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German Pages [211] Year 2013
Kirchengeschichte als Wissenschaft
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Herausgegeben von Bernd Jaspert :: ,. Aschendorff :: !. Verlag
Coverabbildung Ipressu des Verages
Lionel Feininger, Gelmeroda, 1933, Aquarell. Entnommen aus: Lutz Unbehaun, Die Dorfkirche zu Gelmeroda, München o. A. © 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen.
Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞
ISBN 978-3-402-12952-4
Inhalt
Vorwort ..........................................................................................................................
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Bernd Jaspert Einleitung ......................................................................................................................
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Rainer Berndt SJ Kanon, Korpus, Kirche Bibelrezeptionen als Paradigma der Kirchengeschichte .........................................
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Thomas Böhm Zwischen Skylla und Charybdis: Phänomenologische Skizzen zur Kirchengeschichte ..............................................
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Daniel Buda Kirchengeschichte als Wissenschaft Versuch einer orthodoxen Perspektive .....................................................................
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Mariano Delgado Kirchengeschichte in schweren Zeiten .....................................................................
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Klaus Fitschen Wissen, wie es war - Verstehen, wie es ist ................................................................
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Hacik Rafi Gazer Bemerkungen zu einer künftigen Kirchengeschichte Konstantinopels/Istanbuls seit 1453 .........................................................................
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Martin H. Jung Kirchengeschichte im interreligiösen Dialog ...........................................................
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Volker Leppin Auf der Grenze - auf einem weiten Raum Kirchengeschichte interdisziplinär und ökumenisch ............................................... 105
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Christoph Markschies Kirchengeschichte oder: Warum es ein Vergnügen ist, zwischen den Stühlen zu sitzen .................... 115 René Roux Kirchengeschichte als Wissenschaft und ihre Bedeutung für die Theologie Persönliche Erfahrungen und Überlegungen ........................................................... 138 Wolf-Friedrich Schäufele Auf dem Weg zu einer historischen Theorie der Moderne Überlegungen zur Kirchengeschichte als Wissenschaft .......................................... 162 Gury Schneider-Ludorff Kirchengeschichte als Wissenschaft ........................................................................... 182 Autoren ........................................................................................................................... 190 Namenregister ................................................................................................................ 201
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Vorwort Als Wissenschaft gehört die Kirchengeschichte in den verschiedenen christlichen Konfessionen überall auf der Welt zu den Kernfächern des Theologiestudiums. So nimmt sie in der theologischen Ausbildung einen hohen Rang ein. Rein zahlenmäßig, aber auch vom wissenschaftlichen Niveau her können die Veröffentlichungen über kirchengeschichtliche Themen durchaus mit den Publikationen aus den anderen theologischen Hauptfächern wie Altes und Neues Testament, Systematische Theologie und Praktische Theologie konkurrieren. Trotzdem scheint die Kenntnis der Kirchengeschichte unter den Studierenden in letzter Zeit abgenommen zu haben. Das dürfte verschiedene Gründe haben, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen untersucht werden können. Die heute an den Hochschulen lehrenden Kirchenhistoriker und Kirchenhistorikerinnen müssen sich aber dieser Tatsache stellen, nach den Gründen suchen und auf Abhilfe sinnen. Denn sonst droht ein wesentlicher Teil nicht nur der theologischen Ausbildung, sondern der theologischen Tradition überhaupt zum Schaden der kommenden Generationen von Theologen und Theologinnen aus dem Blickfeld zu geraten. In dieser Situation scheint es gerade für die heute Theologiestudierenden nützlich zu sein, von den Inhabern der kirchengeschichtlichen Lehrstühle an den Hochschulen Auskunft darüber zu erhalten, wie diese selbst zur Kirchengeschichte fanden, was sie an ihr schätzen, wie sie sie als wissenschaftliches Fach verstehen, welche gegenwärtigen Aufgaben sie dabei sehen und wie sie die Zukunftsperspektiven der Kirchengeschichte einschätzen. Solche Einschätzungen hängen wesentlich von der persönlichen Erfahrung mit der Kirchengeschichte und dem Zugang zu ihr ab. Deshalb habe ich Hochschullehrer/innen aus den deutschsprachigen Ländern gebeten, in einem Beitrag zu diesem Buch ihre Sicht der Kirchengeschichte als Wissenschaft zu beschreiben. Von den 47 angeschriebenen Damen und Herren haben 12 aus Deutschland und der Schweiz ihre Teilnahme an dem Band zugesagt. Da Kirchengeschichte ein ökumenisches Phänomen ist und an den Hochschulen im deutschsprachigen Raum im Wesentlichen von evangelischen, katholischen und orthodoxen Theologen und Theologinnen erforscht und gelehrt wird, gehören die Mitarbeiter/in dieses Bandes jeweils einer Kirche dieser drei Konfessionen an. Die Beschränkung auf den deutschen Sprachraum hat einen praktischen Grund: Das Buch sollte vor allem Studierenden der Theologie in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Orientierung über das Fach Kirchengeschichte geben, wie es heute an den hiesigen Hochschulen verstanden und gelehrt wird. Darüber hinaus sollte es eine Vertiefung der schon vorhandenen kirchengeschichtlichen Interessen ermöglichen. Dass sich die Autoren bemühen, dabei durchaus über den eigenen Horizont hinauszublicken, und den Leser oder die Leserin spüren lassen, dass die Kirchengeschichte als ökumenisches zugleich ein internationales Phänomen ist, dem Forschung und Lehre gerecht werden müssen, wurde von ihnen erwartet. Das heißt nicht, dass die lokale und regionale Kirchengeschichtsforschung und -darstellung weniger bedeutsam wären als die globale. Diese sind vielmehr Teil einer Gesamtkir-
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chengeschichtshermeneutik, die beides im Blick hat: die lokale, regionale und konfessionelle ebenso wie die internationale, globale und ökumenische Kirchengeschichte. Unter welchem Aspekt auch immer, für eine echte Begegnung mit der Kirchengeschichte wie für das theologische Forschen und Denken insgesamt gilt, was Augustin einst so formulierte: „Quid fortius desiderat anima quam veritatem?“ (In Iohannis euangelium tractatus CXXIV, CChr.SL 36, 262, 31f). Allen Mitarbeitenden an diesem Band danke ich herzlich für ihre Beiträge. Mögen sie den gegenwärtig Theologiestudierenden helfen, einen guten Zugang zur Kirchengeschichte als einer der Grundwissenschaften der Theologie zu finden, sich fundiert über das Fach zu orientieren und Freude daran zu haben, kirchengeschichtlich zu denken und zu arbeiten. Die in den Beiträgen gebrauchten Abkürzungen von Zeitschriften, Quellenwerken, Handbüchern, Reihen usw. richten sich in der Regel nach: Siegfried M. Schwertner, Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, 2., überarb. u. erw. Aufl. Berlin/New York 1994, bzw. nach dem Abkürzungsverzeichnis für die RGG4, Tübingen 2007. Das Autorenverzeichnis enthält die Biogramme der beteiligten Autorin und Autoren. Bei der Nennung ihrer Veröffentlichungen mussten wir uns aus Platzgründen auf eine begrenzte Auswahl von Monographien und Editionen beschränken. Weitere Veröffentlichungen werden in ihren jeweiligen Beiträgen genannt oder können leicht über das Internet ermittelt werden. Ein besonderer Dank gilt Daniel Buda (Genf), der kurzfristig für seinen erkrankten Kollegen Ioan-Vasile Leb (München) einsprang und seinen Beitrag noch termingerecht innerhalb weniger Tage ablieferte, so dass wir nicht auf die so wichtige orthodoxe Perspektive der Kirchengeschichte verzichten mussten. Dem Aschendorff Verlag Münster und insbesondere seinem theologischen Lektor, Dr. Bernward Kröger, danke ich für die Bereitschaft, das Buch in einer Zeit zu verlegen, in der andere Fächer an den deutschsprachigen Hochschulen einen höheren Beliebtheitsgrad zu haben scheinen als die Kirchengeschichte. Umso notwendiger und hilfreicher ist eine solche Einführung in Form kurzer persönlicher Darstellungen hervorragender Kirchenhistoriker, einer Frau und elf Männern. Dass Verlag und Herausgeber zusammen mit den Autoren über die Konfessionsgrenzen hinweg diesen Band zustande bringen konnten, ist ein erfreuliches ökumenisches Zeichen. Für hilfreiche Literaturauskünfte sei besonders Frau Dipl.-Bibliothekarin Ursula Winterer von der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Fulda gedankt. Schließlich danke ich sehr herzlich dem Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, die durch namhafte Druckkostenzuschüsse das Erscheinen des Buches zu einem erschwinglichen Preis ermöglicht haben. Möge es viele Studenten und Studentinnen und andere Interessierte dazu anregen, sich intensiv mit der 2000-jährigen Geschichte der Kirche in ihren unterschiedlichen Gestalten zu beschäftigen und dabei zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Tann (Rhön), 11. August 2012
Bernd Jaspert
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Bernd Jaspert
Einleitung Über die Kirchengeschichte als Wissenschaft wird gestritten, seitdem es sie als eigene Disziplin (historia sacra im Unterschied zur historia profana1) an den Hochschulen gibt, also seit dem 17. Jahrhundert. Die Sache, um die es dabei in Forschung und Lehre geht, ist allerdings wesentlich älter. Sie betrifft das geschichtliche Dasein der Kirche in ihren verschiedenen Formen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Der Begriff Kirchengeschichte ist jedoch „nur eine der möglichen Bezeichnungen für eine organisierte christliche Geschichtsdeutung, wohl aber die verbreitetste“2. Andere Begriffe wie Geschichte des Christentums, Christentumsgeschichte, Geschichte der christlichen Religion usw. haben sich, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, nicht durchsetzen können.3 Die Frage, ob die Kirchengeschichte eine theologische Wissenschaft ist oder nicht vielmehr als ein Teil der Geschichtswissenschaft zu begreifen und dementsprechend strikt historisch und nicht (auch) theologisch zu behandeln ist, wurde schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gestellt.4 Aber erst im 20. Jahrhundert führte sie unter evangelischen und römisch-katholischen Theologen zu heftigen Auseinandersetzungen, und zwar sowohl konfesssionsintern als auch interkonfessionell. Es sei nur an die Antrittsrede des Erlanger evangelischen Kirchenhistorikers Hermann Jordan (1878-1922) vom 2. Mai 1914 über „Die Kirchengeschichte als theologische 1 Dass die beiden nicht einfach mit der historia divina und der historia humana oder historia naturalis identisch sind, hatte man spätestens im 18. Jahrhundert begriffen, als Männer wie Christoph Matthäus Pfaff (1686-1760) in Tübingen und Johann Lorenz von Mosheim (1693-1755) in Göttingen der pragmatischen Methode in der Kirchengeschichtsschreibung zum Sieg verhalfen; vgl. B. Jaspert, Hermeneutik der Kirchengeschichte (1989), in: ders., Theologie und Geschichte. Ges. Aufsätze, Bd. 1 (EHS.T 369), Frankfurt a. M. 1989, (19-77) 24ff. 2 Ch. Markschies, Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung. I. Begrifflichkeit und Voraussetzungen, RGG4 4 (2001) (1170-1179) 1170. 3 Zur Geschichte des Verständnisses und der Bedeutung der Kirchengeschichte als Wissenschaft vgl. anstelle vieler Einzelnachweise nach P. Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, 2 Bde. (OA III/5), Freiburg/München 1967, und dem Themenheft: Grundfragen der kirchengeschichtlichen Methode heute, RQ 80 (1985) 1-258, die Überblicksartikel mit weiterführender Literatur von A. Schindler/K. Koschorke, EKL3 2 (1989) 121-127; E. Stöve, TRE 18 (1989) 535-560; K. Ganzer/E. L. Grasmück/ G. Podskalsky/K. Ganzer, LThK3 6 (1997) 1-10; Ch. Markschies/E. Plümacher/H. Ch. Brennecke/A. Beutel/K. Koschorke/St. Gerö/Ch. Markschies/J. Ohlemacher, RGG4 4 (2001) 1170-1196; außerdem B. Jaspert, Hermeneutik der Kirchengeschichte (wie Anm. 1), 19-77; A. Beutel, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin (1997), in: ders., Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 1-27; K. Nowak, Wie theologisch ist die Kirchengeschichte? Über die Verbindung und die Differenz von Kirchengeschichtsschreibung und Theologie (1997), in: ders., Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984-2001, hg. v. J.-Ch. Kaiser (KoGe 25), Stuttgart 2002, 464-473; B. Jaspert (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte. Probleme, Visionen, Methoden, Paderborn/Frankfurt a. M. 1998. 4 Beispielsweise von Jean Bodin (1529-1596) und Reiner Reineccius (1541-1595); vgl. B. Jaspert, Hermeneutik der Kirchengeschichte (wie Anm. 1), 24.
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Wissenschaft“5, an den Hofgeismarer Vortrag des Marburger evangelischen Kirchenhistorikers Winfried Zeller (1911-1981) vom 4. August 1949 über „Kirchengeschichte als theologisches Problem“6, an den Vortrag, den der katholische Kirchenhistoriker Hubert Jedin (1900-1980) beim Dies Academicus der Universität Bonn am 9. Dezember 1953 über „Kirchengeschichte als Heilsgeschichte?“7 gehalten hat, an die Philippika, die der Luzerner katholische Kirchenhistoriker Victor Conzemius (geb. 1929) gegen den theologischen Charakter der Kirchengeschichte 1975 hielt8 oder an die viel beachtete Mainzer Akademieabhandlung des katholischen Kirchenhistorikers Erwin Iserloh (1915-1996) von 1982 über „Kirchengeschichte - eine theologische Wissenschaft“9 erinnert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zu einer Zeit, in der an deutschen Hochschulen das Theologiestudium entsprechend moderner Reformvorgaben von staatlicher Seite immer mehr nach sog. Modulen absolviert wird10, ist die Diskussion über den Wissenschaftscharakter und die Bedeutung der Kirchengeschichte für die Theologie, speziell für die Ausbildung von Theologen und Theologinnen für das Pfarramt in den Kirchen, das Lehramt in den Schulen oder an den Hochschulen, keineswegs abgeschlossen.11 Die Frage, was Kirchengeschichte ist, wie sie und was von ihr an den Hochschulen gelehrt und gelernt werden soll, ist vielmehr aufs Neue zu stellen.12 NKZ 26 (1915) 52-63. In: W. Zeller, Theologie und Frömmigkeit. Ges. Aufsätze, Bd. 1, hg. v. B. Jaspert (MThSt 8), Marburg 1971, 1-8. 7 Saec. 5 (1954) 119-128, ND in: H. Jedin, Kirche des Glaubens - Kirche der Geschichte. Ausgew. Aufsätze und Vorträge, Bd. I: Kirchengeschichtsschreibung, Italien und das Papsttum, Deutschland, Abendland und Weltkirche, Freiburg i. Br. 1966, 37-48. 8 Kirchengeschichte als „nichttheologische“ Disziplin. Thesen zu einer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung, ThQ 155 (1975) 187-197 (ND in: ThJb[L] [1984] 31-48; RQ 80 [1985] 31-48). 9 AALM.G 1982, Nr. 3, Mainz/Wiesbaden 1982, ND in: E. Iserloh, Kirche - Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge, Bd. I: Kirchengeschichte als Theologie (RGT.S 3/1), Münster 1985 (21987), 1-29. 10 Vgl. Module der Theologie, 5 Bde., Gütersloh/Berlin 2009 (Bd. 3: K. Fitschen, Kirchengeschichte). 11 Anstelle vieler Einzelnachweise vgl. G. Besier, Western Debate on Theories of Church History, Religion, Staat, Gesellschaft 6 (2005) 5-18; W. Brandmüller, Kirchengeschichte in Deutschland (2006), in: ders., Scripta maneant. Raccolta di studi in occasione del suo 80° genetliaco, hg. v. C. Semeraro (Pontificio Comitato di Scienze Storiche. Atti e Documenti 30), Città del Vaticano 2009, 392-407; K. Fitschen, Aktuelle Methodendebatten in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung, in: W. Kinzig/V. Leppin/ G. Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (AKThG 15), Leipzig 2004, 39-52; ders., Kirchengeschichte, in: E.-M. Becker/D. Hiller (Hg.), Handbuch Evangelische Theologie. Ein enzyklopädischer Zugang (UTB 8326), Tübingen 2006, 157-213, bes. 177ff; ders., „Kirchengeschichte muß um das Wesen von Kirche wissen“. Selbstbesinnung und Selbstbegrenzung des Faches Kirchengeschichte nach 1945, Mitteilungen zur kirchlichen Zeitgeschichte 1 (2007) 27-46. 12 Aus der Fülle der Beiträge zur neueren Diskussion über die Kirchengeschichte vgl. nach der z. T. konfessionsübergreifend mehrere Jahrzehnte lang gültigen Besinnung von H. Jedin, Einleitung in die Kirchengeschichte, in: K. Baus, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche/H. Jedin, Einleitung in die Kirchengeschichte (HKG[J] 1), Freiburg i. Br. 1962 (41978), 1-55, außer den in Anm. 11 schon genannten Arbeiten neuerdings bes. den Überblick bei St. Storck, Kirchengeschichtsschreibung als Theologie. Theorien der Kirchengeschichtsschreibung in der deutschsprachigen evangelischen und katholischen Theologie seit 1945, Aachen 1997. 5 6
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Denn die Kirchengeschichte „hat nicht nur antiquarische Bedeutung. Die Kirche in ihrer heutigen Form ist vielmehr nur zu verstehen unter Berücksichtigung ihres geschichtlichen Werdens und ihrer Entwicklungen durch all die Jahrhunderte. Die Kenntnis von Kontinuität, Komplexität und Relativität kirchengeschichtlicher Entwicklungen befähigt dazu, sich ein selbständiges Urteil zu bilden und in der Gegenwart verantwortungsvoll zu handeln.“13 Noch mehr als damals gilt heute, was Hubert Jedin schon vor fünfzig Jahren festgestellt hatte: „Wie in allen Zweigen der Wissenschaft, so vollzieht sich auch in der Kirchengeschichte der Fortschritt der Erkenntnis vor allem in der Spezialforschung. Sie hat sich derart ausgeweitet, daß kein Gelehrter imstande ist, das ganze Gebiet der Kirchengeschichte zu überschauen.“14 Dieser Feststellung von 1962 entsprechen die Beobachtungen, die neuerdings die evangelischen Kirchenhistoriker Eckehart Stöve (geb. 1941) und Albrecht Beutel (geb. 1957) über die Spezialisierung und Segmentierung in der kirchengeschichtlichen Forschung und Lehre gemacht haben.15 Umso dringender stellen sich heute im wissenschaftlichen Diskurs Fragen wie: - Was zeichnet die Kirchengeschichte als Wissenschaft aus? - Wie und zu welchem Ziel wird Kirchengeschichte als Wissenschaft betrieben? - Ist Kirchengeschichte als Wissenschaft für die Theologie in der Differenzierung und Spezialisierung ihrer Fächer (Altes und Neues Testament, Systematische Theologie, Praktische Theologie, Ökumenik usw.) wie auch für die Theologie als Ganze notwendig und sinnvoll und ist sie ein unerlässlicher Beitrag zum theologischen Denken, Reden und Handeln? - Leistet Kirchengeschichte als Wissenschaft einen unabdingbaren Beitrag zum historischen Denken und Verstehen als solchen, oder ist sie in historischer Hinsicht nur binnenkirchlich orientiert? - Fördern die Erkenntnisse der Kirchengeschichte als Wissenschaft die Menschlichkeit, die Verständigung zwischen den Konfessionen und Religionen, den Frieden in der Welt? - Welche Auswirkungen hat die Kirchengeschichte als Wissenschaft auf die theologische Praxis in Pfarramt und Schule? - Inwiefern ziehen die Kirchen als Organisationen des Christentums aus den Erkenntnissen wissenschaftlich betriebener Kirchengeschichte Konsequenzen in der praktischen Ausbildung und Förderung ihres Theologen- und Theologinnennachwuchses, in der Synodalarbeit, in der Kirchenorganisation und -verwaltung usw.? Solche Fragen nach der Bedeutung der Kirchengeschichte als Wissenschaft in der heutigen Zeit und unter den Bedingungen der Globalisierung des Denkens, Forschens, Lehrens, Lernens und Lebens insgesamt könnten noch leicht um weitere 13 K. Ganzer, Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung. VI. Aktualität der KG, LThK3 6 (1997) 10. 14 H. Jedin, Einleitung in die Kirchengeschichte (wie Anm. 12), 55. 15 Ihre entspr. Bemerkungen von 1989 bzw. 2001 habe ich zitiert in: B. Jaspert, Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877, Bd. 5: Das Mönchtum in evangelischen Handbüchern der Kirchengeschichte. Die Neubegründung des Mönchtums im Protestantismus. Mönchtum als ökumenisches Problem (RBS.S 21), St. Ottilien 2011, 23f.
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vermehrt werden. Deutlich ist jedenfalls, dass die heute Kirchengeschichte Lehrenden und Lernenden um eine den modernen Anforderungen und Gegebenheiten gerecht werdende Standort- und Sinnbestimmung ihres Faches nicht herumkommen, gerade wenn sie davon überzeugt sind, dass Kirchen- und Heilsgeschichte nicht in jedem Fall identisch sein müssen und Heilsgeschichte immer auch Weltgeschichte ist.16 Von unterschiedlichen Voraussetzungen und Ansatzpunkten her haben das die Autoren dieses Bandes versucht. Ihr Hauptziel war dabei, den Kirchengeschichte Studierenden eine Orientierung zu bieten, wie sie sich dem umfangreichen Gebiet der Kirchengeschichte nähern und sich mit ihm mehr und mehr vertraut machen können. Welche der verschiedenen Darstellungen dem Leser oder der Leserin besonders verständlich, einsichtig und sympathisch ist, hängt gewiss nicht nur von der guten Argumentation und Entfaltung der Gedanken ab, die die Autoren in ihren Beiträgen entwickelt haben. Auch der Leser oder die Leserin selbst hat einen gehörigen Anteil daran. Denn sein oder ihr jeweiliges Vorverständnis von Kirchengeschichte und die eigene Offenheit für bisher Unbekanntes, Ungewohntes, ja sogar Ungeahntes, das hier begegnet, entscheiden mit über Annahme oder Ablehnung des Dargestellten. Vermutlich wäre eine Weiterarbeit an den Gedanken und Vorstellungen der Autoren für einen eigenen, persönlichen Zugang zur Kirchengeschichte hilfreich. Das wäre dann eine Art Horizontverschmelzung zwischen Autor/in und Leser/in. Sie könnte auf neue Perspektiven neugierig machen und vielleicht sogar eröffnen. Genau davon lebt die Kirchengeschichte als Wissenschaft seit jeher: von neuen Perspektiven.
Vgl. F. X. Kaufmann, Entweltlichte Kirche?, FAZ (27. Januar 2012) Nr. 23, S. 11: „Es gibt keine Heilsgeschichte außerhalb der Weltgeschichte.“ - Dass die Kirchengeschichte dabei im größeren Zusammenhang der allgemeinen Geschichte zu verorten und zu verstehen ist und daher die hier geführten hermeneutischen Debatten mit zu berücksichtigen sind, versteht sich von selbst; vgl. dazu z. B. Ch. Markschies, Vergangenheit verstehen. Einige Bemerkungen zu neueren Methodendebatten in den Geschichtswissenschaften, MJTh 18 (2006) 23-52.
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Rainer Berndt SJ
Kanon, Korpus, Kirche Bibelrezeptionen als Paradigma der Kirchengeschichte Im Wintersemester 1970/71 begann ich mit dem Studium der katholischen Theologie und der Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Damals bewegten mich zunächst in besonderer Weise nicht die historischen Disziplinen dieses Faches, vielmehr faszinierten mich die Vorlesungen und Fragestellungen des Bonner Fundamentaltheologen Heimo Dolch.1 Er hat uns beispielsweise begeistert für Pierre Teilhard de Chardin und Werner Heisenberg und die damals als aktuell geltenden Fragen nach einer Verhältnisbestimmung zwischen Naturwissenschaft und Theologie: Stehen sich der christliche Glaube und eine naturwissenschaftliche Weltbetrachtung alternativ gegenüber, oder gibt es Verständigungsmöglichkeiten? Bei der Beantwortung dieser Problematik hat Heimo Dolch uns von vornherein die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Offenbarung („Dei verbum“, 1965) als Wegweiser vorgestellt und uns als begleitenden Interpreten Gottlieb Söhngen und sein Werk empfohlen. In der Tat aktualisiert das Konzil in „Dei verbum“ ein Geschichtsverständnis, das den Vätern der Kirche und darüber hinaus den Autoren bis etwa ins 13. Jahrhundert hinein geläufig war, ja es gab damals schlechthin gar keine andere Wahrnehmung: Die Welt und der Kosmos mit ihren Gesetzmäßigkeiten sind geschaffene Wirklichkeiten; diese können und sollen sehr wohl erforscht, sie wollen intellektuell durchdrungen und verstanden werden. Aber damit allein haben wir noch nicht die Bedeutung der Welt, die Schöpfung ist, begriffen. Vielmehr versteht die Kirche in „Dei verbum“ die göttliche Offenbarung schlechthin als das Deutungsangebot von Welt. Seit dem Konzil hat die wissenschaftliche Theologie die Aufgabe, daran mitzuarbeiten, Begriffe wie ‚Glaube‘ und ‚Heilsgeschichte‘ aus ihrer neuscholastisch-sachhaften Engführung zu befreien und stattdessen ihren kommunikativen wie dynamischen Bedeutungsgehalt wieder zu entdecken.
1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte 1.1 Meine beiden Bonner Studienjahre und die folgenden Semester an der AlbertLudwigs-Universität in Freiburg im Breisgau haben mich parallel zur Fundamentaltheologie in der Philosophie Gelehrte wie Wolfgang Kluxen, Ludger Honnefelder, Charles Lohr und Bernhard Welte, in der Kirchengeschichte Ernst Dassmann und Siehe die biographischen Daten in: Theologie - Grund und Grenzen. Festgabe für Heimo Dolch zur Vollendung des 70. Lebensjahres, hg. v. H. Waldenfels unter Mitarbeit von H. Pfeiffer und K. Rohmann, Paderborn 1982, 627-629; vgl. auch H. Waldenfels, Art. Dolch, Heimo, LThK3 3 (1995) 303.
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Eduard Hegel sowie in der Dogmatik Helmut Riedlinger kennen lernen lassen. In meinen späteren Studienjahren in Sankt Georgen in Frankfurt am Main prägten mich mit ihren Fragestellungen, aber auch ihren Methoden, die Jesuitenpatres Medard Kehl, Peter Knauer, Erhard Kunz, Werner Löser und Hermann Josef Sieben. Daneben konnte ich unter der Anleitung der Patres Johannes Beutler, Hans-Winfried Jüngling und Fritzleo Lentzen-Deis das weite Feld der Bibelexegese betreten, wobei uns schon in der Bonner Zeit der dortige Alttestamentler, Johannes Botterweck, in der Hebräisch-Lektüre, nahezu einem Privatissimum mit drei Studenten, die Hebräische Bibel und den Alten Orient erschlossen hatte. Gegen Ende des Diplomstudiums hatte sich mein wissenschaftliches Interesse dann definitiv auf die Geschichte des Mittelalters konzentriert, sodass die Oberen entschieden, mich für eine Ausbildung in Mediävistik freizustellen. Ließ mir die eigentliche Entscheidung zum vertiefenden Studium der Mediävistik noch die Wahl der genauen Ausrichtung, so hat mich danach ein beherzter Vorschlag meines Mitbruders Charles Lohr, des langjährigen Direktors des Freiburger Raimundus-Lullus-Instituts, unerwartet in eine bestimmte Forschungsrichtung gelenkt. Im Sommer 1980, in der Abschlussphase meines Studiums in Sankt Georgen und kurz vor meiner Priesterweihe, besuchte mich nämlich in Frankfurt Charles Lohr, um mir die Zusammenarbeit mit ihm anzutragen. Er schilderte mir die in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichende, komplizierte Geschichte seiner kritischen Edition des Heptateuch-Kommentars des Andreas von Saint-Victor, die sich damit als ein Teil seiner eigenen wissenschaftlichen Biographie entpuppte. P. Lohr schlug mir also vor, gemeinsam mit ihm diese Edition zu Ende zu führen und im „Corpus Christianorum“ zu veröffentlichen2; separat davon könne meine Dissertation entstehen. Die kommenden Studienjahre würden mir nun also zur Verfügung stehen, um mich in die Problemstellungen dieses mir bis dahin völlig unbekannten Gebiets der Geschichte der Bibelauslegung und die Geschichte von Juden und Christen einzulesen. Gleichermaßen war genügend Freiraum geboten für eine erste Meinungsbildung hinsichtlich der theologischen Relevanz dieses Forschungsfeldes. Einige Erkundigungen über Ausbildungsmöglichkeiten in der gewählten Fachrichtung an europäischen und nordamerikanischen Universitäten führten zu der Entscheidung, ich solle im Institut d’Études médiévales an der Université Catholique de Louvain - Louvain-la-Neuve das Diplom in Mediävistik erwerben. Das Curriculum im akademischen Jahr 1981/82 ging von meinem Philosophie- und Theologiestudium aus und akzentuierte folglich vor allem die Auseinandersetzung mit den Historischen Hilfswissenschaften, umfasste grundlegende Vorlesungen in mittelalterlicher Geschichte, in Religionsgeschichte und in Mittellatein, aber auch ein vertieftes Studium mittelalterlicher Autoren. Meine Lehrer waren in diesem Jahr vor allem Robert Bultot, Philippe Delhaye, Léopold Genicot, Nicolas Huyghebaert, Hubert Silvestre, Simone Van Riet sowie besonders Paul Tombeur. 2 Andreas de Sancto Victore, Expositio in Heptateuchum, ed. Ch. Lohr/R. Berndt (CChr.CM 53), Turnhout 1986.
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Das Promotionsstudium nahm ich anschließend in Paris am Institut Catholique und an der Université Sorbonne-Paris IV auf, wo meine Moderatoren für die Theologie Jean Châtillon und André Vauchez für die Mittelalterliche Geschichte waren. Daneben besuchte ich die Seminare von François Dolbeau an der École Pratique des Hautes Études. Außerdem boten die Pariser Bibliotheken, allen voran die Bibliothèque nationale und die Mazarine, reichste Handschriftensammlungen. Das Institut de Recherche et d’Histoire des Textes stand mir die gesamte Zeit über mit seinen Diskussionsforen und Forschungsschätzen offen. Die Prüfungskommission anlässlich der Verteidigung meiner Dissertation im Juni 1989 bestand unter dem Vorsitz von Michel Meslin aus Pierre-Marie Gy und Henri Cazelles für das Institut Catholique sowie André Vauchez und Gilbert Dahan für die Sorbonne.3 1.2 In der Rückschau betrachtet, prägt mich die Entscheidung für Andreas von Saint-Victor und seine typische Weise der Bibelauslegung als Kirchen- und Theologiehistoriker bis heute. Die verschiedenen Forschungsthemen, die mir seit dem Beginn meiner Frankfurter (ab 1990), später auch der Pariser Lehrtätigkeit (ab 1991), immer wieder wichtig erscheinen, lassen sich meist mit den Schwierigkeiten, mit den Herausforderungen und Aufgaben in Verbindung bringen, die den Christen in ihrer Glaubensgeschichte, insbesondere im Mittelalter, entgegenkommen und die sich ihnen stellen, wenn sie sich auf die Heilige Schrift beziehen. Während meiner Auslandsjahre lernte ich verstehen, dass die Bibel, die Juden wie Christen als Heilige Schrift gilt, als par excellence unverfügbares Deutungsangebot für die ganze Welt zur Hand ist. Selbstverständlich müssen und sollen wir aufgrund der kultur- und bildungsgeschichtlichen wie literaturwissenschaftlichen Forschungsleistungen der beiden letzten Jahrhunderte das Entstehen und Werden, die Herkunft und die Weitergabe des Heiligen Wortes in seiner materiellen Gestalt und seinen geschichtlichen Bedingtheiten kennen. Davon zu unterscheiden und unabhängig sind jedoch die Wahrnehmung und Rezeption der Bibel in ihrer theologischen Einheit als normatives Gotteswort. Mein ganzes kirchen- und theologiegeschichtliches Arbeiten könnte als unter einem fundamentaltheologischen Vorzeichen stehend betrachtet werden insofern, als mir die naturwissenschaftliche Suche nach der Offenlegung der Gesetzmäßigkeiten der Welt von vornherein als zwar notwendiger analytischer Ausgangspunkt, aber als unzureichend hinsichtlich ihrer bedeutungszuschreibenden Kraft und wahrheitssuchenden Dynamik eingeleuchtet hat.
3 Veröffentlicht als R. Berndt, André de Saint-Victor († 1175). Exégète et théologien (Bibliotheca Victorina 2), Paris/Turnhout 1991.
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2. Kanon und Korpus der Heiligen Schrift Die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der Geschichte der Kirche ist im selben Sinne wie die Geschichtswissenschaft4 überhaupt eine nachmittelalterlich-neuzeitliche akademische Disziplin. Während die Geschichtswissenschaft neben der Philosophie den Kernbestand der Philosophischen Fakultät moderner Universitäten bildet, siedelt sich die Kirchengeschichte, da sie eine Disziplin der Theologie ist, in den konfessionell geprägten Theologischen Fakultäten an. Meine gesamte akademische Lehr- und Forschungstätigkeit hat nun in kirchlich getragenen Institutionen philosophisch-theologischer Wissenschaft ihren Raum gefunden. Der Intention nach dürfte sich dies nicht auf die zum Zug kommenden Arbeitsmethoden, sondern lediglich, aber grundsätzlich auf die entfalteten und angewandten Deutungsweisen auswirken. 2.1 Als ich zum Sommersemester 1990 meine Tätigkeit an der Hochschule Sankt Georgen aufnahm, gelang es zügig, das langfristige Editionsprojekt der Werke Hugos von Saint-Victor, des Namensgebers der Institutsneugründung, zu verankern. Der aus Mitteldeutschland stammende Hugo5 war nämlich den Professoren von Sankt Georgen schon seit langem kein Unbekannter mehr. Denn P. Heinrich Weisweiler, der über mehrere Jahrzehnte hinweg als Schriftleiter die Zeitschrift „Scholastik“ (seit 1965 „Theologie und Philosophie“) maßgeblich prägte und an der Hochschule Dogmatik lehrte, hat zum Teil bis heute nicht überholte Forschungsbeiträge zur Genese der hugonischen Theologie und zu ihren Quellen veröffentlicht.6 Das nun schon seit mehr als zwanzig Jahren arbeitende „Hugo von Sankt Viktor-Institut für Quellenkunde des Mittelalters“7 hat sich als das ideale Instrument erwiesen, meiner Arbeit Ort und Form zu geben. Eine meiner prägenden Erfahrungen an diesem Ort besteht darin, den Zusammenhang zwischen der Herausforderung durch eine ausschließlich drittmittelfinanzierte Forschung und der Freude an der dazu erforderlichen Leistungsbereitschaft und Kreativität zu entdecken und zu verstehen. Außerdem beflügeln diese Rahmenbedingungen den Teamgeist und fordern alle Beteiligten durch den kontinuierlichen Austausch heraus, sachlich wie menschlich.8 4 Vgl. J. Knape, „Historie“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext (Saecula spiritalia 10), Baden-Baden 1984; F.-J. Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt 21993. 5 Siehe zuletzt R. Berndt, The Writings of Hugh of St Victor: An Author and His Contexts, in: Ugo di San Vittore. Atti del XLVII Convegno Storico Internazionale, Todi, 10-12 ottobre 2010 (Centro Italiano di Studi sul Basso Medioevo - Accademia Tudertina, NS 24), Spoleto 2011, 1-20. 6 Siehe das Verzeichnis der von Heinrich Weisweiler SJ verfaßten Aufsätze und Bücher, Schol. 40 (1965) 241-243. Ein Nachruf von B. Brinkmann findet sich in den Mitteilungen aus den deutschen Provinzen 20 (1965) 452-461. 7 Für weitergehende Informationen verweise ich auf die Homepage des Instituts: www.sankt-georgen. de. Dort findet sich auch die jeweils aktuelle Fassung meiner Bibliographie. 8 Feststellungen, die in diese Richtung zielen, hat der Wissenschaftsrat in seinem Gutachten zur akademischen Theologie in Deutschland getroffen. Siehe die Empfehlungen zur Weiterentwicklung von
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Aufgrund des großen Editionsvorhabens richtet sich meine kirchengeschichtliche Arbeit von Anfang an interdisziplinär aus. Aus der Übertragung dieser Edition auf das Institut als dessen genuine Aufgabenstellung ergibt sich, dass die „Quellenkunde des Mittelalters“ nur im Zusammenspiel von Philologie, Literaturgeschichte, Historischen Hilfswissenschaften sowie Philosophie und Theologie gelingen kann; neuerdings ist dieses Spektrum noch um die organisatorische wie intellektuelle Fertigkeit zur Konzeption von Datenbanken zu ergänzen. Von der durch die Edition bedingten Orientierung ausgehend, haben sich alle meine Vorhaben zur Erforschung der Kirchengeschichte vom Mittelalter bis in die Neuzeit entwickelt. 2.2 Anlässlich eines Frühstücksgespräches mit meinem Mitbruder und Kollegen aus dem Alten Testament, P. Norbert Lohfink, über das damals neue „Jahrbuch für Biblische Theologie“, dessen nächster Band über die Geschichte der Kanonbildung handeln sollte, bin ich in den späten achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, schon gegen Ende der Arbeiten an meiner Dissertation, eher zufällig auf eine für die Geschichte der Kirche zentrale Frage gestoßen. Ihre Bearbeitung hat nicht nur mein Verständnis der Exegese der Viktoriner massiv beeinflusst, sondern sie hat mich überhaupt die Bedeutung der Rezeptionsgeschichte und der vielfältigen Rezeptionsformen der Heiligen Schrift für die Kirche bis heute erkennen lassen.9 In den Kommentaren des Andreas von Saint-Victor waren mir immer schon seine Bemerkungen und Stellungnahmen zur Kanonizität einzelner Bücher der Heiligen Schrift aufgefallen.10 Ebenso kannte ich auch die verschiedenen Passagen in Hugos Schriften („Chronicon“, „De scripturis et scriptoribus sacris“, „Didascalicon“, „Sententie de diuinitate“, Prolog zum Buch Eins von „De sacramentis“), in denen dieser seine außergewöhnliche Kanonlehre darlegt.11 Aber es fehlten mir das Wissen und das Verständnis für zwei entscheidende Umstände, dass nämlich zum einen die Kanonbildung der einen Heiligen Schrift, die aus dem Alten und dem Neuen Testament besteht, einen langdauernden geschichtlichen Verlauf genommen hatte und dass zum anderen die reale Anordnung der biblischen Bücher in den Bibelhandschriften nur in seltenen Fällen, und überdies zunehmend erst im hohen Mittelalter, der theoretischen Ordnung entsprach. Schriftkanon und Schriftkorpus wurden nach dem Trienter Konzil und seinem Dekret über den Schriftkanon und die Schriftinspiration (vom 8. April 1546), gefolgt von der sixto-clementinischen Vulgata-Ausgabe von 1590/92, miteinander zur Übereinstimmung gebracht.12 Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen vom 29. Januar 2010, 67-68. 9 Vgl. R. Berndt, Gehören die Kirchenväter zur Heiligen Schrift? Zur Kanontheorie des Hugo von St. Viktor, JBTh 3 (1988) 191-199. Zur Kanonfrage im 13. Jahrhundert vgl. kürzlich Th. Prügl, Die Bibel als Lehrbuch. Zum Plan der Theologie nach mittelalterlichen Kanonauslegungen, Archa Verbi 1 (2004) 4266. 10 Vgl. Berndt (wie Anm. 2), 109-118. 11 Vgl. Berndt (wie Anm. 9), 197-199. 12 Siehe den neuesten Forschungsstand in: P. Cherubini (Hg.), Forme e modelli della tradizione manos-
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Im Zuge meiner weiteren Arbeiten zur Geschichte der Bibelauslegung in den folgenden Jahren sowie in Auseinandersetzung mit der Theologie Hugos von SaintVictor ist mir dieser innige Zusammenhang klar geworden: Die Kirche steht offensichtlich unter der Autorität des Wortes der Heiligen Schrift, und darauf zu hören ist mit dem Apostel Paulus (vgl. Röm 10,17) gleichsam ihre raison d’être. Zugleich jedoch besorgt die Kirche mittels der formalen wie der materialen Kanonbildung eben die Heilige Schrift13, sodass diese ohne jene gar nicht existierte. Die innige geschichtliche wie theologische Verbindung von Schriftkanon und Schriftkorpus - darunter werden hier diejenigen Schriften verstanden, die gerade kraft des Kanonisierungsprozesses im Kontext der altchristlichen Literatur ausgesondert worden sind und fortan als ‚Heilige Schrift‘ bezeichnet werden - mit der Kirche zeigt sich exakt in der Tatsache, dass die Kirche - als Ganze wie in ihren einzelnen Gemeinschaften, ihre Versammlungen wie die einzelnen Gläubigen - kontinuierlich Sorge trägt für die textliche und buchhafte Erhaltung, Erneuerung und Weitergabe des Heilswortes, damit sie ihrem Verkündigungsauftrag angemessen folgen kann. Das Heilswort, das die Bibel ist und darbietet, gilt seit patristischer Zeit als Urbild von Bibliothek. Diese Art Bücherreservoir und Bücherhort birgt, besonders für die Viktoriner Hugo und Andreas, in literarischer Vielfalt und unter verschiedenen Formen das eine, authentische Gotteswort.14 2.3 Meine Arbeiten über Andreas von Saint-Victor († 1175) haben mich auf neue Weise zu seinem Vorgänger und Lehrer Hugo († 1141) finden lassen, der mir aus dem Theologiestudium zwar durchaus schon ein Begriff war. Aber erst die Kenntnisnahme von und die Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Bibelauslegung in Form von Editionen haben mich dazu geführt, die Bedeutung der Bibelexegese im Werk Hugos und aller anderen Autoren der Abtei Saint-Victor zu erkennen und mir critta della Bibbia, prefazione di C. M. Card. Martini, introduzione di A. Pratesi (Littera antiqua 13), Città del Vaticano 2005. 13 Hugo de Sancto Victore, Didascalicon de studio legendi - Studienbuch, IV, 1, übers. u. eingel. v. T. Offergeld (FC 27), Freiburg i. Br. 1997, 270-273: „Scripturae diuinae sunt quas, a catholicae fidei cultoribus editas auctoritas uniuersalis ecclesiae ad eiusdem fidei corroborationem in numero diuinorum librorum computandas recepit et legendas retinuit. – Heilige Schriften sind diejenigen, welche von Verehrern des katholischen Glaubens verfasst wurden und welche die Autorität der allgemeinen Kirche, um eben diesen Glauben zu stärken, zur Einreihung unter die heiligen Bücher aufgenommen und als lesenswert beibehalten hat.“ 14 Vgl. Hugo de Sancto Victore, De scripturis et scriptoribus sacris, 8, PL 175, 17A: „Bibliothecam ueteris testamenti esdra scriba post incensam legem a chaldeis dum judei ingressi sunt in ierusalem diuino afflatus spiritu reparauit cunctaque legis ac prophetarum uolumina que fuerant a gentibus corrupta correxit. totumque Vetus Testamentum in viginti duos libros constituit. ut tot libri essent in lege quot habebantur et littere“; weiterhin noch ebd., 12, 19. Zur Begriffsgeschichte von „bibliotheca“ in der schillernden Be-deutung der biblischen Büchersammlung vgl. mit weiterführenden Belegen R. Berndt, Die Werke Hugos von Sankt Viktor († 1141). Ist die Erstausgabe durch Abt Gilduin († 1155) ein editorischer Glücksfall?, in: B. Merta/A. Sommerlechner/H. Weigl (Hg.), Vom Nutzen des Edierens. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Wien, 3.-5. Juni 2004, Wien/München 2005, 91-99.
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der Folgen für die mittelalterliche Ekklesiologie und für meine eigene Wahrnehmung von Kirche bewusst zu werden. Insbesondere drei Aspekte der Exegesegeschichte haben sich mir nach und nach in ihrer Tragweite erschlossen: 2.3.1 Es steht heute zweifelsfrei fest, dass die Viktoriner Hugo und Andreas, aber auch Richard, in ihren Schriftkommentaren in erheblichem Umfang jüdische Interpretationen rezipiert haben, die ihnen anderweitig aus der Geschichte der lateinischen Bibelauslegung nicht bekannt gewesen sein konnten. Bis heute sind die Gesprächspartner dieser Viktoriner, die sie wahrscheinlich im jüdischen Viertel von Paris getroffen haben, nicht identifizierbar. Wir können lediglich indirekt, auf dem Wege der Quellenuntersuchung der Kommentare Hugos, Andreas’ und Richards zu einzelnen Büchern der Bibel, rückschließen auf die möglichen jüdischen Gewährsleute oder deren exegetischen Kontext. In Ermangelung profunder hebräischer Sprachkenntnisse seitens der Kanoniker von Saint-Victor kann man davon ausgehen, dass der Transport dieser jüdischen Auslegungen im 12. Jahrhundert auf dem Weg mündlicher Kommunikation zwischen den Gelehrten in altfranzösischer Sprache stattgefunden hat.15 Anschließend haben sie Eingang gefunden in die schriftlichen Werke der Viktoriner. Will man darüber hinaus die schon erwähnte Kanonlehre Hugos von Saint-Victor angemessen bewerten, so muss man dazu das Verständnis und die Praxis der Literalauslegung des Alten Testamentes des Andreas mitberücksichtigen sowie Richards polemische Reaktion darauf. Aufs Ganze der Kirchengeschichte betrachtet, verkörpern die Augustinerchorherren der Pariser Abtei Saint-Victor im 12. und 13. Jahrhundert eine besonders markante exegetisch-theologische Position; aber sie sind kein Einzelfall, was ihre Wertschätzung und Anerkennung der Juden als der bevorzugten Gesprächspartner hinsichtlich der Auslegung der jüdischen Heiligen Schrift, des Alten Testaments der Christen, angeht. Folglich stellt sich, zumal im Licht der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils in „Nostra aetate“ (besonders in Nr. 4), der vom Glauben getragenen wissenschaftlichen Reflexion und Darbietung der Kirchengeschichte meines Erachtens eine epochale Aufgabe: In Aufnahme dieser konziliaren Positionierung der katholischen Kirche erscheint die Beziehung zwischen Juden und Christen in allen ihren geschichtlichen Verästelungen und Verwerfungen, mit allen ihren dunklen Facetten nicht nur als Ort schicksalsträchtigen, tragischen Angekettetseins16, sondern als Raum des Heiles, in dem das Gotteswort allein das Sagen hat. Solange die Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Christen nicht zum Paradigma der gesamten 15 Vgl. zum neuesten Forschungsstand den Band: Transforming Relations. Essays on Jews and Christians throughout History in Honor of Michael A. Signer. Foreword by John Van Engen, ed. by F. T. Harkins, Notre Dame 2010. 16 Für repräsentativ und weiterführend halte ich den großen Wurf von A. Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2007 (5. aktual. Aufl. 2009), vgl. insbesondere den 5. Teil: „Christen und Juden“.
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wissenschaftlichen Betrachtung der Kirchengeschichte geworden ist, solange dürfte das Zweite Vatikanische Konzil nicht wirklich als rezipiert gelten.17 2.3.2 Wir kennen die Geschichte der Schriftauslegung seit der Alten Kirche bis in die Neuzeit hinein inzwischen so gut, dass wir wissen: Seit den Kirchenvätern meinte der Begriff „Heilige Schrift“ („sacra scriptura“, „sacrum eloquium“ oder „divinum eloquium“, besonders aber „sacra pagina“, u.a.m.) bis etwa zum 16. Jahrhundert das Alte Testament. Im 20. Jahrhundert war es Henri de Lubac, der in seiner meisterhaften Geschichte der Lehre und der Praxis vom dreifachen bzw. vierfachen Schriftsinn in der Kirche gezeigt hat18, dass sich die christliche Lehrentwicklung auf das Alte Testament als das schriftliche Zeugnis des Glaubens an Gottes Heilsgeschichte bezieht und diese Heilige Schrift auf vielfältige Weise rezipiert.19 Nicht zuletzt die enorme Zahl an christlichen Kommentaren zu Büchern des Alten Testaments belegt diesen Eindruck.20 Dabei hat die Theologie insgesamt zuvor ihr Maß an Gottes inkarniertem Wort genommen, in dessen Verkündigung sie die alttestamentliche Heilsgeschichte integriert und dieses Wort in Auseinandersetzung mit der Philosophie je zeitgenössisch aktualisiert.21 Die Kirchengeschichte, insofern sie auch die Geschichte der Theologie erforscht und darstellt, steht angesichts dieses Befundes vor der Herausforderung, sich einem weiteren Paradigmenwechsel zu unterziehen. Denn es gibt überzeugende Gründe dafür, die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die göttliche Offenbarung („Dei verbum“) als Auftrag an die wissenschaftliche Kirchengeschichte dahingehend zu verstehen, sie möge das Theologumenon vom universalen Heilswillen Gottes („Dei verbum“, Nr. 6) nicht auf der Ebene theologischer Grundsätze belassen. Vielmehr möge die Kirchengeschichte, in ihrer Qualität als theologische Disziplin22, ihr gesamtes wissenschaftliches Instrumentarium darauf verwenden, zu verstehen und aufzuzeigen („Dei verbum“, Nr. 7-10), wie die zutiefst menschliche Geschichte des Glaubens und der Kirche in Wirklichkeit als die Geschichte von Gottes Heil in der Welt angenommen werden kann (vgl. dazu das Prinzip der „analo17 Vgl. R. Berndt, Die Beziehungen zwischen Juden und Christen im Mittelalter. Theologische Deutungen einiger Aspekte, ThPh 68 (1993) 530-552. Vgl. neuerdings den in Anm. 15 genannten Band. 18 H. de Lubac, Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture, 4 Bde. (ThH 41, 42, 59), Paris 19591963. 19 Vorbildhaft erscheint mir diese Perspektive in dem von M. Sæbø in Kooperation mit C. Brekelmans und M. Haran hg. Sammelwerk: Hebrew Bible/Old Testament - The History of Its Interpretation aufgearbeitet worden zu sein. Bd. I: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300), 2 Tle., Göttingen 1996-2000; Bd. II: From the Renaissance to the Enlightenment, Göttingen 2008; Bd. III in Vorbereitung. 20 Der Verweis auf F. Stegmüller, Repertorium biblicum medii aevi, 11 Bde., Madrid 1950-1980 (Bde. 811 adjuvante N. Reinhardt) ist hier unausweichlich, da das Werk für sich spricht. 21 Vgl. R. Berndt, Exegese des Alten Testaments. Die Grundstruktur christlicher Theologie bei den Viktorinern, in: ders. (Hg.), Bibel und Exegese in der Abtei Saint-Victor zu Paris. Form und Funktion eines Grundtextes im europäischen Rahmen (Corpus Victorinum. Instrumenta 3), Münster 2009, 423-441. 22 Vgl. K. Schatz, Ist Kirchengeschichte Theologie?, ThPh 55 (1980) 481-513.
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gia fidei“; „Dei Verbum“, Nr. 12).23 2.3.3 Im Laufe meiner Tätigkeiten in Frankfurt musste ich mich mehrmals mit Themen oder Persönlichkeiten befassen, welche - in wissenschaftlicher Betrachtungsweise und Sprache - eine Problematik von Normierungsansprüchen artikulierten. Gleich in meinen ersten Jahren an der Hochschule Sankt Georgen feierte die Stadt Frankfurt mit der Erinnerung an das Frankfurter Konzil von 794 das 1200jährige Jubiläum ihrer Ersterwähnung24, wenn nicht sogar ihrer Gründung, wenngleich dank der Erkenntnisse infolge der Grabungen unter dem Frankfurter Dom die Stadtgründung vordatiert werden konnte. Jubiläen zweier kirchen- und kulturgeschichtlich bedeutender Gestalten regulierten Lebens (des Jesuiten und Kirchenlehrers Petrus Canisius 199725 und der Benediktinerin Hildegard von Bingen 199826, deren Erhebung zur Kirchenlehrerin inzwischen schon angekündigt worden ist) schlossen sich an. Gleichzeitig entdeckte ich in der Person Katharina Kaspers (18201898), der Gründerin der Ordensgemeinschaft der „Armen Dienstmägde Jesu Christi“ aus Dernbach/Westerwald, ein typisch neuzeitliches Bedürfnis sowie die Konzeption und Realisationsweisen von religiosem Leben. Vor diesem Hintergrund ist mir zusätzlich zu meiner fortdauernden Arbeit über die Viktoriner und andere Kleriker, die ihre Lebensform nach der Regel des hl. Augustinus ausrichten, zunehmend deutlicher ins Bewusstsein getreten, dass weite Bereiche kirchlichen Lebens Normen unterliegen oder mit Normierungsansprüchen konfrontiert werden.27 Jeder Mediävist weiß, dass die Kirche ihre heutige Gestalt weitgehend ihrer geistlich-theologischen Erneuerung und ihrer rechtlichen Formierung ab dem 11. Jahrhundert verdankt.28 Auch das vielgestaltige Ordensleben erlebte seine Blüte ab dem 12. Jahrhundert. Ob der damals zu beobachtende Normierungsbedarf und Normierungsschub eher von der sich entwickelnden scholastisch-universitären Theologie ausging oder eher vom Aufschwung des Kirchenrechts beflügelt worden ist, halte ich für eine akademische Frage. Unbestritten scheint mir jedoch zu sein, dass die chris23 Vgl. neuerdings Th. Marschler, Analogia fidei. Anmerkungen zu einem Grundprinzip theologischer Schrifthermeneutik, ThPh 87 (2012) 208-236. Den lateinischen Begriff (ebd. 220) bildet allerdings im 9. Jahrhundert schon Johannes Scotus Eriugena in seiner Übersetzung der Quaestiones ad Thalassium des Maximus Confessor. 24 Vgl. R. Berndt (Hg.), Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, 2 Bde. (QMRKG 80), Mainz 1997. 25 Vgl. R. Berndt (Hg.), Petrus Canisius SJ (1521-1597). Humanist und Europäer (Erudiri Sapientia 1), Berlin 2000. 26 Vgl. R. Berndt (Hg.), „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen (1098-1179) (Erudiri Sapientia 2), Berlin 2001. 27 Siehe dazu das Frankfurter DFG-Graduiertenkolleg 1728 „Theologie als Wissenschaft. Formierungsprozesse der Reflexivität von Glaubenstraditionen in historischer und systematischer Analyse“, an dem ich seitens meiner Hochschule als Antragsteller mit beteiligt bin. 28 Vgl. R. Berndt, Die europäische Gesellschaft zwischen dem ersten und dem zweiten Jahrtausend, in: M. Sodi/R. Salvarani (Hg.), La penitenza tra I e II millennio. Per una comprensione delle origini della Penitenzieria Apostolica (Monumenta Studia Instrumenta Liturgica 65), Città del Vaticano 2012, 25-44.
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tentümlichen Gesellschaften des hohen und späten Mittelalters, aber auch verschiedene Staaten Europas in der Neuzeit, manche Phasen religiöser Erneuerung gekannt haben.29 Eine weitere Aufgabe der Wissenschaft von der Kirchengeschichte besteht darin zu prüfen, ob nicht das menschliche Bedürfnis oder gar die empfundene Notwendigkeit von Regel und Norm eine Gestalt von Verweltlichung darstellt, der die Kirche und die Christenheit entgegenzuwirken hätten. Zwar zeigen das Ringen um Schriftkanon und Schriftkorpus unbezweifelbar, dass Gottes Heilsgeschichte eine normative Form hat und braucht, um als solche erkennbar zu bleiben. Doch die Wiedergewinnung des Glaubens, der Gottesgeschenk ist, ist prioritäres Ziel jeder religiösen Bewegung, die ihr Maß an der Heiligen Schrift nimmt. Die zu jeder Zeit mögliche Begegnung eines Menschen mit dem in Jesus Christus inkarnierten Logos unterliegt ihrer Geschichtlichkeit wegen unausweichlich einem Normierungsprozess. Sollte nicht die Kirchengeschichte mit dazu beitragen, die persönliche Begegnung des Einzelnen mit Christus, die im Gottesglauben verortet ist, weltlichen, d. h. offenbarungsfremden Normen und Normierungsbestrebungen zu entziehen helfen?30 Die wissenschaftliche Hagiographie erfreut sich seit einer Reihe von Jahren wachsenden internationalen Interesses seitens der Geschichtswissenschaft. Die Kirchengeschichte könnte mit ihren Mitteln dazu beitragen, die Heiligen nicht allein als authentisch anerkannte Glaubenszeugen zu würdigen, sondern darüber hinaus die mit jeder Heiligsprechung einhergehenden Fragen nach Norm und Normativität zu reflektieren.31 Wer sonst außer dem Beispiel der in ihrer Lebensführung von der Kirche als authentisch beglaubigten Christen sollte denn für die Wahrheit der Heiligen Schrift und für die Gestaltungskraft des Glaubens bürgen?32
3. Die Bibel – lebendiges Buch der Kirche Über die fundamentaltheologisch-ekklesiologisch motivierten Aufgaben der Kirchengeschichte auf dem Gebiet der Bibelrezeptionen hinaus halte ich es mehr als je zuvor für eine der hervorragenden Aufgaben der kirchengeschichtlichen Zunft, die Geschichte des Evangeliums, insofern es Text geworden ist, zu reflektieren und zu erforschen. Dabei besteht die grundlegende hermeneutisch-theologische Schwierigkeit darin, die Geschichte der Kirche zwar sicherlich als die Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift zu verstehen.33 Dabei muss aber das wechselseitige Bedin29 Siehe beispielsweise B. Hamm/Th. Lentes (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis (SuRNR 15), Tübingen 2001. 30 Vgl. die Ansprache Papst Benedikts XVI. am 25. September 2011 im Freiburger Konzerthaus, in der er einlud, über eine mögliche Entweltlichung der Kirche nachzudenken. 31 Als jüngstes Beispiel sei nur auf die am 10. Mai 2012 erfolgte Heiligsprechung Hildegards von Bingen verwiesen. 32 Siehe R. Berndt/M. Zátonyi, Glaubensheil. Der Mensch in der Mitte der Schöpfung gemäß der Lehre Hildegards von Bingen (Erudiri Sapientia), Münster (in Vorbereitung). 33 G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (1947), in: ders., Wort
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gungsverhältnis von Schrift und Kirche angemessen, d. h. gemäß den Maßgaben historischer Wissenschaft, berücksichtigt werden. Ansonsten würde dieser Zugriff sein Ziel aufgrund schwächelnder Methodik, wenn er nämlich statt einer historisch-theologischen nur noch eine dogmatische Methode zur Anwendung bringt, verfehlen. Die geschichtliche Realität des Evangeliums ist wohl der Text in seinen vielgestaltigen Überlieferungen; aber dieser wird erst dadurch zu Heiliger Schrift, dass die Kirche ihn als Wort des auferstandenen Herrn annimmt und begreift. Die Kirche ist die „structura“, die sich das eine Wort Gottes des Alten und des Neuen Testamentes errichtet hat, um geschichtliche Wirklichkeit werden zu können. Außerhalb und ohne diesen Bau hätte dieses Gotteswort keinen Bestand, es wäre im Laufe der Zeiten nicht identifizierbar und nicht greifbar.34 Diesen Sachverhalt darzulegen und zu entfalten, ist meines Erachtens das vornehmste Zukunftsprojekt der Wissenschaft von der Kirchengeschichte. Denn die Bibel mit ihren Rezeptionen bildet das Rückgrat der Kirche auf dem Weg durch ihre Geschichte. Die Geschichte dieser Rezeptionsformen und -weisen gilt es deshalb zu erforschen und auszuarbeiten unter allen methodisch sinnvollen Fragestellungen, damit die geschichtliche Weitergabe der Bibel als Buch und ihre Rezeption als Heilige Schrift in ihrem wechselseitigen Bezug gewusst und einsehbar wird. Im Folgenden möchte ich diese Perspektive mittels eines historisch-theologischen Plädoyers für eine Betrachtung des Christentums als Religion des Wortes verdeutlichen (3.1) und anhand einer Forschungsaufgabe, zur Rezeption der Kirchenväter (3.2), konkretisieren. 3.1 Mainz gilt als die Wiege jenes Paradigmenwechsels in der abendländischen Kultur, der sich im Laufe der Geschichte des Buches bereits als der zweite erweist, wie noch ersichtlich werden wird: Das ist der Übergang vom handschriftlichen zum gedruckten Buch. In der Mitte des 15. Jahrhunderts hat Johannes Gutenberg hier seine erste Druckerpresse entwickelt. Das erste Buch, das er mit der neuen Technik produzierte, war eine Bibel. Wir kennen sie heute unter der wissenschaftlich-nüchternen Bezeichnung als die 42-zeilige Gutenbergbibel von 1455/56, gedruckt in 180 Exemplaren.35 Wir alle wissen mit nahezu größter Selbstverständlichkeit, dass es nicht bei diesem einen Versuch geblieben ist. Die von Gutenberg perfektionierte Technik bestand ja im Wesentlichen darin: Bücher werden nicht mehr ausschließlich Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen (KiKonf 7), Göttingen 1964 (21966), 9-27, und die von ihm ausgelöste Debatte bilden den weiteren Hintergrund des hier entwickelten Projekts. 34 Siehe dazu R. M. W. Stammberger/C. Sticher/A. Warnke (Hg.), „Das Haus Gottes, das seid ihr selbst“. Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe (Erudiri Sapientia 6), Berlin 2007, darin insbesondere die Einleitung der Herausgeber, 11-29, sowie R. M. W. Stammberger, Ursakrament Kirche - Die Deutung der Kirchweihe durch Theologen des Hochmittelalter, 71-84, und R. Berndt, Die „structura Ecclesiae“ im Widerschein der Heiligen Schrift. Streiflicht über das ekklesiale Denken des Mittelalters, 33-70, und ders., Die europäische Gesellschaft (wie Anm. 28). 35 Vgl. G. Franz, Art. Bibel mit 42 Zeilen (Gutenbergbibel/B 42), LGB2 1 (1987) 347-349; F. Geldner, Art. Bibeldruck, LMA 2 (1983) 82-83; S. Corsten, Art. Gutenberg, Johannes, LGB2 3 (1991) 308-312.
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durch handschriftliches Kopieren vervielfältigt, sondern sie können maschinell in beliebiger Stückzahl hergestellt werden. Seitdem ist die Bibel das meistgedruckte Buch der Weltliteratur.36 Im Verlauf der aufkommenden konfessionellen Streitigkeiten in Deutschland spielte die neue Drucktechnik eine entscheidende Rolle, sowohl bei der Verbreitung der neuen Ideen als auch bei der Polemik gegen sie seitens der Verfechter der bisherigen kirchlichen und staatlichen Ordnung. Die kirchliche Ordnung hielt hinsichtlich der Bibel vor allem fest, dass diese einen bestimmten Inhalt und Umfang hatte, der sich im Verlauf der 1500 Jahre Christenheit als Gemeingut herauskristallisiert hatte. Eine der zentralen reformatorischen Ideen Martin Luthers hob nun gerade darauf ab, auf den genannten beiden Feldern die Bibel zu verändern.37 Im Gegenzug entschied sich die katholische Kirche auf dem Trienter Konzil zu definieren, welche Schriften denn exakt ihre Bibel enthalte.38 Seit dem 16. Jahrhundert trennt die Frage des Kanons, also des materialen Umfangs der Heiligen Schrift, die beiden christlichen Konfessionen. Anhand der unterschiedlichen Bibeln - evangelische gegen katholische - wird der Dissens greifbar. Die Bibel als gedrucktes Buch steht bis heute eigentlich im Mittelpunkt der konfessionellen Uneinigkeit bzw. des ökumenischen Dialogs, da sie sinnenfällig-material der Schnittpunkt von Schriftauslegung und Kirchenbild ist. Doch über die innerchristlichen Querelen hinaus scheiden sich an der gedruckten Bibel auch die Geister im interreligiösen Gespräch mit Juden und Muslimen. Allen drei Religionen gemeinsam ist der Bezug jeweils auf einen normativen Basistext, diese drei Texte - die Hebräische Bibel, die Septuaginta zusammen mit dem griechischen Neuen Testament und der Koran - weisen untereinander jedoch partielle Berührungspunkte auf. Nicht nur, dass sie alle drei auch heutzutage mit größter Sorgfalt gedruckt werden, vielmehr rufen sie in ihren jeweiligen Religionsgemeinschaften immer neu Übersetzungen und Kommentare hervor. Sie fordern geradezu zur Auslegung auf. Die skizzierten Berührungspunkte zwischen den normativen Texten der drei so genannten Buchreligionen haben sich nicht erst infolge des zweiten Paradigmenwechsels ergeben. Denn sie alle sind ja schon sehr viel älter. Die Entstehung und Herausbildung des Judentums wie auch die Entstehung des Christentums liegen zeitlich noch vor dem ersten kulturgeschichtlichen Paradigmenwechsel des Abendlandes, während die Lebenszeit Mohammeds und der von ihm initiierten Religion schon in die Zeit des handschriftlichen Buches fällt. 36 Siehe neuerdings G. Powitz, Der Text der Gutenberg-Bibel im Spiegel seiner zeitgenössischen Rezeption, Gutenberg-Jahrbuch 84 (2009) 29-70. 37 Vgl. H. J. Sieben, Die Kontroverse zwischen Bossuet und Leibniz über den alttestamentlichen Kanon des Konzils von Trient, JBTh 3 (1988) 201-214, hier: 202-203; L. M. McDonald/J. A. Sanders (Hg.), The Canon Debate. On the Origins and Formation of the Bible, Peabody, Mass., 22004, 204-205. Vgl. die neueste und konzise Darstellung von Luthers Exegese: S. Raeder, The Exegetical and Hermeneutical Work of Martin Luther (wie Anm. 19, Bd. II, 363-406), die leider ohne jedwede Erwähnung der Kanonfrage auskommen kann. 38 Siehe o. 2.2.
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Die Historiker sind sich bis heute nicht sicher, wann exakt im Mittelmeerraum die Verdrängung der aus Papyrus hergestellten Schriftrollen zugunsten des aus Papier oder Pergament bestehenden Kodex stattfand.39 Während der Umfang einer Schriftrolle variierte aufgrund von mehr oder weniger aneinandergeklebten Papyrusstücken, deren Format im Übrigen auch keine nennenswerten Spielräume zuließ, konnte die Herstellung der neuen Kodizes in beiden Richtungen variieren: Sowohl die Zahl der miteinander verbundenen Pergament-Lagen als auch das Format des Pergaments konnten ohne große technische Schwierigkeiten verändert und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werden. Eine handwerkliche Herausforderung ergab sich bloß für die Buchbinder, die die Binde-Technik weiterentwickeln und die Haltbarkeit von Einbänden großer und sehr großer Kodizes stärken mussten. Dieser um das 2. bis 3., vielleicht auch im 4. christlichen Jahrhundert (neutestamentliche Papiercodices in Griechisch)40 anzusetzende Verdrängungsprozess führte aus dem Mittelmeerraum hinaus ins nördliche Europa jenseits der Pyrenäen und der Alpen hinein. Im Zuge der Christianisierung Europas, die Papst Gregor der Große nach dem Ende der Völkerwanderung (Ende 6. Jh.) mit voller Kraft anging, entwickelte sich die religiöse Kultur des Abendlandes folglich im Gleichschritt mit der Lesefähigkeit der Menschen. Die zunächst noch griechischen, später fast ausschließlich lateinischen Bibelhandschriften Europas transportierten den heiligen Text in materiell stabiler Form, nämlich als Pergament-Kodex, in jede lokale und überregionale Gemeinschaft. Im Verlauf der früh- und hochmittelalterlichen Wirtschaftsentwicklung Europas gelangte somit eine Bibelhandschrift, erst aus Pergament, dann aus Papier, in Reichweite eines jeden freien Bürgers und Christen des Abendlandes. Im Verhältnis zur antiken Kultur der Schriftrollen stellt die Erfindung des Pergament-Kodex den ersten abendländischen Paradigmenwechsel dar, und zwar unter verschiedener Rücksicht: Zum einen waren Pergament-Handschriften im Klima nördlich des Mittelmeers haltbarer, die Schrift war beständiger; zum anderen stellte das Objekt Kodex von Beginn an wirtschaftlich einen Wertzuwachs dar gegenüber einer Schriftrolle. Schließlich zog die Verbreitung des Kodex eine Änderung im Leseverhalten nach sich: Die Handschrift als Buch ermöglicht dem Leser, einen Text diagonal zu lesen. Verschiedene Passagen eines Werkes, das sich über eine bestimmte Anzahl von Blättern erstreckt, sind in der Schriftrolle nur nacheinander einsehbar. Im Kodex hingegen können sie nebeneinander angesteuert werden. Die Schriftrolle erlaubt nur die Ungleichzeitigkeit des Textes und seiner Teile, während der Kodex Gleichzeitigkeit ermöglicht.41 Nur spekulativ können wir uns auszumalen versuchen, dass die Rezeption der Heiligen Schrift durch die abendländische Christenheit völlig anders verlaufen wäre, 39 Vgl. Du copiste au collectionneur. Mélanges d’histoire des textes et des bibliothèques en l’honneur d’André Vernet. Textes réunis par D. Nebbiai-Dalla Guarda (Bibliologia 18), Turnhout 1998. 40 Vgl. E. Crisci, I più antichi manoscritti greci della Bibbia. Fattori materiali, bibliologici, grafici, in: Cherubini (Hg.), Forme e modelli (wie Anm. 12), 1-31. 41 Siehe R. M. W. Stammberger, Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften, Graz 2003, Einleitung, 9-29.
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wenn es bei der Rolle geblieben wäre. Der schon erwähnte zweite kulturelle Paradigmenwechsel des Abendlandes im Werk Johannes Gutenbergs, seiner Zeitgenossen und Nachfahren, baut auf dem Prinzip des Buches auf, nur dessen Produktionstechnik änderte sich eben im 15. Jahrhundert. Ohne präzise Zahlenverhältnisse nennen zu können, steht zu vermuten, dass die lateinischen Bibelhandschriften - unter der weltweit vielleicht eine Million erhaltener lateinischer Handschriften - „in kaum überschaubarer Anzahl überliefert“ werden42 und somit den größten Anteil ausmachen. Allein die buchhafte Vielfalt der mittelalterlichen Bibelhandschriften belegt, dass die Bibel immer schon das meist verbreitete und wohl auch meist gelesene und rezipierte Buch des Abendlandes war. Am Bibeltext und seiner buchhaften Präsentation haben sich die an der Buchherstellung beteiligten Handwerker, die artifices, immer schon abgearbeitet. Das Spektrum der Formen reicht von der hoch- und spätmittelalterlichen Taschenausgabe, die schmucklos einen Lesetext zum privaten Gebrauch des Gelehrten oder des Gläubigen enthielt, bis hin zu prachtvollen Riesenbibeln, die zur Ausstellung in öffentlichen Räumen bestimmt waren oder der Ansehenssteigerung des Auftraggebers dienen sollten. Schnell entwickelten sich in Bezug auf die Bibel, in der Konsequenz dann für ähnlich wertvoll erachtete Texte ebenso, nicht nur ausgefeilte Schreibtechniken, sondern auch Illustrationstechniken. Um nur einige zu nennen, verweise ich auf das irische „Book of Kells“ (9. Jh.), auf die karolingischen Prachthandschriften, z. B. aus der Schule von der Reichenau, die Handschriften, die im Auftrag Kaiser Heinrichs II. um die erste Jahrtausendwende entstanden sind. Besonders aber die ältesten lateinischen Pergament-Bibeln aus dem Pontifikat Gregors des Großen - das sog. Augustinus-Evangeliar und der Ashburnham-Pentateuch (beide Ende 6. Jh.) - stammen aus Oberitalien. In Italien hatte sich offensichtlich, den Verwerfungen der Völkerwanderung zum Trotz, die auf die antike Technik und Kunstfertigkeit zurückgehende Fähigkeit erhalten, solche Wunderwerke der Bibelillustration herzustellen. Da die nordeuropäischen Völker, die ab dem 7. Jahrhundert neu das Christentum annahmen, zunächst die Sprache der Kirche, das Lateinische, erlernen mussten, blieb es nicht aus, dass der Text der lateinischen Bibelhandschriften schon zu Zeiten Karls des Großen sehr fehlerhaft war. Parallel zur Geschichte der Bibelillustration im Mittelalter gab es auch eine Geschichte des lateinischen Bibeltextes, im späteren Mittelalter darüber hinaus ebenso des modernsprachlichen Bibeltextes beispielsweise in Italienisch, Französisch und Deutsch. Textkritische Anstrengungen kennen wir aus der Karolingerzeit, aus dem Kreis um Alkuin von York und Theodulf von Orléans, dann aus dem 12. Jahrhundert aus den Kreisen der kirchlichen Reformorden, den Zisterziensern (Stephan Harding, Nicolaus Maniacoria) und den Augustinerchorherren von Saint-Victor (Hugo, Andreas). Schließlich fand eine maßgebliche textkritische Arbeit im 13. Jahrhundert an der Pariser Universität unter den Gelehrten aus dem Dominikanerorden statt, deren Auswirkungen bis zum Trienter Konzil 42
Vgl. F. Heinzer, Art. Bibelhandschriften, LGB2 1 (1987) 353-354, hier: 354.
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maßgeblich geblieben sind. Die „Bildsprache“ mittelalterlicher Bibelhandschriften umfaßt somit mehrere Elemente: - Das „Vokabular dieser Bildsprache“ ist zunächst einmal das Latein des Hieronymus, der die Vulgata unumgänglich geprägt hat. Dazu gesellt sich konstitutiv aber die Schrift als solche, das Alphabet, die je nach Zeit verschiedenen Typen der Schrift. Auch die zahllosen und meist namenlosen Schreiber des Textes, ihre Hingabe an den Text und an das Schreiben, ihre Interventionen im Text und die zugrunde liegenden Überlegungen, bestimmen das Bild des Textes in den Handschriften. Gleichrangig neben den Schreibern tragen die Illuminatoren ihren Teil zum Vokabular der Bildsprache bei. Oftmals haben die Schreiber einer Handschrift schon beim Schreiben den Platz ausgespart, der in einem separaten Arbeitsgang vom zuständigen Handwerker, dem Maler, mit einer Initiale versehen werden sollte. Scriptor/scribere und pictor/pingere bilden die Grundaktivitäten handschriftlicher Bildsprache.43 - Die „Grammatik dieser Bildsprache“ bilden die handwerklichen Fähigkeiten, die sich im Lauf der Jahrhunderte selbstverständlich enorm entwickelt und verfeinert haben. Ein Kodex, so wie wir ihn heute in unseren Bibliotheken zur Hand nehmen können, ist Produkt des Zusammenwirkens einer Reihe von artifices: Jäger, Gerber, Schreiber, Tintenhersteller, Maler, Buchbinder, Händler etc. - Die „Syntax derselben Bildsprache“ beruht auf dem Zusammenspiel und der rechten Zuordnung aller Elemente im Verhältnis untereinander. Wenn wir in einer Ausstellung beispielsweise die künstlerisch und theologisch ausgefeilten Miniaturen einer spätmittelalterlichen „Bible moralisée“ bewundern44, die die Geschichte der Anfänge des Volkes Israel erzählen, ergibt sich die Schwierigkeit, die Struktur dieser Syntax zu erfassen. Welche Sprache „verstehen“ wir, wenn wir uns beispielsweise an der Faksimile-Ausgabe des Evangeliars Heinrichs des Löwen erfreuen? Was „sehen“ wir, wenn wir mit Hilfe der Bilder-Zyklen aus Reichenauer Handschriften unser Beten anregen lassen? Welche Semantik liegt der Bildsprache mittelalterlicher Bibelhandschriften zugrunde? Paradigmatisch sollte also die Buchgeschichte der Heiligen Schrift als die primäre Rezeptionsgestalt des Gotteswortes betrachtet45 und folglich von der Kirchengeschichte in ihre Arbeiten und Darstellungen konstitutiv einbezogen werden.46 Vgl. O. Weijers (Hg.), Vocabulaire du livre et de l’écriture au moyen âge. Actes de la table ronde Paris 24-26 septembre 1987 (CIVICIMA 2), Turnhout 1989. 44 Vgl. zuletzt R. Haussherr, Bible moralisée. Prachthandschriften des Hohen Mittelalters. Gesammelte Schriften, hg. von E. König/Ch. T. Seifert/G. Siebert, Petersberg 2009. 45 Vgl. A.-O. Poilpré, La visibilité de Dieu dans les Bibles carolingiennes, in: J.-P. Caillet/M.-P. Laffite (Hg.), Les manuscrits carolingiens. Actes du colloque de Paris, Bibliothèque Nationale de France, le 4 mai 2007 (Bibliologia 27), Turnhout 2009, 185-202. 46 Exemplarisch haben wir dieses Anliegen in meinem Institut anhand der erhaltenen 104 Bibelhandschriften aus der ehemaligen Bibliothek der Abtei Saint-Victor verwirklicht (vgl. M. M. Tischler, Die Bibel in Saint-Victor. Das Buch der Bücher als Gradmesser für wissenschaftliche, soziale und ordensgeschichtliche Umbrüche im europäischen Hoch- und Spätmittelalter, Habil. phil. TU Dresden 2008). Ziel dieses DFG-Vorhabens war es, diese Bibelhandschriften lege artis zu untersuchen und zu beschrei43
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3.2 Die mediävistischen Forschungsleistungen der vergangenen Jahrzehnte haben zu einem neuen Bewusstsein für die Rezeptionsleistungen mittelalterlicher Autoren geführt. Der paganen, d. h. der römischen und der griechischen Philosophie der Antike - letztere zunächst fast ausschließlich in lateinischer Übersetzung, ab dem 13. Jahrhundert dann auch in der Originalsprache - kommt seit den Zeiten der Alten Kirche zweifellos eine führende Rolle bei der Formierung und weiteren Ausformulierung des christlichen Bekenntnisses zu.47 Doch die eigentlichen Bezugspunkte und erstrangigen Gesprächspartner der Theologen im Mittelalter waren die Autoren des Christentums. Lateinische und griechische Kirchenschriftsteller, letztere wiederum zunächst nahezu ausschließlich in lateinischer Übersetzung, später dann auch in ihrem originalen Wortlaut, bieten den Fundus an Lehren, Denkformen, Sprachformen, die es zu rezipieren, d. h. zu diskutieren, zu verwerfen oder zu modellieren galt. Die grundlegende Arbeit auf diesem Gebiet der mittelalterlichen Rezeption der Kirchenväter stellt nach wie vor die von Irena Backus herausgegebene Sammelpublikation dar.48 In enzyklopädischen Werken hingegen hatte die Thematik vorher schon Beachtung gefunden. Namentlich die übergreifende italienische Literaturgeschichte des Mittelalters „Lo spazio letterario“ widmete ihr einen eigenen Abschnitt49, gefolgt von den entsprechenden Einträgen im „Dictionnaire encyclopédique du moyen âge“50 wie in der „Enzyklopädie des Mittelalters“, hier allerdings unter dem allgemeineren Blickwinkel der abendländischen Literaturgeschichte, ihrer Traditionen und Modelle.51 In der traditionellen Dogmengeschichte wird die patristische Grundierung der mittelalterlichen Theologie oftmals als Traditionsverhaftung bewertet.52 Nur zögernd ändert sich jetzt die Verständnisweise dahingehend, dass wir begreifen: Erst die klare Erfassung des Quellenbezuges der mittelalterlichen Autoren - von Individuen wie
ben: paläographisch, kodikologisch, bibliotheksgeschichtlich, inhaltlich. Daneben sind für einige Bibelbücher auf ausgewählten Textabschnitten Kollationen erstellt worden, um einen ersten Eindruck hinsichtlich der jeweiligen Textgeschichte zu gewinnen. Außerdem haben wir im Jahr 2004 eine Tagung zum Thema „Bibel und Exegese in der Abtei Saint-Victor zu Paris“ durchgeführt (s. Anm. 21). 47 Siehe zuletzt noch B. Munk Olsen, La réception de la littérature classique. Travaux philologiques, Paris 2009. 48 I. Backus (Hg.), The reception of the Church Fathers in the West. From the Carolingians to the Maurists, 2 Bde., Leiden 1997. 49 Siehe C. Moreschini, I Padri, Lo spazio letterario del Medioevo. 1. Il Medioevo latino, Bd 1/1, hg. v. G. Cavallo/C. Leonardi/E. Menestò, Roma 1992. 50 Siehe M. Vannier, Art. Pères de l’Église, Dictionnaire encyclopédique du moyen âge 2 (1997) 11941196. 51 T. Haye, Lateinische Literaturtraditionen und texttypologische Modelle, in: G. Melville/M. Staub (Hg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Bd. 2, Darmstadt 2008, 11-13. 52 Siehe beispielsweise generell J. Pelikan, The Christian Tradition. A History of the Development of Doctrine, Bd. 3: The Growth of Medieval Theology (600-1300), Chicago/London 1978; W.-D. Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1, Gütersloh 1995, 582; M. A. Schmidt, Die Zeit der Scholastik, in: C. Andresen (Hg.), Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität (HDThG 1), Göttingen 1982, 567.
