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German Pages 456 [459] Year 2014
Russlands Fahrt in die Moderne Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter
Geschichte
Frithjof Benjamin Schenk
Franz Steiner Verlag
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Herausgegeben vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V.
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Frithjof Benjamin Schenk Russlands Fahrt in die Moderne
quellen und studien zur geschichte des östlichen europa Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann und Ludwig Steindorff, in Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. herausgegeben von Jan Kusber
Band 82
Frithjof Benjamin Schenk
Russlands Fahrt in die Moderne Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter
Franz Steiner Verlag
Publiziert mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Umschlagabbildung: Aleksej Mazurin: Signalfrau, Fotografie (Silbergelatineabzug matt) aus dem Jahr 1903 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10736-5 (Print) ISBN 978-3-515-10740-2 (E-Book)
INHALT VORWORT ...................................................................................................... 9 1. EINLEITUNG ........................................................................................... 13 1.1. Fragestellung...................................................................................... 13 1.2. Theoretische Vorüberlegungen: Sozialer Raum im historischen Wandel ............................................. 19 1.3. Aufbau und Quellen der Arbeit ......................................................... 23 1.4. Forschungsstand und Erkenntnisperspektiven ................................... 27 2. TERRITORIALE VISIONEN IM RUSSISCHEN EISENBAHNDISKURS............................................................................ 37 Die Verkleinerung des politischen Raums ........................................ 39 Die Lenkung der Warenströme .......................................................... 51 Die Konsolidierung des nationalen Raums........................................ 57 Das bedrohte Territorium .................................................................. 60 Die Schaffung eines industrialisierten Raums ................................... 73 Die Konsolidierung des imperialen Raums ....................................... 80 2.6.1. Kaukasus / Transkaukasus ...................................................... 81 2.6.2. Zentralasien ............................................................................. 83 2.6.3. Sibirien .................................................................................... 92 Die Anfänge des „Großen Sibirischen Weges“ ...................... 96 Die Präsentation der Transsibirischen Bahn auf den Weltausstellungen ................................................................. 103 2.7. Railway imperialism: Die Expansion des imperialen Raums .......... 114 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.
3. DAS TECHNISCHE ENSEMBLE UND DIE STRUKTURIERUNG DES RAUMS........................................................................................... 119 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Die Transformation der Landschaft ................................................. 120 Zeiträume, Zeitdiskurse ................................................................... 131 Raum und Beschleunigung .............................................................. 146 Raumrepräsentationen und kognitive Karten .................................. 154 3.4.1. Die ersten russischen Eisenbahnreiseführer ......................... 156 3.4.2. Kursbücher ............................................................................ 165 3.4.3. (Streckennetz-)Karten ........................................................... 169 3.4.4. Der Fahrplan ......................................................................... 173 3.4.5. Die Wirkung von Raumbildern des Eisenbahnzeitalters ...... 175 3.4.6. Die ersten Eisenbahnreiseführer für das ganze Reich .......... 177 3.4.7. Integrierter Raum und ethnografische Vielfalt ..................... 181
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Inhalt
3.5. Die Ordnung der Reisenden: Bahnhöfe und Züge .......................... 189 3.5.1. Der Bahnhof als Projektionsfläche gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe ................................................................ 190 3.5.2. Die „Klassengesellschaft“ und ihre Orte .............................. 196 3.5.3. Alternative gesellschaftliche Ordnungsmuster an Orten des Eisenbahnsystems ............................................ 203 4. MOBILITÄT UND RAUMWAHRNEHMUNG .................................... 213 4.1. Räumliche Mobilität: Paragraphen und Zahlen ............................... 214 4.1.1. Die Passgesetzgebung im Zarenreich ................................... 215 4.1.2. Die Entwicklung der Passagierzahlen................................... 221 4.2. Passagiere auf Reisen ...................................................................... 225 4.2.1. Eisenbahnreise als Raum-Erfahrung ..................................... 228 Raum, Zeit, Geschwindigkeit .............................................. 229 Die wohlgeordnete Gesellschaft und ihre Klassen .............. 232 Züge und Bahnhöfe als Orte der Begegnung ....................... 237 Männerräume, Frauenräume ................................................. 241 4.2.2. Die Erkundung des imperialen Raums ................................. 243 Fallstudie 1: Reisen in die Westgebiete des Reiches ............ 248 Fallstudie 2: Reisen nach Sibirien ....................................... 258 Raumbilder zwischen Integration und Fragmentierung ....... 270 4.3. Mobilität des „Volkes (narod)“ ....................................................... 272 5. SCHIENEN DER MACHT ..................................................................... 287 5.1. Der reisende Zar und das Reich ....................................................... 288 5.1.1. Reisen als Herrschaftspraxis ................................................. 290 5.1.2. Strukturen der Raumwahrnehmung ...................................... 299 5.1.3. Die Sicherheit des Zaren im technischen Zeitalter ............... 307 5.1.4. Das „Wunder von Borki“ ...................................................... 311 Die Rekonstruktion des Ereignisses .................................... 313 Die Konstruktion des „Wunders“ ......................................... 318 5.2. Der Kampf gegen innere Unruhen ................................................... 327 5.2.1. Eisenbahnen im Januaraufstand von 1863 ............................ 327 Kurze Geschichte der Eisenbahn-Gendarmerie .................... 330 5.2.2. Revolutionäre Propaganda und Terrorismus ........................ 332 Die Entstehung des Eisenbahnterrorismus im Zarenreich .... 334 5.2.3. Eisenbahnen in der Revolution von 1905/07 ........................ 349 5.3. Kriminalität und Gewalt .................................................................. 358 5.4. Eisenbahnen und moderne Kriegsführung....................................... 363 5.4.1. Die Kriege gegen das Osmanische Reich und Japan ............ 364 5.4.2. Der Bahnhof als Ort des Abschieds in den Krieg ................. 369 6. SCHLUSSBETRACHTUNG: RUSSLANDS ANKUNFT IN DER MODERNE ................................... 375
Inhalt
7. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS .................................. 387 7.1. Quellen ............................................................................................. 387 7.1.1. Archivquellen........................................................................ 387 7.1.2. Periodika ............................................................................... 388 7.1.3. Gedruckte Quellen / Quellensammlungen ............................ 388 7.1.4. Land- und Streckennetzkarten .............................................. 404 7.1.5. Architektur- und Grundrisszeichnungen russ. Bahnhöfe, Konstruktionszeichnungen von Personenwaggons ............... 404 7.1.6. Bildquellen ............................................................................ 405 7.2. Sekundärliteratur.............................................................................. 405 7.3. Nachschlagewerke, Bibliografien .................................................... 430 8. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ............................................................ 431 9. RUSSISCHE MAßE UND GEWICHTE ................................................ 432 10. ABBILDUNGSNACHWEIS ................................................................. 433 11. NAMENS- UND ORTSREGISTER ...................................................... 434 11.1. Personen ......................................................................................... 434 11.2. Orte ................................................................................................ 437 12. ABBILDUNGEN ................................................................................... 441
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VORWORT Als ich vor ziemlich genau zwanzig Jahren das erste Mal nach Russland reiste, fuhr ich selbstverständlich mit der Eisenbahn. Rund 36 Stunden dauerte damals eine Fahrt von Berlin nach St. Petersburg. Schon zu dieser Zeit faszinierte mich der Charme einer Eisenbahnreise in Russland: die häusliche Atmosphäre der Schlafwagen, in denen bislang wildfremde Menschen ihren Reiseproviant miteinander teilen, Schaffner auf dem kohlebetriebenen Samowar Tee bereiten und Frauen im Morgenmantel und Pantoffeln über die Flure schlurfen. – Am Anfang meiner Beschäftigung mit geografischer Mobilität und der Transformation sozialer Räume im russischen Eisenbahnzeitalter stand jedoch nicht die Faszination für Lokomotiven, Spurweiten und Schaffnermützen. Ich habe als Kind nie mit Modelleisenbahnen gespielt und bin erst vor wenigen Jahren das erste Mal mit einem dampfbetriebenen Zug gefahren. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit resultiert vielmehr aus meiner langjährigen Beschäftigung mit Fragen der Aneignung, Strukturierung und symbolischen Aufladung von Raum im Kontext der neueren und neuesten Geschichte. Dass sich in Russland die Wahrnehmung und die Organisation sozialer Räume sowie das Handeln der Menschen im Raum durch die Erfindung, den Bau und die Nutzung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert tiefgreifend änderten, war eine Ausgangshypothese meiner Arbeit. Wie sich diese Prozesse vor dem Hintergrund von Russlands Fahrt in die Moderne gestalteten und beschreiben lassen, ist Gegenstand dieses Buches. Die vorliegende Arbeit wurde im November 2010 von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Der Weg dorthin war – wie manch eine Eisenbahnreise in Russland – lang, abwechslungsreich und geprägt von zahlreichen Begegnungen und Gesprächen mit Menschen, denen ich an dieser Stelle für ihre Begleitung, Unterstützung und ihren Rat danken möchte. Mein Dank gilt an erster Stelle Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, dem Leiter des wissenschaftlichen Mentorats meines Habilitationsprojektes, der mir in meiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der LMU München die nötigen Freiräume für meine Forschungsarbeit schuf und mich bei der Realisierung meines Vorhabens immer aktiv unterstützt hat. Prof. Dr. Martin Baumeister, Prof. Dr. Petra Stykow und Prof. Dr. Dietmar Neutatz haben mir als Mentoren wertvolle Hinweise und Tipps gegeben und schließlich das Manuskript kritisch begutachtet. Eine erste, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Archivreise führte mich im März 2005 für zwei Wochen nach St. Petersburg. Die Tage im Russischen Historischen Staatsarchiv, das kurz darauf geschlossen wurde, um in ein neues Gebäude umzuziehen, sind unvergessen: das Schlange-Stehen vor dem Archiv in Dunkelheit und Kälte, um einen Platz im Lesesaal zu ergattern, die
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Vorwort
großartige Unterstützung der Archivmitarbeiter_innen, der Austausch mit den anderen Kolleg_innen, die wie ich befürchteten, die Bestände des RGIA würden den Umzug nicht überleben... Den Großteil der Bibliotheks- und Archivrecherche in Russland konnte ich 2006/2007 im Rahmen eines zwölfmonatigen Forschungsaufenthaltes durchführen, den die Alexander von Humboldt-Stiftung mit einem Feodor-LynenStipendiums finanzierte. Ihr möchte ich für die großzügige und unbürokratische Hilfe ebenso danken wie meinem wissenschaftlichen Gastgeber in Moskau Prof. Dr. Alexej Miller und dem dortigen Deutschen Historischen Institut, an dem mein Forschungsprojekt in dieser Zeit ebenfalls angebunden war. Die meiste Zeit habe ich in diesem Jahr in St. Petersburg in den Räumen der Nationalbibliothek, dem Stadtarchiv, in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften und in der Bibliothek der Universität der Verkehrswege verbracht. In Moskau konnte ich meine Recherchen im Staatlichen Archiv der Russländischen Föderation fortsetzen. Den Mitarbeiter_innen dieser Institutionen möchte ich meinen Dank für ihre Geduld und Unterstützung aussprechen. Gleiches gilt für das Team der Bayerischen Staatsbibliothek in München, deren Bestände ich nach meiner Rückkehr mit großem Gewinn für meine Arbeit nutzen konnte. Dass aus dem umfangreichen Quellenmaterial, das ich in Bibliotheken und Archiven erschließen konnte, tatsächlich ein Buch wurde, ist nicht zuletzt der Volkswagenstiftung zu verdanken, die mein Forschungsprojekt 2009-2010 mit einem Dilthey-Fellowship gefördert hat. Dank dieser großartigen Unterstützung konnte ich mich in der Schlussphase ganz auf das Abfassen der Habilitationsschrift konzentrieren und mir Gedanken über mögliche Anschlussprojekte machen. Möglich wurde so auch die Unterstützung meiner Arbeit durch eine studentische Hilfskraft. Denis Pustovit hat mir 2010 unter anderem beim Transkribieren handschriftlicher russischer Archivquellen geholfen. Fragestellung, Konzeption und Teile der Arbeit konnte ich auf zahlreichen Konferenzen und Forschungskolloquien präsentieren und zur Diskussion stellen. Dabei habe ich von Fachkolleg_innen wertvolle Kritik, Anregungen und Hinweise bekommen. Danken möchte ich hier stellvertretend den Leiter_innen und Teilnehmer_innen der Forschungskolloquien an der LMU München (Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte und Lehrstuhl für Neuere Geschichte), am Forschungsinstitut des Deutschen Museums München, am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas sowie an den Lehrstühlen für Osteuropäische Geschichte der Universitäten Basel, Berlin (HU), Bielefeld, Bonn, Budapest (CEU), Freiburg, Göttingen, Kiel, Köln und Tübingen. Besonders fruchtbar für meine Arbeit war ein zweiwöchiger Forschungsaufenthalt an der University of California, Berkeley im Frühjahr 2009, der durch ein Stipendium der LMU München im Rahmen des Programms LMU-UCB Research in the Humanities gefördert wurde. Den Teilnehmer_innen des Forschungskolloquiums am Institute of Slavic, East European, and Eurasian Studies der UCB, insbesondere Prof. Dr. Yuri Slezkine, Prof. Dr. Victoria Frede und Prof. Dr. Irina Paperno danke ich für die freundliche Aufnahme und die wertvollen Hinweise zu meinem Projekt.
Vorwort
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Besonders dankbar bin ich für den stets kollegialen Austausch und die gute Zusammenarbeit mit jenen Kolleg_innen, die sich in ihren Projekten mit verwandten und benachbarten Forschungsfragen beschäftigt haben bzw. noch beschäftigen. Danken möchte ich hier insbesondere Eugene Avrutin (Urbana-Champaign), Alexandra Bekasova (St. Petersburg), Roland Cvetkovski (Köln), Amthony Heywood (Aberdeen), Ole Kröning (Berlin), Anne Lounsbery (New York), Ol’ga Malinova (St. Petersburg), Jan Musekamp (Frankfurt/Oder), John Randolph (Urbana-Champain), Ralf Roth (Frankfurt/Main), Walter Sperling (Bochum) und Lioubov Zoreva (München). Ihnen (und einigen anderen) ist es zu verdanken, dass sich die Kulturgeschichte von Infrastruktur und geografischer Mobilität im Zarenreich in den letzten Jahren zu einem so dynamischen Forschungsfeld entwickelt hat. Auf ein unerwartetes, aber äußerst spannendes Nebengleis haben mich meine Forschungen zur Geschichte des (russischen) Eisenbahn-Terrorismus geführt. Meine Überlegungen auf diesem Gebiet haben in hohem Maße vom Austausch mit Expert_innen der Geschichte politischer Gewalt in Russland profitiert. Eine kleine Workshop-Konferenz an der Tulane University (New Orleans) im November 2007, die Carola Dietze (Gießen), Anke Hilbrenner (Bonn) und ich mit Unterstützung des DHI Washington organisierten, ermöglichte unter anderem das Gespräch mit Oleg Budnickij (Moskau), Anna Geifman (Harvard) Lynn Patyk (Florida), Sally Boniece (Frostburg) und Claudia Verhoeven (Cornell). Neben den bereits genannten Personen haben zahlreiche Kolleg_innen und Freunde mein Forschungsprojekt mit Hinweisen auf wissenschaftliche Literatur oder historisches Quellenmaterial bereichert. Stellvertretend für all jene, die ich möglicherweise vergessen habe, danke ich Martin Aust, Mark Bassin, Matthias Braun, Michail Dolbilov, Reinhard Frötschner, Christoph Gumb, Michael Hagemeister, Mateusz Hartwich, Peter Haslinger, Julia Herzberg, Ulrich Hofmeister, Yvonne Kleinmann, Boris Kolonickij, Ruth Leiserowitz, Eric Lohr, Eric Naiman, Igor Narskij, Alexandra Oberländer, Jana Osterkamp, Julija Safronova, Susanne Schattenberg, Karl Schlögel, Willard Sunderland, Mirjam Triendl-Zadoff, Helmuth Trischler, Mirjam Voerkelius, Ricarda Vulpius, Veronika Wendland, Annette Winkelmann, Richard Wortman und Piotr Wrobel für Gespräche, Kritik und Tipps. Mit kritischem Blick haben Birgit Brandt, Franziska Davies, Monika Eigmüller, Tobias Grill, Bianca Hoenig, Ole Kröning, Walter Sperling und Mirjam Voerkelius das Manuskript der Arbeit bzw. einzelne Kapitel gelesen. Für ihr Interesse, ihre Korrekturvorschläge und Geduld danke ich allen sehr herzlich. Natürlich trage ich für alle Fehler, die ungeachtet der aufmerksamen Leser_innen im Text verblieben sind, die alleinige Verantwortung. Bei der Erstellung der Schlussfassung des Manuskripts und des Registers haben mich in Basel Beda Baumgartner, Alexandra Lazarevič, Tanja Miljanovič und Rhea Rieben tatkräftig unterstützt. Dem Verband der Osteuropahistoriker_innen (VOH) und seinem Vorstand danke ich für die Aufnahme meines Buches in die Reihe Quellen und Studien zur Geschichte des Östlichen Europa, dem Steiner-Verlag, insbesondere Katharina Stüdemann für die professionelle Betreuung des Manuskripts. Ohne die finanziel-
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Vorwort
le Unterstützung des Drucks von Seiten des Schweizerischen Nationalfonds hätte dieses Buchprojekt nicht zum Abschluss gebracht werden können. Mein größter Dank gilt – last but not least – Birgit Brandt, meiner langjährigen Reisegefährtin. Als wir überlegten, ob wir im Rahmen dieses Projekts für ein Jahr in die USA oder nach Russland gehen sollten, plädierte sie, ohne zu zögern, für St. Petersburg. Dort haben wir mit der ganzen Familie ein spannendes und erlebnisreiches Jahr verbracht, für das ich nicht nur der Humboldt-Stiftung, sondern auch meiner Frau sehr dankbar bin. Aber auch davor und danach konnte ich immer auf ihre liebevolle Unterstützung, ihren Zuspruch und ihre Geduld bauen. Widmen möchte ich dieses Buch unseren Töchtern Jolina und Maris, die 2006 gemeinsam mit ihren Eltern zu ihrem ersten längeren Russlandaufenthalt aufgebrochen sind – allerdings, das muss man der Ehrlichkeit halber sagen, mit dem Flugzeug. In St. Petersburg entdeckten die beiden kleinen Damen jedoch bald den frisch renovierten Jugendstilbau des Witebsker Bahnhofs mit seinem Marmor, seinen großen Spiegeln und der Weitläufigkeit des Wartesaals erster Klasse als einen ihrer besonders geliebten Orte.
