. 240 f. 247. 254 f. 279. 285 f. 305. 307 Euseb von Nicomedien 268. 284 f. 287 Eustathius, Bischof von Antiochien 267. 284. 286 Eutyches, Archimandrit in Konstantinopel 165. 253. 293. 295 Ewald, Johann Ludwig 334 Faber Stapulensis, Jakob 358 Fabian, Bischof von Rom 225 Fabricius, Johann Albert 256 Facundus von Hermiane 259. 294 f. 304 f. Farr, Wolfgang 33 Faust von Mileve 276. 305 Fausta, Flavia Maxima, römische Kaiserin 307 Felix von Aptunga 226 Felix III. (II.), Papst 263 Felix (V.) (Amadeus VIII. von Savoyen), Papst 319 Fester, Richard 101 Fichte, Johann Gottlieb 9. 40. 42 f. 54. 69. 76. 113 f. 334. 440. 444 Ficker, Franz 176

514

Register

Fischer, Hermann 108 Fitschen, Klaus 463 Flacius Illyricus, Matthias 111. 130 f. 362. 365 Flavius Clemens, Titus 191 Fleischer, Dirk 17–20. 22 f. 25. 29–31. 49. 111. 164. 447 Foerster, Erich 366. 368–370 Francke, August Hermann 387 Frank, Franz von 423. 431 Frank, Manfred 44 Franz von Assisi 324. 347 f. Freylinghausen, Johann Anastasius 295 Friedrich I. Barbarossa, Kaiser 318 Friedrich II., Kaiser 318 Friedrich, Kardinallegat, Erzbischof von Ravenna 349 Friedrich Franz II., Großherzog von Mecklenburg-Schwerin 428 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 370. 377 f. Fritzsche, Carl Friedrich August 335 Fulda, Daniel 33 f. Gadamer, Hans-Georg 452 Galerius Valerius Maximianus, Caius, römischer Kaiser 225 Gallienus, Publius Licinius, römischer Kaiser 229 Gangl, Manfred 459 Gaß, Joachim Christian 55 f. 59 Gatterer, Johann Christoph 20 Geck, Albrecht 259. 377 Geiger, Wolfgang 442 Gennadius von Marseille 274 Gerber, Simon 6. 22. 57. 60. 88. 93. 104. 108. 159. 163. 222. 259. 393 f. 411. 413. 443 Gerrish, Brian A. 365 Gerson, Jean 346. 350 Gesenius, Wilhelm 369 Gieseler, Johann Carl Ludwig 24. 163. 165. 190. 255. 425. 456 Gilbert von Poitiers (de la Porre) 311 f. 319. 337 Goebel, Max 414. 417 Göring, Christian Ernst Karl 473 Görres, Joseph 57

Goethe, Johann Wolfgang von 86 Gottfried von Bouillon 323 Gottschalk der Sachse 329 Gräb, Wilhelm 9. 53. 72. 74. 77. 81. 87. 90. 108. 168. 170. 259. 288. 452. 461. 464 Gräf, Johann Hartmann Christoph 20 Graf, Friedrich Wilhelm 53. 459 Gregor von Nazianz 29. 254. 279. 303 Gregor von Nyssa 254. 256. 298. 303 Gregor Palamas 344 Gregor I., der Große, Papst 24. 165. 252. 255. 263. 267. 273–275. 282 f. 304 Gregor II., Papst 264. 275 Gregor III., Papst 264 Gregor V. (Brun von Kärnten), Papst 348 Gregor VII. (Hildebrand), Papst 165. 315–317. 322. 326. 331. 349 Gregor X. (Theobald Visconti), Papst 318 Griesbach, Johann Jacob 20 Grimm, Jakob 30. 454 Grimm, Wilhelm 30 Grondin, Jean 452 Grotius, Hugo 387 Grove, Peter 76 Hackel, Christiane 453 Hägglund, Bengt 423 Händel, Georg Friedrich 367 Hagenbach, Karl Rudolf 3. 22. 24. 95. 132. 213. 423–425. 427. 430. 434 f. 439 Hahn, Karl-Heinz 40 Hahn, Manfred 18 Harder, Johann Jakob 32 Hardtwig, Wolfgang 30 f. 34 Harms, Claus 369–371 Harnack, Adolf (von) 27. 188. 422 f. 429. 434–436 Hase, Karl (von) 11. 24. 83. 96. 110 f. 213. 427. 430–435. 461 Hasse, Johann Gottfried 20 Hauck, Albert 429 f. Haym, Rudolf 38. 46. 49 f. 54 Heeren, Arnold 21 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 91. 368. 422. 425–427. 429. 431 f. 435. 440. 442–446. 448. 452. 454. 456. 460