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von Konzilien53 - lässt ihre je genuine intellektuelle Leistung hervortreten. Die Untersuchung der mittelalterlichen Rezeptionsweisen der Werke der altkirchlichen Schriftsteller, wie sie sich beispielsweise im Spiegel der Arbeiten der beiden amerikanischen Mediävisten Marcia Colish54 und Karlfried Froehlich55 zeigt, stellt in dieser Hinsicht eine notwendige Voraussetzung dafür dar, die eigenständige Leistung des Mittelalters zu begreifen.56 Auf dem Gebiet der Exegesegeschichte kommt es inzwischen gelegentlich zu Themenbänden57 wie auch zu Handbuchdarstellungen58, welche die kontinuierliche Auseinandersetzung mittelalterlicher und neuzeitlicher Bibelausleger mit den Autoren der Alten Kirche belegen. Seit einigen Jahren, als ich zusammen mit Kollegen der Frage nach der Entwicklung der mittelalterlichen Ekklesiologie nachging59, hat sich meine Blickweise auf die hier dargelegte Frage weiter präzisiert hin zur Unterscheidung zwischen Rezeptionsformen und Rezeptionsweisen in der Auseinandersetzung mittelalterlicher Autoren mit der altkirchlichen und der frühmittelalterlichen Literatur. Eine Rezeptionsform stellt beispielsweise ein exegetischer Kommentar eines mittelalterlichen Autors dar, während die Rezeptionsweise auf die Funktion des patristischen Arguments im Werk eines mittelalterlichen Autors abhebt, welche - über die Rezeptionsform hinaus - jeweils noch zu bestimmen ist. Es ist eine Frage der Rezeptionsweise, wie mittelalterliche Autoren beispielsweise augustinische Exegesen in ihren eigenen Auslegungen oder Schriften verwenden. Ganz analog verhält es sich mit philosophisch-theologischen Fragestellungen, welche das Mittelalter von den Kirchenvätern erbt. Das Anliegen einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen internationalen Forschung in dieser Frage und mit dieser doppelten Spezifizierung ließ sich mittels eines internationalen Kongresses in Paris im Juni 2008 realisieren.60 In der Zukunft sollte die Kirchengeschichte die - gegebene oder auch fehlende Innovationskraft des Christentums und der Kirche paradigmatisch am geschichtSiehe neuerdings A. Frenken, Theologischer Sachverstand in der Auseinandersetzung um aktuelle und grundsätzliche Fragen. Der Rückgriff der Konstanzer facultas theologica auf die Heilige Schrift, die Kirchenväter und die alten Konzilien, in: J. Grohe/J. Leal/V. Reale (Hg.), I Padri e le scuole teologiche nei concili, Città del Vaticano 2006, 365-383. 54 Siehe M. Colish, The Fathers and Beyond. Church Fathers between Ancient and Medieval Thought (CStS 896), London 2008. 55 Siehe K. Froehlich, Biblical Interpretation from the Church Fathers to the Reformation (CStS 951), London 2010. 56 Siehe exemplarisch, in Bezug auf die Ekklesiologie, M. Vannier, Les Pères et la naissance de l’ecclésiologie. Actes du Colloque de l’Université de Metz, 12-13 mars 2008 , Paris 2009. 57 Beispielsweise D. C. Steinmetz, Die Patristik in der Exegese des 16. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Forschungen 85), Wiesbaden 1999. 58 Siehe Anm. 18. 59 J. Arnold/R. Berndt/R. M. W. Stammberger unter Mitarbeit von Ch.. Feld (Hg.), Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit. Festgabe für Hermann Josef Sieben SJ zum 70. Geburtstag, Paderborn 2004. 60 R. Berndt/M. Fédou (Hg.), en collaboration avec N. Bériou/A. Oliva/A. Vauchez, Les réceptions des Pères de l’Église au moyen âge. Le devenir de la tradition ecclésiale (Archa Verbi. Subsidia), (in Vorbereitung). 53
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lichen Beispiel zu verstehen suchen dergestalt, dass die jeweilige Bezugnahme auf die Kirchenväter untersucht wird. Die Jünger Jesu haben sich überzeugen können, dass sie auf ihre lebenswichtige Frage: „Rabbi, wo wohnst du?“ (Joh 1,38) die lebensentscheidende Antwort erhalten haben: „Kommt und seht“ (Joh 1,39). Das Subjekt dieser Einladung ist identisch mit ihrem Objekt. Denn im Kontext ihres Lebens mit Jesus konnten sich die Jünger fortan überzeugen, dass es in der Tat nichts weiter zu sehen gibt als den, der Gott den Schöpfer kündet.61 Im Lebenskontext mit Jesus Christus verengt sich gemäß dem Zeugnis des Neuen Testamentes nicht etwa der Blick auf die Welt. Die vielfältige und vielgestaltige Schönheit der Schöpfung wird dort nicht ausgeblendet, dies wussten zumal die Autorinnen (namentlich Hildegard von Bingen und Gertrud von Helfta) und Autoren (besonders die Zisterzienser, aber auch Bonaventura und Thomas von Aquin u.a.m.) des Mittelalters. Im Gegenteil: Aus der Berufung „Kommt und seht“ entsteht der Schlüssel, der das Verständnis für alles, was ist, erschließt. In der Tat unterscheidet sich die Geschichte der Kirche in weiten Bereichen kaum von der Geschichte weltlicher Herrschaft und, allgemeiner, weltlicher Institutionen. Nun dienen die aufgeklärten Methoden und Fragestellungen der Geschichtswissenschaft dazu, sich auf jeden Gegenstand anwenden zu lassen. Da die Kirche und das Christentum sogar radikal weltliche Einrichtungen sind, gegründet und entstanden ausschließlich daraufhin, das der Welt Fremde - die göttliche Offenbarung - im Kleid der Zeitlichkeit sichtbar werden zu lassen, reflektiert die Wissenschaft von der Kirchengeschichte dieselbe Ambivalenz. Wer die Geschichte der Kirche studiert, folgt der Einladung, in den Geschicken und Wechselfällen der Welt das Geheimnis eben dieser Welt zu entdecken und zur Kenntnis zu bringen.62 Die Kirchengeschichte bietet sich zunächst also radikal als die Geschichte der Menschen und ihrer christlichen Institution dar; darüber hinaus öffnet sich eben diese Historiographie für die relecture als Glaubens- und zugleich als Verkündigungsgeschichte. Keine der beiden Betrachtungsweisen beschreibt je für sich genommen die Kirche vollständig, genauso wenig wie diese sich ohne Rekurs auf ihren Lektüreschlüssel aus Joh 1,39 selbst verstehen könnte.63 Der Universalgelehrte des 12. Jahrhunderts, Hugo von Saint-Victor, hat schon in seiner Ausdeutung der Arche Noah diese Doppelgesichtigkeit der Geschichte vorweggenommen und erklärt. Er erkennt ihren christologischen Grund gemäß dem Siehe die gelungene Wendung Richards von Saint-Victor im Beniamin minor, 13 (Richard de Saint Victor, Les douze Patriarches ou Beniamin minor. Texte critique et traduction par J. Châtillon (†)/M. DuchetSuchaut. Introduction, notes et index par J. Longère [SC 419], Paris 1997, 126): „Ubi amor, ibi oculus. Libenter aspicimus quem multum diligimus. - Wer liebt, der sieht. Nur zu gern blicken wir auf den, den wir so sehr lieben.“ 62 Für wegweisend halte ich immer noch die Werke von H. de Lubac, Méditation sur l’Église, Paris 1953, und Corpus mysticum. L’eucharistie et l’Église au moyen âge. Étude historique, Paris 1944. 63 Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Verbum Domini“ vom 30. September 2010 (VApS 187), Bonn 2010. 61
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Hymnus des Philipperbriefes (Phil 2,5-10): „Christus Jesus ist nämlich wahrer Gott und wahrer Mensch, als Mensch gibt er uns ein Beispiel, als Gott bietet er uns ein Heilmittel. Aus der Demut der angenommenen Schwachheit dämpft er unseren Hochmut und erleuchtet unsere Blindheit. Aus der Kraft der Hoheit weidet er unsere Seelen mit einer unsichtbaren Speise und beschützt unsere Leiber durch die Überschattung des Heiligen Geistes vor dem Feuer der Laster. Er macht sich uns zugleich zum Holz des Lebens und zum Buch des Lebens: Holz, weil er überschattet und weidet, Buch, weil er ermuntert und belehrt. … Niemand möge sich entschuldigen. Jeder Mensch findet das passende Heilmittel für seine Krankheit, wo man den Bösen einen Ort gibt, damit sie sich ändern, und den Guten, damit sie sich bessern.“64 Den Menschen stehen bei ihrem Besuch in Gottes Haus („kommt und seht“, Joh 1,39) alle Mittel zur Verfügung, um dort zu sich selbst finden zu können, aber jeder muss seine Wegzehrung selbst suchen und sich dann entscheiden. Der Lehrmeister der Pariser Abtei Saint-Victor spart schließlich nicht an Perspektiven für die Menschengeschichte, indem er ihre eschatologische Hoffnung formuliert: „Wiederum haben wir gesagt, dass durch die Höhe von dreißig Ellen die Heilige Schrift bezeichnet wird, und später haben wir bekräftigt, dass durch die dreißig Ellen hohe Säule Christus dargestellt wird. Dies ist kein Widerspruch, weil die ganze Heilige Schrift ein Buch ist. Und jenes eine Buch ist Christus, weil die ganze Heilige Schrift von Christus spricht und die ganze Heilige Schrift in Christus erfüllt wird. Während wir die Heilige Schrift lesen, suchen wir, die wir seine Taten und Worte ebenso wie auch seine Anweisungen kennen, das zu tun, was er befiehlt, damit wir zu empfangen verdienen, was er verspricht. Und indem wir so wachsen in der Kenntnis der Wahrheit und im Verdienst der Kraft, mögen wir uns geistlich ausstrecken hin zur Gleichförmigkeit mit ihm und im Maß des Zeitalters der Vollendung.“65
Hugo de Sancto Victore, De archa Noe, 2, 7, 22-37, ed. P. Sicard (CChr.SL 176), Turnhout 2001: „Quia enim Christus Iesus uerus Deus et uerus homo est, in homine prebet exemplum, ex diuinitate remedium. Ex humilitatione suscepte infirmitatis nostram et superbiam reprimit et illuminat cecitatem, ex uirtute maiestatis et animas nostras cibo inuisibli pascit, et corpora nostra per obumbrationem Spiritu [!] Sancti ab estu uitiorum protegit. Idem ergo nobis et lignum uite et liber uite efficitur: lignum, quia obumbrat et pascit, liber quia increpat et erudit. … Nemo se excuset. Omnis homo congruum suo morbo remedium inuenit, ubi et malis locus datur, ut se corrigant, et bonis, ut meliores fiant.” 65 Hugo de Sancto Victore, De archa Noe, 2, 7, 84-94 (wie Anm. 64): „Rursum quod per triginta cubitorum altitudinem diuinam Scripturam significari diximus, et postea per columpnam triginta cubitos habentem in altitudine habentem Christum figurari asseruimus, contrarium non est, quia omnis diuina Scriptura unus liber est. Et ille unus liber Christus est, quia omnis diuina Scriptura de Christo loquitur et omnis Scriptura diuina in Christo impletur, et legendo Scripturam hoc querimus, ut eius facta et dicta atque precepta agnoscentes quod iussit facere et quod promisit percipere mereamur. Sicque et cognitione ueritatis et merito uirtutis crescentes usque ad eius conformitatem et mensuram etatis plenitudinis ipsius spiritaliter pertingamus.“ 64
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Thomas Böhm
Zwischen Skylla und Charybdis: Phänomenologische Skizzen zur Kirchengeschichte 1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte Wenn es darum geht, den eigenen Zugang zur Kirchengeschichte darzustellen, kann dies nicht unabhängig von der Frage beantwortet werden, wie Kirchengeschichte als Wissenschaft zu verorten ist oder verortet werden kann. Wenn dies programmatisch mit den Irrfahrten des Odysseus - anhand der Szene von Skylla und Charybdis umschrieben wird, ist es natürlich metaphorisch gemeint. Die Kirchengeschichte steht, wie dies detailreich von Andreas Holzem thematisiert wurde, im Spannungsgefüge von allgemeiner Geschichtswissenschaft auf der einen und dem Anspruch, Theologie zu sein, auf der anderen Seite.1 Das ist nichts Neues. Prekär ist - um im Bild zu bleiben - die Irrfahrt zwischen Skylla und Charybdis deshalb, weil Kirchengeschichte von Seiten der allgemeinen Geschichtswissenschaft vor dem Richterstuhl der Vernunft als voreingenommen oder unwissenschaftlich eingestuft wurde oder werden könnte, von Seiten der Theologie im Blick auf Kirchengeschichte jedoch der untheologische Charakter moniert werden könnte. An dieser Stelle soll dies hier lediglich als Problemanzeige konstatiert werden. Angesichts dieser spannungsreichen Lage ist der eigene Zugang zur Kirchengeschichte im Rahmen einer hermeneutischen Fragestellung anzusiedeln, die HansGeorg Gadamer unter dem Begriff der Wirkungsgeschichte fasst: „Daß Wirkungsgeschichte je vollendet gewußt werde, ist eine ebenso hybride Behauptung wie Hegels Anspruch auf absolutes Wissen, in dem die Geschichte zur vollendeten Selbstdurchsichtigkeit gekommen und daher auf den Standpunkt des Begriffs erhoben sei.“2 Es ist in der Tat so, dass es nicht plausibel zu machen ist, wie ein endliches Subjekt eine Perspektive erreichen soll, die es erlauben würde, die Geschichte selbst durch absolutes Wissen zu konturieren, es sei denn, man nähme durch Abstraktion an, es gäbe so etwas wie ein transpersoneles Wissen, das zu sich selbst zum Begriff A. Holzem, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“. Kirchengeschichte zwischen „Memoria“ und „Historie“, in: A. Leinhäupl-Wilke/M. Striet (Hg.), Katholische Theologie studieren. Themenfelder und Disziplinen, Münster 2000, 73-103; vgl. auch H. Wolf, Zwischen Theologie und Geschichte. Zur Standortbestimmung des Faches Kirchengeschichte, ThRv 98 (2002) 379-386; ders., Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kirchengeschichte? Zu Rolle und Funktion des Faches im Ganzen katholischer Theologie, in: W. Kinzig/V. Leppin/G. Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie. Kirchenund Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (AKThG 15), Leipzig 2004, 53-65; im wissenschaftstheortischen Kontext etwa H. R. Seeliger, Kirchengeschichte - Geschichtstheologie - Geschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und Theologie der katholischen Kirchengeschichtsschreibung, Düsseldorf 1981. 2 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, 306. 1
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gebracht werden könnte.3 Dies deckt sich ebenfalls mit den Ausführungen Gadamers, wonach es ausgeschlossen ist, dass ein Denken, das an endliche Bestimmtheit gebunden ist, die Wirkungsgeschichte als solche in ihrer Gänze wissen könnte.4 Dies hat eine weitere Folge: Bei der Untersuchung von Geschichte und ihrem Verstehen kann sich der Historiker selbst nicht aus dem Zusammenhang der Wirkungsgeschichte hinauskatapultieren, als könnte er als Subjekt den zu untersuchenden Gegenstand von außen objektiv betrachten, wie dies der Historismus vorauszusetzen scheint. Das Vergangene selbst steht in einem eigenen Überlieferungszusammenhang wie auch der Historiker selbst. Die Überlieferungen in ihrer Pluriformität bedingen sich gegenseitig im Verstehen. Das bedeutet, dass man sich der Überlieferung gegenüber nicht vergegenständlichend oder verobjektivierend verhalten kann, sondern das Vergangene, das geschichtlich betrachtet und untersucht wird, ist selbst wie auch der Horizont des Historikers in Bewegung. Eine schlechthinnige Standortgebundenheit gibt es nicht, sondern sie ist als eine Abstraktion zu werten.5 Dies hat Martin Heidegger paradigmatisch in seiner Freiburger Vorlesung des Sommersemesters 1921 zu „Augustinus und der Neuplatonismus“ dargelegt:6 Indem er sich von Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack und Wilhelm Dilthey und ihren je perspektivischen Zugangsweisen als objektgeschichtlichen Deutungen abgrenzt - und zwar chronologisch von sich selbst wegweisend -7, soll die „Sache“ selbst im Denken des Augustinus (oder besser: im von Augustinus Gesagten bzw. Geschriebenen) zu Wort kommen. Dabei wird deutlich, wie der jeweilige Verstehenshorizont selbst in Bewegung ist - in Bezug auf Augustinus selbst in den „Confessiones“ als Reflex auf das eigene Leben und dessen Bildung bis zur Jetztzeit (Buch 10), in Bezug auf die „Rectractationes“ Augustins, sodass die eigenen Verstehenshorizonte Augustins sich durchdringen8, schließlich in Bezug auf Heidegger selbst, der mit dem „Ich“ Augustins zu verschmelzen scheint9, sowie dem Hörer bzw. Leser der Vorlesung Heideggers. Zurückgewendet auf die Frage des eigenen Zugangs zur Kirchengeschichte bedeuten diese Bemerkungen: Dieser Zugang ist maßgeblich dadurch bestimmt, dass eine Reflexion auf Wirkungsgeschichte erfolgt, in der sowohl das eigene Verstehen in seinem Wandel thematisch ist als auch die Bewegung des Geschichtlichen oder Historischen selbst. Sekundär ist dabei die Meinung des Autors der Quellen (dies in Vgl. zur Problematik V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Bd. 2, Hamburg 1988, 448-462; vgl. ferner im Blick auf die Dogmengeschichte M. Striet, „Um Himmels willen - Dogmengeschichte?“ Dogmatisch-hermeneutische Bemerkungen zur Funktion dogmengeschichtlicher Forschung, in: Leinhäupl-Wilke/Striet (Hg.), Katholische Theologie studieren (wie Anm. 1), 165-183, hier: 172-174. 4 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode (wie Anm. 2), 307, unter Hinweis auf F. Nietzsche und E. Husserl. 5 Vgl. a.a.O., 286 und 308f. 6 Vgl. M. Heidegger, Phänomenlogie des religiösen Lebens (= Gesamtausgabe, Bd. 60), Frankfurt 1995, 157-299. 7 Vgl. a.a.O., 159-173. 8 Vgl. dazu die Ausführungen a.a.O., 177f (jedoch ohne den Begriff „Verstehenshorizont“). 9 Vgl. exemplarisch etwa a.a.O., 182. 3
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einem umfassenden Sinne gemeint), da diese in sich selbst nicht greifbar ist, sondern allein der Horizont der Quellen, jedoch nicht vergegenständlicht. Ein Text z. B. übertrifft in seinem Sinn den Autor selbst, weil er mitbestimmt ist durch die Situiertheit des Interpreten und die Wirkung in der Geschichte: „Eine jede Zeit wird einen überlieferten Text auf ihre Weise verstehen müssen, denn er gehört in das Ganze der Überlieferung, an der sie ein sachliches Interesse nimmt und in der sie sich selbst zu verstehen sucht.“10 Verstehen von Texten bzw. Quellen, mithin von Geschichte, ist offen, „unendlich“, unabgeschlossen und strittig.11 Kirchengeschichte ist dann im eigenen Zugang als eine pluriforme Gestalt zu denken, die man als anamnetische Kultur bezeichnen kann12, wenn darunter nicht eine einlinige historiographische (Re-)Konstruktion verstanden wird. Behandelt nun Kirchengeschichte vor dem hier angedeuteten Hintergrund pluriforme Ausgestaltungen von Glauben und deren Bedeutung in unterschiedlichen historischen Konstellationen - sowohl für Gruppen als auch einzelne Personen -, so lässt sich zunächst konstatieren, dass Kirchengeschichte historisch-kritisch betrieben wird und deshalb nicht unter dem Vorbehalt dogmatischer Vereinnahmungen steht. Vielmehr gilt umgekehrt eine massive Anfrage: „Die Folgen für die Dogmatik, sofern es ihr um die Wahrheit des Glaubens geht, sind unübersehbar. Denn die Frage muss sich ja zwangsläufig aufdrängen, ob vielleicht am Ende die gesamte Dogmengeschichte, weil sie dogmatisch und die Geschichte als Heilsgeschichte dachte, nur ihre allzumenschlichen Wurzeln nicht gesehen haben könnte, nun aber unter den Bedingungen historischer Denkungsart die Einsicht unabweisbar wird, dass das Dogma nicht göttlicher, sondern rein menschlicher Natur ist.“13 Ein solches Resultat, das hier hypothetisch u. a. im Rückgriff auf Ernst Troeltsch formuliert ist14, ist jedoch nicht zwangsläufig. Allein - es entzieht sich der historischkritischen Methode, wie das Dogma in sich zu verstehen ist und wie ein Eingreifen einer göttlichen Macht oder die Möglichkeit einer Selbstoffenbarung Gottes in der
Gadamer, Wahrheit und Methode (wie Anm. 2), 301. Die Unabgeschlossenheit ergibt sich u. a. auch aus dem Problem der Frage-Struktur selbst; vgl. dazu A. Keller, Allgemeine Erkenntnistheorie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982, 9-21. Sie ist nicht nur Teil geisteswissenschaftlicher Forschung, sondern betrifft in gleicher Weise auch so genannte „strenge“ Wissenschaften. Genannt sei an dieser Stelle etwa die Heisenbergsche Unschärferelation oder in der Mathematik das Unvollständigkeitsaxiom von Kurt Gödel (ders., Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 [1931] 173-198) gegen A. N. Whitehead/B. Russell, Principia Mathematica (stw 593), Frankfurt a. M. 1986. 12 Vgl. etwa W. Frühwald, Die Frage nach dem Menschen. Zur Stellung der Theologie in der modernen Universität, in: H. Hoping (Hg.), Universität ohne Gott? Theologie im Haus der Wissenschaften, Freiburg i. Br. 2007, 92-110, hier: 104f, unter Bezug auf J. B. Metz und L. Honnefelder. 13 Striet, „Um Himmels willen - Dogmengeschichte?“ (wie Anm. 3), 177. 14 Vgl. E. Troeltsch, Die chistliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Aalen 1981 (ND), 227-327; zur Problematik auch G. Essen, Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit (TTS 9), Mainz 1995, 161-294. 10 11
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Geschichte verifiziert oder besser falsifiziert15 werden kann, und zwar auch im Hinblick auf diese Möglichkeit angesichts einer autonomen menschlichen Freiheit.16 Kirchengeschichtliche Untersuchungen könnten von daher gesehen unter dem Motto stehen: Konstruktionen und Dekonstruktionen von Identitätsbildungen von Gruppen und Individuen. Plausibilitäten werden jeweils erzeugt und infrage gestellt. Aus historischer Perspektive ist es dabei unerheblich oder zumindest zweitrangig, inwiefern Lebensformen etwa in der christlichen Spätantike oder Lehren über Gott und Christus mit bestimmten regulativen Normen oder dogmatischen Entscheidungen der so genannten Großkirche konform sind; entscheidend ist allein, welche unterschiedlichen Entwürfe vorliegen, unter welchen Bedingungen sich etwas durchgesetzt hat oder verworfen wurde. Selbst die Frage nach der Normativität ist ein Entwurf unter geschichtlichen Bedingungen. Zurecht stellt daher z. B. Rowan Williams die Frage, ob es einen Sinn mache, von vornizänischer Orthodoxie zu sprechen.17 So banal es klingen mag, es ist von entscheidender Bedeutung: Es wäre anachronistisch, erwarten zu wollen, dass in vornizänischer Zeit ein Glaubensbekenntnis entworfen worden wäre, das in gleicher Weise das thematisierte, was auf dem Konzil von Nizäa (325) gegen Arius zu Wort gebracht worden ist. Die Entscheidungen von Nizäa können weder in einer früheren Zeit vorausgesetzt werden, noch sind sie dann - historisch betrachtet - die Norm, mit der über Orthodoxie oder Heterodoxie entschieden werden könnte. Die Lage spitzt sich insofern zu, als die Konzilsentscheidungen von Nizäa, aber auch der anderen synodalen und konziliaren Positionierungen wesentlich von einem Faktor getragen werden, nämlich dem der Rezeption.18 Zum Maßstab der Beurteilung anderer theologischer Entwürfe und als Grundlage für Einheitsbemühungen wird das Konzil von Nizäa und dessen Glaubensbekenntnis erst auf einer unter Athanasius stattfindenden Synode in Alexandrien im Jahre 362 inklusive des so genannten „Tomus ad Antiochenos“.19 Maßgeblich wurden die Entscheidungen von Nizäa dann auf dem Konzil von Konstantinopel (381) und in dessen verwickelter Rezeption in Chalcedon (451).20
15 Zur Problematik vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Gütersloh 1973, 25-45. 16 Vgl. dazu Th. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2001; ferner M. Striet, Das Ich im Sturz der Realität. Philosophisch-theologische Studien zu einer Theorie des Subjekts in Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Nietzsches, Regensburg 1998, 237-306; ders., Das Versprechen der Gnade. Rechenschaft über die eschatologische Hoffnung, in: Th. Pröpper, Theologische Anthropologie II, Freiburg i. Br. 2011, 1490-1520. 17 Vgl. R. Williams, Does it make sense to speak of pre-Nicene orthodoxy?, in: ders. (Hg.), The making of orthodoxy. Essays in honour of Henry Chadwick, Cambrige 2002, 1-23. 18 Behauptet wird nicht, dass die Rezeption der einzige Faktor ist. Das kann aber an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. 19 Vgl. dazu neuerdings Th. R. Karmann, Meletius von Antiochien. Studien zur Geschichte des trinitätstheologischen Streits in den Jahren 360-364 n. Chr. (RSTh 68), Frankfurt a. M. 2009, 168-305. 20 Vgl. A. M. Ritter, Das Konzil von Konstantinopel und sein Symbol. Studien zur Geschichte und Theologie des II. Ökumenischen Konzils (FKDG 15), Göttingen 1965.
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Dieses Beispiel zeigt, dass es nicht in der Perspektive historischer Untersuchungen liegt, danach zu fragen, welche Form dogmatischer Entscheidungen mit dem Etikett von Wahrheit zu versehen ist. Vielmehr wird deutlich, unter welchen Voraussetzungen geschichtlicher Natur etwas einen normativen Status erhält. Dies wiederum ist selbst in geschichtliche Phänomene eingebunden und von dorther versteh- und beschreibbar. Die Verstehenshorizonte sind, um hier erneut Hans-Georg Gadamer zu bemühen21, in Bewegung, und zwar sowohl auf Seiten des Untersuchenden als auch auf Seiten des Untersuchten. Dabei kommen die Bedingungen in den Blick, unter denen Lebensformen, Lehren etc. jeweils als plausibel erscheinen, zugleich aber auch deren Grenzen und Reichweiten sowie ihre Wirkungsgeschichten. Untersucht wird also mit philologischen, historischen, aber auch theologischen, philosophischen, soziologischen usw. Methoden, wie und warum sich bestimmte Lebens- und Lehrformen etabliert haben, andere wiederum verworfen wurden. Thema ist also, wenn man so sagen mag, die Strittigkeit historischer Identitätsbildungen - oder mit Andreas Holzem formuliert: Kirchengeschichte „hält den Prozess christlicher Identitätsbildung offen und unabschließbar. Darin ist sie unterschieden von einer systematischen ‚Geschichtstheologie‘, die ‚Geschichte‘ als ‚umfassendsten Horizont der Theologie‘ thematisiert.“22 Es handelt sich, um hier einen wissenssoziologischen Terminus aufzugreifen, um gesellschaftliche Konstruktionen von Wirklichkeit23, die die jeweiligen Konturierungen christlicher Gruppen betreffen. Dies ließe sich im Blick auf die frühe Kirchengeschichte und Patrologie auf vielen Feldern durchbuchstabieren: Es beträfe die Gottesfrage und Christologie in gleicher Weise wie die Organisation des Gemeindelebens (etwa die Ämterfrage, das Verhältnis von Klerus und Laien, Frau und Amt etc.), liturgische Themen (Taufe, Mahltraditionen bzw. Eucharistie, Buße etc.) oder die Ausbreitung christlicher Gruppen im römischen Reich, das Verhältnis der Christen zu anderen religiösen Strömungen oder Religionen (etwa zu den Mysterienreligionen, der römischen Staatsreligion, zum Judentum) und christlicher Gruppen untereinander sowie die Einbindung in spätantike Gesellschaftsformen oder das Verhältnis zum römischen Imperium. Skizzenhaft mag dies illustriert werden anhand der für das Christentum aus dogmatischer Perspektive zentralen Lehre von dem einen Gott in drei Personen oder besser - drei Hypostasen. Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum, an dieser Stelle eine frühkirchliche Trinitätstheologie nachzuzeichnen24, sondern lediglich darum, die entsprechenden Rahmenbedingungen an einem Beispiel anhand von Fragen zu benennen. Vgl. o. Anm. 5. Holzem, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“ (wie Anm. 1), 102. 23 Vgl. P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1980. 24 Vgl. dazu den Überblick von F. Dünzl, Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, Freiburg i. Br. 2006. Auf Einzelheiten in dessen Darstellung braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. 21 22
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Als maßgeblich für die Entstehung der „Trinitätsformel“ gilt Basilius von Caesarea, ein Theologe des 4. Jahrhunderts, der selbst aus den gesellschaftlichen Eliten Kleinasiens stammte und eine eingehende Bildung im Fächerkanon der damaligen Zeit erhielt. Ein erster Entwurf, in der Gotteslehre zwischen ousia (Sein) und Hypostasen (Vater, Sohn und Heiliger Geist) begrifflich zu unterscheiden, findet sich in einem Frühwerk des Basilius, in „Adversus Eunomium“25. Zu fragen ist in diesem Kontext etwa: Unter welchen historischen Konstellationen ist diese Schrift entstanden? Vorausgegangen waren Verhandlungen über die so genannte neo-arianische Theologie auf zwei Synoden in Konstantinopel (359 und 360). Welche Theologie sollte diskutiert werden (die des Aetius und des Eunomius), welche theologischen und philosophischen Voraussetzungen und Durchführungen hatte diese Theologie? Wer war maßgeblich beteiligt als Gegner der Neo-Arianer die Homöer etc.? Welche Positionen und Voraussetzungen vertraten diese Theologen? Welches Verhältnis bestand zu vorausgehenden synodalen Entscheidungen? Warum zog sich Basilius nach den aus seiner Perspektive gescheiterten Verhandlungen in Konstantinopel in seine Heimat zurück? Wieso wurde er im Jahre 364 zu neuen Verhandlungen in Lampsakus von der Gruppierung der Homöousianer zurückgeholt? Wie erklärt sich der theologische Wandel des Basilius von den Homöousianern zu den Homoousianern? Welche Rolle nahm sein Weggefährte, der strenge Nizäner Apollinaris von Laodicea, ein? Wieso und unter welchen Bedingungen unterschied Basilius zwischen ousia und hypostasis in der Gotteslehre, und zwar, wie er selbst betonte, im Rückgriff auf die aristotelische Kategorienschrift? War mit den Kategorien des Aristoteles, der ersten und zweiten ousia (z. B. der konkrete Mensch Sokrates und der abstrakte Begriff der Menschheit), das Problem überhaupt lösbar? Welche philosophischen Implikationen hatte dieser Entwurf? Auf welche theologischen Traditionen rekurrierte Basilius? Welche Rolle spielten für synodale Entscheidungen die Kaiser? Welche Machtfaktoren, welche persönliche Rivalitäten und „Seilschaften“ gingen in Entscheidungsprozesse ein? Welche Bedeutung hatten solche theologischen Entwürfe für die Gemeinden? Welche Rezeption und damit auch Transformationen und Neuinterpretationen erfuhr dieser Entwurf bis in die Neuzeit und Moderne, wurde er neu konzeptualisiert und kontextualisiert? Die Fragen ließen sich fortführen bis zum „Horizont“ des fragenden Historikers, Systematikers usw. In der verwickelten Wirkungsgeschichte mit den notwendigen Verschiebungen der Verstehenshorizonte wird Kirchengeschichte mit ihrem historisch-kritischen, aber auch philologischen Inventar zum theologisch relevanten Korrektiv systematischer Überlegungen.26
25 Vgl. Th. Böhm, Basilius von Caesarea, Adversus Eunomium I-III. Edition, Übersetzung, Textgeschichte, Chronologie, Habil. theol. München 2003. 26 Dies ist auch das Grundanliegen von B. Studer, Patristische Anstöße zu einer Erneuerung der Trinitätslehre, FZPhTh 47 (2000) 463-483.
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2. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Aufgaben und Zukunftsperspektiven Wie sich bereits gezeigt hat, ist der eigene Zugang zur Kirchengeschichte, wenn man sich nicht in einzelne Themenfelder verlieren möchte, geprägt von Überlegungen, wie Kirchengeschichte in den Kontexten von allgemeiner Geschichte und Theologie zu verorten ist. Aufgaben und Zukunftsperspektiven könnten zwar getrennt thematisiert werden. Persönlich halte ich es jedoch für angemessener, die Aufgaben der Kirchengeschichte so zu formulieren, dass aus diesem Ansatz auch die Zukunftsperspektiven ersichtlich werden. Als vordringliche Aufgabe der Kirchengeschichte als Wissenschaft scheint es zunächst notwendig zu sein, den Theoriestatus zu klären.27 Einen äußerst bedeutsamen Beitrag hat in diesem Zusammenhang Nobert Brox geliefert, dessen Ansatz im Folgenden zusammenfassend gewürdigt werden soll.28 Brox zufolge muss sich die Kirchengeschichtsforschung in einem metawissenschaftlichen Kontext Klarheit über die „Denkformen“ verschaffen, d. h. über die Interessen des Historikers, die im engeren Sinne nicht wissenschaftlich sind29, oder mit Reinhart Koselleck formuliert: „Das, was eine Geschichte zur Geschichte macht, ist nie allein aus den Quellen ableitbar: es bedarf eine Theorie möglicher Geschichten, um Quellen überhaupt erst zum Sprechen zu bringen. Parteilichkeit und Objektivität verschränken sich dann auf neue Weise im Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese.“30 Der Denkrahmen bestimmt also, was zum „Objekt“ der Kirchengeschichte wird.31 Dabei ist an dieser Stelle über Brox hinaus aufgrund der eingangs skizzierten Überlegungen zu betonen, dass das, was hier in landläufiger Begrifflichkeit Objekt genannt wird, nicht im vergegenständlichenden Sinne gemeint sein kann, sondern im Kontext einer Wirkungsgeschichte steht. Das Objekt sei Brox zufolge die Geschichte der Kirche bzw. des Evangeliums; dadurch werde die Kirchengeschichte als Theologie qualifiziert. Die historisch-kritische Methode qualifiziere sie als Wissenschaft, und das Subjekt bringe durch Glaube und Denkanstrengung in der Praxis der Kirchengeschichte beides zusammen.32 Das gegenüber der allgemeinen Geschichte 27 Breit dazu Seeliger, Kirchengeschichte (wie Anm. 1), passim. Aufgabe der Kirchengeschichte sei ihre memoriale Funktion im Kommunikationszusammenhang Kirche, die fundamentaltheologisch begründet sei; vgl. bes. 236-238 im Anschluss an H. Peukert, Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung (stw 231), Frankfurt a. M. 21988. Eine Auseinandersetzung mit diesem Ansatz kann an dieser Stelle nicht erfolgen, vor allem nicht zu der Frage, ob in diesem Zusammenhang ein heilsgeschichtliches Konzept Eingang gefunden hat; vgl. dazu knapp Holzem, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“ (wie Anm. 1), 87f. 28 Vgl. N. Brox, Fragen zur „Denkform“ der Kirchengeschichtswissenschaft, ZKG 90 (1979) 1-21; dazu auch Holzem, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“ (wie Anm. 1), 86f. 29 Vgl. Brox, Fragen zur „Denkform“ (wie Anm. 28), 7f. 30 R. Koselleck, Standortbildung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders. (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 1), München 1977, 17-46, hier: 46; dazu Brox, Fragen zur „Denkform“ (wie Anm. 28), 10, sowie Wolf, Zwischen Theologie und Geschichte (wie Anm. 1), 384. 31 Vgl. Brox, Fragen zur „Denkform“ (wie Anm. 28), 9. 32 Vgl. a.a.O., 9.
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Besondere sei in der Perspektivität zu suchen: „Etwas Unterscheidendes für Kirchengeschichte kann - wenn überhaupt - nur in einer umfassenden Theorie von Geschichte liegen und überdies nur in einer materialen, nicht einer formalen Geschichtstheorie. (...) Diese Qualität, die dann Theologie heißt, kann also nur von einem übergeordneten, universalen Vers geleistet werden, der auf die Geschichte der Kirche, der Kirchen, des Christentums, wie sie alle sehen und erforschen können, appliziert wird und sie ‚anders‘ sehen lehrt.“33 Diese Form einer allgemeinen Geschichtstheorie ist nicht als Kirchengeschichtswissenschaft selbst zu gewinnen, sondern dieser vorgegeben.34 In einer solchen Standortgebundenheit unterscheide sich die Kirchengeschichte als Wissenschaft nicht grundsätzlich von jeder historischen Disziplin.35 Dieser Denkrahmen ist im Sinne von Brox näherhin als Heilsgeschichte zu bestimmen, vor allem im Anschluss an Wolfhart Pannenberg und Johann Baptist Metz. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass die Denkform der Heilsgeschichte für Brox gerade nicht dem kirchengeschichtlichen Diskurs entspringt, sondern diesem vorgegeben ist.36 Pannenberg zufolge ist die Kichengeschichte in eine Universalgeschichte eingeordnet, sofern sich Gott in der Geschichte offenbart hat und Gott selbst als die Einheit der Geschichte begriffen werden kann, die am Ende der Geschichte den Sinn der Geschichte enthüllt. Das Geschick Jesu kann dann, sofern sich Gott selbst in diesem Menschen offenbart hat, als Vorwegnahme oder Antizipation des Endes der Geschichte verstanden werden.37 Dieser Anspruch scheint wissenschaftstheoretisch nicht einlösbar zu sein38, so dass Brox eher die Position von Metz (Geschichte als erinnerte Leidensgeschichte39) - wenn auch mit einem Fragezeichen - favorisiert.40 Dass Kirchengeschichte als memoria passionis konzipiert sein muss, und zwar nur im Blick auf eine Leidensgeschichte, ist m. E. nicht zwingend. Aber auch der Terminus einer vorgängigen Heilsgeschichte als Interpretament ist im historischen Kontext nicht nur wissen-
A.a.O., 12. Vgl. a.a.O., 13-15, in Auseinandersetzung mit Edith Saurer, Peter Stockmeier und anderen. Auf diese Diskussion kann hier verzichtet werden. 35 Vgl. a.a.O., 16f, mit einer Diskussion des Ansatzes von V. Conzemius, Kirchengeschichte als „nichttheologische“ Disziplin. Thesen zu einer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung, ThQ 155 (1975) 187-197, dessen Position insofern inkonsistent genannt werden müsse, als für eine nichttheologische Kirchengeschichtsschreibung das Neue Testament letzter und oberster Maßstab sei. Eine ähnliche Struktur eines - wenn auch in aller Vorsicht vorgenommenen - Rekurses auf die Heilige Schrift findet sich im Anschluss an G. Ebeling bei Ch. Markschies, Arbeitsbuch Kirchengeschichte (UTB 1857), Tübingen 1995, 152f. 36 Zu W. Pannenberg vgl. Brox, Fragen zur „Denkform“ (wie Anm. 28), 18f. 37 Vgl. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 393-406. 38 Vgl. Brox, Fragen zur „Denkform“ (wie Anm. 28), 19. 39 Vgl. J. B. Metz, Zukunft aus dem Gedächtnis des Leidens, Conc(D) 8 (1972) 399-407; zu Ansatz und Problematik des Programms von Metz vgl. Peukert, Wissenschaftstheorie (wie Anm. 27), 348-350, sowie Th. Böhm, Die Christologie des Arius. Dogmengeschichtliche Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung der Hellenisierungsfrage (SThG 7), St. Ottilien 1991, 288. 40 Vgl. Brox, Fragen zur „Denkform“ (wie Anm. 28), 19f. 33 34
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schaftstheoretisch problematisch, sondern im Sinne des Pannenbergschen Ansatzes dort auch nicht kommunikabel zu machen. Dementsprechend hat Ekkehard Mühlenberg diese Positionierung einer kritischen Analyse unterzogen, die hier nicht vorgestellt zu werden braucht.41 Die Konsequenzen, die er für eine kritische Diskussion zieht, scheinen mir grundlegend zu sein.42 „Dargestellt wird (...) nicht ein Handeln Gottes einerseits und ein Handeln der Menschen andererseits; es wird auch nicht der Kampf verschiedener übermenschlicher Mächte beschrieben. Vielmehr wird Geschichte als menschliches Handeln geschildert, insofern es getragen ist von mitgebrachten Überzeugungen über die Macht des Guten und den Erwartungen und Hoffnungen, die sich daraus in den konkreten Situationen ergeben. Urteilend und beurteilend tritt der Historiker insofern auf, als er nach den Ursachen und Gründen fragt, die die Erfüllung von Erwartungen, die Umformung von Erwartungen und das Scheitern von Erwartungen erklären können - im Hinblick auf Gelingen und Misslingen menschlicher Gemeinschaft unter den jeweils gegebenen Bedingungen, d. h. im Möglichkeitshorizont der jeweiligen Zeitperiode.“43 Deskriptiv lässt sich dann fassen, welche versuchten Konkretionen im Glauben an eine Macht sich zeigen, von der Heil erwartet wird. In diesem Sinne ist ein Beitrag geliefert, wie die jeweilige christliche Tradition im Wirkungsprozess maßgeblich wirksam wurde und wie konkurrierende Modelle zu einer je eigenständigen Deutung und Identitätsbildung wurden. Auch das Christusereignis wird dann nicht als eine Norm vorausgesetzt, sondern der Bezug findet dadurch statt, „dass der christliche Anspruch aus seinem Rückbezug auf das Christusereignis eine Perspektive gewinnt, die als Versöhnung angeboten werden kann und deren Wirklichkeit zur bleibenden Erfahrung wird“44. Aus einer solchen Bestimmung von Kirchengeschichte als Wissenschaft inklusive der Perspektive der Wirkungsgeschichte ergäben sich weitere Aufgaben und Perspektiven, die hier nur angedeutet sein sollen: 1) Wenn Kirchengeschichtsschreibung in diesem Sinne deskriptiv verfährt und in einer Wirkungsgeschichte verortet ist, ist diese selbst als stets unabgeschlossen zu bestimmen. Mit den Mitteln der historisch-kritischen Methode ist dann für jede Zeit neu die Weise der konkurrierenden Modelle zu rekonstruieren. 2) Zur theologischen Disziplin wird die Kirchengeschichte trotz der Standortgebundenheit und Perspektivität des Historikers nicht zwingend durch ein vorausge41 Vgl. eingehend E. Mühlenberg, Gott in der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze zur Kirchengeschichte (AKG 110), Berlin/New York 2008, 25-31. 42 Der Ansatz von H. Wolf, im Anschluss an M. Seckler, Die ekklesiologische Bedeutung des Systems der ‚loci theologici‘. Erkenntnistheoretische Katholizität und strukturale Weisheit, in: W. Baier u. a. (Hg.), Weisheit Gottes - Weisheit der Welt. Festschrift für Joseph Kardinal Ratzinger zum 60. Geburtstag, Bd. 1, St. Ottilien 1987, 37-65, einerseits die historisch-kritische Arbeitsweise der Kirchengeschichtswissenschaft herauszustellen und andererseits die Geschichte im Kontext von Melchior Cano als locus theologicus zu bestimmen, scheint ein gangbarer Weg zu sein, sofern dies nicht zwingend als heilsgeschichtliche Deutung eingeführt wird. 43 Mühlenberg, Gott in der Geschichte (wie Anm. 41), 33. 44 A.a.O., 35; ausführlicher zum Vorhergehenden a.a.O., 34f.
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setztes Modell der Heilsgeschichte. Ihr Platz in der Theologie besteht vielmehr im Aufweis der Strittigkeit der Modelle in der Geschichte. Ist diese gezeigt unter der Maßgabe der Unabgeschlossenheit von Geschichte im obigen Sinne, wird Kirchengeschichte aufgrund der Pluriformität von Deutungen in geschichtlichen Bedingtheiten zum Korrektiv normativ gesetzter Entwürfe. Dies wird dann im theologischen Diskurs wiederum strittig ausgetragen. 3) Angesichts dieser Ergebnisse leistet die Kirchengeschichte als Wissenschaft einen wesentlichen Beitrag zum innerchristlichen ökumenischen Dialog, nicht minder aber auch zum interreligiösen Diskurs. Zugleich ist damit die Möglichkeit eröffnet, die Diskussion mit anderen historischen Wissenschaften und darüber hinaus mit den Geisteswissenschaften allgemein zu fördern.
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Daniel Buda
Kirchengeschichte als Wissenschaft Versuch einer orthodoxen Perspektive Seit fast zehn Jahren unterrichte ich Kirchengeschichte an der orthodox-theologischen Fakultät „Hl. Andrei Şaguna” von Sibiu/Hermannstadt, Rumänien, zuerst als Hilfsassistent und mittlerweile als Lektor. Anders als im deutschsprachigen Raum sind im rumänischen Unterrichtssystem der Hilfsassistent und der Lektor verantwortlich für die Pro- und Hauptseminare und, im Fall von Lektoren, teilweise auch für einige Vorlesungen. In den letzten vier Jahren habe ich mit Erlaubnis der Leitung meiner Fakultät meinen Unterricht in Form von Blockveranstaltungen durchgeführt, denn ich bin seit 2009 auch als Programmreferent für kirchliche und ökumenische Beziehungen im Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf tätig. Damit will ich sagen, dass ich die Kirchengeschichte sowohl als Dozent als auch als Forscher kenne. Meine Erfahrung mit dem theologisch-ökumenischen Dialog bringt außerdem eine besondere Perspektive auf die Kirchengeschichte. Dieser Aufsatz enthält daher einige Reflexionen auf das im Titel erwähnte Thema aus meiner persönlichen Perspektive als orthodoxer Kirchenhistoriker. Sie sind von meiner Erfahrung in Unterricht und Forschung sowie von meiner Tätigkeit in der Ökumene und nicht zuletzt von meinem fast vierjährigen Studium in Deutschland an evangelischen Fakultäten (Berlin, Heidelberg) geprägt. All diese Elemente meiner Biographie erlauben mir, die orthodoxe(n) Auffassung(en) von Kirchengeschichte mit den abendländischen Auffassungen zu vergleichen und daraus die Aufgaben und Zukunftsperspektiven dieses Faches aus orthodoxer Perspektive zu formulieren. Bevor ich mich mit dem Thema näher beschäftige, halte ich noch eine Präzisierung für nötig: Die orthodoxe Auffassung von Kirchengeschichte als Wissenschaft ist kaum systematisiert. Es gibt keine Abhandlungen, die sich mit der Theorie der orthodoxen Kirchengeschichte beschäftigen. Man kann die orthodoxe Konzeption von Kirchengeschichte als Wissenschaft eher aus den Werken wichtiger orthodoxer Kirchenhistoriker ableiten. Was die Theorie der Kirchengeschichte angeht, so gilt das gleiche Prinzip wie für die Kirchengeschichtsschreibung: Die orthodoxen Theologen haben sie hauptsächlich aus den Werken der abendländischen Kollegen römisch-katholischer und protestantischer Herkunft übernommen und nur mit wenig Urteilsvermögen kompiliert.
1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte Oft werde ich gefragt, warum ich mich für das Studium und die Erforschung der Kirchengeschichte entschieden habe. Kirchengeschichte wird von vielen als ein schwieriges und langweiliges Fach der Theologie angesehen. Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass, wer sich mit Kirchengeschichte beschäftigt, viele Daten und
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Namen auswendig lernen muss. Für viele theologische Studenten sind die Examina in Kirchengeschichte ein Albtraum. Man lernt für die kirchengeschichtlichen Prüfungen, um sie zu bestehen, aber sich ein ganzes Leben damit zu beschäftigen, ist für viele einfach unvorstellbar. Als ich einem Priester erzählte, dass ich mich für das Studium der Theologie entschieden hätte, sagte er: „Theologie ist ein faszinierendes Fach. Du wirst mit Kirchengeschichte zu tun haben; das hat mir wirklich als Theologiestudent Sorgen gemacht. Ich bedauere, dass du jetzt über weitere vierzig Jahre Kirchengeschichte lernen musst.“ Meine Antwort auf die Frage „warum Kirchengeschichte?“ hat etwas mit persönlicher Vorliebe und Erfahrung, aber auch mit einer Konzeption von Geschichte und besonders von Kirchengeschichte und ihrer Rolle zu tun. Schon als Schüler hat mich das Fach Geschichte angezogen. Als ich mich für das Studium der Theologie entschieden hatte, war es fast natürlich, dass mein bevorzugtes Feld die Kirchengeschichte wurde. Es war meine Chance, dass ich sowohl im Priesterseminar als auch besonders an den theologischen Fakultäten Professoren hatte, die die Aufgaben der Kirchengeschichte anders verstanden als ein Fach, das uns trockene und unattraktive Daten und Fakten über kirchliche Vergangenheit liefert. Ihr Akzent lag vielmehr auf der Analyse der historischen Fakten, anstatt einfach nur Informationen bereitzustellen. Sie hatten das Talent, die verschiedenen historischen Ereignisse miteinander in Verbindung zu setzen, und sie waren davon überzeugt, dass Kirchengeschichte ein wesentlicher Teil der Theologie ist. So haben sie meine Zuneigung zur Kirchengeschichte angeregt und weiterentwickelt. Eine der wichtigsten Fragen innerhalb des Studiums der Kirchengeschichte ist die der Positionierung der Kirchengeschichte als Wissenschaft zwischen allgemeiner Geschichte und Theologie. Oft wird die Frage gestellt: Gehört Kirchengeschichte zur allgemeinen Geschichte oder zur Theologie? Ich bin der festen Überzeugung, dass Kirchengeschichte sowohl zur allgemeinen Geschichte als auch zur Theologie gehört. Als theologisch-historische Wissenschaft liefert sie zugleich das nötige Wissen und die Analyse sowohl zur Universalgeschichte als auch zur Theologie. Kein Traktat über Universalgeschichte ist vorstellbar ohne Berücksichtigung wichtiger Kapitel der Kirchengeschichte. Es gibt kaum ein wichtiges historisches Ereignis oder Phänomen, das keinen christlichen Einfluss hat. Wichtige Phänomene der Universalgeschichte wie Aufklärung, Kolonisation, Globalisierung, Migration etc. können nicht richtig verstanden werden ohne den Beitrag der Kirchengeschichte. Was die Kirchengeschichte als Teil der Theologie angeht, so ist sie oder die historische Theologie mit anderen Fächern der Theologie stark verbunden. In der orthodoxen Tradition wird Theologie als eine unauflösbare, ja osmotische Einheit angesehen. Nur aus didaktischen Gründen und als Ergebnis westlichen Einflusses spricht man heute in der orthodoxen Theologie von biblischer, historischer, systematischer oder praktischer Theologie. Eigentlich gibt es weder eine klare Trennung noch eine Kategorisierung der theologischen Fächer. Einige Versuche, Kirchengeschichte als eine unabhängige Wissenschaft darzustellen, vergessen den unauflösbaren Charakter der Theologie und trennen die Kirchengeschichte von ihren theologischen Prinzipien, mit denen sie als Kirchengeschichte operieren muss.
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Viel wichtiger ist, dass die Kirchengeschichte im permanenten Dialog sowohl mit Prinzipien der Universalgeschichte als auch mit der Theologie bleibt. Kirchengeschichte als Wissenschaft kann nicht nur einfach allgemeine Geschichte bleiben. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass das Objekt ihres Studiums die Kirche ist. Die Kirche ist keine weltliche, sondern eine göttlich-menschliche Institution.1 Das heißt, dass die Geschichte der Kirche zugleich die Geschichte des mystischen Leibes Christi in ihrer historischen Entwicklung ist. Nach der Inkarnation ist die Geschichte der Menschheit wesentlich verändert. Die Inkarnation bringt inmitten der Menschheit ihren Erlöser, der für alle Menschen seine Kirche stiftet. Innerhalb der Geschichte der Menschheit entwickelt sich die Heilsgeschichte, die im Wesentlichen mit der Kirchengeschichte übereinstimmt. Kirchengeschichte als Wissenschaft sollte eine universale Vorstellung der Kirchengeschichte darstellen, oder, anders gesagt, das Objekt der Forschung für die Kirchengeschichte sollte die universale Kirche von überall und seit ihrer Existenz oder sogar früher sein.2 In der Vergangenheit war dieses Verständnis leider nicht sehr verbreitet. Wenn wir die meisten Betrachtungen und Schriften über Kirchengeschichte anschauen, merken wir sofort, dass sie entweder lokale oder regionale, aber auch konfessionelle Vorstellungen anbieten. Beispiele dafür sind Legion.3 Als orthodoxer Kirchenhistoriker merke ich, wie wenig die Geschichte der orthodoxen Kirche in abendländischen Abhandlungen und Kursen vorkommt. Im Allgemeinen ist die Kenntnis der Geschichte und Theologie unserer Kirche auf wenige Spezialisten beschränkt. Wenn man über die christlichen Traditionen im Abendland spricht, werden oft nur die protestantische und die römisch-katholische Tradition erwähnt. Die Orthodoxie wird irgendwie als „östliche Exotik“ angesehen. Diese Sichtweise sollte und wird sich allmählich verändern. Es ist zuerst die Aufgabe der orthodoxen Kirchenhistoriker, dafür zu sorgen, dass die Orthodoxie mit ihrer Geschichte besser bekannt wird. Dazu wird auch die immer stärkere Präsenz der orthodoxen Kirchen in traditionell protestantischen und/oder römisch-katholischen Gebieten entscheidend beitragen. Diese Meinung liegt auf der Linie der orthodoxen Ekklesiologie, wie sie z. B. bei D. Stăniloae formuiert wurde. Siehe sein Werk: Orthodoxe Dogmatik II, übers. v. H. Pitters, mit einem Vorwort von J. Moltmann, Solothurn/Düsseldorf 1995, 22-27. 2 Es gibt eine spannende Debatte über den Anfang der Kirchengeschichte. Der britische Kirchenhistoriker D. MacCulloch deutet in seinem Werk A History of Christianity. The first three Thousand Years, London 2010, an, dass die Geschichte des Christentums 1000 Jahre v. Chr. beginnt. 3 Das Buch von K.-V. Selge, Einführung in das Studium der Kirchengeschichte, Darmstadt 1982, wurde kritisiert, weil es nur auf das europäische Christentum fokussiert ist und nur zwei Referenzen zum amerikanischen Christentum beinhaltet (s. die Rezension von K. Penzel, ChH 54 [1985] 438). Dieselbe Kritik gilt für die bekannte und in drei Bänden erschienene ökumenische Kirchengeschichte von R. Kottje und Bernd Moeller, 3 Bde., Mainz/München 1970-1974 u.ö. In einer Rezension über Bd. 2 und 3 schreibt P. Schrodt, JES 2 (1977) 339-340, die grösste Schwàche dieses Werkes sei, dass es den Eindruck vermittelt, „die moderne Kirchengeschichte“ wäre „nur eine europäische Angelegenheit“. Die Entwicklung des Christentums in Amerika wird nicht erwähnt, und auch die Darstellung der europäischen Kirchengeschichte erweist sich als lückenhaft. Als Beispiel nennt er Spanien: das Werk enthält kein Wort über die Kirchengeschichte Spaniens nach Philipp II. 1
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Die universelle Wahrnehmung der Kirchengeschichte spricht aber nicht gegen eine partikulare Perspektive. Wir sollten die Kirchengeschichte universell betrachten in dem Sinne, dass wir uns für die Geschichte und aktuelle Situation aller Christen interessieren; aber wir dürfen unsere eigene konfessionelle und lokale Perspektive haben. Um ein Beispiel zu nennen: Als rumänisch-orthodoxer Kirchenhistoriker sollte ich meinen Studenten eine universale Vorstellung von Kirchengeschichte anbieten. Sie sollten durch mich Kenntnisse über alle christlichen Konfessionen, also auch z. B. über die Methodisten in Australien, erwerben. Im Rahmen meiner Tätigkeit werde ich eine universelle Überblicksveranstaltung anbieten, doch mein Akzent sollte auf der Geschichte der orthodoxen Kirchen bleiben. Und was die Forschung angeht, so sollte ich mich als Kirchenhistoriker über jedes Thema der Kirchengeschichte äußern können, aber aus rumänisch-orthodoxer Perspektive. Auf der Basis dieser zwei Prinzipien (des Universalismus und der konfessionellen Perspektive) könnte ich auf die Frage „Wem gehört 2017?“ aus einer orthodoxen Perspektive Folgendes antworten: „2017 gehört uns Christen. Es gehört uns Christen mit allen seinen Geschehnissen und Herausforderungen.“4 Für einen orthodoxen Kirchenhistoriker ist es wichtig, Vorbilder zu haben. Die Bedeutung der Kirchenväter für die orthodoxe Theologie ist allenthalben bekannt. Sie werden als Modelle für die theologische Reflexion wahrgenommen. Wenn der orthodoxe Kirchenhistoriker nach Modellen sucht, blickt er zuerst auf die patristische Periode und auf die Kirchenväter, die sich mit der Kirchengeschichte beschäftigt haben. Euseb von Caesarea ist zweifellos der bekannteste Kirchenhistoriker der patristischen Periode und wirkte als Beispiel schon für seine Nachfolger wie Sokrates, Sozomenos oder Theodoret von Cyros. In welcher Weise könnte Euseb ein Modell für die Kirchenhistoriker von heute sein? Er hat sich von heidnischen und jüdischen Historikern inspirieren lassen; er hat versucht, die neuesten Methoden der historischen Forschung seiner Zeit zu übernehmen. Er hat den Mut gehabt, auch über die historischen Ereignisse seiner Zeit zu schreiben. Das bedeutet, dass der orthodoxe Historiker von heute sich von den Prinzipien der Theoriegeschichte inspirieren lassen sollte, die neuesten wissenschaftlichen Methoden historischer Forschung übernehmen und anwenden und den Mut haben sollte, die Gegenwart zu kommentieren. Euseb kann für die orthodoxen Kirchenhistoriker ein Modell sein, aber doch nicht auf derselben Ebene wie z. B. einige Kirchenväter für die Dogmatik oder für die Spiritualität. Das hat etwas zu tun mit der Tatsache, dass Euseb ein Halbarianer war. Inwiefern seine eigene Lehre gegen ihn als Modell für Kirchenhistoriker spricht, ist eine Frage, die weiterer Überlegungen bedarf.5
D. Buda, Wem gehört 2017? Versuch einer orthodoxen Perspektive, ÖR 61 (2012) 70-78, hier: 77. Dieselbe Vorsicht sollte für andere Kirchenhistoriker der patristischen Zeit gelten wie z. B. Theodoret von Cyros, der des Nestorianismus verdächtigt wurde, und Sokrates, der wahrscheinlich zur Gruppierung der Novatianer gehörte.
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2. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Aufgaben Kirchengeschichte als Wissenschaft hat viele Aufgaben. Ich werde hier, aus räumlichen Gründen, nur die wichtigsten behandeln. Erstens muss jede geschichtliche Bemühung versuchen, so treu wie möglich die Vergangenheit darzustellen und zu analysieren. Schon Cicero verstand die Aufgabe der Geschichte in diesem Sinne: „Nam quis nescit primam esse historiae legem, ne quid falsi dicere audeat? Deinde ne quid veri non audeat? Ne quae suspicio gratiae sit in scribendo? Ne quae simultanis? Haec scilicet fundamenta nota sunt omnibus.“6
Heutzutage ist dieses Prinzip für jeden Historiker selbstverständlich. Die Aussage von Leopold von Ranke, dass es die Aufgabe der Geschichte sei, „bloss [zu] zeigen, wie es eigentlich gewesen“7 ist, hat Geschichte gemacht. Der Erfolg dieser Aussage wurde vielfach interpretiert.8 Er beruht meiner Meinung nach auf der Tatsache, dass sie die natürliche Tendenz des menschlichen Wesens, das sich immer fragt: „Was ist eigentlich geschehen?“, beschreibt. Leopold von Rankes Aussage schliesst aber nicht aus, dass die Aufgabe des Historikers darin besteht, die Geschichte auch zu interpretieren. Die erste Aufgabe des Kirchenhistorikers ist für mich, die Vergangenheit wahrheitsgemäß und verlässlich darzulegen und zu interpretieren. Ich habe schon das Prinzip Ciceros zitiert, das für alle Historiker selbstverständlich ist. Für einen orthodoxen Kirchenhistoriker ist diese Mission nicht nur eine Sache des Prinzips. Wie schon gesagt, ist die ganze Geschichte und besonders die Kirchengeschichte ein Teil der Heilsgeschichte, in der Gott aktiv ist. Sie fehlerhaft oder falsch darzustellen oder - mit anderen Worten - die Wahrheit über die Heilsgeschichte zu verbergen oder zu missinterpretieren, ist als moralische Sünde anzusehen. Der Mensch als imago Dei ist in der Lage, die Wahrheit zu formulieren und zu verkündigen, darunter auch die historische Wahrheit. Als orthodoxer Theologe muss man zwischen doktrinärer und historischer Wahrheit unterscheiden. Die doktrinäre Wahrheit ist absolut, weil sie auf der Offenbarung Gottes gründet, während die historische Wahrheit ihre Relativität hat, weil das menschliche Element dabei eine grössere Rolle spielt. Die historische Wahrheit, die der Kirchenhistoriker vorstellen und interpretieren muss, dient zuerst der Kirche. Manchmal kann die historische Wahrheit eine Herausforderung für die Kirche sein. In solchen Fällen wirkt die historische Wahrheit als prophetische Herausforderung für die Kirche.
Cicero, De orat. 2, 62-63 L. von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker, Leipzig 1885, VII. 8 E. H. Carr schreibt in seinem einflussreichem Werk What is History?, Maryborough, Victoria, 1987, 9, Folgendes: „Three generations of German, British, and even French historians marched into battle intoning the magic words (sic!) like an incantation - designed, like most incantations, to save them from the tiresome obligation to think for themselves.“ 6 7
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In seiner Forschung sollte der Kirchenhistoriker eine respektvolle Haltung gegenüber der Vergangenheit haben. Ich merke besonders bei Kirchenhistorikern ohne kirchliche Zugehörigkeit, wie „weltlich“ und nach ihren religionslosen Massstäben sie die Taten von Kirchenvätern oder anderen christlichen Führungspersönlichkeiten analysieren und kritisieren. Der Kirchenhistoriker sollte oder müsste sogar kritisch gegenüber der kirchlichen Vergangenheit sein, aber nicht superkritisch. Eine Aufgabe der Kirchengeschichte ist es - ganz auf der Linie von Euseb von Caesarea -, uns exempla9 der Vergangenheit vorzustellen, natürlich ohne jede Einbuße an historischer Wahrheit. Zweitens ist es auch die Aufgabe der Kirchengeschichte, als unauflösbarer Teil der Theologie wissenschaftliche Unterstützung für die anderen Fächer der Theologie zu liefern. Jedes Fach der Theologie sollte davon profitieren, sowie auch das Fach Kirchengeschichte von der wissenschaftlichen Unterstützung durch andere theologische Fächer einen Nutzen haben sollte. Für die orthodoxe Theologie ist aber besonders wichtig, dass die Beziehungen zwischen Kirchengeschichte und Eschatologie weiter reflektiert werden. Johannes Zizioulas, einer der bekanntesten orthodoxen Theologen unserer Zeit, schrieb: „The Church’s being does not come from within history in which the Church presently exists, but from which is to be revealed. The real identity of the Church is the community of the future, so the structure of the Church must reveal the eschaton out of which the Church comes. The third10 basic ecclesiological principle is that in history the Church is an image of the kingdom of God, created by the kingdom itself. It portrays the kingdom that prevails against all other kingdoms. Because it represents God’s judgment of history, the Church holds out against the current of history itself.“11
Die Kirche ist also eine historische Realität, sie ist aber nicht auf diese Realität begrenzt. Übersetzt in kirchengeschichtliche Überlegungen bedeutet das, dass die Kirche historisch, aber nicht historistisch betrachtet werden soll, und dass die Geschichte der Kirche eine Verbindung mit dem Eschaton hat oder haben muss, weil die Kirche Objekt beider Sphären ist. Die Kirchengeschichte erfüllt sich im Eschaton: „However, the eschaton means the end of all separate, disconnected times, the reconnection and reconciliation of our separate histories and the arrival of their future and fulfillment. All the continuity of our histories comes from outside them, from the end times, so there cannot be any final reckoning of our history apart from the eschaton which gives it its coherence and future.“12
9 Ch. Markschies, Eusebius als Schrisftsteller. Beobachtungen zum sechsten Buch der Kirchengeschichte, in: A. M. Castagno (Hg.), La biografia di Origene fra Storia e Agiografia. Atti del VI Convegno di Studi del Gruppo italiano di ricerca su Origene de la tradizione Alessandrina (Torino, 11-13 Settembre, 2002), Villa Verrucchio (Rimini) 2005, 42-43. 10 Die anderen zwei von Zizioulas erwähnten Prinzipien der orthodoxen Ekklesiologie sind: 1) die Kirche ist das Mysterium von Gottes Umgang mit den Menschen; 2) die Kirche steigt zum Reich Gottes hinauf. 11 J. D. Zizioulas, Lectures in Christian Dogmatics, London/New York 2008, 139f. 12 A.a.O., 155.
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Drittens ist es eine wichtige Aufgabe für den Kirchenhistoriker, sich auch mit den historischen Ereignissen seiner Zeit zu beschäftigen und die Herausforderungen für seine Kirche zu beurteilen und zu kommentieren. Ich bin also der festen Überzeugung, dass ein Kirchenhistoriker sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit dem Gegenwart und in gewisser Weise auch mit der Zukunft beschäftigen sollte. Diese vielfältige Beschäftigung ist wichtig aus vielen Perspektiven. Zuerst, was die Gegenwart angeht, ist der Historiker verpflichtet, sie objektiv und kritisch zu behandeln, und zwar im Blick auf das Beste der Kirche. Die Kirchenhistoriker verfügen über die Instrumente, die dafür nötig sind, die Gegenwart im Licht der Vergangenheit und im Blick auf die Zukunft wahrzunehmen. Die Kirchenhistoriker sollten auch über die Ereignisse ihrer Zeit schreiben und damit nötige Informationen an die nächsten Generationen von Historikern liefern. Wir sehen in unserer historischen Forschung, wie wichtig es ist, Zeugen der Zeit, über die wir schreiben, zu haben. Und nicht zuletzt läge die Beschäftigung mit der Gegenwart ganz auf der Linie einiger Kirchenhistoriker der patristischen Periode wie z. B. Euseb von Caesarea.13 Ein erfahrener Kirchenhistoriker könnte sich auch mit der Zukunft der Kirche beschäftigen. Ich sage dies nicht in dem Sinne, dass er die Zukunft vorhersagen könnte oder sollte, sondern dass er auf der Basis der historischen Erfahrung und der guten Kenntnis der Gegenwart in der Lage ist, die möglichen Szenarien für die Zukunft zu skizzieren. Deswegen ist es eine der Aufgaben des Kirchenhistorikers, auch auf die Zukunft der Kirche hin zu reflektieren und seine Meinungen in aller Bescheidenheit der Kirche zur Verfügung zu stellen.
3. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Zukunftsperspektiven Im Rahmen dieses Aufsatzes kann ich nur zwei für mich besonders wichtige Zukunftsperspektiven der Kirchengeschichte erwähnen und verdeutlichen. Es sind die Entkonfessionalisierung der Kirchengeschichte als Wissenschaft und die Förderung der ökumenischen Kirchengeschichte. Es gibt eine starke innere Verbindung zwischen beiden Aspekten. Das zweite Prinzip ist vom ersten abhängig: Keine ökumenische Betrachtung der Kirchengeschichte ist möglich, solange das konfessionalistische (nicht konfessionelle!) Vorgehen nicht aufgegeben wird.
1) Entkonfessionalisierung der Kirchengeschichte als Wissenschaft Ich will mich hier nicht über die Geschichtsschreibung anderer christlicher Konfessionen äußern. Ich nehme mir aber die Freiheit, die orthodoxe kirchengeschichtliche
13 Es ist aber auch wahr, dass andere Kirchenhistoriker wie Theodoret von Cyros bewusst darauf verzichtet haben, über ihre eigene Gegenwart zu schreiben. Die Erklärung dafür ist, dass sie nicht wollten, dass ihre Objektivität unter Verdacht gerät.
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Arbeit zu beurteilen, und sage, dass sie immer noch relativ stark von der konfessionellen Prägung beeinflusst ist. Die orthodoxe Geschichtsschreibung hat sich lange Zeit über die römisch-katholische Kirche aus protestantischen Quellen informiert und über die Kirchen der Reformation aus römisch-katholischen Quellen aus der Zeit des Konfessionalismus. Das gilt nicht nur für die Lehre, sondern auch für die Geschichte. Von daher kann man erklären, warum bei orthodoxen Kirchenhistorikern sowohl antikatholische als auch antireformatorische Aussagen begegnen. Das Ergebnis war ja, dass unsere Historiographie nicht objektive, sondern falsche und inaktuelle Äußerungen über diese beiden großen christlichen Traditionen enthielt. Das hatte innerhalb der orthodoxen Tradition negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung anderer christlicher Konfessionen. Dieser falsche Umgang mit den Quellen wurde auch durch den Mangel an aktueller Literatur begünstigt. Wegen der Isolation, in der die orthodoxen Kirchen lange Zeit gelebt haben, ist unsere Historiographie nicht auf dem neuesten Stand. Deshalb ist es die Aufgabe der jüngeren Generation von orthodoxen Kirchenhistorikern, die konfessionelle Prägung ihrer kirchengeschichtlichen Forschungsbemühungen beiseite zu lassen und die Historiographie permanent zu aktualisieren. Wir können und dürfen nicht mehr die typischen Vorurteile über die anderen Konfessionen, die in der Zeit des Konfessionalismus, aber auch später formuliert worden sind, propagieren. Es ist mir bewusst, dass dies schwierige und langsame Prozesse sind. Der Erfolg der Entkonfessionalisierung hängt von vielen Elementen ab. Er wird nicht möglich sein ohne die Mithilfe der Kirchenhistoriker anderer Konfessionen. Dieser Prozess kann nicht unilateral durchgeführt werden. Es wäre für mich als orthodoxen Kirchenhistoriker viel einfacher, die konfessionalistische Haltung aufzugeben, wenn ich sähe, dass die Kollegen anderer Konfessionen ihrerseits dazu ebenfalls bereit wären. Mit anderen Worten, ich würde mich ermutigt fühlen, die alten Vorurteile über die Reformation aufzugeben, wenn ich sehen würde, dass z. B. die von Adolf von Harnack in „Das Wesen des Christentums“ geäußerten unhaltbaren Aussagen über orthodoxes Christentum nicht weiter tradiert würden.14 Das gegenseitige Aufgeben von Stereotypen verlangt einen permanenten Dialog zwischen Kirchenhistorikern verschiedener Konfessionen. Entkonfessionalisierung bedeutet aber nicht Meinungsgleichheit, denn sie ist nicht möglich (und auch nicht erwünscht!), nicht einmal unter Kirchenhistorikern derselben Konfession. Sie bedeutet auch nicht, dass eine konfessionelle Meinung über ein historisches Ereignis unmöglich wäre. Die historische Forschung über die Reformation, die mit Blick auf das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 durchgeführt wird, zeigt schon jetzt deutlich, dass konfessionelle Meinungsunterschiede existieren. So unterscheiden sich z. B. die römisch-katholische und die orthodoxe Sichtweise deutlich von der protestantischen. Das ist legitim und spricht nicht gegen das Prinzip der Entkonfessionalisierung. Es 14 Ich meine die schweren Vorwürfe, die A. von Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1900 u.ö., gegenüber der Orthodoxie gemacht hat.
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ist aber wichtig, dass die verschiedenen Meinungen mindestens im Blick behalten werden und dass man versucht, sie nachzuvollziehen. Alleine schon die Globalisierung und die Migration von Menschen verschiedener Konfessionen verlangen eine universale Behandlung der Kirchengeschichte sowie die Entkonfessionalisierung der Kirchengeschichte. Als Christ, der dem Gebot der Nächstenliebe zu folgen versucht, und dazu als Kirchenhistoriker, der die historische Wahrheit finden und bewahren muss, kann ich nicht überkommene Vorurteile über meine Brüder und Schwestern, die in meiner Nachbarschaft oder in der Nachbarschaft meiner Glaubensgenossen leben, weiter propagieren.
2) „Ökumenische Kirchengeschichte“ fördern Ein relativ neues Konzept innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung ist die „ökumenische Kirchengeschichte“. Es ist nicht ganz klar, was man darunter versteht15, deswegen folgen einige Erklärungsversuche. Eine Möglichkeit wäre, erste Initiativen zur ökumenischen Kirchengeschichtsbetrachtung zu analysieren, wie z. B. die von Raymund Kottje und Bernd Moeller.16 Den beiden Autoren und Herausgebern der dreibändigen „Ökumenischen Kirchengeschichte“, die mehrere Auflagen erlebt hat und inzwischen in einer völligen Neuausgabe existiert, ist vollkommen bewusst, dass es sich „um ein neuartiges Unternehmen handelt“. Sie definieren ihre Initiative als „Versuch, Historiker und Theologen der großen christlichen Konfessionen zu einer gemeinschaftlichen Darstellung der Kirchengeschichte“ zusammenzubringen. Diese Initiative kommt, nachdem jahrhundertelang „die kirchenhistorische Wissenschaft … eines der Hauptkampfmittel in der innerchristlichen Auseinandersetzung gewesen“ ist. Die Bemühungen „zu gegenseitigem Verstehen“ haben auch Einfluss auf „die Betrachtung der Kirchengeschichte.“ Die Herausgeber bringen dabei folgende Hoffnung zum Ausdruck: „Heute dürfte die Zeit zu einer Bestandsaufnahme reif sein, zu dem Versuch, zu ermitteln und in Erscheinung treten zu lassen, inwieweit die Wissenschaft von der Kirchengeschichte in den verschiedenen Lagern ein zusammenhängendes Bild ihres Gegenstandes besitzt.“17
P. Schrodt (wie Anm. 3) schreibt, dass „das Konzept der nicht unbedingt deutlich ist“. A. Chih in seiner Rezension, JES 21 (1984) 335, über das Buch von P. Meinhold, Kirchengeschichte in Schwerpunkten. Ein ökumenischer Versuch, Graz/Wien/Köln 1982, merkt an, dass der Untertitel „Ein ökumenischer Versuch“ „einen Versuch, die ganze Kirchengeschichte durch einen ökumenischen Gesichtspunkt zu interpretieren, suggeriert, aber“ - so fragt er weiter - „in welchem Sinne kann Ökumene auf die ganze Periode vor der Reformation angewendet werden?“ Deswegen glaubt er, dass die Kapitel von Meinholds Buch, die sich mit Schwerpunkten aus der Periode nach der Aufklärung beschäftigen, auch die wichtigsten sind, weil es in dieser Periode „ein wahres ökumenisches Element zu diskutieren gibt“. Am Ende der Rezension nennt Chih das Buch von Meinhold „a nonsectarian approach to the Christian past“. 16 R. Kottje/B. Moeller, Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. I, Mainz/München 1970, V-VII. 17 Ebd., V. 15
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Sie sind aber zugleich sehr realistisch, wenn sie sagen, dass sie einerseits versuchen, „sich von dem gegenwärtig verbreiteten ökumenischen Illusionismus freizuhalten“, und andererseits von ihrem Werk „eine Lösung des Streites der Christenheit“ nicht zu erwarten ist, denn „nur ein besseres Verstehen, nicht die Beseitigung der Aporien kann die Historie leisten“. Auch wurden die Autoren nicht „nach der Masse ihres ökumenischen Enthusiasmus, sondern nach wissenschaftlichen Kriterien“ ausgewählt. Das dreibändige Werk ist folgendermaßen aufgebaut: Für die Abschnitte I-II und V-X wurde die Verantwortung auf jeweils zwei Verfasser, einen evangelischen und einen römisch-katholischen, übertragen. Jeder hat separat verschiedene Kapitel verfasst. Es wurde aber verabredet, „dass dort, wo die Verfasser von ihrem konfessionellen Standpunkt her sich über eine Passage nicht einigen können, die abweichende Meinung des Mit-Autors in einer Anmerkung im Kursivdruck und mit den Initialen seines Namens festgehalten wird.“ Eine Ausnahme bildet Abschnitt IV über die Geschichte der orthodoxen Kirche, der von einem orthodoxen Kirchenhistoriker verfasst, aber von einem evangelischen und einem katholischen Gelehrten „durchgesehen“ wurde. Die zweite Ausnahme ist der letzte Abschnitt über die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts, zu dem drei Verfasser beigetragen haben. Das heißt, dass mit den schon erwähnten Ausnahmen jedes Kapitel dieser ökumenischen Kirchengeschichte von einem Autor verfasst und später von einem anderen Autor gelesen wurde, der ergänzend eine eventuell abweichende Sichtweise vortragen konnte. Also besteht, laut Vorwort der Herausgeber, die Methode dieser ökumenischen Kirchengeschichte darin, dass nach Möglichkeit jeder über seine Konfession oder über die Periode schreibt, in der der Autor spezialisiert ist. Nachher liest seinen Entwurf ein Kollege, der zu einer anderen Konfession gehört, und kommentiert ihn. Man muss zugeben, dass dieses Modell einen wichtigen Schritt voran bedeutet.18 Ich möchte aber auch beschreiben, was die ökumenische Kirchengeschichte nicht sein sollte. Sie sollte nicht die sensiblen und umstrittenen Themen der Kirchengeschichte wie z. B. die Inquisition oder andere Arten von Christenverfolgung durch Mit-Christen verschweigen oder ausschließen. Was in der Geschichte geschah, muss so wiedergegeben werden, „wie es eigentlich gewesen“ ist, um noch einmal die berühmte Aussage Leopold von Rankes zu zitieren. Ökumenische Kirchengeschichte bedeutet auch nicht, dass einige Ereignisse der Kirchengeschichte ausschließlich oder vorwiegend in der Perspektive der heutigen ökumenischen Bemühungen betrachtet oder widerlegt werden sollten. Die Sehnsucht nach christlicher Einheit ist fast so alt wie das Christentum, aber leider hatten viele kirchengeschichtliche Ereignisse diese Sehnsucht nicht im Blick. Ökumenische Kirchengeschichte bedeutet nicht das Verbergen der sensiblen Themen unserer Vergangenheit oder eine billige Propaganda für die Einheit des Christentums, die auf einer Fehlinterpretation einiger kirchenhistorischer Ereignisse 18 Vgl. auch die Beiträge in: B. Jaspert (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte. Probleme, Visionen, Methoden, Paderborn/Frankfurt a. M. 1998.
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basiert, oder die Gewährung auch nur des geringsten Rabatts auf historische Objektivität. Ich kann der Meinung von Paul Schrodt zustimmen: „In summary one must say that an ecumenical history of the church is a step in the right direction. What has been practiced in biblical studies for a generation – ‚ecumenism‘ in the employment of the work of scholars from other confessions – is still only in a developing stage in general church histories. Yet inasmuch as responsible ecumenism is characterized by the unprejudiced pursuit of the truth, each confession must begin to see itself and its place in history as others see it.“19
Auf jeden Fall muss man Initiativen wie das Verfassen einer ökumenischen Kirchengeschichte der Schweiz20 herzlich begrüßen. Sie zeigen, dass ökumenische Kirchengeschichte, mindestens auf nationaler Ebene, in einigen Ländern möglich ist.21 „…Es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluss der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt.“22
Dazu gehört sicherlich auch die Kirchengeschichte. Um die „ewige Jugendlichkeit“ unserer geliebten Disziplin im orthodoxen Umfeld zu sichern, sollte die neue Generation der orthodoxen Kirchenhistoriker, die in überwiegender Mehrheit in Westeuropa studiert hat, ihren Enthusiasmus auf das Studium der historischen Quellen in den Originalsprachen mit den neuesten Methoden der historischen Forschung konzentrieren, um wertvolle Einführungen in das Studium der Kirchengeschichte sowie kirchengeschichtliche Abhandlungen zu produzieren, sodass sowohl unsere orthodoxe Tradition besser bekannt wird als auch andere kirchliche Traditionen abgesehen von ihren konfessionellen Eigenheiten objektiv und sine ira et studio präsentiert werden.
Schrodt (wie Anm. 3), 340. L. Vischer/L. Schenker/R. Dellsperger (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Fribourg/Basel 1994. 21 Siehe z. B. die Beschreibung eines ähnlichen Experimentes aus Indien in: H. S. Wilson, Die Indische Vereinigung für Kirchengeschichte. Ein ökumenisches Experiment, ThZ 38 (1982) 418-432. Zum Stand der Diskussion am Ende des 20. Jahrhunderts s. B. Jaspert, Ökumenische Kirchengeschichtsschreibung (1997), in: ders., Theologie und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3 (EHS.T 671), Frankfurt a. M. 1999, 107-168 (mit bemerkenswerten „Thesen zur Hermeneutik einer ökumenischen Kirchengeschichtsschreibung“, 156-166). 22 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, 206. 19 20
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Mariano Delgado
Kirchengeschichte in schweren Zeiten Teresa von Avila war sich dessen bewusst, dass sie in „schweren Zeiten“ lebte.1 Es war die Epoche, in der sich jene konfessionellen Identitäten herausbildeten, die die religiös-kulturelle Tiefengeschichte Europas bis in die Gegenwart hinein geprägt haben; eine Zeit, in der man zwischen dem protestantischen und dem katholischen Christsein wählen musste, keine Zeit für Kompromisse und Mittelwege also. Darauf reagierte man u. a. mit einer „Konfessionalisierung“ der Kirchengeschichte. Sowohl in den „Magdeburger Centurien“ (1559-1574) des Protestanten Matthias Flacius als auch in den „Annales Ecclesiastici“ (1588-1607) des Katholiken Cesare Baronio ging es um die historische Begründung des Anspruchs der jeweiligen Konfession, die wahre Kirche Christi zu sein. Wir leben heute in der ersten ökumenischen Epoche der Kirchengeschichte, aber auch in „schweren Zeiten“. Der ökumenische Geist, die religiöse Pluralisierung, die Einswerdung der Welt, der Abschied vom konstantinischen Zeitalter, die historischkritische Methode und die damit verbundenen Anfragen an eine Kirchengeschichte, die sich der interdisziplinären wissenschaftlichen Durchleuchtung der Vergangenheit stellen muss, haben den „Sitz im Leben“ der Kirchengeschichtsschreibung bedeutend verändert. Und wir haben erst angefangen, diesen Veränderungen Rechnung zu tragen.