1. EINLEITUNG „Ach, ich fürchte sie so, ich fürchte diese Eisenbahnwagen, ein wahres Entsetzen fasst mich immer wieder.“ Lev N. Tolstoj: Die Kreutzersonate (1891)1
1.1. FRAGESTELLUNG Lev Nikolaevič Tolstoj, der am 7. November 1910 im Hause des Bahnvorstehers der kleinen Station Astapovo starb, hasste die Eisenbahn.2 Eine Fahrt mit dem Zug habe ebenso wenig mit einer „Reise“ gemein, wie der Besuch eines Bordells mit der Liebe, ließ er Ivan Turgenev 1857 in einem Brief wissen. Beides sei zwar äußerst „bequem (udobno)“, dabei jedoch „unmenschlich mechanisch und tödlich langweilig (nečelovečeski mašinal’no i ubijstvenno odnoobrazno)“.3 Seiner Frau schrieb der Schriftsteller in den 1860er und 1870er Jahren wiederholt, wie elend er sich in Waggons der Eisenbahn fühle und wie sehr die Erschütterung einer Zugfahrt seine Nerven strapaziere.4 In den 1860er Jahren kritisierte Tolstoj auch öffentlich den Eisenbahnbau in Russland und warnte vor dessen wirtschaftlichen und sozialen Folgen.5 Zudem ließ der Schriftsteller seine Romanfiguren wie zum Beispiel den Gutsbesitzer Konstantin Levin in Anna Karenina (1877/78) gegen die Modernisierung der Verkehrswege des Zarenreiches wettern. In seiner Schrift über Die Ursachen der ungünstigen Lage der Landwirtschaft in Russland verurteilt Tolstojs Romanfigur die Eisenbahn als Zeichen einer „widernatürlich aufgepfropfte[n] äußere[n] Zivilisation“, die in Russland zu einer „Zentralisation in den Städten“, zum „Steigen des Luxus“ sowie zur „Entwicklung der Industrie [und] 1 2
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Lev N. Tolstoj: Die Kreutzersonate. Aus dem Russischen von Arthur Luther, Frankfurt/M., Leipzig 2003, S. 106. Die Datumsangaben in dieser Arbeit erfolgen, soweit nicht anders vermerkt, nach dem in Russland bis 1918 gültigen Julianischen Kalender (A.S.) Nach dem Gregorianischen Kalender (N.S.) starb Tolstoj am 20. November 1910. – Die Bahnstation Astapovo liegt im Gouvernement Tambov, ca. 400 km südöstlich von Moskau. – Zum Tod Tolstojs als modernes Medienereignis vgl.: William Nickell: The Death of Tolstoy. Russia on the Eve, Astapovo Station, 1910, Ithaca 2010. Brief Lev N. Tolstojs an Ivan Turgenev, vom 9.4.1857, zit. nach: M. S. Al’tman: Železnaja doroga v tvorčestve L. N. Tolstogo, in: Slavia 34 (1965), S. 251–259, hier S. 258. Zum Eisenbahnmotiv im Werk Tolstojs vgl. auch: V. I. Porudominskij: S tech por kak ja sel v vagon. Železnaja doroga v tvorčestvom soznanii L. N. Tolstogo, in: Čelovek, 1995, Nr. 5, S. 145– 159. Vgl. Elisabeth Stenbock-Fermor: The Architecture of Anna Karenina. A History of its Writing, Structure, and Message, Lisse 1975, S. 68. Stenbock-Fermor, Architecture of Anna Karenina, S. 66.
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Einleitung
des Kreditwesens“ zum Schaden der Landwirtschaft geführt habe.6 Das neue Verkehrsmittel schien in den Augen Tolstojs alle negativen Aspekte des modernen Zeitalters in sich zu vereinen. Den Lesern seines literarischen Werks tritt die Eisenbahn gleichsam als „Symbol des Bösen (symbol of evil)“ entgegen.7 Im Roman Anna Karenina, dessen Hauptfigur sich am Ende durch einen Sprung unter einen fahrenden Güterzug das Leben nimmt, betont Tolstoj unter anderem die zerstörerische Gewalt des modernen Verkehrsmittels.8 In der Novelle Die Kreutzersonate (1891) nährt die nervenaufreibende Fahrt in einem Zug die triebhafte Eifersucht und mörderischen Gedanken der Hauptfigur Pozdyšev. Der von Angst und Misstrauen gequälte Ehemann, der am Ende der Reise seine Frau wegen einer (vermeintlichen) Liebschaft ermorden sollte, fühlt sich im Eisenbahnwagen gefangen wie ein „Tier im Käfig“. Nachdem er den Zug betreten hatte, schien es, als habe er „keine Gewalt mehr über [seine] Phantasie, [...] sie malte nun unaufhörlich, in außerordentlich grellen Farben lauter Bilder, die [seine] Eifersucht anfeuerten“. Am Ziel seiner Reise angekommen verlässt Pozdyšev „ganz mechanisch [...] mit der Menge das Bahnhofsgebäude“, nimmt eine Droschke und fährt in seine Wohnung, wo das Schicksal seinen unheilvollen Lauf nimmt.9 Die Eisenbahn symbolisiert im Werk Tolstojs den Anbruch einer neuen Zeit, in der sich die gesellschaftlichen Strukturen des alten Russland in einem tiefgreifenden Wandel befanden. Ungeachtet der Skepsis, mit der Tolstoj die Modernisierung der Verkehrswege im Zarenreich betrachtete, blieb ihm nicht verschlossen, dass mit dem Bau der Eisenbahn auch in Russland sozialräumliche Strukturen entstanden, die neue Formen der Begegnung zwischen Menschen unterschiedli-
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Lev N. Tolstoj: Anna Karenina, dt. von Gisela Drohla, 3 Bde., Frankfurt/M. 1984, hier Teil 5, Kap. 15 (= Bd. 2, S. 718–723, Zitat S. 719). Vgl. dazu: Al’tman, Železnaja doroga,, 254f., Porudominskij, S tech por, S. 149. Stenbock-Fermor, The Architecture of Anna Karenina, S. 66. Zur Interpretation der Eisenbahn als „Inkarnation des Bösen“ in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts: Stephen L. Baehr: The Troika and the Train. Dialogues Between Tradition and Technology in Nineteenth-Century Russian Literature, in: Issues in Russian Literature Before 1917. Selected Papers of the Third World Congress for Soviet and East European Studies, hg. von J. Douglas Clayton, Columbus 1989, S. 85–106, hier S. 88. Zum Todesmotiv in Anna Karenina und dessen Verknüpfung mit dem Motiv der Eisenbahn vgl.: Vladimir Nabokov: Leo Tolstoi, Anna Karenina, in: ders.: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der russischen Literatur, Frankfurt/M. 1984, S. 201–315, insbes. S. 218–220 und 244–259; Gary L. Browning: The Death of Anna Karenina: Anna’s Share of the Blame, in: Slavic and East European Journal 30 (1986), Nr. 3, S. 327–339. Zu weiteren Bedeutungsdimensionen des Eisenbahnmotivs im Roman Anna Karenina: Stenbock-Fermor, Architecture of Anna Karenina, S. 65–74; Gary R. Jahn: The Image of the Railroad in Anna Karenina, in: The Slavic and East European Journal 25 (1981), Nr. 2, S. 1–10; Robert Louis Jackson: The Night Journey: Anna Karenina’s Return to Saint Petersburg, in: Liza Knapp, Amy Mandelker (Hg.): Approaches to Teaching Tolstoy’s Anna Karenina, New York 2003, S. 150–160. Tolstoj, Die Kreutzersonate, S. 103–109. Vgl. dazu auch: Michail Bezrodnyj: Rossija na rel’sach (iz knigi „Zakryto na pereučet“), in: Solnečnoe spletenie, No. 9 (1999), URL: http://old.russ.ru/ssylka/99-11-22.htm [zuletzt aufgerufen am 2.8.2013].
Einleitung
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cher sozialer Herkunft ermöglichten.10 Auch dies lässt sich anschaulich an der Kreutzersonate zeigen. Tolstoj nutzt in dieser Novelle das Motiv des Zuges nicht nur, um die Mordphantasien und Ängste seines Protagonisten zu erklären und zu dramatisieren. Gleichzeitig bettet er die Erzählung Pozdyševs vom Mord an seiner Frau in die Rahmenhandlung einer langen Eisenbahnreise ein, während der ein Ich-Erzähler auf Pozdyšev und eine Gruppe anderer Passagiere trifft. Im Figurentableau, das Tolstoj in einem russischen Zugwaggon zweiter Klasse arrangiert, treffen eine „hässliche, nicht mehr junge Dame, die sehr viel rauchte“ und die von einem „sehr redseligen“ Advokaten begleitet wurde, auf einen Kaufmann mit einem „glattrasierten, runzeligen Gesicht“, einen jungen Mann, der „wie ein Handlungsgehilfe aussah“ sowie auf den Adeligen Pozdyšev, der als Mann mit „vorzeitig ergrautem, krausen Haar und auffallend blitzenden Augen“ vorgestellt wird.11 Zwischen den Passagieren entfaltet sich ein Streitgespräch über das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie über die Ehe, Liebe und Treue. In der Diskussion treten unvereinbare Meinungsverschiedenheiten zwischen einer alten, patriarchalischen Position, wie sie der alte Kaufmann vertritt, und liberalen, an europäischen Vorbildern orientierten Auffassungen, zutage, die von der reisenden Dame und dem Advokaten vorgebracht werden. Tolstoj lässt den Ausgang der Debatte offen. Er löst den Konflikt dadurch auf, indem er den Kaufmann frühzeitig aus dem Zug aussteigen und die andere Konfliktpartei in den benachbarten Waggon übersiedeln lässt. Zurück bleiben der Ich-Erzähler und Pozdyšev, der im Anschluss an den Disput dem unbekannten Mitreisenden die Geschichte seines Verbrechens erzählt. Das Bild des Zugabteils als Ort der Begegnung verschiedener sozialer Gruppen, den diese für eine Debatte über Fragen des gesellschaftlichen Lebens nutzen, bildet in Tolstojs Werk einen Gegenpol zur Eisenbahn als Symbol des Todes und gesellschaftlicher Zersetzung, das sein literarisches Werk auf den ersten Blick zu dominieren scheint.12 Der Bau und die Nutzung der Eisenbahn führen bei Tolstoj nicht nur zur Verrohung, Vereinsamung und Entkoppelung des Individuums von Land, Natur und Gesellschaft. Daneben stellt der Autor Zugabteile und Bahnhöfe als Orte der Begegnung und des Disputs, als Bühnen zwischenmenschlicher Wahrnehmung, als Foren sozialer Kommunikation und als Schauplätze neuer Formen der Vergesellschaftung im Zeitalter der anbrechenden Moderne vor. 10 11 12
Zur integrativen Funktion des Eisenbahnmotivs in Tolstojs Anna Karenina vgl. insbes. Jahn, The Image of the Railroad in Anna Karenina. Tolstoj, Die Kreutzersonate, S. 9f. Vor Tolstoj hatte schon Fedor Dostoevskij das Motiv des Zugwaggons als Ort der Zusammenkunft von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft entdeckt. In der Eingangsszene seines Romans Idiot (1868/69) lässt der Autor in einem Zugabteil dritter Klasse auf der St. Petersburg-Warschau Eisenbahn den Fürsten Lev N. Myškin auf seinen Widerpart, Parfën S. Rogožin, den Sohn eines Kaufmanns, treffen. Vgl. Fedor Dostoevskij: Der Idiot. Roman, dt. von Swetlana Geier, Frankfurt 52003, S. 7–22. Vgl. dazu u.a. David M. Bethea: The Idiot: Historicism Arrives at the Station, in: Liza Knapp (Hg.): Dostoevsky’s Idiot: A Critical Companion, Evanston 1998, S. 130–190; Zum Vergleich des Eisenbahnmotivs in Dostoevskijs Idiot und Tolstojs Anna Karenina: David M. Bethea: The Shape of Apocalypse in Modern Russian Fiction, Princeton 1989, S. 73–87.
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Einleitung
Die Frage, in welcher Form der technische Fortschritt im Allgemeinen und der Bau der Eisenbahn im Besonderen kulturelle Praktiken, politische Herrschaft und gesellschaftliche Ordnung im Zarenreich veränderten, beschäftigte neben Tolstoj auch andere Autoren seiner Zeit. Auch Fedor Dostoevskij, Nikolaj Leskov, Ivan Bunin oder Anton Čechov – um hier nur die bekanntesten zu nennen – waren sich der Bedeutung und der gesellschaftlichen Folgen des Eisenbahnbaus in Russland bewusst. In ihren Werken setzten sie sich – teils explizit, teils implizit – mit den Auswirkungen der Modernisierung der Infrastruktur des Imperiums auseinander, widmeten sich dem Eindringen moderner Technik in die Lebenswelten der russischen Provinz, beleuchteten die Entstehung neuer sozialer Schichten und thematisierten den Wandel von Zeit- und Raumvorstellungen im maschinellen Zeitalter.13 Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Aspekte des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wandels, den das Zarenreich im Zeitalter der Eisenbahn erlebte aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu analysieren. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Veränderung sozialräumlicher Strukturen, die mit dem Bau und der Nutzung der Eisenbahn im größten Kontinentalreich der Erde einherging. Kein anderes europäisches Land war im 19. Jahrhundert in vergleichbarem Maße mit der Frage der Überwindung und Beherrschung geografischer Distanz konfrontiert wie das Russländische Reich.14 Mit Blick auf die Weitläufigkeit des Territoriums und den Rückstand des Landes im Kanal- und Chausseebau gaben sich Verkehrsplaner schon früh überzeugt, dass die Eisenbahn geradezu für das Zarenreich erfunden worden sei. Russland, das 1837 die Einweihung seiner ersten Schienenverbindung feierte, gehörte zunächst noch nicht zu den Nachzüglern im Eisenbahnbau in Europa. Nach der Eröffnung der kurzen, privat finanzierten Teststrecke von St. Petersburg nach 13
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Eine umfassende Darstellung zur Geschichte und Funktion des Eisenbahnmotivs in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts liegt in Buchform noch nicht vor. Einen ersten Überblick liefern: Wolfgang Gesemann: Zur Rezeption der Eisenbahn durch die russische Literatur, in: Slavistische Studien zum VI. Internationalen Slavistenkongress in Prag, 1968, hg. von Erwin Koschmieder, München 1968, S. 349–371; Baehr, The Troika and the Train; Jurij Leving: Vokzal – Garaž – Angar. Vladimir Nabokov i poėtika russkogo urbanizma, Sankt Peterburg 2004; Ole Christian Kröning: Züge der russischen Literatur. Zum Motiv der Eisenbahn in der russischen Literatur von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, (unveröffentlichte) Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2007; Felix Ingold: Russische Wege. Geschichte, Kultur, Weltbild, München 2007, S. 257–270; Lioubov Zoreva: Die Eisenbahn im russischen kulturellen Raum, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians Universität München, 2009/2012: http://edoc.ub.uni-muenchen.de/14222/1/Zoreva_Lioubov.pdf; urn:nbn:de:bvb:19-142228. Vgl. auch die Quellenanthologien: A. M. Lejtes, P. G. Sdobnev, M. Ch. Danilov (Hg.): Železnodorožnyj transport v chudožestvennom literature. Sbornik, Moskva 1939 sowie Magistrali Rossii – duša otečestva, Moskva 2003. Das Adjektiv „russländisch“ ist die Übersetzung des russischen „rossijskij“. Im Unterschied zu „russkij“, mit dem z.B. die Sprache der (Groß-) Russen bezeichnet wird, leitet sich „rossijskij“ von der Bezeichnung des polyethnischen Staates bzw. Vielvölkerreiches „Russland (Rossija)“ ab.
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Carskoe Selo und Pavlovsk folgte die Reichsregierung jedoch nicht dem verkehrspolitischen Kurs anderer europäischer Staaten, die bereits in den 1840er und 1850er Jahren den Aufbau landesweiter Eisenbahnnetze erlebten.15 Diesen Kurs schlug die zarische Administration erst Mitte der 1850er Jahre, nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg ein, dessen Ausgang viele Zeitgenossen nicht zuletzt mit dem schlechten Zustand des russischen Wegenetzes in Verbindung brachten. In den 1860er und 1870er Jahren erlebte schließlich Russland seinen ersten und in den 1890er Jahren seinen zweiten Boom im Eisenbahnbau. Um die Jahrhundertwende verfügte das Land – nach den USA – bereits über das zweitlängste Schienennetz der Welt. Es blieb jedoch aufgrund der Größe des Reiches relativ weitmaschig. Der forcierte Ausbau des Schienensystems wirkte vor allem in den 1890er Jahren als kräftiger Motor der ökonomischen Entwicklung und Industrialisierung des bis dahin fast ausschließlich agrarisch geprägten Landes. Gleichzeitig führte die fortschreitende Vernetzung des Reiches, insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zu einem signifikanten Anstieg geografischer Mobilität – ein Prozess, dessen Dynamik und Folgen in der historischen Forschung bislang noch nicht umfassend untersucht worden sind. Auf dem expandierenden Schienennetz kam die Bevölkerung des Imperiums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes in Bewegung. Während die Eisenbahn zunächst auch im Zarenreich ein relativ teures und elitäres Fortbewegungsmittel war, eröffnete sie im Laufe der Zeit immer größeren Kreisen der Bevölkerung neue Spielräume geografischer Mobilität. Regierungsbeamte nutzten die Eisenbahn ebenso wie Soldaten, Pilger, Kaufleute, Touristen, Wanderarbeiter oder bäuerliche Kolonisten. In russischen Zügen und Bahnhöfen trafen Menschen unterschiedlichen Standes und Geschlechts sowie unterschiedlicher Konfession und Abstammung aufeinander. Auf dem Schienennetz der Eisenbahn wurde das Land so für viele Menschen erstmals in seiner Größe sowie sozialen und kulturellen Vielfalt persönlich er-fahr-bar. Schon die kurze Betrachtung des Eisenbahnmotivs im Werk Tolstojs hat gezeigt, dass die Modernisierung der Verkehrswege in Russland im 19. Jahrhundert nicht bei allen Zeitgenossen auf ungeteilte Zustimmung stieß. Während die einen in der Dampfmaschine eine Art Heilsbringer sahen, mit dessen Hilfe sich die Integration des Zarenreiches als politischer und ökonomischer Raum beschleunigen ließ, warnten andere vor den sozialen und politischen Folgen des Eisenbahnbaus. Befürworter und Gegner der infrastrukturellen Modernisierung waren sich jedoch darin einig, dass die Nutzung des neuen Verkehrsmittels in Russland langfristig zu 15
Wolfram Fischer: Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1850–1914, in: ders. (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart 1985, S. 1– 207, hier S. 188–195; Wolfhard Weber: Verkürzung von Zeit und Raum. Techniken ohne Balance zwischen 1840 und 1880, in: Propyläen Technikgeschichte, hg. von Wolfgang König, Bd. 4: Netzwerke, Stahl und Strom 1840–1914, Berlin 1990, S. 11–261, hier, S. 209–214. Markus Klenner: Eisenbahn und Politik. 1758–1914. Vom Verhältnis der europäischen Staaten zu ihren Eisenbahnen, Wien 2002.