Personen

Hegesipp 188 f. 212. 216 Hein, Martin 429. 445 f. Heindorf, Ludwig Friedrich 176 Heinrich II., König von England 318. 350. 352 Heinrich VIII., König von England 352. 361. 415 Heinrich II., der Heilige, Kaiser 348 Heinrich III., Kaiser 315 Heinrich IV., Kaiser 316 f. 349 Heinrich V., Kaiser 317 Heinrich VI., Kaiser 318 Heinrich VII., Kaiser 319 Helena, römische Kaiserin 275 Hempelmann, Heinzpeter 463 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 369 Henke, Heinrich Philipp Konrad 23 f. 27 f. 47. 55 f. 67 f. 78. 113. 131. 165. 312. 355. 434 Heracleon 235 Heraclius, byzantinischer Kaiser 269. 295 Heraklit von Ephesus 176 Herbst, Magdalena 24. 354. 430. 432 f. Herder, Johann Gottfried 31. 36–39. 41. 43. 68 f. 83. 101. 392. 450. 454 Hering, Hermann 47 f. 50 Hermas 209 Herms, Eilert 53 f. 72. 464 f. Herodot 45 Herz, Henriette 64 Heß, Jean Gaspard 58 Hesychius 246 Heussi, Karl 17. 19. 27. 68. 111. 163. 458 Hieronymus, Sophronius Eusebius 254. 270. 274. 279. 282. 305. 341 Hilarius von Poitiers 254 f. 272. 288. 291. 304 Hilmer, Lehrer in Niesky 51 Hinkmar von Reims 329. 348 Hinton, John Howard 393 f. Hippolyt von Rom 190. 240–243. 246. 283 Hippon 192 Hirsch, Emanuel 17. 26. 33. 38. 53. 69. 89. 91. 111 f. 369. 373. 388. 423. 431. 440. 442 Honorius von Autun 312. 337 Honorius I., Papst 264. 296

515

Hornig, Gottfried 17. 49 f. Hosius von Cordoba 272 Hrabanus Maurus 327–330. 349. 352 Hübner, Ingolf 71 Hüttmann, Hilde 433 f. 436 Hugo von Rouen 311. 337. 341 Hugo von St. Victor 312. 337 Humbert von Silva Candida 331 Humboldt, Alexander von 101 Humboldt, Caroline von 102 Humboldt, Wilhelm von 98–102. 448 f. 454. 461 Hus, Jan 346 f. 350 Ibas von Edessa 293 f. Iggers, Georg 37 f. 101. 448 f. 454. 457–459. 464 Ignatius von Antiochien 191 f. 216 Ihle, Elise 91. 93. 96 Innozenz II. (Gregor Papareschi), Papst 318 Innozenz III. (Lothar von Segni), Papst 318 Innozenz IV. (Sinibald Fieschi), Papst 318 Irenäus von Lyon 24. 190. 218. 232. 245 f. 248. 250 Irmscher, Hans Dietrich 37 Isidor von Sevilla 265 Jacob, Friedrich 72 Jacobi, Friedrich Heinrich 54 Jaeger, Bernd 430–432 Jaeger, Friedrich 101. 451 f. Jaeschke, Walter 427 Jakobus, Herrenbruder 192 Janssen, Bernd-Holger 53. 77. 79. 87. 90. 105. 115. 143 Jørgensen, Theodor 8. 13. 64. 67. 72 f. 75 f. 78. 82–84. 87 Johann Ohneland, König von England 318 Johann XXII. ( Jacques Duèze), Papst 319 Johanna, sagenhafte Päpstin 311 Johannes, Patriarch von Antiochien 293 Johannes von Cäsarea 298 Johannes Chrysostomus 187 f. 254 f. 276 f. 279. 282 f. 302. 304. 338

516

Register

Johannes Damascenus 276. 328 Johannes von Salisbury 350 Johannes Scotus Eriugena 328–331. 333 Johannes Zebedäi 97. 196. 201. 203. 218 Jonas, Ludwig 5 f. Jonas, Bischof von Orleans 325 Jordan, Stefan 52. 70. 101. 460 Joseph II., Kaiser 19. 403 Josephus, Flavius 204 Jovian, Flavius, römischer Kaiser 261 Jovinian 275 f. 305 Julian der Abtrünnige, römischer Kaiser 58. 256. 261. 278. 306–308. 436 Julius Africanus 190. 246 Julius, Bischof von Rom 262 Jursch, Hanna 6 f. 13. 52 f. 66. 72. 146 f. 430 Justin der Märtyrer 52. 204. 214 f. 231. 238 f. 472 Justinian I., der Große, Flavius, oströmischer Kaiser 253. 258. 261. 269. 273