1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte2 Goethe (Sprüche Nr. 176) brachte um 1800 das Unbehagen der Gebildeten mit der Kirchengeschichte spöttisch zur Sprache: „Sag’, was enthält die Kirchengeschichte? Sie wird mir in Gedanken zunichte; Es gibt unendlich viel zu lesen, Was ist dann aber das alles gewesen? Zwei Gegner sind es, die sich boxen, Die Arianer und die Orthodoxen. 1 Teresa von Avila, Gesammelte Werke. Vollständige Neuübertragung, hg., übers. und eingel. v. U. Dobhan/E. Peeters, Bd. 1: Das Buch meines Lebens, Freiburg i. Br. 32004, 488 (V 33,5). Näheres dazu in: M. Delgado, Mystik in harten Zeiten. Zum historischen Kontext der Mystik von Teresa de Ávila und Juan de la Cruz, ZKG 111 (2000) 56-69. 2 Vgl. dazu M. Delgado, Auf dem Weg zu einer fundamentaltheologischen Kirchengeschichte, in: A. R. Batlogg/M. Delgado/R. A. Siebenrock (Hg.), Was den Glauben in Bewegung bringt. Fundamentaltheologie in der Spur Jesu Christi. Festschrift für Karl H. Neufeld SJ, Freiburg i. Br. 2004, 338-350; ders., Vom Nutzen der Kirchengeschichte für die Aufgaben der Gegenwart, Bulletin ET. Zeitschrift für Theologie in Europa 15 (2004) 250-256.
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Durch viele Säkla dasselbe Geschicht, Es dauert bis an das Jüngste Gericht.“ Und er fügte hinzu (Sprüche Nr. 178): „Es ist die ganze Kirchengeschichte Mischmasch von Irrtum und von Gewalt.“ Auf Goethes Kritik folgte aber nicht der Niedergang der Kirchengeschichte als theologische Disziplin, sondern eher ihr „goldenes Jahrhundert“. Im Schatten der historischen Methode avancierte die Kirchengeschichte im 19. Jahrhundert zum „Wetterwinkel“ der Theologie. Es genügt hier, daran zu erinnern, dass Johann Adam Möhler und Ignaz von Döllinger, um nur zwei paradigmatische Gestalten zu nennen, „Kirchenhistoriker“ waren. Das „historische Auge“ der Theologie wurde damals zur Grundlage des spekulativen - und nicht umgekehrt. Das kann heute so nicht gesagt werden. Ein bedeutender Kirchenhistoriker hat geschrieben, dass die Kirchengeschichte im Allgemeinen nicht zu den Disziplinen zählt, „von denen man neue Impulse für die Theologie erwartet; man hat im ganzen den Eindruck, daß im Gespräch der theologischen Disziplinen die Kirchenhistorie und die Kirchenhistoriker nicht sehr präsent sind“3. Die Gründe, die Klaus Schatz zu dieser Diagnose veranlassten, sind vielfach noch gültig. Der Rückzug auf kirchen- und theologiehistorische Arbeiten nach der Modernismuskrise wurde zumeist, jedenfalls im deutschen Sprachraum, „mit theologischer Enthaltsamkeit, bzw. theologischer Irrelevanz erkauft“. Die neuscholastisch geprägten theologischen Studienordnungen privilegierten die systematischen Disziplinen und reduzierten die Kirchengeschichte quasi zur Hilfswissenschaft. Mit dem Durchbruch des geschichtlichen Denkens ist zudem „die historische Dimension der Theologie und das Denken in geschichtlichen Kategorien zum selbstverständlichen Allgemeinbesitz aller theologischen Disziplinen geworden“4. Viele Systematiker haben sich kirchen- oder theologiehistorischen Themen zielstrebig gewidmet und so einige der interessantesten theologischen Arbeiten des 20. Jahrhunderts verfasst. Es sei etwa an die großen Gestalten der französischen Theologie erinnert wie Yves Congar, Marie-Dominique Chenu, Jean Daniélou und Henri de Lubac, die Karl Rahner als Beispiele einer prospektiven historischen Theologie bezeichnete.5 Nicht zuletzt deutet die mangelnde Relevanz der Kirchengeschichte „auf ein ungelöstes wissenschaftstheoretisches Problem hin: nämlich das Selbstverständnis von Kirchengeschichte im Berührungsfeld von Theologie und Geschichte“6. K. Schatz, Ist Kirchengeschichte Theologie?, ThPh 55 (1980) 481-513, hier: 481. Ebd. 5 Vgl. K. Rahner, Die Herausforderung der Theologie durch das Zweite Vatikanische Konzil, in: ders., Schriften zur Theologie 8, Einsiedeln 1967, 13-42, hier: 20. 6 Schatz, Ist Kirchengeschichte Theologie? (wie Anm. 3), 482. Zur theologischen Enthaltsamkeit der deutschsprachigen Kirchengeschichte vgl. H. Wolf, Der Historiker ist kein Prophet. Zur theologischen (Selbst-)Marginalisierung der katholischen deutschen Kirchengeschichtsschreibung zwischen 1870 und 3 4
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Der Durchbruch des geschichtlichen Denkens konnte die Marginalisierung - zuweilen auch Selbstmarginalisierung - der Kirchengeschichte an den katholisch-theologischen Fakultäten nicht aufhalten. Während in der evangelischen Theologie die Kirchengeschichte als die Disziplin gilt, die wie keine andere „das Ganze der Theologie“ umgreift7, und von den Theologen gewöhnlich noch am ehesten der „Kirchenhistoriker“ allgemeine wissenschaftliche Reputation genießt8, vermochte sich die katholische Kirchengeschichte nie als Leitwissenschaft in Theologie, Universität und Gesellschaft zu etablieren.9 An vielen Fakultäten muss sie heute hart um ihren Platz in den verschiedenen Curricula kämpfen, und nicht selten werden die herkömmlichen zwei Professuren für Kirchengeschichte (eine für die Alte Kirchengeschichte einschließlich der Patristik, eine andere für die Mittlere und Neuere Kirchengeschichte) auf eine einzige reduziert. Die wissenschaftstheoretische Diskussion um den epistemologischen Status der Kirchengeschichte, die in den letzten Jahrzehnten intensiv stattfand10, hat zu folgendem Ergebnis geführt: Der Charakter der Kirchengeschichte als „historischer Wissenschaft“, die auf die gewissenhafte Anwendung der Hermeneutik und Methodik der allgemeinen Geschichtswissenschaft angewiesen ist, wird nicht bestritten. Gebundenheit an Quellen, Objektivität nach dem hermeneutischen Zirkel von Subjekt und Objekt, Vorverständnis und Text (Hans-Georg Gadamer), genetisch-kontextuelle Erklärung der Ereignisse, Anwendung des gesunden Menschenverstandes nach den Grundsätzen der Kritik, Analogie und Korrelation und schließlich dialektische Verschränkung der Hermeneutik des Verdachts mit der Hermeneutik der Sinnrettung (Paul Ricœur) - das alles ist in der Kirchengeschichte selbstverständlich geworden. Umstritten ist nur ihr theologischer Charakter: Es fehlt eine allgemein akzeptierte Grundlegung ihres Platzes im Ganzen der Theologie. Nimmt man aber das hermeneutische Programm „Erinnern und Versöhnen“ ernst, mit dem sich die katholische Kirche im Schatten des Jahres 2000 den Verfehlungen in ihrer Vergangenheit gestellt hat, dann bräuchten wir im Theologiestudium nicht weniger, sondern mehr Kirchengeschichte - sofern diese dabei zwei Extreme vermeidet, nämlich eine Apologetik, die alle Schattenseiten und alles Versagen herunterspielt oder leugnet, und eine fundamentalistische Kritik nach Art einer Kriminalgeschichte, der es um den Aufweis
1960, in: ders. (Hg.), Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870-1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug (Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums 3), Paderborn 1999, 7193. 7 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 394. 8 Vgl. G. Ebeling, Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1975, 69. 9 Vgl. U. Ruh, Vom Nutzen der Historie. Situation und Trends der kirchengeschichtlichen Forschung, HerKorr 58 (2004) 354-357, hier: 354 (Ruh bezieht sich dabei auf eine Aussage des Kirchenhistorikers H. Wolf bei einer Tagung in Tübingen zu Pfingsten 2004). 10 Vgl. eine Übersicht des Diskussionsstandes in: Delgado, Auf dem Weg zu einer fundamentaltheologischen Kirchengeschichte (wie Anm. 2).
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geht, dass die Kirche nicht von Gott kommen kann und dass sie im innersten Wesen korrumpiert sei, wenn man sie an ihren Idealen misst.11 Gefragt ist heute, nicht zuletzt auch im Sinne Yves Congars12, eine Kirchengeschichte, die die Geschichte im Allgemeinen und die Geschichte von Kirche und Christentum im Besonderen als locus theologicus betrachtet, also eine „fundamentaltheologisch“ geprägte Kirchengeschichte, wie ich anderswo postuliert habe.13 Auch andere Autoren tendieren - explizit oder implizit - zu einer solchen Kirchengeschichte. Dazu gehört etwa Norbert Brox, für den die Kirchengeschichte als Forschung und Fachbereich theologisch nicht nur uninteressant, sondern letztlich gegenstandslos bleibt, „wenn es ihr Sinn ist, in die Dienste eines dogmatischen Kirchenbegriffs zu treten, welcher so konzipiert ist, daß er die Geschichte der Kirche praktisch ‚nach vorn’ und ‚nach hinten’ schon determiniert“14. In einer späteren Arbeit aus dem Jahr 1979 hat Brox anhand der Kategorien „Denkform“ und „Denkrahmen“ seine fundamentaltheologische Kirchengeschichte skizziert. Während die Denkformen in den konkreten wissenschaftlichen Arbeiten beim Kirchengeschichtler keine anderen sein können als bei jedem anderen Historiker, sieht er im jeweiligen Denkrahmen oder „Meta-Rahmen“ den entscheidenden Unterschied. Vor dem Hintergrund, dass ein qualifizierender Denkrahmen wissenschaftstheoretisch nur diskutierbar ist, wenn er „von den Fakten her kontrollierbar bleibt [...], wenn er also vor dem Veto-Recht der Fakten bestehen kann“, unterzieht Brox die wichtigsten theologisch-systematischen Denkrahmen für die Kirchengeschichte einer Prüfung. Weder der heilsgeschichtliche Rahmen von Adolf Darlap (oder Hubert Jedin) noch der universalgeschichtliche von Wolfhart Pannenberg (beide Ansätze sind ja stark geschichtstheologisch und so auch dogmatisch geprägt) bestehen diese Prüfung, sondern lediglich, und mit Vorbehalt, der fundamentaltheologische von Johann Baptist Metz. Dieser versteht Geschichte vorwiegend „als erinnerte Leidensgeschichte, darin ‚gefährlich’ herausfordernde, ideologie-kritische Erinnerung um des Streits um die Zukunft willen; ein Antiwissen ex memoria passionis als negatives Bewußtsein von künftiger Freiheit; und innerhalb dieser memoria als christliches Entscheidendes die christliche Erinnerung an passio et resurrectio Jesu Christi, also Erinnerung eines bestimmten Leidens, der bezüglich der Zukunft entscheidend mehr zugetraut wird.“ Hier scheint sich für Brox die „mögliche Vermittlung in eine Wissenschaftstheorie der Kirchengeschichte“ eher abzuzeichnen, „weil die Konzeption auf direkt kommunikativen Aussagen beruht (vor allem: passio und compassio), und weil sie das VetoRecht der Fakten (sc. der Leidensfakten) eher übersteht als andere (die christliche Hoffnung in und trotz der Geschichte wird hier dezidiert kontrafaktisch verstanden,
11 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit. Ins Deutsche übertr. und hg. v. G. L. Müller, Einsiedeln/Freiburg i. Br. 22000, 10, 70. 12 Vgl. Y. Congar, Die Geschichte der Kirche als „locus theologicus“, Conc(D) 6 (1970) 496-501. 13 Vgl. Delgado, Auf dem Weg zu einer fundamentaltheologischen Kirchengeschichte (wie Anm. 2). 14 N. Brox, Kirchengeschichte als „Historische Theologie“, in: R. Kottje (Hg.), Kirchengeschichte heute. Geschichtswissenschaft oder Theologie?, Trier 1970, 49-74, hier: 72f, 50.
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was ja heißt: unter Bedacht der Fakten).“15 Brox gibt zwar zu bedenken, dass Metz’ Denkrahmen eher ein Postulat denn eine ausgereifte Konzeption darstellt und eine Sprache des Glaubens in solcher Form spricht, „daß von da aus die Integration der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin in die Wissenschaften schwer oder nicht gelingen kann“. Aber mit der Sympathie für diesen das Veto-Recht der Leidensfakten beachtenden Denkrahmen gibt Brox zu verstehen, dass der Kirchengeschichte eine fundamentaltheologische Aufgabe zukommt: die Durchleuchtung der kirchlichen Fehlentwicklungen in Wort und Tat. Auch Hans Reinhard Seeliger gibt dem fundamentaltheologischen Ansatz von Metz den Vorzug; er nimmt dabei von einem dogmatisch vorbestimmten credo ecclesiam als Formalobjekt der Kirchengeschichte Abschied. Kirchengeschichte heißt für ihn nicht deshalb Kirchengeschichte, weil sie von dem dogmatisch definierten Material- oder Formalobjekt Kirche ausgehen müsste, sondern „weil sie im Kommunikationszusammenhang der Kirche betrieben wird“ und weil sie angesichts der real erfahrenen Geschichte „der Kirche über sie selbst erzählt“16. Man hat kritisch angemerkt, dass Seeliger sich nicht die Frage nach den Kriterien zur Auswahl der erzählten Geschichten über die Kirche stelle17; auch bedenke er nicht, dass eine fundamentaltheologische Begründung des theologischen Charakters der Kirchengeschichte nicht unbedingt zur Preisgabe ihres theologischen Formalobjektes führen müsse. Im Gegenteil: Wenn Kirchengeschichte durch ihren innerkirchlichen Kommunikationszusammenhang konstituiert ist, so ergeben sich daraus ganz bestimmte theologische Fragen und Probleme, „die bei einem anderen Kommunikationspartner nicht interessierten“18. Mit anderen Worten: Auch eine narrativ-praktische Kirchengeschichtsschreibung bedarf eines theologischen Denkrahmens oder Formalobjektes, um der Kirche wirklich kirchenrelevante Geschichten über sie selbst erzählen zu können. In einem wichtigen Punkt wird man Seeliger dennoch zustimmen müssen: Dass die Kirchengeschichte zwischen einer „glaubensbegründenden Auffassung ihrer Arbeit und einer ‚subtilen Apologetik’“ stets schwanken muss, und dass sie sich „nicht durch ihre Topik (über die Kirche/n oder das Christentum als ihren Gegenstand; über diesen können auch andere schreiben), sondern ihre Tropik (die durch sie angezielte Affirmation bzw. Kritik, d. h. im Blick auf ihre Rezipienten)“ definiert.19 Eher implizit als explizit befürwortet auch Klaus Schatz eine fundamentaltheologische Kirchengeschichte. Das gesuchte Formalobjekt hat er als „Theologie des geschichtlichen Selbstvollzugs von Kirche“ umschrieben20, der am Evangelium N. Brox, Fragen zur „Denkform“ der Kirchengeschichtswissenschaft, ZKG 90 (1979) 1-21, hier: 18f. H. R. Seeliger, Kirchengeschichte - Geschichtstheologie - Geschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und Theologie der katholischen Kirchengeschichtsschreibung, Düsseldorf 1981, 235ff; ders., Apologetische und fundamentaltheologische Kirchengeschichtsschreibung, WiWei 44 (1981) 58-72, hier: 71. 17 Vgl. E. Iserloh, Kirchengeschichte - Eine theologische Wissenschaft, RQ 80 (1985) 5-30, hier: 30. 18 Rezension der Dissertation von Seeliger von K. Schatz, ThPh 57 (1982) 298. 19 H. R. Seeliger, Kirchengeschichte und historische Theologie - Neueste Problemanzeigen, Bulletin ET. Zeitschrift für Theologie in Europa 8 (1997) 126-128, hier: 127. 20 Schatz, Ist Kirchengeschichte Theologie? (wie Anm. 3), 507. 15 16
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bzw. am Normativen der Mitte der christlichen Botschaft gemessen werden sollte. So hätte die Kirchengeschichte als theologische Disziplin die Grundfrage zu beantworten: „Was ist an den geschichtlichen Erscheinungen der Kirche historische Konkretisierung des Evangeliums, und was ist objektiv als Verfälschung und als Abfall vom Evangelium anzusehen?“21 Dabei geht es Schatz nicht um ein „moralisches“ Betrachten der Vergangenheit im Lichte der Gegenwart, denn das wäre ja zutiefst ahistorisch; vielmehr ist das Herausstellen von Fehlentwicklungen immer nur in dem Maße berechtigt, „als in der damaligen geschichtlichen Situation Alternativmöglichkeiten aufgezeigt werden“22. Eine so verstandene Kirchengeschichte wird zum „unbequemen“ Gedächtnis der Kirche, das jede noch so sublime ekklesiologische Gnosis im Keime erstickt und ihr hilft, angesichts der Gefahren der Gegenwart ihrem Auftrag und dem Willen ihres Stifters treu zu bleiben, auf dass das Entscheidende des Christlichen in den jeweils neuen Antworten auf geschichtliche Herausforderungen zur Sprache kommt. Schatz ist davon überzeugt, dass dieser Ansatz keine Tabuisierung der Kirchengeschichte vornimmt, als wäre sie etwa ein für Theologen reservierter heiliger Raum, „der mit den schmutzigen Schuhen historischer Kritik oder gar sozio-ökonomischer Betrachtung nicht betreten werden dürfe“. Aber dem katholischen Kirchenhistoriker müsse doch das Recht auf eine „theologische“ Durchleuchtung der Kirchengeschichte eingeräumt werden, um „echte Diskontinuitäten, kirchliche Fehlentwicklungen, Verdunkelungen des Evangeliums und folgenschwere geschichtliche Versäumnisse herauszustellen“23. Auch Hubert Wolf plädiert m. E. für eine fundamentaltheologische Kirchengeschichte. Die wissenschaftstheoretische Identität der Disziplin könne ihr weder die Dogmatik noch die allgemeine Geschichtswissenschaft geben, sondern müsse vielmehr im Rahmen einer (fundamental-)theologischen Erkenntnislehre gesucht werden, „die Innen- und Außenperspektive zu verbinden sucht“24. Im Anschluss an Max Seckler sieht Wolf ein Beispiel hierfür in der Anwendung der loci-theologici-Lehre des Melchior Cano (1563) auf die Kirchengeschichte: „Die Geschichte selbst und andere ‚historische’ loci theologici sind theologisch relevante Bezeugungsinstanzen.“25 Um die Geschichte als locus theologicus zum Sprechen bringen zu können, bedarf die Kirchengeschichte einer fundamentaltheologischen Theorie, die den jeweiligen Quellen (Missions-, Konfessions-, Inquisitions-, Papst-, Konzilien- und Ordensgeschichte u. a.)
A.a.O., 509. A.a.O., 511. 23 Ebd. 24 H. Wolf, Zwischen Theologie und Geschichte - Zur Standortbestimmung des Faches Kirchengeschichte, ThRev 98 (2002) 379-386; vgl. auch ders., „Ein dogmatisches Kriterium der Kirchengeschichte“? Franz Xaver Funk (1840-1907) und Sebastian Merkle (1862-1945) in den Kontroversen um die Identität des Faches, in: R. Haas/K. J. Rivinius/H.-J. Scheidgen (Hg.), Im Gedächtnis der Kirche neu erwachen. Studien zur Geschichte des Christentums in Mittel- und Osteuropa. Festgabe für Gabriel Adriány zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2000, 714-732. 25 Wolf, Zwischen Theologie und Geschichte (wie Anm. 24), 383. 21 22
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angemessen ist; aber um voll und ganz Geschichtswissenschaft zu sein, kann sie diese nur mit spezifisch historischen Methoden befragen.26
2. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Aufgaben Gewiss, eine fundamentaltheologisch geprägte Kirchengeschichte, die die Geschichte im Allgemeinen und die der Kirche im Besonderen als locus theologicus betrachtet, muss noch schärfere Konturen erhalten. Sie birgt die Gefahr einer starken „Theologisierung“ der Kirchengeschichtsschreibung in sich, kann ihr aber ein eigenes Profil gegenüber der allgemeinen Geschichtswissenschaft verleihen. Die Hauptaufgaben einer solchen Kirchengeschichte ließen sich - ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgendermaßen skizzieren: 1. Kritische Durchleuchtung des Überlieferungsprozesses mit konstruktiver Kirchenkritik. Kirchengeschichte kann als die Disziplin verstanden werden, die im Bewusstsein des heutigen Glaubwürdigkeitsproblems der Kirche den christlichen Überlieferungsprozess in Wort und Tat (gesta et dicta) mit der historischen Methode untersucht und aus den Quellen und Fakten unter Berücksichtigung der sich wandelnden geschichtlichen Epochen und Kulturen die Treue oder Untreue der christlichen Akteure zum Evangelium zur Sprache bringt. Es geht dabei nicht nur um die Durchleuchtung des Überlieferungsprozesses im binnenkirchlichen Raum einschließlich der unterlegenen Minoritäten oder heterodoxen Tendenzen (Giuseppe Alberigo); es geht genauso auch um die Auseinandersetzung mit den anderen Weltanschauungen und Religionen nach dem Schema von „Berufung und Antwort“, sobald der christliche Überlieferungsprozess historisch mit ihnen in Berührung kommt (Gerhard Ebeling). Die Kirchengeschichte wird so ebenso wie die Fundamentaltheologie - zur „Grenzwissenschaft“, die die Innen- und Außenperspektive berücksichtigen sollte. Wie die Christen von den „anderen“ wahrgenommen wurden, ob sie glaubwürdig und vertrauenswürdig wirkten, ist ein wichtiger Faktor im Überlieferungsprozess. In diesem Sinne sollte es uns nachdenklich stimmen, dass in der Kirchengeschichte die fremden Zeugnisse oft vernichtet wurden und deren Sicht nur aus den christlichen Quellen rekonstruierbar ist (dies gilt vielfach für die Gnosis- und Donatistenforschung, aber auch für viele Felder der Missionsgeschichte, vor allem dort, wo es um die Zeugnisse fremder Religionen geht). Die sich mit dem Geschehenen beschäftigende Kirchengeschichte ist wie kaum eine andere theologische Disziplin paradoxerweise dazu geeignet, uns warnend daran zu erinnern, dass die Aufgabe, unsere christliche Identität im Wandel zu bewahren, immer vor uns liegt.27 Dies tut die Kirchengeschichte, indem sie uns immer neu zu Bewusstsein bringt, dass das Christentum seine Unschuld schon sehr früh verloren und den Herrn millionenfach (vgl. Mt 25,31-46) verraten hat, statt eine leidempVgl. a.a.O., 383f. Vgl. C. Colpe, Das Phänomen der nachchristlichen Religion in Mythos und Messianismus, NZSTh 9 (1967) 42-87, hier: 87.
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findliche Religion zu bleiben. Eine solche Kirchengeschichte hört auf das VetoRecht der Leidensgeschichte28 - auch und gerade wenn diese von den Christen verursacht wurde. Das Bewusstsein, dass die Kirche sich der inneren wie der äußeren Kirchenkritik stellen muss und die Fehlentwicklungen in Geschichte und Gegenwart kritisch durchleuchten sollte, ist in der jüngsten Vergangenheit gewachsen. Das II. Vatikanum scheint diese Aufgabe als Gebot der Stunde erkannt zu haben, wenn es in „Gaudium et spes“ 43 heißt: „Wie immer auch die Geschichte über all dies Versagen urteilen mag, wir selber dürfen dieses Versagen nicht vergessen, sondern müssen es unerbittlich bekämpfen, damit es der Verbreitung des Evangeliums nicht schade.“29 Und in „Gaudium et spes“ 44 gesteht die Kirche nicht nur, dass „sie selbst der Geschichte und Entwicklung der Menschheit“ viel verdankt, sondern auch, dass „selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger […] für sie sehr nützlich“ war und bleiben wird - womit auch der „äußeren“ Kirchenkritik ein legitimer Platz in der Kirchengeschichte zuerkannt wird. In den letzten Jahren fordert das katholische Lehramt bekanntlich eine „Reinigung des historischen Gedächtnisses“. Die verschiedenen Konfessionen werden aufgerufen, „ihre schmerzvolle Vergangenheit und jene Wunden, die diese leider auch heute noch immer hervorruft, gemeinsam neu“ zu bedenken.30 Zu den Verdiensten des Dokumentes „Erinnern und Versöhnen“ gehört, dass dieser Denkrahmen über seinen ursprünglichen „Sitz im Leben“ in der christlichen Ökumene hinaus auf andere Felder der Kirchengeschichte übertragen wurde, so u. a. auf die Inquisitionsforschung, auf die Geschichte der Kreuzzüge, auf die Missionsgeschichte sowie auf die Beziehungen zum Judentum und zu den anderen Religionen.31 Die Kirchengeschichte sollte dem schonungslosen Aufdecken der Fehlentwicklungen und dem Studium der Kirchenkritik besondere Aufmerksamkeit schenken, ja Theologen und Kirchenhistoriker sollten sich „in der Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Vollständigkeit“ ihrer Kritik „von keinem Gegner des Glaubens übertreffen lassen“32. Aber die Durchleuchtung der Fehlentwicklungen und die Kirchenkritik sind nicht als „chronique scandaleuse“ mit dem forensischen Blick eines Kriminalisten zu leis28 Vgl. J. B. Metz, Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt, StZ 210 (1992) 311320; vgl. auch W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser (Werkausgabe 2), Frankfurt a. M. 1974, 691-704, hier: 697f. 29 Im Apostolischen Schreiben Tertio Millennio adveniente vom 10. November 1994 (VApS 119), Bonn 1994, 29 (Nr. 33), betont Papst Johannes Paul II. dies mit Nachdruck: „Das Eingestehen des Versagens von gestern ist ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes, der uns dadurch unseren Glauben zu stärken hilft, dass er uns aufmerksam und bereit macht, uns mit den Versuchungen und Schwierigkeiten von heute auseinanderzusetzen.“ 30 So Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint vom 25. Mai 1995 (VApS 121), Bonn 1995, 6 (Nr. 2); als eine solche Reinigung des Gedächtnisses wird darin, 39 (Nr. 52) die gegenseitige Aufhebung der Exkommunikation durch Paul VI. und Athenagoras ausdrücklich bezeichnet. 31 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Erinnern und Versöhnen (wie Anm. 11), 80-96. 32 S. Wiedenhofer, Apologie der Kirche - Idealisierung der Kirchengeschichte?, in: H. R. Seeliger (Hg.), Kriminalisierung des Christentums? Karlheinz Deschners Kirchengeschichte auf dem Prüfstand, Freiburg i. Br. 1993, 97-112, hier: 111.
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ten, sondern mit der Haltung, die Yves Congar am Ende seiner Studie „Vraie et fausse réforme dans l'Église“ empfahl und uns bei den Mystikern begegnet: im Rahmen der Liebesordnung, die nicht idealisiert und blind macht, aber von einem sentire cum ecclesia geprägt ist.33 Mit gewissenhaften Forschungen zu belastenden Themen, die sich oft anders darstellen, wenn man den mühsamen Weg bis zu den wirklichen Fakten und den ursprünglichen Dokumenten zurückgeht, kann die Kirchengeschichte im christlichen Überlieferungsprozess zu einer wahren Katharsis führen, wie sie etwa Henri-Irénée Marrou der historischen Erkenntnis im Allgemeinen zuschreibt.34 Erst durch diese katharsische Funktion wird die Kirchengeschichte wirklich zu einem locus theologicus.35 Anders als Klaus Schatz, der dazu neigt, von Fehlentwicklungen erst dann zu sprechen, wenn ernsthafte Alternativmöglichkeiten vorhanden gewesen sein könnten, möchte ich dafür plädieren, dass wir von einer Fehlentwicklung immer dann reden sollten, wenn Christen als Akteure des Überlieferungsprozesses gegen den Grundsatz verstoßen haben, dass man nichts Böses tun soll, um Gutes zu erreichen, also wenn sie nach dem Prinzip, dass der Zweck die Mittel heiligt (vgl. Röm 3,8), gehandelt und so die Identität des Christentums verraten haben.36 Zur Analyse der Fehlentwicklungen gehört auch das Gespür für den verpassten Kairos, ohne in geschichtstheologische Spekulation abzugleiten. Über dem 16. Jahrhundert etwa, das die religiös-kulturelle Matrix unserer abendländischen Welt entscheidend geprägt hat, liegt eine kirchenhistorische Tragik: Als die westliche Christenheit die einmalige Chance bekam, die außereuropäische Welt zu evangelisieren37, war sie vor allem mit der binneneuropäischen Konfessionalisierung beschäftigt. Die Konfessionsvielfalt und -konkurrenz wurde in der außereuropäischen Welt vielfach nicht als Zeugnis, sondern als Ärgernis wahrgenommen. Solange wir als europäische Christen nicht wahrnehmen, dass damals nicht nur Martin Luther, sondern auch Bartolomé de Las Casas vor Karl V. stand, um für eine andere heilsgeschichtliche Hauptaufgabe jener Zeit zu werben (nämlich für die angemessene Evangelisierung und Förderung der neu entdeckten Völker), werden wir die Ausmaße dieses verpassten Kairos und die Folgen bis in die Gegenwart hinein nicht verstehen. 33 Y. Congar, Vraie et fausse réforme dans l’Église, Paris 1969, 511. Einer solchen Kirchenkritik bin ich in meinen eigenen Forschungen nachgegangen; vgl. M. Delgado/G. Fuchs (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, 3 Bde. (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 2-4), Fribourg/Stuttgart 2004-2005. 34 Vgl. H.-I. Marrou, De la connaissance historique, Paris 1954, 273. 35 Vgl. dazu auch Congar, Die Geschichte der Kirche als „locus theologicus“ (wie Anm. 12), 498. Nach Congar stehen wir in der Kirchengeschichte erst am Beginn dieser Katharsis, dieser Befreiung durch das geschichtliche Wissen zu einer erweiterten Wahrheitssicht. 36 Gerade dies hat ein Bartolomé de Las Casas im Schatten der Conquista und Evangelisation Lateinamerikas eingeklagt, vgl. B. de Las Casas, Werkauswahl, hg. v. M. Delgado, 4 Bde., Paderborn 1996; M. Delgado, Stein des Anstoßes. Bartolomé de Las Casas als Anwalt der Indios, St. Ottilien 2011. 37 „Niemals zuvor war einer anderen Religion die Möglichkeit zuteil geworden, auf einen so großen Teil der Menschheit Einfluß zu gewinnen“ - so Latourette’s Urteil über die „drei Jahrhunderte des Fortschritts“ in der Ausbreitung des europäischen Christentums zwischen 1500 und 1800; K. S. Latourette, Geschichte der Ausbreitung des Christentums, Göttingen 1956, 47.
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2. Prospektive Beschäftigung mit der Vergangenheit als memoria innovans. Eine solche Kirchengeschichte darf keine museale oder retrospektive Beschäftigung mit dem Überlieferungsprozess betreiben; sie muss vielmehr höchst prospektiv oder innovativ sein. Es geht ihr also um eine Art memoria innovans38, die den Weg in die Vergangenheit zurückgeht, um „vorwärts in eine neue Zukunft der Theologie und der Verkündigung zu kommen“39, wie Karl Rahner vorgeschlagen hat. Rahners Mahnung, dass auch die Kirchengeschichte der Verkündigung als der Hauptaufgabe der Theologie dienen sollte, muss von den Kirchenhistorikern beherzigt werden. Es kann in der Kirchengeschichte nicht darum gehen, in uferloser Neugierde Bücher über Fragen zu schreiben, „die niemanden als den Verfasser selbst interessieren“40. Vielmehr muss die Vergangenheit nach dem befragt werden, „was die Zukunft an Fragen auf Leben und Tod der Theologie aufgibt, auch wenn dann manche ‚quaestiones quodlibetales’ zweit- oder drittrangiger Theologen des Mittelalters unediert und unbesprochen bleiben“41. 3. Weltkirchliche und ökumenische Weite. Wir erleben zur Zeit das Paradoxon, dass das Zweite Vatikanische Konzil weitgehend als „der erste amtliche Selbstvollzug der Kirche als Weltkirche“42 verstanden wird, die Profangeschichte nationale Schranken überwindet und sich mit der Überseegeschichte immer stärker befasst, während die (katholische) Kirchengeschichtschreibung oft Lokalismen und Provinzialismen verhaftet bleibt. Die weltkirchliche Weite sollte nicht nur wegen des Konzils oder der quantitativen Verlagerung des Christentums in den außereuropäischen Raum ein Gebot der Stunde sein, sondern auch weil die katholische Kirche als ältester „Global player“ der Welt zu betrachten ist. Es kommt hinzu, dass viele europäische Ortskirchen, beispielsweise im deutschsprachigen Raum, unmittelbar vor und nach dem Konzil zahlreiche Hilfswerke gegründet haben, die der Förderung der außereuropäischen Kirchen und dem partnerschaftlichen Austausch dienen, jenem „Geben und Empfangen“ zur Bereicherung der Menschheit und der gesamten Kirche, von dem das Konzil spricht („Gaudium et spes“ 58). Die globale Ausbreitung des Christentums müsste daher zum kirchenhistorischen Lehrcurriculum an den theologischen Fakultäten gehören, und es wäre gut, wenn die Erforschung derselben sich im deutschen Sprachraum einer größeren Aufmerksamkeit erfreute.43 Ebenso geboten ist heute eine Kirchengeschichte in ökumenischer Weite, die jeden kontroverstheologischen Affekt hinter sich lässt, von der gemeinsamen Sorge 38 Vgl. W. Kern, Über die anthropologische Matrix des kirchlichen Traditionsprozesses, in: K. H. Neufeld/L. Ullrich, Probleme und Perspektiven dogmatischer Theologie, Leipzig 1986, 72-95, hier: 84. 39 Rahner, Die Herausforderung der Theologie durch das Zweite Vatikanische Konzil (wie Anm. 5), 20. 40 A.a.O., 21. 41 A.a.O., 20f. 42 K. Rahner, Theologische Grundinterpretation des II. Vatikanischen Konzils, in: ders., Schriften zur Theologie 14, Zürich 1980, 287-302, hier: 288f. 43 Vgl. dazu K. Koschorke/F. Ludwig/M. Delgado (Hg.), Außereuropäische Christentumsgeschichte. (Asien, Afrika, Lateinamerika) 1450-1990, Neukirchen-Vluyn 32010.
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um die Zukunft des Christentums in der heutigen Welt getragen ist und sich um die Ehrenrettung der Wahrheit und der Verdienste der anderen Konfessionen bemüht. 44 4. Konzentration auf besonders relevante Themen. Im Zusammenhang mit der hier vorgestellten Sicht der Kirchengeschichte, die den christlichen Überlieferungsprozess in der Dialektik von Treue und Untreue und in prospektiv-innovativer Absicht untersuchen sollte, wäre es wohl am besten, sich selektiv auf jene Gelenkstellen (Gerhard Ebeling), epochalen Übergänge (Bernhard Welte) oder Brennpunkte der Kirchengeschichte zu konzentrieren, in denen Probleme auftreten, die für den weiteren Weg der Kirche in Gegenwart und Zukunft wichtig sind. Einige Forschungsdesiderate seien hier festgehalten: - Heute wird die Vermittlung, die Übersetzung des Fremden in die Sprach- und Denkwelt der Antike nicht so sehr als Hellenisierung des Christentums, sondern als Paradigma eines gelungenen Inkulturationsprozesses betrachtet. Forschungen in diesem Bereich könnten also zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Aufgabe beitragen, denn nach dem Wegfall der „konstantinischen Bedingungen“ und der Säkularisierung der modernen Kultur steht das heutige Christentum vor ähnlichen Aufgaben wie in der Antike. - Die Untersuchung der Archaisierung mancher Aspekte des Christentums an der Wende zum Frühmittelalter sowie der nach und nach im Schatten der Evangelisation der verschiedenen Völker entstandenen Verschmelzung von Religion und Nation könnte zum besseren Verständnis der abendländischen Kultur(en) beitragen; auch könnte sie dazu verhelfen, der christlichen Religions- und Kulturgeschichte in den verschiedenen schulischen Curricula die angemessene Aufmerksamkeit zu verleihen. - Die Untersuchung der Verdienste, Grenzen und heutigen Nachwirkungen des Klerikalisierungsprozesses im 11., 12. und 13. Jahrhundert hätte nicht zuletzt Folgen für die heute so wichtige Laien- und Ämterfrage. - Die Untersuchung der Fehlentwicklungen aller Kirchen im Schatten der Kirchenspaltungen, Reformationen und Religionskriege könnte zu jener „Reinigung des historischen Gedächtnisses“ führen, die eine unentbehrliche Voraussetzung der intendierten Ökumene „in versöhnter Verschiedenheit“ ist. - Die Untersuchung der Fehlentwicklung in Feldern, die heute noch nachwirken, wie etwa die Frage der Kreuzzüge und des Antijudaismus oder die Verquickung von Christentum und Kolonialismus, könnte zur Sicherung des Friedens in der Welt beitragen. - Das Aufmerksam-Machen auf den Reichtum der Tradition - einschließlich der vergessenen, verdrängten oder abgebrochenen Traditionen „in Lehre, Leben und Kult“ („Dei Verbum“ 8) - könnte schließlich gegenüber den traditionalistischen wie modernistischen Verengungen der Tradition in den letzten zweihundert Jahren heilsam sein.
44 Als gelungenes Beispiel dafür vgl. L. Vischer/L. Schenker/R. Dellsperger (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Fribourg/Basel 1994.
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3. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Zukunftsperspektiven Nach dem Durchbruch des geschichtlichen Denkens in allen theologischen Disziplinen wäre die Erwartung gewiss vermessen, dass die Kirchengeschichte im 21. Jahrhundert wieder zum „Wetterwinkel“ der Theologie wird. Aber nach zweitausend Jahren Kirchengeschichte tut die angemahnte kritische Durchleuchtung derselben Not; denn die Verächter des Christentums unter den Gebildeten gewinnen ihre Argumente nicht zuletzt aus der Kirchengeschichte selbst.45 Einige Zukunftsperspektiven der Kirchengeschichte wurden bereits unter den Aufgaben erwähnt. Für mich persönlich ist es wichtig, dass bei all diesen Aufgaben die Kritik Friedrich Nietzsches am Historismus seiner Zeit bedacht wird. Für die Kirchengeschichte, wie ich sie verstehe und wissenschaftlich betreibe, gilt analog das, was Nietzsche in seinem Aufsatz „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ geschrieben hat: Die Kenntnis der Kirchengeschichte steht im Dienste der Gegenwart und Zukunft des Lebens von Kirche und Christentum. Die Kirchengeschichte darf das Christentum nicht „historisieren“ und es zum Bildungsgut, zum Wissens- und Diskussionsstoff der Gebildeten degradieren. Es ließe sich dann vortrefflich gebildet über Christentum und Kirche parlieren, ohne zur Gegenwart und Zukunft von Christentum und Kirche beizutragen! Gegenüber der liberalen Theologie, die in die Falle des Historismus gegangen war, merkte Nietzsche kritisch an: „Was man am (liberalen) Christenthume lernen kann, dass es unter der Wirkung einer historisierenden Behandlung blasirt und unnatürlich geworden ist, bis endlich eine vollkommen historische, das heisst gerechte Behandlung es in reines Wissen um das Christenthum auflöst und dadurch vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studiren: dass es aufhört zu leben, wenn es zu Ende secirt ist und schmerzlich krankhaft lebt, wenn man anfängt an ihm die historischen Secirübungen zu machen.“46 Der Kirchenhistoriker darf den Sinn für das „Geheimnis“ in der Geschichte nicht verlieren. Denn auch für die allgemeine Geschichtswissenschaft gilt letztlich, dass Genies wie Mozart und Beethoven nicht restlos wissenschaftlich erklärbar sind: „Versetzt nur ein Paar solcher modernen Biographen in Gedanken an die Geburtsstätte des Christenthums oder der lutherischen Reformation; ihre nüchterne pragmatisirende Neubegier hätte gerade ausgereicht, um jede geisterhafte actio in distans unmöglich zu machen: wie das elendeste Thier die Entstehung der mächtigsten Eiche 45 Vgl. z. B. die polemische Anklageschrift des Philosophen H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren, Die Zeit Nr. 20 (2000), und die indirekten, kirchenhistorisch fundierten Antworten von E. Dassmann, Christliche Innovationen am Beginn der Kirchengeschichte, StZ 217 (2000) 435446, und N. Brieskorn, Christentum der Neuzeit. Aktivposten für die Zukunft, StZ 217 (2000) 806818; vgl. ebenso K. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums (bisher 9 Bde.), Reinbek bei Hamburg 1986ff, und die Antwort der seriösen kirchenhistorischen Forschung: Seeliger (Hg.), Kriminalisierung des Christentums? (wie Anm. 32). 46 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders., Werke (Kritische Gesamtausgabe III, 1), Berlin/New York, 1972, 293.
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verhindern kann, dadurch dass es die Eichel verschluckt. Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurtheilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hartund Unfruchtbar-werden nicht mehr wundern.“47 Der Kirchenhistoriker muss gewiss zunächst und vor allem die historische Methodik akribisch beherrschen, denn davon hängt der wissenschaftliche Wert seiner Forschungen ab; wenn er aber keinen Sinn für den Gegenstand „Kirche und Christentum“ hat, für diese Religion, die in der Kraft des Geistes aus zwölf galiläischen Fischern zu einer weltumspannenden Glaubensgemeinschaft herangewachsen ist, zu einem seit zwei Jahrtausenden laufenden (freilich oft auch sich im Menschlich-Allzumenschlichen leerlaufenden) Motor der Weltgeschichte, wird er mit seinen Forschungen nur dazu beitragen, dass Kirche und Christentum die ihnen eigene Atmosphäre verlieren.
47
A.a.O., 294.
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Klaus Fitschen
Wissen, wie es war - Verstehen, wie es ist Der Titel meines Beitrages ist weder ein Programm noch eine These noch ein Hinweis auf einen stets durchzuführenden Schritt vom Wissen zum Verstehen, sondern die Summe eigener Erfahrungen und Anwendungen kirchengeschichtlicher Erkenntnissse. Darüber, was man historisch überhaupt „wissen“ kann, gibt es längere Debatten: Der Optimismus zu „wissen, wie es eigentlich gewesen ist“, ist oft einer Skepsis gewichen, die den Eintrag eigener Interessen in die Geschichtsschreibung fürchtet. Dennoch lebt die Kirchengeschichte wie jede historische Wissenschaft nicht von der Skepsis, sondern vom Wissen, von „Wissensbeständen“, die argumentations- und urteilsfähig machen. Verstehen wiederum ist eine Kategorie, die nicht auf den Nachvollzug von Kausalitäten beschränkt ist. Nur selten lässt sich historisch sagen: „Das musste ja so kommen.“ Vielmehr ist Verstehen zuerst einmal ein mehrdimensionaler Zugang zu den Ereignissen, der gerade nicht in der Anhäufung von „Fakten“ besteht. Kirchengeschichte ist eben nicht die Geschichte der Kirche (derer es ohnehin mehrere gibt), sondern die Geschichte des Christentums, die sich unter verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Dimensionen erschließen und erzählen lässt: z. B. theologiegeschichtlich, sozialgeschichtlich, institutionengeschichtlich. Hier kommen Wissen und Verstehen eng zusammen, denn dieses Vorhaben lässt sich nur realisieren, wenn über Institutionen, Akteure, theologische Strömungen, politische Rahmenbedingungen und anderes so viel Kenntnis vorhanden ist, dass die eigene Urteilsfähigkeit Nahrung genug erhalten hat. Zum Verstehen gehört dann auch die gegenwartsbezogene Reflexion unter Einbeziehung aktueller Ereignisse. Wer zur Geschichte einen Zugang hat, hat ihn meistens auch zur Gegenwart, sei es in politischer oder kirchenpolitischer, theologischer oder anders gearteter Hinsicht. Ist der Titel meines Beitrags ein Reflex auf die Summe eigener Erfahrungen mit dem Gegenstand und der wissenschaftlichen Disziplin Kirchengeschichte, so ist der Beitrag insgesamt das Ergebnis einer keinesfalls immer leidenschaftslosen Beschäftigung mit diesem Fach und seinen Gegenständen. Auch wenn man schon früh von seinen akademischen Lehrern lernt, das Fach „sine ira et studio“ zu betreiben, also ohne Zorn und Eifer, in abwägender Distanz, und auch wenn man Studierenden selbst dazu rät, im Schlussteil von Hausarbeiten sich von allzu feurigen Erwägungen und Nutzanwendungen auf das Heute fern zu halten, kann ich aus eigener Erfahrung nur sagen, dass es manchmal Mühe kostet, selbst so zu handeln. Aber: Der nüchterne Zugang bleibt der erste und gebotene, denn die eigene Urteilsbildung beginnt nicht mit den eigenen Leidenschaften, die leicht fehlgeleitet werden.
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1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte: persönliche Reflexionen a) Zur Kirchengeschichte finden, heißt zuerst einmal: zur Kirche finden Über meinen Zugang zur Kirchengeschichte kann ich nach diesen Vorerwägungen nicht anders zu schreiben beginnen als autobiographisch: Irgendwann in der Zeit meines Konfirmandenunterrichts fiel mir ein Buch in die Hand, in dem Geschichten aus dem „Kirchenkampf“ der evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus erzählt wurden: Martin Niemöller, Ikone der „Bekennenden Kirche“, Paul Schneider, als „Prediger von Buchenwald“ zum Märtyrer geworden, der Hannoversche Landesbischof August Marahrens, in späterer Sicht durchaus ein zwielichtiger Akteur, und auch Dietrich Bonhoeffer wurden hier als Helden porträtiert, der Kampf der Bekennenden Kirche als politischer Kampf gedeutet. Die jüngere deutsche Geschichte vervollständigte sich dadurch, denn meine bisherigen Helden hießen Wilhelm Leuschner oder Julius Leber: Ich stamme nämlich aus einem durch und durch sozialdemokratischen Elternhaus, und die Bücher, die meine Eltern besaßen, erzählten keine Kirchengeschichten. Dass meine Eltern mich in den Konfirmandenunterricht „schickten“ (sie nahmen es sehr ernst mit dem „Du sollst Dich selbst entscheiden können“), hat die deutsche Sozialdemokratie wohl um eine ihrer aussichtsreichsten Nachwuchskräfte gebracht. So geriet ich an einen Konfirmator, der gerade seine eigene Zeitgeschichte erlebt hatte, indem man ihn als deutschen Auslandspfarrer aus dem zu dieser Zeit von Südafrika verwalteten und mit der Kolonialbezeichnung „Südwestafrika“ versehenen heutigen Namibia ausgewiesen hatte, weil er gegen die Rassentrennung gepredigt hatte. Auch das war ein starkes Stück und entsprach nicht dem, was ich über die Kirche zu wissen glaubte. War sie wirklich eine rückständige, sich dem gesellschaftlichen Fortschritt verschließende Institution, die ihre Zeit längst hinter sich hatte? Stärker noch als solche Überlegungen waren Prägungen der Adoleszenzzeit: Über die nächsten Jahre prägte die Evangelische Jugendarbeit mein Leben. Bis heute bin ich ein entschiedener Anhänger der dreijährigen Oberstufe: Wie sonst soll man sein Engagement für solch eine Sache, seine privaten Leidenschaften und die Vorbereitung auf das Abitur unter einen Hut bekommen? Als Leistungskurse wählte ich Mathematik und Gemeinschaftskunde. Es war mein Gemeinschaftskundelehrer, der mein Interesse an Politik und Zeitgeschichte schärfte, der im Unterricht intensiv Quellentexte las und diskutierte. Mit ihm fuhren wir kurz vor dem Abitur Anfang 1980 nach Ost-Berlin. Über die Lage der Christen und der Kirche dort wusste ich nicht viel, aber ich konnte mir vorstellen, dass die insgesamt bedrückende Atmosphäre Menschen, die als Christen ihren Glauben leben wollten, schwer zu schaffen machen musste. Nun könnte es so aussehen, als sei mein Weg in die Kirchliche Zeitgeschichte fast programmiert gewesen, aber so war es eben nicht. Neben der Gemeinschaftskunde war ein anderes Schulfach prägend, das ich ebenfalls gerne als Leistungskurs gewählt
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hätte, das aber mangels Nachfrage nur als Grundkurs angeboten wurde: Latein. Ich liebte dieses Fach ganz ungeniert, vielleicht auch deshalb, weil der Nachhilfeunterricht darin vor allem in den letzten Wochen vor den Zeugniskonferenzen recht einträglich war. Der Entschluss meines Lateinlehrers, kurzerhand noch einen privaten Griechischkurs für Interessierte anzubieten, entsprach ganz seinem Engagement für die Sache der alten Sprachen. So lernte ich im Arbeitszimmer meines Lehrers zusammen mit drei Mitschülerinnen Griechisch.
b) Der kurze Weg zur Kirchengeschichte im Theologiestudium Mein Einstieg in das Theologiestudium, das ich in Heidelberg begann, war nach dieser altsprachlichen Vorbildung recht sorgenfrei. Hebräisch ließ sich im ersten Semester abhaken, aber diese Sprache sollte mir Jahre später noch einmal ein Tor öffnen, nämlich zum Syrischen. So ließen sich auch die pflichtmäßigen Proseminare recht zügig absolvieren. Mein erster Zugang zur Kirchengeschichte bestand darin, dass ich mich in meinem dritten Studiensemester morgens um acht Uhr in eine Vorlesung über die Geschichte der Alten Kirche setzte. Die Uhrzeit war eine Zumutung, wie ich fand, aber irgendwie musste man auch in dieses Fach einmal hineinblicken und sehen, wie sich die Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen hier anwenden ließen. Der Professor, mein späterer akademischer Lehrer Reinhart Staats, nahm die Sache ernst und ging sie quellenorientiert an, wozu auch gelegentliche Übersetzungsübungen gehörten. Vermutlich war es meine Fähigkeit, einigermaßen angstfrei mit lateinischen und griechischen Texten umzugehen, die mich bald zur studentischen Hilfskraft, zum Mitglied des Staats’schen Oberseminars und zum Teilnehmer des Heidelberger patristischen Kolloquiums von Kirchenhistorikern, Althistorikern und Klassischen Philologen beförderte. Auf diesem Weg kam ich also zur „Patristik“, zur Kirchen- und Christentumsgeschichte der Antike. Nebenbei besuchte ich Veranstaltungen in der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte, vertiefte mich in Horaz, in lateinische Epigraphik, die Geschichte des vom Christentum abgefallenen Kaisers Julian und die Bedeutung der Archäologie für die Alte Geschichte. Allen von außen an mich herangetragenen Versuchungen, daraus ein Lehramtsstudium zu machen, erteilte ich eine Absage. Lehrer wollte ich nie werden, dazu war die Sache der Theologie zu wichtig und der Gedanke, Pfarrer werden zu wollen, zu stark. Und die Kirchliche Zeitgeschichte? Ich studierte in einer Zeit, in der die Kirchengeschichte irgendwo zu versickern schien, im 20., vielleicht auch schon im 19. Jahrhundert. Als 1984 das 50-jährige Jubiläum der Barmer Theologischen Erklärung gefeiert wurde, setzte ich mich, nun in München studierend, in ein Seminar zu diesem Thema. Ganz so heldisch war der „Kirchenkampf“ nicht, wie ich bemerkte. Ebenso lernte ich, dass es in der Kirchlichen Zeitgeschichte Interpretationskämpfe gab und die Notwendigkeit, die Geschichtsschreibung jener kritisch zu sehen, die einst selbst Beteiligte gewesen waren. Noch aber fing ich nicht Feuer in der Kirch-
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lichen Zeitgeschichte, und den gut gemeinten Rat des Dozenten, mich doch lieber dafür zu interessieren statt für die Antike, ignorierte ich.
c) „Ein zweites Standbein haben“: Vertiefungen und neue Zugänge Der weitere Weg führte mich tief in die Welt des antiken Christentums hinein: Meine Dissertation habe ich in diesem Bereich verfasst. Ein wichtiges Fundament war meine Zuneigung zu den antiken Sprachen, zu den Quellen, deren Fundus trotz ihrer Fülle doch begrenzt ist und nicht uferlos wie in der Kirchengeschichte der Neuzeit. Viel Zeit und Geduld musste ich auf das Übersetzen verwenden, Syrisch lernen, mir Kenntnisse im Arabischen und Koptischen aneignen. Aus heutiger Sicht ist die geduldige Arbeit an den Quellen fast eine Ausnahme geworden, möglich nur noch für Doktorandinnen und Doktoranden, während man selbst im wissenschaftlichen Alltag kaum noch Zeit dafür erübrigen kann. Aber dies sind Reflexionen aus viel späterer Sicht. Nach dem Abschluss der Promotion absolvierte ich mein Vikariat in Nürnberg. 1000 Jahre Geschichte haben sich hier abgebildet, Deutschlands Glanz und Deutschlands Katastrophe. Die Frage, womit man sich in seiner Doktorarbeit beschäftigt habe, wurde mir sowohl von Oberkirchenräten wie Gemeindegliedern gestellt, und gefragt ist bei der Antwort darauf dann auch eine hermeneutische Kompetenz, weniger das Wissen also, sondern vielmehr das Verstehen, nicht das „Was“, sondern das „Warum“ und „Wozu“. Ganz unabhängig vom konkreten Thema war die Frage nach dem Sinn der Kirchengeschichte zu beantworten, zumal in einer Zeit, in der diese nach Meinung der älteren Theologengeneration einer geläufigen Formel zufolge eine „unentbehrliche“ und damit eigentlich entbehrliche „Hilfswissenschaft“ sein sollte. Die Antworten auf solche Fragen, die einem in der Zeit nach der Promotion fast als Zumutung erscheinen können, trugen immerhin zur Klärung des eigenen Verständnisses der Sache der Kirchengeschichte bei. Dazu zählte auch die Erkenntnis, dass jedes Thema der Kirchengeschichte Aussagekraft und Bedeutung haben kann und über das bloße Wissen hinaus des Verstehens wert ist. Aus der Summe vieler Teile ergibt sich dann die Kirchengeschichte, die als Gesamtdisziplin die Geschichte der Kirche in ihrer ökumenischen Weite erforscht, also die Geschichte des Christentums in allen ihren Facetten und damit die Geschichte einer Institution und Religion, die von Anfang an auf Differenzierung, Pluralität und unterschiedliche Ausdrucksformen angelegt war und in der viele Traditionen, Quellen, Handlungsformen über Jahrhunderte oder fast zwei Jahrtausende hinweg Bedeutung haben können. Freilich, mit einer Dissertation über einen bekannteren Kirchenvater wäre mir eine Antwort vielleicht doch leichter gefallen als mit einer Arbeit über den spätantiken ägyptischen Bischof Serapion von Thmuis. Als ich mich nach Promotion und Vikariat auf den Weg zur Habilitation machte, hieß dies auch, den eigenen Zugang zur Kirchengeschichte weiter zu klären und noch auskunftsfähiger zu werden, zumal das Thema der Habilitationsschrift auch nicht publikumswirksamer war als das der Dissertation, ging es doch um eine ost-
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kirchliche Ketzerbewegung, die Messalianer. Die Arbeit an den Quellen, die Beschäftigung mit einer fremden Zeit und Kultur, das Erhellen von Zusammenhängen setzte sich hier fort, und es ging also weiter um das Wissen, dann auch um das Verstehen. In die tiefen Verästelungen des Christentums in seiner Geschichte einzudringen, hieß auch zu erkennen, dass „Ökumene“ eine Frage historisch weit zurück reichender unterschiedlicher Entwicklungen war und dass die Form des Christentums und der Kirche, der man selbst angehört, eben nur eine Ausdrucksform unter vielen ist. Die Idee, es könnte in unterschiedlichen Zeiten und Regionen ganz verschiedene „Christentümer“ mit unterschiedlichen Entwicklungspfaden und kulturellen Prägungen geben, hat mich seitdem beschäftigt. Wer tief in Verästelungen eintaucht, kann leicht den Blick für das große Ganze verlieren. Der in das antike Christentum und die östlichen Kirchen gerichtete Blick sollte sich nicht für immer allein darauf fokussieren. Ein „zweites Standbein“ sollte gefunden werden, das gewissermaßen auch als zweiter Brückenpfeiler dienen konnte, um die Christentumsgeschichte in ihrer Gesamtheit besser zu überblicken. Schon in der Habilitationsphase begann ich darum, mich in der Kirchengeschichte der Neuzeit zu orientieren. Neben einem allgemeinen und ja auch biographisch vorgeprägten Interesse an dieser Epoche war es ein Impuls meines stets auf eine breite Orientierung bedachten akademischen Lehrers, sich hier stärker zu engagieren. Die erste Frucht dieses Interesses war eine kommentierte Sammlung von Bußtagspredigten, die 1995 erschien, zu einer Zeit, als der Buß- und Bettag als staatlicher Feiertag abgeschafft wurde. Dabei war er einstmals als staatlicher Feiertag eingeführt worden, um das Volk in Krieg und Krisen zur Buße zu rufen. Auf diesem Hintergrund begegneten sich in den Predigten Evangelium und Politik in dichter Weise und besonders eindrücklich da, wo nach dem Novemberpogrom 1938 (der „Reichskristallnacht“) einzelne Pfarrer mutig ihre Stimme für die Verfolgten erhoben. Nachhaltiger noch wurde die Suche nach einem zweiten Standbein durch die Arbeit an einem Lehrbuch über die Geschichte des Katholizismus vom Westfälischen Frieden bis zum Ersten Vatikanischen Konzil im Jahre 1870. Hier kamen meine konfessionskundlichen Interessen mit denen an der Neuzeit zusammen, und daraus entwickelte sich ein konfessionsvergleichender Blick auf die Neuzeit und die kirchliche Zeitgeschichte. Mittelalter und Reformation erschlossen sich demgegenüber langsamer. Meine intensive Befassung mit diesen Epochen der Kirchengeschichte begann mit der Vorbereitung von Examensprüfungen, die ich nach der Habilitation abzunehmen hatte. Sich einzulesen in die Sekundärliteratur und die Quellen, hatte hier einen ganz eigenen Beweggrund. Auch auf dem Gebiet der Neuzeit habe ich später viel durch originelle Themen gelernt, die Prüflinge in das Examen einbrachten, häufig nach einem Auslandsaufenthalt oder aufgrund von speziellen Lehrveranstaltungen. Zu den schönsten Erfahrungen gehört denn auch, im Wissen und Verstehen der Kirchengeschichte immer weiter gewachsen zu sein, auch wenn man vieles eben nicht weiß und sich gewiss bleibt, dass es noch viel zu lernen gäbe.
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d) Ortswechsel West-Ost Die Anfrage der „Berliner Theologischen Zeitschrift“, meine wissenschaftliche „Migrationsbiographie“ in einem Aufsatz für den Jahrgang 2009 darzustellen, führte zu einer Selbstreflexion über das Verhältnis von Standort und Zugang zur Kirchengeschichte. Inzwischen war ich nach Leipzig gekommen, auf eine Professur, bei der das antike Christentum zwar einen Schwerpunkt bildet, die aber vor allem auf die Kirchengeschichte der Neuzeit und die Kirchliche Zeitgeschichte ausgerichtet ist. Ganz von selbst ergab sich ein stärker standortbezogener Zugang zur Kirchengeschichte, denn Friedliche Revolution und Montagsdemonstrationen sind in Leipzig Teil einer lokalen Erinnerungskultur, für die heutzutage auch die „Runde Ecke“, das ehemalige Gebäude der Staatssicherheit im DDR-Bezirk Leipzig, und das „Zeitgeschichtliche Forum“, ein zeitgeschichtliches Museum, stehen. Ein neuer Zugang zur Kirchengeschichte ergab sich auch dadurch, dass der Vorgänger auf der Leipziger Professur, Kurt Nowak, sich profiliert zu methodischen und konzeptionellen Fragen geäußert hatte, und dies insofern, als er zu einem möglichst breiten Zugang im Sinne einer Christentumsgeschichte riet. Dies hatte nicht unmittelbar etwas mit dem Standort Leipzig zu tun, wohl aber damit, dass Nowak nach einem Dialog mit der Allgemeinen Geschichte suchte, die immer noch so gern „Profangeschichte“ genannt wird. Christentumsgeschichte sollte insofern keine Verengung im konfessionellen oder theologiegeschichtlichen Sinne sein, sondern ein weites Spektrum von Aspekten berücksichtigen. Dies war nicht gänzlich neu, andererseits aber auch umstritten, und das nicht zuletzt in der Kirchlichen Zeitgeschichte. Die Frage war und ist, ob Kirchengeschichte nicht einen genuin kirchlichen oder theologischen Bezug haben müsse, vielleicht gar in dem Sinne, dass es doch auf eine übergeschichtliche Heilsgeschichte zu reflektieren gelte. An Nowaks Konzept einer multiperspektivischen und im Blick auf die Allgemeine Geschichte sprachfähigen Christentumsgeschichte anzuknüpfen, schien und scheint mir immer noch sinnvoll zu sein. Kirchengeschichte kann nicht mehr die Geschichte einer Kirche oder einer Konfession sein, sie kann sich nicht auf Theologiegeschichte oder eine andere Form der Binnenperspektive beschränken, sie kann auch nicht „theologisch“ sein, indem sie noch etwas anderes will als geschichtliches Wissen und Verstehen. Dass sie dennoch nicht das Gesamte der Theologie verlieren darf und auch für andere theologische Disziplinen sprachfähig sein muss, ist dadurch gerade nicht ausgeschlossen.
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2. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Aufgaben a) Grundlagenforschung: die Quellen Kirchengeschichtliche Forschung wäre ohne den Zugang zu historischen Quellen nicht möglich, und so ist die Bereitstellung von Quellenmaterial in wissenschaftlichen Textausgaben (Editionen) eine wesentliche Aufgabe. In den letzten rund 150 Jahren ist auf diesem Gebiet Grundlegendes geleistet worden - hingewiesen sei nur auf die Gesamtausgabe der Werke Martin Luthers, die „Weimarer Ausgabe“. Der für solche Arbeit nötige Aufwand kann freilich von den in Forschung und Lehre tätigen Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistorikern kaum betrieben werden, so dass er von Akademien oder in Drittmittelprojekten von eigens dafür bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewältigt werden muss. Ist schon das Quellenmaterial der christlichen Antike immer noch nicht vollständig in modernen Textausgaben zugänglich, so ist die Lage in Mittelalter und Reformationszeit teils noch dürftiger. Nur noch ausschnittsweise sind Editionen in der Neuzeit möglich, und vieles wird angesichts der Masse und des Charakters des Schriftgutes auch nie gedruckt erscheinen. Die Digitalisierung von Archivbeständen ist darum eine zukunftsweisende Aufgabe, das Internet ein Medium, das den Zugriff gerade auf neuzeitliche Quellen erheblich erleichtert. Die Bedeutung eines optimalen Quellenzugangs für die Forschung ist unbestreitbar, und natürlicherweise ist der Zugriff auf Quellen auch für die akademische Lehre und das Studium unabdingbar wichtig. Selbst in einer Zeit sich verdichtender Studienstrukturen und der Konzentration auf abprüfbares Wissen ist die Lektüre von Quellen unter Anleitung ein unverzichtbarer Bestandteil der Lehre. Dass die Kirchengeschichte oft nicht lebendig wird, liegt eben daran, dass die Lebendigkeit in den Quellen steckt und nicht in den Lehrbüchern. Somit sind auch Quellensammlungen und Quellenübersetzungen ein unverzichtbares Hilfsmittel des Kirchengeschichtsstudiums. Der selbständige Umgang mit Quellentexten sollte darum eine wesentliche Aufgabe akademischer Lehre in der Kirchengeschichte sein.
b) Kleine Räume - große Linien Für die Kirchliche Zeitgeschichte sind die großen Linien im Wesentlichen bekannt: Die Geschichte der Kirche(n) im Nationalsozialismus und in der DDR ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten weithin erschlossen worden - dazu hat auch der Zugang zu den Archiven in der ehemaligen DDR nach 1989 beigetragen. Umso klarer treten die Defizite auf lokaler und regionaler Ebene hervor: Was weiß man über das Innenleben von Kirchengemeinden und Kirchenkreisen? Aber auch die Geschichte einzelner Landeskirchen oder kirchlicher Einrichtungen muss erst noch geschrieben werden - in territorial- bzw. landeskirchengeschichtlicher Hinsicht ist also ebenfalls noch viel zu tun. Dabei geht es nicht um eine bloße Lokal- oder Regionalgeschichte, sondern um Mikrohistorie in dem Sinne, dass Exemplarisches
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und Außergewöhnliches sich gleichermaßen an den bekannten großen Linien abzeichnen. Inzwischen liegen auch Studien in dieser Richtung vor, der Nachholbedarf ist aber immens. Auch hier gilt es, die großen Linien nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Perspektive, die sich notwendigerweise bei der Anfertigung einer Dissertation oder schon bei der Anfertigung einer größeren Hausarbeit verengt, muss im Nachgang oder schon bei der Arbeit an einem speziellen Thema sich weiten. Umso sinnvoller sind Vernetzungen bereits in der akademischen Qualifikationsphase, ob diese nun organisiert in strukturierten Doktorandenausbildungen oder aus privater Initiative entstehen. Jedes kirchengeschichtliche Einzelprojekt, in welcher Epoche es auch immer angesiedelt sein mag, verfügt ohnehin über eine hohe Zahl an Anknüpfungspunkten nicht nur zur Theologie, sondern auch zu anderen Fächern. Christentumsgeschichte in einem weiten Sinne geschieht eben durch solche Anknüpfungen, die in Forschung und Lehre ausgebaut werden müssen.
c) Zwischen Anspruch und akademischer Realität Der Anspruch, die Christentumsgeschichte in großer Weite zu erforschen und darzustellen, trifft auf die Rahmenbedingungen des Möglichen, und diese Möglichkeiten sind begrenzt durch die akademischen Verpflichtungen dessen, der an einer Theologischen Fakultät für die Christentumsgeschichte zuständig ist, und all derer, die als Studierende nur einen begrenzten Zeitraum für das Studium der Kirchengeschichte haben. Die Aufgaben der Kirchengeschichte bewegen sich folglich zwischen dem angeführten weiten Anspruch und der universitären Realität. Künftige Lehrerinnen und Lehrer, Pfarrerinnen und Pfarrer müssen mit Kompetenzen für das Wissen und Verstehen versehen werden, die sie befähigen, nach Abschluss des Studiums einigermaßen selbständig zurecht zu kommen. In der akademischen Lehre ist eine gewisse Fokussierung auf Hauptstränge der Entwicklung, auf die Kirchengeschichte Deutschlands und auf das konkrete konfessionelle Umfeld darum sinnvoll und auch notwendig. Deshalb ist auch die Territorialkirchengeschichte bzw. die Geschichte der jeweiligen Landeskirche zu pflegen und ihre Erforschung voranzutreiben. Dazu gehört dann auch die Geschichte der christlichen Kunst und Architektur, über die sich die Geschichte einer Kirche und eines Gemeinwesens anschaulich erschließen lassen kann. Somit darf auch eine Christentumsgeschichte in einem weiten Sinne nicht das „Große Ganze“ vernachlässigen, nämlich die Geschichte der Institution Kirche in ihren konkreten konfessionellen Entwicklungspfaden. Auch wenn nicht alle protestantischen Konfessionen einen hohen Institutionalisierungsgrad aufweisen, wäre es doch verfehlt, von den jeweiligen Institutionalisierungen, zu denen auch kirchliche Ämter und Kirchengemeinden gehören, abzusehen. Da es Institutionen aber nicht ohne das Recht gibt, ist folglich auch die kirchliche Rechtsgeschichte wenigstens in Grundzügen einzubeziehen. Das gilt auch für den Teil des weltlichen Rechts, der das Verhältnis von Staat und Kirche definiert.
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Dennoch geht es auch in der Lehre darum, Kirchengeschichte nicht provinziell hier in einem auf Deutschland begrenzten Sinne - zu verengen. Dies ist nicht nur eine Anforderung im Sinne einer Ökumene der Konfessionen, sondern auch im Sinne einer Europäisierung und Globalisierung, die das Christentum unmittelbar betreffen. Nicht nur Säkularisierung ist ein Phänomen der Moderne, sondern auch die Auflösung bisheriger konfessioneller Grenzen und Verengungen.
d) Eine theologische Disziplin? Die Frage, ob die Kirchengeschichte eine theologische Disziplin sei, ist oft gestellt und oft sehr unterschiedlich beantwortet worden. Sie hat unmittelbar mit der Bestimmung der Aufgaben der Kirchengeschichte zu tun. Das Idealbild einer enzyklopädischen Theologie, in der die einzelnen Fächer in einem inneren Zusammenhang stehen, ist das Gegenbild zu einer fragmentierten Theologie, die als Ansammlung von speziellen Fächern und Fragestellungen verstanden wird. Muss es nicht, so fragen gerade Studierende, eine Gesamtheit dessen geben, was Theologie heißt, so dass am Ende auch ein gesamter Theologe bzw. eine Theologin herauskommen, der bzw. die nicht nur Exegeten, Systematische Theologen, Kirchenhistoriker und Praktische Theologen sind? Das Problem liegt darin, dass ein solches enzyklopädisches Modell keine Dominanz eines Faches duldet, die der Kirchengeschichte ebenso wenig wie die der Systematischen Theologie. Versteht man unter einer theologischen Disziplin eine solche, die vordeterminiert sei, nur unter bestimmten Kriterien und mit einem „theologischen“ Vorverständnis zu arbeiten, ist das eine unsachgemäße Verengung. Der Druck, unter dem die Theologie in der Zeit des Dritten Reiches im „Kirchenkampf“ stand und der sie zwang, sich als bekenntnistreue Theologie gegen äußere Einflüsse abzugrenzen, besteht längst nicht mehr, sodass die Theologie sich eine Pluralität unterschiedlicher Zugänge zu ihrer Sache leisten kann. Die Aufgabe der Kirchengeschichte besteht dann darin, ihren weiten Zugang zur Wirklichkeit des Christentums und der Kirchen offen zu halten und damit auch die anderen theologischen Disziplinen für einen solchen Zugang zu sensibilisieren. Das Theologische an der Kirchengeschichte ist ihr Gegenstand: die Geschichte des Christentums und seiner Theologie, die eigentlich auch in Theologien unterschiedlicher Konfessionskulturen aufgeht. Nicht ausgeschlossen ist freilich, dass auch über das historisch Wiss- und Verstehbare hinaus eine Reflexion auf das erfolgt, was die Kirchengeschichtsschreibung immer begleitet hat, nämlich auf die Frage nach dem Ziel der Geschichte und ihrem Sinn. Allerdings sind bisher alle Versuche, aus dem heraus, was man sehen kann, etwas zu erkennen, was man nicht sehen kann, gescheitert: Die Kirchengeschichte ist weder Heils- noch Unheilsgeschichte.
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e) Die Vielfalt der Konfessionen Konfessionskunde und Ökumenik sind etwas heimatlose Spezialfächer der Theologie, zu denen Systematische Theologie und Kirchengeschichte gleichermaßen einen Bezug haben. Was die Kirchengeschichte angeht, ist es ihre Aufgabe, die konfessionelle Weite der Christentumsgeschichte, so gut sie es vermag, zu beschreiben. Immerhin ist die Gegenwart geprägt von der Vielfalt der christlichen Konfessionen, schon durch die Migrantinnen und Migranten, die eine pfingstlerische, baptistische, orthodoxe oder andere Prägung mitbringen. Konfessionskunde und Ökumenik könnten im kirchengeschichtlichen Sinne als historisch orientierte Ökumenekunde beschrieben werden, und so sehen Lehrbücher der Konfessionskunde klassischerweise auch aus: In ihnen werden die Geschichte und die gegenwärtige Gestalt der Konfessionen und Kirchen dargestellt. Hinein in ein Konzept einer Christentumsgeschichte in konfessioneller Weite gehören dann auch die in Deutschland oft immer noch so genannten „Freikirchen“ ein Begriff, der wie vor 100 Jahren vom Staat bevorzugte Kirchen als Gegenbild voraussetzt. Der Sache nach geht es um Baptisten, Methodisten und andere protestantische Konfessionen, wobei die Ränder unscharf sein mögen: Strömungen, die aus dem Protestantismus, wenn nicht europäischer, dann nordamerikanischer Prägung hervorgegangen sind, gibt es viele. Sie alle aber haben in Motivik und Genese eine Beziehung zum ursprünglichen Protestantismus Die Erforschung und Beschreibung der Vielfalt der Konfessionen führt letztlich zu vergleichenden Einsichten, die wiederum zeigen, dass das Christentum eben keine Einheit ist und dass sich Annahmen wie die, das Christentum habe eine besondere Affinität zur Demokratie, nicht erhärten lassen. Vielmehr gehört zum Wissen und Verstehen an diesem Punkt zu erkennen, dass nicht nur Religionen, sondern auch christliche Konfessionen von der Kultur, in der sie wurzeln, geprägt sind und sie von hier aus ihr politisches, soziales und kulturelles Potential beziehen.
f) Säkulare Kirchengeschichte in einer säkularer werdenden Welt Die im Sprachgebrauch noch verankerte Gegenüberstellung von Kirchen- und Profangeschichte beruht auf der Voraussetzung, dass die Kirchengeschichte einen Gegenstand habe, der zwar nicht heilig, aber doch herausgehoben ist, überzeitlich vielleicht sogar, jedenfalls nicht vergleichbar mit den Dingen dieser Welt, die die Allgemeine Geschichte beschreibt. Das allerdings ist ein Irrtum, denn weder ist die Kirche unter den Augen der Kirchengeschichte etwas Unweltliches, noch sind Glaube, christliche Religion oder Theologie mit anderen Augen zu sehen als Weltanschauungen und ihre Organisationsformen. Besonders ist nicht die Methode der Kirchengeschichte, sondern ihr Gegenstand, der die Etablierung einer besonderen Disziplin der Geschichtswissenschaft rechtfertigt, da Kirche und Christentum historische Größen sind, die bis heute existent sind und behaupten können, ihre Identität aus einem historischen Bezug zu gewinnen.
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Andersherum gesagt: Das Christentum oder die Kirche als Organisationsform kann und muss sich eine nüchterne Geschichtsschreibung leisten. Nicht nur die historisch-kritische Exegese und ein von kirchlichen Vorgaben unabhängiges theologisches Arbeiten in anderen Fächern sind unabdingbar evangelisch, sondern auch eine Kirchengeschichte, die Theologie, Sozialgestalt und Institutionalisierung des Christentums ohne apologetische und glorifizierende Tendenz darstellt. Somit ist die Kirchengeschichte Teil einer protestantischen Selbstreflexion, die sich nicht nur des eigenen Erbes vergewissert, sondern die Stellung des Protestantismus und der evangelischen Kirchen in der Welt in ihrer historischen Entwicklung untersucht. Die Kirchengeschichte leistet damit einen entscheidenden Beitrag zur Wirklichkeitserschließung des Christentums protestantischer Prägung. Diese Wirklichkeitserschließung aber geschieht in einer immer säkularer werdenden Welt - jedenfalls ist dies der Befund für Europa, der sich durch die Beschwörung einer „Wiederkehr der Religion“ nicht entkräften lässt, auch wenn Religion in größerer Vielfalt sichtbar wird und man insofern von einer qualitativen, nicht quantitativen „Rückkehr“ sprechen könnte. Die Voraussetzung, dass die Kirchengeschichte keine Sondergeschichte beschreibt, sondern den Weg des Christentums und seiner Organisationsformen in der Weltgeschichte, führt zu der Folgerung, dass der säkularer werdenden Welt die Geschichte der Kirche auch säkular vermittelt werden muss. Auch wenn Gott von Einzelnen in der Geschichte erfahren wird, ist er nicht in der Geschichte, und auch wenn die Kirche in Wort und Sakrament das bewahrt, was ihr von Gott anvertraut ist, ist sie doch nicht heilig, sondern eben das, was sie bewahrt. Die Kirchengeschichte ist demnach eine säkular oder profan zu nennende Wissenschaft.
3. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Zukunftsperspektiven a) Die Nachwuchsfrage Die Frage eines zweiten Standbeines und einer kirchengeschichtlichen Breitenorientierung stellt sich heutzutage drängend durch den Rückgang altsprachlicher Kenntnisse unter der Studierendenschaft. Obwohl je nach Studiengang die meisten immer noch über ein Latinum oder Graecum verfügen, ist die Kompetenz im Umgang mit diesen Sprachen doch stark zurückgegangen, da sie kaum mehr auf der Schule erlernt und intensiv geübt werden. Das Reservoir an potentiellen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern für die christliche Antike, das Mittelalter und die Reformationszeit ist daher ausgedünnt. Auf der anderen Seite scheint auch das Interesse an einer wissenschaftlichen Qualifikation in der neuzeitlichen Christentumsgeschichte nicht im Übermaß vorhanden zu sein. Dies mag auch daran liegen, dass die Kirchliche Zeitgeschichte an vielen Theologischen Fakultäten kaum Gewicht hat und Theologiestudierende meinen, Exegese, Systematische oder Praktische Theologie seien die eigentlichen theologischen Disziplinen. Hier hat die Kirchengeschichte mit ihren Fachvertreterinnen
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und Fachvertretern eine Bringschuld, den Zusammenhang von Wissen und Verstehen plausibler zu machen und auf die wirklichkeitserschließende Funktion der Kirchengeschichte hinzuweisen.
b) Eine europäische Geschichte des Protestantismus Die deutsche Wiedervereinigung erfolgte 1989/90 im Zuge eines europäischen Einigungsprozesses, und so wie der Protestantismus in der DDR sind auch die evangelischen Kirchen in Osteuropa von politischer Unterdrückung frei geworden. Damit ist die Chance gegeben, die Geschichte dieser Kirchen aufzuarbeiten und zu einer Geschichte des Protestantismus in einem vereinigten Europa zu kommen. Dies wird sich allerdings nur in einem europäischen Netzwerk leisten lassen, in dem sprachliche Kompetenzen und landesgeschichtliche Spezialkenntnisse vor Ort aktiviert werden können. Ein Hindernis auf diesem Weg kann die enge Bindung der akademischen Theologie an die Kirchen in vielen Ländern sein, die sie eben nicht zu einer freien Selbstreflexion durchdringen lässt. Der Blick in die Vergangenheit kann überdies für diese Kirchen ungleich schmerzlicher sein als das in den Landeskirchen der ehemaligen DDR der Fall war. Eine europäische Geschichte des Protestantismus wird langfristig unter der Signatur der „Diaspora“ stehen: Der Protestantismus wird - wie das Christentum insgesamt - zu einer Minderheit werden, wie er es schon seit langem in weiten Teilen Europas ist und immer war. Daraus resultieren Aufgaben für die Kirchengeschichte im Blick auf die Beschreibung von Entwicklungspfaden und bisherigen Selbstdeutungsversuchen von Minderheitenkirchen. Das klassische Thema einer „Diasporakunde“, also der Beschreibung von evangelischen Minderheitenkirchen aus der Perspektive gut situierter Mehrheitenkirchen, wird sich demzufolge wandeln zum Thema einer Geschichte des Selbstverständnisses und der Existenzweise protestantischer Minderheiten unter sich wandelnden politischen Rahmenbedingungen. Die Beschreibung dieser Geschichte wird unter zeitgeschichtlichen Gesichtspunkten nicht nur in die Frage münden, wie sich der Protestantismus unter den Bedingungen der osteuropäischen Diktaturen positioniert hat (bzw. wie er von diesen Diktaturen positioniert wurde), sondern auch in die Frage, welche zivilgesellschaftlichen Potentiale der Protestantismus bzw. die evangelischen Kirchen in die sich nach 1989 konstituierenden demokratischen Gesellschaften eingebracht haben.
c) Christliche Religionsgeschichte In den letzten Jahren und Jahrzehnten war immer wieder das Verhältnis von Kirchengeschichte und Allgemeiner Geschichte Gegenstand der Diskussion. Lag die Kirchengeschichte nicht viel zu weit hinter den dort geführten methodischen Debatten zurück? Das Bild, das Tagungen und Kooperationsprojekte boten, war gemischt: Einerseits war eine Zusammenarbeit völlig selbstverständlich, zumal sich viele Fachvertreterinnen und Fachvertreter der Allgemeinen Geschichte mit kirchen-
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geschichtlichen Themen befassen, andererseits schien die Geschichte von Christentum und Kirche manchen anderen aus dem Blick geraten zu sein. Einen neuen Impuls für Zukunftsperspektiven könnte eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Religionswissenschaft geben, die die Kirchengeschichte insofern beträfe, als die Religionswissenschaft wenigstens teilweise auch Religionsgeschichte ist. Grenzüberschreitungen, die von Seiten der Allgemeinen Geschichte her schon immer selbstverständlich waren - nämlich dass die Geschichte von Christentum und Kirche kein Reservat von Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistorikern ist -, sind vermehrt auch von der Religionswissenschaft her spürbar. Dies gilt jedenfalls insofern, als man sich mit nonkonformen christlichen Bewegungen befasst und dabei auch den Hauptströmungen des Christentums, seinen etablierten Konfessionen also, nahe kommt. Allerdings treten da, wo sich Religionswissenschaft und Theologie begegnen, auch alte Abwehrreflexe auf. Der klassische Vorwurf an die Theologie ist, sie arbeite mit einem Vorverständnis, sei glaubensabhängig und darum nicht neutral. Wissen und Verstehen wären insofern gar nicht in einem wissenschaftlichen Sinne möglich, sondern seien positionell verzerrt. Geboren sind diese Abwehrreflexe aus dem wissenschaftsgeschichtlich beschreibbaren Ablösungsprozess der Religionswissenschaft von der Theologie vor rund 100 Jahren, verstärkt werden sie da, wo der Anspruch besteht, religionswissenschaftliche Professuren dort, wo es sie an Theologischen Fakultäten gibt, aus diesen herauszulösen. Aus theologischer und speziell kirchengeschichtlicher Sicht ist der Vorwurf einer positionsbedingten Verzerrung freilich völlig unsinnig, denn die evangelische Theologie - jedenfalls insofern sie an Theologischen Fakultäten betrieben wird - lebt gerade aus einem hohen Selbstreflexionsgrad, mit dem sie ihre Position laufend bestimmt. Die Kirchengeschichte wiederum ist in dem hier beschriebenen Sinne nicht damit befasst, irgendeine konfessionelle Tradition zu legitimieren, Institutionen und Ämter historisch zu rechtfertigen, theologische Auffassungen zu qualifizieren. Die Kirchengeschichte als Christentumsgeschichte ist in diesem Sinne also christliche Religionsgeschichte, offen für ein vorurteilsloses Wissen und Verstehen und bereit zum Dialog.