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einer tiefgreifenden Transformation bestehender sozialräumlicher Strukturen führen werde. Dieser Prozess, dessen Ausgang weder Anhänger noch Kritiker der Eisenbahn absehen konnten, ist Gegenstand der folgenden Betrachtungen. Anders als frühere Arbeiten zur Eisenbahngeschichte des Zarenreiches, die sich vor allem der Planungs- und Baugeschichte des Schienennetzes bzw. den ökonomischen Folgen der verkehrstechnischen Erschließung gewidmet haben, wird hier der Fokus auf die Eisenbahn als Mittel des Personenverkehrs, d.h. der Fortbewegung und der Kommunikation, des Reisens und der Migration gerichtet.16 Nicht die Baustellen des Verkehrsnetzes, die Güterbahnhöfe, Stahlschmelzen oder Kohlebergwerke der Industriereviere bilden die Schauplätze der Untersuchung, sondern die Bahnhöfe und Züge des Personenverkehrs, an denen sich soziale Räume im Zarenreich in neuer Form manifestierten. Nicht die Arbeiter und Angestellten, die das Große Technische System der Eisenbahn errichteten und am Laufen hielten, stehen als historische Akteure im Mittelpunkt, sondern Planer und Visionäre, die soziale Räume auf dem Schienensystem neu konfigurierten sowie Fahrgäste und Passagiere, die Züge und Bahnhöfe in zunehmender Zahl bevölkerten. Einen Fluchtpunkt der Analyse bildet dabei die Frage, ob die verkehrstechnische Erschließung des Imperiums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer sozialräumlichen Integration des Reiches beigetragen hat oder ob der Bau und die Nutzung des Schienennetzes eher Tendenzen territorialer Destabilisierung und sozialräumlicher Fragmentierung bewirkten. Damit werden bewusst auch gängige Mythen der Eisenbahngeschichte auf den Prüfstand gestellt, denen zufolge die infrastrukturelle Vernetzung im 19. Jahrhundert in Europa maßgeblich Prozesse des nation (bzw. empire) building, d.h. Formen moderner Vergesellschaftung in nationalen (und imperialen) Kontexten, befördert habe.17 Die geografischen Grenzen des Untersuchungsraums decken sich mit jenen des Russländischen Reichsgebiets in seiner kulturellen und geografischen Vielfalt, soweit es bis 1914 vom Schienennetz der Eisenbahn erschlossen wurde. Zeitlich setzt die Analyse in den 1820er Jahren ein, als die Kunde von der ersten öffentlichen Eisenbahnlinie in England Russland erreichte und dort eine Debatte über die Notwendigkeit der Modernisierung der eigenen Verkehrswege anstieß. Das Jahr 1914 markiert das Ende des Untersuchungszeitraums, da mit dem Ersten Weltkrieg, der nicht zuletzt auf den Schienennetzen der kriegführenden Staaten ausgetragen wurde, auch im Zarenreich ein sozialräumlicher Wandel einsetzte, der eine eigene Analyse verdient, den Rahmen dieser Studie jedoch sprengen würde.
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Zur Diskussion der älteren Forschung vgl. unten, Kap. 1.4. „Vergesellschaftung“ wird hier, in Anlehnung an Georg Simmel, als eine „Form“ verstanden, „in der Individuen auf Grund [... ] [von] – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren ihre Interessen verwirklichen.“ Ders.: Das Problem der Soziologie, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11, hg. von O. Rammstedt, Frankfurt/M. 1995, S. 13–62, hier: S. 19.
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1.2. THEORETISCHE VORÜBERLEGUNGEN: SOZIALER RAUM IM HISTORISCHEN WANDEL Die Frage nach dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel im Zarenreich, der mit dem Bau und der Nutzung der Eisenbahn einherging, soll im Rahmen dieser Arbeit aus einem raumhistorischen Blickwinkel untersucht werden. Den analytischen Rahmen bildet dabei ein Modell des „sozialen Raums“ (bzw. sozialer Räume), das Theorieangebote aus der Ökonomie, den Planungswissenschaften und der (Raum-) Soziologie aufgreift. Im Zuge des spatial turn, der in den vergangenen Jahren die theoretischen Debatten in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften maßgeblich prägte, hat sich auch in den Geschichtswissenschaften die Überzeugung durchgesetzt, dass Raum nicht als eine vor- oder a-historische Größe zu betrachten sei, in dem sich soziale Prozesse gleichsam wie in einem „Container“ entfalten.18 Während Vertreter der klassischen Geopolitik und Geografie noch davon ausgingen, dass „Raum“ – vor allem begriffen als Territorium – unabhängig vom Menschen existiere bzw. „der Raum“ gar bestimmte historische Entwicklungen determiniere, wird heute vielfach argumentiert, dass sozialer und damit historisch relevanter Raum als Produkt menschlicher Handlung und Wahrnehmung zu betrachten sei und seine Strukturen als Ergebnis spezifischer sozialer (und historischer) Prozesse analysiert werden müssen. In Abgrenzung von älteren, essentialistischen Raumkonzepten hat der Geografie-Historiker Hans-Dietrich Schultz diesen neuen, konstruktivistischen Ansatz einmal auf die einprägsame Formel gebracht: „Räume sind nicht, Räume werden gemacht!“19 Auch Sozialwissenschaftler, wie Dieter Läpple, Martina Löw oder Gabriele Sturm haben (sozialen) Raum – in Anlehnung an Arbeiten von Georg Simmel, Pierre Bourdieu, Henri Lefèbvre oder Anthony Giddens – als menschliches Konstrukt beschrieben und dabei analysiert, wie der Mensch räumliche Ordnungen 18
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Zur Abkehr von der Vorstellung von Raum als „Container“ in der jüngeren Historiografie: Marcus Sandl: Geschichtswissenschaft, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt/M. 2009, S. 159–174, insbes. S. 162f. – Zum spatial turn: Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistoire und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 374–397; Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 60–71; Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Doris Bachmann-Medick: Spatial Turn, in: dies.: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2009, S. 284–328; Stephan Günzel: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 90–99. – Zum spatial turn in der Geschichte Russlands und der Sowjetunion: Nick Baron: New Spatial Histories of Twentieth Century Russia and the Soviet Union: Surveying the Landscape, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 55 (2007), S. 374–400; ders.: New Spatial Histories of 20th Century Russia and the Soviet Union. Exploring the Terrain, in: Kritika 9 (2008), S. 433–447 sowie die Sammelbände: Jeremy Smith (Hg.): Beyond the Limits. The Concept of Space in Russian History and Culture, Helsinki 1999; und jüngst: Mark Bassin, Christopher Ely, Melissa K. Stockdale (Hg.): Space, Place, and Power in Modern Russia. Essays in the New Spatial History, DeKalb 2010. Hans-Dietrich Schultz: Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese „Mitteleuropas“ in der deutschen Geographie, in: Europa Regional 5 (1997), S. 2–14.
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schafft und welche Bedeutung diese wiederum für soziale Prozesse entfalten.20 Fragen der aktiven Gestaltung des physischen Raums treten dabei ebenso in den Blick, wie solche nach Raum strukturierenden Regeln und Normen, nach sozialen Praktiken im Raum und nach der Wahrnehmung und symbolischen Codierung von Räumen. Konstitutiv für neuere raumsoziologische Modelle ist ein relationaler Raumbegriff. Nach diesem Ansatz entsteht (sozialer) Raum erst aus den Relationen, dem Wechselverhältnis zwischen den an einem Ort platzierten Artefakten und Lebewesen.21 Die Soziologin Martina Löw hat Raum als „eine relationale (An-)Ordnung sozialer Güter und Menschen [...] an Orten“ beschrieben.22 Bei dieser Definition sind zwei Punkte von Bedeutung. Erstens: Die Unterscheidung zwischen Orten und Räumen. Ein Ort ist ein Platz, eine Stelle, konkret benennbar und meist geografisch markiert.23 Der Raum hingegen konstituiert sich erst durch die Anordnung von sozialen Gütern und Menschen an Orten.24 Zweitens: Der Mensch ist fundamentaler Bestandteil des Raum-Konzepts. Er ist zum einen selbst physisch im Raum präsent und damit ein Element der Anordnung von Dingen und Lebewesen. Zum anderen ist die Verknüpfung der im Raum platzierten Objekte an menschliche Handlung gebunden, die sich im Begriff der An-Ordnung zusammenfassen lässt. „Anordnung“ meint sowohl die aktive Platzierung sozialer Güter
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Vgl. v.a. Dieter Läpple: Essay über den Raum, in: Hartmut Häußermann (u.a.): Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1991, S. 157–207; Gabriele Sturm: Wege zum Raum. Methodologische Annäherungen an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften, Opladen 2000; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001. Um eine Rehabilitierung des Modells des „Behälterraums“ bemüht sich dagegen: Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2006. – Die Grundlagen für die soziologische Auseinandersetzung mit Raum legte bereits Georg Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts. Vgl. insbesondere seine Abhandlung Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft [1908], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1995, S. 687–790. Läpple verwendet den Begriff des „gesellschaftlichen Raums“ (bzw. „gesellschaftlicher Räume“). Henri Lefèbvre, der als Pionier der modernen Raumsoziologie gilt, spricht dagegen in seinem Werk La production de l’espace (1974, engl. Übers. 1991) von „espace social (social space)“. Löw betont: „Alle Räume sind soziale Räume, insofern keine Räume existieren, die nicht durch synthetisierende Menschen konstituiert werden.“ Dies., Raumsoziologie, S. 228 (Hervorhebung: F.B.S.) Daran angelehnt haben Fabian Kessl und Christian Reutlinger versucht, den Begriff des „Sozialraums“ zu bestimmen: Dies.: (Sozial)Raum – ein Bestimmungsversuch, in: Christian Reutlinger (Hg.): Sozialraum. Eine Einführung, Wiesbaden 2007, S. 19–35. Löw: Raumsoziologie, S. 224. Unter „sozialen Gütern“ versteht Löw allgemein „Produkte gegenwärtigen und vor allem vergangenen materiellen und symbolischen Handelns“. Im Kontext ihres Modells sozialer Räume meint der Begriff jedoch „primär materielle Güter, da nur diese platzierbar sind.“ Ebd. S. 153 und 224. Zu dieser Unterscheidung vgl. ausführlich: Löw, Raumsoziologie, S. 198–202. Löw betrachtet Raum als „begriffliche Abstraktion“, dies., Raumsoziologie, S. 131. Nach ihrem Verständnis hat „Raum als Ganzes [...] keine Materialität im Sinne eines physischen Substrats, sondern nur die einzelnen sozialen Güter und Lebewesen weisen Materialität auf“. Ebd., S. 228.
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und Menschen an konkreten Orten (spacing) als auch die gedankliche Synthese von Räumen in menschlicher Vorstellung, Wahrnehmung und Erinnerung.25 Einem Modell des Ökonomen Dieter Läpple zufolge konstituieren sich (soziale) Räume mittels vier verschiedener Dimensionen bzw. „Komponenten“26: Erstens durch das physische Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse, das dem Raum seine materielle Erscheinungsform verleiht. Dazu sind soziale Güter ebenso zu zählen wie die kulturell überformte Natur und der Mensch in seiner „körperlichen Leiblichkeit“. Als zweite sozialen Raum konstituierende Komponente führt Läpple das institutionalisierte und normative Regulationssystem an, das als Verbindungsglied zwischen materiellem Substrat und gesellschaftlicher Praxis fungiert. Hierzu sind z.B. Eigentumsformen, Macht- und Kontrollbeziehungen sowie rechtliche und soziale Normen zu rechnen. Die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen, d.h. die Praxis der mit Produktion, Nutzung und Aneignung des Raumsubstrats befassten Menschen, beschreibt Läpple als dritte Komponente seines Raummodells. Die gesellschaftliche Praxis unterscheide sich dabei je nach Zugehörigkeit des Einzelnen zu verschiedenen sozialen Gruppen.27 Als vierte Säule wird das Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem beschrieben. Dabei hat Läpple insbesondere im Blick, dass Artefakte, die Raum strukturieren, von Menschen auch als Symbol- und Zeichenträger wahrgenommen und mit unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen werden können.28 Die analytische Aufsplitterung sozialer Räume in die vier Komponenten „materielles Substrat“, „Regeln und Normen“, „gesellschaftliche Praxis“ sowie „symbolische Kodierung und Wahrnehmung“ macht das Modell für konkrete empirische Untersuchungen anwendbar. Für die historische Forschung ist das Konzept insofern anschlussfähig, als soziale Räume explizit als das Ergebnis menschlicher Handlung und Wahrnehmung und somit als Produkt sozialer Prozesse in der Zeit beschrieben werden. Auch die Planungswissenschaftlerin Gabriele Sturm hat in ihrem „dynamischen Analyse-Modell für Raum“ die Veränderbarkeit bzw. die Historizität sozialer Räume unterstrichen und damit implizit auf die Anwendbarkeit des theoretischen Ansatzes für die Arbeit von Historikern hingewiesen.29 25
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Vgl. zusammenfassend auch: Martina Löw, Silke Steets, Sergej Stoetzer: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen 2007, S. 63f. – Zur Kritik an Löws Modell aus soziologischer und geografischer Perspektive: Jörg Döring, Tristan Thielmann: Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: dies. (Hg.): Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7– 45, hier S. 26f. und 35f. Läpple, Essay über den Raum, S. 194–197. Zu Läpples Konzept vgl. auch: Löw, Raumsoziologie, S. 56f. und 137–141. Läpples Augenmerk gilt hier vor allem der Stratifikation der Gesellschaft entlang von „Klassen“-Grenzen. Andere soziale Unterscheidungskriterien wie z.B. Geschlecht, Ethnie oder Religion werden dabei vernachlässigt. Dies kritisiert Löw, Raumsoziologie, S. 141. Das viergliedrige Raummodell von Läpple wurde von Gabriele Sturm in ihrem „dynamischen Analyse-Modell für Raum“ weiterentwickelt. Vgl. Sturm, Wege zum Raum, S. 179–181, 185–199. Zu Sturms Modell vgl. auch Löw, Raumsoziologie, S. 220–223. Sturm, Wege zum Raum, S. 185ff. Vgl. dazu (mit Blick auf den Wandel von Raumvorstellungen durch den Bau der Eisenbahn) bereits: Läpple, Essay über den Raum, S. 203. Zeugnis
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Ähnlich wie in soziologischen Untersuchungen lässt sich auch aus historischer Perspektive fragen, wie sich soziale Räume zu einem bestimmten Zeitpunkt an konkreten Orten manifestierten und welche Rolle dabei die Anordnung sozialer Güter und Menschen, die Festlegung von Regeln und Normen, das Handeln der Menschen im Raum sowie die gedankliche Synthese räumlicher Strukturen in der Vorstellung, Wahrnehmung und Erinnerung der Akteure spielten. Im Rahmen dieser Arbeit geht es konkret um die Frage, wie sich soziale Räume durch den Bau und die Nutzung der Eisenbahn an konkret benennbaren Orten in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifestierten und veränderten. Dass die Erschließung des Zarenreiches mit einem landesweiten Schienennetz die materielle Erscheinungsform sozialer Räume, das Regulationssystem sozialer Praxis, das Handeln der Menschen im Raum und die Strukturen räumlicher Wahrnehmung tiefgreifend veränderte, liegt auf der Hand. Der Frage, wie sich diese Prozesse jedoch im Einzelnen vollzogen, soll im Rahmen dieser Arbeit nachgegangen werden. Bei der Übertragung des skizzierten Raummodells auf den Gegenstand dieser Untersuchung ergeben sich indes zwei methodologische Probleme. Zum einen können soziale Räume in einer historischen Arbeit nicht als statisches Phänomen betrachtet werden. Ziel muss es vielmehr sein, auch den Wandel sozialräumlicher Strukturen im Untersuchungszeitraum in den Blick zu nehmen. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass die Strukturen sozialer Räume, die sich durch den Bau und die Nutzung der Eisenbahn in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten, durch die Mobilität und das Handeln der Menschen im Raum selbst kontinuierlich veränderten. In dem Maße, wie die vom Menschen geschaffenen Raumstrukturen das Handeln der Akteure beeinflussten, wirkte auch die soziale Praxis auf die Strukturen des sozialen Raums zurück. Diese Dualität von Struktur und Handeln, die dem beschriebenen Raum-Modell inhärent ist und die auch bereits von Raumsoziologen als methodische Herausforderung beschrieben worden ist, wird bei einer Untersuchung sozialer Räume im historischen Wandel besonders augenfällig. 30 Zum anderen, darauf hat bereits Dieter Läpple in seinem Essay über den Raum hingewiesen, lässt sich sozialer Raum nie im Singular beschreiben. Selbst wenn man Fragen des historischen Wandels ausblendet, manifestieren sich soziale Räume an konkreten Orten meist im Plural. Da räumliche Strukturen stets an bestimmte Gruppen (sozial-ökonomischer, religiöser, geschlechtsspezifischer bzw. ethnischer Natur) gebunden sind, überlagern sich an konkreten Orten häufig mehrere soziale Räume. In unserem Kontext bedeutet dies, dass sich zum Beispiel ein russischer Offizier an einem großstädtischen Bahnhof des Zarenreiches in anderen sozialräumlichen Strukturen bewegte als ein jüdischer Kaufmann oder eine
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einer fruchtbaren und sinnvollen Anwendung des skizzierten Raummodells im Rahmen eines historischen Forschungsprojekts ist der Band Susanne Rau, Gerd Schwerhoff (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2004. Vgl. auch das Nachwort von Martina Löw in diesem Band, S. 463–468. Löw, Raumsoziologie, S. 172, 226; Löw, Steets, Stoetzer, Einführung, S. 63.