Koehler, Johann David 17 f. Köpke, Friedrich Carl 54 Koethe, Friedrich August 20 Kolde, Theodor 422 Konrad, deutscher König 317 Konstantin I., der Große, Flavius Valerius, römischer Kaiser 165. 167. 190. 229. 256. 259. 268. 271 f. 278. 281. 285 f. 306–308. 345. 348 Konstantin IX. Monomachos, byzantinischer Kaiser 321 Konstantin I., Papst 264 Koppehl, Thomas 442. 445 f. Korff, Hermann August 33 Kosellek, Reinhart 30 f. Krabbe, Otto 433 f. 436 Kranich, Sebastian 463. 466 Kühne-Bertram, Gudrun 18. 36 Küster, Samuel Christian Gottfried 473 Küttler, Wolfgang 101 Kurtz, Johann Heinrich 213

Kähler, Martin 13. 436 Kant, Immanuel 35 f. 38–42. 48. 50. 54. 63. 76. 113. 334. 442 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 27. 429. 442–445 Kapp, Johann Erhard 18 f. Karl I., der Große, Kaiser 165. 167 f. 171. 264. 266. 280. 313 f. 317. 327. 329. 348 Karl II., der Kahle, Kaiser 330 Karl V., Kaiser 172. 364. 368. 373 Karl Alexander, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 432 Katharina von Siena 315 Kathen, Charlotte von 69 Keil, Siegfried 6 Kerinth 212 Kierkegaard, Søren 113 Kinzig, Wolfram 440 Kirchhof, Tobias 423 f. Kirn, Hans-Martin 108. 110 Klamroth, Heinrich 3 Klein, Ursula 68 Kliefoth, Theodor 428 f. 445 f. Kling, Christian Friedrich 26 f. 427. 429. 433 f. 436. 439. 442. 445 f. Knapp, Georg Christian 48. 56

Lactantius, Lucius Caecilius Firmianus 254. 272. 307 Lanfranc von Bec 331. 333 Lange, Dietz 49 Lange, Samuel Gottlieb 20. 26 f. Lau, Viktor 31. 37. 448 Lauster, Jörg 76. 103 Leibniz, Gottfried Wilhelm 54. 112. 296 Lenz, Max 58. 435 Leo III., byzantinischer Kaiser 276 Leo I., der Große, Papst 263. 293 f. 304 Leo III., Papst 312. 329 f. Leo IX. (Bruno von Egisheim und Dagsburg), Papst 315 Leppin, Volker 463. 466 Lessing, Gotthold Ephraim 112 f. Libanius 274 Lietzmann, Hans 188 Linus 209 Loewenich, Walther von 469 Löwith, Karl 33. 42 Loofs, Friedrich 440 Lorsbach, Georg Wilhelm 20 Lothar III. von Supplinburg, Kaiser 348 Lucaris, Cyrill 396 Lucian von Antiochien 216

Personen

Ludwig IV., der Bayer, Kaiser 319. 345 Lücke, Friedrich 22. 25. 415. 423. 461 Luther, Martin 57. 160. 347. 352. 354–366. 368. 370–374. 376. 378. 382 f. 386. 414. 471. 473 Macarius der Große 274. 297 Majorin, donatistischer Bischof von Karthago 226 Mammaea, Julia, römische Kaiserin 307 Mani (Cubricus) 256. 297 Mannheim, Karl 458 Marcell von Ancyra 208. 242. 255. 262. 286 f. Marcion 216 f. 221. 225. 231. 235–237. 244. 250 Marcus Aurelius Antoninus, römischer Kaiser 191 Marheineke, Philipp 57 f. 91–95. 114. 165. 182. 253. 442 f. 446. 449. 460. 470 Maria I., die Blutige, Königin von England 361 Markschies, Christoph 465 Marsilius von Padua 345 Martin von Tours 258 f. Maurer, Wilhelm 85 f. 164 f. Maximian, donatistischer Bischof von Karthago 271 Meckenstock, Günter 355 Meding, Wichmann von 366 f. 373. 413 Mehlhorn, Paul 473 Meier, Friedrich Karl 424 Meinecke, Friedrich 33. 38. 392. 457–459 Meinhold, Peter 22–26. 91. 111. 421. 425. 430. 434. 440. 442 Meisner, Heinrich 46. 48–50. 52 Meister, Ernst 448–450. 453 f. Melanchthon, Philipp 358. 362–364. 471 Meletius, Bischof von Antiochien 267 Melitius von Lycopolis 225 Melito von Sardes 214 Mendelssohn, Moses 34 Methodius, Missionar 321 Metzger, Paul 73 f. 405 Meyer, E. Rudolf 47 Michael III., byzantinischer Kaiser 342