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Hacik Rafi Gazer
Bemerkungen zu einer künftigen Kirchengeschichte Konstantinopels/Istanbuls seit 1453 In memoriam Hermann Goltz geb. 1946 in Gera gest. 2010 in Halle an der Saale
1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte Mein persönlicher Zugang zur Kirchengeschichte lässt sich in vierfacher Hinsicht beschreiben.1
Erster Zugang Aufgrund meiner Herkunft als Armenier aus Konstantinopel/Istanbul kenne ich sehr bedeutende Schauplätze der Kirchengeschichte. In Konstantinopel/Istanbul bin ich 1963 geboren, und dort wuchs ich als Angehöriger der Armenischen Apostolischen Kirche auf. Bis heute wohnen Angehörige meiner Familie, meine Mutter und meine Schwester in Chalkedon, dem heutigen Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite von Istanbul. Der genaue Ort, an dem das Konzil von Chalkedon 451 stattgefunden hat, ist bis heute umstritten. Nicht nur Konstantinopel, sondern auch die Türkei selbst als Land, das seit Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden Schauplatz kirchengeschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen ist, prägte mich. Auf dem Gebiet der heutigen Türkei wurden die ersten christlichen Gemeinden gegründet, z. B. Ephesus. Auf dem Gebiet der Türkei fanden auch die ökumenischen Konzile des ersten Jahrtausends in Nicäa (Iznik), Konstantinopel (Istanbul), Ephesus (Efes), Chalkedon (Kadiköy) statt. Aus dem Land stammen berühmte Kirchenväter und Theologen wie Ignatius von Antiochien, Johannes Chrysostomus, Basilius der Große, Gregor von Nazianz und Theodor Studites. Schon als Kind, vor allem aber als Erwachsener wurden diese Orte für mich lebendig, wenn ich sie selbst besuchte oder Menschen aus ihnen traf. So sehr die Türkei das Land der Kirchen und Kirchengeschichte ist, so wenig selbstverständlich ist heute hier das Forschen oder akademische Lehren über die Kirchengeschichte der christlichen Kirchen in dem Zeitraum von nahezu 2000 Jahren. Denn es gibt keine einzige christlich-theologische Fakultät, an der KirchengeVgl. D. Meyer (Hg.), Kirchengeschichte als Autobiographie. Ein Blick in die Werkstatt zeitgenössischer Kirchenhistoriker, 2 Bde. (SVRKG 138, 154), Köln 1999-2002.
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schichte gelehrt und geforscht werden kann und darf. In den 24 staatlichen islamisch-theologischen Fakultäten der Türkei bildet christliche Kirchengeschichte keinen Schwerpunkt in Lehre und Forschung. Die einheimischen christlichen Kirchen der Griechen, Armenier und Syrer, aber auch die Angehörigen der zahlreichen anderen christlichen Kirchen und Konfessionen dürfen keine theologischen Ausbildungsund Forschungsstätten unterhalten.
Zweiter Zugang Meinen zweiten Zugang zur Kirchengeschichte bekam ich aufgrund meines Studiums in Deutschland. Die fehlende Option eines christlichen Theologiestudiums in der Türkei führte mich ins Ausland, nämlich nach Deutschland. Anfang der 1980er Jahre wurde zwischen dem armenischen Patriarchat von Konstantinopel und der EKD ein Stipendienprogramm für armenische Theologiestudenten aus der Türkei vereinbart. Der ehemalige Pfarrer der deutschen evangelischen Kirchengemeinde in Istanbul und spätere Oberkirchenrat bei der EKD in Hannover, Heinz Klautke, war beim Zustandekommen dieses Programms maßgeblich beteiligt. Der damals in Istanbul amtierende armenische Patriarch Erzbischof Schnork Kalustian (1913-1989) ermutigte mich, zum Studium der Theologie ins Ausland zugehen. So begann ich 1981 als Stipendiat der EKD in Bochum mein Studium und wurde von dem jetzigen Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum, Professor Dr. Mihran Dabag, tatkräftig unterstützt. Mein Weg führte mich dann von Bochum zur Kirchlichen Hochschule nach Bethel. Ich war nicht der erste Armenier in Bethel. Dort war Gerhard Ruhbach (19331999) mein Lehrer für Kirchengeschichte. Ihm verdanke ich meine ersten kirchengeschichtlichen Kenntnisse. In Bethel bekam ich auch einen Einblick in die Diakoniearbeit der Friederich von Bodelschwinghschen Anstalten. Bereits in den 1890er Jahren hatte Friedrich von Bodelschwingh die im Osmanischen Reich verfolgten Armenier unterstützt.2 Nach den ersten Semestern an der Kirchlichen Hochschule Bethel ging ich 1986 nach München. Hier wohnte ich im Collegium Oecumenicum mit bayerischen, südafrikanischen, lateinamerikanischen und zypriotischen Studierenden unter einem Dach. Mein ökumenischer Horizont weitete sich nun erheblich. An der LudwigMaximilians-Universität hatte ich den leidenschaftlichen Kirchenhistoriker und späteren Erzbischof der ELKRAS, Georg Kretschmar (1925-2009), als Lehrer für Kirchengeschichte. Bei dem aus Griechenland stammenden griechisch-orthodoxen Theologen Theodor Nikolaou lernte ich den Zugang zur Kirchengeschichte aus orthodoxer Perspektive. Daneben lernte ich bei dem Philologen des Christlichen Orients, Julius Aßfalg (1919-2001), Altarmenisch. Im Winter 1894/95 hatte der armenische Theologe und spätere Katholikos des Großen Hauses von Kilikien, Garegin Howsepean, in Bethel ein Praktikum absolviert. Vgl. H. R. Gazer, Die Reformbestrebungen in der Armenisch-Apostolischen Kirche im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (KO.M 24), Göttingen 1996, 23. 2
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Von München aus führte mich mein Weg nach Tübingen. Hier bekam ich durch meinen Doktorvater Joachim Mehlhausen (1935-2000) Zugang zur kirchlichen Zeitgeschichte. Im Jahre 1993 wurde ich in Tübingen mit einer kirchengeschichtlichen Arbeit über die kirchlichen Reformen der armenischen Kirche promoviert.3 Bereits in dieser Zeit gab es deutliche Zeichen und Signale aus der Türkei, dass es aus politischen Gründen für mich als ausgebildeten Theologen keine berufliche Zukunft in meiner armenischen Kirche in Istanbul geben würde. Ich selbst stand seit Ende der 1980er Jahre mit Hermann Goltz (1946-2010), dem Leiter des Seminars für Konfessionskunde der Orthodoxen Kirche an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in fachlichem Austausch. So kam ich schließlich 1994 von Tübingen nach Halle an der Saale. Hier konnte ich meinen kirchengeschichtlichen Horizont noch einmal um einiges erweitern. Die Franckeschen Stiftungen mit der weltweiten Vernetzung von Halle bis Indien boten neue Zugänge zur Kirchengeschichte. In Halle konnte ich auch in dem von Goltz geleiteten Johannes-Lepsius-Archiv einiges über das Schicksal meines eigenen armenischen Volkes im Osmanischen Reich erfahren. An der Theologischen Fakultät Halle-Wittenberg wurde ich dann auf Grund einer Abhandlung zur Anatomie des stalinistischen Terrors gegen die Armenier und ihre Kirche habilitiert4 und erhielt die Venia legendi für das Fach Kirchengeschichte. Während meiner Hallenser Zeit unternahm ich mit Hermann Goltz mehrere Forschungsreisen zu kirchlichen Archiven und Bibliotheken in die Türkei und nach Georgien, Armenien, BergKarabach wie auch in den Libanon.
Dritter Zugang Meinen dritten Zugang zur Kirchengeschichte erlangte ich durch meine Familie in Deutschland. Im Jahre 1991 hatte ich Ursula Brecht, die Tochter des Münsteraner Kirchenhistorikers Martin Brecht, geheiratet. Meine Frau war und ist eine der treuesten Begleiterinnen meiner kirchengeschichtlichen Arbeiten und Arbeitsstätten. Als Pfarrerin der Württembergischen Landeskirche zog sie mit mir nach Halle an der Saale in die Kirchenprovinz Sachsen. Sie wurde in Magdeburg Oberkonsistorialrätin. Durch ihre Arbeit bekam ich auch einen Zugang zur kirchengeschichtlich sehr reichen Landschaft Mitteldeutschlands. Mittlerweile sind wir gemeinsam nach Franken gezogen, wo wir nun in Nürnberg als bayerische Pfarrfamilie leben. Mein Schwiegervater Martin Brecht hat mich stets in allen kirchengeschichtlichen Fragen bestens beraten.
Vgl. Anm. 2. H. R. Gazer, Die Armenische Kirche in Sowjetarmenien zwischen den Weltkriegen. Anatomie einer Vernichtung (StOKG 24), Münster 2001. 3 4
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Vierter Zugang Mein vierter Zugang zur Kirchengeschichte beruht auf meiner gegenwärtigen beruflichen Tätigkeit. Im Wintersemester 2006/07 übernahm ich die Professur für Geschichte und Theologie des Christlichen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. In Erlangen durfte ich die letzten Lebensjahre der bedeutenden Erforscherin ostkirchlicher Theologie und Spiritualität, Fairy von Lilienfeld (1917-2009), miterleben. Die Pflege ihres großen wissenschaftlichen Vermächtnisses ist mir ein wichtiges Anliegen geworden.5
2. Vorüberlegungen zu einer künftigen ökumenischen Kirchengeschichte Konstantinopels/Istanbuls seit 1453 Fairy von Lilienfeld starb am 12. November 2009. Nur wenige Tage danach starb auch mein früherer Münchener Lehrer Georg Kretschmar am 19. November 2009. Gut ein Jahr später mussten wir viel zu früh von meinem Hallenser Lehrer und Freund Hermann Goltz Abschied nehmen, der am 9. Dezember 2010 in Halle starb. Ich bin sehr dankbar für alles, was diese Menschen für mich persönlich getan und zu meiner kirchengeschichtlichen Kompetenz beigetragen haben. Von diesen drei Wissenschaftlern habe ich sehr viele Anregungen für meine kirchengeschichtlichen Arbeiten bekommen. Durch sie ist mein Zugang zur Kirchengeschichte ein ökumenischer geworden. Darüber hinaus ist vor allem aber ihr überragender Beitrag für die Kirchen- und Völkerverständigung zu würdigen. Gerade ihn verstehe ich auch als Vermächtnis und bleibenden Auftrag. Die Darstellung einer ökumenischen Kirchengeschichte Konstantinopels/Istanbuls seit 1453 zähle ich heute auf Grund dieser Prägung zur wichtigsten künftigen Aufgabe meiner kirchengeschichtlichen Beschäftigung. Die Anregung einer ökumenischen Kirchengeschichtsschreibung von Bernd Jaspert möchte ich als methodische Grundlage heranziehen.6 Die Anregungen, die Fairy von Lilienfeld 1984 in ihrer Abschiedsvorlesung gab, nehme ich hinzu.7 Sie hatte auf die Aufgaben der Kirchengeschichte aufmerksam gemacht. Da diese Aufgaben im Sinn von Adolf von Harnack von einer Generation in die andere übergehen, will ich
H. R. Gazer, Fairy von Lilienfelds Vermächtnis für die Ostkirchenkunde, in: R. Albrecht/R. Koch (Hg.), Fairy von Lilienfeld 1917-2009, Basel 2011, 48-67. 6 B. Jaspert (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte. Probleme, Visionen, Methoden, Paderborn/Frankfurt a. M. 1998, bes. 11ff. 7 F. von Lilienfeld, Über einige Probleme der Lehre von „Kirchengeschichte“ im „ökumenischen“ Zeitalter: Kirchengeschichtsschreibung und das Gedächtnis der Kirche, in: W.-D. Hausschild/C. Nicolaisen/D. Wendebourg (Hg.), Kirchengemeinschaft – Anspruch und Wirklichkeit Festschrift für Georg Kretschmar zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1986, 249-265 (ND in: dies., Sophia - Die Weisheit Gottes. Gesammelte Aufsätze 1983-1995, hg. v. K. Ch. Felmy/H. Ohme/K. Wildt [Oikonomia 36], Erlangen 1997, 22-39). 5
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nun die Aufgaben der Kirchengeschichtschreibung von meiner Lehrer- und Lehrerinnen-Generation übernehmen und weitergestalten.8 Die orthodoxen Kirchen und die orientalisch-orthodoxen Kirchen konnten innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches in den letzten Jahrhunderten im Bereich der Kirchengeschichte kaum größere kirchengeschichtliche Forschung und Lehre vor Ort betreiben. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Freiheit für Forschung und Lehre war, wie bereits gesagt, nicht im Entferntesten gegeben. Entsprechende akademische Einrichtungen waren nicht gestattet oder wurden geschlossen. Darüber hinaus kann vor allem für das 20. Jahrhundert festgestellt werden, dass sich die einheimischen Kirchen in einem existentiellen Überlebenskampf befanden. Angehörige der genannten Kirchen mussten seit dem Untergang Konstantinopels zu Forschung und Lehre im Bereich der Kirchengeschichte im Wesentlichen an westliche Universitäten ausweichen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden von Seiten der Leitungen dieser Kirchen Versuche unternommen, diese Möglichkeit konsequenter zu nutzen. Dabei sollten die im Ausland qualifizierten Gelehrten anschließend im Osmanischen Reich in ihrer jeweiligen Heimatkirche weiter lehren und forschen. Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution von 1918, aber auch der Zweite Weltkrieg setzten diesen Plänen weitgehend ein Ende. In der kirchengeschichtlichen Ausbildung des theologischen Nachwuchses wird heute in vielen orientalisch-orthodoxen Kirchen immer noch mit Büchern gearbeitet, die vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Auf Grund der gegenwärtigen politischen Lage im Nahen Osten sind hier in absehbarer Zeit kaum Änderungen zu erwarten.
3. Kirchengeschichtliche Arbeiten über Konstantinopel (Auswahl) In Europa kann anders über die Kirchengeschichte Konstantinopels seit 1453 geforscht und gelehrt werden. In den einschlägigen Werken zur Kirchen- und Dogmengeschichte von Konstantinopel/Istanbul wird je nach Interesse bzw. Quellenkenntnis eklektisch vorgegangen. An allgemeinen sowie speziellen Darstellungen, die sich auf kirchen-, dogmen- und theologiegeschichtliche Themen Konstantinopels in der Zeit bis zum Jahre 1453 konzentrieren, liegt eine beachtliche Zahl von Editionen und Monographien vor, so z. B. zu den ökumenischen Konzilien des ersten Jahrtau-
So ist die Wissenschaft nach Harnack „im Grunde und letztlich immer Sache des Einzelnen; daran vermag keine Entwicklung etwas zu ändern. Aber es gibt Aufgaben, deren Bewältigung ein Menschenleben weit übersteigt; es gibt ferner Aufgaben, die so viele Vorbereitungen verlangen, daß der Einzelne bis zur Aufgabe selbst gar nicht vorzudringen vermag; es gibt endlich solche, die durch ihre Kompliziertheit eine Arbeitsteilung fordern. [...] genau betrachtet sind alle wissenschaftlichen Aufgaben in jedem Falle Teile einer größeren Aufgabe und sind, solange sie isoliert behandelt werden, überhaupt unlösbar“; A. von Harnack, Vom Großbetrieb der Wissenschaft (1905), in: K. Nowak (Hg.), Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Mit einem bibliographischen Anhang v. H.-Ch. Picker, Tl. 2, Berlin 1996, 1009f.
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sends. Von Alois Grillmeier liegen zahlreiche Studien zu diesen Themen vor.9 Für die Geschichte der Konzilien gibt es sehr gute Studien von Josef Wohlmuth.10 Unter dem Gesichtspunkt der so genannten „Trennung der Ost- und Westkirche“ im Jahr 1054 spielt die Stadt Konstantinopel erneut kirchengeschichtlich eine Rolle.11 In der Zeit der Kreuzfahrer war sie ebenfalls ein bedeutender Schauplatz. Sie war nicht nur einer der wichtigsten Durchgangsorte von Europa nach Kleinasien, sondern zugleich wie schon Jerusalem und Edessa in der Zeit des vierten Kreuzzuges von 1204 bis 1261 Hauptsitz eines lateinischen Kaiserreiches (Kreuzfahrerstaats), sogar mit einem eigenen lateinischen Patriarchen. Bis zum Fall Konstantinopels im Mai 1453 sind dies exemplarisch genannte Ereignisse und Themen, die sowohl von Kirchenhistorikern als auch von Historikern ausführlich und vielfach erforscht wurden. Kunsthistorische Untersuchungen über Konstantinopel, die für die kirchengeschichtliche Darstellung wichtige Aspekte liefern und von Bedeutung sind, wurden ebenfalls in zahlreichen Studien vorgelegt.12 Kirchenhistorische Darstellungen von Konstantinopels/Istanbuls Kirchengeschichte nach der Eroberung 1453 sind in der Regel von bestimmten konfessionellen Standpunkten aus geschrieben, oder sie verfolgen spezifische Fachinteressen. So ergibt sich folgendes Bild: Die Darstellungen der katholischen Kirchengeschichtsschreibung behandeln die Kirchengeschichte Konstantinopels im Rahmen der Gesamtdarstellungen der Kirchengeschichte. Die erste Gesamtdarstellung erschien in den Jahren 1970-1985 in Deutschland, die zweite von 1991 bis 2000 in Frankreich und liegt in deutscher Übersetzung vor. Im 5. Band des von Hubert Jedin herausgegebenen „Handbuchs der Kirchengeschichte“ wird der Zeitraum vom 15. bis zum 18. Jahrhundert von Bernhard Stasiewski ohne Berücksichtigung der inneren facettenreichen Entwicklungen und Spannungen vor Ort dargestellt.13 Diese sind in der Regel überhaupt nicht im Blick des Betrachters. Die Aussagen z. B. über das armenische Patriarchat in Konstantinopel beschränken sich insgesamt auf eine Seite. Die Haltung der armenischen Patriarchen zu Unionsbestrebungen Roms bildet das Kriterium der Betrachtung. Die jahrhundertelange, an Ereignissen und theologischen Entwicklungen reiche KirchenVgl. z. B. A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1: Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg i. Br. 31990. 10 Vgl. etwa J. Wohlmuth (Hg.), Konzilien des ersten Jahrtausends. Vom Konzil von Nicäa (325) bis zum vierten Konzil von Konstantinopel (869/70) (Dekrete der ökumenischen Konzilien 1), unter Mitarb. v. G. Sunnus und J. Uphus, Paderborn 31998. 11 Vgl. A. Bayer, Spaltung der Christenheit. Das sogenannte Morgenländische Schisma von 1054 (BAKG 53), Köln 2002 (22004). 12 Vgl. beispielsweise P. Schreiner, Byzanz (Oldenburg Grundriss der Geschichte 22), München 21994, 216-219; W. Müller-Wiener, Bildlexikon zur Topographie Istanbuls. Byzantion, Konstantinupolis, Istanbul bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Mit einem Beitrag v. N. Fratli, Tübingen 1977; K. Onasch, Lichthöhle und Sternhaus. Licht und Materie im spätantik-christlichen und frühbyzantinischen Sakralbau, Dresden 1993; St. Yerasimos, Konstantinopel, Istanbuls historisches Erbe, Köln 2000. 13 Vgl. B. Stasiewski, Die selbständigen und die mit Rom unierten Ostkirchen, in: H. Jedin (Hg.), Die Kirche im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung (HKG[J] V), Freiburg i. Br. 1970, 230-255. 9
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geschichte der „nestorianischen“ und „monophysitischen“ Kirchen wird lediglich auf ihre Verfolgungsgeschichte reduziert betrachtet.14 Bei der Behandlung der Kirchengeschichte wird der Geschichte der mit Rom unierten Ostkirchen besondere Aufmerksamkeit gewidmet.15 Die Anfänge der unierten Kirchen werden von Roger Aubert umrissen. Dabei ist die Perspektive der kirchlichen Minderheit wichtig sowie die Frage der Konkurrenz zu den protestantischen missionarischen Aktivitäten im Osmanischen Reich. Die dem „Sultan treuen Armenier“ werden für die Verfolgung der Katholiken in Istanbul während der Zeit des griechischen Aufstandes von 1827 mitverantwortlich gemacht.16 Auch hier wird also die wechselvolle Geschichte einer eigenständigen Kirche rein unter dem Aspekt ihres Verhältnisses zur römisch-katholischen Entwicklung ohne Auswertung von primären Quellen dargestellt. Dagegen widmet Roger Aubert in dem genannten Band der römisch-katholischen Kirche im Osmanischen Reich ein eigenes Kapitel.17 In Streifzügen werden die Balkanländer sowie Athen, Konstantinopel und Smyrna als Orte der katholischen Mission erwähnt. Die Aktivitäten der römischen Missionare und Ordensleute werden unter der Perspektive „Verfall und Wiederaufbau“ sowie als Intervention der christlichen Großmächte wie Frankreich für die Christen dargestellt. Bernhard Stasiewski behandelt 1973 auf zwei Seiten die Geschichte des Ökumenischen Patriarchats im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.18 In einem weiteren Beitrag, der 1979 erscheint, bietet Stasiewski einen Überblick zur Geschichte der orthodoxen Kirchen im 20. Jahrhundert.19 Unter der Überschrift „Die vier alten Patriarchate“ wird das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel behandelt. Dabei werden einige Begegnungen aus der Amtszeit des Patriarchen Athenagoras (1948-1972) mit den römischen Päpsten sowie die Schließung der Theologischen Hochschule in Chalki und die Amtszeit des Patriarchen Demetrios (1972-1991) erwähnt. Statistische Angaben über die Zahl der Gemeinden und der Athos-Mönche bilden den Abschluss.20 In demselben Beitrag werden Angaben über die „westsyrisch-jakobitische Kirche“ in der Türkei gemacht. Die Verfolgung der Armenier im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich findet Erwähnung. Erneut beschränkt sich die Darstellung aber im Wesentlichen auf die Verfolgungsthematik der Christen im Osmanischen Reich. In dem u. a. von Jean-Marie Mayeur 1990-2001 in Paris herausgegebenen mehrbändigen Werk „Histoire du christianisme des origines à nos jours“, das 1991-2004 Vgl. a.a.O., 246. Vgl. R. Aubert, Die Kirchen des orientalischen Ritus, in: H. Jedin (Hg.), Die Kirche in der Gegenwart (HKG[J] VI/1), Freiburg i. Br. 1971, 218-225. 16 Vgl. a.a.O., 223. 17 R. Aubert, Die lateinischen Katholiken im Ottomanischen Reich, in: H. Jedin (Hg.), Die Kirche in der Gegenwart (HKG[J] VI/1), Freiburg i. Br. 1971, 192-196. 18 B. Stasiewski, Päpstliche Unionshoffnungen - Die selbständigen und die mit Rom unierten Ostkirchen, in: H. Jedin (Hg.), Die Kirche in der Gegenwart (HKG[J] VI/2), Freiburg i. Br. 1973, 345-387. 19 B. Stasiewski, Die nichtunierten Ostkirchen, in: H. Jedin/K. Repgen (Hg.), Die Weltkirche im 20. Jahrhundert, (HKG[J] VII), Freiburg i. Br. 1979, 474-507. 20 A.a.O., 479-480. 14 15
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in 14 Bänden auch auf Deutsch erschien, wird in mehreren Beiträgen die Kirchengeschichte der Ostkirchen behandelt. In seinem Beitrag streift Giuseppe Croce den Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts. Dabei werden politische und militärische Ereignisse im Osmanischen Reich skizziert. Dazu werden auch Erzählungen der zeitgenössischen Missionare und Reisenden mit herangezogen.21 Diese Vorgehensweise macht die Darstellung sehr lebendig und anschaulich, doch muss sie mit den diesen Zeitraum betreffenden osmanischen, türkischen, griechischen und armenischen Quellen verglichen und ergänzt werden. Bernard Heyberger behandelt die Geschichte der Christen im Nahen Osten für den Zeitraum von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches lebenden Christen sind einbezogen.22 Die zehnseitige Darstellung beruht auf französisch- und englischsprachigen Werken. So versucht Heyberger, entsprechend dem Konzept des gesamten Werkes, wirtschaftliche und politische Aspekte mit einzuarbeiten. Die kirchengeschichtlichen Themen werden stark gekürzt und eklektisch dargestellt. Dem Orden der Mechitaristen werden von Heyberger einige Zeilen gewidmet.23 Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich zunehmende protestantische Mission wird lediglich mit fünf Zeilen erwähnt. Auch für Heybergers Beitrag gilt, dass hier Primärquellen nicht herangezogen sind. Catherine Mayeur-Jaouen behandelt die Kirchengeschichte der orientalischen Christen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Sie setzt mit der These ein, dass die europäischen Großmächte die orientalischen Christen im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert für ihre eigene politisch-wirtschaftliche Einflussnahme als Schutzmacht unterstützt haben.24 Dabei ging es um die Sicherung des Monopols als Schutzmacht. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges seien, wie die Autorin überraschend behauptet, „alle Provinzen des Osmanischen Reiches mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung unabhängig geworden“25. Es werden im Rahmen des gesamten Werks zwar alle Bereiche (politische, wirtschaftliche, soziale), die natürlich für eine Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte erforderlich sind, herangezogen. Es stellt sich bei näherem Zusehen jedoch heraus, dass hier das Zufallsprinzip ausschlaggebend war bzw. nur auf die in einer westlichen Sprache publizierten Werke zurückgegriffen wurde. Das Werk von Gerhard Podskalsky über die Geschichte der griechischen Theologie in der türkischen Zeit ist für die Darstellung der Kirchengeschichte Istanbuls 21 G. Croce, Die Orientalischen Kirchen, in: M. Venard (Hg.), Das Zeitalter der Vernunft (1620/30-1750) (GCh 9), Freiburg i. Br. 1998, 539-609. 22 B. Heyberger, Die Christen im Nahen Osten, in: B. Plongeron (Hg.), Aufklärung, Revolution, Restauration (1750-1830) (GCh 10), Freiburg i. Br. 2000, 133-144. 23 A.a.O., 143. 24 C. Mayeur-Jaouen, Die orientalischen Christen im 19. Jahrhundert. Ihre erneute Bedrückung und Bedrohung, in: J. Gadille/J.-M. Mayeur (Hg.), Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (18301914), Freiburg i. Br. 1997, 774-826. 25 A.a.O., 783.
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unverzichtbar.26 Als Ziel wird angegeben, „die Erforschung einer ‚dunkeln‘ Epoche weiter voranzutreiben“27. Podskalskys methodische Vorgehensweise ist für eine wissenschaftliche Darstellung der Kirchengeschichte Istanbuls von grundlegender Bedeutung. Ähnliche Studien zu den anderen in Istanbul beheimateten Kirchen sind Desiderat und müssen erarbeitet werden. Für die reformatorische Kirchengeschichtsschreibung bildet der Briefwechsel zwischen den Tübinger Theologen und dem ökumenischen Patriarchen Jeremias II. von Konstantinopel im 16. Jahrhundert einen der Schwerpunkte.28 Bestimmte Epochen, von der Zeit der Reformation bis zum 20. Jahrhundert, sind von Ernst Benz 1952 ausführlich dargestellt worden.29 Das Thema der protestantischen Missionsgeschichte im Zusammenhang der orientalischen Ostkirchen hat Peter Kawerau behandelt.30 Die jüngste Studie des Schweizer Historikers Hans-Lukas Kieser über Mission im Osmanischen Reich bringt die Forschung auf einen neuen Stand.31 Kiesers methodische Vorgehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Darstellung auf Primärquellen aufbaut. Er versucht, „den religiös, konfessionell, national oder kulturell eingeschränkten Forschungsansatz zu überwinden und eine historisch-kritische Position einzunehmen“32. Sein Ansatz, sich angesichts des vorliegenden Quellenmaterials auf bestimmte Sprachen und Gebiete zu konzentrieren, bleibt legitim. Dabei ist Kiesers Bestreben, gegenüber dem religiös, konfessionell, national oder kulturell eingeschränkten Forschungsansatz „eine historisch-kritische Position einzunehmen“33, keineswegs selbstverständlich.34 Die Berücksichtigung der Geschichte der evangelischen Gemeinde in Istanbul gehört zu einer kirchengeschichtlichen Darstellung Istanbuls. Aus Anlass des 150jährigen Jubiläums der deutschen evangelischen Gemeinde in Istanbul wurde ein Auszug aus der Arbeit Martin Kriebels, der von 1932 bis 1945 in Istanbul als Pfarrer wirkte, von der deutschen evangelischen Gemeinde in Istanbul publiziert.35 Eine 26 G. Podskalsky, Griechische Theologie in der Zeit der Türkenherrschaft (1453-1821). Die Orthodoxie im Spannungsfeld der nachreformatorischen Konfessionen des Westens, München 1988. 27 A.a.O., X. 28 Wort und Mysterium. Der Briefwechsel über Glauben und Kirche 1573 bis 1581 zwischen den Tübinger Theologen und dem Patriarchen von Konstantinopel, hg. v. Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Witten 1958; D. Wendebourg, Reformation und Orthodoxie. Der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und dem Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573-1581 (FKDG 37), Göttingen 1986. 29 E. Benz, Die Ostkirche im Lichte der protestantischen Geschichtsschreibung von der Reformation bis zur Gegenwart (OA III/1), Freiburg/München 1952. 30 P. Kawerau, Amerika und die orientalischen Kirchen. Ursprung und Anfang der amerikanischen Mission unter den Nationalkirchen Westasiens (AKG 31), Berlin 1958. 31 H.-L. Kieser, Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 18391938, Zürich 2000. 32 A.a.O., 26. 33 Ebd. 34 B. Braude/B. Lewis (Hg.), Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society, vol. I: The Central Lands; vol. II: The Arabic-Speaking Lands, New York 1982. 35 M. Kriebel, Die Anfänge der deutschen evangelischen Gemeinde in Konstantinopel – Istanbul von 1843 bis 1850, Istanbul 1993.
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kürzlich in Kiel angefertigte Dissertation ist ein für die Kirchengeschichte Istanbuls vorbildlicher Beitrag. Wie von der Autorin selbst bemerkt, muss auch diese Arbeit aus den osmanischen Archivbeständen betreffs der Kirchengeschichte der evangelischen Gemeinde ergänzt werden.36
4. Die Auswertung der osmanischen und türkischen Quellen als Forschungsaufgabe Die Kirchengeschichte Konstantinopels seit 1453 müsste längst zum Themen-Kreis der Forschung der Osmanistik gehören. Das ist aber bei näherem Zusehen noch nicht der Fall. In seinem jüngst erschienenen Buch über den osmanischen Staat liefert Klaus Kreiser einen umfangreichen Forschungsbericht über die Osmanistik.37 Er selbst äußert sich zu kirchengeschichtlichen Themen eher beiläufig.38 Dennoch macht er auf eine sehr wichtige Voraussetzung aufmerksam, wenn er schreibt: „Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der osmanischen Geschichte setzt Sprachkenntnisse und den Zugang zu Primärquellen voraus. Wegen den Besonderheiten der osmanischen Literatursprache und der schweren Lesbarkeit bestimmter Kanzleischriften ist es bis heute bei einer Zweiteilung der Forschungsliteratur geblieben. Eine Richtung bearbeitet das primäre osmanische Material, eine zweite konzentriert sich auf Zeugnisse in nichtosmanischen Sprachen, ohne die jüngere türkischsprachige Forschungsliteratur zu vernachlässigen.“39 Kreiser fährt fort: „Beide Richtungen bewegen sich jedoch aufgrund wachsender Erschließung osmanischer Quellen in türkischer Lateinschrift aufeinander zu.“40 Die osmanisch-türkischsprachigen Quellen sind für die kirchengeschichtliche Fragestellung von sehr großer Bedeutung. Es liegen jedoch nur ganz wenige für die kirchengeschichtliche Forschung wertvolle Studien vor.41 Eine Ausnahme bildet hier eine aus kunstgeschichtlicher Perspektive angefertigte Studie von Zafer Karaca. Sie behandelt die griechisch-orthodoxen Kirchengebäude Istanbuls, die nach 1453 er36 Ch. Pschichholz, Zwischen Diaspora, Diakonie und deutscher Orientpolitik. Deutsche evangelische Gemeinde in Istanbul und Kleinasien in osmanischer Zeit (KoGe 44), Stuttgart 2011, 14, Anm. 18: „Osmanisches Archivmaterial wurde in die vorliegende Arbeit nicht mit einbezogen. Allerdings sind im osmanischen Archiv in Istanbul (Başbakanlık Osmanlı Arşivi) auch Materialien zu den deutschen evangelischen Gemeinden erhalten. Insbesondere durch den Ausbau eines Kontrollsystems für die innere Sicherheit unter Abdülhamid II. müsste eine Vielzahl an Dokumenten vorhanden sein. Eine Auswertung dieser osmanischen Verwaltungsakten beleibt somit Desiderat.“ - Die Kirchengeschichte Konstantinopels bzw. Istanbuls wird auch immer wieder berücksichtigt in dem umfassenden Werk von W. Hage, Das orientalische Christentum (RM 29/2), Stuttgart 2007. 37 K. Kreiser, Der osmanische Staat 1300-1922 (Oldenburg Grundriss der Geschichte 30), München 2001 (2., aktual. Aufl. 2008), 112-159. 38 A.a.O., 78. 39 A.a.O., 112. 40 Ebd. 41 J. Strauss, The berât for Patriarch Joacim III of 1319/1901, in: K. Kreiser/Ch. K. Neumann (Hg.), Das Osmanische Reich in seinen Archivalien und Chroniken. Nejat Göyünç zu Ehren (Türkische Welten 1 = BTS 65), Stuttgart 1997, 211-240.
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baut bzw. wiederaufgebaut wurden.42 Als Kunsthistoriker beschreibt Karaca die bis zur Gegenwart vorhandenen griechischen Kirchen Istanbuls. Methodisch legt er seinen Ausführungen zwei Quellengattungen zugrunde. Einerseits verwendet er deutsch, lateinisch, französisch, osmanisch und armenisch publizierte Reisebeschreibungen und Chroniken, die in den Jahren 1547-1804 entstanden sind, andererseits bezieht er die griechischen Inschriften der untersuchten Kirchen in Istanbul mit ein. Diese Inschriften enthalten wichtige historische Informationen und ergänzen die von ihm herangezogenen schriftlichen Quellen. Die neu erbauten bzw. wiederaufgebauten Kirchen wurden in den Jahren 1692-1895 in Istanbul errichtet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es häufig zu Neubauten bzw. zum Wiederaufbau von Kirchen in Istanbul. Nach Karaca hat dies mit Reformbestrebungen zu tun, die durch die Fermane Tanzîmât Hatt-ı Şerîf43 von Gülhâne vom 3. November 1839 und Hatt-ı Hümâyûn44 vom 18. Februar 1856 vorangetrieben wurden. Eine wohlhabende, wirtschaftlich erfolgreiche Schicht der Griechen stiftete neue Kirchen in Istanbul, da sie sich durch die von Tanzimat und Islahat gewährten Rechte seitens des osmanischen Staates den anderen Bürgern gleichgestellt fühlten und die Verhältnisse wirtschaftlich stabiler geworden waren. Karaca gibt die Zahl der heute noch geöffneten griechisch-orthodoxen Kirchen der Stadt Istanbul mit 94 an. Seine aus kunstgeschichtlicher Perspektive angefertigte Studie liefert wissenschaftlich sehr wertvolle Materialien, die für eine Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte Istanbuls von Bedeutung sind.
5. Archive in der Türkei Da für eine umfangreiche Erarbeitung der Kirchengeschichte Konstantinopels seit 1453 methodisch die Heranziehung kirchengeschichtlich relevanter Archivquellen erforderlich ist, muss an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die staatlichen und kirchlichen Archivbestände der Türkei gegeben werden. Die kirchlichen und staatlichen Archive bieten sehr unterschiedliche Zugangs- und Arbeitsbedingungen zu den Archivmaterialien.
Kirchliche Archive Für die Archive der christlichen Kirchen in der Türkei gilt grundsätzlich, dass ihre Archivbestände nicht erschlossen sind. Es fehlt eigentlich alles, was ein Archiv für Forscher zur Verfügung stellen kann. Dies gilt sowohl in materieller als auch in personeller Hinsicht. Es fehlt an ausgebildeten Archivaren, aber auch an Findbüchern sowie an technischen Ausstattungen und Räumlichkeiten. Z. Karaca, Istanbul‘da Osmanlı Dönemi Rum Kiliseleri, Istanbul 1995. Tanzîmât Hatt-ı Şerîf: Reformedikt von Gülhâne leitet die Reformperiode der Tanzîmât (Verordnungen) ein. 44 Hatt-ı Hümâyûn: Reformedikt mit weitreichenden Garantien für nichtmuslimische Untertanen. 42 43
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Dies trifft pars pro toto für die Bestände der folgenden Kirchen in Istanbul zu: das Ökumenisches Patriarchat von Konstantinopel, das Armenische Patriarchat von Konstantinopel, das Syrisch-Orthodoxe Patriarchalvikariat von Konstantinopel, die Chaldäische Erzdiözese von Konstantinopel, die Armenische katholische Erzdiözese von Konstantinopel, die Anglikanische Gemeinde, die Niederländisch Reformierte Gemeinde, die Deutsche Evangelische Gemeinde, das Apostolische Vikariat Istanbul, St. Antonius (Franziskanerkonventualen), St. Maria Draperis (Kloster der Franziskaner), St. Peter und Paul (Kloster der Dominikaner), St. Ludwig (Kloster der Kapuziner), Kloster der Assumptionisten, St. Paul (deutsche Katholiken), das Salesianer-Kloster, St. Georg (Kloster der österreichischen Lazaristen). Die wissenschaftliche Erschließung von kirchlichen Archiven in Istanbul muss als eine gesamtökumenische Forschungsaufgabe aufgefasst werden. Eine staatliche Unterstützung ist hier in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Staatliche Archive Eine vollkommen andere Situation bieten die türkischen staatlichen Archive. Im Wintersemester 2009/10 konnte ich mir während eines sechsmonatigen Forschungssemesters in Istanbul über die Bestände der staatlichen Archive einen umfangreichen Überblick verschaffen. Die staatlichen Archive werden von der Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü, also von der „Hauptabteilung Osmanisches Archiv der Generaldirektion Staatarchive des Amtes des Ministerpräsidenten der Republik Türkei“, betreut und geleitet. In Istanbul befindet sich die Abteilung mit den Archivbeständen aus der osmanischen Zeit. In Ankara sind Archivbestände aus der Zeit der Republik. Diese zwei Archive stehen Wissenschaftlern weitgehend offen. Die Bestände werden laufend erschlossen und Forschern zugänglich gemacht. Die Arbeitsbedingungen vor Ort sind sehr gut, d. h. es gibt mehrere mit Computern ausgestattete Arbeitsplätze. Ein Handbuch des osmanischen Archivs ermöglicht einen guten Überblick über die Bestände.45 Manche Archivbestände sind in digitaler Form erschlossen und zugänglich. Digitale Kopien erhält der Benutzer in sehr guter Qualität und sehr günstig. Für die Kirchengeschichte Istanbuls sind u. a. folgende Bestände des osmanischen Archivs in Istanbul von Bedeutung:
T. C. Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü Osmanlı Arşivi Daire Başkanlığı. Başbakanlık Osmanlı Arşivi Rehberi, 3. erw. Aufl. Ankara 2010.
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Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü Osmanlı Arşivi Daire Başkanlığı Archivbestände ha 989 Numarali Divân-ı hümayûn Katalogundaki Gayr-ı Müslim Cemâtlere Ait Defterler (A.DVNS.GMC.d) (Register der nicht-moslemischen Gemeinden im kaiserlichen StaatsratsKatalog).46 Diese Defters (Register) enthalten Dokumente über den Zeitraum von 1236-1337/1820-1918 über die Kirchen, Synagogen, Friedhöfe, Schulen und Waisenhäuser der nichtmoslemischen Gemeinden. Die betreffenden Register verzeichnen Dokumente über die Rechte (Privilegien) der nichtmoslemischen Gemeinden im Osmanischen Reich sowie zahlreiche Urkunden, die für deren Geistliche ausgestellt wurden. Darunter sind Dokumente, die Informationen über die Rechte der Bischöfe in ihren Zuständigkeitsgebieten sowie über ihre Rechte und Pflichten gegenüber den staatlichen Behörden enthalten. Es sind Dokumente über das Griechische Patriarchat und die seiner Jurisdiktion unterstehenden Metropoliten, das Griechische Patriarchat von Jerusalem, das Patriarchat von Antiochien, das Erzbistum Zypern, das Patriarchat von Alexandrien, das Armenische Patriarchat von Istanbul, das Armenische Patriarchat von Jerusalem, das Armenische Katholikosat von Sis, das „nestorianische“ Patriarchat, das Syrische-Orthodoxe Patriarchat sowie das Armenische katholische Patriarchat. hb Kilise Defterleri Bab-ı Asafi Defterleri katalogundaki Kilise Defterleri, Gayr-ı Müslümlere Ait Dini ve Hayrı Yer Defterleri (Register der nichtmoslemischen Gemeinden gehörenden sakralen Bauten und Wohlfahrtsstätten). H. 1327M 1822 1 Defter (1 Register), H. 860-1340/M 14561922 10 Defter (10 Register). Hier sind Dokumente über sakrale Bauten und Wohlfahrtsstätten der nichtmoslemischen Gemeinden gesammelt.47 31. Piskoposluk Kalemi Defterleri (Register der bischöflichen Kanzleien). Der Evamir-ı Maliye Kalemi, der dem Bab-ı Defter untergeordnet war, enthält Eintragungen der Kirchen, Klöster und Synagogen sowie Eintragungen über die Erlasse und Beschlüsse der Patriarchen und Metropoliten, sowie die Berâts (Amtsurkunden) und Pişkeşs über die Patriarchen, Klöster und Kirchen innerhalb des Osmanischen Reiches. Dieser Fonds enthält Dokumente aus dem Zeitraum von 1015-1207/1606-1792. Es sind insgesamt 31 Findbücher. Darin sind 4813 Akten verzeichnet (eine Akte enthält ca. 100 Dokumente).48 Darüber hinaus sind auch zahlreiche Bestände ediert, die auch Materialien für kirchengeschichtliche Themen enthalten.49 A.a.O., 46-47. A.a.O., 47-48. 48 A.a.O., 294. 49 I. Binark (Hg.), 12 Numaralı Mühimme Defteri (978-979/1570-1572) Özet-Transkripsiyon ve Indeks I, Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü, Osmanlı Arşivi Daire Başkanlığı Yayin Nu: 33 Dîvânı Hümâyû Sicilleri Dizisi: IV., Ankara 1996; ders., 12 Numaralı Mühimme Defteri (978-979/1570-1572) 46 47
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Ganz anders verhält es sich mit den folgenden Archiven und deren Beständen. Sowohl die Benutzung als auch die Erschließung der Bestände dieser Archive lassen viele Wünsche offen. Es gibt in der Türkei eine Reihe von Archiven, die oft keine geschulten Archivare haben bzw. in denen die Arbeitsbedingungen sehr ungünstig sind. Die Archivbestände des osmanischen Innenministeriums sind nach wie vor geschlossen (Emniyet Genel Müdürlügü sind ebenfalls geschlossen). Die Archivbestände des heutigen türkischen Auswärtigen Amtes sind offiziell nicht zugänglich. Vermutlich sind hier viele Dokumente des osmanischen Auswärtigen Amtes aufbewahrt. Die Archivbestände des Verteidigungsministeriums (Millisavunma Bakanligi Archivi) in Ankara sind mit ganz strengen Genehmigungsprozeduren nur wenigen Forschern zugänglich. Im letztgenannten Archiv befindet sich auch ein Foto- und Filmarchiv. In Ankara sind die Bestände des Archivs Nüfüs ve Vatandaslik Isleri Genel Müdürlügü Forschern nicht zugänglich. Hier sind Personalien wie Geburts- und Todesregister bis 1905 gesammelt. Vermutlich sind die Bestände der so genannten „halboffenen“ Archive weitgehend erschlossen, aber die Benutzung ist nur nach strengen Genehmigungsverfahren möglich. Für ausländische Benutzer sind die Genehmigungsverfahren sogar noch umständlicher und strenger als für die einheimischen. Ausländer müssen über das türkische Auswärtige Amt einen Nutzungsantrag stellen. Nach der Erteilung der Nutzungsgenehmigung entscheiden dann allerdings vor Ort die Mitarbeiter des Archivs, welche Bestände ausgewertet werden dürfen. Diese so genannten „halboffenen“ Archive sind also theoretisch offen zugänglich, in der Praxis aber nicht ganz. In Ankara befindet sich auch Tapu Kadastro Genel Müdürlügü Arsivi (Archiv der Generaldirektion des Grundbuch- und Katasteramtes). In den Beständen sind die tahrir defterleri (Niederschrift von Büchern) von Bedeutung. Sie enthalten die umfangreichen Steuerregister verschiedener Provinzen seit dem späten 16. Jahrhundert. Diese Bestände sind digitalisiert, aber nur ein Drittel des jeweiligen Bestands können Benutzer in Kopie erhalten. Einige Bestände dieses Archivs wurden bereits über Bitlis und Diyarbakir ediert. Nachdem sie veröffentlicht worden waren, wurden sie wieder konfisziert. In Istanbul und Ankara befindet sich das Archiv der Vakiflar Genel Müdürlügü, der Generaldirektion der religiösen Stiftungen. Die Grundbucheintragungen der religiösen Stiftungen ab 1840 befinden sich in den Beständen dieses Archivs. Die Bestände Özet-Transkripsiyon ve Indeks II, Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü, Osmanlı Arşivi Daire Başkanlığı Yayin Nu: 33 Dîvân-ı Hümâyû Sicilleri Dizisi: IV., Ankara 1996. Vgl. auch Istanbul Ahkam Defterleri, Istanbul Ticaret Tarihi 1 (1742-1779) Istanbul Külliyatı III, Istanbul Büyükşehir Belediyesi Kültür İşleri Daire Başkanlığı Yayinları No: 50 Istanbul Araştırmaları Merkezi Yayıınları No: 3, Istanbul 1997; Istanbul Ahkam Defterleri Istanbul Vakif Tarihi (1742-1764), Istanbul Külliyatı V, Istanbul Büyükşehir Belediyesi Kültür İşleri Daire Başkanlığı Yayınları No: 58 Istanbul Araştırmaları Merkezi Yayınları No: 11, Istanbul 1998; Istanbul Ahkam Defterleri Istanbul da Sosyal Hayat 2 (1755-1765), Istanbul Külliyatı IX Istanbul Büyükşehir Belediyesi Kültür İşleri Daire Başkanlığı Yayınları No: 62 Istanbul Araştirmaları Merkezi Yayınları No: 17, Istanbul 1998.
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sind nur einzelnen Personen bzw. Gerichten zugänglich, aber nicht den Forschern im Allgemeinen. Zu den „halboffenen“ Archiven gehört auch das über das Internet zugängliche Archiv des türkischen Halbmondes in Ankara: Kizilay Arsivi. Eine Forschergruppe der ODTÜ hat diese Bestände zugänglich gemacht. Es ist unklar, was nicht zugänglich gemacht worden ist. Die Archivbestände des türkischen Generalstabs Genelkurmay ATASE enthalten Akten über den Balkankrieg und die Deportation der Armenier im Ersten Weltkrieg. Die Abteilungsleiter in diesen Archiven entscheiden, welche Nutzer welche Bestände zur Ansicht bekommen dürfen und welche nicht. So sind einige wenige Bestände zugänglich. Die Mitarbeiter selbst wählen auf der Grundlage von Suchbegriffen in den Beständen das Entsprechende aus. Faktisch ist also ausschließlich eine gefilterte bzw. zensierte Archivrecherche möglich. Schließlich entscheidet nicht der Forscher selbst, sondern für ihn wird entschieden und ausgewählt. In allen diesen genannten Archiven sind Dokumente vorhanden, die für die Darstellung einer Kirchengeschichte Konstantinopels seit 1453 sehr relevant sind. Die skizzierte Lage der Archive in der Türkei macht deutlich, vor welchen Schwierigkeiten die Kirchenhistoriker bei der Bewältigung dieser Aufgabe stehen.
6. Zusammenfassung Die Erforschung der interkonfessionellen und interreligiösen Fragestellungen versprechen im Bereich der Bearbeitung einer Kirchengeschichte Konstantinopels/ Istanbuls seit 1453 sehr viele Perspektiven. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hoffe ich mit dem vorgestellten Vorhaben einer „Kirchengeschichte Konstantinopels/Istanbuls seit 1453“ mehrere Fragestellungen berührt zu haben. Neben der Aufarbeitung des spannenden kirchengeschichtlichen Stoffes dürfte der aktuelle Bezug zur gegenwärtigen politisch-kulturellen gesamteuropäischen Situation nicht außer Acht gelassen werden. Dabei ist den interkonfessionellen und interreligiösen Fragen breiter Raum zu geben. Hier sehe ich erheblichen wissenschaftlichen Nachholbedarf. In meinen Augen besteht nicht nur die Aufgabe, zahlreichen wissenschaftlichen Fragestellungen nachzugehen. Für mich und meine Generation ist es vielmehr eine Verpflichtung, einen aktiven Beitrag für den Integrationsprozess der Türkei in Europa zu leisten. Die künftig zu behandelnden Themen liegen im Schnittbereich von Theologie und Religionswissenschaft. Dabei sind die auszuwertenden Quellen umfangreich und sehr vielfältig. Daher versteht es sich von selbst, interdisziplinär und ökumenisch zu arbeiten. Es wird sich zeigen, ob sich das Projekt einer quellenbasierten ökumenischen Kirchengeschichte verwirklichen lässt, vor allem angesichts der geschilderten Situation der Archive. Freiheit der Wissenschaft ist in einem Rechtsstaat ein durch die Verfassung gesichertes Gut. Dies gilt auch für die Archive.
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Martin H. Jung
Kirchengeschichte im interreligiösen Dialog 1. Zugang auf Umwegen Zwei Jahre in Israel, zwischen dem Abitur und dem Studium, stellten die Weichen für mein späteres Leben, prägten meine theologische Existenz und bestimmten meine Interessen als Kirchenhistoriker. Auslandserfahrungen sind immer von nachhaltigem Einfluss, vor allem, wenn man die Sprache des Gastlandes spricht und wirklich eintauchen kann in die fremde Kultur. Jedem Studierenden empfehle ich auch heute, sich ein Auslandssemester oder -jahr zu gönnen. Ohne meinen Aufenthalt in Israel 1976/77 als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste wäre ich nicht Theologe geworden, sondern wahrscheinlich Jurist oder Politiker. Die Israelerfahrung durchzog dann auch mein ganzes Theologiestudium. Ich war mit Opfern der Schoah konfrontiert worden, ich hatte fremde Religionen kennen gelernt, ich hatte eine von Religion geprägte Alltagswelt erlebt und Geschichte zum Anfassen, in der Form von Steinen, Landschaften und Menschen. Und so entschied ich mich für die Theologie und suchte eine Theologie, die sich den Herausforderungen der Geschichte und der Gegenwart stellt. Nach vier Semestern in Tübingen 1977-1979, wo man damals noch ausgelacht, wenn nicht angefeindet wurde, wenn man sagte, Christen könnten von Juden etwas lernen, zog es mich nach Berlin, wo der jüdisch-christliche Dialog in der evangelischen Theologie bereits lange und fest etabliert war. Auch das Leben und Studieren in Berlin, der damals noch geteilten, ummauerten Stadt, prägte mein weiteres Leben und meine theologische Existenz. Erneut gab es in Westberlin Geschichte zum Anfassen: Zeitzeugen - Persönlichkeiten, die Geschichte aktiv mitgestaltet hatten. Ich genoss enge Kontakte mit Helmut Gollwitzer (1908-1993), dem Nachfolger Martin Niemöllers in der Kirchenkampf-Gemeinde Dahlem 1937-1940, und mit Kurt Scharf (1902-1990), der nach Niemöllers Verhaftung die Geschäfte des Pfarrernotbundes geführt und als Präses des brandenburgischen Bruderrates gewirkt hatte. Ferner hatte ich freundschaftliche Verbindungen mit Werner Koch (1910-1994), der für die Bekennende Kirche Auslandsbeziehungen gepflegt hatte und 1936 im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Denkschrift an Hitler ins KZ gekommen war. Kirchengeschichte studierte ich an der Kirchlichen Hochschule, die ihre Existenz ebenfalls dem Kirchenkampf verdankte, bei Karl Kupisch (1903-1982), einem Kirchenkampf-Forscher der ersten Generation. Unter den damals jüngeren Professoren übte Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928-2002) einen prägenden Einfluss auf mich aus, nicht nur, weil er seine Dogmatik im christlich-jüdischen Gespräch entwickelte, sondern auch, weil er uns Studenten Mut machte zum eigenen theologischen Denken und uns als theologische Gesprächspartner ernst nahm, ganz anders, als ich das andernorts erlebt hatte.
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Die Berliner Theologie war damals aufregend und aufwühlend und ließ mich nach der praktischen, ja politischen Relevanz der Theologie fragen und suchen. Wir Studenten wollten, im Gespräch mit der Geschichte und motiviert aus der Geschichte, die Gegenwart verändern und die Zukunft gestalten. Und so war ich mit dabei, als am 3. Mai 1980 in Gorleben der Bauplatz für das geplante Atommülllager besetzt wurde und als am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten 300 000 Menschen gegen die weitere atomare Aufrüstung der Nato - damals Nachrüstung genannt - protestierten, und setzte mich mit 42 Pazifisten am 17. Mai 1980 aus Protest gegen eine alliierte Truppenparade bei der Siegessäule in Berlin auf die Straße des 17. Juni und blokkierte die anrollenden Panzer. Die Berliner Mauer allerdings hatten wir damals akzeptiert, niemand rechnete mit ihrem Fall. Ich dachte auch nicht, später Kirchenhistoriker zu werden, als ich 1983 meine Examensarbeit über Karl Barth und seine Israellehre schrieb und ein Jahr darauf in Lauffen am Neckar, wo 1534 die entscheidende Schlacht stattgefunden hatte, durch die Württemberg evangelisch geworden war, Vikar wurde. Ich wollte in die Praxis und als Gemeindepfarrer für die Menschen da sein und für Veränderungen in Kirche und Gesellschaft arbeiten. Doch 1987 wurde mir wegen meines guten Examens eine Assistentenstelle in Tübingen angetragen, welche die Landeskirche zu vergeben hatte. Sie war in der Kirchengeschichte und bei Professor Dr. Ulrich Köpf, den ich zuvor nicht gekannt hatte. Ich nahm und trat die Stelle an, rechnete aber wieder nicht damit, etwas anderes zu werden als württembergischer Gemeindepfarrer, nur eben mit einem Doktortitel. Bei der Wahl des Promotionsthemas bündelte ich mein von Israel herkommendes Interesse am Judentum und an den christlich-jüdischen Beziehungen mit meinem Interesse an gegenwärtiger Praxis in Kirche und Gemeinde, und ich arbeitete über „Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus“1. So hoffte ich, durch die Klärung geschichtlicher Hintergründe zur Neugestaltung der christlichjüdischen Beziehungen beitragen und gleichzeitig etwas über die noch heute stark von pietistischen Traditionen geprägte Landeskirche zu lernen, was ich in der Praxis als Pfarrer würde gebrauchen können. Die Beschäftigung mit dem Judentum ist inzwischen in der Theologie zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es ist der Bereich, in dem sich die Theologie in der jüngsten Geschichte am stärksten und nachhaltigsten verändert hat. Gleichwohl ist die geschichtliche Betrachtung der christlich-jüdischen Beziehungen immer noch von der Wahrnehmung des Negativen, der dunklen Seiten der Beziehungsgeschichte geprägt, während man nur wenig weiß über den ebenfalls nahezu immer vorhandenen christlichen Philosemitismus und positive, wechselseitig fruchtbare Austauschbeziehungen, wofür zum Beispiel die Niederlande des 17. Jahrhunderts stehen, aber auch Teile des deutschen Pietismus.2
1 M. [H.] Jung, Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675-1780) (SKI 13), Berlin 1992. 2 Vgl. M. H. Jung, Christen und Juden. Die Geschichte ihrer Beziehungen, Darmstadt 2008.
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Eine apologetische Sicht Luthers ist freilich noch stark verbreitet. Seinen Antijudaismus versucht man noch immer herunterzuspielen. Aber selbst zur LutherApologetik neigende Kirchenhistoriker sprechen inzwischen von einem frühneuzeitlichen Antisemitismus3, während man früher behauptete, im Christentum habe es „nur“ Antijudaismus, aber keinen Antisemitismus gegeben. Schon als ich meine Dissertation verfasste, war für mich frappierend festzustellen, dass auch im 17. und 18. Jahrhundert „getaufte Juden“ zeitlebens getaufte Juden blieben, von ihrer christlichen Umwelt bei ihrem Judentum behaftet wurden und man ihnen „angeborene“, ihrem „Volk“ eigene problematische Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen unterstellte. Solche Positionen bezeichnet man heute als rassistisch und antisemitisch. 1990 war die Dissertation fertig, und die Stelle in Tübingen lief aus, und ich ging wieder in die Praxis, nun als Pfarrvikar in die Kirchengemeinde Nehren, die damals tief zerrissen war durch einen jahrelangen Streit. Während ich in Nehren mit Gegenwartskonflikten beschäftigt war und nichts geschichtlich Bedeutendes entdecken konnte, stieß ich zufällig in den Nachbarorten Öschingen und Mössingen auf Christian Adam Dann, der dort von 1812 bis 1824 als Pfarrer gedient hatte. Der Pietist, der vom König aus Stuttgart vertrieben worden war, schrieb hier 1821/22 seine „Bitte der armen Tiere“, die zur Programmschrift der deutschen Tierschutzbewegung werden sollte.4 Der allererste Tierschutzverein Deutschlands wurde, angestoßen von Pfarrer Dann, 1837 in Stuttgart gegründet.5 Kaum ein Aktivist der Tierschutz- und Umweltbewegung weiß heute von diesen geschichtlichen Wurzeln, und auch in Theologie und Kirche sind die Dinge nicht bekannt. Nur im ländlichen württembergischen Pietismus stößt man vereinzelt noch auf das geflügelte Wort: „Wenn sich ein Bauer bekehrt, merkt es auch sein Vieh im Stall.“ Doch wie viele Bauern gibt es noch und wie viele von ihnen haben noch Vieh im Stall? 1992 wurde mir in Tübingen erneut eine Assistentenstelle in der Kirchengeschichte angetragen, und ich stand vor der Frage, welcher Thematik ich meine Habilitationsschrift widmen wollte. Da die Stelle zum Institut für Spätmittelalter und Reformation gehörte, das einst von Heiko A. Oberman (1930-2001) geleitet worden war und sich durch zahlreiche und große, mitunter auch umstrittene Projekte, darunter das berühmte Lutherregister, einen Namen gemacht hatte, lag es nahe, ein reformationsgeschichtliches Thema aufzugreifen. Mit Luther jedoch war ich nie recht Freund geworden, nicht zuletzt wegen seiner extremen Judenfeindschaft. So wandte ich mich der zweiten großen Gestalt der Reformationstheologie zu, Philipp Melanchthon, der bekanntlich in Bretten geboren worden war, das ich als gebürtiger Bietigheimer von Jugend an gut kannte. Bei Melanchthon griff ich eine weitere Fragestellung auf, die mich seit meinem Israelaufenthalt und auch in den Jahren im Gemeindedienst immer begleitet hatte: die Frage nach der gelebten Religion, nach der Vgl. Th. Kaufmann, Konfession und Kultur (SuR NR 29), Tübingen 2006, 149. Ch. A. Dann/A. Knapp, Wider die Tierquälerei. Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus, hg. v. M. H. Jung (KTP 7), Leipzig 2002. 5 Vgl. M. H. Jung, Die Anfänge der deutschen Tierschutzbewegung im 19. Jahrhundert. Mössingen Tübingen - Stuttgart - Dresden - München, ZWLG 56 (1997) 205-239. 3 4
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religiösen Praxis. Und so forschte und schrieb ich über „Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon“6. Der Zufall wollte es, dass 1997 ein Melanchthonjubiläum anstand und groß gefeiert werden sollte. Überraschend war, dass dieses Jubiläum an der Basis, in den Kirchengemeinden, auf größtes Interesse stieß, was vor allem dem Engagement des äußerst rührigen damaligen Kustos des Brettener Melanchthonhauses, Stefan Rhein, zu verdanken war. Dutzende von Vortragseinladungen waren die Folge. Während sich andere Kollegen dieser Art von Basisarbeit verweigerten, sah ich sie als eine Chance an, akademische Theologie mit Gemeindearbeit zu verbinden und zierte mich nicht, für 100 DM oder oftmals sogar umsonst in Gemeindehäusern über Melanchthons ökumenische Bedeutung oder Melanchthons Leben und Werk zu sprechen. An Melanchthon, einer Gestalt, bei der viele gerade das für unmöglich hielten, wollte ich ein Kapitel evangelischer Frömmigkeitsgeschichte aufarbeiten. Heinz Scheible, der größte unter den Melanchthon-Forschern, machte mir damals Mut dazu. Und siehe da, es zeigte sich, dass Melanchthons zahlreichen Privatbriefe interessante Einblicke in seine Frömmigkeit boten. Außerdem stellte sich heraus, dass uns von keinem anderen Reformator so viele Gebete überliefert sind wie von ihm. Eine kleine Sammlung von Melanchthongebeten schlug ein wie eine Bombe und erlebte vier Auflagen.7 Melanchthons Spiritualität ist auch heute noch anregend. 1997 verschlug es mich erneut ins Ausland. Meine erste Professur trat ich in Basel an. Auch diese Auslandserfahrung war in vielerlei Hinsicht wichtig und prägend. Ich lernte einen anderen Protestantismus mit einer anderen Geschichte kennen und überwand die deutschen, württembergischen und lutherischen Engführungen, die sich in Tübingen eingestellt hatten. Meine Forschungs- und Publikationstätigkeit weitete sich auf das gesamte Gebiet der neuzeitlichen Kirchengeschichte aus.8 Ich hatte auch Zeit zum Forschen und zum Schreiben, denn Studierende, die einen beanspruchten, gab es in Basel nur wenige. Die Vorlesungen waren klein und die Seminare noch kleiner. Die Fakultät war froh, wenn sich zum Wintersemester fünfzehn Erstsemester anmeldeten. Diese Rahmenbedingungen veränderten sich krass, als ich 2002 eine Professur in Osnabrück übernahm. Hier ist man heute froh, wenn sich im Herbst weniger als 150 Studierende neu einschreiben. Die gleiche Zahl von Professoren wie in Basel betreut hier zehnmal soviel Studierende. Sie wollen aber nicht Pfarrer, sondern Religionslehrer werden. Und die angehenden Religionslehrer und Religionslehrerinnen fragen noch kritischer als die Studierenden für das Pfarramt: Was nützt uns die Kirchengeschichte? 6 M. H. Jung, Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators (BHTh 102), Tübingen 1998. 7 Ich rufe zu dir. Gebete des Reformators Philipp Melanchthon, bearb v. M. H. Jung/G. Weng, hg. v. K.D. Kaiser im Auftrag des Melanchthon-Komitees der EKD, Frankfurt am Main 1996; M. H. Jung (Hg.), Ich rufe zu dir. Gebete des Reformators Philipp Melanchthon, 4., ganz neu gestaltete Aufl. Frankfurt a. M. 2010. 8 Vgl. M. H. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870 (KGE III/3), Leipzig 2000; ders., Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945 (KGE III/5), Leipzig 2002.
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2. Kirchengeschichte - wozu? In der Evangelischen Theologie wurde die Kirchengeschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts an den Rand gedrängt - und sie hat auch selbst viel dazu beigetragen. Barth und Bultmann, die beiden beherrschenden Gestalten des deutschen Nachkriegsprotestantismus, haben mit ihren unterschiedlichen Theologien in gleicher Weise dazu beigetragen, die Geschichte aus der Theologie hinauszukatapultieren. Exegese und Dogmatik standen im Zentrum des Interesses. Während die meisten Studierenden für das Pfarramt einen Bogen um das kirchengeschichtliche Lehrangebot der Fakultäten machten, wurde Kirchengeschichte in der Religionslehrerausbildung vielfach gar nicht mehr angeboten. Entsprechende Professuren wurden abgebaut. Die Evangelische Unterweisung glaubte ebenso wie der problemorientierte Religionsunterricht, aus der Bibel direkt in die Gegenwart und von der Gegenwart direkt in die Bibel springen zu können. Geschichte schien entbehrlich zu sein und wurde ignoriert als ob es eine evangelische Identität ohne Geschichte gäbe. Auch die Kirchenhistoriker selbst trugen zum Bedeutungsverlust ihres Faches in der Pfarrer- und Lehrerausbildung bei. Kirchengeschichtliche Seminare glichen vielfach zähen und mühsamen Übersetzungsübungen. Zu den eigentlich relevanten Fragen stieß man nicht vor. Ein Gegenwartsbezug wurde nicht gewollt. Fachdidaktische Perspektiven wurden nicht in den Blick genommen. Gähnende Langeweile kehrte ein, während es in der Dogmatik und in der Exegese damals sprühte und funkte. Doch die Chancen für eine Kirchengeschichtsrenaissance stehen nicht schlecht, nicht zuletzt wegen der gegenwärtigen Doppelkrise der Dogmatik und der Exegese, die die Studierenden nach Alternativen Ausschau halten lässt. Die Dogmatik hat sich - wegen mangelnder Substanz? - in den vergangenen Jahren in eine Abstraktion hochgeschraubt, die nicht nur Studierenden, sondern auch Fachkollegen ein Verstehen des Gedachten und Verschriftlichten vielfach nicht mehr ermöglicht. Ferner bleiben die Abstraktionen, anders als ich es als Student noch erlebt hatte, heute ohne Positionen und Konkretionen. Und die Bibelwissenschaften stehen vor dem Scherbenhaufen der historisch-kritischen Exegese, die nicht, wie von vielen Frommen einst vielfach befürchtet, den Glauben, sondern jedes Wissen in Nichts aufgelöst hat. Das Ergebnis von zweihundert Jahren historisch-kritischer Erforschung des Alten und des Neuen Testaments ist desaströs: Wir wissen nichts, beinahe nichts über die Geschichte Israels und über die Geschichte Jesu sowie über die Entstehung des Alten und des Neuen Testaments, und Theorien, Hypothesen und Interpretationen gibt es so viele wie Exegeten. Ich bin froh - entgegen meinen Studieninteressen - , nicht Exeget und nicht Systematischer Theologe geworden zu sein, sondern Kirchenhistoriker. Die Kirchengeschichte hat es einfacher. Sie ist verstehbar und anschaulich, sie verliert nicht den Boden unter den Füßen, sie präsentiert Fakten und kommt zu Ergebnissen. Keiner käme auf die Idee, die bloße Existenz eines Franz von Assisi, eines Martin Luther oder eines Dietrich Bonhoeffer zu bezweifeln. Und die Kirchengeschichte bietet auch jedem, vom frischen Studenten bis zum hoch qualifizierten Pro-
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fessor, die Chance, Eigenes und Neues zu wagen. Nicht Bekanntes zu wiederholen und allenfalls neu zu interpretieren, sondern Neues zu entdecken und zu erforschen, war und ist mein Anliegen.
3. Kirchengeschichte - wohin? An unerforschten Fragestellungen und ungesichteten Quellen mangelt es der Kirchengeschichte nicht. Die Auswahl wird auch von gegenwärtigen Fragestellungen und Interessen geleitet, denn Geschichte wird um der Gegenwart willen geschrieben. Die Theologie bildet Studierende in erster Linie für den Beruf des Lehrers oder des Pfarrers aus. Religionslehrer und Pfarrer müssen evangelische Identität definieren, verantworten und vertreten können. Das geht nicht ohne Kenntnis der Geschichte und der Theologie der Reformation. Reformationsgeschichte muss und wird deshalb von bleibender Bedeutung sein. Sie darf aber nicht auf Luther und Wittenberg verengt werden, wie es als Folge der unglücklich konstruierten „LutherDekade“ wieder einmal zu werden droht9, sondern muss die Reformation in ihrer ganzen Breite betrachten. „Refo 500“ ist der bessere Ansatz und Weg.10 Weltweit betrachtet gibt es heute mehr Reformierte als Lutheraner und noch mehr Baptisten und Pfingstler. Die „Wiedertäufer“, „Schwärmer“ und „Sakramentierer“ haben längst die Oberhand im modernen Protestantismus, und das muss auch zu neuen geschichtlichen Fragestellungen und Forschungsschwerpunkten zwingen. Neben der Definition, Verantwortung und Vertretung evangelischer Identität kommt der Auseinandersetzung und der Begegnung mit dem Judentum und dem Islam allerhöchste Priorität zu. Jeder Pfarrer einer größeren Stadt hat heute neben sich wieder einen Rabbiner, und alle Pfarrer aller größeren und kleineren Städte haben heute neben sich einen oder mehrere Imame. Jeder Religionslehrer in jeder Schule hat es auch zu tun mit moslemischen Kindern und Jugendlichen und mehr und mehr auch mit moslemischen Kollegen, ja sogar mit moslemischen Religionslehrern. In der Tat: Der Islam gehört heute zu Deutschland. Wenn ein Theologiestudium junge Menschen auf diese herausfordernden Aufgaben vorbereiten will - und es muss sie auf diese Aufgaben vorbereiten -, kommt dem Lernen über und mit den anderen Religionen eine große Bedeutung zu. Und das betrifft auch die Kirchengeschichte. Hinsichtlich des Judentums hat die Kirchengeschichte in den vergangenen Jahren ihre Hausaufgaben erfüllt, wie sie ihr 1991 in der EKD-Studie „Christen und Juden II“ gestellt worden waren.11 Hinsichtlich des Islams liegt jedoch beinahe alles noch vor ihr. Kaum ein kirchengeschichtliches Lehrbuch wirft an den Stellen, wo das möglich, ja geboten ist, einen Seitenblick auf den Islam und die Geschichte der christlich-islamischen Beziehungen. Nachdem sie sich dem christlich-jüdischen DiaURL: http://www.luther2017.de/7427-die-lutherdekade-luther2017-500-jahre-reformation (Zugriff 03.03.2012). 10 URL: http://www.refo500.nl/de/pages/178/was-ist-refo500.html (Zugriff 03.03.2012). 11 Christen und Juden II. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991. 9
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log gestellt hat, muss sich die Kirchengeschichte jetzt dem christlich-islamischen Dialog zuwenden. Zwischen dieser neuen Aufgabe und der zuerst formulierten traditionellen, identitätsbezogenen gibt es übrigens eine interessante, nachdenkenswerte, bislang gar nicht beachtete Verbindungslinie. Evangelische Theologen wissen, dass die Reformation nicht vom Himmel gefallen ist, sondern Voraussetzungen, unabdingbare Voraussetzungen hatte. Sätze wie „Ohne Humanismus keine Reformation“ (Bernd Moeller)12, „Ohne Buchdruck keine Reformation“ (Bernd Moeller)13, „Ohne (Unterstützung von) Frauen keine Reformation“14 sind längst zu geflügelten Worten geworden. „Ohne Luther keine Reformation“ versteht sich von selbst. Die gleiche Berechtigung hat aber auch ein Satz, der so erst selten15 ausgesprochen wurde: Ohne Türken keine Reformation. Es gibt nicht nur einen, sondern sogar zwei konkrete historische Zusammenhänge zwischen den Eroberungszügen der moslemischen Türken und dem Aufkommen und dem Erfolg der Reformation. Die eine Sache liegt auf der Hand: Hätten die Türken in den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts nicht das Deutsche Reich bedrängt, hätte der Kaiser früher, viel früher militärisch gegen die Reformation losgeschlagen und nicht erst 1546/47, als es schon zu spät war. Die Türkengefahr war aus Sicht nicht nur des Kaisers größer als die Reformationsgefahr, und sie ließ auch Evangelische und Katholiken gegen den äußeren Feind zusammenhalten. Der zweite Sachverhalt wird weniger bedacht: 1453 hatten die Türken Konstantinopel erobert. Als Folge dieses Ereignisses wanderten byzantinische Gelehrte mit ihren griechischen Büchern nach Westen16, vorwiegend nach Norditalien. Die Abendländer entdeckten in der Folge Platon neu, und sie richteten ihren Blick auf den griechischen, den unverfälschten Aristoteles. Der Ruf „Zurück zu den Quellen!“ (Ad fontes) verdankte sich ein Stück weit der Begegnung mit neuen Quellen. Der neue, geschärfte Blick richtete sich nicht nur auf den griechischen Aristoteles und B. Moeller, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, ZKG 70 (1959) 46-61, hier 59. 13 B. Moeller, Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hg. v. J. Schilling, Göttingen 2001, 88. 14 URL: http://www.buero-fuer-chancengleichheit.elk-wue.de/cms/startseite/die-reformationsdekade2008-2017/keine-reformation-ohne-unterstuetzung-der-frauen/ (Zugriff 03.03.2012). 15 Ich habe diesen Satz erstmals 2011 auszusprechen gewagt, als ich am 4. Juli vor Imamen, die an der Universität Osnabrück ihr Fortbildungsstudium abschlossen, einen Vortrag über die Geschichte der christlichen Theologie zu halten hatte. Inzwischen habe ich bemerkt, dass mein Göttinger Kollege Thomas Kaufmann genau diesen Satz schon seit 2008 bei der Verlagswerbung für seine TürkenMonografie und auch in Vorträgen einsetzt, allerdings mit einer anderen, auf die mit der Türkengefahr verbundene, die Reformation beflügelnde apokalyptische Stimmung abhebenden Begründung. Vgl. Th. Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation (FKDG 97), Göttingen 2008; URL: http://www.v-r.de/de/KaufmannTuerckenbuechlein/t/1001002990/ (Zugriff 05.03.2012); URL: http://idw-online.de/pages/de/news 340533 (Zugriff 05.03.2012). 16 Vereinzelt waren schon früher griechische Gelehrte in den Westen gelangt, doch auch diese früheren Migrationen hingen wie auch das Unionskonzil von Ferrara-Florenz (1438/39) mit der zunehmenden Bedrohung durch die Osmanen zusammen. 12
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den griechischen Platon, sondern auch auf die griechischen Kirchenväter und auf das griechische Neue Testament. Und damit sind wir beim Ausgangspunkt der Reformation: der neuen Begegnung mit der Bibel als dem Grundtext des Christentums, und zwar in ihrer unverfälschten Ursprache. Wäre das denkbar gewesen ohne die von den vertriebenen griechischen Gelehrten, also ohne die von der moslemischtürkischen Eroberung Konstantinopel-Istanbuls ausgehenden Impulse? Ich meine nicht. So gesehen verdanken wir die Reformation den Türken: Ohne Türken keine Reformation. Die christlich-islamische Geschichte bietet eine Menge höchst interessanter Themen, deren Erforschung freilich umfassende Kenntnisse arabischer Quellen seitens der Kirchenhistoriker voraussetzt oder zukunftsträchtige Kooperationsprojekte christlicher und moslemischer Theologen, wie sie an einigen Standorten der Theologie in Deutschland, darunter in Osnabrück, nunmehr möglich werden. Wichtige Themenkomplexe wären die jüdischen, judenchristlichen und christlichen Wurzeln des Islam, die Geschichte der christlichen Minderheitskirchen in der islamischen Welt, die Ursachen für die geschlossene Hinwendung der alteingesessenen nordafrikanischen Christenheit zur neuen Religion, das Miteinander von Juden, Christen und Moslems in Spanien unter arabischer Oberherrschaft, der arabisch vermittelte und geprägte mittelalterliche Aristotelismus, Konfrontationen und Begegnungen in der Kreuzfahrerzeit, theologische Wechselwirkungen bei Themen wie Prädestination und Verbalinspiration, Veränderungen der Dschihad-Idee durch die christliche Lehre vom Heiligen Krieg, die christliche Beteiligung an den osmanischen Eroberungen, die Religionstoleranz im frühneuzeitlichen Siebenbürgen unter türkischer Oberherrschaft, die protestantischen Wurzeln der modernen Islamwissenschaft. Neben den Identität stiftenden Kernthemen der Kirchengeschichte muss auch die Frömmigkeitsgeschichte des Protestantismus in der kirchengeschichtlichen Forschung weiter auf der Tagesordnung stehen. Die von Lucian Hölscher, einem Historiker, vor einigen Jahren vorgelegte Frömmigkeitsgeschichte zeigt die Desiderate aber auch die theologischen Wissensdefizite ihres Autors.17 Dennoch ist das Buch ein Pionierwerk. Es ist beschämend für uns Kirchengeschichtler, dass ein Profanhistoriker es wagte und keiner von uns. Doch eine fundierte Gesamtdarstellung bedarf noch vieler, vieler Basisstudien. Zum Beispiel müsste einmal die Taufpraxis im Luthertum unter die Lupe genommen werden. Immer wieder fiel mir bei meinen Aktenstudien auf, dass selbst in frommen Elternhäusern des 18. Jahrhunderts, zum Beispiel in der Familie Bengel, Säuglinge unmittelbar nach der Geburt zu Hause getauft wurden und nicht in der Kirche und nicht in einem Tauf- oder Gemeindegottesdienst.18 Die Jähtaufe war der Normalfall. Sieht so evangelische Heilsgewissheit aus? Sorgten sich die Eltern so sehr um das Heil ihres Neugeborenen? Interessant wäre es auch, der Frage nachzugehen, wie lange es auch im evangelischen Bereich noch die L. Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005. Vgl. M. H. Jung, „Ein Prophet bin ich nicht ...“. Johann Albrecht Bengel. Theologe, Lehrer, Pietist (Calwer Taschenbibliothek 97), Stuttgart 2002, 71; ders., Frauen des Pietismus. Zehn Porträts von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf (GTBS 1445), Gütersloh 1998, 79.
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perverse Praxis der Taufe Ungeborener im Mutterleib gab - Johannes Brenz wetterte in Predigten 1527 dagegen, und das bestimmt nicht ohne Grund.19 Der dramatische, beinahe traumatische Film „Die Hebamme“ zeigt, wie das im katholischen Milieu noch vor 200 Jahren aussah. Für einen Kirchenhistoriker, der mit anderen Wissenschaften kooperiert, stellt sich die Frage nach der eigenen Identität. Sie stellt sich auch aus praktischen Gründen. Welche Bedeutung hat die konfessionelle Differenz? Kann evangelische Kirchengeschichte nicht auch vom katholischen Kirchenhistoriker unterrichtet werden? Kann Kirchengeschichte nicht auch vom Historiker unterrichtet werden? Auch universitäre Sparzwänge lassen immer wieder solche Fragen aufkommen. Der Kirchenhistoriker ist Theologe, muss Theologe sein. Als Theologe nimmt er anders als der Geschichtswissenschaftler oder der Religionswissenschaftler eine Binnenperspektive ein, und das ist gut so. Er gehört der Religion an, über deren Geschichte er forscht. Der Kirchenhistoriker betrachtet als Theologe die Geschichte mit anderen Interessen, anderen Fragestellungen und anderen Schwerpunkten als der Geschichtswissenschaftler, und er hat immer auch das Ganze der Theologie im Blick. Ich halte es für unabdingbar, dass Kirchengeschichte von Kirchenhistorikern, also Theologen, gelehrt wird und nicht von Geschichtswissenschaftlern. Kein Geschichtswissenschaftler käme auf die Idee, Geschichte von einem Theologen unterrichten zu lassen, kein fachlich noch so ausgewiesener Kirchenhistoriker hätte bei einem geschichtswissenschaftlichen Berufungsverfahren eine Chance. Gleichwohl kooperiert der Kirchenhistoriker mit den Geschichtswissenschaftlern, denn er forscht mit den gleichen Methoden und auf demselben Niveau. Bei manchen Themen hat er als Theologe auch die besseren Verstehensvoraussetzungen, allerdings kann die von ihm eingenommene Binnenperspektive auch Wahrnehmungsblockaden oder -verzerrungen auslösen und sowohl in minder- als auch überkritische Positionierungen einmünden. Die Kirchengeschichte ist von allen theologischen Disziplinen am besten für die Vernetzung der Theologie mit anderen Wissenschaften geeignet, weil sich ihre theologische Verankerung anders als bei anderen theologischen Disziplinen inhaltlich und methodisch kaum auswirkt. Die Kirchenhistorie ist also die primäre Brücke zwischen der Universitätstheologie und anderen Universitätswissenschaften und bietet den anderen theologischen Disziplinen damit auch Chancen zur Vernetzung. Die historische Theologie ist die kommunikabelste (aber leider vielleicht nicht die kommunikativste) Disziplin der Theologie. Die Vernetzung der Theologie mit anderen Wissenschaften wurde mir, beginnend mit meiner Tätigkeit in Basel, von 1997 an zu einer immer wichtigeren Aufgabe. Wegen der Vernetzungschancen war ich auch von Anfang an aufgeschlossen für die Einführung von BA- und MA-Studiengängen auch in den theologischen Studiengängen. In Basel war die Theologische Fakultät Vorreiter der Umstellung im Sinne des Bologna-Prozesses, und seit mehr als zehn Jahren studiert man in Basel - und auch an anderen Universitäten der Schweiz, Österreichs, Dänemarks, der Niederlan19
Vgl. J. Brenz, Frühschriften, Tl. 2 (Johannes Brenz Werke 1), Tübingen 1974, 36f.