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Marktfrau aus dem Bauernstand. Noch komplizierter wird das Bild, wenn man berücksichtigt, dass sich ein Passagier auf dem russischen Schienensystem gleichzeitig in mehreren sozialräumlichen Ordnungen bewegen konnte, je nachdem, welcher sozialen Gruppe er/sie in der konkreten Situation zugeschrieben wurde bzw. welcher er/sie sich jeweils zugehörig fühlte. Das moderne soziale Ordnungssystem der Eisenbahn, das Fahrgästen neben den bekannten sozialen Unterscheidungskriterien auch noch die Wahl zwischen modernen Fahrgastklassen bot, sorgte dabei für eine weitere Auffächerung des Tableaus sozialer Räume an den Orten des russländischen Schienensystems. Ungeachtet dieser Probleme erscheint das skizzierte raumsoziologische Modell für die vorliegende Arbeit als hilfreicher theoretischer Rahmen und als wertvolle Orientierungshilfe. So hat sich beispielsweise die Anregung Dieter Läpples als fruchtbar erwiesen, soziale Räume sowohl auf einer Makro- als auch auf einer Mikroebene zu untersuchen.31 Gewendet auf das Thema dieser Untersuchung bedeutet dies, dass der Wandel sozialräumlicher Strukturen im russischen Eisenbahnzeitalter zum einen auf der Makroebene des Reichsterritoriums analysiert wird. Zum anderen rücken auf der Mikroebene mit Bahnhöfen und Personenzügen auch solche Orte in den Blick, an denen sich soziale Räume über den direkten Kontakt einer face to face-Kommunikation manifestierten. Auf beiden Ebenen werden nach Möglichkeit alle vier Dimensionen sozialer Räume, d.h. die materielle Gestalt, das die soziale Praxis leitende Normen- und Regelsystem, das Handeln der Menschen im Raum sowie Formen der räumlichen Wahrnehmung und Imagination berücksichtigt. Indem schließlich nach der Rückbindung räumlicher Ordnungen an unterschiedliche soziale Gruppen gefragt wird, findet auch die Frage nach der Pluralität sozialer Räume auf beiden Analyseebenen in der Untersuchung Berücksichtigung. 1.3. AUFBAU UND QUELLEN DER ARBEIT Die vorliegende Studie nähert sich ihrem Gegenstand aus vier verschiedenen Richtungen. In einem ersten Schritt (Kapitel 2) wird der Blick auf politische Debatten über die Erschließung des Russländischen Reiches durch die Eisenbahn gelenkt, an denen sich Vertreter der russischen Gesellschaft (obščestvo) seit den 1830er Jahren in wachsender Zahl beteiligten. In diesen Diskussionen ging es nicht nur um das „Für“ und „Wider“ der Modernisierung der Verkehrswege. Gleichzeitig trafen in diesen Debatten, die teils regierungsintern, teils öffentlich in Zeitungen und Zeitschriften sowie wissenschaftlichen Gesellschaften ausgetragen wurden, konkurrierende Raumvorstellungen von Russland und seinem Territorium aufeinander.32 Je nach dem, ob das Zarenreich primär als ein zu integrierender 31 32
Läpple, Essay über den Raum, S. 197. Vgl. dazu auch: Löw, Steets, Stoetzer, Einführung, S. 51. Als „Raumvorstellung“ definiert Löw „eine Idee vom Raum, eine Verdichtung [von] Raumbilder[n] sowie deren symbolische Besetzung mit in wissenschaftlichen Disziplinen gelten-
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politischer oder ökonomischer Raum, als ein von außen bedrohtes strategisches Territorium, als nationaler Körper oder imperiales Herrschaftsgebiet vorgestellt wurde, fielen die Konzepte der infrastrukturellen Vernetzung des Landes und die Erwartungen, die die einzelnen Autoren an diesen Prozess knüpften, höchst unterschiedlich aus. Diese divergierenden Raumvorstellungen, die im russischen Eisenbahndiskurs seit den 1830er Jahren offen zutage traten, bilden den Gegenstand des ersten Kapitels. Bezogen auf das oben skizzierte Modell sozialer Räume, bewegt sich dieser Teil der Untersuchung auf der „Makroebene“. Als Raum konstituierende Komponente werden dabei vorrangig Prozesse der räumlichen Wahrnehmung und Imagination in den Blick genommen, die dem Bau des Schienennetzes, d.h. der Gestaltung des „physischen Substrats“ bzw. der Formulierung eines Regel- und Normensystems für das Verkehrssystem vorgelagert waren bzw. diesen Prozess begleiteten.33 Als Quellen werden in erster Linie Projektskizzen und Netzentwürfe von Ingenieuren, Verkehrsplanern, Militärs und Publizisten herangezogen. Dabei stehen Diskussionen im Mittelpunkt, die im Zentrum des Reiches, d.h. in den beiden Hauptstädten, geführt wurden. Bei der Analyse von Debatten über die Anbindung der imperialen Peripherien finden jedoch auch Stimmen der lokalen Führungen aus Zentralasien, dem Kaukasus und Sibirien Berücksichtigung. Obwohl die Frage des Eisenbahnbaus in Russland auch Experten im Ausland beschäftigte, stehen hier innerrussische Raum-Diskurse im Vordergrund. Soweit diese allerdings ein internationales Publikum adressierten, wie zum Beispiel bei der Präsentation der Transsibirischen Eisenbahn auf der Weltausstellung von Paris im Jahr 1900, findet auch die transnationale Ebene russischer Eisenbahndebatten Berücksichtigung. Während im ersten Abschnitt (Kapitel 2) territoriale Visionen und „Repräsentationen des Raums“ (Lefèbvre) von Planern im Mittelpunkt stehen, werden im zweiten Teil (Kapitel 3) sozial-räumliche Strukturen nach der Entstehung eines ersten Eisenbahnnetzes in Russland analysiert. Von Interesse ist hier vor allem, in welcher Form das maschinelle Ensemble der Eisenbahn sozialen Raum (bzw. soziale Räume) in Russland neu organisierte. Konkret wird die Frage gestellt, nach welchen Prinzipien die Trassierung von Strecken sowie die Gestaltung von Bahn-
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dem und/oder in den Alltag transformierten Wissen um den Raum“. Dies., Raumsoziologie, S. 16. Zum Begriff des „Raumbildes“: Detlev Ipsen: Raumbilder, in: Informationen zur Raumentwicklung 11/12 (1986), S. 921–931. Aus der Perspektive des dreigeteilten Modells des sozialen Raums (l’espace social) von Henri Lefèbvre lassen sich die hier angesprochenen Raumvorstellungen der russischen Technokraten, Planer und Experten als „Repräsentationen des Raums (représentations de l’espace)“ bezeichnen. Vgl. Ders.: The Production of Space, Malden, MA 1991 (frz. orig. 1974), S. 33. Zu Lefèbvres Raummodell: Löw, Steets, Stoetzer, Einführung, S. 52–55; Norbert Kuhn: Sozialwissenschaftliche Raumkonzeptionen. Der Beitrag der raumtheoretischen Ansätze in den Theorien von Simmel, Lefebvre und Giddens für eine sozialwissenschaftliche Theoretisierung des Raumes, Diss. Universität Saarbrücken, Saarbrücken 1994, S. 53–94, insbes. S. 76– 78. Sowie ausführlich: Christian Schmidt: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefèbvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Stuttgart 2005.
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anlagen und Bahnhöfen erfolgte, welche sozialen Gruppen in den Genuss der beschleunigten Überwindung geografischer Distanz kamen und welchen Einfluss die infrastrukturelle Vernetzung auf Zeitdiskurse und Zeitvorstellungen im Zarenreich hatte. Zudem wird der Blick auf Strategien der Raumerfassung und Raumdarstellung in Medien des Eisenbahnzeitalters, wie dem Eisenbahn-Fahrplan, dem Reiseführer oder der Streckennetzkarte gelenkt und Formen der Repräsentationen des geografischen Raums in diesen „Texten“ analysiert. Am Ende des Kapitels wird schließlich der Blick von der Makro- auf die Mikroebene gelenkt und sozialräumliche Ordnungsentwürfe in Zügen und Bahnhöfen untersucht. Während sich das erste Kapitel vorwiegend mit Fragen der Wahrnehmung und Imagination sozialer Räume beschäftigt, rücken in diesem Teil auch die Gestaltung des „physischen Substrats“ sowie die Entstehung des institutionalisierten und normativen Regulationssystem an den Orten des Eisenbahnsystems in den Blick. Die Analyse stützt sich dabei auf eine breite Quellenbasis. Gesetzestexte, die den Personenverkehr auf der Schiene regelten, werden ebenso herangezogen wie Archivmaterial der zarischen Verkehrsbehörden, Artikel aus wissenschaftlichen Zeitschriften, Reiseführer oder Fahrpläne.34 Neben Textquellen spielt in diesem Kontext auch Bildmaterial wie Architekturzeichnungen, Landkarten, Planungsskizzen für Zugwaggons sowie Fotografien eine wichtige Rolle. Die in den ersten beiden Kapiteln analysierten Raumvorstellungen und Raumstrukturen bilden den Bezugsrahmen für die Betrachtung im dritten Teil der Arbeit (Kapitel 4). In diesem Abschnitt werden geografische Mobilität und sozialräumliche Wahrnehmung von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft und Konfession sowie verschiedenen Geschlechts analysiert. Ausgehend von der Frage nach den ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Überwindung geografischer Distanz im späten Zarenreich wird untersucht, für wen und in welchem Maße der Bau des dampfgetriebenen Verkehrsmittels neue Spielräume geografischer Mobilität eröffnete. Dazu werden in einem ersten Schritt Passagierzahlen und Reisedistanzen und in einem zweiten Reisepraktiken und räumliche Wahrnehmungsmuster verschiedener Passagier-Gruppen analysiert. Ein nächster Abschnitt thematisiert die Eisenbahnreise als moderne kulturelle Praxis, die auch in Russland den Alltag von immer mehr Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten bestimmte. In einem dritten Schritt wird der massenhafte Transport von Menschen in umgerüsteten Güterwaggons als spezifische Form geografischer Mobilität der technischen Moderne thematisiert. Von dieser Fortbewegungsart waren zunächst Soldaten und Arbeiter, später jedoch auch bäuerliche Kolonisten in großer Zahl betroffen, die in Sibirien und Zentralasien auf der Suche nach neuen Siedlungsgebieten waren. 34
Das in dieser Arbeit verwendete Archivmaterial stammt aus den Beständen des Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, Moskau (GARF), des Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv, St. Petersburg (RGIA); des Central’nyj Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv Sankt Peterburga (CGIA SPb) sowie der Russländischen Nationalbibliothek, St. Petersburg (RNB). Der Autor dankt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Einrichtungen für die große Unterstützung bei den Recherchen zu dieser Studie.
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Die Differenzierung nach unterschiedlichen sozialen Fahrgastgruppen erlaubt es, in diesem Teil der Arbeit nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden sozialer Räume zu fragen, die sich an den Orten des russländischen Schienensystems überlagerten oder überschnitten. Von besonderem Interesse ist dabei, wie sozialer Raum auf der Makroebene des durchquerten Territoriums und der Mikroebene des Bahnhofs und Zugabteils von Passagieren unterschiedlicher sozialer Herkunft (bzw. Religion und Geschlechts) wahrgenommen und beschrieben wurde. Damit rückt in diesem Teil neben der analytischen Komponente der „sozialen Praxis“ auch wieder jene der räumlichen Wahrnehmung in den Vordergrund. Gefragt wird dabei vor allem danach, in welchem Maße Fahrgäste den erfahrenen Raum als Einheit erlebt bzw. anhand welcher (sozialer, geografischer, kultureller) Grenzen sie diesen auf ihren Mental Maps kartiert und unterteilt haben.35 Als Quellenmaterial werden hierfür vor allem Reiseberichte und andere Selbstzeugnisse russischer Passagiere wie Memoiren, Briefe oder Tagebücher, herangezogen.36 Auch der vierte Abschnitt (Kapitel 5) ist der Frage nach sozialen Praktiken historischer Akteure an Orten des russländischen Eisenbahnsystems gewidmet. Im Unterschied zum vorherigen Teil geht es hier jedoch weniger um geografische Mobilität als Alltagsroutine. Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt, wie die Eisenbahn von der Zarenmacht als ein politisches Werkzeug räumlicher Integration bzw. von nichtstaatlichen Akteuren und politischen Gegnern des Regimes zur Destabilisierung der räumlichen Ordnung genutzt wurde. Von Anbeginn betrachtete die Reichsregierung die Eisenbahn als ein wichtiges Herrschaftsinstrument. Mit Hilfe des Schienennetzes sollte Russland als politischer, ökonomischer und militär-strategischer Raum integriert werden. Mit Hilfe des neuen Verkehrsmittels wollte die zarische Administration die Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie verbessern. Gleichzeitig erhoffte man, mit der Bahn in Zukunft schneller auf Unruhen im Inneren und militärische Angriffe von außen reagieren zu können. Auf der anderen Seite entdeckten jedoch auch Vorkämpfer nationaler Bewegungen sowie andere oppositionelle Kräfte, dass sich die Eisenbahn als effektives Instrument für den Kampf gegen das autokratische Regime nutzen ließ. So verbrannten beispielsweise Aktivisten des polnischen Januaraufstandes im Jahr 1863 Eisenbahnbrücken in den westlichen Provinzen des Reiches und nahmen Truppentransporte auf der Bahnlinie von St. Petersburg nach Warschau unter Beschuss. Ähnliche Strategien verfolgte die Terror-Organisation Narodnaja volja 35
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Zum Konzept der „kognitiven Karten“ vgl. u.a. Frithjof Benjamin Schenk: Mental Maps: Die kognitive Kartierung des Kontinents als Forschungsgegenstand der europäischen Geschichte, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2013-06-05. URL: http://www.ieg-ego.eu/schenkf-2013-de URN: urn:nbn:de:0159-2013052237 [2013-06-18]. Zu den quellenkritischen Herausforderungen, die sich aus der Arbeit mit Reiseberichten und anderen Selbstzeugnissen ergeben, vgl. ausführlich Kap. 4.2.1. – Bewusst wird in der Arbeit darauf verzichtet, Reiseberichte ausländischer Zugpassagiere systematisch als Quellenmaterial heranzuziehen. Indem sie sich in gänzlich andere Diskurse einschrieben, konstituierten Texte westlicher Provenienz soziale Räume mit, die sich von jenen Räumen, die hier im Mittelpunkt stehen, fundamental unterschieden.
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(Wille bzw. Freiheit des Volkes), als sie im November 1879 an verschiedenen Orten versuchte, den Herrscherzug Alexanders II. zum Entgleisen zu bringen und den reisenden Zaren auf diese Weise zu töten. Auseinandersetzungen wie diese, die Eisenbahnen in umkämpfte „Schienen der Macht“ verwandelten, bilden den Gegenstand des vierten Teils. Dabei wird nach der Herrscherreise als Praxis politischer Machtausübung, der Rolle der Eisenbahn bei der Durchführung und Niederschlagung des Januaraufstandes in Polen, nach Zügen und Bahnhöfen als Schauplätze terroristischer Attentate sowie nach der Funktion des russländischen Schienennetzes in der ersten russischen Revolution von 1905/07 gefragt. Ein weiterer Abschnitt ist dem Themenfeld Kriminalität und Gewalt auf dem Schienensystem des Zarenreiches gewidmet. Den Abschluss bildet eine Betrachtung der Eisenbahn als Instrument moderner Kriegsführung. Hierbei wird insbesondere nach der Rolle des Verkehrsnetzes im russisch-osmanischen Krieg von 1877/88 sowie im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 gefragt. Als Quellen werden in diesem Kapitel neben Archivmaterial aus den Polizeibehörden, Memoiren und Presseerzeugnissen auch Gesetzestexte und Fotografien analysiert. Der Argumentation in diesem Abschnitt liegt die These zugrunde, dass sich die Transformation räumlicher Ordnungsmuster im Zarenreich nicht nur als langsamer Strukturwandel vollzog, sondern dieser auch von konkreten historischen Zäsuren geprägt und von bestimmten Ereignissen beschleunigt wurde. Zudem wird deutlich, wie labil und angreifbar der Prozess sozialräumlicher Integration in Russland im Zeitalter der technischen Moderne letztendlich war und blieb. 1.4. FORSCHUNGSSTAND UND ERKENNTNISPERSPEKTIVEN Eine vergleichbare Untersuchung, die sich dem kulturellen, politischen und sozialen Wandel im Zarenreich im Zeitalter der Eisenbahn aus raumhistorischer Perspektive widmet, gibt es bislang noch nicht. Dessen ungeachtet kann die vorliegende Arbeit auf einer breiten Basis wissenschaftlicher Literatur aufbauen und an zahlreiche Debatten zu Fragen der neueren Geschichte Russlands, zur Infrastrukturgeschichte, zur vergleichenden Imperiengeschichte sowie zur Stadt- und Raumgeschichte anknüpfen. Einen wichtigen Referenzrahmen bietet zum einen die umfangreiche Sekundärliteratur zur Geschichte der Eisenbahnen im Zarenreich. Vor allem die Planungs- und Baugeschichte des Schienennetzes sowie der Einfluss des Eisenbahnbaus auf die ökonomische Entwicklung und Industrialisierung des Reiches sind relativ gut erforscht.37 Gleiches lässt sich für die Planungs37
Vgl. z.B.: Vladimir Michajlovič Verchovskij: Istoričeskij očerk razvitija železnych dorog v Rossii s ich osnovanija po 1897 g. vključitel’no, 2 Bde., Moskva 1898–1901 (auch Reprint: Moskva 2011); N. A. Kislinskij (Hg.): Naša železnodorožnaja politika po dokumentam archiva Komiteta ministrov: Istoričeskij očerk, pod redakcii A. N. Kulomzina, Bde. 1–4, Sankt Peterburg 1901–02; Viktor S. Virginskij: Vozniknovenie železnych dorog v Rossii do 40-ch godov XIX v., Moskva 1949; John Norton Westwood: Geschichte der russischen Eisenbahnen, Zürich 1966; Aida M. Solov’eva: Železnodorožnyj transport Rossii vo vtoroj polovine XIX v., Moskva 1975; E. Ja. Kraskovskij, M. M. Uzdin (Hg.): Istorija železnodorožnogo
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geschichte legendärer Bahnlinien, wie jene der 1891–1904 errichteten Transkontinentalbahn durch Sibirien (Velikij Sibirskij put’) sagen.38 Auch die Geschichte der russischen Eisenbahnarbeiter, ihrer Arbeitsbedingungen und Beteiligung an der Revolution von 1905/07 kann als gut aufgearbeitet gelten.39 In den vergangenen Jahren sind in Russland einige interessante architektur- und stadthistorische Studien zur Geschichte russischer Bahnhöfe (v.a. in Moskau und St. Petersburg) erschienen, auf denen hier ebenfalls aufgebaut werden kann.40 Wichtige Anregungen verdankt die Untersuchung auch neueren, kulturhistorisch orientierten Arbeiten zur Geschichte geografischer Mobilität in Russland im Allgemeinen bzw. zu Eisenbahndebatten und zur Nutzung und Wahrnehmung des modernen Verkehrsmittels im späten Zarenreich.41 In diesem Kontext sind vor allem die Dissertationen von Roland Cvetkovski und Walter Sperling zu nennen, die sich dem Themengebiet jeweils aus unterschiedlicher Richtung nähern.42 Während Cvetkovskis Doktorarbeit dem allgemeinen Phänomen der Beschleunigung als Teilaspekt der
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transporta Rossii, Bd. 1 (1836–1917), Sankt Peterburg 1994; Richard M. Haywood: The Beginnings of Railway Development in Russia in the Reign of Nicholas I., 1835–1842, Durham, N.C. 1969; ders.: Russia Enters the Railway Age, 1845–1855, New York 1998. Vgl. exemplarisch: Sibirskaja železnaja doroga v ee prošlom i nastojaščem: Istoričeskij očerk, sost. S. V. Sabler, I. V. Sosnovskij, pod. red. A. N. Kulomzina, Sankt Peterburg 1903; Harmon Tupper: To the Great Ocean: Siberia and the Trans-Siberian Railway, Boston 1965; Valentin F. Borzunov: Istorija sozdanija trans-sibirskoj železnodorožnoj magistrali XIX-načala XX vv., 3 Bde., Tomsk 1972; ders.: Transsibirskaja magistral' v mirovoj politike velikich deržav, 2 Bde., Moskva 2001; John Poulsen, W. Kuranow: Die Transsibirische Eisenbahn. Die längste Eisenbahn der Welt, Malmö 1986; Jean de Cars, Jean-Paul Caracalla: Die Transsibirische Bahn. Geschichte der längsten Bahn der Welt, Zürich 1987 (urspr. Paris 1986); Steven G. Marks: Road to Power. The Trans-Siberian Railway and the Colonization of Asian Russia, 1850–1917, Ithaca 1991; Ju. L. Il’in (Hg.): Sozdanie velikogo sibirskogo puti, 2 Bde., Sankt Peterburg 2005. Irina Michajlovna Puškareva: Železnodorožniki Rossii v buržuazno-demokratičeskich revoljucijach, Moskva 1975; Henry F. Reichman: Railwaymen and Revolution. Russia 1905, Berkeley 1987; Boris P. Gusarov: Železnodorožniki Rossii v revoljucii 1905 – 1907 godov, Moskva 1994. Aleksandr Ivanovič Frolov: Vokzaly Sankt Peterburga, Sankt Peterburg 2003; I. A. Bogdanov: Vokzaly Peterburga, Sankt Peterburg 2004; Nina Petuchova: Ploščad’ trech vokzalov. Architekturnaja biografija, Sankt Peterburg 2005; Architektura i istorija moskovskich vokzalov. Fotoal’bom-putevoditel’, Moskva 2007; Gradostroitel’stvo Rossii serediny XIX – načala XX veka, Bd. 1: Obščaja charakteristika i teoretičeskie problemy, Bd. 2: Goroda i novye tipy poselenij, hg. von Evgenija Ivanovna Kiričenko, Moskva 2001 u. 2003; I. B. Mufel’, S. T. Špudejko: Brestskij železnodorožnyj vokzal – zapadnye vorota strany, Minsk 2005, insbes. S. 7–27. Vgl. z.B. Leving, Vokzal – Garaž – Angar; Aleksej Borisovič Vul’fov: Povsednevnaja žizn’ Rossijskich železnych dorog, Moskva 2007; John Randolph, Eugene M. Avrutin (Hg.): Russia in Motion. Cultures of Human Mobility since 1850, Urbana 2012; Ol’ga MalinovaTziafeta: Iz goroda na daču. Sociokul’turnye factory osvoenija dačnogo prostranstva vokrug Peterburga (1860-1914), Sankt Peterburg 2013. Roland Cvetkovski: Modernisierung durch Beschleunigung. Raum und Mobilität im Zarenreich, Frankfurt 2006; Walter Sperling: Der Aufbruch in die Provinz. Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich, Frankfurt 2011. – Ich danke beiden Autoren für die Einsichtnahme in die noch nicht publizierten Manuskripte ihrer Doktorarbeiten.