517

Michael I. Caerularius, Patriarch von Konstantinopel 321 Miller, Johann Peter 48 Möhler, Johann Adam 427 f. 446 Moeller, Bernd 252 Mogilas, Petrus 396 Mohammed Ibn Abdallah, Abul Kasim 254 Momigliano, Arnaldo 46 Montanus 222 f. 226 Moretto, Giovanni 9. 66. 68 f. 76. 78. 89. 392. 453 f. Mosheim, Johann Lorenz von 17. 19. 21. 23. 28 f. 46–48. 56. 131. 163. 165. 167 Mühlenberg, Ekkehard 22. 24 f. 28. 252 Müller, Claus 6. 14 Münscher, Wilhelm 26 f. 47. 55. 57. 232 Muhlack, Ulrich 31 Mulert, Hermann 7. 15 f. 188 Mursinna, Samuel 48 f. Mylius, August 473 Napoleon I. Bonaparte 366. 393. 399. 403 f. 407 Natalis, Konfessor 221 Neander, August (David Mendel) 11. 54. 58 f. 165. 190. 236 f. 265. 306. 422 f. 425. 427. 430. 433–439. 446. 456. 461 Nelle, Wilhelm 473 Nemesius, Bischof von Emesa 279 Nepos, Bischof von Arsinoe 246 Nero, Claudius Caesar Augustus Germanicus, römischer Kaiser 191 f. Nestorius, Patriarch von Konstantinopel 165. 253. 282. 292 f. 295. 329 Neuper, Horst 20 Newton, Isaac 42 Niebuhr, Barthold Georg 175 f. 454 Niebuhr, Reinhold 469 f. Nietzsche, Friedrich 458 Nigg, Walter 11. 22–25. 38. 96. 111 f. 430 f. 434–436. 442. 461 Nikolaus von Kues 350 Nikolaus I., der Große, Papst 321. 330 Nikolaus II. (Gerhard von Burgund), Papst 315 f. Nösselt, Johann August 18 f. 28. 48. 55 f. 78

518

Register

Noet von Smyrna 240–242. 283 Nooke, Christoph 22. 25. 28 Novatian 165. 225–227. 249. 267 Novatus 225 Nowak, Kurt 10. 14. 48–50. 52 f. 55. 79. 132. 164. 169. 366 f. 369 f. 459. 463 f. 466 Oberhausen, Michael 20. 27 Odo von Cambrai 311. 340 Oexle, Gerhard 457 f. Ohst, Martin 7. 9 f. 50. 67. 105. 113. 115. 138. 168. 170. 172 f. 187. 369–371. 373. 392. 412. 428 f. 432. 445 Olivi, Petrus Johannis 313 Optatus von Mileve 262 f. 270 f. Origenes 24. 188. 190. 192. 217. 219. 228. 232. 241–243. 245–250. 255. 260. 282–284. 286. 288. 290–292. 298 f. 301. 305 f. 438 Osiander, Andreas 362 f. Otto III., Kaiser 315. 348 Pamphilus 228. 250 Pantaenus 216 Paphnutius, Bischof der Thebais 273 Papias 187 Paschalis II. (Rainer), Papst 317 Patsch, Hermann 53. 66, 179 Pauck, Wilhelm 8. 13. 72. 392. 456 Paulin von Aquileia 329 Paulin von Tyrus 284 Paulus (Saul von Tarsus) 109. 136. 176. 188 f. 192 f. 197–203. 207. 296. 394. 469. 473 Paulus Diaconus 326 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 20. 431 Paulus I., Bischof von Konstantinopel 267 Paulus von Samosata 229. 243. 249. 270. 285 Peiter, Hermann 5 f. 362 Pelagius (Morgan) 299 f. Peter I., der Große, Zar 396 Petrus, Bischof von Alexandrien 225. 227 Petrus III., Patriarch von Antiochien 321

Petrus, Simon 97. 111. 189. 192 f. 196–198. 202. 204. 207. 262. 275. 316. 343. 399 Petrus Damiani 316. 348 Petrus Lombardus 312. 337. 341 Petrus von Poitiers 311 f. 337. 340. 344 Pfaff, Christoph Matthias 165. 167 Philippus, Apostel 192. 195 f. 204. 218 Philippus Arabs, römischer Kaiser 307 Philo von Alexandrien 245 Philostorgius 279 Photin von Sirmium 282. 286 f. Photius, Patriarch von Konstantinopel 165. 190. 212. 255 f. 311. 313. 321. 328. 330. 349 f. Pico della Mirandola, Giovanni 350 Pierius 246 Pisanski, Georg Christoph 20 Pius II. (Aeneas Silvius Piccolomini), Papst 319 Pius IX. (Giovanni Maria Graf Mastai-Ferretti), Papst 98. 172. 427 Pius XII. (Eugenio Pacelli), Papst 98. 172. 427 Planck, Gottlieb Jacob 21. 25. 28. 55. 389. 414. 427. 433 f. Plato 54. 176. 234. 236. 241. 279 f. 290. 292. 302. 328 f. 438 Plitt, Hermann 46 Plotin 190. 232. 247 Poetzsch, Albert 46. 69 Polybios 17 f. 45 Polycarp von Smyrna 215–218 Polycrates von Ephesus 218 Porphyrius 232. 245. 247 Porst, Johann 472 f. Prahmer, Wilhelm 411 Praxeas 221. 223. 239–241 Priscillian 258 Ptolemäus, Gnostiker 235 Pulleyn, Robert 311 f. 337 Pythagoras 234 Radbert, Paschasius 330 f. 352 Ranke, Leopold von 101. 421. 454. 465 Rather von Verona 348 Ratramnus 321. 330 f. 349. 352 Raulet, Gérard 459