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de usw. - erfolgreich Theologie in gestuften und modularisierten Studiengängen. Eine Verweigerungshaltung, wie sie an deutschen Fakultäten rasch eingenommen wurde, schien mir von Anfang an schädlich zu sein. Darauf wies ich schon 2004 in meiner „Einführung in die Theologie“ hin und erntete viel Unverständnis und Widerspruch.20 Inzwischen liegt eine erste wissenschaftliche Untersuchung zum Thema Theologie und Bolognaprozess vor, eine Münsteraner praktisch-theologische Dissertation.21 Die Autorin stellt - und das überrascht mich nicht - eine zunehmende Marginalisierung der Theologie als Folge ihrer Abstinenz fest. Nun ist das Kind also in den Brunnen gefallen. Die Theologie hat infolge eigenen Verschuldens eine Chance verpasst und steht auf einem Abstellgleis. Pfarrerinnen und Pfarrer werden in Deutschland in einem Elfenbeinturm ausgebildet. In Osnabrück haben wir in der Lehrerausbildung mit der Umstellung beste Erfahrungen gemacht, gerade was die Vernetzung mit nichttheologischen Wissenschaften anbelangt. Die Theologie wird von den anderen Wissenschaften mehr wahr- und auch mehr ernst genommen als früher. In den Lehrveranstaltungen kommen Theologen und Nichttheologen miteinander ins Gespräch. Das brauchen künftige Religionslehrer für ihre Praxis - und künftige Pfarrer brauchen es erst recht. Der Historiker und der Kirchenhistoriker können und sollen feststellen, was wirklich geschehen ist22, und sollen sich nicht damit begnügen, Texte zu interpretieren und Geschichte zu konstruieren. Ich halte die postmoderne Hermeneutik, die momentan in vielen Geisteswissenschaften hoch im Kurs ist, nicht für besonders hilfreich. Dass ein Text verschieden interpretiert werden kann und dass die Biografie und die Positionen des Interpreten die Interpretation nachhaltig beeinflussen, ist eine Binsenweisheit. Insofern sind jeder historischen Erkenntnis Grenzen gesetzt, insbesondere wenn es um das Verstehen von Texten geht. Dennoch ist ein authentisches Verstehen nicht unmöglich, zumindest nicht in der Form der Annäherung. Interpretationen können nicht beliebig sein. Man kann sehr wohl, zumindest annäherungsweise, verstehen, was ein Melanchthon in seinen Loci oder ein Luther in seinen Katechismen sagen und erreichen wollte. Und es gibt auch Fakten, die man eruieren kann. Die Taufe eines Juden ist ein Faktum, und die Zahl der Taufen kann man statistisch ermitteln. Die Ablehnung eines taufwilligen Juden ist ebenfalls ein Faktum, das man freilich intentional unterschiedlich (aber nicht beliebig) interpretieren kann. Die Kirchengeschichte muss wie die Theologie insgesamt deutlich machen, dass sie Forschungsergebnisse zu erbringen in der Lage ist, die im Wissenschaftskosmos der Gegenwart kommunizierbar sind und kommuniziert werden, und so ihre Zugehörigkeit zu staatlichen Universitäten legitimieren. Kirchengeschichte muss ferner
Vgl. M. H. Jung, Einführung in die Theologie, Darmstadt 2004, 154. L. J. Krengel, Die Evangelische Theologie und der Bologna-Prozess. Eine Rekonstruktion der ersten Dekade (1999-2009), Leipzig 2011. 22 Festzustellen, „wie es eigentlich gewesen“ ist, war das - heute oftmals belächelte - Anliegen Leopold von Rankes, des Nestors der deutschen Geschichtswissenschaft. Vgl. L. von Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 33/34, Leipzig 1885, 7 (aus der Vorrede zum 1. Teil der „Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535“ von 1824). 20 21
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wie die Theologie insgesamt deutlich machen, dass ihre Arbeit praxis- und gegenwartsrelevant und in Kirche und Gesellschaft vermittelbar ist und vermittelt wird. Kirchengeschichte soll angehende Pfarrer und Lehrer nicht nur informieren, sondern auch motivieren. In keinem anderen Bereich der Theologie kann so leicht etwas Eigenständiges und Neues erarbeitet werden wie in der Kirchengeschichte. Hier liegt eine große Chance in der Regionalgeschichte. Wenn es gelingt, angehende Pfarrer und Lehrer regionalkirchengeschichtlich zu motivieren, gibt es eine Chance, dass sie kirchengeschichtlich am Ball bleiben und kirchengeschichtliche Themen in ihrem Beruf nutzen. Die Kirchengeschichte der eigenen Gemeinde, des eigenen Ortes, der Heimatregion ist für Lehrer und Pfarrer von besonderer Relevanz und bietet auch große didaktische Chancen. Notwendige Voraussetzung wäre die Stärkung der Regionalkirchengeschichte an den Universitäten. Pfarrer als Forscher - das gab es einmal, heute gibt es das aber nur noch selten, doch es könnte wieder angestrebt und vielleicht auch wieder erreicht werden.23 Ein dringliches Desiderat wäre auch die Nutzbarmachung der Kirchengeschichte für die Predigt. Die moderne protestantische Homiletik hat die Geschichte vollständig ausgeblendet. Wir brauchen Predigthilfen, die kirchengeschichtliches Material für die Verwendung in Predigten zusammenstellen, ordnen und aufbereiten. Die Kirchengeschichte muss sich den Religionslehrern und dem Religionsunterricht zuwenden, und sie muss fachdidaktisch arbeiten. Die Zukunft der evangelischen Kirchen in Deutschland liegt in den Händen der Religionslehrer, nicht der Pfarrer. Der schulische Religionsunterricht ist der Bereich, in dem die meisten Menschen und in dem Menschen über den längsten Zeitraum hinweg religiös geprägt werden. In Familie und Kirche spielt religiöse Erziehung nur noch eine marginale Rolle. Nach dem Konfirmandenunterricht haben die meisten Menschen nur noch höchst selten und zeitlich nur sehr knappe Kontakte zu Pfarrern. Ein identitätsklärend und religionsdialogisch ausgerichteter Religionsunterricht, zu dem eine ebenso ausgerichtete Kirchengeschichte unabdingbar gehört, hat große Zukunftsperspektiven.
23 Vgl. M. H. Jung, Pfarrer als Forscher. Über die Subjekte regionalkirchengeschichtlicher Forschungsarbeit und Strukturprobleme heutiger Regionalkirchengeschichtsforschung, in: M. Beyer/H. Otte/Ch. Winter (Hg.), Landeskirchengeschichte. Konzepte und Konkretionen. Tagung des Arbeitskreises Deutsche Landeskirchengeschichte im Kloster Amelungsborn vom 29. bis 31. März 2006 (HerChr Sonderbd. 14), Leipzig 2008, 137-144.
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Volker Leppin
Auf der Grenze - auf einem weiten Raum Kirchengeschichte interdisziplinär und ökumenisch „Auf der Grenze“ - so hat Paul Tillich seine autobiographischen Reflexionen betitelt1 und damit seine eigene wissenschaftliche Laufbahn ebenso beschrieben wie das, was ihn innerlich anreizte. „Auf der Grenze“, das ist wohl auch der Ort, an dem sich im heutigen Wissenschaftssystem Kirchenhistoriker und -historikerinnen in der Regel vorfinden: zwischen dem theologischen Diskurs, in dem sie wissenschaftlich aufgewachsen sind, und einem in hohem Maße kulturwissenschaftlich geprägten Gesprächsumfeld, in dem sie sich im Rahmen der heute selbstverständlichen Interdisziplinarität bewegen. Auf der Grenze zwischen genuin theologischen Fragen und Antworten und solchen Zugängen, die ohne weiteres auch in den säkular geprägten Nachbardisziplinen ihren Ort haben oder haben könnten. Dieses Dasein auf der Grenze hat schon Tillich nicht als Einschränkung geschildert, sondern deutlich gemacht, dass eine solche Existenz den Blick weitet. Wer Kirchengeschichte treibt, ist nicht auf ein bloßes Binnengeschehen eingeschränkt, kann nicht allein der „Sprache Kanaans“ verpflichtet sein, sondern erfährt gleichwohl, biblisch formuliert, dass seine oder ihre Füße „auf einen weiten Raum“ gestellt sind (Ps 31,9). Grenze als Grenzüberschreitung und Öffnung des Horizonts: Das macht den Reiz des kirchenhistorischen Arbeitens aus.
1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte Natürlich habe ich wie wohl die meisten Anfängerinnen und Anfänger mein Theologiestudium 1985 mit der Vorstellung begonnen, dass Theologie eigentlich in etwa das sei, was man in Dogmatik und Ethik lerne. Geprägt durch die Kirchentage der siebziger Jahre und die politisch gefärbte Diskussionskultur meiner Heimatstadt Marburg erhoffte ich mir recht unmittelbar Lösungen für grundlegende Fragen des Lebens und Handelns. In der Rückschau ist dabei deutlich, dass an meiner Hinwendung zur Kirchengeschichte auch andere, noch grundlegendere Prägungen Anteil hatten. Aufgewachsen als Sohn eines Pfarrers an der Marburger Elisabethkirche war mir die tiefe historische Verankerung des christlichen Glaubens früh erlebbar, gerade auch unter Einschluss des Mittelalters. Aber zum Durchbruch kamen diese kirchenhistorischen Erkenntnisse erst später im Studium. Zwar hatte ich mir rasch, noch während der ersten Studienjahre in Marburg, neben der Systematik die Exegese als einen Schwerpunkt erschlossen, und bald kam durch ein Studienjahr an der Dormitio-Abtei in Jerusalem 1987/88 auch die ökumenische Dimension hinzu, die ich bis heute für grundlegend für kirchenhistorisches Arbeiten halte. Dass ich dann aber 1
P. Tillich, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk, Stuttgart 1962.
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meine erste wissenschaftliche Qualifikationsarbeit im Fach Kirchengeschichte verfasste, war neben der Faszination an der Sache auch der begeisternden Lehrerpersönlichkeit von Gottfried Seebaß (1937-2008) zu verdanken, den ich in Heidelberg kennen und schätzen lernte. Der Verdacht, dass Kirchengeschichte etwas Staubiges sei, konnte sich in seinen Vorlesungen gar nicht erst einstellen. Der biographische Weg zu einem akademischen Fach mit all seinen Zufälligkeiten kann freilich den individuellen Zugang, um den es hier gehen soll, nur begrenzt erfassen. Auch und gerade wenn man - wie ich dies tue2 - die Gefahr der Konstruktion in jeder autobiographischen Rekonstruktion betont, wird man dazu neigen, auch tiefere Gründe für den eigenen Weg zu suchen und anzuführen. Will ich eine Grundstimmung benennen, die mich zur Kirchengeschichte geführt hat und in ihr antreibt, so ist es die Neugier auf Fremdes. Der weite Raum, den die Kirchengeschichte eröffnet, ist voller Formen des Christlichen, die sich jenseits des Vertrauten bewegen - erst recht, wenn man sich tatsächlich für ihre ökumenische Dimension öffnet. Wer im Vergangenen nur Bestätigung des Eigenen sucht, bleibt letztlich bei sich selbst. Die Erfahrung historischer Arbeit ist die Erschließung des Anderen - und dies auf verstehende Weise. So waren bereits meine Qualifikationsschriften - die Dissertation von 19943 über die spätmittelalterliche Theologie Wilhelms von Ockham und die Habilitationsschrift über lutherische Apokalyptik 19974 - Themen gewidmet, die mir innerlich fern standen und die mich gerade deswegen anzogen. Letztlich mag auch der heftige Streit um meine Luther-Biographie5 damit zu tun haben, dass ich an Luther mehr das Fremde als das Vertraute suchte und mich damit dem Verdacht aussetzte, mich von ihm zu distanzieren. So nachvollziehbar mir dieses Missverständnis ist, so sehr möchte ich doch auch daran erinnern, dass solche Entfremdung einen Schutz vor der Gefahr darstellen kann, Eigenes auf den Reformator zu projizieren. Um ihn als Gegenüber wahrzunehmen, wird man seine Andersheit ernst nehmen müssen.
Vgl. V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt ²2010, 107. V. Leppin, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham (FKDG 63), Göttingen 1995. 4 V. Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548-1618 (QFRG 69), Gütersloh 1999. 5 Siehe Leppin, Luther (wie Anm. 2); vgl. ders., Eine neue Luther-Debatte: Anmerkungen nicht nur in eigener Sache, ARG 99 (2008) 297-307. 2 3
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2. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Aufgaben Die wichtigste Aufgabe der Kirchengeschichte ergibt sich aus ihrer doppelten Diskurseinbindung: in das theologische Gespräch einerseits, den interdisziplinären Austausch andererseits. So ist die Aufgabe zweifach: eine Schärfung der historischen Selbstreflexion der Theologie einerseits, eine Offenlegung der Bedeutung der religiösen Dimension im historischen Geschehen andererseits. Die erste Aufgabe ist nicht dadurch zu lösen, dass sich die Kirchengeschichte allein als Teildisziplin der Theologie im Rahmen des traditionellen Fünffächerkanons versteht. Arbeitspragmatisch hat sie diesen Ort, und es wäre wenig sinnvoll, das eingespielte Miteinander aufzugeben. Aber über diese eher technische Dimension hinaus verweist Kirchengeschichte als konsequente Historisierung der Theologie auf die interdependente Einbindung aller christlichen Lebensvollzüge - in Theologie, Ritus und Lebenspraxis6 - in historische Zusammenhänge. Wenn es richtig ist, wie Hermann Deuser schreibt, dass Autorität „aus einem Zusammenspiel von jedenfalls vier Faktoren“ entsteht: „aus überlieferten ‚heiligen Texten‘ (…); aus geschichtlicher Traditionsbildung (…); aus lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Überzeugungsbildungen der Menschen (…); aus kritischer Vernunft (…)“7, dann hat kirchengeschichtliche Forschung einen eminenten Anteil an der Autoritätsbildung und damit am theologischen Urteil. Dem muss sie sich stellen. Das kann sie allerdings nur, wenn sie sich statt als bloße Teildisziplin als eine theologische Grunddimension versteht. Diese realisiert sie, indem sie konsequent historische Forschung am gemeinsamen theologischen Gegenstand betreibt. Die Bedingtheit eines historisch gegebenen Gegenstandes herauszuarbeiten, ist dabei kein Wert an sich, sondern sie hat nur Sinn, wenn hierdurch die Bedingtheit des eigenen Denkens, genauer: des eigenen theologischen Denkens ins Bewusstsein gehoben wird. Eben hierin liegt die konkrete Aufgabe der Kirchengeschichte. Sie dient so gesehen nicht einfach, wie es die verbreitete Fixierung auf Daten und Fakten bei Prüflingen in der Examensvorbereitung voraussetzt, der Bereitstellung von historischem Material in lexikalischer Fülle - der Respekt mancher Kollegen aus anderen Disziplinen vor der großen Gelehrsamkeit der Kirchenhistoriker ist durchaus ambivalent, weil er den kritischen methodischen Impetus jeder Historisierung zu unterschätzen droht. Kirchenhistoriker sind zum Glück nicht primär wandelnde Lexika, sondern sie leisten einen aktiven Beitrag zum Verstehen des Vollzugs von Theologie. In dieser Grundlagenarbeit vermittelt Kirchengeschichte theologisches Denken mit seiner eigenen unauflöslichen Bedingtheit. Dies ist mehr als das gängige Schema einer Unterscheidung von theologischen Gehalten und Situationsbedingtheit, in dem der Gedanke mitschwingt, dass ein Abstreifen der situativen Bedingungen den Weg zu einer reinen, überzeitlich anwendbaren Lehre eröffnet. Die kirchenhistorische 6 Siehe G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 19f, anknüpfend an C. Geertz, Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983, 4-95, 48. 7 H. Deuser, Kleine Einführung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, 36f.
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Arbeit macht grundlegend und durchgängig deutlich, dass theologische Lehre immer nur im Modus der Einbindung in historische Zusammenhänge zu haben ist. Wenn also kirchengeschichtliche Arbeit etwa die Bedingtheit von Luthers reformatorischer Entwicklung in den spätmittelalterlichen Strängen von Scholastik und Mystik herausarbeitet, so leistet sie einen Beitrag zur Analyse der Verwobenheit zwischen dem Denken über einen absoluten Gegenstand - Gott - und den unterschiedlichen Relationen, in denen dieses Denken entwickelt wird. Man könnte hier erneut auf Tillich, in diesem Falle seine Korrelationstheorie8, verweisen, um deutlich zu machen, dass es sich bei solchem Aufweis historischer Verwobenheit nicht um etwas handelt, was von außen an theologische Themen herangetragen würde, sondern um ein Konstituens religiöser Wirklichkeitserfassung. Die allgemeine Einsicht in Bedingtheit und Verwobenheit theologischer Aussagen macht dann zugleich deutlich, dass religiöse Wahrheitsbehauptungen ihrerseits historisch bedingt sind - und die Konkurrenz von Wahrheitsansprüchen mithin einerseits unvermeidlich, andererseits aber eher horizonterweiternd als begrenzend ist. Denn die Relativität der eigenen Wahrheitsauffassung eröffnet den Blick auf die mögliche Wahrheit anderer Deutungsmodelle. Darin liegt die angesprochene ökumenische Dimension der Kirchengeschichte, bei der es nicht nur um eine Ökumene der gegenwärtig existierenden Konfessionen geht, sondern auch um eine Ökumene der unterschiedlichen historischen Formationen: Die Beschreibung der Bedingtheit eigener dogmatischer Auffassung korrespondiert einer Sicht der Geschichte, die den historisch vergangenen Epochen neben der Bedingtheit auch die jeweilige - ihrerseits bedingte - Möglichkeit der Wahrheit zubilligt. Wahrheitsansprüche werden so eben als Ansprüche erkennbar, das heißt als im historischen Prozess zunächst einmal subjektiv und begrenzt getragene Vorgriffe auf eine allgemeine Wirklichkeit.9 Der weitere theoretische Rahmen für ein solches Verständnis deutet sich ebenfalls bei Tillich an, der bekanntlich als grundlegende Einsicht der Theologie die Erkenntnis des Symbolcharakters jeder theologischen Aussage formuliert hat - bis hin zu der umfassenden Aussage, dass der einzige nichtsymbolische Satz, der über Gott gesagt werden könne, laute: „Alles was über Gott gesagt werden kann, ist symbolisch.“10 Solche aus fundamentaltheologischen Grundüberlegungen gewonnenen Einsichten lassen sich ohne weiteres mit kulturwissenschaftlichen Überlegungen zur semiotischen Analyse von Religionsgeschichte verbinden, wie sie sich etwa bei Gerd Theißen11 oder Kaspar von Greyerz12 finden. Entsprechend habe ich vor einigen Jahren
Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Berlin/New York 81987, 73-80. Vgl. zu diesem Verständnis theologischer Aussagen als Antizipationen W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 312f. 10 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, Berlin/New York 81987, 15f. 11 Theißen, Religion (wie Anm. 6), 20. 12 K. von Greyerz, Religion und Kultur. Europa 1500-1800, Göttingen 2000, 11. 8 9
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solide Bibelkenntnis verfügt, wird sich auch in einem Oratorium, einem religiösen Gedicht oder selbst einem Roman von Günter Grass leichter tun, Rekurrenzen auf bestimmte Zeichen wiederzuerkennen. Gerade wegen ihrer starken kulturwissenschaftlichen Vernetzung ist es eine besondere Aufgabe der Kirchengeschichte im interdisziplinären Disput, solche Bezüge herauszuarbeiten. Freilich wäre die bloße Anhäufung von Wissensbeständen beziehungsweise der bloße Ausgleich für den auf Kosten religiöser Inhalte erfolgten Umbau des mitteleuropäischen Bildungshorizontes zu wenig für einen methodisch reflektierten Anspruch des Faches Kirchengeschichte. Vielmehr geht es darum, den Bezug des religiösen Zeichensystems auf andere Zeichensysteme herauszuarbeiten und hier deutlich zu machen - oder vor dem Vergessen zu bewahren -, dass das religiöse Zeichensystem für die Genese der europäischen Kultur von zentraler dynamischer Bedeutung ist. Gegenüber der Konzentration auf die transzendenzbezogene signifikative Relation des Zeichensystems geht es hierbei also um die horizontale Interdependenz, die Überschneidungen einschließt und eben an jener oben markierten Schnittstelle ansetzt, an der unter Umständen derselbe Gegenstand in unterschiedlichen Zeichensystemen differente Signifikate haben kann. Zur Analyse dieser Vorgänge bedürfen die Kulturwissenschaften der Experten und Expertinnen für das religiöse Zeichensystem, und diese bedürfen der kulturwissenschaftlichen Erhellung und Horizonterweiterung. Die Aufgabe der Kirchengeschichte besteht also in der Erarbeitung und Hervorhebung der Position und Bedeutung des religiösen Zeichensystems innerhalb des Gesamtgeflechts kultureller Kommunikation - angesichts der europäischen Geschichte ist dies keine geringe Aufgabe.
3. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Zukunftsperspektiven Als ich die eben zusammengefassten Überlegungen erstmals im Jahr 2003 auf einer Tagung vortrug, fragte ein Kollege in der Diskussion: „Muss ich nun meine Vorlesungen umschreiben?“ Meine spontane Antwort lautete: „Nein“. Heute würde ich dies etwas differenzierter beantworten. In der Tat bewegen sich die Gedanken zu einer semiotischen Reformulierung der Aufgabe der Kirchengeschichte weitgehend auf der Ebene theoretischer Durchdringung des faktisch ohnehin gegebenen Vollzugs kirchenhistorischer Arbeit in theologischem und interdisziplinärem Horizont. Dennoch lassen sich Zukunftsperspektiven entwickeln, freilich solche, die in ihrer Verwirklichung stets auch das faktische Fächerkonzert Theologischer Fakultäten und der Universitäten insgesamt berücksichtigen müssen, welche ohne Zweifel ein retardierendes Element sind. Insofern werden die Zukunftsperspektiven immer auch ein konservatives Moment enthalten, dies aber in diesem Falle aufgrund des oben Ausgeführten aus gutem Grund. Denn die Zukunftsperspektiven liegen in dreierlei: 1. im Erhalt der vollen Einbindung in die Theologischen Fakultäten. Die „Empfehlungen“ des Wissenschaftsrates „zur Weiterentwicklung von Theologien und religions-
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bezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“ vom 29. Januar 201015 haben die Theologischen Fakultäten in ihrer klassischen Struktur in Deutschland entschieden gestärkt. Theologie erscheint als ein sinnvoll aufeinander bezogenes Ganzes. Dabei mag offen bleiben, ob man der klassischen Einheitsbegründung durch Schleiermacher mit dem Verweis auf das kirchenleitende Amt16 folgt oder einer stärker an einem Gegenstand - dem christlichen Glauben und seinen Inhalten - orientierten Bestimmung folgt. Angesichts der wachsenden Notwendigkeit, Master-Studiengänge einzurichten, wird wohl letzteres in den Vordergrund treten und sich die einseitige Fixierung auf die Pfarramtsausbildung zwar nicht gänzlich verlieren, aber doch im Blick auf eine gegenstandsorientierte Bestimmung verschieben. Auch bei dieser darf aber das nicht verloren gehen, was die Theologischen Fakultäten gegenüber reinen religionswissenschaftlichen Departments auszeichnet: der affirmative Bezug auf den theologischen Diskurs als einem nicht nur kognitive, sondern auch existentielle Dimensionen eröffnenden Horizont. Der auf der Gegenstandsseite durch den christlichen Glauben und seine Inhalte konstituierten Einheit korrespondiert auf der subjektiven Seite eine affirmative Position zu eben diesem Glauben, auch wenn diese nicht durch subjektive Gewissensprüfung zu verifizieren ist, wohl aber durch die selbstverständliche Voraussetzung des gemeinsamen Diskurses, dass es sich bei dem gegenwärtig gültigen christlichen bzw. jeweils konfessionellen Zeichensystem um eine für die christliche bzw. konfessionelle Kommunikationsgemeinschaft in unterschiedlichen Graden verbindliche Explikation eines spezifischen verbindlichen Wirklichkeitsverständnisses handelt. In eben diesem Diskurs hat Kirchengeschichte ihren Ort, und der gegenwärtige Stand der Kirchengeschichte legt die Aussage nahe, dass gerade dies ein Bereich ist, an dem Kirchenhistoriker und -historikerinnen verstärkt arbeiten können und sollen. Aus guten Gründen hat sich die Disziplin Kirchengeschichte aus dogmatischem Zugriff befreit und sich eine eigenständige Stellung im Konzert der Wissenschaften erarbeitet. Dass die einzelnen Disziplinen der Theologie nicht einer anderen, der Dogmatik, unterstehen, hat schon vor einigen Jahrzehnten für die Ethik Trutz Rendtorff dargelegt.17 Faktisch gilt dies schon lange für die Kirchengeschichte. Sie hat nicht als „Hilfswissenschaft“, um ein gerne zitiertes Dictum heranzuziehen18, ancilla für andere zu sein. Die Zeiten, in denen sie hiergegen ankämpfen musste, dürften aber vorbei sein.
15 Siehe http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678-10.pdf?PHPSESSID=e94302705950 9b1.d1e410bf156ae535c (Zugriff 27.06.2012). 16 Vgl. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe, hg. v. H. Scholz, Leipzig 31910 (ND Darmstadt 1993). 17 T. Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. 1, Stuttgart u.a. ²1990, 43. 18 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1, München 1932, 3; vgl. hierzu Ch. Uhlig, Funktion und Situation der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin (EHS.T 269), Frankfurt/M. u.a. 1985, 2429.
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Vor allem aber ergibt sich aus der Verselbständigung der Disziplinen ganz selbstverständlich, dass der Einheitsgrund der Theologie nicht mehr durch diese oder jene Disziplin, konkret: durch die Dogmatik, gestiftet wird, sondern durch das Miteinander der Fächer, die der christliche Glaube im Blick auf Gegenstand und Subjekt verbindet. Die Einheit liegt diesen Fächern nicht voraus, sondern sie ist im theologischen Diskurs, institutionell gesprochen: im Diskurs der Theologischen Fakultäten je neu auszuhandeln und zu gewinnen. Dabei kommt der Kirchengeschichte aufgrund der oben beschriebenen wissenschaftstheoretischen Grundlegung ein konstitutiver Anteil zu. Diesen sollte sie nicht vernachlässigen (und sich so aus dem Zusammenhang der Theologie verabschieden), sondern in Mischung aus Universalität und Partikularität aktiv nutzen. Universal ist sie, insofern kein Gegenstand der Theologie ihr gänzlich unzugänglich oder verschlossen ist. Partikular hingegen ist sie, insofern sie nur eine begrenzte Perspektive einzubringen vermag, deren Bedeutung in der konsequenten Historisierung der in religiösen Zeichensystemen ausgedrückten Glaubensinhalte liegt. Dieser Stärkung der Einbindung in den theologischen Diskurs steht 2. die Intensivierung der Einbindung in die interdisziplinären Verbünde keineswegs entgegen. Im Gegenteil: Die Kirchengeschichte hat hier eine wichtige Brückenfunktion zwischen der Theologie und den anderen Disziplinen, denn ihr historisches Spektrum geht über weite Strecken den in den europäisch orientierten Kulturwissenschaften gelehrten und erforschten Gebieten parallel beziehungsweise ist mit ihnen vernetzt. Wenn die oben vorgetragene semiotische Analyse auch nur in Ansätzen richtig ist, so ist die Kirchengeschichte konstitutiv auf die Mitarbeit der anderen Disziplinen angewiesen, so wie diese umgekehrt ihrer bedürfen, um ihre Gegenstände recht zu erfassen. Eine Bach-Kantate etwa ist nicht nur Gegenstand der Musikwissenschaft, sondern eben auch der Frömmigkeitsgeschichte, eine Stiftung gehört in die Geschichte von Wirtschaft und Sozialfürsorge, ebenso selbstverständlich aber auch zur Kirchengeschichte. Es sind also nicht Zwänge des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs, die die Kirchengeschichte zur interdisziplinären Arbeit drängen, sondern ihre ureigensten Gegenstände. Das bringt es mit sich, dass ihre Zukunftsperspektive darin bestehen muss, sich in die unterschiedlichen Forschungsverbünde und Zentren einzubringen. Sie kann hier, nimmt man die Zusammenhänge der Semiotik ernst, voll und ganz an der allgemeinen historischen Methodik partizipieren, ohne etwas von ihrer theologischen Einbindung aufgeben zu müssen. Ja, sie kann ihren im theologischen Diskurs entwickelten und erweiterten Bildungshorizont aktiv in die interdisziplinären Zusammenhänge einbringen und so zur Repräsentantin der Theologie als Ganzer im modernen Wissenschaftssystem werden. Betrachtet man die Bedeutung der Religion für die europäische Geschichte, gibt es zahlreiche Bereiche, in denen der Theologie, zumal angesichts des seit dem 11. September 2001 gesteigerten Interesses an Religion, eine Schlüsselrolle zukommt. Neben solchen institutionellen Überlegungen sollte aber nicht 3. die regulative Idee von Kirchengeschichte als umfassender Kulturgeschichte in theologischer Absicht vergessen werden. Kirchengeschichte ist in semiotischer Reformulierung in
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doppelter Weise eine Perspektive auf das Ganze: Sie nimmt das Ganze der Theologie in historisierender Perspektive wahr, und das Ganze der Universalgeschichte erscheint bei ihr in religionsgeschichtlichem Blick. Kirchengeschichte wird institutionell immer eine Teildisziplin der Theologie wie der allgemeinen Geschichtswissenschaft bleiben und muss dies aus arbeitspragmatischen Erwägungen auch. Aber diese partikulare Aufgabe kann sie nur dann voll und ganz erfüllen, wenn sie sich selbst auf die Universalität der jeweiligen Inhalte bezieht.
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Christoph Markschies
Kirchengeschichte - oder: Warum es ein Vergnügen ist, zwischen den Stühlen zu sitzen 1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte Meinen Zugang zur Kirchengeschichte möchte ich biographisch erläutern - nicht deswegen, weil meine Biographie aufgrund irgendwelcher Besonderheiten verdient, in den Mittelpunkt gestellt zu werden, sondern allein deswegen, weil ich davon überzeugt bin, dass der individuelle Zugang zu einem wissenschaftlichen Feld tief biographisch bestimmt, wenn natürlich auch nicht gänzlich determiniert ist.1 So auch in meinem eigenen Fall. Meine Eltern - der Vater arbeitete als Professor für neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin, die Mutter kümmerte sich als promovierte Lehrerin für Deutsch und Geschichte um die beiden Kinder - haben immer sehr darauf geachtet, dass sie mich nicht nur an das Lesen und die Literatur quasi ganz selbstverständlich heranführten, sondern mir auch den Zugang zu materiellen Überresten vergangener Kulturen ermöglichten, freilich ganz ungezwungen und nie mit einer unangenehmen oder belastenden bildungsbürgerlichen Attitüde. So besichtigten wir auf Reisen selbstverständlich Kirchen, Klöster, Schlösser und Stadtanlagen. Auch Musik und bildende Kunst waren in einer Familie, deren väterliche und mütterliche Wurzeln eigentlich in Ostpreußen und Bayerisch-Schwaben liegen, die aber seit der Weimarer Republik in Leipzig ansässig war, natürliche Begleiter. Dass beispielsweise Johann Sebastian Bach für nahezu jeden Sonntag im Kirchenjahr eine Kantate geschrieben hat und man diese Kantaten in den Vespern der Leipziger Thomaskirche hören kann (sofern der Thomanerchor dort anwesend ist), wusste schon der Grundschüler; die Ferien an der dänischen Ostseeküste wurden nicht nur unterbrochen, um die in Nordseeland gelegenen Schlösser zu besichtigen oder die Orgel des mit Michael Praetorius befreundeten Esaias Compenius des Älteren im Renaissance-Schloss Frederiksborg zu hören (wobei natürlich immer auf die Beschreibung des Schlossbrandes 1859 in Fontanes Roman „Unwiederbringlich“ hingewiesen wurde). Vielmehr stand jedes Mal auch die Besichtigung der zeitgenössischen Skulpturen von Henry Im folgenden Abschnitt werden sehr viele Personen erwähnt; ich habe darauf verzichtet, für alle diese Personen einführende Literaturtitel zu nennen, um die Anmerkungen nicht allzu sehr aufzublähen. Mein wissenschaftliches Œuvre hat anlässlich der Auszeichnung mit dem Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen 2010 mein Münchener Kollege Roland Kany im Rahmen seiner Laudatio ausführlich dargestellt und gewürdigt: R. Kany, Laudatio für Christoph Markschies zur Verleihung des Theologischen Preises, in: G. M. Hoff (Hg.), Endlich! Leben und Überleben, Innsbruck/Wien 2010, 2940.
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Moore und Jean Tinguely im Freilichtmuseum Louisiana bei Kopenhagen auf dem Programm. Und trotzdem gab es auch viel Erholung am Strand, Sandburgenbau und lange Wanderungen in der Natur - eine vollkommen unbelastete Kindheit, die gleichwohl unendlich viele Chancen eröffnete. Im Sommer 1972 meldeten mich meine Eltern auf dem altsprachlichen Gymnasium in Berlin-Steglitz an - und ich hatte das große Glück, bei einem klassischen Philologen in die Schule gehen zu dürfen, der nicht nur als Kind in Leipzig bei meinem Großvater mütterlicherseits, einem überzeugten Reformpädagogen2, selbst Griechisch gelernt hatte, sondern keinen Hehl aus seiner Zuneigung zur evangelischen Kirche machte. Sonnabends übersetzten wir im Unterricht den Predigttext des folgenden Sonntags aus dem griechischen Neuen Testament - ein reizvoller Kontrast zum evangelischen Religionsunterricht, in dem gleichzeitig Berichte über die Indianer Mexikos aus der Feder des Anthropologen Carlos Castaneda gelesen wurden. Jedenfalls so lange gelesen wurden, bis sich aufgrund der spezifischen und bis auf den heutigen Tag trotz aller Bemühungen unveränderten Rechtslage des Berliner Religionsunterrichtes als freiwilliges Unterrichtsfach in der Verantwortung der Kirchen nach der Konfirmation die allermeisten Schülerinnen und Schüler abgemeldet hatten und nur noch ein winziges Häuflein übriggeblieben war, das den verdutzten Katecheten bat, anhand von uralten Lehrbüchern ausgerechnet Kirchengeschichte zu traktieren. Ein Bild in einem meiner Fotoalben aus Schülertagen zeigt vier gutbürgerliche Berliner Gymnasiasten in Cordhosen Ende der siebziger Jahre auf dem Wittenberger Elbdeich, in der Mitte den mit Lederjacke und Jeans deutlich moderner gewandeten Religionslehrer. Ich fehle, denn ich habe das Bild aufgenommen. Dass ich mit den vier Freunden dafür votiert hatte, im Religionsunterricht Kirchengeschichte zu traktieren, konnte niemand verwundern. Als in der ersten Klasse des Gymnasiums, die nur noch die Älteren traditionell Sexta nannten (ansonsten hatte man es auf jener Schule nicht mehr so mit den klassischen Termini und Werten eines humanistischen Gymnasiums), der Mathematiklehrer für die Einführung in die Mengenlehre die Hobbys der Schülerinnen und Schüler abfragte, nannte ich neben dem, was alle nannten (Pferde beispielsweise, was eigentlich gar nicht stimmte), auch „Geschichte“. Darauf lachten zwar einige, aber das war mir schon damals eher egal, weil die, die mir wichtig waren, nicht lachten. Ich erinnere mich, wie sich die Eltern meiner Grundschulfreundin ziemlich wunderten, als ich - auf der geliebten Schaukel sitzend - von mir gab, was ich in irgendeiner Zeitung für neue Erkenntnisse über den Reichstagsbrand gelesen hatte. Und ich entsinne mich, dass ich aus dem elterlichen Bücherschrank Leopold von Rankes „Neun Bücher Preußischer Geschichte“ von 1847/48 nahm und ganz fröhlich darin las. So lag es nahe, als zu Beginn der gymnasialen Oberstufe Spezialisierung angesagt war, Geschichte als Leistungskurs zu wählen (neben dem Griechischen selbstver 2 Th. Herrle, Die deutsche Jugendbewegung in ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, Gotha 21924; ders., Fröhliches Latein. Ein Wiederholungs- und Übungsbuch. Formenlehre, Kasuslehre, Satzlehre, Leipzig 1937.
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ständlich). Der Lehrer begeisterte mich freilich wenig, obwohl er (ein Schüler des Berliner Historikers Hans Herzfeld [1892-1982]) zu sorgfältiger Quelleninterpretation anhielt und vor allzu großen Linien warnte. Aber als Tutor der Arbeit, die ich für den Bundeswettbewerb Geschichte der Körber-Stiftung zum Thema „Wohnen im Wandel“ 1978 abfasste, gab ich daher meinen verehrten Griechisch-Lehrer an. Die Arbeit befasste sich mit einer ursprünglich im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus der Weimarer Republik in Berlin-Zehlendorf angelegten „Waldsiedlung“ und enthält eine ganze Reihe von Interviews mit Menschen, die damals in der Siedlung wohnten und mit deren Hilfe ich die Nutzbarkeit einer Siedlung der zwanziger Jahre für die seinerzeitige Gegenwart erkunden wollte.3 Als integralen Teil dieses historischen Interesses, das zu Schülerzeiten zwischen Architekturgeschichte, Stadtgeschichte, preußisch-deutscher Geschichte, Zeitgeschichte und Kirchengeschichte oszillierte, empfand ich auch die Lektüre von Friedrich Nietzsches Abhandlung „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ von 1874, die wir in einer Arbeitsgemeinschaft Philosophie (neben der „Ethik“ Nicolai Hartmanns und der „Offenen Gesellschaft“ Karl Poppers) behandelten meine Eltern sprachen freilich, da jede der Sitzungen in einer gar nicht so üblen Pizzeria endete, gern von der „Bier-AG“ und drückten dem Sohn lächelnd Geld für Bier (und Pizza) in die Hand. Aber die Idee, wissenschaftliches Nachdenken und gemeinsame Mahlzeiten zu kombinieren, war dem Oberschüler spätestens seit der Lektüre von Platons entsprechendem Dialog „Symposion“ im Griechisch-Unterricht der Oberstufe vertraut; er schätzt sie bis heute, beispielsweise in Form der „Institutes for Advanced Study“ in Princeton, Jerusalem oder Berlin-Grunewald. Neben Elternhaus und Schule haben meinen Zugang zur Kirchengeschichte meine heimatliche Kirchengemeinde Berlin-Dahlem und ihre Pfarrer geprägt. Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater mich auf einen älteren Herrn hinwies, der ostentativ in der letzten Kirchenbank der Jesus-Christus-Kirche (der zweiten Dahlemer Predigtstätte neben der berühmten St. Annen-Dorfkirche) saß, und sagte: „Das ist Heinrich Grüber“. Wer jener Grüber war, wurde mir erst viel später im Studium und danach deutlich, aber ich sehe sein Gesicht lebendig vor mir.4 Das Gleiche gilt für die Theologen der Bekennenden Kirche5, die in Berlin-Dahlem bisweilen oder Die Arbeit unter dem Titel „Wohnen im Wandel am Beispiel der Waldsiedlung (Großsiedlung ‚Onkel Toms Hütte‘), Berlin-Zehlendorf“ umfasste 197 Seiten, wurde mit einem dritten Preis ausgezeichnet und ist unter der Signatur 1978-0294 im Archiv der Körber-Stiftung einsehbar. Die im Internet zugängliche Datenbank der Stiftung bietet folgendes Abstract: „Unter politischen, sozialgeschichtlichen und architektonischen Gesichtspunkten behandelt die Arbeit die allgemeine politische und städtebauliche Situation im Berlin der 20er Jahre, beschreibt allgemeine Architekturtendenzen der 20er Jahre und greift als Person den Baustadtrat Wagner und den Architekten Bruno Taut heraus, geht auf die Berliner Wohnungsbaugenossenschaften ein und schildert die Entstehung der Waldsiedlung. Verschiedene Familien aus der Siedlung werden befragt.“ (http://www.koerber-stiftung.de/bildung/geschichtswettbewerb/ datenbank.html) (Zugriff 15.06.2012). 4 Zuletzt H. Ludwig, An der Seite der Entrechteten und Schwachen. Zur Geschichte des ‚Büro Pfarrer Grüber‘ (1938 bis 1940) und der Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945, Berlin 2009. 5 Vgl. nur G. Schäberle-Königs, Und sie waren täglich einmütig beieinander. Der Weg der Bekennenden Gemeinde Berlin/Dahlem 1937-1943 mit Helmut Gollwitzer, Gütersloh 1998, sowie H. Gollwitzer, 3
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im Falle von Scharf und Gollwitzer regelmäßig - predigten: Martin Niemöller habe ich einmal an einem Ostermontag im Gottesdienst erlebt, Helmut Gollwitzers und Kurt Scharfs Gottesdienste besuchte ich seit Konfirmandentagen regelmäßig. Im Unterschied zu ihrer öffentlichen Wahrnehmung habe ich sie sehr, sehr selten politisch predigen gehört (wenn man einmal davon absieht, dass Kurt Scharf im Rahmen der Abkündigungen regelmäßig die Namen der Gefangenen des Monats von Amnesty International nannte).6 Ganz im Gegenteil predigten Gollwitzer und Scharf (und übrigens auch Heinrich Albertz, der gelegentlich aus Schlachtensee herüberkam und in Predigtreihen mitwirkte) erwecklich, auf die innere - um es ganz traditionell paulinisch zu formulieren, wie sie es auch getan hätten - Auferbauung ihrer Gemeinde bezogen, sehr streng an den biblischen Texten orientiert, die für den jeweiligen Sonntag als Predigttext vorgeschlagen waren.7 Gollwitzer trug immer noch den bayerischen Talar seiner Vikarszeit mit Samtbesatz (oder hatte ihn jedenfalls bayerisch ersetzt), Scharf verzichtete ostentativ auf sein Amtskreuz und trug es nur am Tage, da er das Bischofsamt seinem Nachfolger Martin Kruse übergab. Dass beide hochpolitische Theologen waren, blieb mir dennoch nicht ganz verborgen. Als Kurt Scharf im Jahre 1974 Ulrike Meinhof im Gefängnis besuchte, wurde einer meiner Mitschüler aus dem evangelischen Religionsunterricht abgemeldet. An die Debatten über ein in allen Berliner Zeitungen publiziertes Bild, das Gollwitzer 1981 beim symbolischen Einzug in ein besetztes Berliner Haus zeigte, die Matratze wie das Kreuz Christi über dem Kopf tragend, erinnere ich mich ebenfalls noch. Aber ich kann nur bezeugen, dass die Predigten der beiden „Dahlemer Alten“ von Kommentaren über Hausbesetzungen, Umgang mit Linksterrorismus und Extremismus und was an politischen Themen im Westteil Berlins in den siebziger Jahren noch diskutiert wurde, vollkommen frei waren. Zu Konfirmandenzeiten war ich mit dem Fahrrad umhergefahren und hatte allerlei andere Gottesdienste in der Innenstadt und auch am Stadtrand besucht, darunter übrigens auch einige Gottesdienste des Leiters der Berliner Bekenntnisbewegung, des Superintendenten Reinhold George (1913-1997). Aber die Gottesdienste der Dahlemer Heimatgemeinde hatten mir deutlich mehr zugesagt, auch wenn ich die gelegentlich dort übliche Attitüde, die ich am besten mit dem Titel einer Gemeindeveranstaltung „Widerstand damals und heute“ beschreibe, etwas merkwürdig fand. Mehr sagte mir der Lesekreis eines Dahlemer Pfarrers zu, den ich auf der Konfirmandenfreizeit kennen gelernt hatte und bei dem wir nicht nur Friedrich Nietzsche, sondern auch Gollwitzers Abschiedsvorlesung lasen und besprachen, die unter dem charakte Skizzen eines Lebens. Aus verstreuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden v. F.-W. Marquardt/ W. Brinkel/M. Weber, Gütersloh 1998. 6 W.-D. Zimmermann, Kurt Scharf. Ein Leben zwischen Vision und Wirklichkeit, Göttingen 1992, sowie R. von Wedel, Kurt Scharf - Kämpfer und Versöhner, Kleinmachnow 2010. 7 In dieser Tradition stand übrigens auch der bereits pensionierte Marburger Homiletiker Hans-Werner Surkau, bei dem ich meine ersten homiletischen Veranstaltungen absolviert habe, die sich natürlich signifikant von dem unterschieden, was später in München und Tübingen gelehrt wurde. Zu meinen Erinnerungen aus Pro- und Hauptseminar von Surkau vgl. Ch. Markschies, Das Leben lieben und gute Tage sehen [Berliner Predigten]. Texte für die Seele, Frankfurt a. Main 2009, 6-9.
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ristischen Titel „Befreiung zur Solidarität“ veröffentlicht wurde.8 Und ich genoss, wie ernst die jungen Gemeindeglieder in Dahlem genommen wurden, wie überzeugt man dort von dem Konzept einer „mündigen Gemeinde“ in der Tradition der Bekennenden Kirche war. So stand am Ende einer jeden Konfirmandenfreizeit die Abfassung von Glaubensbekenntnissen, die angesichts der theologischen Tradition und des bildungssoziologischen Milieus der Gemeinde natürlich ebenso orthodox wie formvollendet ausfielen. Aufgrund solcher Prägungen war es mir schon in den späten siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nie eine Frage, dass ich Theologie studieren und als evangelischer Pfarrer arbeiten wollte. Ich nahm mir aber auch vor, historische, philologische und philosophische Vorlesungen zu besuchen. Da ich annahm, meine Lebenszeit im ummauerten West-Berlin zubringen zu müssen und damit in einer (jedenfalls aus der Perspektive des Schülers) schlimm zerstrittenen Kirche9, fragte ich kurz vor dem Abitur 1980 meine Eltern, wo sie „im Bundesgebiet“ Freunde an bekannten und für die Theologie einschlägigen Universitätsorten hätten. Meine Eltern nannten Göttingen und Marburg - und da wir damals unseren Urlaub in Österreich verbrachten (an Sir Karl Poppers Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1979 unter dem Titel „Schöpferische Selbstkritik in Wissenschaft und Kunst“ erinnere ich mich gut), machten wir auf der Rückreise nach Berlin in Marburg Station, genauer im Pfarrhaus der herrlichen spätromanischen einstigen Zisterzienserinnen-Klosterkirche Caldern bei Marburg, dessen Garten nicht nur „Paradies“ heißt, sondern auch ein solches darstellt. Da insbesondere mein Vater der Ansicht war, dass das Paradies nicht zu übertreffen sei, fuhren wir von Marburg aus gleich nach Berlin zurück und Göttingen war (wie übrigens auch Tübingen) aus dem Kreis der möglichen Studienorte ausgeschieden. Mein Studium in Marburg nahm ich zum Sommersemester 1981 auf, nachdem ich noch eine Art Grand Tour mit den vier Freunden vom Wittenberger Elbdeich durch Italien gemacht hatte (für die ich mir mein Geld als Aushilfsverkäufer von Handtüchern und Bettwäsche bei Karstadt verdient hatte). Neben der mir aus dem Schulunterricht vertrauten Antike in Rom, Neapel samt den Vesuv-Städten und Paestum10, beeindruckten mich besonders die oberitalienischen Städte der Renaissance, vor allem Venedig, dann aber auch Florenz. In den ersten Marburger Semestern studierte ich nicht sehr gründlich das Fach Kirchengeschichte, weil ich fand, dass nach dem Besuch eines Leistungskurses Ge H. Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität. Einführung in die evangelische Theologie, München 1978. Der oben erwähnte Superintendent Reinhold George beschwerte sich irgendwann in den späten siebziger Jahren beim Konsistorium über eines der Bekenntnisse der Konfirmanden und warf der Gemeinde vor, im Gottesdienst „ein häretisches Glaubensbekenntnis“ gesprochen zu haben. Der damalige Bischof Martin Kruse schickte den Brief seines Schöneberger Superintendenten mit der Bitte um Kommentar an den geschäftsführenden Dahlemer Pfarrer, der ihn mit Kopfschütteln im gleichfalls erwähnten Gesprächskreis verlas. 10 Mein Griechisch-Lehrer Dr. Claus Friedrich hatte den auf einer Klassenreise 1976 in Athen gesehenen Parthenon-Tempel der Akropolis als „steriler Spargel“ einer Diktatur von der Architektur der Tempel in Paestum abgehoben: „Da ächzt das Kapitell noch unter der Last des Dachgebälks.“ Natürlich fanden wir dorthin reisenden Schülerinnen und Schüler diesen Eindruck vollkommen bestätigt. 8 9
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schichte in der gymnasialen Oberstufe nun erst einmal andere Fächer besonders interessant waren - vor allem das Alte Testament, das ich sofort belegen konnte, da ich mit dem Studium des Hebräischen schon zu Schulzeiten begonnen hatte. Aber auch das Neue Testament und die Philosophiegeschichte faszinierten mich, die Nikomachische Ethik des Aristoteles habe ich bei dem klugen Philosophen Reinhard Brandt gelesen.11 Freilich war das Orientierungsprojekt, das ich zu wählen hatte und das ein überaus chaotischer Privatdozent aus der Schule des von mir verehrten Marburger Systematikers Carl Heinz Ratschow anbot, im Grunde doch kirchengeschichtlich: Wir lasen neben den verschiedenen Einführungen in theologisches Arbeiten, die die Tutoren des chaotischen Dozenten routiniert erledigten, die Vorlesungen über das „Wesen des Christentums“, die der Berliner Kirchenhistoriker Adolf von Harnack im Jahre 1900 vor Hörern aller Fakultäten gehalten hatte. Harnack hat mich seit diesem Marburger Orientierungsprojekt nicht mehr losgelassen, nicht nur deswegen, weil er in die Geschichte des mir seit Dahlemer Tagen vertrauten Dietrich Bonhoeffer hineingehört, sondern auch deswegen, weil ich seit 2004 seinen einstigen Lehrstuhl an der Berliner Humboldt-Universität übernommen habe und das AkademieUnternehmen an der ehemals Preußischen, nun Berlin-Brandenburgischen Akademie leite, das er gegründet hat und dem er bis zu seinem Tode vorstand.12 Doch zurück zum Studium: In die Kirchengeschichte führte mich in Marburg der Kirchenhistoriker Heinz Liebing (1920-2003) ein. Er war damals schon schwer krank, gab vom Proseminar „Franz von Assisi“, das er im Wintersemester 1981/82 anbot, nur wenige Stunden - aber diese wenigen Stunden habe ich als so furios in Erinnerung, dass ich im folgenden Wintersemester sowohl seine Reformationsgeschichte wie auch ein Seminar zu Luthers frühen Disputationen besuchte. Liebing war vom frischen Protest Heiko A. Obermans (1930-2001) gegen die erstarrte Orthodoxie der Luther-Deutung der Enkelschüler Karl Holls geprägt, obwohl er in Tübingen von dem Holl-Schüler Hanns Rückert ausgebildet worden war. Liebing höhnte über die Verklärung des Reformators als „Max Schmeling mit LutherMaske“, der mit „womöglich wuchtigen Hammerschlägen“ die Neuzeit eröffnet haben sollte. Gerade war Obermans Luther-Biographie erschienen, die einen zerrissenen Reformator porträtierte: „Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet - Mich 11 Eine autobiographische Erinnerung an dieses Seminar findet sich in einem Grußwort, das ich als Präsident der Humboldt-Universität im Oktober 2010 zur Eröffnung einer Tagung gehalten habe: Ch. Markschies, Grußwort zur Konferenz „Kants ‚Streit der Fakultäten‘ oder der Ort der Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaften“, in: L. Honnefelder u. a. (Hg.), Kants „Streit der Fakultäten“ oder der Ort der Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaften, Berlin 2012, 16-24. 12 Ich habe zwei Texte Harnacks ediert: Adolf von Harnack, Protokollbuch der Kirchenväter-Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1897-1928. Diplomatische Umschrift v. St. Rebenich, Einleitung und kommentierende Anmerkungen v. Ch. Markschies., Berlin/New York 2000, sowie Adolf von Harnack, Wie soll man Geschichte studieren, insbesondere Religionsgeschichte? - Thesen und Nachschrift eines Vortrages vom 19.10.1910 in Christiania/Oslo, hg. v. Ch. Markschies, ZNThG 3 (1995) 148159, und einige Beiträge über ihn veröffentlicht, die in der vollständigen Bibliographie auf meiner Homepage nachgewiesen sind: http://www2.hu-berlin.de/patristik/markschies_bibliographie.htm (Zugriff 15.06.2012).
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wundert’s nicht, daß er Dämonen sieht!“13 Seit diesen Veranstaltungen interessieren mich die frühen wie die späten Disputationen Martin Luthers, und ich habe immer noch Schwierigkeiten, Eindrücke eigener Luther-Lektüre mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was ich bei Karl Holl, seinen Schülern und Enkelschülern (samt den Urenkeln) lese. Allzu sehr scheint mir das, was dieser hochbegabte Freund Harnacks schrieb, von dessen eigener Biographie und dem Berliner Kontext der zwanziger Jahre geprägt worden zu sein. In den letzten beiden Marburger Semestern (dem Wintersemester 1982/83 und dem Sommersemester 1983) besuchte ich eine Veranstaltung, die für meine Prägung als Kirchenhistoriker ebenfalls noch bedeutsam werden sollte: „Topologie Jerusalems“ war sie benannt und wurde von einem Kunsthistoriker und Archäologen angeboten, den die Nachbauten der Topographie Jerusalems in deutschen Städten wie Görlitz oder Weilburg interessierten, aber auch die Vorbilder im Heiligen Land.14 Das Seminar war mit einer Exkursion nach Israel und Palästina im März 1983 verbunden. Schon vorher hatte ich beschlossen, mich für das ökumenische Studienjahr der Abtei Dormitio auf dem Jerusalemer Zionsberg zu bewerben. Zu meiner (ungelogen) nicht geringen Überraschung wertete man die beim DAAD in Bonn im Mai 1983 abgelegte Auswahlprüfung als bestanden, und ich durfte ab August desselben Jahres ein unvergessliches Jahr in der Heiligen (und wie ich gern hinzufüge: Unheiligen) Stadt erleben. Wieder war das Studium der Theologie - wie ich damals an den Marburger Alttestamentler Otto Kaiser schrieb, dessen Lehrveranstaltungen (übrigens auch zu Philosophen wie Platon oder Hegel, aber auch ein Sprachkurs zum Biblischen Aramäisch) mich beeindruckt hatten - von so existentieller Bedeutung, dass es weit mehr als Wissensvermittlung bot und vielmehr „eine Lebensform“ darstellte. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, auch unter den Bedingungen der Bologna-Reform entsprechende Lehrveranstaltungen anbieten zu können und auf diese Weise meinen Beitrag dafür zu leisten, dass auch gegenwärtig Theologiestudium und insbesondere das Fach Kirchengeschichte weiter „Lebensform“ werden oder bleiben können. Kirchengeschichtliche Lehrveranstaltungen im eigentlichen Sinne wurden im Jerusalemer Studienjahr nicht angeboten, auch setzte ich manches, was ich in Marburg begonnen hatte, dort gar nicht fort (wie das Studium der syrischen Sprache, in der beispielsweise die interessante Schriftexegese der antiochenischen Schule überliefert ist. Ich hatte an der Philipps-Universität den entsprechenden Kurs besucht, weil zum C. F. Meyer, Huttens letzte Tage. Eine Dichtung, Leipzig 1871, Nr. XXXII (Luther); vgl. ders., Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausg., Bd. 8, hg. v. A. Zäch, Bern 1970, 271. - Vgl. H. A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1981, sowie ders., Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf, Tübingen 21979, und ders., Spätscholastik und Reformation, Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965. 14 Damals begegnete mir erstmals der Palästinawissenschaftler Gustaf Dalman (1855-1941), dessen offene Synthese von philologischer, historischer und ethnologischer Methodik in Verbindung mit einem gesteigerten Interesse an der Wirkungsgeschichte altorientalischer und antiker Phänomene der Arbeit vieler Kollegen seiner Zeit weit voraus war. Zur Lehrveranstaltung lasen wir natürlich: G. Dalman, Das Grab Christi in Deutschland (SCD 14), Leipzig 1922. 13
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tres faciunt collegium einer fehlte und der eine ich sein sollte). Die einzige patristische Lehrveranstaltung, gehalten von einem bedeutenden Lehrer der römischen Mutterinstitution des Jerusalemer Studienjahres, des Pontificio Ateneo Sant’Anselmo in Rom, fand ich eher langweilig und schloss sie mit der schlechtesten Prüfung in diesem Jahr ab. Aber ich begriff am See Genezareth erneut etwas, das bis auf den heutigen Tag meinen Zugang zu historischen Phänomenen bestimmt: Ich begriff, dass zum besseren Verständnis der neutestamentlichen Erzählungen ein lebendiger Eindruck von diesem kleinen Provinzsee am Ende des römischen Weltreichs notwendig ist und historische Kenntnisse der Geschichte der christlichen Konfessionen wie des Judentums oder des Islams unabdingbar sind, um die gegenwärtigen Verhältnisse und Konfliktlagen zu verstehen. Mit anderen Worten: Wenn heute aufgrund des so genannten spacial turn selbstverständlicher wird, die räumliche Konstruktion eines Erinnerungsortes in der historischen Arbeit zu berücksichtigen, und überhaupt die Bedeutung der Erinnerung und des kulturellen Gedächtnisses mehr beachtet wird, so ist mir dies durch das Studium in einem so tief von der (Religions-)Geographie und den kollektiven wie individuellen Erinnerungen geprägten Land wie Israel immer schon vertraut gewesen. Außerdem entschied sich damals, wenn ich das rückblickend richtig analysiere, dass ich nach dem Examen die Geschichte des antiken Christentums zu meinem Berufsfeld gewählt habe und bis auf den heutigen Tag mit großer Lust traktiere. Ich bemerkte nämlich in Jerusalem plötzlich, dass meine eigenen Versuche, in einer studentischen Arbeitsgruppe Probleme der Christologie angesichts der jüdischen Einsprüche und des biblischen Befundes zu diskutieren, in Wahrheit uralte Lösungsmodelle favorisierten, die sämtlich in den ersten fünf Jahrhunderten der Kirchengeschichte bereits gedacht wurden - glücklicherweise las in Jerusalem der Neuendettelsauer Systematiker Joachim Track seine Christologie mit einer ausführlichen dogmen- wie theologiegeschichtlichen Einleitung und begann nicht bei Luther, Schleiermacher oder gar bei Track. Seit dieser Zeit interessiert mich die Geschichte der christlichen Theologie nicht als Ideengeschichte klassischen Typs, sondern im Sinne einer erneuerten History of Ideas15, in der beispielsweise die religionsgeographischen oder sozialen Kontexte der Produktion wie Transformation von Wissen integraler Bestandteil der historiographischen Arbeit sind. Ich mag es angesichts meines leidenschaftlichen Interesses für die Antike natürlich gar nicht, wenn Kolleginnen oder Kollegen glauben, Prozesse der Modernisierung und Rationalisierung von Religion seien für die europäische Neuzeit typisch und dabei ignorieren, welche hochkomplexen Debatten über die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft (und damit auch von dem, was wir seit dem Mittelalter „Theologie“ nennen) in der Antike geführt wurden und Christenmenschen umtrieben. 15 Vgl. Ch. Markschies, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ideengeschichte - zum Werk Hans Freiherr von Campenhausens, in: Ch. Markschies (Hg.), Hans Freiherr von Campenhausen - Weg, Werk und Wirkung (AWH.PH 43), Heidelberg 2008, 9-27.
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Auf Jerusalem geht auch mein Interesse an marginalisierten Gruppen in der Christentumsgeschichte zurück; es ist nicht auf das (schwierig zu verstehende) Phänomen des „Judenchristentums“ beschränkt geblieben. Nach dem Abschluss des Jerusalemer Studienjahres im Juni 1984 wechselte ich für ein Jahr nach München, auch in der Erwartung, dort wieder angemessen Philologie und Philosophie studieren zu können. In der bayerischen Hauptstadt war ich nicht nur an der Ludwig-Maximilians-Universität immatrikuliert, sondern auch Gaststudent der Hochschule für Philosophie, die die Jesuiten dort bis auf den heutigen Tag betreiben. Dort studierte ich beispielsweise scholastische Logik, eigentlich unabdingbar für das Verständnis der reformatorischen Texte, da die Reformatoren eben diese Form der Logik bereits im Grundstudium traktiert haben. An der EvangelischTheologischen Fakultät besuchte ich erstmals universitäre Veranstaltungen über Texte der christlichen Antike - und die Wirkungen dieser Veranstaltungen waren in zweifacher Hinsicht tiefer, als ich seinerzeit begriff. Denn ich hörte zum einen eher weniger begeistert die nicht sehr strukturierten Vorlesungen bei dem dortigen Altkirchenhistoriker und späteren Erzbischof Georg Kretschmar (1925-2009). Es brauchte eine späte Begegnung mit diesem Gelehrten in dem kleinen (Erz-)Bischofsbüro der am Sankt Petersburger Newskij-Prospekt gelegenen Sankt-Petri-Kirche, um die Folgewirkungen dieses Vorlesungsbesuchs zu erkennen: Kretschmar empfing mich im Mai 1999 in der einstigen Sauna des Gebäudes, das in meinem Geburtsjahr 1962 zu einem Schwimmbad umgebaut worden war, und bemerkte: „Sie interessieren sich ja wie ich für die Geschichte Jerusalems und des Heiligen Landes in der Antike.“16 Wahrscheinlich waren es tatsächlich seine Anregungen, die mich dazu gebracht haben, das Interesse an der Ursprungsregion des antiken Christentums zum Thema meiner Forschungen zu machen, dazu hat mich sicher auch beeinflusst, wie selbstverständlich Kretschmar - im Unterschied zu allen seinen damaligen Kolleginnen und Kollegen - die Geschichte der Liturgie in seine Arbeit einbezog.17 Zum anderen aber besuchte ich bei dem später in Tübingen wirkenden Kirchenhistoriker Ulrich Köpf mein erstes patristisches Hauptseminar über die Schrift „De Doctrina Christiana“ des nordafrikanischen Bischofs Augustinus (eine Art Kompendium der christlichen Glaubenslehre und ihrer hermeneutischen Voraussetzungen) und übernahm von diesem Schüler des Kirchenhistorikers wie Systematikers Gerhard Ebeling Vgl. H. Busse/G. Kretschmar, Jerusalemer Heiligtumstraditionen in altkirchlicher und frühislamischer Zeit (ADPV 8), Wiesbaden 1987. 17 Vgl. nur Ch. Markschies, Stadt und Land. Beobachtungen zur Ausbreitung des Christentums in Palästina, in: H. Canzik/J. Rüpke (Hg.), Römische Reichsreligion und Provinzialreligion, Tübingen 1997, 264-298; ders., Himmlisches und irdisches Jerusalem im antiken Christentum, in: M. Hengel/S. Mittmann/ A. M. Schwemer (Hg.), La Cité de Dieu/Die Stadt Gottes. 3. Symposium Strasbourg, Tübingen, Uppsala 19.-23. September 1998 (WUNT I/129), Tübingen 2000, 303-350; ders., Einheit und Vielfalt des Christentums in Palästina - drei Fallbeispiele, in: A. Jördens/H. A. Gärtner/H. Görgemanns/A. M. Ritter (Hg.), Quaerite faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum. Dankesgabe für Albrecht Dihle zum 85. Geburtstag aus dem Heidelberger „Kirchenväterkolloquium“ (Studien zur Kirchengeschichte 8), Hamburg 2008, 180-202; zuletzt ders., Khirbet Midras. Das spätantike Grab des Propheten Sacharja und sein Schicksal im 21. Jahrhundert, HlL 143 (2011) 3-7. 16
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ein mich bis heute tief prägendes Interesse an der Geschichte von Begriff wie Disziplin der „Theologie“ und an der Bildungsthematik in der Geschichte des Christentums. Dass ich während meiner Jenaer wie Heidelberger Jahre eine „Geschichte der antiken christlichen Theologie“ mit einem umfangreichen Band zu den institutionellen Voraussetzungen der Produktion, Transformation und Normierung von theologischem Wissen in der kaiserzeitlichen Antike geschrieben habe und im Jahre 2007 schließlich veröffentlichen konnte18, lag sicher auch an den Impulsen, die ich durch diesen akademischen Lehrer empfangen habe, bei dem ich dann später in Tübingen Oberseminare besuchte. Eine letzte Münchener Prägung muss ich unbedingt noch erwähnen: Ich hörte bei dem seinerzeit dort wirkenden Systematiker Eilert Herms zwei Semester lang eine Vorlesung über die Theologie Martin Luthers. Obwohl Herms ein wenig im Schatten der bekannteren Systematiker Pannenberg und Rendtorff stand, begeisterten mich seine Ausführungen, die in Wahrheit aus einer luziden Nachzeichnung der kleinen sakramentstheologischen Traktate des Reformators bestanden, die auf die Thesen von 1517 folgten und die große Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche von 1520 vorbereiteten. Herms hat mich in der Überzeugung bestärkt, dass eine Darstellung der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft, die nicht auch beschreibt, wie das göttliche Schöpfungswort die Wirklichkeit zubringt, die es im mündlich gepredigten Wort der Heiligen Schrift zusagt, dieselbe sträflich verkürzt. Ich lese gern in Luthers Schriften, und der klassische Brauch, dass - im Unterschied zur so genannten Profangeschichte, die diesen Brauch schon im 19. Jahrhundert aus guten Gründen aufgegeben hat - Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistoriker alle Vorlesungen des Zyklus der Kirchen- und Theologiegeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart der Zeitgeschichte lesen, ist mir zwar immer eine Herausforderung, aber auch Freude. Von München wechselte ich 1984 nach Tübingen und zwar, um es einmal so romantisch zu formulieren, vor allem der Liebe wegen. Meine damalige Freundin war Stipendiatin des traditionsreichen Tübinger Stiftes und, da es sich um ein nur kurzfristig in Geld auszahlbares so genanntes Natural-Stipendium handelte (freies Wohnen, Essen und Musikunterricht), gleichsam gezwungen, in die schwäbische Geistesmetropole zurückzukehren. In Tübingen fand ich die beiden eigentlichen kirchengeschichtlichen Lehrer wobei diese Aussage doppelt unpräzise ist: Der eine Lehrer war und ist eine Lehrerin, die allerdings niemals Professorin, sondern immer Professor werden wollte und die Anrede als „Doktormutter“ ziemlich komisch fand: Luise Abramowski, eine Schülerin des Bonner Reformationshistorikers Ernst Bizer, gleichwohl auch patristische Autodidaktin in der Tradition des Münchener Altertumswissenschaftlers Eduard Schwartz.19 Der zweite Lehrer war tatsächlich ein Lehrer, aber eigentlich Neute 18 Ch. Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007 (Studienausg. 2009). 19 Vgl. L. Abramowski, Dogmengeschichte und Literarkritik, in: D. Meyer (Hg.), Kirchengeschichte als Autobiographie. Ein Blick in die Werkstatt zeitgenössischer Kirchenhistoriker, Bd. 2 (SVRKG 154), Köln 2002, 1-16.
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stamentler. Freilich arbeitete er so stark historisch, dass man ihn, ohne zu zögern, zu den Kirchenhistorikern zählen kann: Martin Hengel (1926-2009).20 Zu Abramowski kam ich, weil sie eine syrische Lektüre anbot und ich diese während Jerusalemer und Münchener Zeiten brach liegende Sprache wieder auffrischen wollte (der Kurs war so schütter besucht, dass ich einen ganzen Tag auf die Vorbereitung verwendete), zu Hengel, weil mir der von mir sehr verehrte Neutestamentler Gert Jeremias, bei dem ich als studentische Hilfskraft arbeitete, eines Tages eröffnete: „Ich kann Sie nicht weiter fördern. Sie müssen zu Hengel gehen.“ Also begann ich die legendären Oberseminare Hengels zu besuchen, die in seiner häuslichen Bibliothek den ganzen Freitagabend hindurch, oft unter Beisein ausländischer Gäste, abgehalten wurden. Dort habe ich einige Referate gehalten, die - anfänglich durch Hengel unterbrochen und mit anregenden Kommentaren versehen (später bat ich darum, zu Ende sprechen zu dürfen) - üblicherweise auf der Basis von umfangreichen Kopien antiker Originaltexte anzulegen waren und den ganzen Abend füllen sollten. Aus seinem Oberseminar über das Johannesevangelium im 2. Jahrhundert (und der Gnosis-Vorlesung von Luise Abramowski) ist mein Dissertationsthema erwachsen. Hengel ermahnte alle, die bei ihm studierten, antike Sprachen zu erlernen und beständig zu üben (er litt zeitlebens darunter, nicht bereits auf einem altsprachlichen Gymnasium Griechisch erlernt zu haben). Und so besuchte ich Kurse in der äthiopischen, altarmenischen, koptischen und mandäischen Sprache. Insbesondere der Koptologe Alexander Böhlig (1912-1996) und der Semitist Rainer Voigt haben mich mit ihren umfassenden Sprachkenntnissen sehr beeindruckt. Böhlig errichtete zusammen mit seiner Frau, der Byzantinistin Gertrud Böhlig, aus dem gemeinsamen Vermögen eine Stiftung zur Förderung der Studien des Christlichen Orients, deren Stiftungsrat ich seit dem Tod des Ehepaares vorstehe. Luise Abramowski zog wenige Hörerinnen und Hörer an, weil sie in ihren Lehrveranstaltungen voraussetzte, dass die Studierenden sich das Grundwissen selbst beigebracht hatten oder schon anderswo erlernt hatten. Dafür konnte man in ihrer Vorlesung „Dogmengeschichte nach Chalzedon“ aber Zeuge werden, wie sie die beiden in der Überlieferung kontaminierten spätantiken Autoren Leontius von Byzanz und Leontius von Jerusalem oder einen von ihr entdeckten Redaktor im antihäretischen Werk des stadtrömischen Theologen Hippolyt Zeile für Zeile aus den griechischen Texten herauspräparierte. „Dogmengeschichte und Literarkritik“ hat Frau Abramowski einmal selbst ihr Programm überschrieben. Kritik etablierter Forschungshypothesen als Grundvoraussetzung allen wissenschaftlichen Arbeitens und eine außerordentliche methodische Strenge (übrigens gepaart mit großer ostpreußischer Herzlichkeit) konnte und kann man bei ihr lernen. Wenn ich im Unterschied zu vielen Kolleginnen und Kollegen mich nie eindeutig für die alexandrinische oder für die antiochenische Option der Christologie in der Antike entschieden habe, sondern die im evangelischen wie katholischen Bereich gern vernachlässigten oder gar Vgl. J. Frey, Martin Hengel als theologischer Lehrer, in: M. Hengel, Theologische, historische und biographische Skizzen (Kleine Schriften 7), hg. v. C.-J. Thornton (WUNT 253), Tübingen 2010, V-XXIII.
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als „Trennungschristologen“ diffamierten Antiochener mit großer Aufmerksamkeit zu behandeln versuche, obwohl ihre Texte oft schwer zugänglich sind, dann verdankt sich auch dieser Grundzug meines Bildes vom antiken Christentum Anregungen meiner Lehrerin Luise Abramowski. Als Promotionsthema schlug sie mir, da sie auch die Nähe zum Neutestamentler Hengel wahrnahm (dessen an Harnack gemahnende Hypothesen-Freudigkeit sie freilich mit freundlichem Spott bedachte), schon vor dem Ende des Studiums die christliche Gnosis und ihr Verhältnis zum kaiserzeitlichen Platonismus vor und fragte mich (mit unvergesslicher Kürze), ob ich als ihr Assistent das Thema bearbeiten wolle. Von daher und angesichts einer schweren Erkrankung meiner Lehrerin war es für mich keine Frage, dass ich nach dem ersten Theologischen Examen im Dezember 1987 nicht sogleich ins Vikariat gehen, sondern zunächst als Assistent an meiner Promotionsschrift arbeiten wollte. Trotzdem habe ich mein ursprüngliches Berufsziel, Pfarrer zu werden, nie aus den Augen verloren, bin im September 1994 zum geistlichen Amt ordiniert worden, habe seither viele Gottesdienste (in den letzten Jahren vor allem im Berliner Dom und in der dortigen St. Matthäus-Kirche an der Philharmonie) und manche Kasualgottesdienste zu schönen wie traurigen Anlässen gehalten. Ein Band mit Berliner Predigten ist veröffentlicht und dokumentiert, dass ich zwischen den Berufen des Pfarrers und des Professors gern deutlich unterscheiden möchte, selbst wenn ich beides nicht vollständig trennen kann.21 Von daher erklärt sich nicht nur ein Gutteil meines kirchlichen Engagements (beispielsweise als Vorsitzender der Theologischen Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland), sondern auch die Tatsache, dass mir immer wieder einmal der Gedanke durch den Kopf schießt, doch noch einmal Gemeindepfarrer zu werden - beispielsweise an jenem Tag im Jahre 2008, da in der Stralsunder St. Marienkirche die restaurierte barocke Orgel von Friedrich Stellwagen (1653-1659) eingeweiht wurde und eine festliche Gemeinde das ganze Gotteshaus füllte. Zwei akademische Lehrer aus Tübingen muss ich noch nennen, die meinen Weg als Kirchenhistoriker geprägt haben: den zu früh verstorbenen Gräzisten Konrad Gaiser (1929-1988) und den Systematiker Eberhard Jüngel. Gaiser las Platons Dialoge so, dass die Entwicklung hin zum kaiserzeitlichen so genannten Mittelplatonismus und zum spätantiken Neuplatonismus nicht als Bruch, sondern als eine organische Entfaltung von bestimmten Grundweichenstellungen erschien. Dieses so genannte Tübinger Platon-Bild prägt (wenn auch gegenüber Gaiser modifiziert und um kritische Einwände Poppers ergänzt) bis auf den heutigen Tag meine Lektüre seiner Dialoge und meine Rekonstruktion der Geschichte des antiken Platonismus. Bei Eberhard Jüngel kann man, wie er selbst einmal in einer Ankündigung für eine Lehrveranstaltung geschrieben hat, „lesen lernen“, also lernen, mit Leidenschaft Texte so lange hin und her zu bewegen, bis ihr Sinngehalt und das Potential, das sie bieten, einigermaßen und vorläufig ausgeschöpft sind. Jüngel hat mich davor be Vgl. Ch. Markschies, Das Leben lieben und gute Tage sehen [Berliner Predigten]. Texte für die Seele, Frankfurt a. M. 2009.
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wahrt, den theologischen Aufbruch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie er die „Barmer Theologische Erklärung“ von 1934 prägte, wie manche meiner Kolleginnen und Kollegen in Bausch und Bogen zu verwerfen und ohne viel Federlesens einfach an die theologische Generation anzuknüpfen, die jene Lehrer der Bekennenden Kirche ihrerseits verwarfen. Natürlich glaube ich nicht, dass man zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer von Karl Barth herkommenden lutherischen Wort-Theologie durch das Leben kommt, aber ich bin davon überzeugt, dass es Sinn macht, sich mit diesem Erbe ebenso produktiv auseinander zu setzen wie mit Schleiermacher und seiner theologischen Tradition. Als Tübinger Assistent für Ältere Kirchengeschichte hatte ich am Lehrstuhl Abramowski ein sorgenfreies Leben. So fand ich viel Zeit für die eigene Arbeit, hielt Proseminare und Übungen (gern auch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern) und verfasste nacheinander die beiden Schriften, aufgrund deren mich die Fakultät zuerst promovierte (1991) und dann habilitierte (1994).22 Im Blick auf die Promotion hatte ich das große Glück, dass sich meine Grundannahmen über die Gnosis und über den Beginn ihrer so genannten valentinianischen Form, die ursprünglich stark gegen den damaligen Konsens der Forschung standen, vorzüglich zu einer von der amerikanischen Forschung ausgehenden Trendwende in der Gnosis-Forschung zu Beginn der neunziger Jahre fügten. Plötzlich galt es nicht mehr als quasi reaktionär, wie einst Adolf von Harnack die Gnosis, jedenfalls in Teilen, als Versuch zu verstehen, mit Mitteln des antiken Platonismus Christentum zu interpretieren (wenn auch auf der Basis einer noch relativ schlichten Kenntnis dieser Schulphilosophie). Im Zuge des allgemeinen Triumphs dekonstruktivistischer Ansätze überraschte dann auch weniger, dass ich zeigen konnte, wie wenig den Stifter der valentinianischen Gnosis, den stadtrömischen Theologen Valentin, mit der Lehre seiner Schüler verbindet. Schnell schloss ich eine Habilitationsschrift an, und weil mein Vorgänger auf der Tübinger Assistentenstelle, Hanns Christof Brennecke (heute Kollege in Erlangen), mit großer Leidenschaft die Geschichte der antiken Trinitätstheologie studierte, beschloss ich, über die Rezeption der griechischen Trinitätstheologie des 4. Jahrhunderts im lateinischen Westen zu arbeiten. Mir erschien die damals weit verbreitete Idee, dass der maßgeblich dafür verantwortliche Bischof Ambrosius von Mailand († 397 n. Chr.) ein geistloser Abschreiber und theologieferner, lediglich machtbesessener Kirchenpolitiker gewesen sei, eine allzu schlichte Modellierung der historischen Verhältnisse zu sein. Meine Themenwahl lag, wie mir schnell deutlich wurde, im Trend. Damals arbeiteten praktisch alle, die eine Habilitation im Bereich der evangelischen Kirchengeschichte anstrebten, über spätantike Trinitätstheologie. Ch. Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis, mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (WUNT I/65), Tübingen 1992, sowie ders., Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambrosius und im lateinischen Westen (364-381) (BHTh 90), Tübingen 1995; vgl. auch ders., Alta Trinità Beata. Gesammelte Studien zur altkirchlichen Trinitätstheologie, Tübingen 2000. 22
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Als meine Habilitationsschrift noch im Prozess der Begutachtung war, erschienen in den Zeitungen drei Stellenanzeigen für Ordinariate in Ost wie West. Ich fragte meine Lehrerin Luise Abramowski und die betreffenden Fakultäten, ob man sich wohl schon bewerben könne, schickte nach zustimmenden Antworten die Bewerbungsunterlagen an die betreffenden Dekane und fuhr äußerst heiter zu den Probevorträgen - hielt ich es doch für vollkommen unwahrscheinlich, ernsthaft in die engere Wahl zu kommen, da ich noch niemals Vorlesungen gehalten hatte, und nahm an, sozusagen einmal „außer Konkurrenz“ die Verfahren im Modus der teilnehmenden Beobachtung studieren zu können. Zu meiner grenzenlosen Verblüffung wollte mich schon die erste Fakultät, an der ich mich vorstellte, berufen. Und so hielt ich meine Tübinger Probevorlesung im Rahmen des Habilitationsverfahrens über die Frage, woher die „Theologie der gotischen Kathedrale“ wohl ideengeschichtlich abzuleiten sei23, im Bewusstsein, unmittelbar nach dessen Abschluss einen Ruf an die Friedrich-Schiller-Universität im Postkasten vorfinden zu können (was dank der energischen Unterstützung des Dekans Jüngel auch geschah). In Jena bin ich erst wirklich zum Kirchenhistoriker geworden, vor allem deswegen, weil ich die großen Zyklusvorlesungen meines Faches entwickeln musste, die bekanntlich in fünf Semestern von der Antike über Mittelalter, Reformation und frühe Neuzeit bis hin zur Neuzeit und kirchlichen Zeitgeschichte führen (die spezifische Jenaer Tradition der Gliederung der Epochen, die auf Karl Heussi [1877-1961] zurückgeht, habe ich zum Kummer meines Vorgängers nicht fortgesetzt).24 In der Universitätsstadt an der Saale konnte ich nicht mehr wie in Tübingen während der Arbeit an der Promotions- und Habilitationsschrift allein mit einem ideengeschichtlichen Zugriff die Materie den Studierenden darstellen, sondern musste die Ergebnisse historischer Forschung in eine kohärente Erzählung umsetzen. Ich musste mithin historisch erzählen - was ich zuvor kaum getan hatte. Eine ungeheure Hilfe dabei, die verstreuten Ergebnisse punktueller historischer Analyse zu erzählen, also in die Gesamtheit einer Erzählung zu verweben, ohne ins Anekdotische abzugleiten, war mir der ins Erzählen regelrecht verliebte praktisch-theologische Kollege Klaus-Peter Hertzsch. Ihm zu lauschen, half dabei, die eigene Arbeit zu tun und sie vergnügt zu tun.25 Oft wurden die Vorlesungen, die teilweise für mich vollkommen neue Materie zu behandeln hatten (ich habe während meines eigenen Studiums leider keinen vollständigen Zyklus gehört), erst wenige Viertelstunden fertig, bevor sie zu halten waren. Für fünf Semester Kirchengeschichte wie für zusätzliche fünf Semester Dogmen- und Theologiegeschichte habe ich fast Tag und Nacht gearbeitet und Berge 23 Ch. Markschies, Gibt es eine „Theologie der gotischen Kathedrale“? Nochmals: Suger von Saint Denis und Sankt Dionys vom Areopag (AHAW.PH 1/1995), Heidelberg 1995. 24 Zu diesem und anderen Problemen der Periodisierung vgl. Ch.. Markschies, Arbeitsbuch Kirchengeschichte (UTB 1857), Tübingen 1995, 7-19. 25 Ausführlicher dazu Ch. Markschies, Vom Erzählen in der Kirchengeschichte. Einige autobiographisch grundierte Einsichten, in: M. Trowitzsch (Hg.), Ein Smaragd hat’s mir erzählt. Vom Reden über biblische Geschichten [Für Klaus-Peter Hertzsch zum 80. Geburtstag], Stuttgart 2010, 14-29, sowie ders., Theologie im Osten oder Erfahrungen aus sechs Jenaer Jahren, BThZ 26 (2009) 283-301.