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Modernisierung Russlands nachgeht und die Geschichte der Eisenbahn mit jener des Postwesens seit dem 18. Jahrhundert in Beziehung setzt, widmet sich Sperling der Frage, wie Diskussionen um den Bau von Eisenbahnlinien Praktiken und Inhalte politischer Kommunikation in der russischen Provinz sowie zwischen regionalen und hauptstädtischen Eliten im späten Zarenreich beeinflusst haben. Vor allem Sperlings Dissertation, die sich auch von Fragen der Raumgeschichte leiten lässt, mit ihrem Fokus auf die Provinzen Saratov und Jaroslavl’ jedoch einen klar regionalhistorischen Ansatz verfolgt, kann als anregende Komplementärstudie zur vorliegenden Arbeit gelesen werden.43 Die beiden zuletzt genannten Arbeiten sind ein Indiz dafür, dass der cultural turn mittlerweile auch die Verkehrs- und Kommunikationsgeschichte zum späten Zarenreich erreicht hat. Eine kulturgeschichtlich interessierte Historiografie der Eisenbahn in Russland kann dabei an Forschungsdebatten anknüpfen, die das Feld der Mobilitäts- und Infrastrukturgeschichte zum westlichen Europa bzw. den USA bereits seit längerer Zeit prägen.44 Pionierarbeit hat hier vor über dreißig Jahren Wolfgang Schivelbusch mit seiner immer noch inspirierenden Studie zur Geschichte der Eisenbahnreise geleistet.45 Insbesondere in Großbritannien, das nicht nur als Mutterland der Eisenbahn, sondern auch als Geburtsort einer kulturhistorisch ausgerichteten New Railway History betrachtet werden kann, fielen die Anregungen, die Schivelbusch 1977 formulierte, auf einen fruchtbaren Boden. Autoren wie Michael Freeman, Matthew Beaumont, Colin Divall oder Ian Carter – um hier nur einige wichtige Protagonisten zu nennen – haben mit ihren Arbeiten grundlegend zu unserem Verständnis des kulturellen Wandels beigetragen, der sich auf den Bau und die Nutzung des dampfgetriebenen Verkehrsmittels in (West-) Europa und Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert zurückführen lässt.46 43 44
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Zur Diskussion der Thesen Cvetkovskis vgl. insbes. Kap. 3.3. Zu aktuellen Methodendiskussion in der Infrastrukturgeschichte: Dirk van Laak: InfraStrukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 367–393; Jens I. Engels, Julia Obertreis: Infrastrukturen in der Moderne. Einführung in ein junges Forschungsfeld, in: Saeculum 58 (2007), S. 1–12. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit, Frankfurt/Main 22002 (erste Auflage 1977). Schivelbusch konzentriert sich in seiner Arbeit auf die Entwicklung in West- und Mitteleuropa bzw. auf dem amerikanischen Kontinent. Das östliche Europa im Allgemeinen und Russland im Besonderen findet dabei keine Berücksichtigung. Michael Freeman: Railways and the Victorian Imagination, New Haven, London 1999; ders.: The Railway as a Cultural Metaphor. “What Kind of Railway History?” Revisited, in: The Journal of Transport History 20 (1999), S. 160–167; Ian Carter: Railways and Culture in Britain. The Epitome of Modernity, Manchester 2001; Matthew Beaumont, Michael Freeman (Hg.): The Railway and Modernity. Time, Space, and the Machine Ensemble, Oxford 2007; Colin Divall, Hans-Liudger Dienel: Changing Histories of Transport and Mobility in Europe, in: Ralf Roth, Karl Schlögel (Hg.): Neue Wege in ein Neues Europa, Frankfurt/M. 2009, S. 65-84. – Die New Railway History knüpft nicht nur an Schivelbuschs Pionierstudie von 1977 an. Von Bedeutung waren hier auch Arbeiten wie jene von Michael Robbins: The Railway Age, Manchester 1998 (erste Auflage 1962); John R. Stilgoe: Metropolitan Corridor. Railroads and the American Scene, New Haven, London 1983 oder Nicholas Faith: The World the Railways Made, London 1990.
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Kulturhistorische Ansätze dieser Art konnten in jüngerer Zeit auch für die Verkehrs- und Infrastrukturgeschichte Mitteleuropas fruchtbar gemacht werden.47 Gleiches gilt für neuere Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des großstädtischen Bahnhofs als spezifischer „Ort der Moderne“, an denen sich die vorliegende Arbeit ebenfalls orientiert.48 Die Beschäftigung mit den sozialen, kulturellen und politischen Folgen des Eisenbahnbaus im Zarenreich verspricht Erkenntnisse, die weit über den Horizont der Verkehrs- und Infrastrukturgeschichte hinausweisen. Explizites Ziel dieser Studie ist es daher, auch einen Beitrag zur historischen Imperienforschung zu leisten. Seit der Pionierstudie von Andreas Kappeler Russland als Vielvölkerreich aus dem Jahr 1992 hat sich die Imperiengeschichte des Zarenreiches zu einem eigenständigen und äußerst produktiven Forschungsfeld entwickelt.49 Im Mittelpunkt der Forschung stand dabei zunächst die Frage, welche politischen Strategien in Russland seit dem 16. Jahrhundert entwickelt wurden, Herrschaft über eine in ethnischer, religiöser und sozio-ökonomischer Hinsicht äußerst heterogene Bevölkerung auszuüben.50 Im Zusammenhang mit einem allgemein wachsenden Inte47
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Vgl. exemplarisch: Monika Burri (u.a.) (Hg.): Die Internationalität der Eisenbahn. 1850– 1970, Zürich 2003; Ralf Roth, Marie-Noëlle Polino (Hg.): The City and the Railway in Europe, Aldershot 2003; Günter Dinhobl (Hg.): Eisenbahn/Kultur – Railway/Culture, Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 7, Wien 2004; ders.: „... die Cultur wird gehoben und verbreitet“. Eisenbahnbau und Geopolitik in „Kakanien“, in: Endre Hars, Wolfgang Müller-Funk u.a. (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in ÖsterreichUngarn, Tübingen 2006, S. 77-96; Ralf Roth: Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800–1914, Ostfildern 2005; Ralf Roth, Karl Schlögel (Hg.): Neue Wege in ein neues Europa. Verkehr und die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2009. Alfred Gottwaldt: Der Bahnhof, in: Alexa Geisthövel, Habbo Knoch (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005, S. 17–26. Zum terminus technicus „Orte der Moderne“: Alexa Geishövel, Habbo Knoch: Einleitung, in: ebd., S. 9–14. Zur Geschichte des großstädtischen Bahnhofs vgl. Carrol L. V. Meeks: The Railroad Station. An Architectural History, New Haven 1956; Evgenij V. Vasil’ev, Nikolaj N. Ščetinin: Architektura železnodorožnych vokzalov, Moskva 1967; Jean Dethier: Die Welt der Bahnhöfe (Le temps des gares, anlässlich der gleichnamigen Wanderausstellung d. Centre Pompidou in Paris 1978), hg. vom Centre Georges Pompidou, Paris, Jean Dethier und der Staatlichen Kunsthalle Berlin, Berlin (West) 1981; Ulrich Krings: Bahnhofsarchitektur. Deutsche Großstadtbahnhöfe des Historismus, München 1985; Jeffrey Richards, John M. MacKenzie: The Railway Station: A Social history, Oxford 1986; Vadim M. Batyrev: Vokzaly, Moskva 1988. Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich: Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 22008 (erste Auflage: 1992). Zum Stand der vergleichenden Imperienforschung mit Fokus auf Russland: Alexej Miller (Hg.): Rossijskaja imperija v sravnitel’noj perspektive. Sbornik statej. Moskva 2004; – ders., Alfred J. Rieber (Hg.): Imperial Rule. Budapest, New York 2004; Ilya Gerasimov (u.a.) (Hg.): Novaja Imperskaja Istorija Post-Sovetskogo Prostranstva. Kazan’ 2004; Jane Burbank (u.a.): Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930, Bloomington 2007; Ricarda Vulpius, Das Imperium als Thema der Russischen Geschichte, in: Zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2, [24.12.2007], URL: http://www.zeitenblicke.de/2007/2/vulpius/index_html; Jörn Leonhard, Ulrike von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2009; Ilya Gerasimov (u.a.): New Imperial History and the Challenges of Empire, in: ders. (u.a.)
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resse an der Geschichte imaginärer Geografien bzw. kognitiver Karten wandten sich Historiker wie Yuri Slezkine, Mark Bassin oder Christopher Ely der Geschichte der mentalen Aneignung des expandierenden Reichsterritoriums in seiner regionalen Vielfalt durch die gebildete Gesellschaft des Zarenreiches zu.51 Welche Techniken die Reichsregierung anwandte bzw. welche technischen Innovationen sie sich zunutze machte, um Herrschaft über das größte Kontinentalreich der Erde auszuüben, hat die Imperiengeschichte dagegen noch nicht in vergleichender Form analysiert.52 Erste Ansatzpunkte liefert hier die Literatur zur Geschichte der Binnenkolonisation im späten Zarenreich, die sich am Rande auch mit der infrastrukturellen Erschließung des Landes befasst.53 Auch an neuere Arbeiten zur Ge-
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(Hg.): Empire Speaks Out: Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009, S. 3–32; Martin Aust, Ricarda Vulpius, Aleksej Miller (Hg.): Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917), Moskva 2010. Galya Diment, Yuri Slezkine (Hg.): Between Heaven and Hell: The Myth of Siberia in Russian Culture, New York 1993; Mark Bassin: Imperial Visions. Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East, 1840–1865, Cambridge 1999; ders.: Geographies of Imperial Identity, in: The Cambridge History of Russia, Bd. 2, hg. von Dominic Lieven, Cambridge 2006, S. 45–63; Christopher Ely: This Meager Nature. Landscape and National Identity in Imperial Russia, DeKalb 2002. Auch die deutschsprachige Osteuropaforschung hat sich in letzter Zeit intensiv mit der kognitiven Kartierung des Zarenreiches und seiner Regionen befasst. Vgl. exemplarisch: Susi K. Frank: Sibirien: Peripherie und Anderes der russischen Kultur, in: Aage Hansen-Löve (Hg.): Mein Russland, München 1997 (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband Nr. 44), S. 357–383; Claudia Weiß: Wie Sibirien „unser“ wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007; Kerstin Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich, Konstanz 2007; Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert, Frankfurt 2009. Die Bedeutung der Eisenbahn als technische Innovation, die maßgeblich zur Durchsetzung des Prinzips der Territorialität (territoriality) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa beitrug, betont Charles S. Maier: Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review 105 (2000), S. 807–831, insbes. S. 819–821, bzw. ders.: Transformations of Territoriality. 1600–2000, in: Gunilla Budde, u.a. (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen, Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55, insbes. S. 45–47. Vgl. Donald W. Treadgold: The Great Siberian Migration. Government and Peasant in Resettlement from Emancipation to the First World War, Princeton 1957; Jörg Stadelbauer: Bahnbau und kulturgeographischer Wandel in Turkmenien. Einflüsse der Eisenbahn auf Raumstruktur, Wirtschaftsentwicklung und Verkehrsintegration in einem Grenzgebiet des russischen Machtbereichs, Berlin 1973; Marks, Road to Power; Willard Sunderland: The “Colonization Question”: Visions of Colonization in Late Imperial Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 210–232; ders.: Taming the Wild Field. Colonization and Empire on the Russian Steppe, Ithaca, London 2004; Nicholas B. Breyfogle, Abby Schrader, Willard Sunderland (Hg.): Peopling the Russian Periphery. Borderland Colonization in Eurasian History, London, New York 2007; Lutz Häfner: Russland und die Welt: Das Zarenreich in der Migrationsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts, in: Martin Aust (Hg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851–1991, Frankfurt/M. 2013, S. 64–83; Alberto Masoero: Territorial Colonization
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schichte des Chaussee- und Kanalbaus im 18. und 19. Jahrhundert sowie zur Einrichtung und Funktionsweise des russischen Postwesens kann hier angeknüpft werden.54 Gleiches gilt für neuere Literatur zur militärstrategischen Bedeutung der Eisenbahn im späten Zarenreich.55 Schließlich bieten Studien zur Infrastrukturgeschichte anderer Imperien bzw. großer Flächenstaaten wie dem British Empire, den USA oder Kanada wertvolle Anregungen. Allerdings beschränken sich viele Arbeiten zur Erschließung westlicher Großreiche häufig auf die Bau- und Planungsgeschichte moderner Verkehrsund Infrastrukturnetze, ohne nach den gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der technischen Großprojekte zu fragen.56 Auch Studien zur Geschichte des Eisenbahn-Imperialismus (railway imperialism) im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert konzentrieren sich meist auf die Rolle von Eisenbahnen als Mittel zur Ausdehnung politischer Macht.57 Neben Arbeiten zur machtgeleiteten Er-
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in Late Imperial Russia. Stages in the Development of a Concept, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 14 (2013), H. 1, S. 59–91. Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung; John W. Randolph: The Singing Coachman or, the Road and Russia’s Ethnographic Invention in Early Modern Times, in: Journal of Early Modern History 11 (2007), S. 33–62; ders.: Russian Route – The Politics of the Petersburg-Moscow Road. 1700–1800, in: Mark Bassin, Christopher Ely, Melissa K. Stockdale (Hg.): Space, Place, and Power in Modern Russia. Essays in the New Spatial History, DeKalb 2010, S. 81–99; Alexandra V. Bekasova: The Making of Passengers in the Russian Empire: Coach-Transport Companies, Guidebooks, and National Identity in Russia, 1820-1860, in: John Randolph, Eugene M. Avrutin (Hg.): Russia in Motion. Cultures of Human Mobility since 1850, Urbana 2012, S. 199–217. Anthony Heywood: “The Most Catastrophic Question”: Railway Development and Military Strategy in Late Imperial Russia, in: T. G. Otte, Keith Neilson (Hg.): Railways & International Politics. Paths of Empire 1848–1945, London 2006, S. 45–67; Felix Patrikeeff, Harold Shukman: Railways and the Russo-Japanese War. Transporting War, London 2007. Daniel R. Headrick: The Tentacles of Progress: Technology Transfer in the Age of Imperialism, 1850–1940, New York 1988; ders.: The Invisible Weapon: Telecommunications and International Politics 1851–1945, New York 1991; Jonathan S. McMurray: Distant Ties. Germany, the Ottoman Empire, and the Construction of the Baghdad Railway, Westport 2001; Dirk van Laak: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880–1960, Paderborn 2004; Dwayne R. Winseck, Robert M. Pike: Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860-1930, Durham 2007. – Die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Folgen der infrastrukturellen Erschließung Nordamerikas thematisieren jedoch explizit: Stilgoe, Metropolitan Corridor; Donald W. Meinig: The Shaping of America, Bd. 3, New Haven 1998 und jüngst: Richard White: Railroaded. The Transcontinentals and the Making of Modern America, New York 2011. Zum Habsburgerreich: Andreas Helmedach: Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor. Straßen, Post, Fuhrwesen und Reisen nach Triest und Fiume vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Eisenbahnzeitalter, München 2002; ders.: Integration durch Verkehr. Das Habsburger Reich, in: Osteuropa 55 (2005), Nr. 3, S. 18–31. Clarence B. Davis, Kenneth E. Wilburn (Hg.): Railway Imperialism, New York 1991; Robert Lee: Railways and Imperialism, in: The Institute of Railway Studies (University of York) – Working Papers (1999), Nr. 4; Colin Divall: Railway Imperialisms, Railway Nationalisms, in: Monika Burri (Hg.): Die Internationalität der Eisenbahn, 1850–1970, Zürich 2003, S. 195– 209. Zum railway imperialism als Machtstrategie des Zarenreichs: Dietrich Geyer: Der Russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik
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schließung des russländischen Territoriums sind in unserem Kontext auch Untersuchungen von Bedeutung, die sich gesellschaftlichen Praktiken der Raumerschließung und Raumwahrnehmung widmen. Hier bieten unter anderem Forschungen zur Geschichte der saisonalen bäuerlichen Arbeitsmigration innerhalb Russlands sowie zu den Emigrationswellen aus dem Zarenreich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wichtige Ansatzpunkte.58 Einige neuere Arbeiten zur Geschichte des Reisens und des Tourismus befassen sich mit Fragen der Mobilität sowie der individuellen Erschließung und Erfahrung sozialer Räume im Zeitalter der technischen Moderne.59 Andere Felder, wie zum Beispiel die Geschichte der sozialräumlichen Erfahrung des Zarenreiches durch mobile und „reisende“ Soldaten, sind dagegen noch nahezu unerforscht. Jenseits der Imperiengeschichte verspricht eine Arbeit über die Folgen des Baus bzw. der Nutzung der Eisenbahn im Zarenreich auch neue Erkenntnisse zum politischen, sozialen und kulturellen Wandel im vorrevolutionären Russland, der seit einigen Jahren mit Blick auf das Verhältnis Russlands zur „Moderne“ bzw. auf die Ausprägung und Charakteristika einer spezifisch „russischen Moderne“ (Russian Modernity) diskutiert wird.60 Im Unterschied zu einer älteren, an den
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1860–1914, Göttingen 1977, insbes. S. 22f., 34–41, 76, 107f., 141–148, 239–250; Edward R. Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway, in: Davis, Wilburn (Hg.), Railway Imperialism, S.137–154; Sören Urbansky: Kolonialer Wettstreit. Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt 2008. Barbara A. Anderson: Internal Migration during Modernization in Late Nineteenth-Century Russia, Princeton, N.J., 1980; Ralph Melville: Bevölkerungsentwicklung und demographischer Strukturwandel bis zum Ersten Weltkrieg, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 3/2, hg. von Gottfried Schramm, Stuttgart 1992, S. 1010–1071, hier 1059–1063; Vladimir A. Ioncev, u.a.: Ėmigracija i repatriacija v Rossii, Moskva 2001; Vladimir M. Kabuzan: Ėmigracija i reėmigracija v Rossii v XVIII – načale XX veka, Moskva 1998. Gennadij P. Dolženko: Istorija turizma v dorevoljucionnoj Rossii i SSSR, Rostov na Donu 1988; Christopher Ely: The Origins of Russian Scenery: Volga River Tourism and Russian Landscape Aesthetics, in: Slavic Review 62 (2003), H. 4, S. 666–682; Louise McReynolds: The Prerevolutionary Russian Tourist: Commercialization in the Nineteenth Century, in: Anne E. Gorsuch, Diane P. Koenker (Hg.): Turizm. The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism, Ithaca 2006, S. 17–42. Zur Herrscherreise als politische Praxis in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Richard Wortman; Rule by Sentiment. Alexander II’s Journeys Through the Russian Empire. In: American Historical Review 95 (1990). 745–771; ders.: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. 2: From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Princeton 2000. Karl Schlögel: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909–1921, Berlin 1988; Laura Engelstein: The Keys to Happiness. Sex and the Search for Modernity in Fin de Siècle Russia, Ithaca 1992; David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis (Hg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, New York 2000; Steven Marks: How Russia Shaped the Modern World, Princeton 2003; Michael-David Fox: Multiple Modernities vs. Neo Traditionalism: On Recent Debates in Russian and Soviet History, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54 (2006), S. 535–555; Jörg Baberowski: Diktaturen der Eindeutigkeit. Ambivalenz und Gewalt im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion, in: ders. (Hg.): Moderne Zeiten. Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 37– 59; Claudia Verhoeven: The Odd Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism, Ithaca 2009.