Personen

Reccard, Gotthilf Christian 27 Rehm, Walter 89 Reil, Peter-Hanns 101 Reimer, Georg 51. 55 Rendtorff, Trutz 466–468 Rettberg, Friedrich Wilhelm 24. 165 Reuchlin, Johann 357 Reuter, Hans 77 Reuter, Hermann 14. 117. 421 f. 425 f. 435 Rheinwald, Georg Friedrich Heinrich 59 Rhodon 245 Richard von St. Victor 338 Richter, Christian Friedrich 473 Riedel, Manfred 448. 450 Ritschl, Albrecht 375. 423. 429 Ritter, Heinrich 454 Robert II., König von Frankreich 348 Robert Grosseteste 318 Robert von Melun 311 f. Rodi, Frithjof 453 Rössler, Martin 81 f. 84. 105. 114. 116. 143. 154. 156–158. 163. 180. 375. 410 Roscellin von Compiègne 334. 339 Rosenkranz, Carl 426 f. 442 f. 445 f. Roth, Eberhard Rudolph 18 Rothe, Richard 430 Rousseau, Jean Jacques 85 f. Rudelbach, Andreas Gottlob 414 Rüsen, Jörn 30. 101. 447. 451 f. Rupprecht, Eva-Maria 93 Sabellius 208. 238. 242 f. 286. 288. 466 Samson, Holger 5. 123 Saturnil 233–235 Savigny, Friedrich Carl von 454 Savonarola, Hieronymus 350 f. 358 Sawilla, Jan Marco 30 Schäfer, Rolf 5. 426 Scheffczyk, Leo 19. 96. 98. 112 Scheliha, Arnulf von 108 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 18. 46. 54. 64 f. 70 f. 79. 83. 89. 91. 101. 113. 165. 440. 444. 448 f. 453 Scherer, Emil Clemens 19 f. 23. 163 Schiele, Friedrich 113 Schiller, Friedrich 39 f. 42. 44 f. 70. 93. 449

519

Schlegel, August Wilhelm 18. 46. 54. 64 Schlegel, Friedrich 31. 40–46. 54. 65 f. 68. 97. 178–180. 384. 464 f. Schleyermacher, Johann Gottlieb Adolph 48. 50 Schlözer, August Ludwig von 20 f. 33–36. 456 Schmid, Heinrich 439 Schmidt, Bernhard 366 f. 371. 473 Schmidt, Johann Ernst Christian 24. 55–57. 165. 190 Schmidt, Kurt Dietrich 252 Schmidt, Martin 37 Schmidt, Sarah 14. 44. 68. 72. 179 f. Schnabel, Franz 459 Schneider, Karl Theodor 58 f. 433. 436 Scholder, Klaus 37 f. Scholtz, Gunter 13 f. 33. 54 f. 73. 76 f. 180. 452. 454. 458–460 Scholz, Heinrich: 121. 248 f. 438. 470 Schröckh, Johann Matthias 19 f. 22 f. 27–29. 48. 56 f. 131. 161. 163. 165. 167. 182. 190. 247. 253–256. 266. 297. 308. 311–313. 355. 388. 456 Schröder, Markus 82. 115 Schröter, Marianne 49. 215. 218 Schubert, Hans von 252 Schütte, Hans-Walter 107. 113. 383 Schulze, Johann Ludwig 27. 48 Schwarz, Carl 430 f. Schwarz, Friedrich Heinrich Christian 57 Schweizer, Alexander 414 f. Schwenckfeld, Kaspar von 354. 359 Schwindt, Jürgen Paul 46 Seeberg, Erich 111 f. Seeberg, Reinhold 421. 429 Selge, Kurt-Victor 11 f. 58 f. 434–437 Semler, Johann Salomo 17. 23. 25 48 f. 130 f. 163. 175. 190 f. 200. 215. 218. 281. 312 f. 354–356. 438. 456 Shakespeare, William 430 Silvester II. (Gerbert), Papst 322. 348 f. Simeon von Jerusalem 188 Simon, Ernst 454 Simon der Gerber 196 Simon Magus 204. 209 Simon von Tournai 313