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von Primär- wie Sekundärliteratur verarbeitet, bin immer wieder auch einmal in der Fülle des Stoffs ertrunken, aber habe, wenn es wieder gelungen war, rechtzeitig fertig zu werden, auch Zustände rauschhaften Glücks erlebt (jedenfalls bis zu dem Moment, in dem die bleierne Müdigkeit durchbrach). Restlos beglückend war die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den klassischen Altertumswissenschaften vor Ort, dazu die vielfältigen Begegnungen mit anderen geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern, die wohl vor allem der doppelten Tatsache geschuldet waren, dass man in der thüringischen Kleinstadt einander ohnehin über den Weg läuft, aber viele Kollegen und Kolleginnen nach 1990 neu berufen waren und mit ähnlichen Problemen kämpften wie ich in den ersten Amtsjahren der Professur. Bevor ich zum Wintersemester 2000/01 von Jena nach Heidelberg wechselte, konnte ich an den Institutes for Advanced Study in Berlin und Jerusalem sowie im Benediktinerkloster Beuron im Donautal nicht nur mein Buch über die Institutionen antiker christlicher Theologie vorantreiben26, sondern hatte auch Gelegenheit, weiter über Grundfragen historischer Methodik in der Kirchen- und Christentumsgeschichte nachzudenken - vor allem über die Fragen, wie wir „Zeit“ zu konzipieren haben (im Gespräch mit der Physik) und wie menschliche Handlung modelliert werden sollte (im Gespräch mit Neurologie und Philosophie); ich hoffe, irgendwann einmal in den nächsten Jahren eine Historik unseres Faches vorlegen zu können.27 An der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg verbrachte ich nur eine kurze, aber sehr glückliche Zeit intensiven Austausches mit dem Reformationshistoriker Gottfried Seebaß (1937-2008), dem Latinisten Jürgen Schwindt, dem Philosophen Jens Halfwassen und den drei Systematikern Wilfried Härle, Christoph Schwöbel und Michael Welker.28 Als sich freilich die Möglichkeit bot, zum Sommersemester 2004 nach Berlin auf den traditionsreichen Lehrstuhl für Ältere Kirchengeschichte der Humboldt-Universität zu wechseln, wo ich längst in der Akademie Verantwortung übernommen hatte, konnte ich dem attraktiven Angebot nicht widerstehen und nahm den an mich ergangenen Ruf an. Nach knapp einem Jahr in Lehre wie Forschung engagierte ich mich in der kleinen Gruppe von Professorinnen und Professoren, die nach einem Nachfolger des in Wie Anm. 18. Vgl. einstweilen Ch. Markschies, Kirchengeschichte Theologisch - einige vorläufige Bemerkungen, in: I. U. Dalferth (Hg.), Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006, 47-75; ders., Vergangenheit verstehen. Einige Bemerkungen zu neueren Methodendebatten in den Geschichtswissenschaften, in: W. Härle/R. Preul (Hg.), Verstehen über Grenzen hinweg (MJTh XVIII = MThSt 94), Marburg 2006, 23-52, sowie ders., Thesen für ein Gespräch über Kausalität, in: Kausalität. Streitgespräche in den Wissenschaftlichen Sitzungen der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 9. Dezember 2005 und am 5. Mai 2006 (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Debatte H. 5), Berlin 2007, 81-84 und Diskussionsbeiträge auf den S. 119f. 28 Ausführlicher dazu Ch.. Markschies, Was ich in vier Jahren in Heidelberg verlernt habe, in: K. Sonntag (Hg.), Heidelberger Profile. Herausragende Persönlichkeiten berichten über ihre Begegnung mit Heidelberg (Studium Generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Wintersemester 2010/2011), Heidelberg 2012, 85-110. 26 27
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die Leitung einer großen Wissenschaftsorganisation gewechselten Präsidenten der Humboldt-Universität suchten - und hatte insofern keinerlei Erfolg bei diesen Bemühungen, als ich schließlich dem Drängen nachgab, das Amt selbst zu übernehmen. In den fünf Jahren als Präsident einer nicht ganz unkomplizierten, aber ungeheuer lebendigen wie spannenden Universität (in den Jahren 2006 bis 2010) habe ich neben allerlei anderen Dingen auch viel als Historiker dazugelernt. Damit meine ich nicht zuerst die vielfältigen Gelegenheiten, die sich im Zusammenhang des zweihundertjährigen Jubiläums dieser klassischen Reformuniversität ergaben, Wissenschaftsgeschichte zu treiben29, sondern die vielfältigen schönen wie schrecklichen Erfahrungen in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen: Die politische Geschichte des antiken Christentums oder jedenfalls das, was ich darüber gelernt habe, fand ich zuvor eher langweilig (immer wieder werden nur die Themen „Christentum und römischer Staat“ oder „Christenverfolgungen“ ohne wirklichen Bezug auf Ergebnisse zeitgenössischer althistorischer Forschung traktiert). Seitdem ich beispielsweise fast zwei Jahre lang über eine Geschäftsordnung des Akademischen Senates diskutieren musste, interessierten mich plötzlich vernachlässigte Felder der antiken Politikgeschichte wie die Geschäftsordnungen der antiken Konzilien, die sich an der Geschäftsordnung des römischen Senats orientierten: Wer schrieb damals Tagesordnungen? Wer verfasste die Vorlagen? Wie stimmte man ab? Nach dem Ende meiner Amtszeit als Präsident kehrte ich fröhlich wieder in die Professur zurück - statt Exekutive nun wieder Exegese, wie der Filmemacher Alexander Kluge es so schön auf den Begriff brachte - und beschäftige mich vor allem mit dem Abschluss eines Buches über Vorstellungen von der Körperlichkeit Gottes im antiken paganen, jüdischen und christlichen Kontext, ein weiterer Baustein eines größer angelegten Versuches, eine Theologiegeschichte des antiken Christentums zu schreiben. Daneben arbeite ich an einer Neuausgabe der traditionsreichen Sammlung von Edgar Hennecke und Wilhelm Schneemelcher, die die deutschen Übersetzungen der antiken christlichen Apokryphen enthält (ein erster Doppelband ist gerade erschienen30), und beschäftige mich mit der Transformation von paganem antiken Wissen, nicht nur im strengen theologischen Sinne, in den christlichen Kirchen.
2. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Aufgaben Angesichts meiner in ihren biographischen Kontexten dargestellten Zugänge zu dem Fach, das ich an der Universität vertrete, wird es nicht verwundern, wenn ich die Aufgaben eben dieses Faches, der Kirchengeschichte, nun in zweifacher Hinsicht expli Die einschlägigen Studien sind gesammelt in Ch. Markschies, Was von Humboldt noch zu lernen ist. Aus Anlass des zweihundertjährigen Geburtstags der preußischen Reformuniversität, Berlin = Darmstadt 2010. 30 Ch. Markschies/J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Bd.: Evangelien und Verwandtes, 2 Teilbde., in Verbindung mit A. Heiser, 7. Aufl. der v. E. Hennecke begründeten u. W. Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 2012. 29
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ziere. Denn wie will man beispielsweise die Musik Johann Sebastian Bachs begreifen, wenn man diesen Musiker nur von den Bibeltexten seiner Kantaten her interpretiert und nicht auch im Kontext des Leipziger städtischen Musiklebens oder vor dem Hintergrund der literarischen Rhetorik des Barock? Kann man die trinitätstheologischen oder christologischen Debatten auf den altkirchlichen Konzilien adäquat beschreiben, wenn man nicht einmal weiß, wie die Geschäftsordnung solcher Bischofstreffen die Debatten organisierte? Das Fach „Kirchengeschichte“, wie ich es verstehe und betreibe, wird durch eine Außen- und durch eine Innenbeziehung konstituiert. Diese genuin doppelte Aufgabe von Kirchengeschichte ist in den letzten Jahrzehnten vor allem bei Themen deutlich geworden, die früher für rein innerkirchlich oder binnentheologisch gehalten worden sind; ich denke beispielsweise an die Auseinandersetzungen in der Gemeinde BerlinDahlem nach 1934, die jetzt nicht mehr nach dem Paradigma des so genannten Kirchenkampfes, sondern unter der Überschrift „Kirchen und Nationalsozialismus“ thematisiert werden.31 Luthers Weg zu den so genannten reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520, ja nicht einmal seine Thesen über den Ablass aus dem Jahre 1517, können ohne eine Kenntnis des zeitgenössischen Humanismus, seiner Textauslegungsmethoden und Disputationspraktiken nicht verstanden werden. Umgekehrt wird doch jeder und jede Außenstehende vom Fach Kirchengeschichte ein reflektiertes Verständnis des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln erwarten, reflektierter jedenfalls als bei einem Gesellschafts- und Sozialhistoriker, dessen eingeschränkte Wahrnehmung von Religion beispielsweise immer noch durch den Pietismus des Siegerlandes geprägt scheint, der aber solche biographischen Zusammenhänge nie explizit gemacht hat.32 Vor allem die großen Historiker des 19. Jahrhunderts, Johann Gustav Droysen (1808-1884) oder Leopold von Ranke (1795-1886) zuvörderst, waren tief von krypto-theologischen Grundannahmen geprägt. An diesen Historikern arbeitet sich aber bis heute der historiographische Diskurs in Anknüpfung und Widerspruch ab.33 Solchen Zusammenhängen wird nur gerecht, wer beide Kontexte des Faches „Kirchengeschichte“ thematisiert: Erstens: Kirchen- wie Christentumsgeschichte ist zunächst einmal nichts weiter als eine bestimmte Provinz der allgemeinen Geschichtswissenschaften, stellt die Geschichte einer bestimmten Religion, ihrer Institutionen und Theologien sowie individueller Frömmigkeiten nach den üblichen historiographischen Methoden und in engem Kontakt mit anderen Teilgebieten der Disziplin, beispielsweise einer Geistesund Ideengeschichte oder einer Bildungs- und Sozialgeschichte, dar. In diesem ersten 31 Diesen Paradigmenwechsel beschreibt eindrücklich J. Mehlhausen, Art. Nationalsozialismus und Kirchen, TRE 24 (1994) 43-78, insbes. 43-46. Freilich muss man sich klarmachen, dass Mehlhausen der schon im Begriff programmatische Artikel auch dadurch möglich wurde, dass der ursprünglich unter dem Lemma „Kirchenkampf“ vorgesehene Beitrag nicht rechtzeitig fertig wurde. 32 Vgl. R. Staats, Das Kaiserreich 1871-1918 und die Kirchengeschichtsschreibung. Versuch einer theologischen Auseinandersetzung mit Hans-Ulrich Wehlers „problemorientierter historischer Strukturanalyse“, ZKG 92 (1981) 70-76. 33 Für Droysen vgl. Ch.. Markschies, Hellenisierung des Christentums. Sinn und Unsinn einer historischen Deutungskategorie (ThLZ.F 25), Leipzig 2012, 12-15.
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Bezug des Faches auf die allgemeine Geschichtswissenschaft bezeichnet „Kirchengeschichte“ den inneren Kreis des Gegenstandes der Forschung mit spezifischem Bezug auf ein bestimmtes Kirchentum, „Christentumsgeschichte“ den weiteren Horizont. Entsprechend gilt der Methodenkanon der historischen Disziplin. Wer sich beim historischen Erzählen in der Kirchengeschichte nicht über die einschlägigen historiographischen Diskurse kundig macht, handelt fahrlässig. Dabei ist selbstverständlich nicht an ein hegemoniales Verhältnis von Disziplin und Teilfach gedacht; es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass sich aufgrund der spezifischen Prägung von Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistorikern, die an Theologischen Fakultäten unter theologischen Prämissen arbeiten, auch ganz spezifische Beiträge zur Methodendiskussion und zur Geschichtstheorie ergeben. Als im Zusammenhang der Debatten über die nationalsozialistische Verstrickung der Protagonisten der deutschen Sozialgeschichte Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts einer ihrer Meisterschüler das Argument vortrug, dass mehrere Jahrzehnte Engagement in der demokratischen bundesrepublikanischen Gesellschaft doch kurzfristiges Parteinehmen für den Nationalsozialismus getilgt hätten34, konnte eine theologisch profilierte Kirchengeschichte an das tiefe Problem einer solchen unbewussten Säkularisierung hochmittelalterlicher Schuldtilgungskonzepte erinnern: Zwölf Jahre NSDAP werden eben nicht durch dreißig Jahre SPD oder CDU „getilgt“, um es etwas polemisch zu formulieren.35 „Kirchengeschichte“ ist, wie heutigentags jede ernst zu nehmende Universitätswissenschaft, im Idealfall vielfältig interdisziplinär vernetzt und nimmt aus solchen Beziehungen nicht nur, sondern gibt natürlich auch. So kooperiert eine Geschichte des antiken Christentums nicht nur mit der so genannten Alten Geschichte, sondern beispielsweise bei Studien über den Körper Gottes mit der Geschichte der antiken Medizin, die die zeitgenössische wissenschaftliche Thematisierung des menschlichen Körpers untersucht oder mit der Philosophiegeschichte, die die Diskurse der (neu-) platonischen Schule über den himmlischen Körper der Seele in den Blick nimmt. Zweitens: Neben diesem allgemeinhistorischen Kontext des Faches kann es sodann auch noch einen spezifisch theologischen wie kirchlichen Horizont geben. Ich expliziere ihn im Blick auf die spezifisch staatskirchenrechtlichen Zusammenhänge in Deutschland und von deren wissenschaftstheoretischer Durchdringung her, wie sie sich bei Friedrich Schleiermacher findet.36 Nur so kann vermieden werden, dass die schlichte Praxis des Alltags die schöne Theorie dementiert. Selbstverständlich gibt es 34 So H.-U. Wehler, Nationalsozialismus und Historiker, in: ders., Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert (BsR 1400), München 2000, 11-46. 35 Vgl. Ch. Markschies, „... in gewissen Zeiten der Geschichte ...“. Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte des Papstes am ersten Fastensonntag des Heiligen Jahres 2000 in der Sicht eines evangelischen Kirchenhistorikers, in: D. Hiller/Ch. Kress (Hg.), Daß Gott eine große Barmherzigkeit habe. Konkrete Theologie in der Verschränkung von Glaube und Leben. Festschrift für Gunda Schneider-Flume zum 60. Geburtstag, Leipzig 2001, 144-175. 36 F. D. E. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. umgearb. Ausg. (1830), in: ders., Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. v. D. Schmid (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 6), Berlin/New York 1998, 317-446, insbes. 380-393.
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anderswo andere Modelle für die Organisationsgestalt von Kirchen- oder Christentumsgeschichte. Diese hier ebenfalls in den Blick zu nehmen, würde aber zu weit führen. Für die Situation hierzulande (und beispielsweise auch in Österreich und der Schweiz) gilt: Wissenschaft an Theologischen Fakultäten ist erstens durch bestimmte theologische Prämissen charakterisiert (wie die, dass Gott existiert) und zweitens durch einen bestimmten Ausbildungszusammenhang (nämlich für Pfarr- und Schulberufe, unbeschadet weiterer möglicher Studiengänge). Wird daher das Fach „Kirchengeschichte“ im Rahmen einer Theologischen Fakultät unter theologischen Prämissen betrieben, fragt die „Kirchengeschichte“ in spezifischer Bindung an eine der christlichen Kirchen und Konfessionen, für deren Zwecke sie ausbildet, in ihrer römisch-katholischen Variante nach dem Schicksal der von Gott durch den Heiligen Geist gestifteten und in ihm gehaltenen Kirche durch die Zeiten, in ihrer evangelischen Variante nach dem Wirken des Wortes Gottes in, mit und unter den menschlichen Worten, Institutionen und Gesellschaftsgestalten.37 Je nach dem systematisch-theologischen Hintergrund, vor dem der theologische Kontext des Faches „Kirchengeschichte“ formuliert wird, fallen die hier skizzierten Aufgabenbeschreibungen geringfügig anders aus, zielen aber ungeachtet aller Varianz jeweils zunächst auf ein konfessionell bestimmtes Paradigma (wiewohl es Versuche einer „ökumenischen Kirchengeschichte“ gibt und auch die verschiedenen Versuche, eine „Theologie der Religionen“ zu entwerfen, nicht folgenlos für die Theorie wie Praxis der Kirchengeschichte geblieben sind).38 Insofern beschreibt die traditionelle Bezeichnung des Faches als „Kirchengeschichte“ die Anlage und methodischen Prämissen besser als der Ausdruck „Christentumsgeschichte“. Selbstverständlich darf diese Terminologie nicht dazu führen, dass Gruppen außerhalb der verfassten Mehrheitskirche - wie beispielsweise den Gruppen, die wir unter dem Begriff „Gnosis“ zusammenfassen - keine oder nur eine reduzierte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Anders formuliert: Das Fach heißt „Kirchengeschichte“, aber seine Aufgabe ist eine Geschichte des Christentums. Passen beide hier skizzierten und bei mir schon biographisch als gleichberechtigt grundgelegten Kontexte des Faches „Kirchengeschichte“ bruchlos zusammen? Ein Widerspruch zwischen historischer und dogmatischer Methode - und damit zwischen den beiden genannten Kontexten, in denen das Fach „Kirchengeschichte“ 37 Dass dieses Programm gelegentlich zu einer Engführung des Faches auf die Auslegungsgeschichte der Bibel (übrigens mehr der Theorie als der Praxis nach) geführt hat, spricht nicht gegen eine solche am reformatorischen Proprium orientierte Beschreibung von Kirchengeschichte aus evangelischer Perspektive; vgl. dazu A. Beutel, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift. Ein tragfähiges Modell?, in: W. Kinzig/V. Leppin/G. Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (AKThG 15), Leipzig 2004, 103-120. 38 An einem solchen Versuch habe ich mich beteiligt: Ch. Markschies, Die Kirche in vorkonstantinischer Zeit. Teil B: Von der Mitte des 2. bis zum Ende des 3. Jahrhunderts, in: B. Moeller (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Mittelalter, Darmstadt 2006, 59-98 (samt Bibliographie: 251-255); vgl. auch B. Jaspert (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte. Probleme, Visionen, Methoden, Paderborn/Frankfurt a. M. 1998.
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unter den Bedingungen des deutschen staatskirchenrechtlichen Systems betrieben wird - tritt vor allem dann auf, wenn man wie Ernst Troeltsch (1865-1923) beide Zugriffsweisen auf die Wirklichkeit in striktem Gegensatz zueinander beschreibt.39 Er wird aber natürlich auch implizit deutlich, wenn das Fach sich aus jeder theologischen Diskussion zurückzieht und sich auf scheinbar „schlichte“ historische Arbeit beschränkt. Jener Widerspruch zwischen zwei komplett unverbundenen Aufgaben lässt sich beispielsweise vermeiden, wenn man mit Wolfhart Pannenberg den wissenschaftstheoretischen Status der dogmatischen Prämissen der historischen Arbeit eines Kirchenhistorikers oder einer Kirchenhistorikerin als Hypothese charakterisiert - und damit diesen Status im universitären Zusammenhang dem Status aller rekonstruktiven historiographischen Aussagen gleichstellt.40 Nur so wird auch der Versuch unternommen, das Fach „Kirchengeschichte“ als Teil einer strukturierten und zugleich differenzierten Einheit von Teilfächern ein und derselben Disziplin der Theologie zu beschreiben. Die dogmatischen Prämissen der historiographischen Arbeit in der Kirchengeschichte nicht zu verschweigen oder gar abzustreiten, ist nicht nur ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit, sondern gehört gelegentlich zu den spezifischen Vorzügen des Faches gegenüber anderen Teilfächern der geschichtswissenschaftlichen Disziplin, in denen die Vorverständnisse (um mit Hans-Georg Gadamer [1900-2002] zu formulieren41) entweder nicht veröffentlicht oder sogar nicht einmal bedacht werden. Ein solcher Versuch einer Synthese einer doppelten Beschreibung der Aufgabe des Faches innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft ebenso wie innerhalb der Theologie vermeidet die Einseitigkeit der Forderung, das Fach endlich zu enttheologisieren ebenso wie eine rein innertheologische Beschreibung der Zielsetzung kirchen- und christentumsgeschichtlicher Arbeit. Beide Aufgabenbeschreibungen des Faches sind mir im Laufe von Studium wie Berufspraxis bei Fachvertreterinnen und Fachvertretern begegnet und haben mich nicht überzeugt. Der Wissenschaftscharakter der Kirchengeschichte sollte in solcher oder anderer Form selbstverständlich bedacht werden und im Rahmen einer Universität auch im Gespräch mit anderen Disziplinen expliziert werden. Bewahrheitet wird er freilich nur in der alltäglichen Arbeit des Faches und ablesbar in den üblichen Indikatoren guter wissenschaftlicher Praxis. Für das hohe wissenschaftliche Niveau der Arbeit im Fach Kirchengeschichte an Theologischen Fakultäten hierzulande spricht, dass eine ganze Anzahl von Langzeitvorhaben im Bund-Länder-Programm der Akademien der Wissenschaften kirchenhistorischer Provenienz ist oder kirchenhistorische Dimensionen hat. Ich denke dabei z. B. an die wissenschaftlichen Textausgaben des griechischen Alten und Neuen Testamentes, die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, eine Quellenedition zu Bekenntnisbildung und Konfessionalisierung in den Jahren 1548 bis 1580 oder die historisch-kritische Ausgabe der Werke E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, 2. ND der 2. Aufl. Tübingen 1922, Aalen 1981, 729-753. 40 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 349-406. 41 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 261-269. 39
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Friedrich Schleiermachers und von Ernst Troeltsch. Eine entsprechende Gesamtliste umfasst nahezu dreißig Projekte.42 Wenig gedient ist dem Fach allerdings, wenn entweder ein ganz und gar besonderer Charakter von theologischer Wissenschaft postuliert wird, die sie von allen anderen Disziplinen einer Universität unterscheidet oder aber das spezifische Profil der Theologie (und damit einer theologisch interpretierten Kirchengeschichte) in vorlaufendem Gehorsam gegenüber möglichen Kritikern schon einmal abgeschliffen wird. Genauso wenig hilfreich wie apologetisches Säbelrasseln oder verteidigende Fensterreden wäre es freilich, den Kopf in den Sand zu stecken. In Zeiten verschärfter Konkurrenz um finanzielle Mittel muss praktisch jedes universitäre Fach für seinen Bestand kämpfen und werben. Folgt man der hier skizzierten doppelten Aufgabenbestimmung des Faches, dann hängt die theologische Dimension der Aufgabe der Kirchengeschichte sehr stark mit ihrer Ausbildungsfunktion für bestimmte Kirchentümer zusammen - gerade so, wie dies auch für die medizinische oder rechtswissenschaftliche Fakultät gilt. Hier bringt die Globalisierung für Kirchen wie für Theologien große neue Herausforderungen mit sich, die noch längst nicht überall wahrgenommen werden und denen auch nur schwer zu entsprechen ist. Globalisierung stellt nämlich auch in der Kirchengeschichte die Aufgabe, in diesem Fach nicht nur - etwas polemisch gesprochen - die Entwicklung vom globalisierten römischen Reich über die mehr oder weniger kleinen Städtchen Wittenberg, Basel und Genf bis zum Ortsteil Berlin-Dahlem (als einer der für die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Nationalsozialismus einschlägigen Gemeinden) als einen sich ständig auf das eigene Umfeld verengenden Trichter zu präsentieren, sondern Christentumsgeschichte als Globalgeschichte zu betreiben (und dann vielleicht dabei gar noch das „Ganze der Geschichte“ zu thematisieren). Das ist angesichts der geringen Personaldecke des Faches für die Fachvertreterinnen und Fachvertreter keine geringe Herausforderung. Wie man beispielsweise stärker auch die Christentumsgeschichte Nordamerikas in die kirchengeschichtliche Lehre an deutschen Fakultäten integrieren kann, die Reformationsgeschichte stärker europäisch und weniger deutsch lehren kann, ohne dabei substantiell etwas für die Beschreibung dessen einzubüßen, was die Reformation zur Reformation macht, ist mir persönlich eine offene Frage. Der Stoff, der eigentlich zu behandeln wäre, wächst ebenso ständig wie die Menge der Fragestellungen, die auch noch zu berücksichtigen sind. Ich denke beispielsweise an die Genderstudies, die mit Recht auf blinde Flecken der bisherigen Arbeit im Fach aufmerksam gemacht haben (sie spielten während meiner eigenen Ausbildung noch kaum eine Rolle)43, aber auch an die viel 42 Vgl. dazu http://www.akademienunion.de/akademienprogramm/thematisch/18/ (Zugriff 25.06. 2012). 43 Vgl. U. Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive (UTB 2806), Tübingen 2006; vgl. beispielsweise C. Walker Bynum, Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond, Philadelphia 2007.
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zu lange vernachlässigte Frömmigkeitsgeschichte.44 Wie dies alles in strukturierten Übersichten für Studierende anbieten? Ich experimentiere in meinen Lehrveranstaltungen derzeit noch.
3. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Zukunftsperspektiven Wenn der Historiker (und natürlich auch die Historikerin), wie Schleiermachers Freund Friedrich Schlegel sagte, ein „rückwärts gekehrter Prophet“ ist45, fällt es ihm a priori schwer, Zukunftsperspektiven seines Faches zu entwickeln - darin liegt der systematische Grund dafür, dass der dritte Abschnitt dieses Beitrages zugleich am kürzesten ausfällt. Ich hebe im Folgenden einige wenige jüngere Entwicklungen hervor, die mich in den letzten Jahren beschäftigen und vielleicht, weil sie auch andere beschäftigen, das Fach weiter prägen werden: Da ist zum einen die deutlich gewachsene Bedeutung anderer Religionen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die die Aufmerksamkeit für die Bedeutung anderer Religionen auch in der Kirchen- und Christentumsgeschichte schärft. Der Islam gehört, wie die Berliner Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth gezeigt hat, in die Spätantike und seine Heilige Schrift, der Qur’an, ist eben auch vor dem Hintergrund der christlichen spätantiken Bibelexegese vor allem syrischer Provenienz zu interpretieren.46 Und das Mittelalter kann, wenn wir den Sichtweisen folgen, die der Berliner Mediävist Michael Borgolte popularisiert hat, nicht nur unter dem Leitbegriff des corpus Christianum beschrieben werden, sondern ist bereits an vielen (wenn auch nicht allen) Orten multireligiös konstituiert gewesen.47 Im Gefolge solcher Neuakzentuierungen traditioneller Bilder wird sich auch die Sichtweise der Geschichte des Christentums und der christlichen Kirche stark verändern. Zum anderen wird sich die Tendenz, neben der europäischen auch die außereuropäische Christentumsgeschichte zu erforschen und darzustellen, weiter fortsetzen. Ein deutliches Zeichen dafür ist, dass im Jahre 2002 die seit 1977 bestehende traditionsreiche Serie der „Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen“ durch einen sechsten Band zur außereuropäischen Christentumsgeschichte ergänzt wurde.48 Hier besteht noch großer Forschungsbedarf, da - wie oben bereits angedeutet - die außereuropäischen Christentümer, die bei der Darstellung der Antike und des Mittelalters 44 Vgl. B. Jaspert, Frömmigkeit und Kirchengeschichte, in: ders. (Hg.), Frömmigkeit. Gelebte Religion als Forschungsaufgabe, Paderborn 1995, 123-168 (ND in: ders., Theologie und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3 [EHS.T 671], Frankfurt a. M. 1999, 44-106). 45 F. Schlegel, Athenaeum-Fragment Nr. 80 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abt.: Kritische Neuausg., Bd. 2), München/Paderborn/Wien/Zürich 1967, 176. 46 A. Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010. - Inzwischen liegt auch vor: Der Koran. Bd. 1: Frühmekkanische Suren. Poetische Prophetie. Handkommentar mit Übersetzung v. A. Neuwirth, Berlin 2011. 47 M. Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., Berlin 2006. 48 K. Koschorke/F. Ludwig/M. Delgado (Hg.), Außereuropäische Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 1450-1990 (KTGQ 6), Neukirchen-Vluyn 2002 (32010).
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noch einigermaßen im Blick sind, spätestens zu Beginn der Neuzeit gewöhnlich aus Darstellung wie Forschung „verschwinden“. Hier wird auch eine Umorganisation der klassischen Lehrangebote des Faches „Kirchengeschichte“ erforderlich sein, die wie in vielen anderen Disziplinen und Fächern auch - im Zuge der radikalen Studienreformen der letzten Jahre, die man unter dem Stichwort „Bologna“ zusammenfasst, weitestgehend unterblieben ist. Schließlich werden die allgemeine Pluralisierung, die demographische Entwicklung und die allgemeine Bewegung weg von streng disziplinärer Forschung (ungeachtet aller Probleme, die das für disziplinäre Standards von Forschung bringt), immer mehr dazu führen, dass selbst klassische Themen der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung vermehrt von Forscherinnen und Forschern behandelt werden, die nicht in diese Fachzusammenhänge gehören. So hat beispielsweise der Frankfurter Althistoriker Hartmut Leppin ein Büchlein unter dem Titel „Die Kirchenväter und ihre Zeit“ veröffentlicht, in dem er die klassischen christlichen Theologen der Spätantike behandelt (und nicht ein Theologe oder eine Theologin).49 Der Begriff „Patristik“ im Sinne einer Lehre von den „Kirchenvätern“ bezeichnete lange einen Reservatbereich theologisch orientierter Kirchenhistoriker und wurde bekanntlich von einem Jenaer evangelischen Theologen, von Johann Gerhard (1582-1637), durch ein posthum veröffentlichtes Werk popularisiert („Patrologia sive de primitivae Ecclesiae christianae Doctorum vita ac lucubrationibus“, 1653). Nun ist er in der allgemeinen Geschichtswissenschaft angekommen. In vergleichbarer Weise wird sich auch an vielen anderen Stellen die bislang mit allerlei rechtlichen und institutionellen Privilegien ausgestattete Kirchen- und Theologiegeschichte theologischer Provenienz einem verschärften Wettbewerb um die angemessene Deutung wie Erzählung bisher gleichsam für sie reservierter historischer Phänomene stellen müssen. Und es steht noch dahin, wie gut sie trotz guter Voraussetzungen diese Entwicklung bestehen wird, zumal angesichts teilweise nicht unproblematischer Zustände im deutschen Universitätssystem. Allerdings gilt umgekehrt auch der in unseren Zusammenhängen etwas triviale Satz, dass Wettbewerb das Geschäft belebt.
49 H. Leppin, Die Kirchenväter und ihre Zeit. Von Athanasius bis Gregor dem Großen (Beck Wissen 2141), München 22007.
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René Roux
Kirchengeschichte als Wissenschaft und ihre Bedeutung für die Theologie Persönliche Erfahrungen und Überlegungen Der römische Staatsmann und Historiker Tacitus schrieb in der Einführung zu seinen berühmten „Annales“1, dass er „sine ira ac studio“ - ohne Zorn und Parteilichkeit - über die Ereignisse der späteren römischen Geschichte schreiben wolle. Damit hat er mit wenigen Worten das Ideal eines jeden wissenschaftlich arbeitenden Historikers wiedergegeben. Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass gerade seine Werke wegen des leidenschaftlichen Stils und der politischen Überzeugungen als Beispiel für eine politisch engagierte und ganz und gar nicht distanzierte Geschichtsschreibung gelten. Das von Tacitus erwähnte Ideal findet auch bei gegenwärtigen Kirchenhistorikern seinen Widerhall. Im Vorwort zum ersten Band des monumentalen Werkes „Die Geschichte des Christentums“ schreibt die Herausgeberin Luce Pietri: „Die Autoren des vorliegenden Bandes wollen von dieser Entwicklung (der ersten Jahrhunderte der Kirchengeschichte) berichten. Sie schreiben fern jeglicher konfessionellen Voreingenommenheit oder apologetischen Absicht. Es geht ihnen nicht als Exegeten oder Theologen, sondern als Kirchenhistoriker darum, mit der in ihrem Beruf notwendigen Objektivität und dem Respekt, den sie dem untersuchten Thema schulden, die Geschichte der ersten beiden Jahrhunderte des Christentums aufzuarbeiten.“ 2
Mit dieser programmatischen Aussage distanzieren sich die Autoren von anderen Zugangsweisen zur Kirchengeschichte. Exegeten, Theologen oder sonstigen konfessionell „Voreingenommenen“ wird unterstellt, sie seien gegenüber der Kirchengeschichte weniger objektiv und respektvoll. Dabei wird angenommen, dass die Theologie mit anderen Fragen an die Geschichte herangeht als die säkulare Geschichtsschreibung. Und unverkennbar wird gegenüber anderen Zugangsweisen ein gewisses Misstrauen zum Ausdruck gebracht, als ob theologische Interessen per se einen sachgerechten Blick auf die Geschichte der Kirche wesentlich erschweren oder gar verhindern würden. Diese prima facie merkwürdige Behauptung versteht man besser, wenn man die Entstehungsbedingungen des Werkes berücksichtigt. Einerseits sollte es die ältere enzyklopädische Kirchengeschichte von Augustin Fliche und Victor Martin ersetzen3, die trotz allgemeiner Objektivität tatsächlich aus einer konfessionellen Perspektive mit leichtem Hang zur Apologetik verfasst wurde. Andererseits wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der französischen akademischen Tradition die Theolo-
Tacitus, Annales 1,1,3. L. Pietri (Hg.), Die Geschichte des Christentums. Religion - Politik - Kultur, Bd. 1: Die Zeit des Anfangs (bis 250), Freiburg i. Br. 2003, VI. 3 Vgl. A. Fliche/V. Martin (Hg.), Histoire de l’Église des origines jusqu’à nos jours, 21 Bde., Paris 19341965. 1 2
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gie nicht mehr an staatlichen Universitäten betrieben. Sämtliche Theologischen Fakultäten befinden sich dort in kirchlicher Trägerschaft.4 Die damit verbundene Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Theologie scheint noch nicht überwunden zu sein. Das hat zur Folge, dass sich jeder, der sich in akademischen Institutionen mit christlichen Themen beschäftigt, irgendwann genötigt sieht klarzustellen, er sei nicht religiös oder konfessionell gebunden, um nicht der Parteilichkeit verdächtigt zu werden. Aber was ist dann mit den Kirchenhistorikern anderer europäischer Länder wie Deutschland oder England, wo das Fach eben doch an Theologischen Fakultäten staatlicher Hochschulen angesiedelt ist und jeder Lehrstuhlinhaber und jede Lehrstuhlinhaberin einer christlichen Konfession angehören muss und sogar eine kirchliche Zustimmung benötigt? Sind sie alle „voreingenommen“? Fehlt es ihnen an Objektivität? Oder bedeutet vielleicht das Ideal des „sine ira ac studio“ doch etwas Komplexeres als das, was das Tacitus-Zitat suggeriert? Wie man die Arbeit des Historikers auch verstehen mag - stets geht es dabei auch um ein Auswählen und Interpretieren von Fakten, Feststellen von Prioritäten und Herausarbeiten von Zusammenhängen. In dieser Tätigkeit ist die Person des Historikers gleichzeitig das Hauptinstrument der Forschung. Seine persönlichen Erfahrungen und kulturellen Kompetenzen bestimmen, was er für wichtig hält, was man verstehen kann, was überhaupt weitererzählt werden soll. Die Auswahl eines Forschungsgebietes oder einer bestimmten Fragestellung - zwingend notwendig, um Forschung überhaupt in Gang zu setzen verrät bereits eine bestimmte Einstellung zum Thema, die eben eine ist und andere de facto, wenn nicht de jure ausschließt. Ferner muss man bedenken, dass es in der Geschichte auch Themen gibt, bei denen die notwendige Objektivität aus unterschiedlichen Gründen schwer fallen kann. Mir macht es Spaß, meinen Studenten folgendes Beispiel zu geben: Seitdem ich in Deutschland wohne, fällt mir auf, dass hier gern die Erinnerung an die Varusschlacht gepflegt wird. Die Tatsache, dass die wilden Einwohner des mitteleuropäischen Urwaldes in der Lage gewesen sind, der mächtigen römischen Armee eine entscheidende Niederlage beizubringen und dabei dauerhaft für die eigene Freiheit zu sorgen, kann jeden inspirieren, der sich für Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber stärkeren Gegnern einsetzen will. Nun bleibt aber die Frage offen, wo genau diese Schlacht stattgefunden hat. Es gibt angeblich drei Ortschaften, die in Frage kommen. Die Entscheidung, welcher der richtige Ort ist, ist ein typischer Gegenstand historischer Forschung. Hier dürfen die Althistoriker und die Archäologen debattieren und alle möglichen Forschungsinstrumente einsetzen, um die Wahrheit zu entdecken. Es handelt sich um eine rein historische Frage. Man kann aber auch ein Gedankenexperiment vornehmen, das noch in eine andere Richtung weist. Nehmen wir einmal an, es stünde ein hoher Geldbetrag zur
Die Universität Strasbourg im Elsass ist eine Ausnahme; vgl. A. Schindling, Art. Straßburg, 3) Universität, LThK3 9 (2000) 1038-1039.
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Verfügung, um am Ort der Varusschlacht ein Museum mit einem entsprechenden Forschungsinstitut, mehreren dauerhaften Arbeitsplätzen und allem, was sonst noch dazu gehört, zu errichten. Für die betroffenen Gemeinderäte würde unsere Frage plötzlich aufhören, eine rein wissenschaftliche zu sein. Die Entscheidung darüber, was historisch wirklich geschehen ist, hätte für die Einwohner unmittelbare finanzielle Folgen und würde vermutlich die Suche nach „wohlgesinnten“ wissenschaftlichen Gutachten in Gang setzen. Das Gedankenexperiment zeigt: Es gibt eine Art Vergangenheit, die noch nicht wirklich vergangen ist, die unter bestimmten Umständen als Gegenwart empfunden wird und die als solche sogar für Auseinandersetzungen sorgen kann. Bezüglich dieser Art von Vergangenheit ist absolute Unparteilichkeit wohl kaum selbstverständlich. Nun gehören verschiedene Themen der Kirchengeschichte eben dieser zweiten Form der Vergangenheit an; der Vergangenheit, die doch noch gegenwärtig ist, weil sie religiöse Überzeugungen betrifft, die das Leben vieler Menschen heute bestimmen.5 Ob Jesus wirklich auferstanden ist, ob er die Kirche so gewollt hat, wie sie sich entwickelt hat, ob die Schriften des Neuen Testaments die historischen Gegebenheiten treu wiedergeben - das sind Fragen, die von vielen heutigen Christen als aktuell empfunden werden. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es zwar einen berühmten Versuch gegeben, das Evangelium als reine Botschaft zu verstehen, um den Kern des christlichen Glaubens den Angriffen der historischen Forschung zu entziehen.6 Das MainstreamChristentum verstand und versteht sich aber von seinem Ursprung her als das Ergebnis einer historischen Offenbarung. Infolgedessen gehört es zum Selbstverständnis der Christen von heute, dass ihre Glaubensüberzeugungen mit denen der früheren Generationen übereinstimmen. Für sie wären die von Pietri erwähnten etwaigen mangelnden Übereinstimmungen zwischen Theologen und Exegeten auf der einen und Kirchenhistorikern auf der anderen Seite nur ein Beweis dafür, dass auf einer der beiden Seiten nicht sauber gearbeitet wird. Darüber hinaus hat gerade die Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren versucht, wie stark und allumfassend Vorurteile wirken können, die aus Gender oder Rasse oder gesellschaftlicher Herkunft stammen. Gilt das auch für religiöse Phänomene? 7 Kann, wer nicht Christ ist und zu keiner Kirche gehört, die Religiosität der Gläubigen wirklich besser verstehen als jemand, der in dieser Tradition beheimatet ist? Kann man wirklich die Entwicklung einer religiösen Gemeinschaft verstehen, indem man die Selbstwahrnehmung dieser Gemeinschaft methodologisch außer Acht lässt oder die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung prinzipiell ausschließt?
5 Vgl. E. Iserloh, Was ist Kirchengeschichte?, in: R. Kottje (Hg.), Kirchengeschichte heute. Geschichtswissenschaft oder Theologie?, Trier 1970, 10-32, bes. 14f. 6 Ich denke natürlich an R. Bultmann. Über die Folgen seines Ansatzes für die Kirchengeschichte vgl. H. R. Seeliger, Kirchengeschichte - Geschichtstheologie - Geschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und Theologie der katholischen Kirchengeschichtsschreibung, Düsseldorf 1981, 111-115. 7 Vgl. G. Filoramo, Che cos’è la religione. Temi, metodi, problemi, Torino 2004, 157f.
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Das heißt natürlich nicht, dass ein Historiker an die Wahrheit der Offenbarung glauben muss. Aber es heißt sehr wohl, dass es zu seiner Fachkompetenz gehört, die Wirklichkeit des homo religiosus, christianus oder sogar catholicus angemessen zu behandeln, und zwar in ihren konkreten historischen Erscheinungsformen. Obwohl der wissenschaftliche Status der Kirchengeschichte und ihre Beziehung zur Theologie immer wieder neu diskutiert und dabei selbst innerhalb konfessionell homogener Gruppen unterschiedliche Positionen eingenommen werden, hat man nicht den Eindruck, dass solche theoretischen Überlegungen die konkreten historischen Abhandlungen beeinflussen. Vielmehr entstehen diese metahistorischen Theorien, wenn die existierenden historischen Werke zum Gegenstand der Forschung werden.8 Die konkrete Fähigkeit, vorurteilsfrei und sachgemäß Kirchengeschichte zu schreiben, ist letztendlich nicht an den methodologischen Prolegomena zu messen, sondern an den Ergebnissen historischer Abhandlungen. So ist es im Bereich der Alten Kirchengeschichte und der Patrologie sehr zu begrüßen, dass sich Forscher aus unterschiedlichen Weltanschauungen problemlos austauschen können und die Pluralität der Herangehensweisen mehr als Bereicherung und weniger als Bedrohung betrachtet wird. Es ist aber notwendig, den eigenen Standpunkt kritisch zu reflektieren, um nicht der Macht der eigenen persönlichen und kulturellen Vorurteile zu erliegen. Beim Verfassen dieses Beitrags ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, in welchem Ausmaß meine wissenschaftlichen Interessen, mein Umgang mit den Quellen sowie meine gesamte Arbeitsmethode und meine Vorstellungen über die Aufgabe der Kirchengeschichte in meinen Lebenserfahrungen verwurzelt sind. Sie lassen sich also am besten biographisch erklären. Auf metahistorische und theoretische Überlegungen über den wissenschaftlichen oder theologischen Charakter der Kirchengeschichte werde ich daher im Folgenden verzichten. Im ersten Abschnitt beschreibe ich meinen eigenen Weg zur Kirchengeschichte. Da ich meine wissenschaftliche Ausbildung in Italien, England und Frankreich erfuhr, kann ich zugleich meinen ganz persönlichen Einblick in die akademischen Traditionen dieser Länder vermitteln. Im zweiten Abschnitt erläutere ich meine jetzigen Vorstellungen von den Aufgaben der Kirchengeschichte, besonders in ihrer Funktion als theologische Disziplin. Am Ende nehme ich kurz zu Zukunftsperspektiven Stellung.
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Vgl. M. Foucault, L’archéologie du savoir, Paris 1969, 9-28.
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1. Mein Zugang zur Kirchengeschichte: Biographisch a) Schulzeit und Studium 1) Aosta vor dem Studium (bis 1985) Mein Interesse an der Kirchengeschichte, insbesondere an der des Altertums und an der Patrologie war vom ersten Semester meines Studiums an groß. Und es ist seitdem stets gewachsen. Betrachte ich meine bisherigen Forschungsschwerpunkte und bestimmte Aspekte meiner wissenschaftlichen Methode, dann glaube ich, dass sich einige Elemente wohl schon vor meinem Studium in mir geformt hatten. Ich wurde 1966 in Aosta geboren, der Hauptstadt der autonomen Region Aostatal (Valle d’Aosta). Es ist die kleinste der zwanzig italienischen Regionen und gehört zu den fünf, die über eine besondere Autonomie verfügen. Darauf sind die meisten Einwohner Aostatals stolz. Die Stadt Aosta mit heute etwa 35 000 Einwohnern verdankt ihre Entstehung den Römern. Sie wurde im Jahr 25 v. Chr. als Augusta Praetoria von Kaiser Augustus gegründet. Als Kinder durften wir auf den riesigen Resten des römischen Theaters und Amphitheaters spielen. Noch heute sind die römischen Monumente überall in der Stadt zu sehen. Im Vergleich dazu erschienen uns Kindern die Gebäude der östlich gelegenen mittelalterlichen Burg fast wie „neu“. Die Reste der 4000jährigen vorrömischen Siedlung, etwa zwei Kilometer westlich der römischen Stadt, waren damals noch nicht ausgegraben worden. Umgeben von den zahlreichen archäologischen Denkmälern, lernten wir in der Schule das tragische Schicksal der Salassen kennen, der Ureinwohner des Landes, die von den Römern vor 2000 Jahren gefangen genommen und als Sklaven verkauft wurden, weil sie sich gegen die Fremdherrschaft gewehrt hatten. Durch das Tal führte einer der wichtigsten Wege Richtung Gallien und Helvetien/Germanien. In die Vermittlung der Geschichte der Salassen mischten sich aber auch politische Untertöne ein. Die Menschen im Aostatal sprachen Französisch. Mit der Vereinigung Italiens und besonders unter dem Faschismus des 20. Jahrhunderts war die ursprüngliche kulturelle Identität des Aostatals gefährdet, und zwar durch eine beharrliche Assimilationspolitik Roms. In dieser Politik spiegelte sich für die Bevölkerung des Aostatals gewissermaßen die Grausamkeit der alten Römer gegenüber den Salassen wider. Aus dieser Zeit als Kind stammt eigentlich mein Interesse sowohl für die Alte Geschichte an und für sich als auch für die Art und Weise, in der man die Geschichte vergegenwärtigt und die eigene Identität definiert: die Historiographie (den Begriff kannte ich damals natürlich noch nicht). In Aosta habe ich das klassische Gymnasium besucht. Die Alumnen des „classico“ fühlten sich landesweit allen anderen überlegen. Wir verstanden uns als die kulturelle Elite der Nation, und selbstverständlich dachte jedes klassische Gymnasium, dass es das beste aller Gymnasien sei. Die Schulprogramme stammten noch aus der so genannten „Riforma Gentile“ der zwanziger Jahre und waren nach den Prin-
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zipien des historischen Idealismus von Benedetto Croce verfasst worden. Geschichte galt als die höchste Form der Wissenschaft. So lernten wir neben politischer Geschichte auch Philosophiegeschichte, Kunstgeschichte und Literaturgeschichte (letztere sogar vierfach: italienische, lateinische, griechische und französische Literaturgeschichte, denn Französisch ist die zweite Amtssprache in Aostatal). Die Schulzeit bzw. das Lernen war nicht immer leicht. Denn die Pädagogik war damals bei uns noch nicht so weit entwickelt, und die Lehrbücher für diese Fächer waren die gleichen, die auch an der Universität verwendet wurden. Die eigene Kreativität und das selbständige Denken wurden durch die historische Perspektive zunächst wenig gefördert. Man musste sehr viel auswendig lernen, und am Ende fühlte man sich wie ein alter Mann, der schon alles erfahren hat und kaum noch begeisterungsfähig war. Andererseits wurde man dadurch gewissermaßen gegen Extremismus und einseitige Positionen „geimpft“. Und es wuchs die Fähigkeit, Probleme aus verschiedenen Perspektiven anzugehen. Die große intellektuelle Auseinandersetzung fand zwischen kommunistischer und katholischer Weltanschauung statt. Italien hatte damals eine der größten kommunistischen Parteien des Westens, und viele Lehrstühle für Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft waren von überzeugten Mitgliedern der kommunistischen Partei (PCI) besetzt. Viele der gängigen Lehrbücher waren dementsprechend „marxistisch“ gefärbt. Das war besonders in der Behandlung religiöser Themen zu spüren. Da sich mein Interesse an der Kirche und am Glauben in den Gymnasialjahren entwickelte, wuchs in mir die Gewohnheit, die verschiedenen Ansätze zu vergleichen, um mir eine eigene Meinung bilden zu können. Die Lehrbücher aus Frankreich spielten dabei auch eine Rolle. Denn sie vertraten eine andere Sicht der Dinge. Sehr dankbar bin ich unseren Lehrern, die uns durch ihr persönliches Beispiel beibrachten, anderen Weltanschauungen Respekt zu zollen. Eine Erfahrung hat mich dauerhaft geprägt. Sie hängt mit einem Vortrag zusammen, den der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy unter dem Titel „Éloge des intellectuels“ während meiner Gymnasialzeit in Aosta hielt. Ich war damals 17 oder 18 Jahre alt. Lévy hatte in einem Buch mit dem gleichen Titel, das ich mir dann sofort gekauft und gelesen habe, die Berufung der „Intellektuellen“ beschrieben und gelobt. Intellektuelle schienen in Frankreich über eine gewisse öffentliche Anerkennung zu verfügen. Und sie stellten sich gerne als „Propheten der Vernunft“ dar. In seinem Auftreten ähnelte Lévy eher einem Hollywood-Star als einem Philosophieprofessor. Er verkündigte, der Intellektuelle sei derjenige, der entgegen den Vorurteilen, oberflächlichen Vereinfachungen und mentalen Modeerscheinungen die Komplexität der Dinge erkennt und aufzeigt. Hierbei kritisierte er viele seiner intellektuellen Kollegen, die z. B. aus Respekt vor fremden Kulturen nicht mehr bereit waren, das Unmenschliche in diesen Kulturen zu denunzieren (ein Beispiel, wenn ich mich nicht irre, war die Praxis der Mädchenbeschneidung). Ich fand diesen Gedanken inspirierend. Lévy stellte die Vernunft nicht in den Dienst der Annahme einer atheistischen Ideologie, sondern beanspruchte sie für den Blick auf die Realität und für die Fähigkeit, sich der Macht herrschender Diskurse zu entziehen. Den Grund für das Unbe-
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hagen, das ich bei bestimmten Schulbüchern empfunden hatte, konnte ich jetzt benennen. Die marxistische wie die laizistische Geschichtsschreibung hat trotz bemerkenswerter Ausnahmen die Komplexität des Christentums und der menschlichen Religiosität ungebührlich reduziert, dadurch oft verkannt und manchmal verstellt. Darauf konnte ich jetzt als Intellektueller reagieren. Lévys Vorstellung von der Rolle des Intellektuellen begleitet mich bis heute. Um der Wahrheit willen muss ich gestehen: Ich bin nicht sicher, ob er sich in meiner Interpretation wiedererkennen könnte.
2) Aosta: Studium der Philosophie und der Theologie (1985-1990) Nach dem Abitur bin ich ins Priesterseminar (Grand Séminaire St. Anselme) von Aosta eingetreten. In Italien gibt es ähnlich wie in Frankreich keine Theologie an den staatlichen Universitäten. Wegen der Feindschaft zwischen der italienischen Regierung und der Kirche, die in den Jahren der Vereinigung Italiens entstanden war, befinden sich seit dem 19. Jahrhundert sämtliche Theologischen Fakultäten in kirchlicher Trägerschaft. An einer Zusammenarbeit scheint bis heute kein großes Interesse zu bestehen. Einige italienische Bischöfe befürchten insgeheim das, was sie in Deutschland zu sehen glauben: Theologieprofessoren, die in der Öffentlichkeit die Kirche und ihre Lehre kritisieren. Die Kulturpolitik des italienischen Staates war im 20. Jahrhundert geprägt von unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle der Religion und der Theologie. Rationalistische Strömungen aus dem 19. Jahrhundert entdeckten in der Religion etwas, das für Kinder und für das einfache Volk gut sein mochte. Deswegen hatten wir in der Schule Religionsunterricht. Aber Theologie hatte keinen Platz an der Universität. Dort sollte allein die Vernunft herrschen. Später entstandene marxistische Strömungen haben die Bedeutung der Theologie auch nicht höher veranschlagt. Fazit: Das Studium der Theologie erfolgte normalerweise an „Priesterseminaren“ nach dem tridentinischen Modell. Anders als in Deutschland war das Priesterseminar gleichzeitig der Ort der akademischen Ausbildung. Lediglich in Rom gab es Theologische Fakultäten im echten Sinne. Die wurden aber eher für Lizentiate und Promotionen besucht, weil die meisten italienischen Priesterseminare kein Promotionsrecht besaßen. Das Studium der Philosophie und Theologie an einem so kleinen Ort wie Aosta brachte Vor- und Nachteile mit sich. Die Nachteile waren groß. Da wir nicht alle Dozenten und Professoren vor Ort hatten, fanden einige Vorlesungen und Seminare als Blockveranstaltungen statt. Leider waren nicht alle Dozenten in der Forschung tätig. Teile der Praktischen Theologie wurden von Dozenten unterrichtet, die als Hauptamtliche in den entsprechenden Diözesanämtern beschäftigt waren. Bei den Lehrveranstaltungen gab es keine Wahlmöglichkeiten. Unsere Bibliothek hatte nur geringe Mittel zur Verfügung, und der Buchbestand spiegelte die Interessen der jeweiligen Bibliotheksleiter wider - und das Durchsetzungsvermögen einiger Professoren, die ihre Lieblingsbücher anschaffen ließen.
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Bis zum Ende der 1970er Jahre dominierte die Bibelwissenschaft. Dann übernahm die Dogmatik die führende Rolle. Die Orientalistik herrschte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Patrologie und Alte Kirchengeschichte hatten in früheren Jahrhunderten geglänzt. Sie führten in den 1980ern Jahren aber ein eher bescheidenes Leben. Doch dank zweckgebundener Mittel von der Regionalregierung konnten die wichtigsten Quellenausgaben weiter angeschafft werden. Nur für die Lokalgeschichte - Kirchen- wie Liturgiegeschichte - konnte und kann die Bibliothek wegen der vielen vorhandenen Originalquellen die Funktion einer Forschungsbibliothek erfüllen. Wie schon erwähnt, hatte ich von Anfang an ein großes Interesse an Alter Kirchengeschichte und Patrologie, die wir in vier Semestralvorlesungen hörten. Kirchengeschichte und Patrologie wurden als ein Fach behandelt, was ich bis heute für die beste Methode halte. So kann man deutlicher den Zusammenhang von christlichem Leben und theologischer Reflexion erkennen. Unser Professor, Édouard Brunod, war von Haus aus Dogmatiker und Kirchenrechtler, so dass er immer diese beiden Bereiche hervorhob. Auch die Professoren für Liturgie und Spiritualität hatten ein besonderes Interesse an der Alten Kirche. Für die Bildung meines historischen „Blicks“ spielte Lin Colliard, der Direktor der Regionalarchive, eine wichtige Rolle. Er hielt im Priesterseminar Vorlesungen über die Geschichte Aostatals und über die Geschichte des Bistums. Er weckte in mir das Interesse für Geschichte als Wissenschaft, so dass Lokalgeschichte mein erstes Übungsfeld für die historische Methode wurde. Durch die persönliche Beschäftigung mit der Lokalgeschichte sind mir auch die Grenzen der „großen Geschichte“ klargeworden, in der oft die Perspektiven der kleineren Völker vernachlässigt werden. Aus dieser Zeit stammt auch mein Interesse für die Minderheiten, für die Meinung derer, die aus irgendwelchen Gründen kein Gehör finden. Hier wurzelt auch meine Entscheidung, mich auch in die Geschichte der orientalischen Kirchen zu vertiefen. Ich wollte sehen, wie sich das Evangelium außerhalb des griechischrömischen Kulturraums entwickelt hat.
3) Rom: Lizentiat in Theologie und Patristische Studien (1990-1993) Nach dem Abschluss des Theologiestudiums im heimatlichen Priesterseminar wurde ich zur akademischen Weiterbildung nach Rom geschickt. Ich begann im Wintersemester 1990/91 am Istituto Patristico Augustinianum das Programm für das Lizentiat zu absolvieren. Die Studienordnungen für Theologie in Italien unterscheiden sich von denen in Deutschland und spiegeln zwei leicht verschiedene Vorstellungen über die Methode wider, wie Wissenschaftler auszubilden seien. Nach dem fünfjährigen Theologiestudium, das überall grundsätzlich gleich ist, kann man im deutschsprachigen Raum sofort mit der Promotion beginnen. Wer sich für eine akademische Laufbahn entscheidet, kann dann eine Habilitation anstreben. In Italien hingegen muss man vor
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dem Beginn der Promotion ein Lizentiat machen, das zwei bis vier Jahre dauern kann. Damit erhält man das Recht, in dem Fach, für das man sich qualifiziert hat, für die Hörer der ersten fünf Studienjahre Vorlesungen zu halten. Erst nach der eigenen Promotion ist man berechtigt, auch Promotionen zu begleiten. Im Lizentiat-Zyklus halten die Dozenten ihre Seminare und Lehrveranstaltungen über die eigenen Forschungsschwerpunkte. Dank Roms besonderer Dichte an theologischen und historischen Instituten, die Forscher aus aller Welt anziehen, boten am Augustinianum über dreißig Patrologen und Altkirchenhistoriker aus verschiedenen Ländern ihre Lehrveranstaltungen an. An die ausgezeichnete Bibliothek des Augustinianums denkt jeder mit Sehnsucht zurück, der dort einmal geforscht hat. Leben und Werk des Augustinus gehörten selbstverständlich zum Pflichtprogramm. Ich muss aber gestehen, dass meine Vorliebe eher in Richtung Origenes ging. Es waren besonders Henry Crouzel und Manlio Simonetti, die mir den Weg gezeigt haben, auf dem ich in das Denken des Origenes eindringen konnte. Da ich das Glück hatte, bei den Eintrittsprüfungen in Latein und Griechisch auf das Niveau der Altphilologen eingestuft zu werden, hatte ich Zeit, um mich den Sprachen des Christlichen Orients zu widmen. Ich wollte erfahren, wie sich das Christentum in den anderen Kulturen der Antike verbreitet und entwickelt hatte. Meine Entscheidung für ein Thema aus der syrischen Patrologie hatte vielleicht auch mit einfachen menschlichen Gründen zu tun. Einerseits lebten in meinem Kolleg, dem Istituto Maria Immacolata, viele Priester aus dem indischen Staat Kerala, die zur Syromalabaren Kirche gehörten. Sie waren es, die anfangs meine Neugier auf die syrische Tradition stimuliert hatten. Andererseits wollte ich in meinem jugendlichen Ehrgeiz etwas tun, das nicht jeder kann. Jeder „Westler“ konnte Latein und Griechisch. Die Studenten aus dem Orient oder aus Indien konnten Syrisch. Aber die Fähigkeit, sich in allen drei Traditionen wissenschaftlich bewegen zu können, war wohl nicht so verbreitet. Und das wurde, vielleicht ein bisschen zu erhaben, mein Ziel. Diese Neigung bestimmte also die Auswahl des Themas für die Lizentiatsdissertation zur Christologie des syrischen „Liber Graduum“, die ich unter der Leitung von Alberto Camplani und Sever Voicu schrieb. Der „Liber Graduum“ stellt eine in vielerlei Hinsicht originelle Form christlicher Theologie dar, für die sich breitere akademische Kreise erst in jüngster Zeit zu interessieren begonnen haben.9 Die Beschäftigung mit dem „Liber Graduum“ erforderte, bei der Untersuchung die christologische Fragestellung dieses Buches neu zu bedenken. Um die dogmatischen Aussagen des anonymen Autors zu beurteilen, hatte man in der bisherigen Forschung Maßstäbe an dieses Werk angelegt, die man aus den späteren Lehren der griechischen und lateinischen Kirche gewonnen hatte. Dabei wurden die ureigensten Probleme des „Liber Graduum“ weniger beachtet und die innere Kohärenz und die Komplexität seines theologischen Denkens nicht genügend bewertet.
Eigentlich seitdem die erste englische Übersetzung erschienen ist: R. Kitchen/M. Parmentier (Hg.), The Book of Steps: The Syriac Liber Graduum, Kalamazoo, Mich., 2004. Vgl. aber schon D. Juhl, Die Askese im Liber Graduum und bei Afrahat. Eine vergleichende Studie zur frühsyrischen Frömmigkeit (OBC 9), Wiesbaden 1996.
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Bei meiner Arbeit habe ich gelernt, dass in theologiegeschichtlichen Untersuchungen die Fragestellung immer wieder überprüft und den Quellen angepasst werden muss. Die Gefahr der systematisch arbeitenden Theologen besteht jedoch darin, in den alten Quellen Antworten auf unsere Probleme zu suchen, anstatt erst einmal zu hören, was für Probleme man damals hatte. Gerade diese zweite Perspektive macht aber die Beschäftigung mit der Alten Kirche für die heutige Theologie fruchtbar, indem sie die eigene Position in eine größere Perspektive stellt und eine distanzierte und kritische Betrachtung des eigenen Standpunktes ermöglicht. Hier muss noch ein anderer Professor erwähnt werden, Antonio Orbe. Denn er hat meine innere Haltung zu den Kirchenvätern dauerhaft geprägt. Orbe war ein Spezialist für die Theologie des 2. und 3. Jahrhunderts. Er unterrichtete an der Gregoriana. Dort habe ich ihn gehört. Er meinte, jeder Student der Theologie sollte am Ende seines Studiums zumindest einen Kirchenvater gefunden haben, mit dem er fast wie mit einem Freund „im geistigen oder theologischen Gespräch“ sein kann. Die präzise historische Rekonstruktion eines Denkens ist die Voraussetzung und zugleich das Mittel, dass ein solches „Gespräch“ mit einem alten Zeugen des christlichen Glaubens überhaupt stattfinden kann. Orbe meinte, die Komplexität der Theologie eines Irenaeus und der Gnostiker seien die beste Schule, um das theologische Denken zu erlernen. Er sagte das zu einer Zeit, in der sich die meisten Theologiestudenten lieber mit Autoren des 20. Jahrhunderts beschäftigen wollten. Aber die Theologie wie auch die Philosophie keiner Zeit ist einfach überholt. Die Beschäftigung mit dem Denken von Irenaeus oder Augustinus ist genauso aktuell wie die Beschäftigung mit einem zeitgenössischen Theologen. Dazu braucht man aber eine gewisse „Sympathie“ für den alten Autor, den man liest. Ich muss gestehen, dass ich automatisch skeptisch werde, wenn ich beim Lesen historischer Arbeiten das Gefühl bekomme, der heutige Historiker erhebt sich als Inquisitor oder sogar als Richter über die alten Autoren, die sich nicht mehr verteidigen können. Am Augustinianum war es erlaubt, das Thema der Lizentiatsarbeit zu vertiefen und zur Doktorarbeit zu erweitern. Das taten zu meinem Erstaunen besonders die Studenten aus Deutschland. Ich wusste damals nicht, dass sie zu Hause noch eine zweite Arbeit, die Habilitation, vor sich hatten und diese über ein anderes Thema zu schreiben hätten. Für mich war jedoch klar: Ich wollte meine wissenschaftliche Ausbildung mit der Arbeit an einem anderen Thema vervollständigen.
4) Oxford: Oriental Institute (1993-1994) Für eine weitere Beschäftigung mit dem Christlichen Orient hielt ich es für angemessen, meine Sprachkenntnisse zu erweitern. Ursprünglich hatte ich an André de Halleux von Louvain gedacht, aber als ich ihn fragte, ob er bereit wäre, meinen weiteren akademischen Werdegang im Rahmen der syrischen und orientalischen Patrologie zu begleiten, empfahl er mir, mich an Sebastian Brock von Oxford zu wenden. Ich wusste damals nicht, dass de Halleux schwer erkrankt war. Er starb kurz danach.
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Nun, der Gedanke, nach England zu gehen, hatte mir einige Bedenken bereitet besonders wegen der Sprache. Einige meiner Freunde aus Kerala hatten das MasterProgramm am Syrisch-Institut der Universität Oxford besucht und kannten Brock. Dank ihrer Ermunterung und der Unterstützung des Vizepräsidenten des Augustinianum, Robert Dodaro, der selbst in Oxford studiert hatte, ging ich im September 1993 nach Oxford, um das Master Program of Studies in Syriac zu absolvieren. Die freundliche Haltung der Dozenten beeindruckte mich sofort. Anders als in Rom, wo die meisten Professoren eine eher distanzierte Haltung ihren Studierenden gegenüber pflegten, wirkte die Atmosphäre in Oxford auf mich fast familiär. Es erinnerte mich ein bisschen an die Verhältnisse im Priesterseminar von Aosta, nur dass Oxford der Inbegriff der „Exzellenz-Universität“ war. Zusätzlich zu den Seminaren über verschiedene Aspekte der syrischen Geschichte, Kultur und Theologie trafen wir uns jeden Tag in Brocks Büro, um syrische Texte zu lesen und zu analysieren. In Oxford wohnte ich in Campion Hall, dem Kolleg der Jesuiten. Die Welt und die Kirche sehen von einem angelsächsischen Standpunkt anders aus. Ich durfte regelrechte Auseinandersetzungen über die Form der Liturgie erleben, um die Fragen nach der „inclusive language“ und um noch einiges mehr, wofür sich Katholiken aus anderen Kulturkreisen weniger interessieren. Die in Oxford gemachten Erfahrungen und Beobachtungen haben meine Methode in der historischen Forschung beeinflusst. Seitdem habe ich die Gewohnheit, bevor ich ein theologisches Thema in der Antike untersuche, mir meines eigenen Standpunktes bewusst zu werden, um nicht meine eigene Problematik auf die Quelle zu projizieren. Dadurch hoffe ich, in der historischen Analyse eine höhere Objektivität zu erreichen und zugleich die Möglichkeit offen zu halten, den Ertrag für weitere systematische Überlegungen zu verwenden. Da ich unbedingt einen kanonischen Doktortitel erwerben wollte, um an einer Theologischen Fakultät arbeiten zu dürfen, kam für mich eine Promotion in Oxford nicht in Frage. Brock erklärte sich aber bereit, „officially“ oder „unofficially“ meine Dissertation zu begleiten, auch wenn ich mich in Rom aufhielt.
5) Zwischen Rom und Oxford (1994-1998) So ging ich im Oktober 1994 nach Rom zurück, um mich am Augustinianum für den 3. Studienzyklus anzumelden. Die Suche nach einem geeigneten Thema für die Dissertation hat einige Zeit gedauert. Ich wollte in einem Bereich forschen, der sowohl die griechische als auch die syrische Tradition umfasste. Und es sollte ein neues Thema sein, so wie bei meiner Lizentiatsdissertation. Schließlich wollte ich mehr Zeit auf das Quellenstudium als auf die Sekundärliteratur verwenden. Die Entscheidung fiel schließlich auf die biblische Exegese des Severus von Antiochien. Severus hatte auf Griechisch geschrieben, aber seine Werke sind fast nur in syrischen Übersetzungen überliefert worden. Er wurde zum Hauptdenker des Miaphysismus und damit zu einem der wichtigsten „Kirchenlehrer“ der Syro-Orthodoxen und der Kopten.
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Das Kriterium der Interkulturalität war also erfüllt. Bei Severus fand sich zahlreiches exegetisches Material, das vor meiner Untersuchung so gut wie nicht bearbeitet worden war. Das erfüllte mir meinen Wunsch nach einem noch unbetretenen Forschungsfeld. Darüber hinaus waren die zu untersuchenden Schriften des Severus schon ediert, so dass ich mich auf die theologische Interpretation konzentrieren konnte. Ich brauchte zwei „Doktorväter“. So wurde Simonetti in Rom zum ersten Betreuer und Brock aus Oxford zum zweiten. Das Augustinianum hatte diese Ausnahme ermöglicht. In den vier Jahren, in denen ich an diesem Forschungsprojekt gearbeitet habe, pendelte ich regelmäßig zwischen Rom und Oxford, auch wenn ich mich die meiste Zeit doch in Rom aufhielt. Hier durfte ich im Campo Santo Teutonico wohnen. Gemäß den Studienordnungen des Augustinianum hatte ich angefangen, meine dritte Fremdsprache (Deutsch) zu erlernen. Aber was ich an Deutschkenntnissen im Sommersprachkurs in Wien lernte, verlernte ich wieder während des römischen Winters. Deswegen kam ich auf die Idee, in einem deutschsprachigen Kolleg zu wohnen. Der Rektor vom Campo Santo, Erwin Gatz, hat mich sofort aufgenommen. Er freute sich sogar, einen Studenten aus dem Augustinianum im Hause zu haben. Mein vierjähriger Aufenthalt im Campo Santo war ein Glücksfall. Das Kolleg hat eine lange akademische Tradition, verfügt über eine ausgezeichnete Bibliothek für historische Studien und liegt in unmittelbarer Nähe des Augustinianum und der Vatikanischen Bibliothek. In dieser Zeit entstanden auch Kontakte und Freundschaften, die bis heute andauern. Damals begann auch meine Lehrtätigkeit an verschiedenen römischen Instituten und Fakultäten (1995-1997). Ich hielt Vorlesungen (im Durchschnitt eine bis zwei Doppelstunden pro Woche) über Patrologie, Patristische Christologie und Theologie des Christlichen Orients. Etwas Erfahrung im Lehren brachte ich mit. Denn schon im Priesterseminar von Aosta hatte ich den Einführungskurs für Hebräisch zu halten, aber in Rom war die Lage natürlich etwas anders. Eine Semestralvorlesung (Patristische Christologie) hielt ich sogar im 2. Zyklus, was eine absolute Ausnahme war, denn einige der Hörer waren zukünftige Dogmatikprofessoren und teilweise älter als ich, und ich musste stets gegen meine Anfängerunsicherheit ankämpfen. Eine Erfahrung im Rahmen dieser Lehrtätigkeiten hat meinen Umgang mit wissenschaftlicher Forschung dauerhaft geprägt - und das ausgerechnet an einem Ort, wo ich es nicht erwartet hätte. Ich wurde mit der Patrologievorlesung in der Französischen Abteilung des Instituts Regina Mundi beauftragt. Dieses Institut war das erste in Rom, an dem Frauen theologisch ausgebildet werden konnten. Es hatte vier Sektionen (Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch). Im Hörsaal hatte ich etwa 80 bis 100 Hörerinnen aus allen Ländern, in denen man Französisch als Kultursprache verwendet. Ich verlangte von den Studentinnen, dass sie neben dem Vorlesungsstoff auch ein Buch ihrer Wahl aus den „Confessiones“ des Augustinus durcharbeiten sollten. Denn darauf zielte die erste Prüfungsfrage. Bei den Prüfungen habe ich dann einiges von den Studentinnen gelernt. Ich hatte die „Confessiones“ zwar mehrmals gelesen
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sowie Kommentare und sonstige Literatur über Augustinus. Aber einige Studentinnen hatten in dem Werk Aspekte entdeckt, die ich bis dahin so sachgerecht und in solch gedanklicher Tiefe noch nicht wahrgenommen hatte - über die Rolle der Frauen, die Lebensverhältnisse innerhalb der Familie, das Gefühl des Fremdseins, die Art des philosophischen Fragens usw. Die Studentinnen aus Afrika waren besonders begeistert, weil sie bemerkt hatten, dass der große Augustinus in Italien auch als „Afrikaner“ wegen seines Akzents gebrandmarkt worden war. Seitdem habe ich angefangen, nicht nur feministische Ansätze ernst zu nehmen, sondern auch mit Interesse zu schauen, wie die Klassiker der westlichen Tradition auf Menschen anderer Kulturen wirken. Ich muss gestehen, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt aufgrund eines zwar unterhaltsamen, aber wissenschaftlich enttäuschenden Vortrags einer berühmten Kollegin aus den USA, die ich in Oxford gehört hatte, der völlig falschen Überzeugung war, die Gender-Forschung in historischen Disziplinen erbringe mehr Erkenntnisse über das Denken der Forschenden als über den Gegenstand der Forschung. Meine asiatischen und afrikanischen Studentinnen aus der Regina Mundi haben mich eines Besseren belehrt, und bis heute bin ich dankbar für die Lektion in puncto wissenschaftlicher Demut, die sie mir damals indirekt erteilt haben. 1998 war meine Dissertation fast fertig. Die Jahre, die ich mit Severus von Antiochien wie auch mit anderen großen Exegeten der christlichen Antike unterwegs gewesen bin, hatten mir nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene die Verschmelzung der verschiedenen altkirchlichen Auslegungsmethoden gezeigt, sondern mich auch über die theologischen Grenzen der historisch-kritischen Exegese hinausgeführt. Von daher scheint es mir nicht sachgemäß zu sein, wenn in den Studienplänen der katholischen Theologie den Ergebnissen der Bibelwissenschaft des 19. und des 20. Jahrhunderts ein enormer Platz zugewiesen wird, während die Bibelauslegung der Antike, die die gesamte Entwicklung der Kirche, ihre Dogmen und ihre Frömmigkeit bestimmt hat, kaum Beachtung findet. In den Jahren der Promotion hatte eine kleine Gruppe von Studenten des Augustinianum das Problem des Verhältnisses der dogmatischen Theologie zur Patrologie diskutiert. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass in vielen Bereichen der heutigen katholischen Theologie der Anschluss an die Kirchenväter verloren gegangen ist, obwohl sich eine ganze Theologengeneration, die in Frankreich unter dem Namen „Théologie nouvelle“ bekannt wurde, im Zusammenhang der Überwindung eines einseitigen, sterilen Thomismus für eine stärkere Beachtung der Kirchenväter in der modernen Theologie eingesetzt hatte. Die historische Forschung hatte inzwischen enorme Fortschritte gemacht, aber vielleicht konnte sie gerade deshalb von der systematischen Theologie nur höchst unvollständig rezipiert werden. Nach der langen Zeit in Rom war ich neugierig, ein anderes Zentrum der katholischen Theologie näher kennen zu lernen. Da ich noch ein Jahr zur Verfügung hatte, um meine Dissertation abzuschließen und für den Druck vorzubereiten, entschloss ich mich, Rom zu verlassen und nach Paris zu ziehen. Ich hoffte, am Institut Catholique eine andere Art Theologie betreiben zu können.
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6) Paris (1998-2000) Mit dem Pariser Aufenthalt, der insgesamt zwei Jahre dauerte, verfolgte ich zwei Ziele. Zum einen wollte ich meiner auf Französisch verfassten Arbeit den letzten Schliff geben. Andererseits wollte ich neben dem historischen Ansatz, den ich am Augustinianum gelernt hatte, auch einen anderen, vielleicht mehr „theologischen“, ausprobieren. In Paris durfte ich im Séminaire de St. Sulpice wohnen, das sich als idealer Ort für wissenschaftliches Arbeiten erwies - eine Oase der Ruhe inmitten von Paris mit einer beachtlichen historischen Bibliothek. In Paris bin ich sofort in Kontakt mit Joseph Wolinski, dem Patrologen des Institut Catholique, gekommen und durfte an seinem Seminar über Origenes teilnehmen. Hier habe ich auch die Zeit genutzt, um einige philosophische Themen zu vertiefen. So habe ich an den Seminaren von Jean Gresch über Martin Heidegger teilgenommen sowie an anderen Seminaren an der École Pratique des Hautes Études über Plotin. Die Lektüre von Thomas S. Kuhn, Gilles Deleuze und Félix Guattari hat meinen Sinn für die Analyse der Begriffe und die Entwicklung der Denksysteme geschärft. So bin ich schließlich zwei Jahre geblieben. Wenn man mir es richtig übermittelt hat, gab es zwischen meinem Heimatbischof und dem Institut Catholique informelle Gespräche bezüglich der Möglichkeit, in Paris zu bleiben, um irgendwann die Nachfolge Wolinskis anzutreten, der kurz vor seiner Emeritierung stand. Das war wohl der Grund, warum sich mein Pariser Aufenthalt um ein Jahr verlängerte, bis mein Heimatbischof mich doch nach Aosta zurückrief, um mir die Verantwortung für die Fächer Dogmatik und Patristische Theologie an unserem Priesterseminar zu übertragen. 15 Jahre nach dem Abitur war ich also so weit, am Grand Séminaire von Aosta, eigentlich meiner kleinen Alma Mater, eine Professur zu übernehmen. Meine Hauptinteressen waren dabei: Patrologie in der lateinischen, griechischen und syrischen Tradition. Meine Schwerpunkte setzte ich auf: Theologische Hermeneutik in der Antike sowie Ideen- und Dogmengeschichte in den verschiedenen kulturellen Räumen mit besonderer Aufmerksamkeit für Minderheitenphänomene.
b) Im Beruf 1) Aosta (2000-2003) Der Ruf aus Aosta war nicht nur mit der Aufgabe verbunden, Dogmatik und Patrologie zu lehren. Vielmehr ging es auch um den Versuch, das Priesterseminar in eine Theologische Fakultät umzuwandeln und diese in die neu gegründete Universität Aostatals zu integrieren. Ende der 1990er Jahre hatte sich in Italien der allgemeine Trend entwickelt, Priesterseminare zusammenzuschließen und aus ihnen Theologische Fakultäten zu bilden. Wegweisend war das Bistum Brixen mit seiner Theologischen Fakultät. Das Besondere in Aostatal war, dass sich ein hochrangiges Mitglied der Regionalregierung ausdrücklich dafür eingesetzt hatte, das Grand Séminaire St. Anselme in die neue
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staatliche Universität zu integrieren. Eine solche Initiative seitens der Politik war für italienische Verhältnisse etwas ganz Neues. Da ich den Auftrag hatte, vorbereitende Gespräche zu führen, war ich oft unterwegs, um die notwendigen Kontakte zu knüpfen, Informationen zu sammeln, Erfahrungen anderer Stellen einzuholen und Pläne zu entwerfen. Es mag übertrieben klingen, aber ich hatte das Gefühl, wenn auch im Kleinen, so doch an einem Vorgang von historischer Tragweite mitwirken zu dürfen. In meiner eigenen Forschungstätigkeit konzentrierte ich mich in dieser Zeit auf meine traditionellen Gebiete. Jetzt entstanden kleinere Arbeiten über die Ekklesiologie des „Liber Graduum“ und die Funktion des Bischofs in der Theologie des Severus von Antiochien. Und ich beschäftigte mich mit der Christologie in der syrischen Tradition (Afrahat und Martyrios-Sahdona). Deutlich mehr Anstrengungen verlangten aber die Vorbereitungen der Dogmatik-Vorlesungen. Ich bewundere immer wieder die Dogmatiker an den deutschen Fakultäten, die allein die ganze Breite des Faches vertreten müssen. In Aosta waren wir normalerweise zu zweit für das Fach zuständig. Meine Schwerpunkte waren die Trinitätslehre, die Christologie und die Theologische Anthropologie. Die Hörer brachten recht unterschiedliche Vorkenntnisse mit. Ein Teil der Studenten hatte z. B. erhebliche Schwierigkeiten, bei antiken oder mittelalterlichen Texten zur Dogmenoder Theologiegeschichte einer Exegese aus der Originalsprache zu folgen. Eine Einladung als Gast-Professor an die Theologische Fakultät von Morogoro (Tanzania) und eine weitere Einladung nach Bangalore (Indien) brachten nicht nur Abwechselung und neue Herausforderungen in der Lehre, sondern erweiterten auch meine wissenschaftlichen Interessen. Die Einladungen verdanke ich letztlich P. Artur Chrzanowsky, der als Student in Rom meine Vorlesungen besucht hatte. Nun, Jahre später in verantwortlicher Position in der Mission seines Ordens, ließ er mich einladen. Was ich in Tanzania und Indien an persönlichen Erfahrungen sammeln durfte, hat mein Weltbild, meine Einstellung zu den Menschen und zur Gesellschaft total verändert. Insbesondere das, was wir im „Westen“ über jene Länder zu wissen meinen, muss einer Revision unterzogen werden. Das ist allerdings ein ganz eigenes Thema, und man müsste einen weiteren Beitrag schreiben, um darüber zu berichten. Nur was mir seitdem als Kirchenhistoriker unter den Nägeln brennt, ist das Anliegen, ja die Notwendigkeit, in der Geschichte stets auch, wenn nicht sogar in erster Linie, die Perspektive der Schwächeren, der Unterdrückten, der Ausgebeuteten, der Verachteten einzunehmen, ihre Sicht der Dinge herauszuarbeiten und dabei die „großen Erzählungen“ der Mächtigen - z. B. der westlichen Medien - zu hinterfragen, sie zu dekonstruieren. Zugegeben, das ist wie so oft leichter gesagt als getan. Solche Erfahrungen haben mich auch dazu geführt, ein neues Forschungsfeld anzugehen. In Indien und in Afrika ist der Umgang mit den verschieden Religionen und ihren konkurrierenden Wahrheitsansprüchen eines der anspruchsvollsten Themen für die Theologie und die Pastoral. Selbst im „Alten Europa“ lautet die Frage heute immer weniger, ob man an Gott glaubt, sondern zunehmend, an welche Art von Gottheit man glaubt. In jüngster Zeit sind viele theologische Abhandlungen erschienen, die genau diese
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Problematik aus christlicher Perspektive untersuchen. Die größte Herausforderung besteht in dem Versuch, den traditionellen christlichen Glauben an Jesus Christus mit einer positiveren Bewertung der nichtchristlichen Religionen zu verbinden. Mit anderen Worten: Es geht um die Frage, ob die Dogmen der Alten Kirche so beibehalten werden können, wie sie traditionell verstanden werden, oder ob sie doch eine „Umdeutung“ benötigen. Im Wintersemester 2002/03 durfte ich ein Forschungssemester absolvieren. Ich habe es in Wien verbracht, wo ich die ersten Vorbereitungen für ein Projekt über die Rezeption der Kirchenväter in der heutigen Theologie der Religionen getroffen habe. Dafür habe ich die Hilfe von Bertram Stubenrauch gesucht. Er hatte wie ich am Augustinianum studiert und sich dann der dogmatischen Theologie gewidmet. Von ihm kam die Anregung, sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass das Projekt einer staatlichen Theologischen Fakultät in Aosta zu wenige Befürworter fand. Bei der Regionalregierung hatten sich Veränderungen ergeben. Die Italienische Bischofskonferenz betrachtete, wenn ich es recht sehe, das Vorhaben mit Skepsis. Und selbst dem Erzbistum Torino ist es noch nicht gelungen, eine vollständige Fakultät zu errichten. Gerüchte über die Zukunft des Religionsunterrichts an den Schulen ließen einen drastischen Rückgang der Studierenden für das Lehramt erwarten. Und aus pastoralen Erwägungen wurden im Bistum Aosta andere Prioritäten gesetzt. Fazit: Die Tage des Priesterseminars von Aosta als selbständiger Studienort waren gezählt. Ich hätte in Torino meine akademische Tätigkeit weiterführen können. Aber meine Fächer waren mit älteren Kollegen besetzt. So hätte ich am Anfang ein anderes Fach übernehmen müssen. Diese Perspektive ließ mich zunächst unschlüssig bleiben. Vor allem fehlte mir eine wichtige Erfahrung. Obwohl ich vor mehr als zehn Jahren zum Priester geweiht worden war, war ich weder Kaplan gewesen noch auf andere Weise mit unmittelbar seelsorglichen Aufgaben betraut worden. Mein Heimatbischof hatte bei einem Priestertreffen die Bedürfnisse der Migrantenpastoral erwähnt und gefragt, ob einer von uns bereit wäre, für die übliche Zeit von zwei bis drei Jahren in die Mission zu gehen. Da ich in Wien die französischsprachige katholische Gemeinde kennen gelernt hatte, habe ich mich beim Bischof gemeldet. Mit welcher Begeisterung er meine Anmeldung entgegennahm, kann ich nicht sagen. Aber im Nachhinein erschien es als eine vernünftige Lösung, um eine Zeit zu überbrücken. Mein einziger Wunsch, die Gemeinde sollte sich in der Nähe einer theologischen Bibliothek befinden. In meiner Freizeit wollte ich auf dem Gebiet der Theologie der Religionen weiter arbeiten. Die meiste Literatur zu diesem Thema war auf Englisch oder Deutsch erschienen. Von Aosta oder Torino aus wäre es nur mit großen Schwierigkeiten und hohem finanziellen Aufwand möglich gewesen, sich dieser Aufgabe zu widmen. Professor Stubenrauch hatte sich bereit erklärt, die Arbeit als Habilitation für das Fach Dogmatik zu betreuen. Die Aussicht auf eine weitere Qualifikation fand ich reizvoll und das Projekt nahm auf diese Weise eine konkrete Gestalt an. Im September 2003 kam ich nach Darmstadt und wurde Pfarrer und Leiter der Italienischen Katholischen Gemeinde, die etwa fünftausend Mitglieder zählt.