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Einleitung
Hypothesen der Modernisierungstheorie orientierten Geschichtsschreibung, die historischen Wandel im Zarenreich vor der Vergleichsfolie einer idealtypischen „westlichen“ Entwicklung als relativ „rückschrittlich“ (bzw. „progressiv“) beschrieb, operiert die neue Forschung mit einem offeneren (und tendenziell ambivalenten) Moderne-Begriff.61 Während im Verständnis der Modernisierungstheorie eine Gesellschaft dann als „modern“ gilt, wenn sie die Fesseln einer „traditionalen“ (vormodernen) Ordnung abgeworfen und sich die (positiven) Errungenschaften des modernen Zeitalters wie Demokratie, arbeitsteilige Wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, hoher Bildungs- und Urbanisierungsgrad, entwickelte Zivilgesellschaft etc. angeeignet hat,62 wird „Moderne“ heute eher als neutrale Epochenbezeichnung verwandt, die sich auf einen vage umgrenzten Zeitraum von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bezieht.63 Während die Modernisierungstheorie die sozio-ökonomische Ordnung eines (idealty61
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Zur These der „Rückständigkeit“ in Debatten über die Geschichte Russlands: Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), S. 557–603; ders.: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013, insbes. S. 1315-1346 und David Feest (u.a.) (Hg.): Die Zukunft der Rückständigkeit. Chancen, Formen, Mehrwert. (FS für Manfred Hildermeier), Köln 2013. Als kritische Analyse und gleichzeitiges Plädoyer der Modernisierungstheorie immer noch erhellend: Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive: Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1987, S. 93–131, hier S. 126–131. Zur Entwicklung der Modernisierungstheorie und ihrer Bedeutung in der Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit: Thomas Mergel: Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders., Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203–232. Zur Kritik an der Modernisierungstheorie: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 118. In Anlehnung an eine auf Max Weber zurückreichende Debatte datiert Christopher A. Baly Die Geburt der modernen Welt in seiner gleichnamigen Globalgeschichte (Frankfurt/M. 2006) auf den Zeitraum 1780–1914. Geisthövel und Knoch gehen in ihrem Sammelband Orte der Moderne von einem Konzept der „klassischen Moderne“ aus, die sie von 1870–1930 datieren. Dies., Einleitung, S. 10. Ulrich Herbert hat das Konzept der „Hochmoderne“ als „Deutungsansatz für eine vergleichende europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts“ ins Spiel gebracht und dabei einen Zeitraum im Blick, der von ca. 1890 bis 1980 reicht. Ders.: Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5–20. Kritisch dazu: Lutz Raphael: Ordnungsmuster der „Hochmoderne”? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: ders., Ute Schneider (Hg.): Dimensionen der Moderne (FS Christof Dipper), Frankfurt/M. 2008, S. 73–91. Zum Begriff der „Hochmoderne“ bzw. „fin de siècle“: Osterhammel, Verwandlung, S. 102, 110. Charles Maier hat dafür plädiert, den Zeitraum 1860– 1970 als eine (abgeschlossene) Epoche zu betrachten, die er jedoch nicht explizit „Moderne“ nennt. Ders., Transformations, S. 47. – Zur Debatte in den Geschichtswissenschaften über das „Ende der Moderne” und den Beginn der „Postmoderne“ vgl. u.a. Winfried Schulze: Ende der Moderne? Zur Korrektur unseres Begriffs der Moderne aus historischer Sicht, in: Heinrich Meier (Hg.): Zur Diagnose der Moderne, München 1990, S. 69–97. Zur Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Moderne“: Penelope J. Corfield: Time and the Shape of History, New Haven 2007, S. 134–138.
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pischen) „Westens“ nach dem Zweiten Weltkrieg noch als telos jeglicher historischen Entwicklung begriff, spricht man heute – in Anlehnung an Shmuel Eisenstadts Ansatz der Multiple Modernities – vielfach von der „Vielfalt der Moderne(n)“ bzw. der Pluralität historischer Pfade, die Gesellschaften bei ihrem Weg in die Moderne beschritten haben.64 Spätestens seit der Veröffentlichung von Zygmunt Baumans Buch Moderne und Ambivalenz kann auch die Annahme der Modernisierungstheorie als überholt gelten, mit der Aufklärung sei im „Westen“ ein historischer Entwicklungspfad vorgezeichnet worden, der fast zwangsläufig in eine Gesellschaftsordnung mündete, die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft basiert.65 Auch wenn Baumans Augenmerk vor allem der Genese politischer Gewalt im 20. Jahrhundert und dabei insbesondere der Vorgeschichte der Shoah gilt, haben seine Überlegungen unser Bild von „der Moderne“ in einem viel umfassenderen Sinn verändert. Es ist Baumans besonderes Verdienst, gerade auf die „dunklen Seiten“ und die „Ambivalenzen“ hingewiesen zu haben, die das Projekt der Moderne mit seiner Fortschrittsfixierung und seinen gesellschaftspolitischen Ordnungsbestrebungen ebenso kennzeichnen wie zivilisatorische Errungenschaften auf den Gebieten der Forschung, Medizin und Technik. Wenn im Kontext dieser Arbeit von Russlands „Fahrt in die Moderne“ die Rede ist, so geschieht dies vor dem Hintergrund eines doppelt reflektierten Moderne-Begriffs, bei dem die Vielfalt der Moderne(n) ebenso mitgedacht wird wie die Ambivalenzen des modernen Zeitalters. Das Bild von „Russlands Fahrt in die Moderne“ eröffnet dabei vielfältige Perspektiven auf den Gegenstand dieser Arbeit. Zum einen spielt die Formulierung auf den Untersuchungszeitraum an, der sich partiell mit jener Epoche überschneidet, die in der Historiografie als „technische“ bzw. „klassische Moderne“ verhandelt wird. Im Blick auf Russlands Fahrt in die Moderne schwingt dabei das Interesse an Prozessen des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels in diesem spezifischen Zeitabschnitt mit.66 Zum zweiten deutet die rhetorische Figur an, dass hier mit der Eisenbahn eine technische Innovation und ein neues Fortbewegungsmittel in den Fokus rückt, das schon Zeitgenossen als Signum eines „neuen“ bzw. „modernen“ Zeitalters wahr-
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Shmuel N. Eisenstadt: Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (2000), S. 1–29, ders.: Multiple modernities: Analyserahmen und Problemstellung, in: Thorsten Bonacker, Andreas Reckwitz (Hg): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt 2007, S. 19–45. Zum Einfluss Eisenstadts auf die neuere Historiografie zum Zarenreich und der Sowjetunion: Fox, Multiple Modernities, S. 537. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005. Baumans Thesen knüpfen an eine Debatte über die „Ambivalenzen der Moderne“ an, die sich unter anderem auf Max Weber und Karl Marx sowie vor allem auf Theodor Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung aus dem Jahr 1944 zurückführen lassen. In vergleichbar offener Form wird der Begriff der „Moderne“ gebraucht in: Reinhard Koselleck (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977; Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 2: Auf dem Weg in die Moderne, Zürich 2003 und Lothar Gall: Europa auf dem Weg in die Moderne. 1850–1890, München 2004, insbes. S. 1–3.
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genommen und beschrieben haben.67 Wenn nach dem Wandel sozialräumlicher Strukturen gefragt wird, der sich auf Bau und Nutzung der Eisenbahn in Russland zurückführen lässt, richtet sich der Blick auf bedeutsame Teilaspekte der historischen Entwicklung, die maßgeblich zur Herausbildung jener „Ambivalenz“ beitrugen, die aus heutiger Sicht die Epoche der „Moderne“ kennzeichnen. Zum dritten wird mit der Metapher auf Russlands Fahrt in die Moderne angespielt. Hier geht es nicht nur um den Hinweis auf eine bestimmte geografische Region bzw. ein Land, das den Untersuchungsraum dieser Arbeit markiert. Gleichzeitig schwingt hier die alte Frage mit, ob Russland bei seinem Weg in „die Moderne“ (mit zeitlicher Verzögerung) der sozio-ökonomischen Entwicklung „des Westens“ folgte und dabei ähnliche Erfahrungen machte wie andere Länder, die sich mit Chancen und Herausforderungen des Zeitalters von Dampfmaschine und Telegrafie konfrontiert sahen, oder ob das Zarenreich seinen eigenen Weg beschritt, der das Sprechen von einer spezifischen „russischen Moderne“ rechtfertigt. Es versteht sich von selbst, dass diese Kardinalfragen der Russlandhistoriografie hier nicht abschließend beantwortet werden können. Wie lohnend es jedoch sein kann, sich gedanklich an die Orte des neuen Verkehrssystems der Eisenbahn zu begeben, um in der Planungsstube eines Ingenieurs, auf der Plattform eines großstädtischen Bahnhofs oder im Coupé eines Waggons zweiter Klasse dem tiefgreifenden Wandel sozialräumlicher Strukturen nachzugehen, den das Zarenreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte, hatten schon Lev Tolstoj, Fedor Dostoevskij und Anton Čechov erkannt.
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Zur Eisenbahn als Signum des „modernen“ Verkehrszeitalters: Christoph Maria Merki: Verkehrsgeschichte und Mobilität, Stuttgart 2008, S. 10.
2. TERRITORIALE VISIONEN IM RUSSISCHEN EISENBAHNDISKURS Zeitgleich mit anderen Ländern Europas setzte im Zarenreich in den späten 1820er Jahren die Debatte über die Erschließung des Landes mit Eisenbahnen ein. Bereits die ersten Fürsprecher des Baus von Schienenwegen in Russland betrachteten das neue Verkehrsmittel als Instrument zur territorialen Neuordnung und Umgestaltung des Landes. In der politischen Diskussion kursierten seit den 1830er Jahren konkurrierende Streckennetzentwürfe, die unterschiedliche Interessenslagen, aber auch divergierende territorial-räumliche Ordnungsmodelle von Ingenieuren, Politikern, Militärs und Wissenschaftlern widerspiegelten. Anhänger des Eisenbahnbaus priesen das Dampfross als Instrument zur „Verkleinerung“ des russischen Territoriums und stellten das Zarenreich als politischen Herrschaftsraum, als agrarisch geprägten Wirtschaftsraum bzw. als von außen und innen bedrohtes Imperium dar. Die Eisenbahn wurde dabei entweder als Instrument zur Stabilisierung autokratischer Herrschaft, als Transportmittel einer landwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsordnung, als Werkzeug militärstrategischer Planung oder als Sendbote „westlicher Zivilisation“ in der asiatischen Peripherie des Vielvölkerreichs vorgestellt. Die Visionen von der verkehrstechnischen Erschließung Russlands konzentrierten sich zunächst auf den europäischen Teil des Landes. Ab den späten 1860er Jahren, als sich die Grundstruktur des Streckennetzes im europäischen Russland abzuzeichnen begann, und auch eine Anbindung der imperialen Peripherie in naher Zukunft denkbar erschien, dynamisierten sich die Visionen der räumlichen Neuordnung des Imperiums deutlich. Die Ausbreitung der Schienennetze im Zarenreich und in anderen Ländern Europas bzw. Nordamerikas beflügelte die Phantasien der Verkehrsplaner. Die Entwicklung Russlands als Industrienation und die Anbindung der entfernten Peripherien des Vielvölkerreiches an das Mutterland schienen auf einmal als greifbare Ziele. Während in den 1850er Jahren die Eisenbahn in militärischen Diskursen noch primär als Mittel zur Sicherung der (westlichen und südlichen) Grenze des Landes imaginiert wurde, träumten russische Verkehrsplaner ab den 1880er Jahren auch verstärkt von der Integration Russlands in globale Verkehrsnetze. Während sich das Sprechen über die territoriale Neuordnung des eigenen Landes im russischen Eisenbahndiskurs bis in die späten 1870er Jahre auf das Herrschaftsgebiet der Romanovs konzentrierte, wurde das neue Verkehrsmittel seit den 1880er Jahren zunehmend auch als Instrument zur Erweiterung des imperialen Machtbereichs, zunächst in Zentralasien, gegen Ende des Jahrhunderts in Fernost und China imaginiert. Ziel dieses Kapitels ist es, die Entwicklung des russischen EisenbahnDiskurses von den 1830er Jahren bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Dabei wird der Blick auf Visionen der Netzentwicklung und entspre-
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chende territorial-räumliche Ordnungsmodelle gerichtet sowie nach unterschiedlichen Erwartungen gefragt, die Ingenieure, Politiker, Wissenschaftler und andere Kräfte der politischen Debatte mit der verkehrstechnischen Erschließung des Landes verknüpften. Bewusst wird der Fokus auf Eisenbahn-Debatten in St. Petersburg und Moskau gerichtet. Stimmen politischer Akteure aus der russischen Provinz bzw. den Randgebieten des Vielvölkerreiches finden nur am Rande Berücksichtigung. Auch wenn sich an der Diskussion über den Bau und die Struktur des russischen Eisenbahnnetzes eine Vielzahl von Personen aus allen Landesteilen beteiligte, wurden die Entscheidungen, welche neuen Strecken zu bauen sind bzw. welche (staatlichen oder privaten) Gesellschaften entsprechende Konzessionen erhalten sollten, stets zentral von der Reichsregierung getroffen. Die politische Auseinandersetzung um den Eisenbahnbau im Zarenreich, die zu den wichtigsten gesellschaftspolitischen Debatten des 19. Jahrhunderts zählte, bündelte sich daher in aller Regel in den Diskussionen, die in der Presse, den Clubs und Salons der beiden Hauptstädte geführt wurden. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Frage, welche Vorstellungen von der räumlichen Ordnung Russlands, welche „Repräsentationen des Raums“ (Lefèbvre) den (konkurrierenden) Visionen der Planer des russländischen Eisenbahnnetzes jeweils zugrunde lagen. Gefragt wird zum einen danach, welche Regionen und Orte als Ziel- bzw. Knotenpunkte des Schienennetzes imaginiert wurden. Zum anderen wird der Blick auf Entwicklungsmodelle sozialräumlicher Ordnung gerichtet, die für die Entwürfe der russischen Verkehrsstrategen richtungsweisend waren. Schwer zu lösen bleibt dabei das Problem der Interdependenz von Debatten über die verkehrstechnische Erschließung des Landes auf der einen und allgemeinen Diskursen über territorial-räumliche Strukturen des Zarenreiches bzw. deren Wandel auf der anderen Seite. Bei der Formulierung ihrer Konzepte zur Vernetzung Russlands mit Eisenbahnen wurden Verkehrsplaner und -politiker nicht nur von konkurrierenden Interessen, sondern auch von divergierenden Vorstellungen über Russlands territorial-räumliche Strukturen geleitet. Gleichzeitig trug der Ausbau des Eisenbahnnetzes im Zarenreich selbst zur Veränderung kognitiver Karten der russischen Elite bei. In welchem Maße die „Karten im Kopf“ Pläne für die verkehrstechnische Erschließung des Landes prägten bzw. ob und wie die infrastrukturelle Vernetzung wiederum zu einer Veränderung entsprechender Raumbilder beitrug, das ist eine Frage, die ähnlich schwer zu beantworten ist wie jene nach der „Henne und dem Ei“.1 Dass das Sprechen über den Bau von Eisenbahnen und die zunehmende verkehrstechnische Erschließung des Zarenreiches im 19. Jahrhundert zu einer deutlichen Dynamisierung von Raumbildern im gesellschaftlichen Bewusstsein geführt hat, steht dabei jedoch außer Frage. 1
Die Frage, in wiefern technische Entwicklung (technical change) gesellschaftlichen Wandel determiniert bzw. selbst als Ergebnis dieser sociotechnical transformation angesehen werden muss, wird in technikhistorischen Debatten kontrovers diskutiert. Vgl. Erik van der Vleuten: Infrastructures and Societal Change. A View from the Large Technical Systems Field, in: Technology Analysis & Strategic Management 16 (2004), S. 395–414, hier S. 402 und 406ff.