520

Register

Sixtus IV. (Francesco della Rovere), Papst 324 f. Socrates Scholasticus 255. 279 Söderlund, Rune 303 Sommer, Andreas Urs 36 Sommer, Wolfgang 49 Sozini, Fausto 361 Sozomenus 255. 279. 307 Spalding, Georg Ludwig 176 Spanheim, Friedrich 47 Spener, Philipp Jacob 111 f. 387. 438 Spinoza, Baruch 38. 54 Spittler, Ludwig Timotheus 20–23. 28. 38. 47. 131. 165. 252. 388. 435 Spranger, Eduard 101 Staats, Reinhart 112. 465 f. Stadelmann, Rudolf 38 Stäudlin, Carl Friedrich 21 f. 24–26. 29. 35. 55. 78. 131. 165. 253. 388 f. 394 Stark, Karl Bernhard 45 Steck, Karl Gerhard 27. 429. 440. 445 Steiger, Johann Anselm 113 Stephan Gobar 212 Stephan, Horst 421. 423. 430. 435 Stephan, Bischof von Rom 225. 227. 249 f. 270 Stephanus, Erzmärtyrer 192. 195 Stiewe, Martin 380. 411 Stöve, Eckehart 81 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 96–98. 190. 192. 196 Storck, Steffen 463. 465 Strohschneider-Kohrs, Ingrid: 112 Stroth, Friedrich Andreas 189 Stubenrauch, Ernst 47–51. 55. 215 Stroup, John 24. 35 Süskind, Hermann 71 Suetonius Tranquillus, Caius 190 Synesius von Cyrene 259. 304 Tankred von der Normandie 323 Tatian 221. 244 f. Tauler, Johann 386 Tertullian, Quintus Septimius Florens 24. 188. 190. 219. 221. 223 f. 239–249. 279. 288. 468 Teubner, Martin 430 Themistius 259

Theodor von Canterbury 280 Theodor von Mopsuestia 254. 282. 294 Theodor von Pharan 296 Theodor Studites 342 Theodora II., byzantinische Kaiserin 342 Theodoret von Cyrus 190. 200. 212. 236 f. 240. 254 f. 279. 282. 294. 304 f. Theodot der Gerber 221. 240. 243 Theodot der Wechsler 240 Theophil, Patriarch von Alexandrien 304 Theophil von Antiochien 216 Thielen, Joachim 451 Thomas von Aquino 341 Thomasius, Gottfried 213. 429. 445–447 Thouard, Denis 257 Thukydides 18. 45 Timotheus 209 Titus 209 Titus von Bostra 297 f. Trajan, Marcus Ulpius, römischer Kaiser 191 Traulsen, Hans-Friedrich 369 Trillhaas, Wolfgang 13. 469 Troeltsch, Ernst 388. 392. 451. 454. 457 f. 460 Twesten, August 437 Tzschirner, Heinrich Gottlieb 23. 355 Uhlig, Christian 12. 463 Ullmann, Carl 414. 425 Urban II. (Otto von Lagery), Papst 322 f. Usteri, Leonhard 58 Valdes, Petrus 165 Valentin 216. 231. 234 f. 237 Varnhagen von Ense, Karl August 366 Vater, Johann Severin 23. 56. 334 Victor, Bischof von Rom 217 f. 223 Vierhaus, Rudolf 18 Vigilantius 275 f. Vigilius, Papst 294 Virmond, Wolfgang 3. 53 f. 56–59. 188 Völker, Karl 19. 26. 111 f. 130 Voigt, Christopher 27 Voigt, Johannes 349 Voltaire (François Marie Arouet) 31–36 Voß, Gerhard Johann 18 Voss, Ingrid 459

Sachen

Voßkamp, Wilhelm 33 Wach, Joachim 31. 99. 101. 448 f. Wagner, Harald 427 Walafrid Strabo 352 Walch, Christian Wilhelm Franz 21. 24. 439 Walch, Johann Georg 21. 299 Wald, Samuel Gottlieb 20. 27 Wallmann, Johannes 387 Walter Habenichts 323 Walter von St. Victor 337 Weeber, Martin 121 Wegscheider, Julius August Ludwig 369 Wehler, Hans-Ulrich 465 Weigel, Valentin 386 Weirich, Adele 135 Weischedel, Wilhelm 33 Weisweiler, Hilger 6 Wendebourg, Dorothea 366–368 Wessel Gansfort von Groningen, Johannes 350. 352 Westphal, Johannes 473

521

Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 58. 424 f. 437 Wetzel, Klaus 17. 25. 27 Wichern, Johann Hinrich 5 Wilhelm von Ockham 345 Willigis, Erzbischof von Mainz 349 Winckelmann, Johann Joachim 450 Wohlfarth, Johann Friedrich Theodor 335 Wolf, Friedrich August 48. 176 f. Wolfes, Matthias 5. 108–110 Wyclif, John 165. 345 f. 350 Zacharias, Papst 276 Zahn, Theodor 188 Zeller, Eduard 113 Zeno, oströmischer Kaiser 263. 269. 294 Zephyrin, Bischof von Rom 240 Zickler, Friedrich Samuel 27 Zimmermann-Stock, Heinz 5 Zinke, Karl 19 Zoeller, Friedrich 93 Zwingli, Ulrich 347. 352. 354. 359 f. 371. 373. 378. 414