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2) Darmstadt - Mainz - Erfurt (2003-2011) Darmstadt gehört zum Bistum Mainz. Der Mainzer Bischof, Kardinal Karl Lehmann, ist ein Förderer der Theologie. Er sah offenbar keine Gefährdung der Seelsorge in meiner Absicht, neben dem Pfarrerberuf an einem Habilitationsprojekt zu arbeiten. Im Gegenteil: Etwa acht Monate nach meinem Einsatz in Darmstadt wurde ich zu meinem Vorgesetzten, Weihbischof Werner Guballa, einbestellt. Zu meiner Überraschung zeigte er sich sehr interessiert an meiner akademischen Arbeit und brachte mich in Kontakt mit Professor Theofried Baumeister von der Universität Mainz. So wurde gewährleistet, dass ich dort mindestens einmal pro Woche ungestört arbeiten konnte. Bischof Guballa war jahrelang in Darmstadt Dekan gewesen, sprach perfekt Italienisch und kannte die Komplexität der Ausländerseelsorge in der Stadt. Wahrscheinlich wollte er mit seinem Angebot auch vermeiden, dass ich Darmstadt vorzeitig verlasse.10 Baumeister brauchte einen Mitarbeiter für die Alte Kirchengeschichte. So kam es, dass ich zusätzlich zu meiner Pfarrstelle in Teilzeit sein wissenschaftlicher Mitarbeiter für Alte Kirchengeschichte wurde. Die Arbeit unter Baumeister war für mich ein Glücksfall sowohl in menschlicher als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Sie bedeutete nämlich eine Horizonterweiterung. Hatte ich mich bis dahin vor allem mit Ideengeschichte beschäftigt, so wurde in der Schule Baumeisters mein Interesse vor allem auf das konkrete Leben der Christen in der Antike gelenkt. Baumeister zeigte auch stets Verständnis, wenn ich wegen der Gemeindearbeit unter besonderem Stress stand. Die pastoralen Aufgaben haben wenig Bezug zur akademischer Forschung. In den siebeneinhalb Jahren, in denen ich als Leiter der Gemeinde tätig war, waren meine Möglichkeiten, wissenschaftliche Beiträge zu publizieren, stark eingeschränkt. Später, als ich wieder nur akademischer Lehrer war, habe ich an mir selbst festgestellt: Die Gemeindearbeit hat meine Sicht auf die Kirchengeschichte verändert. Die vielen Kontakte zu Menschen in allen Lebenssituationen, die Seelsorgegespräche, die Ausübung von Leitungsfunktionen, der Umgang mit Konflikten innerhalb und außerhalb der Gemeinde, das alles hat meinen Blick für die Lebensumstände in der Geschichte der Kirche geschärft. Für zwischenmenschliche Beziehungen und die Herausforderungen des Glaubens bin ich in dieser Zeit sensibler geworden. Diese Veränderung, vielleicht sollte ich sagen: dieser Reifeprozess hat sich auch auf meine Haltung zu Augustinus ausgewirkt. Zu seinem Werk hatte ich lange Zeit ein schwieriges Verhältnis. In mancher Hinsicht völlig irrational! Schon als Gymnasiast hatte ich ja die „Confessiones“ gelesen. Dann spürte ich, dass mich die Texte des Augustinus irgendwie beunruhigten, mich sogar abends am Einschlafen hinderten. Selbst beim Studium am Augustinianum habe ich es konsequent vermieden, mich nach dem Abendessen noch mit Augustinus zu beschäftigen. Sympathie für ihn erwachte erst später, als ich Neugriechisch gelernt habe.
10 Viele von denen, die versucht haben, sich durch eine halbe Stelle in der Migrantenseelsorge das Studium in Deutschland zu finanzieren, haben die Arbeit in der Gemeinde am Anfang unterschätzt und nach kurzer Zeit die Stelle auch wieder verlassen.
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Während der Promotionszeit und auch später noch habe ich oft Urlaub in Athen gemacht und dort gleichzeitig Sprachkurse besucht, bis ich theologische Bücher in Griechisch lesen konnte. Dann ist mir aufgefallen, wie oft in einem Teil der neuorthodoxen theologischen Literatur pauschal und völlig unbegründet über Augustinus hergezogen wird. Hier erscheint er sozusagen als Symbolfigur für alles Böse und für alle Häresien der „westlichen“ Kirche. Damit wird man ihm aber keineswegs gerecht, und das hat mich motiviert, ihm mehr Sympathie entgegenzubringen. Aber erst die Erfahrungen als Leiter der Gemeinde in Darmstadt haben mich mit Augustinus nicht nur „versöhnt“, sondern ihn mir sogar zum Freund werden lassen. Seine Rhetorik hatte mich oft irritiert. Nun wusste ich sie zu schätzen als ein Instrument für eine wirkungsvolle Kommunikation. Das Arbeitspensum blieb enorm. Stubenrauch war inzwischen von Wien nach München gewechselt, und ich konnte ein paar Mal an seinen Doktorandenkolloquien teilnehmen. Allmählich bekam ich Zweifel, ob ich die Arbeit unter den gegebenen Umständen in absehbarer Zeit fertig stellen könnte. Weil neue Literatur zu meinem Thema erschienen war, bedurften die schon fertig gestellten Kapitel wieder einer ersten Überarbeitung. Auf der Suche nach einem Forschungsstipendium bat ich einen Freund, der auch Mitarbeiter an der Universität war, mir zu helfen, meinen Lebenslauf in die deutsche Sprache zu übersetzen. Er verstand nicht, warum ich mich nicht gleich auf eine Professorenstelle bewerbe, und ermutigte mich dazu. Die Theologische Fakultät der Universität Erfurt zeigte Interesse an meinem wissenschaftlichen Profil. Nach einer Zeit der Lehrstuhlvertretung erfolgte dann schließlich im Jahre 2010 der Ruf nach Erfurt auf die Professur für Alte Kirchengeschichte und Patrologie, den ich nunmehr innehabe. Dem Bistum Mainz bin ich dankbar, dass es mir durch seine entgegenkommende Gestaltung der Gestellungsverträge ermöglicht hat, bis zu meiner offiziellen Ernennung in Erfurt meinen verschiedenen akademischen Verpflichtungen nachkommen zu können.
2. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Aufgaben Die folgenden Anmerkungen beziehen sich auf die Funktion, die die Alte Kirchengeschichte und die Patrologie in der katholischen Theologie haben.11 Obwohl Kirchengeschichte als Wissenschaft methodologisch eine einheitliche Disziplin ist, steht die Alte Kirchengeschichte vor Herausforderungen, die sich von der Beschäftigung mit jüngeren Epochen unterscheiden. Die mittlere und moderne Kirchengeschichte muss die immense Menge an Quellen, Dokumenten und Materialien aller Art bewältigen. Die Kunst des Historikers besteht darin, das Wichtige von weniger Wichtigem zu unterscheiden. Nur dann kann aus der chaotischen Flut an Informationen eine sinnvolle und kohärente Erzählung geformt werden, die in sich plausible Zusammenhänge darstellt.
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Mit dem Wort „katholisch“ ist hier stets die römisch-katholische Tradition gemeint.
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In der Alten Kirchengeschichte ist die Quellenlage eine ganz andere. Hier muss aus den wenigen noch vorhandenen Quellen jedes Detail aufmerksam analysiert und ausgewertet werden. Nicht selten kommt man sich vor wie bei einem Puzzle-Spiel, von dem die meisten Teile abhanden gekommen sind. Aus wenigen Resten soll das ganze Bild rekonstruiert werden. In der Alten Kirchengeschichte nimmt das Studium der Schriften der Kirchenväter eine zentrale Rolle ein; so jedenfalls seit dem ersten Kirchenhistoriker Eusebius von Caesarea. Im Folgenden beschränke ich mich auf einige praxisrelevante Anmerkungen zur Bedeutung und Funktion des Faches.12 Auf eine theoretische Erörterung der Aufgaben der Kirchengeschichte als Wissenschaft wird aus zwei Gründen verzichtet: Erstens ist seit Jahren der wissenschaftliche Status der Geschichtsschreibung als solcher Gegenstand von Untersuchungen und Diskussionen mit stark divergierenden Ergebnissen. Es seien hier nur zwei Klassiker genannt: Michel Foucault mit seinem Werk „Archéologie du savoir“ von 1969 und Hayden White mit seinem 1973 erschienenen Buch „Metahistory“. Wenn schon seitens der „Profanwissenschaften“ die Frage gestellt wird, ob es überhaupt sinnvoll ist, von „Geschichte“ zu sprechen, ob sie überhaupt existiert oder „objektiv“ fassbar ist, dann muss sich die christliche Theologie erst recht darauf besinnen, welchen Geschichtsbegriff sie voraussetzen muss, damit das depositum fidei beibehalten werden kann. Aber auf diese Frage kann ich hier nicht eingehen. Zweitens scheinen die wissenschaftstheoretischen Diskussionen zur Kirchengeschichte kaum Spuren in den konkreten Abhandlungen der heutigen Historiker zu hinterlassen. In meiner akademischen Ausbildung hatte ich das Glück, von mehreren Lehrern unterwiesen zu werden, die unterschiedlichen Konfessionen und Weltanschauungen angehörten und verschiedene fachliche Schwerpunkte setzten, sich aber in puncto „Wissenschaftlichkeit“ gar nicht unterschieden. Es hat allerdings auch in jüngster Vergangenheit Fälle gegeben, in denen ideologische Verblendung oder konfessionelle Bindung zu tendenziösen Darstellungen der Kirchengeschichte geführt haben.13 Die Grenzen solcher Unternehmen sind meistens leicht zu erkennen.14 Kirchengeschichte des Altertums und Patrologie gehören zu den Pflichtfächern in der katholischen Theologie und sind auf die Bedürfnisse der zukünftigen Theologen zugeschnitten. Man darf aber nicht übersehen, dass sich auch Studierende benachbarter Fächer wie Religionswissenschaft und Altertumskunde sowie das allgemeine Publikum dafür interessieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sehe ich für das Fach drei Aufgaben: 1. das Klären der Identität, 2. das Schärfen der Sinne und 3. das Einfordern von Toleranz.
12 In diesem Sinne finde ich Seeligers Lösungsvorschlag zum Problem der Wissenschaftlichkeit der Kirchengeschichte sehr überzeugend; vgl. Seeliger, Kirchengeschichte - Geschichtstheologie - Geschichtswissenschaft (wie Anm. 6), 233-238. 13 Vgl. K. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Reinbek bei Hamburg 1986ff (bisher 9 Bde., auch als Taschenbuch, 2004ff). 14 Vgl. H. R. Seeliger (Hg.), Kriminalisierung des Christentums? Karlheinz Deschners Kirchengeschichte auf dem Prüfstand, Freiburg i. Br. 21994.
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1. Die erste Aufgabe der Kirchengeschichte als Wissenschaft besteht m. E. darin, die Vielfalt der historischen Erscheinungsformen des Christentums zu beschreiben und aufzuzeigen, wie die Kirche sich selbst wahrgenommen hat. Wissenschaftlichkeit dient in diesem Zusammenhang dazu, einseitige oder manipulierende Rekonstruktionen zu vermeiden und den Mut zur Wahrheit zu fordern. Es geht einerseits darum, den Draht endgültig zu kappen, mit dem ein Teil der Kirchenhistoriker der letzten Jahrhunderte bewusst oder unbewusst mit der Apologetik verbunden war, und teleologische Deutungsversuche zu vermeiden. Andererseits soll die Kirchengeschichte als Wissenschaft, wenn auch nur indirekt, dazu beitragen, Zerrbilder, die aus falschen Perspektiven entstehen, als solche zu erkennen und ihnen eine historisch fundierte Alternative entgegenzusetzen.15 Bezüglich der Alten Kirchengeschichte müssen auch fromme Legenden und antike Deutungsversuche als Gegenstand der historischen Forschung Beachtung finden, weil Legenden und Selbstdarstellungen per se Fakten sind. Zwar informieren sie uns nicht über das, was wirklich geschehen ist, aber sie sagen eine Menge aus über die Menschen, die sie verfasst haben. So kann z. B. der berühmte Briefwechsel zwischen Jesus und dem König von Edessa ja nur apokryph sein, aber er ist wichtig, um ein Gespür dafür zu entwickeln, was den Christen von Edessa für ihr Selbstverständnis wichtig war. Für die katholische Theologie ist die Rückbindung an die Ursprünge ausschlaggebend für die Beschreibung der Identität der Kirche. Die systematische Auseinandersetzung mit den ersten Jahrhunderten der Kirche ist notwendig, um die Identität der heutigen Kirche, ihre Dogmen, Riten, Strukturen überhaupt zu verstehen. Der Vergleich mit der Alten Kirche führt aber zur Wahrnehmung, dass Kontinuität Entwicklungen und Veränderungen nicht ausschließt. Gerade der Vergleich mit der Antike ermöglicht der systematischen Theologie ein tieferes Eindringen in den Kern der christlichen Identität und öffnet die Tür für neue Wege. Das sind Aufgaben der systematischen Theologie, die ohne Bezug zur Alten Kirchengeschichte nicht durchführbar sind.16 2. Die zweite Aufgabe der Kirchengeschichte als Wissenschaft besteht darin, den theologischen Sinn der Studierenden zu schärfen. Die Zeit der Kirchenväter war eine andere Welt. Die heutigen Kirchen sehen sich zwar als legitime Erben jener Zeit, jedoch ist die Distanz wohl zu groß, um ohne gezielte Einführung geistig überwunden zu werden. Die Kirchenväter sprachen eine
15 Die jüngste Forschung über die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamischer Länder hat gezeigt, dass die Mischung aus islamischen und postkolonialistischen Perspektiven zu einer nicht sachgemäßen Darstellung des Christentums führt. So kann sie das Misstrauen gegenüber den Christen pauschal fördern. Die zunehmende Christenfeindlichkeit, die sich besonders gegen die autochthonen orientalischen Kirchen richtet, wird leider dadurch genährt. Vgl. W. Reiss, Die Darstellung des Christentums in Schilbüchern islamisch geprägter Länder. Ägypten und Palästina, Schenefeld 2005, und P. Bartsch, Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch geprägter Länder. Türkei und Iran, Schenefeld 2005. 16 In diesem Sinne scheinen Reformvorschläge, die ihren Rückhalt in der gesamtkirchlichen Tradition nicht ausreichend beweisen, weniger durchsetzungsfähig zu sein.
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andere Sprache, hatten andere Probleme und eine andere Mentalität, sie erlebten die Kirche anders. Das Studium der Alten Kirchengeschichte sollte zunächst den Theologen die intellektuellen Mittel zu Verfügung stellen, um zu verstehen, wie der Glaube in anderen Formen gelebt und Theologie in anderen Kategorien gedacht wurde, um vielleicht dadurch indirekt auch den kritischen Blick auf die gegenwärtigen Formen der Theologie und der Kirche zu schärfen. Hier könnte man einwenden, dass dieses Ziel auch durch die Beschäftigung mit dem Christentum anderer Epochen oder anderer Kulturkreise erreicht werden kann. Für die profane Geschichte mag der Einwand akzeptabel sein. Aber man darf nicht vergessen, dass für die katholische Theologie die Epoche der Kirchenväter eine höhere Autorität besitzt17 und ihr Beitrag zur Deutung des Evangeliums maßgebend ist.18 3. Eine dritte Aufgabe der Kirchengeschichte als Wissenschaft sehe ich darin, Wege zur Toleranz und zu Verständigungsmöglichkeiten mit anderen Traditionen aufzuzeigen. Erfolge dieser Art zeigen sich in den christologischen Übereinstimmungen, die in den letzten Jahren mit den Altorientalen erreicht worden sind. 1500 Jahre Spaltungen, Missverständnisse und gegenseitiges Misstrauen konnten überwunden werden dank der historischen Untersuchungen zur Theologie des Severus von Antiochien, Babais des Großen und anderer Hauptfiguren der christologischen Auseinandersetzungen des 5. und 6. Jahrhunderts. Oft genug haben innere Spaltungen zu gewalttätigen Ausbrüchen geführt, die im groben Widerspruch zum Evangelium standen. Es ist meine Hoffnung, dass die Besinnung auf die Vielfältigkeit des Christentums, der Blick auf die zahlreichen leidvollen Konflikte und die Wahrnehmung des Fortgangs der Geschichte geeignet sind, zu größerer Akzeptanz Andersdenkender zu führen - sowohl innerhalb der Kirche als auch in ihrer Beziehung zu denjenigen, die ihr nicht angehören. Leider sind heute innerkirchlich die Zeichen einer zunehmenden Auseinandersetzung zwischen eher konservativen und eher progressiv denkenden Katholiken nicht zu übersehen. Daher braucht die Kirche unbedingt eine kirchengeschichtliche Klärung, die ihr hilft, das Vergangene besser zu verstehen und in der Gegenwart nicht längst erledigte Kämpfe neu auszufechten. Die Kirchengeschichte als Wissenschaft dient indirekt dazu, den eigenen Standpunkt nicht zu verabsolutieren und das Kirchenideal nicht mit einem Vergangenheitsbild zu identifizieren, das so nicht existiert hat. Und für das Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen gilt: Die Kirchengeschichte zeigt, wie schwierig es selbst für Christen ist, die dem Evangelium zu dienen meinten, dieses Evange-
17 Es sind die historischen Untersuchungen zur Liturgie in der Antike, die die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils ermöglicht haben. 18 In der Haltung gegenüber den Kirchenvätern geht die protestantische Tradition von anderen Voraussetzungen aus. In der Auslegung der Schriften der Kirchenväter spielen heute konfessionelle Unterschiede so gut wie keine Rolle mehr, aber die theologische Bewertung ihrer Lehren, soweit sie überhaupt stattfindet, kann sich vom eigenen Standpunkt nicht trennen und muss es auch nicht.
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lium nicht durch ihre Taten zu verraten. Und so ermuntert sie indirekt dazu, die Pastoral und die Mission der Kirche immer neu zu prüfen und zu fragen, ob ihre Botschaft und ihre Methoden tatsächlich dem Evangelium entsprechen.
3. Kirchengeschichte als Wissenschaft: Zukunftsperspektiven Persönliche Überlegungen In der Beschreibung der Aufgaben der Kirchengeschichte als Wissenschaft habe ich bewusst versucht, die Bedeutung des Faches für die heutige Theologie hervorzuheben. In den Jahren meiner Tätigkeit in Italien und Frankreich habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich das Interesse für die Alte Kirche paradoxerweise von den Theologischen zu den Philosophischen Fakultäten verlagert hat. In meinem Heimatland hat die patristische Forschung seit den 1980er Jahren beachtliche Ergebnisse erzielt, so dass heute einige Gestalten und Themen wie Origenes, Augustinus, patristische Bibelauslegung usw. kaum mehr wissenschaftlich zu behandeln sind, ohne die italienische Sekundärliteratur zu berücksichtigen. Dementsprechend ist auch das Interesse des allgemeinen Publikums an der Kirchengeschichte gewachsen, was sich an der Zahl der neuen italienischen Übersetzungen von altkirchlichen Texten ablesen lässt. Demgegenüber scheint mir die systematische Theologie in Italien nicht immer mit der Entwicklung Schritt gehalten zu haben. Während die meisten Intellektuellen und Jugendlichen, die sich für das Christentum interessierten, gerne auf die großen Klassiker der kirchlichen Tradition und Spiritualität zurückgriffen, war der Blick der systematischen Theologen eher auf die deutsche Theologie des 20. Jahrhunderts konzentriert. Nun, angesichts der Bedeutung von Autoren wie Karl Barth, Karl Rahner und vielen anderen mag das nicht verkehrt sein. Nur irgendwie fehl am Platz erscheint es mir, damit die Hoffnung zu verbinden, ausgerechnet jene Intellektuellen zu erreichen, die sich mehr von Augustinus als von Rahner angesprochen fühlen. In Deutschland ist die theologische Tradition ein bisschen anders. Während die Forschung über die christliche Antike dank der gemeinsamen Anstrengungen von Wissenschaftlern beider kirchlichen Traditionen, der katholischen wie der evangelischen, weltweit führend ist, spielt m. E. in der Verkündigung und der Katechese die Theologie und die Spiritualität der ersten Christen eine im Vergleich zu Italien relativ geringe Rolle. Gerade das hohe Niveau der historischen Forschung in Deutschland kann zu dem falschen Schluss führen, die Beschäftigung mit der Alten Kirchengeschichte sei Sache der Spezialisten und die geistigen Bemühungen jener lange zurückliegenden Epoche sowieso längst überholt. Aber in glaubensbezogenen Fragen bildet nach meinem Eindruck die zeitliche Distanz keinen unüberwindbaren Graben. Die Schilderung von Augustins Suche nach der Wahrheit in den „Confessiones“ hat nicht nur die westliche philosophische Tradition geprägt, sondern viele Leser bis heute zum Nachdenken und Hinterfragen angeregt. Die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht hat sich seit den Überlegungen des Origenes auch nicht wesentlich verän-
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dert. Auch die Auseinandersetzungen um die Machtstrukturen innerhalb der Kirche haben von Anfang an das Leben der Gemeinden bestimmt. Die Frage nach der Bedeutung des Universalitätsanspruchs des Todes und der Auferstehung Jesu beschäftigt die christliche Theologie seit Justin dem Märtyrer oder vielleicht sogar schon seit dem Evangelisten Lukas, wenn man ihn als einen der ersten christlichen Schriftsteller und Theologen wahrzunehmen bereit ist. Die gegenwärtige Lage der katholischen Kirche nach dem Verlust von Machtpositionen in den Ländern Europas und angesichts einer zunehmend multikulturell und multireligiös werdenden Gesellschaft lässt die jüngste Vergangenheit der Kirche beinahe fremder erscheinen als die Lebensumstände der Christen in den ersten Jahrhunderten. Nach diesem Plädoyer für die Bedeutung der Alten Kirchengeschichte in der und für die Theologie möchte ich jetzt noch drei Themenfelder kurz darstellen, deren Untersuchung mich beschäftigt und an denen ich gerne weiterarbeiten möchte. 1. Dabei denke ich erstens an die Geschichte der theologischen Hermeneutik. Das Christentum verehrt das Alte und das Neue Testament, die als „göttlich inspiriert“ gelten. Von daher stellen sich Fragen: - Was geschieht, wenn einer Sammlung von Schriften eine göttliche Herkunft zugesprochen wird? - Welche hermeneutischen Strategien wurden entwickelt, um in den Texten Gottes Wort zu erkennen? - Inwiefern wurden Auslegungsmethoden aus anderen Gebieten übernommen, und welche Anpassungen wurden vorgenommen, um sie für den neuen göttlichen Gegenstand brauchbar zu machen? - Wie wurden Erkenntnistheorien verändert, damit die in den Heiligen Schriften enthaltene göttliche Offenbarung erkennbar und zugänglich werden kann? Die Christen in der Antike haben die Bibel als Basis des christlichen Lebens und der Theologie stets mit unterschiedlichen Herangehensweisen untersucht und ausgelegt. Das Studium der alten Bibelauslegung bietet einen wichtigen Schlüssel, um die Schriften, die Theologie und die Frömmigkeit der Kirche des Altertums zu verstehen. Gerade die Unkenntnis in diesem Bereich verursacht heutigen Theologen m. E. die größten Schwierigkeiten beim Lesen patristischer Texte. 2. Ein zweites Themenfeld, das mich fasziniert, ist die historische Entwicklung bestimmter Grundfragen des Glaubens in den verschiedenen kulturellen Räumen. Auch hier ergeben sich Fragen: - Wie hat man sich die Einheit Gottes vorgestellt, nachdem man an einen Gottessohn geglaubt hat? - Welche Freiheit bleibt den Menschen übrig, wenn Gott allmächtig ist? - Wie hat man den Begriff Erlösung verstanden? - Wie ist die Menschwerdung Gottes zu denken? Diese Fragen beschäftigen die Christen - in der Antike wie heute. Bei der Untersuchung solcher Themen finde ich die kulturellen „Grenzgebiete“ besonders interessant. Damit meine ich die Orte und die Momente, in denen theologische Probleme von einem kulturellen Kontext zu einem andern „übersiedeln“ und
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unter veränderten Voraussetzungen weiter gedacht werden. Hier denke ich z. B. an die sehr unterschiedlichen Entwicklungen der syrischen und der griechischen Theologie bis zum 4. Jahrhundert und an die Wirkungsgeschichte der griechischen Theologie auf die syrische, seitdem sie ab dem 5. Jahrhundert im syrischen Kulturraum stark rezipiert wurde; oder an die Rezeption und gleichzeitige Umformung der griechischen Theologie durch die lateinische Welt um die Wende des 4./5. Jahrhunderts. Eine interdisziplinäre Untersuchung der Geschichte bestimmter theologischer Debatten in der patristischen Theologie, in der spätantiken Philosophie und in den frühen islamischen Schriften könnte nicht nur die Geschichte der Spätantike und des frühen Islams besser erhellen, sondern auch zum interreligiösen Dialog und zur gegenseitigen Verständigung beitragen. 3. Ein letztes Phänomen zieht erst seit kurzem die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich: die Rezeption der Kirchenväter, die Wirkungsgeschichte ihrer Theologie sowie die unterschiedlichen Interpretationen und Bewertungen historischer Ereignisse, die eine symbolische Bedeutung erhalten haben. Für die Theologie scheint es mir von besonderem Interesse zu sein, näher zu untersuchen, wie Hinweise auf altkirchliche Elemente - Lehren, Begriffe, Ereignisse, die fast Symbolcharakter haben - ihren Weg in die heutigen theologischen Diskurse finden. Es geht dabei nicht darum zu zeigen, ob moderne Systematiker beim Umgang mit Zeugnissen aus der Alten Kirche den heutigen Forschungsstand berücksichtigen. Vielmehr geht es darum zu sehen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen die Erinnerung an die Vergangenheit innerhalb der heutigen Theologie geschieht. Die Alte Kirchengeschichte als Wissenschaft kann in diesem Kontext eine doppelte Funktion haben. Einerseits ermöglicht sie der Theologie eine höhere Kontrolle über die Verwendung von Argumenten aus der Tradition und aus der Geschichte der Kirche gegen manipulatorische, apologetische oder reduzierende Versuchungen. Andererseits kann sie dank des wissenschaftlichen Fortschritts die Welt der frühen Christen zugänglicher machen und damit das theologische Denken bereichern.
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Wolf-Friedrich Schäufele
Auf dem Weg zu einer historischen Theorie der Moderne Überlegungen zur Kirchengeschichte als Wissenschaft Kirchengeschichte als Wissenschaft wird im deutschen Sprachraum als eigenständiges Fach praktisch ausschließlich an theologischen Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen betrieben. Damit eignet ihr derselbe Doppelcharakter, wie er mehr oder minder auch die übrigen theologischen Disziplinen auszeichnet: Einerseits dient sie als Teildisziplin der theologischen Wissenschaft der rationalen Selbstverantwortung des christlichen Glaubens und der Ausbildung angehender Pfarrerinnen und Pfarrer und Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Andererseits ist sie eng auf eine außertheologische Referenzwissenschaft bezogen, hier die allgemeine Geschichtswissenschaft, oder, wie die Kirchenhistoriker sich gerne ausdrücken, die „Profangeschichte“. Tatsächlich ist unter allen theologischen Disziplinen die Kirchengeschichte wohl diejenige, deren Bezug zu ihrer Referenzwissenschaft am engsten ist und die dementsprechend außerhalb der Grenzen ihrer Fakultät von allen theologischen Disziplinen gewöhnlich auch das höchste Renommee genießt. Innerhalb ihrer eigenen Fakultät gerät sie dagegen leicht in den Verdacht, ein nur in einem minderen Sinne theologisches Fach, ja womöglich im Konzert der theologischen Disziplinen die am ehesten entbehrliche zu sein. Nicht zufällig wurden um die Frage der Theologizität der Kirchengeschichte bedeutende Debatten ausgetragen. Während die Geschichtswissenschaft in Deutschland seit vier Jahrzehnten einen lebhaften Theorie- und Methodendiskurs führt, zeichnet sich die Kirchengeschichte traditionell durch eine gewisse Theorieabstinenz aus. Es ist dies eine Not, die mitunter wohl auch die Züge einer Tugend annehmen kann; der notwendigen Selbstverständigung der Kirchengeschichte über ihren Gegenstand, ihre Methode und ihr Erkenntnisinteresse steht sie jedoch im Wege. Umso verdienstvoller ist die Bereitstellung von Foren für eine solche Selbstverständigung, wie etwa das 2003 in Meißen durchgeführte Symposium über „Historiographie und Theologie“1 oder der vorliegende Sammelband. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als ein teilweise sehr persönlicher Beitrag eines jüngeren evangelischen Kirchenhistorikers zu dieser Aufgabe.
W. Kinzig/V. Leppin/G. Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (AKThG 15), Leipzig 2004.
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1. Fremdheit und Vertrautheit: Mein persönlicher Zugang zur Kirchengeschichte Mein persönlicher Zugang zur Kirchengeschichte ist nicht zuletzt durch meine religiöse Sozialisation in einem freikirchlichen Milieu bestimmt. Ich habe dort eine Form eines persönlich angeeigneten, Glauben und Leben überzeugend verbindenden Christseins kennen gelernt - eines Christseins aber auch, das zugleich wesentlich ungeschichtlich konfiguriert war. Nicht geschichtliche Überlieferung, sondern gegenwärtige, unmittelbare Erfahrung lag dieser Art von Religiosität zugrunde. In eigentümlicher Verschränkung verband sich eine selbstverständliche Gleichzeitigkeit mit den Gestalten der Bibel, denen man ohne das Empfinden geschichtlicher Distanz sozusagen von gleich zu gleich begegnete, mit einer umso schärfer empfundenen Distanz, ja zuweilen Fremdheit gegenüber der eigenen Gegenwart und ihrer Kultur, aber auch gegenüber anderen Formen christlicher Existenz in Vergangenheit und Gegenwart. Die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte diente mir hier als Korrektiv, als Mittel der Befremdung gegen eine falsche Vertrautheit und als Mittel der Beheimatung gegen eine falsche Distanz. Am Anfang stand die Entdeckung der Fremdheit der religiösen Tradition des Christentums. In der Begegnung mit den liturgischen Traditionen anderer Konfessionen, dann aber vor allem auch in der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte, erfuhr ich die Faszination des Fremden, Unbekannten. Keinen geringen Eindruck machte mir Umberto Ecos fulminanter Mittelalterroman „Der Name der Rose“, den ich als Wehrdienstleistender auf Wache las. Zwanzig Jahre später habe ich mir den Spaß erlaubt, alle historisch verifizierbaren Protagonisten dieses Buches in meiner Habilitationsschrift auftreten zu lassen. Erst später lernte ich jene andere Faszination kennen, die die unvermutete Erfahrung von Vertrautheit oder Resonanz inmitten so gearteter Befremdung auslösen kann. Zwei Schlüsselerlebnisse sind mir erinnerlich. Das erste fällt in meine Heidelberger Studienzeit, als ich gemeinsam mit einem Kommilitonen ein Referat über die „haecceitas“ als Individuationsprinzip bei Duns Scotus vorbereitete und nach einem Nachmittag angeregter Diskussionen plötzlich das Gefühl hatte, nach siebenhundert Jahren hell und unmittelbar die Stimme des „Doctor subtilis“ zu vernehmen, sein Denken in meinem Denken aufgehen zu spüren. Das zweite Erlebnis dieser Art hatte ich während der Arbeit an meiner Dissertation im historischen Lesesaal im Bonatzbau der Tübinger Universitätsbibliothek. Ich saß dort über ein Konvolut lateinischer Dissertationen des frühen 18. Jahrhunderts gebeugt und hatte auf einmal eben jenes Empfinden, wie es das große Wandgemälde von Karl Schmoll von Eisenwerth (1879-1948) ausdrückt, auf dem die Darstellung der Nekyia, der Unterweltsfahrt des Odysseus, von jenem Vers aus dem 11. Gesang der „Odyssee“ flankiert wird, den ich einst als Unterprimaner übersetzte: „und aus dem Erebos kamen viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten“.
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Es ist diese doppelte Faszination durch die Erfahrungen von Befremdung und von Beheimatung, die ich bis heute empfinde und die meinen Zugang zur Kirchengeschichte nicht wenig bestimmt hat. Es war die Kirchengeschichte, die mir gestattete, mich von meinem eigenen Glauben und meiner eigenen religiösen Praxis zu distanzieren, in kritischer Reflexion gleichsam mir selbst gegenüberzutreten. Und ebenso gestattete sie mir, in einem kritisch verantworteten Glauben und einer ebensolchen religiösen Praxis Heimat zu finden.
2. Theologizität und Historizität: Standort- und Aufgabenbestimmung von Kirchengeschichte als Wissenschaft Es ist die eigentümliche institutionelle Positionierung der Kirchengeschichte zwischen allgemeiner Geschichtswissenschaft und Theologie, die die Frage nach dem Wesen dieser Disziplin aufwirft und nach einer präzisen Standort- und Aufgabenbestimmung verlangt. Ich will deshalb im Folgenden zunächst nach der Theologizität, danach nach der Historizität der Kirchengeschichte fragen.
2.1 Die Theologizität der Kirchengeschichte Volker Leppin hat 2004 zutreffend festgestellt: „Die Frage der Theologizität der Kirchengeschichte erscheint ... als eine für das Selbstverständnis des Faches unverzichtbare Frage.“2 Die großen Debatten der Vergangenheit haben sich daran entzündet, und auch heute noch scheint dieser Punkt für das Verständnis des Faches und seine Positionierung im Konzert der theologischen Fächer entscheidend zu sein. Die Kirchengeschichte gehört an deutschen Universitäten seit dem 18. Jahrhundert zum Kanon der theologischen Disziplinen. Doch der Nutzen dieser Disziplin für angehende Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionslehrerinnen und Religionslehrer erschließt sich heute vielen Studierenden nicht mehr unmittelbar. Anders steht es mit den exegetischen Fächern. Die Bibel ist Grundurkunde und Norm evangelischen Glaubens und im pfarramtlichen Alltag das wichtigste Arbeitsmittel, ihre Kenntnis daher zweifellos unentbehrlich. Auch die Relevanz der Systematischen Theologie, die Antworten auf die zentralen Fragen danach gibt, was wir glauben dürfen und wie wir handeln sollen, ist evident. Von der Praktischen Theologie bzw. der Religionspädagogik schließlich erwarten die Studierenden die Vermittlung jenes Handwerkszeugs, das sie für Predigt, Seelsorge und Unterricht brauchen. Demgegenüber mag es durchaus fraglich erscheinen, was es einem Pfarrer oder einer Lehrerin bringt zu wissen, was Christen im 4. Jahrhundert geglaubt, wie Christen im 16. Jahrhundert gelebt haben. Ein unmittelbarer Nutzen für die Berufspraxis 2 V. Leppin, Einleitung, in: Kinzig/Leppin/Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie (wie Anm. 1), 11-15, hier: 14.
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ist mit solchen Kenntnissen offensichtlich nicht verbunden. Handelt es sich also bei der Kirchengeschichte womöglich nur um überflüssigen Ballast, eine Ansammlung verstaubter und schwer erlernbarer Detailinformationen ohne jede Bedeutung für die Gegenwart? Das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn die Kirchengeschichte vor dem nüchternen Kalkül professionspropädeutischer Zweckrationalität - im akademischen Reformdeutsch unserer Tage heißt das Ideal „employability“ - schlecht abschneiden mag, ist sie nach meiner Überzeugung die lebensnächste theologische Disziplin und für die theologische Wissenschaft insgesamt von zentraler Bedeutung. Vor hundert Jahren, im Zeitalter der so genannten Liberalen Theologie und des Historismus, war die Kirchengeschichte so etwas wie die Königsdisziplin der Theologie. Exemplarisch deutlich wird dies an der bedeutenden Position, die der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851-1930) im Wissenschaftsbetrieb des Kaiserreichs einnahm. Als Mitglied der Berliner Universität und der Preußischen Akademie der Wissenschaften, als Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, war er der wohl einflussreichste Gelehrte Deutschlands. Das Blatt wendete sich mit dem Aufkommen der so genannten Dialektischen Theologie Karl Barths, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gut zwei Jahrzehnte lang die theologische Landschaft in Deutschland dominierte. Zugleich mit dem theologischen Liberalismus attackierte Barth auch die Kirchengeschichte. Zwar war er selbst historisch interessiert - sein Vater Johann Friedrich Barth (1856-1912) war sogar Professor für ältere und mittlere Kirchengeschichte in Bern gewesen - und dachte keineswegs etwa an eine Abschaffung des Faches. Doch die berühmte Aufgabenbestimmung der Theologie im ersten Paragraphen des ersten Bandes der „Kirchlichen Dogmatik“ Barths fiel für die Kirchengeschichte wenig schmeichelhaft aus. Danach kam der Theologie als Ganzer die Aufgabe zu, die Rede der Kirche von Gott zu prüfen, und zwar im Blick auf ihre Begründung durch Jesus Christus, auf ihre Abzielung auf Jesus Christus und auf ihre Übereinstimmung mit Jesus Christus. Diese drei Fragen waren von der „biblischen Theologie“, der „praktischen Theologie“ und der „dogmatischen Theologie“ zu beantworten. „Die sogenannte Kirchengeschichte“ aber, so fuhr Barth fort, „antwortet auf keine selbständig zu stellende Frage hinsichtlich der christlichen Rede von Gott und ist darum nicht als selbständige theologische Disziplin aufzufassen. Sie ist die unentbehrliche Hilfswissenschaft der exegetischen, der dogmatischen und der praktischen Theologie.“3 Es ist nicht nur verletzte Eitelkeit, wenn Kirchenhistoriker dieses Verdikt bestreiten. Tatsächlich ist es sachlich falsch. Aus dem Abstand von acht Jahrzehnten lassen sich die Schwächen von Barths Konzeption leicht erkennen und benennen. Das herausragende Charakteristikum dieses Ansatzes war sein Christozentrismus, um nicht zu sagen: Christomonismus. An der christlichen Rede von Gott interessierte Barth nur Christus als ihre Begründung, ihr Ziel und ihr Inhalt. Keinen Gedanken 3
K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1: Die Lehre vom Wort Gottes, München 1932, 2f, hier: 3.
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verwendete er darauf, wer da redet und wer da angeredet wird: nämlich auf die Menschen - je einzeln als religiöse Subjekte und kollektiv als Kirche, die nicht in der ecclesia invisibilis aufgeht, sondern notwendig auch in dieser Welt empirische Gestalt gewinnt. Heute ist wieder allgemein anerkannt, dass es zu den unhintergehbaren Fortschritten der modernen Theologie gehört, die Frage nach dem Subjekt der Rede von Gott und damit zugleich die Frage nach der Geschichtlichkeit dieser Rede entdeckt zu haben. Es ist die Kirchengeschichte, die diese Frage bearbeitet und die damit verhindert, dass Theologie weltlos und unmenschlich wird. Insofern kommt ihr ein nicht zu unterschätzendes ideologiekritisches Wächteramt zu. Mit der Überwindung der Dialektischen Theologie und der Rehabilitierung der Liberalen Theologie hat auch der Rechtfertigungsdruck auf die Kirchengeschichte als theologische Disziplin nachgelassen. Gleichwohl bleibt es dabei, dass das Fach nicht selten unter Nichttheologen ein größeres Ansehen genießt als unter Theologen. Es ist daher auch heute noch erforderlich, die Theologizität der Kirchengeschichte explizit zu begründen. Die folgenden Ausführungen stellen meine persönliche Antwort dar, wie ich sie in meinen Einführungsvorlesungen vorzutragen pflege. Vier Gründe sind meines Erachtens dafür anzuführen, dass die Kirchengeschichte als eine unentbehrliche Teildisziplin der Theologie anzusehen ist; man könnte auch von einem vierfachen Dienst sprechen, den die Kirchengeschichte der wissenschaftlichen Theologie leistet. 1. Der erste und wichtigste Grund oder Dienst besteht darin, dass die Kirchengeschichte mit der Geschichtlichkeit die religionsphänomenologisch charakteristische Besonderheit und Grundstruktur der christlichen Religion wahrnimmt und reflektiert. Die Tatsache allein, dass das Christentum wie jede innerweltliche Erscheinung einem geschichtlichen Wandel unterliegt, ist trivial und noch nicht geeignet, der Kirchengeschichte einen anderen Rang als den einer Marginalie zuzuweisen. Tatsächlich aber ist die Geschichtlichkeit ein Wesensmerkmal, ja das entscheidende Wesensmerkmal des Christentums, und die wissenschaftliche Reflexion dieser Geschichtlichkeit damit eine eminent theologische Aufgabe. Ein Vergleich mit den auf den ersten Blick nahe verwandten akademischen Fächern der Rechtsgeschichte und der Medizingeschichte mag das verdeutlichen. Auch diese Fächer gehören so genannten positiven Wissenschaften im Sinne Schleiermachers an, deren Teildisziplinen nicht aus einer gemeinsamen wissenschaftlichen Idee abgeleitet, sondern auf einen gemeinsamen praktischen Zweck hingeordnet sind.4 Dennoch ist der Stellenwert dieser Fächer ein ganz anderer als der der Kirchengeschichte. Zugespitzt gesagt: Die Kenntnis der Rechtsgeschichte ist unerheblich für die juristische Praxis, die Kenntnis der Medizingeschichte unerheblich für die ärztliche Praxis. Auch wenn es erhellend und befriedigend sein mag zu wissen, nach welchen Rechtsgrundsätzen und anhand welcher Gesetze etwa im Mittelalter Rechtspflege Vgl. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe, hg. v. H. Scholz, Leipzig 31910 (ND Darmstadt 1993), 1.
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betrieben wurde - Voraussetzung für eine erfolgreiche juristische Praxis heute ist allein die Kenntnis der heute aktuell herrschenden Rechtslage und der heute aktuell geltenden Rechtsgrundsätze. Und auch wenn es erhellend und befriedigend sein mag zu wissen, welche Vorstellungen man in der Antike über die Entstehung von Krankheiten hatte oder wie etwa im 16. Jahrhundert die Syphilis behandelt wurde - Voraussetzung für eine erfolgreiche ärztliche Praxis heute ist das Wissen darüber, wie nach dem heutigem Stand der medizinischen Wissenschaft Krankheiten entstehen und wie sie nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft zu behandeln sind. Die juristische bzw. medizinische Wissenschaft und Praxis beruhen stets auf den jüngsten Rechtssetzungen bzw. auf den jüngsten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Rechts- und Medizingeschichte sind daher faszinierende, aber für die juristische bzw. die medizinische Wissenschaft nicht essentiell notwendige Teildisziplinen, ein Betätigungsfeld für Spezialisten. In den Studienordnungen bildet sich dieser Tatbestand deutlich ab. Mit der Kirchengeschichte verhält es sich anders. Denn die christliche Religion, mit der sie es zu tun hat, gründet nicht auf jeweils aktuellen Erkenntnissen, sondern, theologisch gesprochen, auf Offenbarung, und zwar auf einer Offenbarung, die nicht aus einem zeitlosen Fundus allgemeingültiger Glaubenssätze oder ewig gültiger metaphysischer Einsichten besteht, sondern die in der Geschichte, ja mehr noch: die als Geschichte ergangen ist. Dieser essentielle Geschichtsbezug, diese fundamentale Geschichtlichkeit ist eine religionsphänomenologische Besonderheit, die das Christentum nur noch mit dem Judentum teilt. Damit unterscheiden sich Judentum und Christentum deutlich etwa vom Buddhismus: Zwar wurde der edle achtfache Pfad zur Erleuchtung von Siddharta Gautama gefunden, doch die zugrunde liegende Wahrheit ist unabhängig von der historischen Person Siddhartas und kann zu jeder Zeit neu gefunden werden. Selbst dem Islam, der als monotheistische Offenbarungsreligion dem Judentum und Christentum am nächsten steht, eignet keine vergleichbare Geschichtlichkeit: Zwar wurde der Koran Mohammed geoffenbart, doch existierte er von Anbeginn der Zeiten bei Allah im Himmel, und im Zentrum der religiösen Vollzüge steht die Observanz der religiösen Pflichten, vorab der berühmten „fünf Säulen“ des Islam, nicht die historische Person Mohammeds. Im Zentrum des jüdischen Glaubens hingegen steht die Erfahrung des in der Welt handelnden, geschichtsmächtigen Gottes, steht die Erinnerung an das erlösende Geschichtshandeln Gottes in der Befreiung aus Ägypten, die jedes Jahr im Pessachfest gegenwärtig gesetzt wird, und auf der Wanderung ins gelobte Land. In gleicher Weise steht im Zentrum des christlichen Glaubens die historische Person Jesus von Nazareth - ein Wanderprediger und Charismatiker jüdischen Glaubens, der zu Beginn des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung an der östlichen Peripherie des Römischen Reiches lebte und einem Justizmord zum Opfer fiel; ein historischer Mensch, von dem die Christenheit zugleich glaubt und bekennt, dass er der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes ist. Im Zentrum des neutestamentlichen Evangeliums stehen historisch zu datierende Ereignisse aus dem Jahr 30 unserer Zeitrechnung - das Leiden und Sterben Jesu von Nazareth am Karfreitag und seine
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Erscheinungen als Auferstandener am Ostermorgen. Der christliche Glaube gründet sich also nicht auf zeitlose Offenbarungswahrheiten, sondern auf historische, in Raum und Zeit datierbare Heilsereignisse. Die eindrucksvollste Erinnerung an diese Tatsache ist die Erwähnung des unbedeutenden römischen Karrierebeamten Pontius Pilatus im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Die das heutige Christentum begründende Verkündigung ist also auch, ja in erster Linie Zeugnis von geschichtlichen Ereignissen. Lessing hat darin bekanntlich einen defizienten Modus der Begründung religiöser Gewissheit gesehen. In seiner kleinen Schrift „Der Beweis des Geistes und der Kraft“ von 1777 hat er seinen Einwand auf die klassische Formel gebracht: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“5 und mit der berühmten Metapher vom garstigen Graben veranschaulicht: „Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüberhelfen, der tu’ es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet ein Gotteslohn an mir.“6 Noch heute wird das Bild vom „garstigen Graben“ gerne aufgegriffen, allerdings fast immer in einem falschen Sinn - so als beklage Lessing hier den bloßen innergeschichtlichen Abstand zwischen der biblischen Geschichte und seiner eigenen Zeit, wo es ihm doch um den kategorialen Unterschied zwischen kontingenter historischer und vernunftnotwendiger philosophischer Wahrheit ging. Freilich wird bei einer historisch konfigurierten Begründung religiöser Gewissheit im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte auch der schiere Zeitabstand zum Problem. Die christliche Verkündigung, die sich auf geschichtliche Heilsereignisse bezieht, ergeht dann in einer mehr oder weniger stark veränderten geschichtlichen Konstellation. Es ist dieser Verkündigung daher notwendig eine Übersetzungsleistung abgefordert - die Übersetzung der geschichtlichen Offenbarung aus ihrem historischen Ursprungskontext in den neuen historischen Kontext der eigenen Gegenwart. Diese Übersetzungsleistung ist es, die den Gegenstand der Kirchengeschichte ausmacht. Nichts anderes ist mit der berühmten Programmformel Gerhard Ebelings von der Kirchengeschichte als „Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“ gemeint.7 In diesem funktionalen oder prozessualen Sinn ist Ebelings Formel unüberholt, ja unüberholbar. Problematisch wird sie freilich dort, wo sie als Gegenstandsbestimmung dient und „Auslegung der Heiligen Schrift“ als ein in Anlehnung an CA VII gebildetes dogmatisches Surrogat für „Kirche“ fungiert. G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften (Reclam Universalbibliothek 8968), Stuttgart 1965, 34. 6 A.a.O., 36. 7 Vgl. G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (SGV 189), Tübingen 1947 (ND in: ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen [KiKonf 7], Göttingen 21966, 9-27). Vgl. dazu neuerdings A. Beutel, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift. Ein tragfähiges Modell?, in: Kinzig/Leppin/Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie (wie Anm. 1), 103-118. 5
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Kirchengeschichte hat es also mit einem Fundamentalvorgang christlicher Religion zu tun, den sie - im Unterschied zur Systematischen Theologie - nicht normativ, sondern empirisch und - im Unterschied zur Praktische Theologie - nicht im Blick auf die Gegenwart, sondern mit der historischen Perspektive der „longue durée“ behandelt. Insofern erscheint die oben aufgestellte These von der Kirchengeschichte als einer theologischen Zentraldisziplin gerechtfertigt. 2. Der zweite Dienst, den die Kirchengeschichte der theologischen Wissenschaft leistet, besteht in der Erschließung der eigenen religiösen Identität und der Aufdekkung von deren unreflektierten Voraussetzungen. Der Fundamentalvorgang der Übersetzung der geschichtlichen Offenbarung in neue historische Kontexte ist ja nicht so zu verstehen, als könnten wir in einer Art von fundamentalistischem Kurzschluss immer wieder neu über nunmehr 2000 Jahre hinweg unmittelbar an die erste Gestaltwerdung der geschichtlichen Offenbarung im Christentum der neutestamentlichen Zeit anknüpfen, als könnte jede Zeit ihr Christsein voraussetzungslos neu erfinden. Vielmehr handelt es sich bei diesem Übersetzungsvorgang um einen unhintergehbaren kontinuierlichen Prozess, und der christliche Glaube und die christliche Verkündigung, so wie sie heute laut werden, sind selbst durch diesen Prozess hindurchgegangen und uns heute nur durch diesen Prozess hindurch zugänglich. Jeder neue Übersetzungsvorgang enthält in sich die Summe einer langen Reihe vorhergehender Übersetzungen. Zwar kommt es im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder vor, dass der Rückgriff auf die geschichtlichen Wurzeln der christlichen Verkündigung kritisch gegen die zeitgenössische Gestalt des Christentums gewendet wird. Immer wieder kommt es vor, dass frühere Übersetzungen als nicht sachgemäß zurückgewiesen und aus der Konstitution der eigenen Identität ausgeschieden werden. Doch keine Gestaltung christlichen Glaubens oder christlichen Lebens kann ohne jede Voraussetzung geschehen, kann sozusagen „bei Null“ beginnen. Im Lauf der Zeit haben das Verständnis und die Auslegung des Evangeliums, haben christliche Frömmigkeit und Lebensweise, haben Institutionen des kirchlichen Lebens bestimmte kontingente Formen angenommen, die wir immer schon vorfinden, auch wenn sie uns als solche vielleicht gar nicht bewusst werden. Das bedeutet, dass sich vieles an unserer gegenwärtigen Theologie und religiösen Praxis nur historisch verstehen lässt. Das bedeutet aber auch - und dieser Punkt ist in unserem Zusammenhang noch wichtiger -, dass unsere gegenwärtige Konfiguration des Christentums auf vielfach unbewussten und jedenfalls unreflektierten historischen Voraussetzungen beruht, Voraussetzungen, die oft gerade deshalb unbewusst bleiben, weil uns der spezifische Gewissheitsmodus religiöser Erfahrung eine Unmittelbarkeit suggeriert, die so in Wahrheit nicht besteht. Die Betrachtung der Kirchengeschichte kann solche uneingestandenen Voraussetzungen unserer religiösen Identität aufdecken. Eines der nächstliegenden Beispiele bietet die traditionelle Erlösungslehre. Protestanten wie Katholiken stimmen darin überein, die Erlösung als Befreiung von der Sünde zu verstehen, gleichviel ob sie nun näherhin als forensische Gerechtsprechung oder als effektive Gerechtmachung gedacht wird. Hinter diesem Ansatz wird ein
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starkes ethisches Interesse greifbar, das das Gottesverhältnis des Menschen primär unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung oder Verfehlung des Willens Gottes, in den Kategorien von Schuld und Sühne, Sünde und Gerechtigkeit thematisch werden lässt. Die Kirchengeschichte zeigt nun aber, dass das Verständnis der Erlösung in der Vergangenheit auch anders konfiguriert werden konnte und auch heute noch kann nämlich so, wie es in der Orthodoxie geschieht. Hier wird die Erlösung vorrangig als Befreiung von Vergänglichkeit und Tod verstanden, als Vergöttlichung der hinfälligen menschlichen Natur. Eine rein historische Betrachtung kann nicht entscheiden, welche der beiden Auffassungen vorzuziehen sei; sie kann aber den Blick dafür schärfen, dass das eigene Verständnis nicht das allein mögliche ist, und sie kann die Intentionen und Implikationen der unterschiedlichen Positionen verständlich machen. Im genannten Beispielfall wird die historische Betrachtung zeigen, wie sich in den unterschiedlichen soteriologischen Konzeptionen unterschiedliche historisch gewachsene Mentalitäten und Interessen geltend gemacht haben: das stärker ethisch-lebenspraktische Interesse der Römer in der westlichen, lateinischen Christenheit und das stärker spekulative, metaphysische Interesse der Griechen in der Christenheit des Ostens. Der kirchenhistorische Horizont ermöglicht somit dem Theologen oder der Theologin, die eigenen unbewussten Vorverständnisse zu thematisieren und zu problematisieren. Insofern nimmt die Kirchengeschichte eine wichtige befremdende und ideologiekritische Funktion wahr. 3. Der dritte Dienst der Kirchengeschichte an der theologischen Wissenschaft besteht darin, dass sie die in der christlichen Offenbarung grundsätzlich angelegten strukturellen Möglichkeiten ihrer Entfaltung im Denken und im Leben konkret am historischen Material demonstriert. Dieser Aufgabenbestimmung liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Ausgestaltung christlichen Denkens und Lebens nicht völlig beliebig und kontingent erfolgt, sondern immer nur aus einem endlichen Arsenal von Optionen schöpft, was im Geschichtsverlauf zum Auftreten bestimmter, sich wiederholender Muster führt. Dies lässt sich mithilfe der Spieltheorie veranschaulichen, die so genannte interdependente Entscheidungssituationen mathematisch modelliert und vor allem in den Wirtschaftswissenschaften gerne angewendet wird, aber auch z. B. von Manfred Eigen für die Naturwissenschaften nutzbar gemacht wurde.8 Demnach kann die Kirchengeschichte wie ein Spiel durch die Wechselwirkung zwischen einem Satz verbindlicher Regeln, der die möglichen Handlungsoptionen definiert, einerseits und Elementen der Kontingenz andererseits beschrieben werden. Die Regeln des Spiels „Kirchengeschichte“ sind durch die geschichtliche Offenbarung und ihre spezifische Tiefenstruktur vorgegeben. Indem diese Regeln im Geschichtsprozess auf kontin 8 Vgl. A. Diekmann, Spieltheorie. Einführung, Beispiele, Experimente, Reinbek 2009; M. Eigen/R. Winkler, Das Spiel, München 1987. - Die Idee der Anwendung der Spieltheorie auf die Kirchengeschichte verdanke ich meinem ehemaligen Chef an der Universität zu Köln, Prof. Dr. Markus Vinzent (jetzt London).
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gente historische Situationen und Konstellationen angewendet werden, entstehen verschiedene Ausformungen des Christentums. Dabei zeigt sich, dass bestimmte Typen oder Muster solcher Ausformungen in sehr verschiedenen historischen Kontexten in ähnlicher Form wiederkehren. Auch wenn sich die Geschichte nie wirklich wiederholt, zeigen solche Muster doch eine bemerkenswerte Persistenz. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen. So kehren in der Christologie durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch als typische Optionen immer wieder Doketismus und Adoptianismus, „alexandrinische“ Einheitschristologie und „antiochenische“ Unterscheidungschristologie, wieder. In der Formulierung der christlichen Lehre von Gnade und Erlösung bilden in ähnlicher Weise Synergismus und Prädestinationslehre wiederkehrende Optionen; eine weitere in diesem Zusammenhang bedeutsame Option ist die Apokatastasis-Lehre. Am historischen Spielmaterial der Wechselfälle der Geschichte formen sich so die verborgenen Gestaltungskräfte der dem Spiel zugrunde liegenden Regeln aus und lassen ihre Tiefenstrukturen erkennen. Die Kenntnis der Kirchengeschichte verhilft so durch den Aufweis der sich wiederholenden Grundmuster christlicher Lehre und christlichen Lebens zu einer tieferen Einsicht in das Wesen des Christentums und seine Entwicklungsmöglichkeiten. 4. Der vierte Dienst der Kirchengeschichte an der Theologie besteht darin, Exempel christlicher Existenz vorzuführen. Auf den ersten Blick mag diese Zuschreibung befremden, erscheint sie doch als ein bedenklicher methodischer Atavismus. Es ist dies ja jene Aufgabenbestimmung, die ehedem für die didaktisch-pragmatische Geschichtsauffassung des Humanismus maßgeblich war. Diese sah in der Geschichte eine Sammlung von Exempeln, aus denen man positiv wie negativ für das Leben lernen konnte. Mit Exempeln tugendhaften Lebens sollte die Geschichtsschreibung zur Nachahmung anreizen, mit Exempeln der bösen Folgen des Lasters abschrecken. „Historia magistra vitae“ - mit diesem bekannten Diktum Ciceros9 lässt sich das pädagogische Anliegen dieser Art von Historiographie charakterisieren. Die Reformatoren haben die Aufgabe der Kirchengeschichte ganz ähnlich verstanden. In der Vorrede zur deutschen Chronik Johannes Carions bestimmte Melanchthon 1532 die Aufgabe der Geschichte dahingehend, dass sie Exempel für den Nutzen der Tugend und die Schädlichkeit der Untugend bieten (sowie durch den Aufweis des göttlichen Geschichtshandelns und der Erfüllungen biblischer Verheißungen der Unterweisung und Bestärkung im Glauben dienen) solle.10 Die Problematik eines derartigen primär ethisch-moralischen Zugangs zur Geschichte liegt auf der Hand. Man neigt dabei nur allzu rasch dazu, alles Vergangene an den eigenen Wertmaßstäben und an der Brauchbarkeit für eigene Zwecke zu messen und wird darüber den historischen Gegenständen in ihrer Abständigkeit und Cicero, De oratore II, 9, 36. Vgl. H. Scheible (Hg.), Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien (TKTG 2), Gütersloh 1966, 15f; W.-F. Schäufele, Theologie und Historie. Zur Interferenz zweier Wissensgebiete in Reformationszeit und Konfessionellem Zeitalter, in: I. Dingel/W.-F. Schäufele (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (VIEG.B 74), Mainz 2008, 129-156, hier: 136f.
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Fremdartigkeit nicht gerecht. Die moderne Geschichtswissenschaft hat den didaktisch-pragmatischen Ansatz als wissenschaftliche Methode daher zu Recht verworfen. Für die Kirchengeschichte erscheint eine derartige Zugangsweise, die freilich nur ergänzend in Betracht kommen kann, gleichwohl in bestimmten Grenzen als legitim und hilfreich. Weil Christinnen und Christen zu allen Zeiten vor derselben Aufgabe der Übersetzung der geschichtlichen Offenbarung in die eigene Existenz gestanden haben und weil sich in der Kirchengeschichte bestimmte Muster christlichen Denkens und Lebens in ähnlicher Weise immer wiederholen, können Antworten und Ergebnisse, die frühere Generationen gefunden haben, den späteren Anleitung und Stärkung geben. Die Grundstruktur christlicher Existenz hält sich auch unter veränderten historischen Bedingungen so weit durch, dass theologische Gedanken, Formen christlichen Lebens und Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit der Vergangenheit als Muster und Anregung für die Gegenwart fungieren können. Noch aus dem Abstand von Jahrhunderten können uns Gebete, Lieder, Bekenntnisse, theologische Überlegungen unmittelbar ansprechen, können inmitten der Fremdheit Erfahrungen der Resonanz und der Vertrautheit aufleuchten. Hier kommt die Funktion der Kirchengeschichte als Mittel der Beheimatung eminent zur Geltung. Alle vier genannten Aspekte weisen so einzeln und in ihrer Gesamtheit die Kirchengeschichte eindeutig als theologische Disziplin aus. Allerdings ist sie eben nicht nur dies, sondern darüber hinaus ebenso eindeutig auch eine historische Disziplin. Ich will daher nun in einem zweiten Schritt auch nach der Historizität der Kirchengeschichte fragen.
2.2 Die Historizität der Kirchengeschichte Auch wenn die Kirchengeschichte institutionell überwiegend an theologischen Fakultäten verankert ist und hauptsächlich von Theologen betrieben wird, so ist sie wissenschaftssystematisch doch ein Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Dieser Zusammenhang wird heute weder von den so genannten Profanhistorikern noch von den theologischen Kirchenhistorikern ernsthaft bestritten. In Anbetracht seiner bis weit in die Moderne hinein überragenden mentalitätsund kulturprägenden Wirkung, aber auch seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wirkungen muss das Christentum als Weltanschauung und in seinen verschiedenen Sozialgestalten notwendig auch ein Gegenstand der allgemeinen Geschichtsforschung sein - so wie umgekehrt die Kirchengeschichte als selbstständige Disziplin nicht allein im theologischen Kontext, sondern nur in engster Beziehung auf die Ergebnisse der allgemeinen Geschichtswissenschaft betrieben werden kann. Liegt es doch im Wesen des Christentums, dass es sich mit innerer Notwendigkeit und letzter Folgerichtigkeit in den konkreten historischen Strukturen und Bedingungen seiner Lebenswelt ausformen muss. Zwar hat das Christentum immer wieder auch eine entschiedene und absichtsvolle Widerständigkeit gegenüber den Werten und dem Geist seiner jeweiligen Zeit und
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Umwelt an den Tag gelegt, und der Zug zur „Entweltlichung“, wie sie im 19. Jahrhundert der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck (1837-1905) und neuerdings wieder Papst Benedikt XVI. in seiner Freiburger Rede vom 25. September 2011 angemahnt haben, war durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch immer wieder ein mächtiges Motiv christlicher Religiosität. Im Letzten und Eigentlichen aber nimmt das Christentum notwendig teil an der grundlegenden Bewegung Gottes zur Welt und in die Welt, an jener göttlichen Kondeszendenz, die im Gedanken der Inkarnation ihre höchste Höhe oder besser: ihre größte Tiefe erreicht. Es ist dies ein Zentralgedanke der lutherischen Theologie, der in seiner Tragweite nicht leicht überschätzt werden kann. In der christlichen Verkündigung und ihrer innerweltlichen Gestaltwerdung setzt sich dieser inkarnatorische Weg in die Welt fort. Die Geschichte des Christentums kann daher adäquat überhaupt nur unter weitester Berücksichtigung der allgemeinen historischen Rahmenbedingungen verstanden und beschrieben werden. Im Vollzug der kirchengeschichtlichen Wissenschaft sind die Kenntnisnahme der Ergebnisse der historischen Forschung und die enge Zusammenarbeit mit Historikerinnen und Historikern mittlerweile weithin selbstverständlich geworden. Der Typus des Kirchenhistorikers, der ausschließlich reine Theologiegeschichte treibt und kein Archiv von innen kennt, gehört glücklicherweise der Vergangenheit an. Freilich ist der Grad der Verschränkung der kirchenhistorischen mit der allgemeinhistorischen Forschung je nach Arbeitsgebiet unterschiedlich. In einem meiner Hauptarbeitsgebiete, der Reformationsgeschichte, ist diese Art der Zusammenarbeit - von „Interdisziplinarität“ im eigentlichen Sinne kann kaum die Rede sein - traditionell sehr stark ausgeprägt. Und in meiner wissenschaftlichen Biographie hatte ich das Glück, sechs Jahre lang an einem außeruniversitären Forschungsinstitut tätig zu sein, in dem die Zusammenarbeit zwischen Vertretern und Vertreterinnen der Geschichte und der Kirchengeschichte strukturell institutionalisiert war: dem renommierten Mainzer Institut für Europäische Geschichte, das inzwischen Teil der Leibniz-Gemeinschaft geworden ist.11 Was bedeutet die Historizität der Kirchengeschichte nun aber konzeptionell für das Verständnis und die Aufgabenbestimmung des Faches? In erster Linie muss die Historizität der Kirchengeschichte im Modus der Bestimmung ihres Gegenstands zum Ausdruck kommen. Das versteht sich keineswegs von selbst, denn in der Vergangenheit hat man nicht zuletzt hieran, an der Gegenstandsbestimmung, die Theologizität des Faches festmachen wollen. Die Antwort auf die Frage, was denn jene „Kirche“ sei, mit der es die Kirchengeschichte zu tun habe, kann ja durchaus verschieden ausfallen. Die ältere römisch-katholische Kirchengeschichtsschreibung hat ihren Gegenstand in Übereinstimmung mit der römisch-katholischen Ekklesiologie im Wesentlichen in der hierarchisch gegliederten katholischen Kirche als sichtbarer Heilsinstitution gesehen; der Protestantismus oder andere christliche Richtungen kamen hier nur 11
Website: www.ieg-mainz.de (Zugriff 14.06.2012).
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insoweit in Betracht, als sie eine Herausforderung für die katholische Kirche darstellten oder diese auf sie reagierte. Demgegenüber konnte es naheliegen, protestantischerseits den Begriff der „Kirche“ im Kompositum „Kirchengeschichte“ von der protestantischen Ekklesiologie aus zu bestimmen. August Neander (1789-1850) etwa hat seine stark erbaulich interessierte Kirchengeschichtsschreibung ausdrücklich als Geschichte des Reiches Gottes verstehen wollen, und noch Kurt Dietrich Schmidt hat in seinem vielgelesenen „Grundriß der Kirchengeschichte“ (1949-1954), der mir in der 9. Auflage noch als Studienlektüre diente, die Kirchengeschichte als die Geschichte des in der Welt fortwirkenden Christus definiert und ihren Gegenstand ebenfalls im Reich Gottes gesehen.12 Selbst die bereits erwähnte Formel Ebelings von der Kirchengeschichte als „Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“ scheint mir dogmatisch von der reformatorischen Ekklesiologie bestimmt zu sein, indem hier der Terminus „Kirche“ durch eine funktionale dogmatische Beschreibung der Kirche als creatura verbi ersetzt wird, in der die Definition von CA VII - die Kirche ist dort, wo das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente richtig verwaltet werden - anklingt. Alle derartigen Versuche einer theologischen Gegenstandsbestimmung der Kirchengeschichte sind selbstredend hochproblematisch. Einerseits entstehen so von vornherein unterschiedliche, konfessionell gebundene Konzeptionen des Faches. Andererseits aber und vor allem führt eine transempirische Bestimmung des Gegenstands empirischer Forschung in der Praxis notwendig zu zahllosen Aporien. Heute herrscht, soweit ich sehe, Konsens darüber, den Gegenstand der Kirchengeschichte nicht-theologisch zu bestimmen, also statt von einem vorgegebenen normativen Kirchenbegriff vom empirisch-historischen Befund auszugehen. Ja, es erscheint sogar notwendig, überhaupt vom Terminus „Kirche“ zu abstrahieren - nicht nur im dogmatischen, sondern auch im empirischen Sinn, sofern damit nämlich eine Einengung auf eine institutionengeschichtliche Perspektive verbunden wäre. Stattdessen wird Kirchengeschichte heute gewöhnlich in einem umfassenden Sinn als Geschichte des Christentums verstanden. Dieser Ansatz ermöglicht eine unbefangene Würdigung der historischen Realitäten unter Zurückstellung theologischer oder konfessioneller Werturteile und erlaubt, auch kulturelle Wirkungen des Christentums und säkularisierte Gestalten christlicher Religion einzubeziehen. Damit ist eine Gegenstandsbestimmung erreicht, die auch für die allgemeine Geschichtswissenschaft operationalisierbar ist. Außer im Modus der Gegenstandsbestimmung kommt die Historizität der Kirchengeschichte auch in der Wahl ihrer Methoden zur Geltung. Dabei gilt ohne jede Einschränkung, dass die Kirchengeschichte als Wissenschaft keine anderen Methoden kennt als die allgemeine Geschichtswissenschaft. Hier wie dort grundlegend ist die im 19. Jahrhundert entwickelte historisch-kritische Methode, die historische Erkenntnisse aus der Auswertung kritisch zu bearbeitender und auf ihren Aussagewert hin zu befragender Quellen gewinnt. Eine besondere theologische Methode kann es demgegenüber in der Kirchengeschichte nicht geben. Selbst bei der von Kurt Diet 12
Vgl. K. D. Schmidt, Grundriß der Kirchengeschichte, Göttingen 91990, 11f.
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rich Schmidt in seinem eben erwähnten „Grundriß der Kirchengeschichte“ postulierten und praktizierten Verbindung der historischen Geschichtsforschung mit einer theologisch-heilsgeschichtlichen Betrachtung13 handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um eine Methode. Vielmehr werden hier die auf konventionellem Wege gewonnenen historischen Erkenntnisse ex post mit theologisch begründeten Werturteilen belegt. Damit aber droht die Kirchengeschichte, ihre Kompetenzen als Wissenschaft zu überschreiten. Nach meiner persönlichen Auffassung jedenfalls darf eine mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit betriebene Kirchengeschichtsschreibung keine theologischen, sondern lediglich historische Urteile fällen. Ja, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die Kirchengeschichte jede Art von Werturteilen nach Möglichkeit vermeiden und sich auf objektivierbare Sachurteile beschränken sollte. Erfahrungsgemäß neigen Theologinnen und Theologen noch mehr als ihre Mitmenschen dazu, moralische Zensuren zu verteilen, und auch Personen, Ereignisse und Verhältnisse der Vergangenheit werden da gerne kurzschlüssig nach heutigen Wertvorstellungen beurteilt. Gebildete Menschen, die mit Recht das Banausentum jener Zeitgenossen verachten, die bei Reisen in ferne Länder die dortigen Zustände stets nur am Maßstab des von zu Hause Gewohnten bewerten, tragen oft kein Bedenken, sich mit ebenderselben Borniertheit zu Richtern über ferne Geschichtsepochen aufzuschwingen. Das berühmte Wort Rankes, wonach jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ sei14, kann hier als ein nötiger Ordnungsruf fungieren. Das heißt nicht, dass ein Kirchenhistoriker oder eine Kirchenhistorikerin mit dem gehörigen Augenmaß für sich persönlich nicht auch von einer bestimmten religiösen oder theologischen Überzeugung aus über Erscheinungen der Kirchengeschichte urteilen dürfte. Doch es muss dabei klar sein, dass mit dem Schritt von der Deskription zur normativen Bewertung der Boden der voraussetzungsfreien Wissenschaft verlassen und der Boden der positionellen Wissenschaft betreten oder, anders gesagt: die Theologizität des Faches auf Kosten seiner Historizität verstärkt wird. Die Tatsache, dass die Kirchengeschichte über keine anderen Methoden verfügt als die allgemeine Geschichte, hat zur notwendigen Konsequenz die Forderung, dass sie am allgemeinen historischen Methodendiskurs teilzunehmen hat. Das ist in der Vergangenheit nicht selbstverständlich gewesen. Erfahrungsgemäß hat sich die Kirchengeschichte, wie eingangs bemerkt, oft durch eine weitgehende Theorieabstinenz ausgezeichnet. Sie hat damit der Versuchung widerstehen können, auf das sich mitunter aberwitzig schnell drehende Karussell der historischen Moden aufzuspringen und das Vexierspiel immer neuer kulturwissenschaftlicher „turns“ mitzumachen. Sie hat damit in der Vergangenheit aber zugleich manche Chancen auf die Gewinnung neuer Erkenntnisperspektiven und interdisziplinärer Anschlussmöglichkeiten verspielt - Chancen, die es heute unbefangen wahrzunehmen gilt. Vgl. a.a.O., 20-22. L. von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Th. Schieder/H. Berding, München 1971, 60. 13 14
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Die Rede von der Historizität der Kirchengeschichte, die im historischen, nicht theologischen Modus der Bestimmung ihres Gegenstandes und in ihrer historischen, nicht theologischen Methode zum Ausdruck kommt, darf nun freilich nicht so verstanden werden, als sei die Kirchengeschichte eine bloße, allein durch ihren Gegenstand abgegrenzte Provinz der allgemeinen Geschichtswissenschaft, so wie etwa die Wirtschafts-, Bildungs- oder Diplomatiegeschichte. Tatsächlich ist auch das Erkenntnisinteresse der Kirchengeschichte ein besonderes. Auch wenn es sich sonst weithin mit dem der „Profangeschichte“ deckt, so hat es doch sein Proprium in den oben erörterten vier Aspekten, die die Theologizität des Faches ausmachen. Hier, auf dem Gebiet des Erkenntnisinteresses, ist nach meinem Dafürhalten auch die Konfessionalität der Kirchengeschichtsschreibung zur Geltung zu bringen. Dass Kirchengeschichte als Wissenschaft immer noch konfessionell differenziert betrieben wird, hat seine Berechtigung darin, dass die theologische Wissenschaft, in der sie institutionell verortet ist, ihrem Wesen nach positionell und das heißt: konfessionell differenziert sein muss, wenn anders sie nicht zu einer Religionswissenschaft des Christentums werden soll, und darin, dass je nach der konfessionellen Beheimatung derer, die sie treiben, auch ihr historisches Erkenntnisinteresse unterschiedliche Schwerpunkte haben wird. Es ist also das je spezifische Erkenntnisinteresse und nicht etwa die Anwendung konfessionell bestimmter theologischer Wertmaßstäbe, worin die Konfessionalität der Kirchengeschichte zum Ausdruck kommt. Auf dem gemeinsamen Boden einer derartigen Konzeption kirchengeschichtlicher Wissenschaft ist in der jüngeren Vergangenheit eine bemerkenswerte und begrüßenswerte ökumenische Konvergenz erfolgt, die sich weiter fortsetzen dürfte.
3. Zukunftsperspektiven: Eine persönliche Forschungsagenda Es wäre eine reizvolle Vorstellung, Zukunftsperspektiven für die kirchengeschichtliche Wissenschaft als Ganze entwerfen zu können. Tatsächlich ist dies ohne eine ausgeprägte divinatorische Begabung praktisch kaum möglich - liegt es doch im Wesen der Forschung beschlossen, gerade neue, unvorhergesehene Ergebnisse zu zeitigen. Auch der technokratische Lenkungs- und Steuerungswahn, der die gegenwärtige Wissenschaftspolitik befallen hat und der eher eine Verfallserscheinung als ein Mittel der Besserung ist, wird dies nicht verhindern können. Im Sinne einer wissenschaftspragmatischen Prognostik kann man allenfalls versuchen, aktuelle Tendenzen der kirchengeschichtlichen Forschung zu extrapolieren und daraus Leitlinien für eine mögliche künftige Entwicklung des Faches zu gewinnen. Mit einiger Sicherheit wird man sagen können, dass sich die Entwicklung zu einer immer stärkeren Erweiterung der Beobachtungs- und Deutungshorizonte fortsetzen wird, ja fortsetzen muss. Man wird Kirchengeschichte künftig weniger denn je in der Einengung auf eine einzelne Konfession, auf eine einzelne Epoche, auf ein einzelnes historisches Territorium oder eine Region treiben können. Natürlich werden derartige spezialisierte Einzelforschungen auch in Zukunft unverzichtbar, ja recht eigentlich die Grundlage jedes Erkenntnisgewinns bleiben. Doch das Gesamtbild der Kirchen-
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geschichte wird konsequent transkonfessionell und transnational gezeichnet werden und die Entwicklungen der „longue durée“ und die Perspektive des historischen Längsschnitts werden prominenter herausgestellt werden müssen. Auch die interdisziplinäre Aufstellung des Fachs dürfte sich eher noch verstärken, wobei über die Geschichtswissenschaft hinaus weitere human- und sozialwissenschaftliche Disziplinen (die derzeit modischen Neurowissenschaften werden m. E. stark überschätzt) als Referenzwissenschaften fungieren dürften. Was das „Forschungsdesign“ betrifft, so dürften größere Verbundvorhaben und Drittmittelprojekte zwar auch künftig eine bedeutende Rolle spielen. Die ungebundene, ergebnisoffene Einzelforschung als die klassische Methode geisteswissenschaftlicher Arbeit aber wird und muss daneben weiter möglich sein. Eine durchgehende Kollektivierung des Wissenschaftsbetriebs nach dem Vorbild der Naturwissenschaften, verbunden mit einer weiter voranschreitenden Reduzierung der universitären Grundfinanzierung, wäre verhängnisvoll. Als institutioneller Ort der Kirchengeschichte werden auch in Zukunft die theologischen Fakultäten der Universitäten (solange es sie geben wird) und die Kirchlichen Hochschulen die Hauptrolle spielen. Außeruniversitäre Forschung, wie sie etwa von meinem ehemaligen Mainzer Institut hochkarätig betrieben wird, wird wohl auch auf die Dauer nur eine komplementäre Rolle spielen. Angesichts der Schwierigkeit, über die konkrete künftige Entwicklung von Kirchengeschichte als Wissenschaft zu orakeln, beschränke ich mich abschließend auf einige Worte zu meiner persönlichen Forschungsagenda. Ausgehend von der Beobachtung, dass die vom Christentum stets geforderte Übersetzungsleistung der geschichtlich begründeten Offenbarung in die eigene historische Situation heute weit schwerer fällt als in früheren Epochen und dass zwischen wissenschaftlicher Theologie und Gemeindeglauben seit dem 19. Jahrhundert ein größerer Hiat besteht als wohl jemals zuvor in der Geschichte des Christentums, sehe ich eine vordringliche Aufgabe der Kirchengeschichte allgemein und meiner eigenen Forschung im Besonderen darin, zum Verständnis dieser neueren Entwicklungen beizutragen. Vollzogen haben sie sich im Wesentlichen in den letzten 500 Jahren. In diesem Zeitraum haben sich - jedenfalls in Europa - die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, Mentalitäten und kulturellen Phänomene weit stärker verändert als in den anderthalb Jahrtausenden zuvor, und mit ihnen hat auch das Christentum erhebliche Transformationen erfahren. Wissenschaftliche Theologie darf nicht der Versuchung erliegen, diese Veränderungen zu ignorieren oder zu dämonisieren. Sie muss vielmehr den Versuch machen, sie zu verstehen und daraus Folgerungen für das Selbstverständnis und die Aufgabe des gegenwärtigen Christentums zu ziehen. Dabei kommt der Kirchengeschichte eine maßgebliche Rolle zu. Das ambitionierte Ziel entsprechender Forschungen wäre so etwas wie eine historische Theorie der Moderne im Christentum. Der neuzeitliche Modernisierungsprozess und ebenso der ihm parallel laufende Transformationsprozess des Christentums ist durch zwei Phasen beschleunigten Wandels vorangetrieben worden; man könnte auch von zwei Modernisierungsschwellen sprechen. Die erste dieser Modernisierungsschwellen ist mit dem Beginn
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der Frühen Neuzeit gegeben. Kirchengeschichtlich wird diese Modernisierungsschwelle durch die Reformation bzw. die damit zusammenhängenden Konfessionalisierungsprozesse markiert. Die Tendenz zur Individualisierung, die schon mit der mittelalterlichen Mystik, dann aber vor allem mit Renaissance und Humanismus wirksam wurde, erhielt auf religiösem Gebiet in der Gestalt der reformatorischen Grundlehre von der Rechtfertigung aus Glauben eine unerhört folgenreiche Zuspitzung. Die entscheidende theologische Differenz des Reformationszeitalters war, aus dem Abstand betrachtet, nicht etwa die Frage von Glaube und Werken, sondern die Frage von individuellem Glauben und kirchlicher Institution. Es ist das neue, reformatorische Verständnis der Kirche, das bis heute das entscheidende Problem im ökumenischen Dialog darstellt. Mit der Reformation ist so eine in der christlichen Offenbarung strukturell angelegte und geschichtlich verschiedentlich vorgeprägte, in der Art ihrer Explikation aber neue, dem Zug der beginnenden Neuzeit adäquate Option der Gestaltung von Christlichkeit aufgekommen. Auch wenn katholische Kollegen zu Recht auf den Zusammenhang der Reformation des 16. Jahrhunderts mit den seit dem Hochmittelalter unternommenen Kirchenreformbestrebungen hinweisen und wir seit langem die sachlichen Kontinuitäten zwischen der Reformation und dem Spätmittelalter erkannt haben, erscheint es daher sinnvoll, am Zäsurcharakter der Reformation festzuhalten. Die zweite Modernisierungsschwelle lag im Zeitalter der Aufklärung. Im Zuge des allgemeinen Strebens nach Emanzipation des Subjekts von politischen, sozialen und geistigen Bindungen trat auf religiösem Gebiet - jedenfalls im Protestantismus das subjektive Wahrheitsbewusstsein an die Stelle vorgegebener doktrinärer Kirchenlehre. Dieser weiterführende Schritt ist mit unterschiedlichen Motiven und Intentionen vom Pietismus und von der theologischen Aufklärung gleichermaßen forciert worden und hat in den folgenden zwei Jahrhunderten eine ungemein dynamische theologiegeschichtliche Entwicklung zur Folge gehabt. Auch hierbei handelt es sich, wie man feststellen kann, um eine in der Struktur der christlichen Offenbarung selbst angelegte Entfaltungsmöglichkeit, für die sich gleichfalls schon Präzendenzfälle (in erster Linie aus dem Bereich von Mystik und Spiritualismus) beibringen lassen. Eine kirchengeschichtliche Bearbeitung der neuzeitlichen Transformationen des Christentums wird in erster Linie an den beiden genannten Modernisierungsschwellen ansetzen müssen, um die bewegenden Kräfte, die aufbrechenden Probleme und die neuen Lösungsansätze zu verstehen. Dementsprechend gilt mein besonderes Forschungsinteresse dem Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation einerseits und dem Übergang vom Konfessionellen Zeitalter zum Zeitalter von Pietismus und Aufklärung andererseits. Prinzipiell ließen sich die beiden Modernisierungsschwellen mit einer Vielzahl von konkreten thematischen Zugängen erforschen. In meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit habe ich bislang zwei Schwerpunkte gesetzt.