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2.1. DIE VERKLEINERUNG DES POLITISCHEN RAUMS Als am 27. September 1825 die erste öffentliche dampfgetriebene Eisenbahn von Stockton nach Darlington rollte, erreichte die Kunde von diesem historischen Ereignis auch bald die Metropolen des Russländischen Reiches. Schon 1826 berichteten der Moskovskij telegraf und das St. Petersburger Žurnal manufaktur i torgovli über Details der technischen Anlage und stellten ihren Lesern Werke englischer Eisenbahningenieure vor.2 Auch am St. Petersburger Institut des Korps der Ingenieure der Verkehrswege (Institut Korpusa inženerov putej soobščenija) war das Interesse für die Innovation auf dem Gebiet des Transportwesens von Anbeginn groß. Nach seiner Rückkehr von einer Studienreise nach England im Jahre 1830 berichtete der Mathematiker und Ingenieur Gabriel Lamé seinen Petersburger Kollegen begeistert von seiner Zugfahrt von Liverpool nach Manchester. Besonders die Geschwindigkeit und die Wirtschaftlichkeit des neuen Verkehrsmittels hatten es dem Gelehrten angetan.3 Es dauerte nicht lange, bis sich auch im Zarenreich Stimmen für den Bau öffentlicher Eisenbahnen aussprachen.4 Einer der ersten, der für die Errichtung einer Bahnlinie in Russland plädierte, war der Petersburger Physikprofessor Nikolaj Prokof’evič Ščeglov. 1830 veröffentlichte der Sekretär der Kaiserlichen Freien Ökonomischen Gesellschaft (IVĖO) in der Zeitschrift Severnyj muravej. Gazeta promyšlennosti eine kurze Abhandlung Über die Eisenbahnen und ihre Vorteile gegenüber gewöhnlichen Straßen und Kanälen, in der er unter anderem den Bau einer Schienenverbindung von Tver’ nach Novgorod bzw. bis nach St. Petersburg anregte.5 In diesem Text, der den Beginn einer öffentlichen Debatte über Eisenbahn und Raum im Zarenreich markiert, zeichnen sich bereits wichtige Merkmale eines spezifischen Bildes vom eigenen Territorium ab, das den frühen russischen Eisenbahndiskurs prägen sollte. Ščeglovs Blick auf sein Land war vor allem davon geprägt, dass er die Eisenbahn noch ausschließlich als ein Mittel des Gütertransportes betrachtete und die Möglichkeit des Personenverkehrs auf der Schiene noch nicht in Erwägung zog. 2
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Kraskovskij (Hg.), Istorija železnodorožnogo transporta Rossii, Bd. 1, S. 29. Über die Rezeption der Nachricht von der ersten Eisenbahn in England im Moskovskij telegraf (z.B. durch Puškin): Michail P. Alekseev: Puškin. Sravnitel’no-istoričeskie issledovanija, Leningrad 1972, S. 143. Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 29. – Zur Geschichte der Bahnlinie ManchesterLiverpool vgl. u.a.: Ben Marsden, Crosbie Smith: Engineering Empires. A Cultural History of Technology in Nineteenth-Century Britain, Houndmills 2005, S. 136–145. Noch vor der Einweihung der ersten dampfbetriebenen Eisenbahn im Jahre 1837 waren in Russland (von Pferden gezogene) Eisenbahnen im Bergbau und in Fabriken der Metallverarbeitung in Betrieb. 1834 kam die erste dampfbetriebene Eisenbahn in der Metallhütte der Dimidovs in Nižnij Tagil’ (Uralgebiet) zum Einsatz. Vgl. dazu: Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 25 und ausführlich: Viktor S. Virginskij: Pervaja železnaja doroga v Rossii, in: Voprosy istorii estestvoznanija i techniki, 1987, N. 4, S. 125–133. Nikolaj Prokof’evič Ščeglov: O železnych dorogach i preimuščestve ich nad obyknovennymi dorogami i kanalami, SPB 1830. Wiederabgedruckt in: Severnyj muravej. Gazeta promyšlennosti, 1830, Nr. 1, S. 4–5; Nr. 2, S. 14–15. – Zur Person Ščeglovs und zur Rezeption seiner Schrift in Russland: Alekseev, Puškin, S. 144–148.
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Dementsprechend nimmt der Autor das Zarenreich in erster Linie als Wirtschaftsraum bzw. Binnenmarkt in den Blick. Dieser sei, so Ščeglov, von deutlichen regionalen Disparitäten geprägt: Gouvernements, die Agrargüter im Überfluss produzieren und solche, in denen Mangel und hohe Preise herrschen, seien durch Wasserwege und schlechte Straßen nur unzureichend miteinander verbunden. Angesichts der unterentwickelten Wege und der „unüberblickbaren Ausdehnung seiner Länder“6 sei Russland geradezu prädestiniert für den Bau von Eisenbahnen. Russland werde zwar, so räumte Ščeglov ein, von „einigen großen schiffbaren Flüssen in unterschiedlicher Richtung durchschnitten“7. Allerdings gebe es nur wenige Wasserwege, die das ganze Jahr über passierbar seien. Die dadurch bedingte regelmäßige Unterbrechung der Warenströme führe zu großen saisonalen Preisschwankungen auf den Petersburger Märkten. Ein wesentlicher Vorteil des neuen Verkehrsmittels sei es, dass es unabhängig von Witterung und Jahreszeit betrieben werden könne. Wenn es gelänge, so Ščeglov, durch den Bau von Eisenbahnen die Missstände im russischen Verkehrswesen zu beseitigen, ließen sich nicht nur die Marktpreise stabilisieren, sondern zugleich das Volumen der transportierten Güter und die wirtschaftliche Aktivität (promyšlennost’) des ganzen Landes steigern. Ščeglovs Hinweis, dass Russland aufgrund seiner Größe ein ideales Land für den Eisenbahnbau sei, ist vor allem deshalb interessant, weil er in seinem Text nur für die Errichtung einer relativ kurzen Bahnlinie von der Wolga (Tver’) bis nach Novgorod bzw. zum Ostseehafen St. Petersburgs plädierte. Die Konstruktion eines an den Städten orientierten russländischen Eisenbahnnetzes wurde von ihm noch nicht in Erwägung gezogen.8 Vielmehr schlug er perspektivisch den Bau von Zubringerbahnen aus einzelnen Gouvernements zu den Anlegern der großen Wasserstraßen des Landes vor, die er nach wie vor als die wichtigsten Transportwege des russischen Binnenhandels betrachtete. Wie viele andere russische Eisenbahntheoretiker sah auch Ščeglov im neuen Verkehrsmittel eher eine Ergänzung als eine Alternative zu den traditionellen Wasserstraßen. Dass die Eisenbahn eventuell helfen könne, den russischen Binnenmarkt mit ausländischen Märkten – entweder auf direktem Wege oder über die nun leichter erreichbaren Wasserwege – zu verbinden und so den Export von Agrargütern zu fördern, lag noch außerhalb der Vorstellungswelt des Gelehrten. Während Ščeglov den Bau von Eisenbahnen in Russland noch als eine Art akademisches Gedankenspiel betrieb, wurden Anfang der 1830er Jahre von verschiedener Seite auch ganz konkrete Projektideen bei der Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude zur Prüfung eingereicht.9 Alle Vorschläge 6 7 8
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Ščeglov, S. 5. Ščeglov, S. 5. Der erste Entwurf eines russländischen Eisenbahnnetzes stammt offenbar von Nikolaj Semenovič Mordvinov, der Nikolaus I. im Jahr 1827 seine Überlegungen zur Entwicklung der Verkehrswege im Zarenreich darlegte. Vgl. dazu Virginskij, Vozniknovenie, S. 15. Vgl. dazu ausführlich: Viktor S. Virginskij: Bor’ba vokrug podgotovki russkoj železnodorožnoj magistrali Peterburg-Moskva, in: Istoričeskie zapiski 32 (1950), 67–95. Zu einzelnen Vorschlägen: ders., Vozniknovenie, S. 19f. und Haywood, Beginnings, S. 69f.
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scheiterten jedoch am erbitterten Widerstand der konservativen Kräfte in der Bürokratie. Insbesondere der französische Ingenieur Moris Gugonovič Destrem, Vorsitzender und einflussreiche Persönlichkeit im Rat der Verkehrsbehörde, sprach sich entschieden gegen die Errichtung von Eisenbahnen und für den Ausbau des Kanalsystems im Zarenreich aus.10 Dieser skeptischen Haltung schlossen sich sowohl der Leiter der Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude Karl Fedorovič Tol’ (Toll), als auch der Finanzminister Egor Francevič (Georg von) Kankrin an.11 Destrem argumentierte, dass Russland aufgrund seines rauen Klimas für den Bau von Eisenbahnen ungeeignet und das neue Verkehrsmittel dem billigeren Warentransport auf dem Wasser unterlegen sei. Bewegung kam in die russische Eisenbahndebatte, als der österreichische Ingenieur Franz Anton von Gerstner am 6. Januar 1835 in einem Memorandum Kaiser Nikolaus I. seine Vision eines russländischen Schienennetzes darlegte.12 Gerstner, der am Bau der Bahnlinien von Budweis nach Linz und von der Donau an die Moldau beteiligt war, hatte 1834 eine Reise von Moskau nach Kazan’ und in den Ural unternommen, um den Bergbau im Zarenreich zu studieren. Als der ehemalige Professor am Wiener Polytechnischen Institut im September 1834 bei einer Audienz vom generellen Interesse Nikolaus’ I. am Projekt einer Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau erfuhr, nutzte er die Gelegenheit, dem Zaren gleich den Entwurf eines ganzen Eisenbahnnetzes zu unterbreiten. Gerstners ehrgeiziges Projekt, neben der Bahnstrecke zwischen den beiden Hauptstädten auch noch eine Linie von Moskau nach Nižnij Novgorod bzw. Kazan’ und von Moskau nach Taganrog am Azovschen Meer zu bauen, scheiterte zwar am Widerstand der zarischen Bürokratie, die vor allem Zweifel an der Finanzierbarkeit des Vorhabens mit privatem Kapital anmeldete.13 Auch wenn Gerstner schließlich nur die Konzession für den Bau einer relativ kurzen Teststrecke von St. Petersburg in die Zarenresidenzen von Carskoe Selo und Pavlovsk erhielt, trugen seine 1835 utopisch anmutenden Projektskizzen maßgeblich zur Ausweitung des russländischen Eisenbahndiskurses bei.14 Mit seinem Netzentwurf war er ganz auf der Höhe sei10
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Moris Gugonovič Destrem: Obščie suždenija ob otnostitel’nych vygodach kanalov i dorog s kolejami i priloženie vyvodov k opredeleniju udobnejšego dlja Rossii sposoba perevozki tjažestej, in: Žurnal putej soobščenija, 1831, Nr. 21, S. 1–90. – Zu Destrem vgl. Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 30; Virginskij, Vozniknovenie, S. 16; Haywood, Beginnings, S. 70. Pavel P. Mel’nikov: Svedenija o russkich železnych dorogach, in: M. I. Voronin (u.a.) (Hg.): P. P. Mel’nikov. Inžener, učenyj, gosudarstvennyj dejatel’, Sankt Peterburg 2003, S. 223– 398, hier S. 232f., 241f., 270ff.; William L. Blackwell, The Beginnings of Russian Industrialization 1800–1860, Princeton 1968, S. 272–274; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 30; Haywood, Beginnings, S. 70. Zum Folgenden: Haywood, Beginnings, S. 74–91; Virginskij, Vozniknovenie, S. 21f.; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 32–34; Solov’eva, Železnodorožnyj transport Rossii, S. 38– 40; Kislinskij (Hg.), Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 2–15; Michail Ivanovič Voronin, M. M. Voronina: Franc Anton Gerstner 1793–1840, Sankt Peterburg 1994. Haywood, Beginnings, S. 81–83. Gerstners Memorandum ist indirekt in Form eines Berichts des Grafen K. F. Toll vom 17.2.1835 überliefert: Zapiska glavnoupravljajuščego putjami soobščenijami gr. K. F. Tolja, 17 fevralja 1835 g., in: Krasnyj Archiv 3 (76) 1936, S. 90–98, insbes. S. 90–92. Vgl. auch:
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ner Zeit, bedenkt man, dass Friedrich List seinen berühmten Netzplan für Deutschland erstmals im Jahr 1833 skizzierte.15 Eine wichtige Neuerung, die Gerstner in die russische Verkehrsdebatte einbrachte, war, dass er das Zarenreich, anders als noch Ščeglov, nicht primär als ökonomischen Raum und Binnenmarkt beschrieb, sondern das Land zugleich als Herrschafts- und politischen Kommunikationsraum in den Blick nahm. In seinem Memorandum vom 6.1.1835 legte er dar, dass der Bau von Eisenbahnen nicht zuletzt den Transport von Post und Truppen innerhalb des Zarenreiches erleichtern werde. Sein Hinweis, dass man in England positive Erfahrungen mit der Verlegung von Soldaten über die Bahnlinie von Manchester nach Liverpool zur Niederschlagung von Unruhen (bezpokojstvie) in Irland gemacht habe, sollte vermutlich als Anspielung auf vergleichbare Einsatzgebiete im Russländischen Reich – insbesondere im Königreich Polen – gedeutet werden.16 Gerstner führte aus, dass eine Bahnlinie von Petersburg nach Moskau die Verlegung größerer Truppenkontingente innerhalb von zwei bis drei Tagen ermögliche.17 Wie Ščeglov betonte auch Gerstner, dass sich Russland aufgrund der Größe seines Territoriums und seines unterentwickelten Wegenetzes für den Bau von Eisenbahnen besonders anbiete. Das Zarenreich verfüge über die wenigsten „Kunststraßen von allen europäischen Staaten“ und stehe nun vor der Wahl, in den Bau von Chausseen oder gleich in die modernere Verkehrstechnik der Eisenbahn zu investieren.18 Für ein großes Land wie Russland biete die Eisenbahn vor allem den Vorteil, dass sie durch „schnelle Kommunikation“ weite Distanzen reduziere.19 Die Eisenbahn helfe, das Territorium gleichsam zu verkleinern und so leichter zu beherrschen. Damit führte Gerstner den im westlichen Eisenbahndiskurs bereits etablierten Topos in die russische Debatte ein, die Größe des geografischen Raums lasse sich mit Hilfe der Eisenbahn reduzieren.20 Gerstner betonte:
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Franz Anton von Gerstner: Über die Vortheile der Anlage einer Eisenbahn von St. Petersburg nach Zarskoe-Selo und Pawlowsk, deren Ausführung durch eine Aktiengesellschaft mit Allerhöchstem Privilegium Seiner Kaiserlichen Majestät statt findet, Sankt Petersburg 1836. Friedrich List: Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden [1833], in: ders.: Werke, Bd. 3: Schriften zum Verkehrswesen. 1. Teil: Einleitung und Text, hg. von Erwin v. Beckerath u. Otto Stühler, Berlin 1929, S. 155–195. List geht in diesem Text übrigens auch auf eine frühere Publikation von Gerstners (Über die Vorteile der Unternehmung einer Eisenbahn zwischen der Moldau und Donau, 1829) ein. Vgl. ebd., S. 178–181. Zapiska glavnoupravljajuščego, S. 90. In seiner Schrift Mémoire sur l’avantage de l’introduction des chemins de fer en Russie vom 20.4.1835 wies Gerstner darauf hin, dass eine Eisenbahn Russland in vergangenen Kriegen gegen die Türken, Perser und Polen sehr genützt hätte. Vgl. Dazu: Haywood, Beginnings, S. 87. Zum Einsatz der Eisenbahn als Mittel des Truppentransportes in England in den 1830er und 1840er Jahren: Robbins, The Railway Age, S. 122f. Zapiska glavnoupravljajuščego, S. 92. Gerstner, Über die Vortheile, S. 18, 65. Gerstner, Über die Vortheile, S. 6. Zur Verbreitung dieses Topos’ im Westen Europas: Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 35–39; Freeman, Railways and the Victorian Imagination, S. 78.
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„In keinem anderen Land der Erde erscheint [der Bau von] Eisenbahnen so lohnend und so notwendig, wie in Russland: denn sie verkürzen große Entfernungen mittels der Geschwindigkeit der Fahrt. Die Wohltaten, welche die Kaiserliche Hoheit seinen Untertanen widerfahren lässt, werden erst dann ihre von seiner Majestät erwünschte Wirkung in einem so unermesslich großen Land wie Russland entfalten, wenn die Befehle des Herrschers aus Petersburg mit der Eisenbahn innerhalb von drei Tagen Kazan’ oder Odessa erreichen.“21
Auffallend an Gerstners Vision eines russischen Schienennetzes ist schließlich, welch große Bedeutung er den USA als Vorbild auf dem Gebiet des Eisenbahnbaus zumaß. Neben England habe Amerika rasch die Bedeutung des neuen Verkehrsmittels erkannt. Inzwischen müsse man die Vereinigten Staaten sogar als „das wahre Vaterland der Eisenbahnen“ bezeichnen.22 Das amerikanische Beispiel widerlege nicht nur die Behauptung, dass der Bau und der Betrieb von Eisenbahnen in Russland aus klimatischen Bedingungen unmöglich seien. Zudem könnten „dieselben Vorteile, welche die Amerikaner in dem ungeheuren Unionsgebiete von der Einführung der Eisenbahnen erlangten [...] auch dem unermesslichen russischen Reiche zu Teil werden.“23
Einen dieser „unberechenbaren Vorteile“ sah Gerstner darin, dass die Eisenbahn dem Ackerbau und Bergwesen, den Manufakturen sowie dem inneren und äußeren Handel diene, und dadurch „den gesamten Wohlstand aller Klassen der Gesellschaft“ heben werde.24 Noch wichtiger fand Gerstner jedoch, und das war seine zentrale Botschaft, dass der Bau des Schienennetzes die territoriale Integration des Zarenreiches entscheidend befördern werde: „Für Russland sind Eisenbahnen so notwendig wie für Nordamerika; dort haben die Landeseinwohner begriffen, dass der größte Feind der Union der Raum und die Zeit sind, und dass beide nur durch Eisenbahnen bezwungen werden können; auch hier können also [...] solche Bahnen nicht [bloß] die eiserne, sondern eine goldene Kette bilden, welche alle Teile des mit Recht sogenannten unermesslichen Reiches mitsammen verbindet.“25
Auch wenn sich die Diskussionen innerhalb der Bürokratie des Zarenreiches über Gerstners Eisenbahnprojekt nicht mehr lückenlos rekonstruieren lassen, liegt die Vermutung nahe, dass Nikolaus I. vor allem jenen Argumente aufgeschlossen gegenüber stand, die auf den politischen und militärischen Nutzen des neuen Verkehrsmittels abzielten. Trotz seiner Zweifel an der Finanzierbarkeit des Verkehrsprojektes, das von Gerstner präsentierte, war der Kaiser generell vom „Nutzen dieses Vorhabens“, d.h. der Eisenbahnen, überzeugt.26 Auch das zur Prüfung 21
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Zapiska glavnoupravljajuščego, S. 92. – An anderer Stelle betonte Gerstner, geografische Distanz lasse sich mit Hilfe der Eisenbahn „auf den vierten Theil der bisherigen Entfernung” reduzieren. Ders., Über die Vortheile, S. 39. Gerstner, Über die Vortheile, S. 16. Gerstner, Über die Vortheile, S. 18. Gerstner, Über die Vortheile, S. 6. Gerstner, Über die Vortheile, S. 65. Vermerk Nikolaus’ I. auf Gerstners Mémoire sur l’avantage de l’introduction des chemins de fer en Russie vom 20.4.1835. Zit. nach: Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 5. Vgl. auch Verchovskij, Istoričeskij očerk razvitija železnych dorog v Rossii, Bd. 1, S. 29.