Sachen Abendmahl 160. 216. 219. 226 f. 273. 276. 310. 313. 321. 323. 325. 327–331. 343. 345. 347–350. 354. 360–363. 411 f. 414 Ablaß 219. 274 f. 304. 318 f. 322. 325. 341. 357 f. 364 Donatismus 226. 229. 253. 255. 259. 262 f. 267. 270–272. 305. 344 Französische Revolution 41. 393 Gnosis 190. 212 f. 215. 221 f. 231–240. 246–250. 281. 284 f. 290. 297 f. 313. 343. 443. 456. 468 Herrnhuter Brüdergemeine 46 f. 96 f. 361. 388. 397. 413. 416. 472 Hussiten 312. 320. 347. 361 Islam 165. 171. 254. 276. 306. 321–323. 340. 395. 448. 466 Jesuiten 361. 385. 396. 400. 402 f. 406

Judentum 83 f. 92. 108–111. 141. 146. 168. 170. 194–199. 204–206. 209. 212–215. 233. 235–237. 275 f. 280 f. 299. 306. 323. 340. 431. 433. 444. 466. 469 Katharer 313. 343. 345. 352. 359 Manichäismus 205. 236. 253. 255 f. 267. 276. 284. 297–301. 303. 305. 342 f. Mennoniten 158. 359 Methodisten 387 Mönchtum 146. 151. 155. 220. 228. 245. 254. 273–275. 305. 307. 313. 324–326. 328. 342. 344. 348. 388. 395. 402. 405 f. 462 Montanismus 222–227. 239. 249. 267 f. 270. 288 Pelagianismus 205. 248. 253. 255. 299–303. 305

522

Register

Quäker 387. 398. 409 Raskolniken 398 Religionsgespräche, Disputationen 358 – Karthago (484) 269 – Leipzig (1519) 354 – Marburg (1529) 376 Remonstranten 387. 390 f. Sabellianismus 207 f. 224. 248 f. 267. 270. 283 f. 286 f. 291. 297. 330 Schrift, Schriftprinzip 135. 141. 163. 173. 339. 345 f. 351. 356. 358. 363. 366 f. 373–375. 378. 387 f. 390. 394. 397. 402. 405 f. 409. 415. 424. 438 f. Schriftauslegung 143. 215. 245 f. 250. 282 f. 304. 328. 333. 374. 379 f. 466 Semipelagianismus 265. 296. 302 Sozinianer 355. 358 f. 446 Symbole, Bekenntnisschriften 121. 141. 157. 166. 172. 238. 353. 368–370. 378–382. 386–388. 408. 412. 443. 445. 447. 462 – 39 Artikel (1563) 415 – Apostolicum (altkirchlich) 396 – Catechismus Romanus (1566) 385 – Chalcedonense (451) 263. 294 f. 396 – Confessio Augustana (1530) 159 f. 355. 359–362. 368. 383. 462 – Confessio fidei Gallicanae (1559) 355 – Consensus Genevensis (1554) 362 – Consensus Tigurinus (1549) 362 – Dordrechter Kanones (1619) 379 – Kleiner Katechismus Luthers (1529) 383 – Konkordienformel (1577) 359. 363. 379. 412 – Nicäno-Constantinopolitanum (381) 289. 292. 396 – filioque 311. 320 f. 329 f. 339. 397 – Nicänum (325) 272. 285. 287–291. 293 – Orthodoxa confessio (1642) 396 – Romanum (altkirchlich) 286 – Symbol des Euseb von Cäsarea (325) 285

– Symbol des Euseb von Nicomedien (325) 284 f. – Tomus Leonis (449) 293 f. – Wittenberger Konkordie (1536) 360 Synoden, Konzile 130 f. 160. 165. 168 f. 170 f. 217–220. 223. 229. 243. 250. 257 f. 265. 269. 287. 314–316. 319. 328. 346 f. 350. 358. 361. 364. 382. 403 – Arles (314) 229. 257. 270 – Basel, Ferrara, Florenz, Rom, Lausanne (1431–1449) 319. 347 – Chalcedon (451) 253. 262. 294 – Dordrecht (1618/19) 387 – Elvira (um 306) 219 f. 227 – Ephesus (449, Räubersynode) 293 – Frankfurt (794) 320 – Jerusalem (um 48, Apostelkonzil): 197–202. 205. 257 – Konstantinopel (381) 255. 262. 270. 272. 289 – Konstantinopel (680/81, Trullanum): 267 – Konstantinopel (691, Quinisextum, Trullanum): 253 – Konstantinopel (869/70) 321 – Konstanz (1414–1418) 319. 326. 346 – London (1286) 313 – Nicäa (325) 191. 217. 256 f. 270 f. 273. 284 f. 289 – Nicäa (787) 342 – Pisa (1409) 319 – Quierzy (849) 329 – Reims (1148) 312 – Rimini (359) 269 – Rom (1139, 2. Laterankonzil) 318 – Serdica (342) 262 Trient, Bologna (1545–1563) 355. 361. 385 Valence (855) 329 Taufe 157 f. 196. 219. 225–228. 250. 253. 270 f. 288. 301. 307. 359. 363. 405. 409 Universelles Leben 466 Waldenser 313. 320. 343 f. 347. 359