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1. Zum einen ist dies die Geschichte des christlichen Geschichtsverständnisses. Wenn das Christentum auf seine eigene Geschichte reflektiert, wird damit jener oben beschriebene Fundamentalvorgang der Übersetzung geschichtlicher Offenbarung in Geschichte selbst thematisch. Die Art und Weise, in der diese Reflexion geschieht, folgt nun wieder bestimmten Mustern, die ihrerseits an den größeren historischen Transformationen des Christentums teilnehmen. So bewegt sich das christliche Verständnis der Geschichte als Ganzer bis zur zweiten Modernisierungsschwelle im Allgemeinen im Rahmen des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes, während das Verständnis der Kirchengeschichte im Besonderen im Spannungsfeld von Kontinuitäts- und Verfallsidee artikuliert wird. Mit der Überwindung der zweiten Modernisierungsschwelle werden derartige Vorstellungen dann durch unterschiedlich gewendete Fortschrittsideen oder durch einen historischen Relativismus ersetzt. Doch auch schon im Umfeld der ersten Modernisierungsschwelle lassen sich charakteristische Veränderungen in den Geschichtsvorstellungen konstatieren. So bleibt es zwar danach wie zuvor bei der Dialektik von Kontinuitäts- und Verfallsidee, doch werden unter dem Einfluss der Reformation die der jeweiligen Diagnose zugrunde zu legenden Kriterien verschoben und zwar dergestalt, dass nunmehr in erster Linie das neue Zentralthema der Ekklesiologie fokussiert wird. Zur Aufhellung dieser Zusammenhänge widme ich mich der Erforschung von Zeit- und Geschichtsbewusstsein, von Konzeptionen der Universal- und Kirchengeschichte und von Identitätskonstruktionen durch historische Meistererzählungen im Mittelalter, in der Reformationszeit und der Frühen Neuzeit. Die wichtigsten bisherigen Erträge sind meine Habilitationsschrift über die Verfallsidee im Mittelalter15, meine Akademieabhandlung über den „Pessimismus“ des Mittelalters16 und mein Aufsatz über Konzeptionen der Kontinuität der Kirche im Mittelalter17, die Aufsätze über Theologie und Historie18 und über die Begriffe „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit19, über Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein um 170020 und über das Mittelalterbild der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung.21 Daneben stehen Aufsätze über den Antichrist bei Wyclif und
15 „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters (VIEG 213), Mainz 2006. 16 Der „Pessimismus“ des Mittelalters (AAWLM.G 7/2006), Stuttgart 2006. 17 Die Kontinuität der Kirche. Oppositionelle Konzeptionen im Hoch- und Spätmittelalter, in: A. Speer/ D. Wirmer (Hg.), Das Sein der Dauer (MM 34), Berlin/New York 2008, 398-413. 18 Theologie und Historie (wie Anm. 10). 19 Zur Begrifflichkeit von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit, in: Ch. Kampmann/K. Krause/E. Krems/ A. Tischer (Hg.), Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2012, 18-36. 20 Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung um 1700, in: W. Breul/J. C. Schnurr (Hg.), Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung (erscheint 2012). 21 Das Bild des Mittelalters in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung, in: K. Armborst-Weihs/ J. Becker (Hg.), Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung (VIEG.B 79), Göttingen 2010, 109-138.
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Hus22, über Melanchthon und die Heiligen23, die Konzeption der „zwei Kirchen“ bei Nikolaus von Amsdorff24 und das „Book of Martyrs“ von John Foxe.25 Ein besonderes Interesse bringe ich der Inanspruchnahme und Anverwandlung vorreformatorischer Überlieferungen durch die Reformation entgegen; hierher gehören meine Untersuchungen zu Georg Majors Revision der „Vitae Patrum“26, zur hussitischen und reformatorischen Rezeption des lollardischen „Opus arduum“27 und das 2012 zum Abschluss kommende DFG-Projekt zu Luthers Lebensarbeit an der Revision des lateinischen Bibeltextes. 2. Mein zweiter materialer Zugang zur Konturierung der beiden Modernisierungsschwellen liegt in der Untersuchung der Entstehung, der Veränderung und der Überwindung konfessioneller Identitäten in der Frühen Neuzeit. Die Transformation des Christentums an der ersten Modernisierungsschwelle hatte den konfessionellen Pluralismus zur religiösen Signatur Europas werden und neue Formen der Verschränkung von konfessionell codiertem Christentum und frühmoderner Staatlichkeit aufkommen lassen. Demgegenüber bilden vor allem das Aufkommen des Toleranzgedankens sowie kirchlicher Unionsbestrebungen verlässliche Indikatoren für die Transformation des Christentums im Umkreis der zweiten Modernisierungsschwelle und die damit eingetretene Aufweichung der bisherigen dogmatischen Gewissheiten mitsamt den daraus resultierenden so genannten Säkularisierungsphänomenen. Aus diesem zweiten Forschungsschwerpunkt wären mein Aufsatz zur Stellung religiöser Minderheit nach dem Westfälischen Frieden28 sowie meine Lexikonartikel zu katholisch-protestantischen und zu innerprotestantischen Unionsbestrebungen29 hervorzuheben. Eine exemplarische Fallstudie ist meine Dissertation über den als so genannter „Übergangstheologe“ zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und 22 Der Antichrist bei Wyclif und Hus, in: M. Delgado/V. Leppin (Hg.), Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 14), Fribourg/Stuttgart 2011, 173-207. 23 Von toten Heiligen und Zeugen der Wahrheit. Philipp Melanchthon und die Geschichte der Kirche, ThBeitr 41 (2010) 401-411. 24 Kirche Christi und Teufelskirche. Verfall und Kontinuität der Kirche bei Nikolaus von Amsdorf, in: I. Dingel (Hg.), Nikolaus von Amsdorf (1483-1565) zwischen Reformation und Politik (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der lutherischen Orthodoxie 9), Leipzig 2008, 57-90. 25 Protestantisches Märtyrergedenken im frühneuzeitlichen England. John Foxe und das „Book of Martyrs“, Ebernburg-Hefte 43 (2009) 35-59 = BPfKG 76 (2009) 367-391. 26 Evangelische Wüstenheilige? Georg Major (1502-1574) und die „Vitae Patrum“, Ebernburg-Hefte 40 (2006) 27-52 = BPfKG 73 (2006) 289-314. 27 „Opus Arduum“. Apokalyptik und Ekklesiologie im europäischen Kulturtransfer zwischen Spätmittelalter und Reformation, in: F. Schweitzer (Hg.), Kommunikation über Grenzen (VWGTh 33), Gütersloh 2009, 494-513. 28 Die Konsequenzen des Westfälischen Friedens für den Umgang mit religiösen Minderheiten in Deutschland, in: G. Frank/A. de Lange (Hg.), Asyl, Toleranz und Religionsfreiheit. Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen (BenshH 95), Göttingen 2000, 121-139. 29 Art. Unionen, kirchliche III. Unionen der protestantischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche (vor allem im 17. und 18. Jahrhundert), TRE 34 (2002) 319-323; Art. Unionen, kirchliche 1. Begriff, Enzyklopädie der Neuzeit 13 (2011) 983; Art. Unionen, kirchliche 3. Innerprotestantische Unionen, Enzyklopädie der Neuzeit 13 (2011) 990-995.
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Frühaufklärung stehenden Pionier einer innerprotestantischen Union, Christoph Matthäus Pfaff (1686-1760)30; dazu kommen mehrere Aufsätze über innerprotestantische und protestantisch-katholische Einigungsbestrebungen.31 Schließlich habe ich mich auch mit Phänomenen der Konfessionsmigration in der Frühen Neuzeit und der damit einhergehenden Veränderung konfessioneller Identitäten befasst.32 Beide bisherigen Forschungsschwerpunkte möchte ich künftig mit weiteren exemplarischen Studien ausbauen, um so das Profil des neuzeitlichen Christentums noch genauer zu erfassen. Noch immer empfinde ich die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte als faszinierendes Abenteuer. Dass ich mich diesem Abenteuer in meiner Berufsarbeit widmen darf, empfinde ich als ein Privileg, das mich mit Dankbarkeit erfüllt.
30 Christoph Matthäus Pfaff und die Kirchenunionsbestrebungen des Corpus Evangelicorum 1717-1726 (VIEG 172), Mainz 1998. 31 Ernst Salomon Cyprian, Christoph Matthäus Pfaff und die Regensburger Kirchenunionsbestrebungen, in: E. Koch/J. Wallmann (Hg.), Ernst Salomon Cyprian (1673-1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung (Veröffentlichungen der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha 34), Gotha 1996, 187-201. - Auf dem Weg zur himmlischen Akademie. Christoph Matthäus Pfaff als Pionier der innerprotestantischen Union, BWKG 99 (1999) 81-89. - Erzbischof William Wake von Canterbury (1657-1737) und die Einigung der europäischen Christenheit, in: H. Duchhardt/G. May (Hg.), Union Konversion - Toleranz. Dimensionen der Annäherung zwischen den christlichen Konfessionen im 17. und 18. Jahrhundert (VIEG.B 50), Mainz 2000, 301-314. - Protestantisch-katholische Einheitsbestrebungen im Zeitalter der Aufklärung: Der Piderit-Böhm-Plan (1776-1782) und die „apostolische“ Unionskirche des Johann Baptist von Salis-Soglio und des Gottfried Lebrecht Masius (1785/86), in: H. Klueting (Hg.), Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18. Jahrhundert (Hildesheimer Forschungen 2), Hildesheim 2003, 223-258. 32 Von der Toleranz zur Assimilation. Das Refuge der Waldenser in Südwestdeutschland, Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 102 (2008) 13-33. - Johannes Calvin und die reformierten Flüchtlingsgemeinden in Frankfurt am Main, JHKGV 61 (2010) 15-33. - Theologen im Exil. Konfessionelle Zwangsmigration und die calvinistische Universitätstheologie in Europa, in: I. Dingel/ H. Selderhuis (Hg.), Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven (VIEG.B 84), Göttingen 2011, 243-261.
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Gury Schneider-Ludorff
Kirchengeschichte als Wissenschaft 1. Prägungen Geboren bin ich 1965 in Frankfurt am Main als älteste von drei Töchtern. Mein Vater war Pfarrer, meine Mutter Lehrerin. Ich bin im Ausland aufgewachsen. Die Zeit meiner Kindheit und Jugend habe ich auf den Kanarischen Inseln verbracht, wo mein Vater für die dortige deutsche evangelische Gemeinde und die Urlauberseelsorge zuständig war. Wir lebten in Las Palmas auf Gran Canaria, dort bin ich zur Schule gegangen. Der Unterricht fand in spanischer und deutscher Sprache statt, die Mitschülerinnen und Mitschüler waren Spanier und Deutsche, sodass mir seit dieser Zeit Mehrsprachigkeit und verschiedene Kulturen selbstverständlich sind. In Spanien habe ich also meine ersten wichtigen Prägungen erhalten, die noch heute mein Selbstverständnis als Wissenschaftlerin und Kirchenhistorikerin ausmachen. Dazu zählt neben der Mehrsprachigkeit das Sichzurechtfinden in anderen, zunächst fremden Kontexten sowie die Neugier auf das Gewordensein von Überzeugungen, Mentalitäten, Religionen und Kulturen. Ich habe auf den Kanarischen Inseln früh den ökumenischen Austausch und die ökumenischen Begegnungen kennen und schätzen gelernt. Es war die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, jene Zeit des Aufbruchs im Katholizismus, was sich für mich darin zeigte, dass sich die katholischen Kollegen meines Vaters selbstverständlich und mit großem Interesse für den theologischen Austausch und ein konstruktives Miteinander am „Templo Ecuménico“ im Süden der Insel interessierten. Eine dritte Prägung aus dieser Zeit war das Erlebnis unterschiedlicher politischer Systeme, die ich als Heranwachsende mitbekam: in den ersten Jahren in Spanien noch die Zeit der Diktatur Francos, dann nach dessen Tod 1975 den Übergang in eine parlamentarische Monarchie. Aus dieser Zeit des Heranwachsens im Ausland resultiert auch die Außenperspektive auf das eigene Land; eine Perspektive, die sich in meiner Biographie mehrfach wiederholt hat und die ich auch für wissenschaftliche Zugänge als wesentlich erachte. Als ich 1980 mit meiner Familie nach Deutschland zurückkehrte, war ich 15 Jahre alt und die Politisierung der Gesellschaft durch die Friedensbewegung in vollem Gange. Diese neue soziale Bewegung mit ihren friedlichen Demonstrationen gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern war stark von den Kirchen getragen. Die Angst vor einem Atomkrieg war überall spürbar, und für
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mich wurde in diesem Zusammenhang die politische Dimension von Kirche und Christentum zentral. In dieser Zeit ist für mein Selbstverständnis als Theologin die Bedeutung einer Öffentlichen Theologie gereift. Ich verstehe seitdem das öffentliche Engagement des Glaubens als konstitutiv für das christliche Selbstverständnis. Weltgestaltung und Weltverantwortung als Christinnen und Christen wahrzunehmen, das war in jener Zeit des Erwachsenwerdens prägend und ist für mich bis heute wichtig; selbstverständlich immer auch mit einem kritischen Blick. Diesen kritischen Blick einzuüben, gerade im Umgang mit der deutschen Vergangenheit im Nationalsozialismus, habe ich Dr. Reinhard Schlieben zu verdanken, dem Religionslehrer, der uns in der Oberstufe mit der Rolle der Kirchen im NS-Staat konfrontierte und die antijüdischen Stereotype in der Theologie und das mangelnde Eingreifen von Christinnen und Christen gegen die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden thematisierte. Diese Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte führte dazu, dass ich mich entschloss, im Anschluss an das Abitur im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres in Israel in einem Kibbuz zu arbeiten. Auch hier findet sich der Impuls wieder, andere Kontexte aufzusuchen, andere Sprachen einzuüben und damit den Blick auf die eigene Herkunftsgesellschaft - wie eine Ethnologin - zu kultivieren. Das im Religionsunterricht Gelernte und in Israel Erlebte führte zu dem Entschluss, evangelische Theologie zu studieren. Studiert habe ich in Frankfurt am Main, dann ein Jahr in Rom an der WaldenserFakultät, zugleich an der Päpstlichen Universität Gregoriana und die längste Zeit an der Universität Heidelberg. Zu den prägenden akademischen Lehrenden in Frankfurt am Main zählte neben den Professoren Dieter Georgi (Neues Testament), Willi Schottroff (Altes Testament) und Yorick Spiegel (Systematische Theologie) vor allem meine spätere Doktormutter, die Kirchenhistorikerin Leonore Siegele-Wenschkewitz, zu deren Forschungsschwerpunkten die Rolle der Theologen und Theologischen Fakultäten im Nationalsozialismus wie auch der Antijudaismus und Antisemitismus in der Theologie zählten. Prägend in der Zeit des Studiums wurde weiterhin die Diskussion um die neuen theologischen Ansätze einer Feministischen Theologie, die Mitte der 80er Jahre auch in Deutschland rezipiert wurde und aus der ich Impulse für mein Studium gewann, indem ich lernte, immer auch nach den Perspektiven von Frauen und ihren Handlungsoptionen in der Kirchengeschichte zu fragen. Rom als zweite Station meines Studiums wurde prägend für mein Verständnis von Ökumene. Hier habe ich gelernt, wie wichtig es ist, dass sich auch der Protestantismus seiner Geschichte, seines Selbstverständnisses und seines Profils bewusst wird. Denn nur wer seine Position im Gespräch und auch in der Abgrenzung mit anderen Positionen und Lehrmeinungen konturiert, wird klar erkennbar. In die Zeit des Romaufenthaltes fallen auch die Umbrüche in Ost- und Mitteleuropa sowie vor allem die Realisierung der Deutschen Einheit. Den Fall der Mauer aus der Ferne und mit anderen ausländischen Studierenden zu erleben, schärfte den
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Blick auf die hohe Sensibilität, mit der beispielsweise niederländische und schweizer Kommilitonen den Prozess der deutschen Einigung verfolgten. Rom als Stadt hat mich nicht mehr losgelassen. Heute gestalte ich als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des „Centro Melantone“ in Rom eine Institution mit, die gemeinsam mit der Waldenser-Fakultät, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien ein Zentrum für Fortbildungsangebote aus protestantischer Perspektive unterhält. Zudem leite ich regelmäßig den ökumenischen Sommerkurs für Studierende und setze mich für die Anerkennung des ökumenischen Studienjahres in Rom als Teil des modularisierten Theologiestudiums ein. Das Jahr in Rom mit den vielen Erfahrungen in einer Minderheitenkirche, aber auch das Anschaulichwerden der Geschichte des Christentums in Rom wurden für mein Studium weiter prägend. In Heidelberg kamen neue Impulse und die Vielfalt einer großen traditionsbewussten Universität hinzu: Vorlesungen bei dem systematischen Theologen Dietrich Ritschl, dessen Story-Konzept mich nachhaltig beeinflusste ebenso wie das Konzept der Öffentlichen Theologie, wie es von Wolfgang Huber herausgearbeitet wurde. Weiterhin intensive Auseinandersetzungen mit den philosophischen Positionen von Kant und Hegel, Vorlesungen und Seminare bei Micha Brumlik am Pädagogischen Fachbereich und Veranstaltungen am Diakoniewissenschaftlichen Institut. In meiner Dissertation beschäftigte ich mich mit der Theologie der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts.1 Diese für die theologische Wissenschaft entscheidenden Jahre erachte ich noch immer als erhellend, um die Weichenstellungen der evangelischen Theologie in Wissenschaft und Gesellschaft und ihre Rolle im Nationalsozialismus nachzuvollziehen. Im Fokus meiner Dissertation stand das konservative Luthertum. Magdalene von Tiling war eine der zentralen Protagonistinnen dieser damals überaus einflussreichen kirchenpolitischen Richtung. Die Arbeit wurde von Leonore Siegele-Wenschkewitz betreut und untersuchte den Zusammenhang von Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen. Damit leistete sie einen Beitrag zum Gesellschaftsverständnis des Protestantismus in der Weimarer Republik. Nach dem Vikariat in Hessen und Nassau, einem Spezialpraktikum in der Personalabteilung der Lufthansa am Frankfurter Flughafen und einem Jahr als Pfarrvikarin in einer Frankfurter Gemeinde erhielt ich die Gelegenheit, meine wissenschaftliche Arbeit als Assistentin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte von Volker Leppin an der Universität Jena fortzusetzen. Dabei konnte ich eine weitere Epoche der Kirchengeschichte in den Blick nehmen: die Reformationszeit. Wie schon in meiner Dissertation war das Anliegen meines Jenaer Habilitationsprojektes, nach jenen nichttheologischen Akteuren zu fragen, die für die Gestaltung des Protestantismus de facto eine mindestens so bedeutende Rolle spielten wie die Theologen. Dies ließ sich am Beispiel des Landgrafen Philipp von Hessen (1504-1567) sehr gut zeigen. Hier 1 Vgl. G. Schneider-Ludorff, Magdalene von Tiling. Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen. Ein Beitrag zum Gesellschaftsverständnis des Protestantismus in der Weimarer Republik (AKZG B 35), Göttingen 2001.
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untersuchte ich die theologischen Aspekte in seinem politischen Handeln als „fürstlicher Reformator“2. Nach Abschluss der Habilitation erhielt ich 2005 zunächst einen Ruf auf eine Professur an der Universität Oldenburg, nahm jedoch kurz darauf den Ruf auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau an.
2. Aufgaben Seit August 2005 bin ich Lehrstuhlinhaberin für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Es ist bezeichnend, mit welch einer Dynamik sich gerade die Augustana-Hochschule in den letzten Jahren entwickelt hat. Das hängt natürlich auch mit motivierten und interessierten Studierenden zusammen, aber ebenso mit einer großzügigen Ausstattung durch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern. So wurden in den vergangenen Jahren mehrere gut ausgestattete Institute eingerichtet und die Forschung weiter ausgebaut, was sich inzwischen auch positiv auf die Lehre auswirkt. Die Theologiestudentinnen und -studenten mit dem Studienziel „Pfarramt“ kommen aus ganz Deutschland. Daneben ist der hohe Anteil der ausländischen Studierenden bemerkenswert, was auch die Internationalität der Hochschule und den Austausch mit den Universitäten im Ausland befördert. Die Studierenden bringen ihre jeweilige konfessionelle und frömmigkeitspraktische Sozialisation in das Hochschulleben ein. Dies führt zu einem intensiven Austausch über das Selbstverständnis des Protestantismus, die unterschiedlichen theologischen Positionen und die Pluralität seiner Ausprägungen. Aus meiner Sicht ergeben sich für die Kirchengeschichte als Wissenschaft im Bereich der Lehre für die Zukunft folgende Aufgaben, die wir in Neuendettelsau im Wesentlichen schon wahrnehmen: Es gilt, die vielfältigen Ausdrucksformen des christlichen Denkens, Glaubens und Lebens durch zwei Jahrtausende hindurch bis heute bewusst zu machen. Dem prägenden Einfluss von Theologie und Frömmigkeit auf Bereiche der Kultur, des Sozialen und Politischen gilt es ebenso nachzugehen, wie den Handlungsspielräumen von Frauen und Männern in Kirche und Gesellschaft mehr Beachtung zu schenken ist. Anliegen einer so verstandenen Kirchengeschichte ist damit auch, die historischen Wurzeln heutiger gesellschaftlicher Diskurse zu erschließen, für den Entstehungskontext christlicher und konfessioneller Prägungen - auch der eigenen - zu sensibilisieren, sowie anzuregen, mit dem Blick in die Geschichte Traditionen zu erkennen und diese im Horizont heutiger Fragestellungen weiterzudenken. Das kirchengeschichtliche Lehrkonzept sieht daher Vorlesungen in den vier Epochen Antikes Christentum, Mittelalter, Reformationszeit und Neue/Neueste Vgl. G. Schneider-Ludorff, Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim (AKThG 20), Leipzig 2006.
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Zeit vor, in denen ein Überblick über die Kirchen-, Dogmen- und Theologiegeschichte geboten und kirchenhistorisches Grundwissen vermittelt wird. Begleitend zur Vorlesung wird eine Übung angeboten, in der die jeweiligen Themenschwerpunkte der Vorlesung exemplarisch durch Quellenlektüre veranschaulicht und vertieft werden. Im kirchengeschichtlichen Proseminar geht es um die Einführung in Fragestellungen und Methoden der Kirchengeschichte. Schwerpunkt ist die methodische Einübung in die Interpretation kirchengeschichtlicher Quellentexte, die zu eigenständigen Entdeckungen und Beobachtungen ermuntern soll. Das Hauptseminar hat das Ziel, die Studierenden im Gespräch mit der Forschung zur selbständigen wissenschaftlichen Arbeit an Quellen und Themen der Kirchengeschichte anzuleiten. Das regelmäßig stattfindende Oberseminar bietet ein Forum zur gemeinsamen Diskussion von methodischen Ansätzen und neueren Forschungsergebnissen in der Kirchengeschichte. Für die Examenskandidatinnen und -kandidaten bietet ein Repetitorium Erweiterung und Vertiefung des kirchengeschichtlichen Wissens in gezielter Vorbereitung auf das Examen, von Überblicken bis hin zum Verfassen einer Probeklausur unter Examensbedingungen. Im Doktorandenkolloquium besteht die Möglichkeit zur Vorstellung und Diskussion laufender Forschungsprojekte und vor allem kirchengeschichtlicher Dissertationen. Ein wichtiges Lehrangebot zur Ergänzung und Erweiterung des kirchengeschichtlichen Angebots besteht in Lehrveranstaltungen zur Bayerischen Kirchengeschichte und zur Konfessionskunde. Und nicht zuletzt: Das Schöne an der Erforschung der Kirchengeschichte besteht in den vielfältigen Möglichkeiten, das Lehrangebot durch Exkursionen zu erweitern und zu veranschaulichen. So werden Exkursionen zu den Schwerpunkten der Vorlesungen und Seminare angeboten. Das wissenschaftliche Studium der Kirchengeschichte befördert damit drei Kompetenzen: 1. Mit dem kritisch reflektierten historischen Wissen um die Genese und Geltung theologischer und frömmigkeitsgeschichtlicher Ansätze und ihrer gesellschaftlichen Ausprägungen werden die Studierenden in die Lage versetzt, die Aktualität religiöser Aspekte in Kirche, Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur zu erkennen und über deren Bedeutung auskunftsfähig zu werden. Sie werden hier also zu „Fremdenführern“ in religiösen Dingen ausgebildet. 2. Weiterhin werden die Studierenden befähigt, aus dem Reichtum der christlichjüdischen Tradition zu schöpfen und diese neu auszulegen, im Blick auf die Geschichte Traditionen zu erkennen und diese im Rahmen der heutigen Fragestellungen kritisch weiterzudenken. Denn noch heute laborieren wir an theologischen Fragestellungen, die sich Christinnen und Christen in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gestellt haben: Es gilt daher, die unterschiedlichen Traditionen zu kennen, das theologische Problem und die Lösungen, die Menschen in anderen
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Epochen dafür gefunden haben, um heutige Fragestellungen und Probleme besser einschätzen, verstehen und deuten zu können. Damit werden sie zu „Vermögensberatern“ eines über Jahrhunderte angesammelten Guts: den vielfältigen Diskurs über religiöse Lebens- und Sinndeutung. 3. Schließlich gibt es noch eine dritte Kompetenz, die das Studium der Kirchengeschichte bietet: Als nächste Generation werden die heutigen Studierenden irgendwann mitbestimmen, welchen Weg der Protestantismus in Europa gehen wird. Um Gesellschaft zu bewegen und zu gestalten, müssen Studierende wissen, welche Traditionen es gab, welche Leitungsformen, Strukturen, welche Alternativmodelle, welche Diskurse um Macht und Partizipation. Sie sind es, die das Schiff steuern werden. Als „Steuermänner“ und „Steuerfrauen“ können sie nur mit einem fundierten und kritisch reflektierten theologischen und historischen Wissen handeln.
3. Perspektiven Da die Lehre im Fach Kirchengeschichte immer von der Forschung bestimmt und auf sie angewiesen ist, möchte ich die Zukunftsperspektiven der Kirchengeschichte als Wissenschaft von meinen derzeitigen Forschungsprojekten aus beschreiben und vier Aspekte nennen, die ich als Zukunftsperspektiven der Kirchengeschichte als Wissenschaft sehe. 1. Internationalisierung: Viel mehr als früher geht es darum, die internationale Perspektive der Theologie und besonders auch die internationale und interdisziplinäre Ausrichtung der Kirchengeschichte voranzutreiben. Diesem Ziel widmet sich die an meinem Lehrstuhl in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Praktische Theologie der Augustana-Hochschule eingerichtete Forschungsstelle „Sozialer Protestantismus in internationaler Perspektive“ wie auch das interdisziplinär und international ausgerichtete Publikationsprojekt „Luther-Lexikon“, das von Volker Leppin (Tübingen) und mir herausgegeben wird.3 2. Öffentliche Theologie und Gesellschaftsgestaltung: Des Weiteren geht es darum, die gesellschaftsgestaltende Kraft des Christentums sichtbar zu machen. Diesem Aspekt widmen sich seit 2011 das Forschungsprojekt an meinem Lehrstuhl zur „Geschichte der Theologinnen in Bayern“ sowie das Forschungsprojekt zum „Stiftungswesen seit der Reformation“. Im Gegensatz zur verbreiteten Meinung, dass mit der reformatorischen Kritik am Stiftungswesen und an der mittelalterlichen liturgischen Memoria in der Folge das Stiftungswesen im Protestantismus nachgelassen habe, zeigen die neuen Untersuchungen, dass dies nicht der Fall war. Vielmehr ist von einer vielseitigen Stiftungstätigkeit im evangelischen Bereich auszugehen, die auf verschiedenen Ebenen einsetzte. Es fehlen jedoch noch weitere detaillierte Einzelstudien und Untersuchungen zum Stiftungsverhalten, zur Stifterwirklichkeit für die Zeit nach der Reformation. Es 3
Regensburg 2012.
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muss also zunächst einmal darum gehen, eine Phänomenologie der Stiftungen und ihrer unterschiedlichen Ausrichtungen weiter zu erheben: Wer hat wann und wofür gestiftet? Gibt es Bereiche, denen die Stiftungen in besonderem Maße zukamen? Welche gesellschaftlichen Gruppen haben verstärkt gestiftet? Lässt sich ein Unterschied erkennen zwischen Städten und Territorien? Frauen und Männern? Welche Stiftungen sind bis heute erhalten? Auch ist noch immer wenig bekannt über die theologischen Begründungen und Motive der Stifter und Stifterinnen nach der Reformation, die über die in den Testamenten formalisierten Ausdrucksformen hinausgehen. Warum wurde gestiftet? Was waren Beweggründe und Motive? Und welche religiösen Vorstellungen lagen dem Stiften zugrunde? Hier soll aufgrund weiterer Quellen aufmerksam über die Transformationen oder/und Kontinuitäten zum Mittelalter geforscht werden. Schließlich ist zu erkunden, inwieweit das Stiftungsverhalten die Gesellschaft prägte. 3. Auseinandersetzung mit christlichen Traditionen des Antisemitismus und Antijudaismus: Weiterhin scheint mir ein wichtiger Aspekt der Kirchengeschichte als Wissenschaft zu sein, die kritische Auseinandersetzung über die Rolle der Theologie im Blick auf Antijudaismus und Antisemitismus und das Versagen der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus weiterzuführen. Dazu trägt neben den Lehrveranstaltungen zu dieser Thematik auch das seit 2011 an meinem Lehrstuhl angesiedelte Forschungsprojekt zur „Geschichte der Synagogen in Bayern“ bei, das in Kooperation mit den Kollegen Wolfgang Kraus (Saarbrücken), Meir Schwarz (Jerusalem) und Hans-Christoph Dittscheid (Regensburg) getragen und vom Freistaat Bayern und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern finanziert wird. 4. Den Nächsten kennen wie sich selbst: Konfessionskunde und Ökumene: Das moderne Europa ist ohne eine präzise Kenntnis seiner konfessionellen Hintergründe nicht zu verstehen. Seitdem der Protestantismus in Europa durch die politischen Veränderungen sichtbar zu einer Minderheitsreligion geworden ist, geraten die anderen konfessionellen Weltdeutungen in ihrer Genese und Geltung immer stärker in den Blick. Auch in den gegenwärtigen theologischen Debatten in Kirche und Theologie spielt die Frage nach den konfessionellen Profilen eine immer größere Rolle. Für eine selbstbewusste protestantische Identität, die sich nicht in abgeschotteten konfessionellen Milieus einzirkeln möchte, wird es zunehmend wichtiger, die anderen Konfessionen in ihrer Tradition und Theologie, in ihrer Geschichte und Gegenwart zu kennen. Diese Offenheit für konfessionskundliche Fragen über die eigene Konfessionsstruktur hinaus gilt es, künftig wieder verstärkt in die theologische Urteilsbildung einzuholen. Für die theologische Kompetenz und Identität der Studierenden ist es daher zunehmend von Bedeutung, konfessionskundliche Grundlagen zu erwerben und entsprechende Kenntnisse für das eigene Urteilsvermögen auszubilden. Als Teil der Kirchengeschichte vermag die Konfessionskunde die Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Kirchen und Konfessionen sowie ihr Selbstverständnis in ihrem historischen, politischen, sozialen und frömmigkeitsgeschichtlichen
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Kontext darzustellen. Sie trägt damit zu einem umfassenden Verständnis bei und bietet wesentliche Grundlagen für die aktuellen gesellschaftlichen Diskurse und den ökumenischen Dialog.
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Autoren Professor Dr. Rainer Berndt SJ Geboren: 1951 in Düsseldorf, römisch-katholisch Promotion: Paris 1989; Thema der Arbeit: „André de Saint-Victor († 1175). Exégète et théologien“ Habilitation: Frankfurt a. M. 1992; Thema der Arbeit : „Die Kommentare Andreas’ von Sankt-Viktor zu den Büchern Salomos. Kritische Ausgabe“ Professor: seit 1992 in Frankfurt a. M.; Gastprofessor: seit 1992 in Paris Veröffentlichungen: - Andreae de Sancto Victore opera. Expositionem super Heptateuchum, Turnhout 1986 (Hg., zus. m. Ch. Lohr) - André de Saint-Victor († 1175), exégète et théologien, Paris 1991 - Petrus Canisius SJ (1521-1597). Humanist und Europäer, Berlin 2000 (Hg.) - „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen (10981179), Berlin 2001 (Hg.) - Katharina Kasper, Schriften, 2 Bde., Kevelaer 2001-2004 (Hg.) - „Scientia“ und „Disciplina“. Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im 12. und 13. Jahrhundert, Berlin 2002 (Hg., zus. m. M. Lutz-Bachmann, R. M. W. Stammberger, A. Fidora, A. Niederberger) - Vernünftig, Berlin 2003 (Hg.) - Schrift, Schreiber, Schenker. Studien zur Abtei Sankt Viktor in Paris und den Viktorinern, Berlin 2005 (Hg.) - Hugonis de Sancto Victore De sacramentis Christiane fidei, Münster 2008 (Hg.) - Bibel und Exegese in der Abtei Saint-Victor zu Paris. Form und Funktion eines Grundtextes im europäischen Rahmen, Münster 2009 - Hugo von Sankt-Viktor, Über die Heiltümer des christlichen Glaubens, Münster 2010 (zus. m. P. Knauer) - Necrologium abbatiae Sancti Victoris Parisiensis, Münster 2012 (Hg., zus. m. U. Vones-Liebenstein u. M. Seifert) Forschungsschwerpunkte: - Kirchengeschichte des Mittelalters (Abtei Saint-Victor - Ordensgeschichte - Häretikerbewegungen - Papsttum - Konzilien) - Theologiegeschichte des Mittelalters (Rezeption der Kirchenväter - Begegnung mit den Juden - Bibel und Exegese - Viktoriner - Hildegard von Bingen) - Philosophiegeschichte (Aristotelesrezeption - Artes liberales) Anschrift: Offenbacher Landstraße 224, 60599 Frankfurt a. M. E-Mail: [email protected]
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Professor Dr. Dr. Thomas Böhm Geboren: 1964 in Eichstätt, römisch-katholisch Promotion (Dr. theol.): München 1990; Thema der Arbeit: „Die Christologie des Arius. Dogmengeschichtliche Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung der Hellenisierungsfrage“ Promotion (Dr. phil.): München 1995; Thema der Arbeit: „Theoria - Unendlichkeit Aufstieg. Philosophische Implikationen zu ‚De vita Moysis’ von Gregor von Nyssa“ Habilitation: München 2003/04; Thema der Arbeit: „Basilius von Caesarea, Adversus Eunomium I-III. Edition, Übersetzung, Textgeschichte, Christologie“ Professor: seit 2004 in Freiburg i. Br. Veröffentlichungen: - Die Christologie des Arius. Dogmengeschichtliche Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung der Hellenisierungsfrage, St. Ottilien 1991 - Theoria - Unendlichkeit - Aufstieg. Philosophische Implikationen zu „De vita Moysis“ von Gregor von Nyssa, Leiden 1996 - Dirk van Damme, Altarmenische Kurzgrammatik. Neu bearb. v. Th. Böhm, Fribourg/Göttingen 2004 - Glaube und Kultur. Begegnung zweier Welten?, Freiburg i. Br. 2009 (Hg., zus. m. B. Barth) - Historische Theologie, 1., neue Ausg., Stuttgart 2011 (zus. m. D. Burkhard u. F. Dünzl) Forschungsschwerpunkte: - Alte Kirchengeschichte - Frühes orientalisches Christentum Anschrift: Merianstraße 34, 79104 Freiburg i. Br. E-Mail: [email protected]
Lektor Dr. Daniel Buda Geboren: 1977 in Târgu Lăpuş (Rumänien), rumänisch-orthodox Promotion: Sibiu 2004; Thema der Arbeit: „Antiochenische Christologie von Eustathius von Antiochien bis Nestorius“ Lektor: seit 2007 in Sibiu (Orthodox-Theologische Fakultät „Hl. Andrei Şaguna“) Veröffentlichungen: - Geschichte der Antiochenischen Christologie von Eustathius von Antiochien bis Nestorius, Sibiu 2004 (Rumänisch) - Vornizänisches Antiochia. Eine Geschichte der Entwicklung des Christentums in Antiochien in den ersten drei Jahrhunderten, Sibiu 2006 (Rumänisch) - Neue Brücken oder neue Hürden? Eine Bilanz der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung, Wien/Zürich/Berlin/Münster 2008 (Hg., zus. m. J. Henkel) Forschungsschwerpunkte: - Geschichte und Theologie Antiochiens bis zur arabischen Eroberung
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- Geschichtstheorie - Die aktuelle Situation des Christentums Anschrift: Avenue du Jura 7, F-01210 Ferney E-Mail: [email protected]
Professor Dr. Dr. Mariano Delgado Geboren: 1955 in Berrueces (Valladolid/Spanien), römisch-katholisch Promotion (Dr. theol.): Innsbruck 1985; Thema der Arbeit: „Eschatologische Glaubenshermeneutik. Die Theologiemodelle von Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann, Edward Schillebeeckx und Johann Baptist Metz als Antwort auf die Identitäts- und Relevanzkrise des Christlichen in der Moderne“ Promotion (Dr. phil.): Berlin 1994; Thema der Arbeit: „Die Metamorphosen des Messianismus in den iberischen Kulturen“ Habilitation: Innsbruck 1995; Thema der Arbeit: „Abschied vom erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika“ Professor: seit 1997 in Fribourg (Suisse) Veröffentlichungen: - Gott in Lateinamerika. Ein Lesebuch zur Geschichte, Düsseldorf 1991 - Die Metamorphosen des Messianismus, Immensee 1994 - Theologie als Erfahrung der Gnade. Annäherungen an Karl Rahner, Berlin 1994 - Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, 4 Bde., Paderborn 1994-1997 (Hg.) - Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995 (Hg.) - Markierungen. Theologie in den Zeichen der Zeit, Berlin 1995 (zus. m. A. LobHüdepohl) - Abschied vom erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika, Immensee 1996 - Das Christentum der Theologen im 20. Jahrhundert. Vom „Wesen des Christentums“ zu den „Kurzformeln des Glaubens“, Stuttgart 2000 (Hg.) - Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit. Das Christentum des Bartolomé de Las Casas, Freiburg/Schweiz 2001 - Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches, Freiburg (Schweiz)/Stuttgart 2003 (Hg., zus. m. K. Koch u. E. Marsch) - Glaube und Vernunft - Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart, Fribourg 2003 (Hg. zus. m. G. Vergauwen) - Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, 3 Bde., Fribourg/ Stuttgart 2004-2005 (Hg., zus. m. G. Fuchs) - Le dialogue interreligieux. Situation et perspectives, Fribourg 2007 (Hg.) - Die Konzilien auf den Philippinen, Paderborn/München 2008 (zus. m. L. Gutiérrez) - Politik aus christlicher Verantwortung. Ein Ländervergleich Österreich - Schweiz, Innsbruck 2008 (Hg. zus. m. D. Neuhold)
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- Religion und Öffentlichkeit. Probleme und Perspektiven, Stuttgart 2009 (Hg.) - Außereuropäische Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 14501990, Neukirchen-Vluyn 32010 (Hg. zus. m. K. Koschorke u. F. Ludwig) - Interkulturalität. Begegnung und Wandel in den Religionen, Stuttgart 2010 (Hg.) - Das Prinzip Evolution. Darwin und die Folgen für Religionstheorie und Philosophie, Stuttgart 2010 (Hg.) - Karl Borromäus und die katholische Reform, Fribourg/Stuttgart 2010 (Hg., zus. m. M. Ries) - Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge, Fribourg/Stuttgart 2011 (Hg., zus. m. V. Leppin) - Mission und Prophetie in Zeiten der Interkulturalität. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Internationalen Instituts für Missionswissenschaftliche Forschungen 1911-2011, St. Ottilien 2011 (Hg., zus. m. M. Sievernich) - Ringen um die Wahrheit. Gewissenskonflikte in der Christentumsgeschichte, Fribourg/Stuttgart 2011 (Hg. zus. m. V. Leppin u. D. Neuhold) - Stein des Anstosses. Bartolomé de Las Casas als Anwalt der Indios, St. Ottilien 2011 - Schwierige Toleranz. Der Umgang mit Andersdenkenden und Andersgläubigen in der Christentumsgeschichte, Fribourg/Stuttgart 2012 (Hg., zus. m. V. Leppin u. D. Neuhold) Forschungsschwerpunkte: - Kirchengeschichte als Missionsgeschichte - Christliche Religions- und Kulturgeschichte - Bartolomé de Las Casas - Johannes vom Kreuz - Politische Theologien im 16. und 20. Jahrhundert - Interreligiöser Dialog Anschrift: Avenue de l’Europe 20, CH-1700 Fribourg E-Mail: [email protected]
Professor Dr. Klaus Fitschen Geboren: 1961 in Scheeßel, evangelisch Promotion: Kiel 1992; Thema der Arbeit: „Serapion von Thmuis. Echte und unechte Schriften sowie Zeugnisse des Athanasius und anderer“ Habilitation: Kiel 1996; Thema der Arbeit: „Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte“ Professor: seit 2002 in Leipzig Veröffentlichungen: - Serapion von Thmuis. Echte und unechte Schriften sowie die Zeugnisse des Athanasius und anderer, Berlin 1992 - Politische Bußtagsworte, Kiel 1995 (Hg., zus. m. R. Staats) - Der Katholizismus von 1648 bis 1870, Leipzig 1997 (22001)
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- Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte, Göttingen 1998 - Pseudo-Makarios, Reden und Briefe, Stuttgart 2000 (Hg.) - Was ist Freiheit? Liberale und demokratische Potentiale im Katholizismus 17891848, Leipzig 2001 - Wunderverständnis im Wandel. Historisch-theologische Beiträge, Annweiler 2006 (Hg., zus. m. H. Maier) - Protestantische Minderheitenkirchen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 2008 - Kirchengeschichte, Gütersloh 2009 - Die Politisierung des Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2011 (Hg.) Forschungsschwerpunkte: - Kirchengeschichte des 19. Jahhrunderts - Kirchliche Zeitgeschichte Anschrift: Arndtstraße 5, 04275 Leipzig E-Mail: [email protected]
Professor Dr. Hacik Rafi Gazer Geboren: 1963 in Istanbul (Türkei), armenisch-apostolisch Promotion: Tübingen 1993; Thema der Arbeit: „Die Reformbestrebungen in der Armenisch-Apostolischen Kirche im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ Habilitation: Halle a. d. Saale 2000; Thema der Arbeit: „Die Geschichte der Armenischen Apostolischen Kirche in Sowjetarmenien zwischen den Weltkriegen“ Professor: seit 2006 in Erlangen Veröffentlichungen: - Die Reformbestrebungen in der Armenisch-Apostolischen Kirche im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1996 - Die Armenische Kirche in Sowjetarmenien zwischen den Weltkriegen. Anatomie einer Vernichtung, Münster 2001 - Studien zum kirchlichen Schulwesen der Armenier im Kaukasus, Teil I: 19. Jahrhundert, Berlin 2012 Forschungsschwerpunkte: - Ostkirchenkunde (Geschichte und Theologie der Orientalischen Orthodoxen Kirchen) - Kirchengeschichte der Neuzeit (Kirchengeschichte Konstantinopels - Kaukasus) Anschrift: Kochstraße 6, 91054 Erlangen E-Mail: [email protected]
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Pfarrer i. R. Dr. Bernd Jaspert Geboren: 1944 in Wiebelskirchen/Saar, evangelisch Promotion: Marburg 1974; Thema der Arbeit: „Die Frühgeschichte der Regula Benedicti-Regula Magistri-Kontroverse (1933-1940). Ein Beitrag zur Historiographie der neueren Regula Benedicti-Forschung“ Pfarrer: 1975-2009, seit 2009 im Ruhestand Lehrauftrag für Kirchengeschichte: Marburg 1983-1986 Studienleiter (u. a. für Kirchengeschichte): Ev. Akademie Hofgeismar 1989-1997 Veröffentlichungen: - Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922-1966, Zürich 1971 (2., rev. u. erw. Aufl.: Briefwechsel 1911-1966, Zürich 1994) (Hg.) - Die Regula Benedicti-Regula Magistri-Kontroverse, Hildesheim 1975 (21977) - Traditio - Krsis - Renovatio aus theologischer Sicht, Marburg 1976 (Hg., zus. m. R. Mohr) - Studien zum Mönchtum, Hildesheim 1982 - Bibliographie der Regula Benedicti 1930-1980. Ausgaben und Übersetzungen, Hildesheim 1983 - Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, Darmstadt 1984 (Sonderausg. 2012 ) (Hg.) - Sackgassen im Streit mit Rudolf Bultmann. Hermeneutische Probleme der Bultmannrezeption in Theologie und Kirche, St. Ottilien 1985 - Frömmigkeit und Kirchengeschichte, St. Ottilien 1986 - Paul Tillich. Ein Leben für die Religion, Kassel 1987 (zus. m. C. H. Ratschow) - Theologie und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, 4 Bde., Frankfurt a. M. 19892012 - Bibel und Mythos. Fünfzig Jahre nach Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm, Göttingen 1991 (Hg.) - Erinnern - Verstehen - Versöhnen. Kirche und Juden in Hessen 1933-1945, Kassel 1992 (Hg.) - Leiden und Weisheit in der Mystik, Paderborn 1992 (Hg.) - Dem Evangelium Raum geben. Pfarrerinnen und Pfarrer auf dem Weg in die Zukunft, Hofgeismar 1994 (Hg.) - Frömmigkeit. Gelebte Religion als Forschungsaufgabe, Paderborn 1995 (Hg.) - Sachgemäße Exegese. Die Protokolle aus Rudolf Bultmanns Neutestamentlichen Seminaren 1921-1951, Marburg 1996 - Glaubenswelten. Zugänge zu einem Christentum in multireligiöser Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998 (Hg., zus. m. U. Baumann) - Ökumenische Kirchengeschichte. Probleme, Visionen, Methoden, Paderborn/ Frankfurt a. M. 1998 (Hg.) - Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 1999 (Hg., zus. m. H. Hübner) - Geschichte der Evangelischen Akademie von Kurhessen-Waldeck, 2 Bde. in 1 Tl., Kassel 2003
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- Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877, 5 Bde. in 6 Tln., St. Ottilien 2005-2011 - Wege und Begegnungen. Erinnerungen eines Theologen. Geleitwort von Karl Kardinal Lehmann, St. Ottilien 2011 - Benedikt von Nursia und seine Regel in theologischen Lexika, Nordhausen 2012 Forschungsschwerpunkte: - Kirchengeschichte (Mönchtum - Mystik - neuere protestantische Kirchen- und Theologiegeschichte) - Frömmigkeitsgeschichte - Ökumenische Kirchengeschichte Anschrift: Aura 9, 36142 Tann (Rhön) E-Mail: [email protected]
Professor Dr. Martin H. Jung Geboren: 1956 in Bietigheim/Württemberg, evangelisch Promotion: Tübingen 1990; Thema der Arbeit: „Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus“ Habilitation: Tübingen 1996; Thema der Arbeit: „Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon“ Professor: 1997 in Siegen; 1997-2002 in Basel; seit 2002 in Osnabrück Veröffentlichungen: - Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675-1780), Berlin 1992 - Frauen des Pietismus. Zehn Porträts von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf, Gütersloh 1998 - Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators, Tübingen 1998 - Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870, Leipzig 2000 - Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945, Leipzig 2002 - „Ein Prophet bin ich nicht ...“. Johann Albrecht Bengel. Theologe, Lehrer, Pietist, Stuttgart 2002 - Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter. Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zu Frauen der Reformationszeit, Leipzig 2002 - Einführung in die Theologie, Darmstadt 2004 - Christen und Juden. Die Geschichte ihrer Beziehungen, Darmstadt 2008 - Ich rufe zu dir. Gebete des Reformators Philipp Melanchthon, 4., neu gest. Aufl., Frankfurt a. M. 2010 (Hg.) - Philipp Melanchthon und seine Zeit, Göttingen 2010 - Reformation und konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2012 Forschungsschwerpunkte: - Reformation (Philipp Melanchthon - Frauen der Reformationszeit) - Orthodoxie - Pietismus
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- Christen und Juden - Frömmigkeitsgeschichte Anschrift: Institut für Evangelische Theologie, Neuer Graben 29 (Schloss), 49074 Osnabrück E-Mail: [email protected]
Professor Dr. Volker Leppin Geboren: 1966 in Helmstedt, evangelisch Promotion: Heidelberg 1994; Thema der Arbeit: „Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham“ Habilitation: Heidelberg 1997; Thema der Arbeit: „Apokalyptische Flugschriftenliteratur im Luthertum 1548-1618” Professor: 1998-2000 in Frankfurt a. M. (Vertretung); 2000-2010 in Jena; seit 2010 in Tübingen Veröffentlichungen: - Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 - Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548-1618, Gütersloh 1999 - Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003 (22012) - Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, Leipzig 2004 (zus. m. W. Kinzig u. G. Wartenberg) - Martin Luther, Darmstadt 2006 (22010) - Die christliche Mystik, München 2007 - Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (Hg., zus. m. Ch. Bultmann u. A. Lindner) - Theologie im Mittelalter, Leipzig 2007 - Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Darmstadt 2009 (Stuttgart 2009) - Thomas von Aquin, Münster 2009 - Geschichte der christlichen Kirchen. Von den Aposteln bis heute, München 2010 - Geschichte des mittelalterlichen Christentums, Tübingen 2012 - Das Luther-Lexikon, Regensburg 2012 (Hg., zus. m. G. Schneider-Ludorff) Forschungsschwerpunkte: - Theologie und Frömmigkeit in Spätmittelalter und Reformation Anschrift: Evangelisch-Theologische Fakultät, Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen E-Mail: [email protected]
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Professor Dr. Dres. h.c. Christoph Markschies Geboren: 1962 in Berlin-Nikolassee, evangelisch Promotion: Tübingen 1991; Thema der Arbeit: „Der stadtrömische Theologe Valentinus und die Anfänge der valentianischen Gnosis“ Habilitation: Tübingen 1994; Thema der Arbeit: „Die Rezeption der sogenannten neunizänischen Trinitätslehre bei Ambrosius von Mailand und im lateinischen Westen“ Professor: 1995-2000 in Jena; 2000-2004 in Heidelberg; seit 2004 in Berlin (HumboldtUniversität) Veröffentlichungen: - Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis, mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins, Tübingen 1992 - Gnosis und Manichäismus. Forschungen und Studien zu Texten von Valentin und Mani sowie zu den Bibliotheken von Nag Hammadi und Medinet Madi, Berlin 1994 (zus. m. A. Böhlig) - Arbeitsbuch Kirchengeschichte, Tübingen 1995 - Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie, Tübingen 1995 - Alta Trinità Beata. Gesammelte Studien zur altkirchlichen Trinitätstheologie, Tübingen 2000 - Die Gnosis, München 2001 (32010) - Ambrosius von Mailand, De Fide - Über den Glauben, Turnhout 2005 - Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen, München 2006 (durchges. u. aktual. ND von: Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt a. M. 1997, 22001) - Kaiserzeitliche antike christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007 - Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien, Berlin 2007 - Antike ohne Ende, Berlin 2008 - Hans Freiherr von Campenhausen - Weg, Werk und Wirkung, Heidelberg 2008 (Hg.) - Das Leben lieben und gute Tage sehen. Texte für die Seele [Berliner Predigten], Frankfurt a. M. 2009 - Gnosis und Christentum, Berlin 2009 - Was von Humboldt noch zu lernen ist. Aus Anlass des zweihundertjährigen Geburtstags der preußischen Reformuniversität, Berlin 2010 - Erinnerungsorte des Christentums, München 2010 (Hg., zus. m. H. Wolf unter Mitarbeit v. B. Schüler) - Does it Make Sense to Speak about a ‚Hellenization of Christianity’ in Antiquity?, Leiden 2011 - Zur Freiheit befreit. Bildung und Bildungsgerechtigkeit in evangelischer Perspektive, Frankfurt a. M. 2011 - Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Bd. (2 Teilbde.): Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012 (Hg., zus. m. J. Schröter u. A. Heiser)
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- Hellenisierung des Christentums. Geschichte und Bedeutung eines umstrittenen Konzepts, Leipzig 2012 Forschungsschwerpunkte: - Geschichte des antiken Christentums (Gnosis - Origenes - Ambrosius - Institutionengeschichte - antike Philosophiegeschichte - Liturgiegeschichte) - Wissenschaftsgeschichte (bes. des Faches Kirchengeschichte in Berlin) - Historik des Faches Kirchengeschichte Anschrift: Humboldt-Universität, Unter den Linden 6, 10099 Berlin E-Mail: [email protected]
Professor Dr. René Roux Geboren: 1966 in Aosta (Italien), römisch-katholisch Lizentiat: Rom (Augustinianum) 1993; Thema der Arbeit: „Die Christologie des Liber Graduum“ Promotion: Rom (Augustinianum) 1999; Thema der Arbeit: „Die biblische Exegese in den Homiliae cathedrales des Severus von Antiochien“ Professor: 2000-2003 in Aosta; seit 2010 in Erfurt (dazwischen Leitung der Katholischen Italienischen Gemeinde Darmstadt) Veröffentlichungen: - L’exégèse biblique dans les Homélies cathédrales de Sévère d’Antioche, Roma 2002 Forschungsschwerpunkte : - Geschichte der patristischen Bibelauslegung - Geschichte der Lehrentwicklungen in der griechischen und syrischen Tradition - Rezeption der Kirchenväter in der Theologie der Religionen Anschrift: Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Erfurt, Nordhäuser Straße 69, 99098 Erfurt E-Mail: [email protected]
Professor Dr. Wolf-Friedrich Schäufele Geboren: 1967 in Karlsruhe, evangelisch Promotion: Mainz 1997; Thema der Arbeit: „Christoph Matthäus Pfaff und die Kirchenunionsbestrebungen des Corpus Evangelicorum 1717-1726“ Habilitation: Mainz 2005; Thema der Arbeit: „Defecit Ecclesia. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsschreibung des Mittelalters“ Professor: seit 2007 in Marburg Veröffentlichungen: - Christoph Matthäus Pfaff und die Kirchenunionsbestrebungen des Corpus Evangelicorum 1717-1726, Mainz 1998 - „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters, Mainz 2006 - Der „Pessimismus“ des Mittelalters, Stuttgart 2006 - Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit, Mainz 2008 (Hg., zus. m. I. Dingel)
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- Die Marburger Artikel als Zeugnis der Einheit, Leipzig 2012 Forschungsschwerpunkte: - Kirchen- und Theologiegeschichte des Mittelalters, der Reformation und der Frühen Neuzeit, bes. Geschichte des christlichen Geschichtsverständnisses - Veränderung und Überwindung konfessioneller Identitäten in der Frühen Neuzeit Anschrift: Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Evangelische Theologie, Lahntor 3, 35037 Marburg E-Mail: [email protected]
Professor Dr. Gury Schneider-Ludorff Geboren: 1965 in Frankfurt am Main, evangelisch Promotion: Frankfurt am Main 1999; Thema der Arbeit: „Magdalene von Tiling. Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen. Ein Beitrag zum Gesellschaftsverständnis des Protestantismus in der Weimarer Republik“ Habilitation: Jena 2005; Thema der Arbeit: „Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim“ Professor: seit 2005 in Neuendettelsau Veröffentlichungen: - Frauenarmut als Herausforderung, Frankfurt a. M. 2000 (Hg., zus. m. L. SiegeleWenschkewitz) - Magdalene von Tiling. Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen. Ein Beitrag zum Gesellschaftsverständnis des Protestantismus in der Weimarer Republik, Göttingen 2001 - Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006 - Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (Hg., zus. m. B. Hamm u. V. Leppin) - Diakonissen für Amerika. Sozialer Protestantismus in internationaler Perspektive. Quellenedition, Leipzig 2012 (Hg., zus. m. R. Liebenberg u. K. Raschzok) - Das Luther-Lexikon, Regensburg 2012 (Hg., zus. m. V. Leppin) Forschungsschwerpunkte: - Reformationszeit - Protestantisches Stiftungswesen - Gesellschaftsmodelle des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert - Geschichte der Diakonie und des Sozialen Protestantismus - Frauen- und Genderforschung in der Kirchengeschichte - Kirchliche Zeitgeschichte Anschrift: Augustana-Hochschule, Waldstraße 11, 91654 Neuendettelsau E-Mail: [email protected]
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Namenregister Abdülhamid II. 88 Abramowski, L. 124-128 Adriány, G. 58 Aetius von Antiochien 37 Afrahat 146, 152 Alberigo, G. 59 Albertz, H. 118 Albrecht, R. 82 Albrecht (Albert) von der Pfalz, Erzherzog 13 Alexander von Ansbach, Markgraf 82 Alkuin 26 Ambrosius von Mailand 127, 198, 199 Amsdorf(f), N. von 180 Andreas von St. Victor 14, 15, 17-19, 26, 190 Andresen, C. 28 Angenendt, A. 19 Anna, Hl., Mutter Marias 117 Anselm von Canterbury/Anselme/ Anselmo 122, 144, 151 Apollinaris von Laodicea 37 Aristoteles 37, 100, 120, 190 Arius 35, 39, 191 Armborst-Weihs, K. 179 Arnold, J. 29 Aschendorff (Verlag) 8 Aßfalg, J. 80 Athanasius von Alexandrien, der Große 35, 137, 193 Athenagoras I., Ökumenischer Patriarch 60, 85 Aubert, R. 85 Augustin(us) 8, 21, 26, 33, 123, 146, 147, 149, 150, 154, 155, 159 Augustus, Kaiser 142
Baronio, C. 53 Barth, B. 191 Barth, J. F. 165 Barth, K. 95, 98, 112, 127, 159, 165, 195 Bartsch, P. 157 Basilius von Caesarea, der Große 37, 79, 191 Batlogg, A. R. 53 Baumann, U. 195 Baumeister, Th. 154 Baus, K. 10 Bayer, A. 84 Becker, E.-M. 10 Becker, J. 179 Beethoven, L. van 64 Benedikt XVI., Papst (Ratzinger, J.) 22, 30, 40, 173 Benedikt von Nursia/Benedictus 195, 196 Bengel, J. A. 101, 196 Bengel, J. R. 101, 196 Benjamin, W. 60 Benz, E. 87 Berding, H. 175 Berger, P. L. 36 Bériou, N. 29 Berndt, R. 13-18, 20-23, 29, 190 Besier, G. 10 Beutel, A. 9, 11, 133, 168 Beutler, J. 14 Beyer, M. 104 Binark, I. 91 Bizer, E. 124 Bodelschwingh, F. von 80 Bodin, J. 9 Böhlig, A. 125, 198 Böhlig, G. 125 Böhm, P. 181 Böhm, Th. 32, 37, 39, 191 Bonaventura 30
Babai der Große 158 Bach, J. S. 113, 115, 131 Backus, I. 28 Baier, W. 40
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Bonhoeffer, D. 67, 98, 120 Borgolte, M. 136 Borromäus, K. 193 Bossuet, J.-B. 24 Botterweck, J. 14 Brandmüller, W. 10 Brandt, R. 120 Braude, B. 87 Brecht, M. 81 Brecht, U. 81 Brekelmans, C. 20 Brennecke, H. Ch. 9, 127 Brenz, J. 102 Breul, W. 179 Brieskorn, N. 64 Brinkel, W. 118 Brinkmann, B. 16 Brock, S. 147-149 Brox, N. 38, 39, 56, 57 Brück, M. von 110 Brumlik, M. 184 Brunod, É. 145 Buda, D. 8, 42, 45, 191 Bultmann, Ch. 197 Bultmann, R. 98, 140, 195 Bultot, R. 14 Burkhard, D. 191 Busse, H. 123
Chenu, M.-D. 54 Cherubini, P. 17, 25 Chih, A. 50 Chrzanowsky, A. 152 Cicero, Marcus Tullius 46, 171 Colish, M. 29 Colliard, L. 145 Colpe, C. 59 Compenius d. Ä., E. 115 Congar, Y. 54, 56, 61 Conzemius, V. 10, 39 Corsten, S. 23 Crisci, E. 25 Croce, B. 143 Croce, G. 86 Crouzel, H. 146 Cyprian, E. S. 181 Dabag, M. 80 Dahan, G. 15 Dalferth, I. U. 129 Dalman, G. 121 Damme, D. van 191 Daniel 192 Daniélou, J. 54 Dann, Ch. A. 96 Darlap, A. 56 Darwin, Ch. 193 Dassmann, E. 13, 64 Deleuze, G. 151 Delgado, M. 53, 55, 56, 61, 62, 136, 180, 192, 193 Delhaye, Ph. 14 Dellsperger, R. 52, 63 Demetrios I., Ökumenischer Patriarch 85 Deschner, K. 60, 64, 156 Deuser, H. 107 Diekmann, A. 170 Dihle, A. 123 Dilthey, W. 33 Dingel, I. 171, 180, 181, 199 Dionysius Areopagita 128 Dittscheid, H.-Ch. 188
Caillet, J.-P. 27 Calvin, J. 181 Campenhausen, H. Frhr. von 122, 198 Camplani, A. 146 Canisius, P. 21, 190 Cano, M. 40, 58 Canzik, H. 123 Carion, J. 171 Carr, E. H. 46 Castagno, A. M. 47 Castaneda, C. 116 Cavallo, G. 28 Cazelles, H. 15 Chadwick, H. 35 Châtillon, J. 15, 30
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Dobhan, U. 53 Dodaro, R. 148 Döllinger, I. von 54 Dolbeau, F. 15 Dolch, H. 13 Droysen, J. G. 131 Duchet-Suchaut, M. 30 Duchhardt, H. 181 Dünzl, F. 36, 191
Froehlich, K. 29 Frühwald, W. 34 Fuchs, G. 61, 192 Funk, F. X. 58 Gadamer, H.-G. 32-34, 36, 55, 134 Gadille, J. 86 Gärtner, H. A. 123 Gaiser, K. 126 Ganzer, K. 9, 11 Gatz, E. 149 Gause, U. 135 Gazer, H. R. 79-82, 194 Geertz, C. 107 Geldner, F. 23 Genicot, L. 14 George, R. 118, 119 Georgi, D. 183 Gerhard, J. 137 Gerö, St. 9 Gertrud von Helfta, die Große, die Jüngere 30 Gilduin von St. Victor 18 Gödel, K. 34 Görgemanns, H. 123 Goethe, J. W. von 53, 54 Göyünç, N. 88 Gollwitzer, H. 94, 117-119 Goltz, H. 79, 81, 82 Grasmück, E. L. 9 Grass, G. 111 Gregor I., der Große, Papst 25, 26, 137 Gregor von Nazianz 79 Gregor von Nyssa 191 Gresch, J. 151 Greyerz, K. von 108 Grillmeier, A. 84 Grohe, J. 29 Grüber, H. 117 Guattari, F. 151 Guballa, W. 154 Gutenberg, J. 23, 24, 26 Gutiérrez, L. 192
Ebeling, G. 23, 39, 55, 59, 63, 123, 168, 174 Eco, U. 163 Eigen, M. 170 Elisabeth von Thüringen, Landgräfin 105 Essen, G. 34 Eunomius von Cyzicus 37, 191 Eusebius von Caesarea 45, 47, 48, 156 Eustathius von Antiochien 191 Fédou, M. 29 Feld, Ch. 29 Felmy, K. Ch. 82 Fidora, A. 190 Filoramo, G. 140 Fitschen, K. 10, 66, 193, 194 Flacius Illyricus, M. 53, 171 Fliche, A. 138 Fontane, Th. 115 Foucault, M. 141, 156 Foxe, J. 180 Francke, A. H. 81 Franco Bahamonde, F. 182 Frank, G. 180 Franz, G. 23 Franz von Assisi 98, 120 Fratli, N. 84 Frenken, A. 29 Frey, J. 125 Friedrich, C. 119 Friedrich von Bayreuth, Markgraf 82 Friedrich Wilhelm III. von Preußen, König 13
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Gy, P.-M. 15
Hoping, H. 34 Horaz 68 Howsepean, G. 80 Huber, W. 184 Hübner, H. 195 Hugo von St. Victor 16-19, 26, 30, 31, 190 Humboldt, W. von 120, 129, 130, 198, 199 Hus, J. 180 Husserl, E. 33 Hutten, U. von 121 Huyghebaert, N. 14
Haas, R. 58 Härle, W. 129 Hage, W. 88 Halfwassen, J. 129 Halleux, A. de 147 Hamm, B. 22, 200 Haran, M. 20 Harkins, F. T. 19 Harnack, A. von 33, 49, 82, 83, 120, 121, 126, 127, 165 Hartmann, N. 117 Hauschild, W.-D. 28, 82 Haussherr, R. 27 Haye, T. 28 Hegel, E. 14 Hegel, G. W. F. 32, 33, 121, 184 Heidegger, M. 33, 151 Heinrich II., Kaiser 26 Heinrich der Löwe 27 Heinzer, F. 26 Heisenberg, W. 13, 34 Heiser, A. 130, 198 Hengel, M. 123, 125, 126 Henkel, J. 191 Hennecke, E. 130 Herms, E. 124 Herrle, Th. 116 Hertzsch, K.-P. 128 Herzfeld, H. 117 Heussi, K. 128 Heyberger, B. 86 Hieronymus 27 Hildegard von Bingen 21, 22, 30, 190 Hiller, D. 10, 132 Hippolyt von Rom 125 Hitler, A. 94 Hölscher, L. 101 Hösle, V. 33 Hoff, G. M. 115 Holl, K. 120, 121 Holzem, A. 32, 36, 38 Honnefelder, L. 13, 34, 120
Ignatius von Antiochien 79 Irenaeus von Lyon 147 Iserloh, E. 10, 57, 140 Jaspert, B. 8-11, 51, 52, 82, 133, 136, 195, 196 Jedin, H. 10, 11, 56, 84, 85 Jeremias II., Ökumenischer Patriarch 87 Jeremias, G. 125 Joachim III., Ökumenischer Patriarch 88 Jördens, A. 123 Johannes, Evangelist 8, 125 Johannes Chrysostomus 79 Johannes Duns Scotus 163 Johannes Paul II., Papst 60 Johannes Scotus Eriugena 21 Johannes vom Kreuz/Juan de la Cruz 53, 193 Jordan, H. 9 Jüngel, E. 126, 128 Jüngling, H.-W. 14 Juhl, D. 146 Julian, Flavius Claudius, Kaiser 68 Jung, M. H. 94-96, 101, 103, 104, 196, 197 Justin der Märtyrer 160 Kaiser, J.-Ch. 9
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Kaiser, K.-D. 97 Kaiser, O. 121 Kalustian, Sch. 80 Kampmann, Ch. 179 Kant, I. 120, 184 Kany, R. 115 Karaca, Z. 88, 89 Karl V., Kaiser 61 Karl der Große, Kaiser 26 Karl Friedrich von Baden, Großherzog 128 Karmann, Th. R. 35 Kasper, K. 21, 190 Kaufmann, F. X. 12 Kaufmann, Th. 96, 100 Kawerau, P. 87 Kehl, M. 14 Keller, A. 34 Kern, W. 62 Kieser, H.-L. 87 Kinzig, W. 10, 32, 109, 133, 162, 164, 168, 197 Kitchen, R. 146 Klautke, H. 80 Klueting, H. 181 Kluge, A. 130 Kluxen, W. 13 Knape, J. 16 Knapp, A. 96 Knauer, P. 14, 190 Koch, E. 181 Koch, K. 192 Koch, R. 82 Koch, W. 94 König, E. 27 Köpf, U. 95, 123 Körber, K. A. 117 Koschorke, K. 9, 62, 136, 193 Koselleck, R. 38 Kottje, R. 44, 50, 56, 140 Kraus, W. 188 Krause, K. 179 Kreiser, K. 88 Krems, E. 179
Krengel, L. J. 103 Kress, Ch. 132 Kretschmar, G. 80, 82, 123 Kriebel, M. 87 Kröger, B. 8 Kruse, M. 118, 119 Kuhn, Th. S. 151 Kunz, E. 14 Kupisch, K. 94 Laffite, M.-P. 27 Lange, A. de 180 Las Casas, B. de 61, 192, 193 Latourette, K. S. 61 Leal, J. 29 Leb, I.-V. 8 Leber, J. 67 Lehmann, K. 8, 154, 196 Leibniz, G. W. 24, 173 Leinhäupl-Wilke, A. 32, 33 Lentes, Th. 22 Lentzen-Deis, F. 14 Leonardi, C. 28 Leontius von Byzanz 125 Leontius von Jerusalem 125 Leppin, H. 137 Leppin, V. 10, 32, 105, 109, 133, 162, 164, 168, 180, 184, 187, 193, 197, 200 Lepsius, J. 81 Lessing, G. E. 168 Leuschner, W. 67 Lévy, B.-H. 143, 144 Lewis, B. 87 Liebenberg, R. 200 Liebing, H. 120 Lilienfeld, F. von 82 Lindner, A. 197 Lob-Hüdepohl, A. 192 Löser, W. 14 Lohfink, N. 17 Lohr, Ch. 13, 14, 190 Longère, J. 30 Lubac, H. de 20, 30, 54
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Luckmann, Th. 36 Ludwig, F. 62, 136, 193 Ludwig, H. 117 Ludwig von Baden, Großherzog 13 Ludwig IX. von NiederbayernLandshut, Herzog 80, 123 Lukas, Evangelist 160 Luther, M. 24, 61, 72, 81, 96, 98-100, 103, 106, 108, 120-122, 124, 131, 180, 187, 197, 200 Lutz-Bachmann, M. 190
Melville, G. 28 Menestò, E. 28 Merkle, S. 58 Merta, B. 18 Meslin, M. 15 Metz, J. B. 34, 39, 56, 57, 60, 192 Meyer, C. F. 121 Meyer, D. 79, 124 Mittmann, S. 123 Möhler, J. A. 54 Moeller, B. 44, 50, 100, 133 Mohammed 24, 167 Mohr, R. 195 Moltmann, J. 44, 192 Moore, H. 115, 116 Moreschini, C. 28 Mose 191 Mosheim, J. L. von 9 Mozart, W. A. 64 Mühlenberg, E. 40 Müller, G. L. 56 Müller-Wiener, W. 84
MacCulloch, D. 44 McDonald, L. M. 24 Maier, H. 194 Major, G. 180 Makarios/Symeon194 Mani 198 Marahrens, A. 67 Maria, Mutter Jesu 126, 146 Markschies, Ch. 9, 12, 39, 47, 115, 118, 120, 122-124, 126-133, 198, 199 Marquardt, F.-W. 94, 118 Marrou, H.-I. 61 Marsch, E. 192 Marschler, Th. 21 Martin, V. 138 Martini, C. M. 18 Martyrios (Sahdona) 152 Masius, G. L. 181 Matthäus, Evangelist 126 Max(imilian) IV. Joseph, Kurfürst 80, 123 Maximus Confessor 21 May, G. 181 Mayeur, J.-M. 85, 86 Mayeur-Jaouen, C. 86 Mehlhausen, J. 81, 131 Meinhof, U. 118 Meinhold, P. 9, 50 Melanchthon, Ph. 96, 97, 103, 171, 180, 196 Meletius von Antiochien 35
Neander, A. 174 Nebbiai-Dalla Guarda, D. 25 Nestorius 191 Neufeld, K. H. 53, 62 Neuhold, D. 192, 193 Neumann, Ch. K. 88 Neuwirth, A. 136 Newskij, A. 123 Nicolaisen, C. 82 Nicolaus Maniacoria 26 Niederberger, A. 190 Niemöller, M. 67, 94, 118 Nietzsche, F. 33, 35, 64, 117, 118 Nikolaou, Th. 80 Noah 30, 31 Nowak, K. 9, 71, 83 Oberman, H. A. 96, 120, 121 Odysseus 32, 163 Offergeld, T. 18 Ohlemacher, J. 9
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Ohme, H. 82 Oliva, A. 29 Onasch, K. 84 Orbe, A. 147 Origenes/Origene 47, 146, 151, 159, 198, 199 Otte, H. 104 Overbeck, F. 173
Raeder, S. 24 Rahner, K. 54, 62, 159, 192 Raimundus Lullus 14 Ranke, L. von 46, 51, 103, 116, 131, 175 Raschzok, K. 200 Ratschow, C. H. 120, 195 Ratzinger, J. → Benedikt XVI., Papst Reale, V. 29 Rebenich, St. 120 Reineccius, R. 9 Reinhardt, N. 20 Reiss, W. 157 Rendtorff, T. 112, 124 Repgen, K. 85 Rhein, St. 97 Richard von St. Victor 19, 30 Ricœur, P. 55 Riedlinger, H. 14 Ries, M. 193 Ritschl, D. 184 Ritter, A. M. 35, 123 Rivinius, K. J. 58 Rohmann, K. 13 Roux, R. 138, 199 Rückert, H. 120 Rüpke, J. 123 Ruh, U. 55 Ruhbach, G. 80 Ruprecht I. von der Pfalz, Kurfürst 128 Russell, B. 34
Pannenberg, W. 39, 40, 55, 56, 108, 124, 134, 192 Parmentier, M. 146 Paul VI., Papst 60 Paulus, Apostel 18 Peeters, E. 53 Pelikan, J. 28 Penzel, K. 44 Petrus, Apostel 123 Peukert, H. 38 Pfaff, Ch. M. 9, 181, 199 Pfeiffer, H. 13 Philipp von Hessen, der Großmütige, Landgraf 121, 184, 185, 200 Philipp II. von Spanien, König 44 Picker, H.-Ch. 83 Piderit, J. R. A. 181 Pietri, L. 138, 140 Pitters, H. 44 Planck, M. 165 Platon 100, 101, 117, 121, 126 Plongeron, B. 86 Plotin 151 Plümacher, E. 9 Podskalsky, G. 9, 86, 87 Poilpré, A.-O. 27 Pontius Pilatus 168 Popper, K. R. 35, 117, 119, 126 Powitz, G. 24 Praetorius, M. 115 Pratesi, A. 18 Preul, R. 129 Pröpper, Th. 35 Prügl, Th. 17 Pschichholz, Ch. 88
Sæbø, M. 20 Sacharja 123 Şaguna, A. 42, 191 Sahdona → Martyrios Salis-Soglio, J. B. von 181 Salomo 190 Salvarani, R. 21 Sanders, J. A. 24 Saurer, E. 39 Schäberle-Königs, G. 117
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Schäufele, W.-F. 162, 171, 199, 200 Scharf, K. 94, 118 Schatz, K. 20, 54, 57, 58, 61 Scheible, H. 97, 171 Scheidgen, H.-J. 58 Schenker, L. 52, 63 Schieder, Th. 175 Schillebeeckx, E. 192 Schiller, F. von 128 Schilling, J. 100 Schindler, A. 9 Schindling, A. 139 Schlegel, F. 136 Schleiermacher, F. D. E. 112, 122, 127, 132, 135, 136, 166 Schlieben, R. 183 Schmale, F.-J. 16 Schmeling, M. 120 Schmid, D. 132 Schmidt, K. D. 174, 175 Schmidt, M. A. 28 Schmoll von Eisenwerth, K. 163 Schnädelbach, H. 64 Schneemelcher, W. 130 Schneider, P. 67 Schneider-Flume, G. 132 Schneider-Ludorff, G. 182, 184, 185, 197, 200 Schnurr, J. C. 179 Scholz, H. 112, 166 Schottroff, W. 183 Schreiner, P. 84 Schrodt, P. 44, 50, 52 Schröter, J. 130, 198 Schüler, B. 198 Schwartz, E. 124 Schwarz, M. 188 Schweitzer, F. 180 Schwemer, A. M. 123 Schweppenhäuser, H. 60 Schwertner, S. M. 8 Schwindt, J. 129 Schwöbel, Ch. 129 Seckler, M. 40, 58
Seebaß, G. 106, 129 Seeliger, H. R. 32, 38, 57, 60, 64, 140, 156 Seifert, Ch. T. 27 Seifert, M. 190 Selderhuis, H. 181 Selge, K.-V. 44 Semeraro, C. 10 Serapion von Thmuis 69, 193 Severus von Antiochien 148-150, 152, 158, 199 Sicard, P. 31 Siddharta Gautama 167 Sieben, H. J. 14, 24, 29 Siebenrock, R. A. 53 Siebert, G. 27 Siegele-Wenschkewitz, L. 183, 184, 200 Sievernich, M. 193 Signer, M. A. 19 Silvestre, H. 14 Simonetti, M. 146, 149 Sleidan, J. 171 Sodi, M. 21 Söhngen, G. 13 Sokrates 37 Sokrates Scholastikos 45 Sommerlechner, A. 18 Sonntag, K. 129 Sozomenos 45 Spankeren, R. van 110 Speer, A. 179 Spiegel, Y. 183 Staats, R. 68, 131, 193 Stammberger, R. M. W. 23, 25, 29, 190 Stăniloae, D. 44 Stasiewski, B. 84, 85 Staub, M. 28 Stegmüller, F. 20 Steinmetz, D. C. 29 Stellwagen, F. 126 Stephan Harding 26 Sticher, C. 23
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Stockmeier, P. 39 Stöve, E. 9, 11 Storck, St. 10 Strauss, J. 88 Striet, M. 32-35 Stubenrauch, B. 153, 155 Studer, B. 37 Suger von St. Denis 128 Sulpicius Severus/Sulpice Sévère 151 Sunnus, G. 84 Surkau, H.-W. 118
Vauchez, A. 15, 29 Venard, M. 86 Vergauwen, G. 192 Vernet, A. 25 Vinzent, M. 170 Voigt, R. 125 Vischer, L. 52, 63 Voicu, S. 146 Vones-Liebenstein, U. 190 Wagner, M. 117 Wake, W. 181 Waldenfels, H. 13 Walker Bynum, C. 135 Wallmann, J. 181 Warnke, A. 23 Wartenberg, G. 10, 32, 109, 133, 162, 164, 168, 197 Weber, Manfred 118 Weber, Max 52 Wedel, R. von 118 Wehler, H.-U. 131, 132 Weigl, H. 18 Weijers, O. 27 Weisweiler, H. 16 Welker, M. 129 Welte, B. 13, 63 Wendebourg, D. 82, 87 Weng, G. 97 White, H. 156 Whitehead, A. N. 34 Wiedenhofer, S. 60 Wildt, K. 82 Wilhelm II., Kaiser 165 Wilhelm von Ockham 106, 197 Williams, R. 35 Wilson, H. S. 52 Winkler, R. 170 Winter, Ch. 104 Winterer, U. 8 Wirmer, D. 179 Wohlmuth, J. 84 Wolf, H. 32, 38, 40, 54, 55, 58, 198 Wolinski, J. 151
Tacitus, Publius Cornelius 138, 139 Taut, B. 117 Teilhard de Chardin, P. 13 Teresa von Avila 53 Thalassius der Libyer 21 Theißen, G. 107, 108 Theodor Studites 79 Theodoret von Cyros 45, 48 Theodulf von Orléans 26 Thomas, Apostel 115 Thomas von Aquin 30, 197 Thornton, C.-J. 125 Tiedemann, R. 60 Tiling, M. von 184, 200 Tillich, P. 105, 108, 195 Tinguely, J. 116 Tischer, A. 179 Tischler, M. M. 27 Tombeur, P. 14 Track, J. 122 Troeltsch, E. 33, 34, 134, 135 Trowitzsch, M. 128 Uhlig, Ch. 112 Ullrich, L. 62 Uphus, J. 84 Valentin(us) 127, 198 Van Engen, J. 19 Van Riet, S. 14 Vannier, M.-A. 28, 29 Varus, Publius Quintilius 139, 140
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Wyclif, J. 179 Yerasimos, St. 84
Zeller, W. 10 Zimmermann, W.-D. 118 Zinzendorf, E. D. Gräfin von 101, 196 Zizioulas, J. D. 47
Zäch, A. 121 Zátonyi, M. 22
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