Bibelstellen

Bibelstellen Itala 254 Vulgata 282. 385 Altes Testament 49. 108–110. 201. 204. 212. 233. 235. 238. 240. 265. 282. 286. 288. 297. 304. 342. 415 Septuaginta 282 Genesis 326 Gen 25,29–34: 34 Hiob 282 Jes 54,13: 116 Jes 64,3: 212 Jer 31,34: 116 Dan 7: 33 Neues Testament 102 f. 105 f. 109 f. 114. 138. 144. 150. 156. 160. 162. 168. 176. 189. 191. 205–208. 233. 235. 238. 243 f. 250. 276. 297. 357. 365. 378. 427. 436. 497 Synoptische Evangelien 201. 244 Matthäus 108 Matth 8,23–27: 111 Matth 13,16: 212 Matth 13,33: 434 Matth 16,18 f.: 254 Johannes 201. 210 Joh 1,3: 242 Joh 1,10: 242 Joh 1,14: 210. 242. 384. 468 Joh 1,18: 285. 329 Joh 4,4–42: 196 Joh 6,45: 116 Joh 14,10: 291 Joh 14,15: 330 Joh 14,20: 291 Joh 16,14: 222 Joh 17,3: 241 Joh 17,21–23: 291 Joh 20,29: 212 Apostelgeschichte 14. 48 f. 189. 192 Apg 1,15–26: 200 Apg 2,1–41: 193 Apg 2,11: 196 Apg 2,39: 192 Apg 2,44 f.: 194

Apg 2,47: 194 Apg 3,11: 194 Apg 4,32–45: 194 Apg 4,36–5,10: 194 Apg 5,12: 194 Apg 5,13: 194 Apg 5,29: 373 Apg 6,1–6: 194. 199 Apg 6,4: 195 Apg 6,6: 196 Apg 6,9–14: 195 Apg 6,15–8,1: 195 Apg 8,1–4: 193. 195 Apg 8,5–13: 195 Apg 8,9–24: 204 Apg 8,14–17: 97. 196 Apg 8,26–39: 196 Apg 9,17–19: 196 Apg 10: 196 Apg 11,1–18: 196. 202 Apg 11,19–26: 197 Apg 11,29 f.: 201 Apg 14,14: 200 Apg 15,4: 199 Apg 15,4–29: 200. 202 Apg 15,28: 223 Apg 15,37–40: 203 Apg 19,5 f.: 196 Apg 22,17 f.: 193 Apg 24,17: 201 Röm 5,12: 300 Röm 7,23: 296 Röm 8,3: 108 Röm 8,29: 329 Röm 9,1–3: 109 Röm 10,2–5: 109 Röm 11,4–10: 109 Röm 11,12–15: 109 Röm 14,23: 362 Röm 15,25–27: 201 1. Korintherbrief 201 1 Kor 1,18–29: 469. 471 1 Kor 2,6: 469 1 Kor 2,9: 212 1 Kor 2,14: 469 1 Kor 6,1–8: 200

523

524 1 Kor 8,6: 242 1 Kor 9,9 f.: 245 1 Kor 9,20: 109 1 Kor 11,2–16: 199 1 Kor 12,28: 200 1 Kor 14: 199 1 Kor 15,9: 109 1 Kor 16,1–3: 201 2 Kor 8 f.: 201 Gal 2,1–10: 197 Gal 2,7–9: 202 Gal 2,9: 202 Gal 2,10: 201 Gal 2,11–21: 198. 202. 282 Gal 3,6–26: 108 Gal 3,23–25: 278 Gal 4,22–31: 245 Eph 2,19–22: 115

Register

Eph 4,11: 200 Phil 2,6: 207 Phil 3,4–9: 109 Kol 1,13–17: 242 Kol 1,15: 285 f. Kol 4,16: 201 1 Tim 6,20: 232 2 Tim 2,18: 204. 212 Hebräerbrief 204. 246 Hebr 1,2: 242 Hebr 8,11: 116 Katholische Briefe 246 Jak 2,2–9: 203 1. Petrusbrief 192. 201. 204 1 Petr 2,4–8: 115 2 Joh 7: 204. 212 Offenbarung 246. 282