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von Gerstners Ideen eingerichtete staatliche Komitee hob in seinem Bericht vom 28. Februar 1835 insbesondere den zu erwartenden Nutzen der Eisenbahn für den Truppentransport innerhalb des Zarenreiches hervor.27 Allerdings erhoben sich innerhalb der Bürokratie auch Stimmen, die vor den Gefahren des Eisenbahnbaus für die politische Ordnung der Autokratie warnten. Insbesondere Finanzminister Georg von Kankrin stand dem neuen Verkehrsmittel kritisch gegenüber.28 Während Gerstner die „wohltätigen Folgen“ betonte, „welche die Erleichterung der Kommunikation [durch den Bau der Eisenbahn] in anderen Ländern nach sich führte“29, warnte Kankrin vor „allzu großer Communicabilität“, die die Eisenbahn befördere.30 Das neue Verkehrsmittel sei, so Kankrin, „mehr ein Übel als ein Glück“, sie mache die „ohnedies [...] nicht genug stete Bevölkerung noch unsteter“ und trage zur „Nivellierung der Stände bei, worüber sich im Interesse der so notwendigen gesellschaftlichen Hierarchie manches sagen ließe.“31 Kankrin gab sich überzeugt, dass „alle verständigen Leute im Auslande [...] der Meinung seien, dass sie [die Eisenbahn] nichts einbringen, die Moralität verderben und Kapitalien totschlagen würde, die besser [für einen anderen Zweck] verwendet werden könnten.“32 Auch der Leiter der Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude Graf Toll warnte davor, dass sich demokratische Ideen durch Reisende in Fernzügen leichter verbreiten und so zur Destabilisierung der autokratischen Ordnung beitragen könnten.33 Pavel Mel’nikov vermutet, dass Toll in diesem Punkt auf die Schriften des französischen Ökonomen Mi-
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Vgl. Haywood, Beginnings, S. 81. In den Beratungen über Gerstners Vorschläge im Februar 1835 wies Kankrin u.a. auf den zu erwartenden ökonomischen Schaden des Eisenbahnbaus für Fuhrleute und das Fährwesen hin. Vgl. Blackwell, Beginnings, S. 273; Haywood, Beginnings, S. 82; Mel’nikov, Svedenija, S. 242, 349. – Zu Kankrin als Gegner der industriellen Entwicklung Russlands im Allgemeinen vgl. Blackwell, Beginnings, S. 140–144. Gerstner, Über die Vortheile, S. 6. Aus den Reisetagebüchern des Graf Georg Kankrin ehemaligen Kaiserlich Russischen Finanz-Ministers, aus den Jahren 1840 – 1845. Mit einer Lebensskizze Kankrin's nebst zwei Beilagen hg. von Alexander Graf Keyserling, Braunschweig 1865, 1. Teil, S. 23 (Tagebucheintrag vom 15./27. Juni 1840). Aus den Reisetagebüchern des Graf Georg Kankrin, Teil 1, S. 23 (15./27. Juni 1840) und S. 141 (Eintrag vom 26.9./8.10.1840). Aus den Reisetagebüchern des Graf Georg Kankrin, Teil 1, S. 271 (Eintrag vom 16./28.8.1841). Zu Kankrins Eisenbahn-Kritik in Die Oekonomie der menschlichen Gesellschaften (Stuttgart 1845) vgl. Michail I. Tugan-Baranovsky, Geschichte der russischen Fabrik, in: Sozialgeschichtliche Forschungen. Ergänzungshefte zur Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Stephan Bauer, Ludo Moritz Hartmann, Hefte 5/6, Berlin 1900, S. 364. Vgl. Virginskij, Bor’ba, S. 74; Mel’nikov, Svedenija, S. 275; Blackwell, Beginnings, S. 274. – In Reaktion auf den Vorschlag Nikolaus I. Ende der 1830er Jahre, eine Eisenbahn von St. Petersburg nach Rybinsk zu bauen, entgegnete Toll, dass es sich bei dem neuen Verkehrsmittel um “die demokratischste Institution handele, die man sich für die Transformation einer Gesellschaft vorstellen könne”. Zit. nach Haywood, Beginnings, S. 180.
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chel Chevalier anspielte, der auf die Bedeutung der Eisenbahn als Instrument zur Verbreitung demokratischer Ideen hingewiesen hatte.34 Sowohl die Argumente Franz Anton von Gerstners als auch jene seiner Kritiker, von Kankrin und Toll, zielten darauf ab, Russland nicht primär als ökonomischen, sondern stärker als politischen Raum zu beschreiben. Während der Ingenieur aus Wien auf das Potential der Eisenbahn als autokratisches Herrschaftsinstrument hinwies, warnten die Skeptiker vor den Folgen einer gesteigerten Mobilität der Menschen für die politische Ordnung des Landes. Während Ščeglov die Eisenbahn noch ausschließlich als Transportmittel des Güterverkehrs beschrieben hatte, wurden durch Gerstner und die Diskussion, die sein Verkehrsprojekt in der Bürokratie und in der russischen Öffentlichkeit auslöste35, auch der Personen- und der Nachrichtenverkehr auf der Schiene ins Blickfeld gerückt. Im Gegensatz zu Gerstner, der argumentierte, die Eisenbahn könne zur Stärkung der Macht des politischen Zentrums in St. Petersburg über die imperiale Peripherie (z.B. Polen, 34
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Mel’nikov, Svedenija, S. 231, Haywood, Beginnings, S. 180, Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 44. – Der „Saint-Simonist“ Michel Chevalier (1806–1879), mit dessen Schriften Mel’nikov und die anderen Vertreter der ersten Generation russischer Verkehrswegeingenieure vertraut waren, betrachtete die Eisenbahn als „eine der größten Wohlthaten, welche die Wissenschaft […] der menschlichen Gesellschaft in neueren Zeiten erwiesen hat” und die Eisenbahnen als “die großen Heerstraßen der Zivilisation”. Vgl. Michel Chevalier: Die Eisenbahnen im Vergleich mit den Wasserstraßen, Stuttgart 1838, 1, 3, 36. In einer Studie über die Eisenbahnen in den USA argumentierte er, dass das neue Verkehrsmittel nicht nur zu einer Reduzierung geografischer Distanz beitrage, sondern zugleich helfe, Schranken zwischen den Klassen zu überwinden und somit die Demokratie befördere. Vgl. Lettres sur l’Amérique du Nord, Paris 1837, Bd. 2, S. 98, 421, zit. bei: Alfred Rieber: The Rise of Engineers in Russia, in: Cahiers du Monde Russe et Soviétique 31 (1990), S. 539–568, hier S. 556. Zu Visionen Chevaliers, Europa (u. Russland) mit Eisenbahnen zu vernetzen: Armand Mattelart: Mapping World Communications. War, Progress, Culture, Minneapolis 1994, S. 33–35; ders.: L’invention de la communication, Paris 21997, S. 121–124. Ob die programmatische Schrift Chevaliers Système de la Méditerranée aus dem Jahr 1832, in der er die Eisenbahn als Instrument der „Zivilisierung“ Russlands und der Integration des „rückständigen“ Landes in ein „beschleunigtes“ Europa beschwört, im Zarenreich rezipiert wurde, ist unbekannt. Dass die erste Generation russischer Ingenieure der Verkehrswege jedoch vom Gedankengut Chevaliers beeinflusst war, legt folgendes Zitat aus Briefen Matvej Stepanovič Volkovs, eines Absolventen des Instituts des Korps der Ingenieure der Verkehrswege aus den 1840er Jahren, nahe: „In der Geschichte gibt es von nun an zwei große Epochen der Umgestaltung der Gesellschaft: jene der Christianisierung und die der Einführung der Eisenbahn. Während das Evangelium die allgemeine Verbrüderung zwischen den Menschen predigt, stellt die Eisenbahn das Instrument dar, um dieses Ziel zu erreichen.“ M. S. Volkov: Iz zagraničnych pisem. 1844–1848, Sankt Peterburg 1857, S. 5f. zit. nach: Gradostroitel’stvo Rossii serediny XIX – načala XX veka, Bd. 1, S. 88f. In ähnlicher Form äußerte sich Vissarion Belinskij in seinen Gedanken und Bemerkungen über die russische Litaratur aus dem Jahr 1846 zum neuen Verkehrsmittel. Die Eisenbahn, so Belinskij, werde „Menschen aller Stände und Klassen verbinden“ und „unwillkürlich alle scharfen und unnötigen Unterschiede ausglätten“. Zit. nach: Wolfgang Gesemann: Zur Rezeption der Eisenbahn durch die russische Literatur, in: Slavistische Studien zum VI. Internationalen Slavistenkongress in Prag, 1968, hg. von Erwin Koschmieder, München 1968, S. 349–371, hier S. 359. Zur öffentlichen Diskussion über Gerstners Projekt vgl. Haywood, Beginnings, S. 137f.
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Kazan’, Odessa) beitragen, spricht aus den Stimmen der Skeptiker die Angst, das neue Verkehrsmittel würde eher den Austausch zwischen den Randgebieten des Reiches befördern und dadurch die Macht des Zentrums schwächen. Bereits in dieser frühen Phase des russischen Eisenbahndiskurses zeichnete sich also ein Verständnis für die Ambivalenz jenes gesellschaftspolitischen Prozesses ab, der mit der verkehrstechnischen Erschließung des Zarenreiches durch das neue Verkehrsmittel einhergehen sollte. Gerstners These, mit Hilfe der Eisenbahn ließe sich das gewaltige Territorium des Zarenreiches „verkleinern“, wurde schnell zu einem Allgemeinplatz in der öffentlichen Debatte um das neue Verkehrsmittel. In seiner Projektskizze für den Bau einer Schienenverbindung zwischen Moskau und St. Petersburg, die Aggej V. Abaza Zar Nikolaus I. im März 1838 übermittelte, hob der Moskauer Kaufmann hervor, dass die Eisenbahn den Menschen in Russland helfen werde, kostbare Zeit zu sparen und dadurch „Entfernung zu vernichten (uničtožajuščaja rasstojanie)“.36 Dies sei für Russland nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern auch hinsichtlich der peripheren Lage der Hauptstadt St. Petersburg bedeutsam. Ohne die Entscheidung Peters I. zu kritisieren, das politische Zentrum des Reiches in den äußersten Nordwesten des Landes zu verlegen, war Abaza von der Möglichkeit fasziniert, St. Petersburg mit Hilfe der Eisenbahn „näher an Russland heranzurücken“.37 Die Dampfkraft werde die Hauptstadt „mit starker Hand in das Zentrum des Staates verschieben“ und „Moskau zu unserem wichtigsten Hafen und St. Petersburg zum [geografischen] Mittelpunkt des Landes“ machen.38 Ähnliche Gedanken zur Veränderung der russischen Geografie durch den Bau von Eisenbahnen finden sich auch in den frühen Schriften des Ingenieurs und späteren Verkehrsministers Pavel Petrovič Mel’nikov, der im Juni 1837 zu einer 15monatigen Reise nach Westeuropa entsandt worden war, um dort die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet des Verkehrswesens zu studieren.39 In der Kurzfassung seines Reiseberichtes hielt er fest: „Eisenbahnen unterscheiden sich von anderen Wegen des Binnenverkehrs vor allem durch den Vorteil der Geschwindigkeit. Das Territorium eines Staates, der über ein vollständiges 36
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Aggej Vasil’ev Abaza: Proekt učreždenija akcionernogo obščestva ustrojstva železnoj dorogi ot S.Peterburga do Moskvy, 21.3.1838, in: Krasnyj Archiv 3 (76) 1936, S. 107–119, hier S. 119. Vgl. dazu u.a. Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 49; Haywood, Beginnings, S. 164– 169; Mel’nikov, Svedenija, S. 265–269; Virginskij, Bor’ba, S. 70–73. Abaza, Proekt, S. 107. Abaza, Proekt, S. 108, 118. – Ähnliche Gedanken finden sich im Netzentwurf von Aleksandr Safonov, den dieser 1839 in der Zeitschrift Syn otečestva vorstellte. Ders.: Ob ustrojstve v Rossii železnych dorog, in: Syn otečestva IX (1839), Sec. III, 138–151. Safonov beschwor in seinem Projektentwurf die Größe Russlands, dessen Territorium „ein Siebtel der Erdkugel“ abdecke und leitete daraus die These ab, dass in keinem anderen Land der Bau von Eisenbahnen so nötig sei wie im Zarenreich. Eine der drei von ihm vorgeschlagenen Strecken sollte St. Petersburg mit Moskau und der Wolgastadt Saratov verbinden und so zu einer „Annäherung (sbliženie)“ der Hauptstadt an die ökonomisch produktiven Gegenden des Landes beitragen. Ebd. S. 140f. Vgl. dazu: Michail Ivanovič Voronin; M. M. Voronina: Pavel Petrovič Mel’nikov 1804– 1880. Leningrad 1977, S. 30f.
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Eisenbahnnetz verfügt [und] auf dem die Züge zum Beispiel vier Mal schneller fahren als gewöhnliche Postkutschen, wirkt dadurch in administrativer und verkehrstechnischer Hinsicht wie auf einen 16. Teil verkleinert. [...] Die Entfernungen verschwinden sozusagen durch die Geschwindigkeit der Lokomotiven und Dampfmaschinen.“40
Mel’nikov war maßgeblich an der Formulierung des staatlichen Bauvorhabens der Bahnlinie von Moskau nach St. Petersburg beteiligt, über das Anfang der 1840er Jahre innerhalb der zarischen Bürokratie intensiv diskutiert wurde. Das Argument Abazas aufgreifend, unterstrichen die Befürworter dieses Projekts in ihrem Bericht vom 15. September 1841, dass die Magistrale nicht zuletzt zu einer Annäherung (sbliženie) St. Petersburgs an die inneren Gouvernements Russlands führen werde:41 „In der heutigen Situation kann St. Petersburg nur das Haupt Russlands sein; wenn die Stadt [jedoch erst] durch eine Eisenbahn mit Moskau verbunden ist, werden beide gemeinsam das russische Herz bilden.“42
Durch die Anbindung an das geografische Zentrum Russlands sei zu erwarten, dass St. Petersburg noch „russischer“ werde (bolee obruseet) und dies zum größten Nutzen und Ruhme des ganzen Landes.43 Die Planungskommission hob hervor, dass Russland mehr als jeder andere „geordnete Staat“ am „Übermaß [geografischer] Ausdehnung“ und an seinem unterentwickelten Wegenetz leide und daher vom Eisenbahnbau besonders profitieren könne.44 Den Skeptikern in der Bürokratie, die vor dem „schädlichen ausländischen Geist“ warnten, den die Eisenbahn „in das Herz Russlands“ tragen werde, hielt das Komitee entgegen, dass
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Pavel Petrovič Mel’nikov: Ob otnositel’nych vygodach različnych sistem vnutrennych soobščenij, in: Žurnal putej soobščenija, Bd. 3, 1840, S. 207–227, hier S. 220, 225. Vgl. auch: Mel’nikov, Svedenija, S. 229f. – Die Vorstellung, dass sich das Territorium eines Landes mit Hilfe des neuen Verkehrsmittels verkleinern lasse, war ein feststehender Topos im westlichen Eisenbahndiskurs. Vgl. z.B. Chevalier, Eisenbahnen, S. 2. Bericht des sogenannten Benckendorff-Komitees über Kosten und Nutzen des Verkehrsprojektes: Vsepoddannejšee donesenie o proekte ustroenija železnoj dorogi meždu S. Peterburgom i Moskvoj 1841 goda, in: Voronin (u.a.): P. P. Mel’nikov, S. 152–176, hier S. 176. Vsepoddannejšee donesenie o proekte, S. 176. – Von der Idee, die territorialen Koordinaten des Reiches mit Hilfe moderner Technik zu verschieben, war offenbar auch Nikolaus I. fasziniert. Kurz vor seiner Entscheidung, den Bau der Eisenbahn von St. Petersburg nach Moskau in Auftrag zu geben, soll der Kaiser am 25. Januar 1842 vor einer Delegation russischer Kaufleute gesagt haben: „Nach dem Bau der Eisenbahn wird St. Petersburg in Moskau und Moskau in Kronstadt sein!“ zit. nach: Blackwell, Beginnings, S. 262. Vgl. Schlusskapitel eines Berichtes, in dem das beauftragte Komitee versuchte, Einwände ihrer Kritiker zu entkräften: Oproverženie komissii, sostavivšej proekt S. PeterburgoMoskovskoj železnoj dorogi 1842 g. (24.12.1842), in: Voronin, Voronina (u.a.): P. P. Mel’nikov, S. 178–186, hier S. 186. – Der Topos, St. Petersburg habe sich dank der Anbindung durch die Eisenbahn in eine „noch stärker russische Stadt (gorod bolee russkij)” verwandelt, findet sich noch Ende des 19. Jahrhunderts in der geografischen Gesamtdarstellung Rossija. Polnoe geografičeskoe opisanie našego otečestva, hg. von Veniamin Petrovič Semenov-Tjan-Šanskij, Bd. 3, Sankt Peterburg 1900, S. 88f. wieder. Oproverženie komissii, S. 180.
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die bisherigen Erfahrungen derartige Befürchtungen nicht bestätigten.45 Im Gegenteil: „Indem sie zur Steigerung des Wohlstands, insbesondere des arbeitenden Standes, d.h. des größten Teils der Bevölkerung, beitragen, werden die Eisenbahnen überall als äußerst segensreiche Einrichtung wahrgenommen und können auf diese Art nur jene Gefühle stärken, die der Gesellschaft nützlich sind.“46
In diesem Zusammenhang gaben die Mitglieder des Planungskomitees zu bedenken, dass die Eisenbahn auch die Möglichkeit eröffne, Fabriken aus den städtischen Zentren aufs offene Land zu verlagern. Dies werde einer „unnötigen Konzentration von Fabrikarbeitern in den Hauptstädten“ entgegenwirken, welche als „schädlich für die Volksmoral“ angesehen werden müsse.47 Dieses Argument zielte auf die Angst der zarischen Bürokratie vor der industriellen Entwicklung des Landes bzw. der Entstehung eines schwer zu kontrollierenden Fabrikproletariats ab.48 Russland lasse sich, so das zentrale Argument der Befürworter des Verkehrsprojektes, durch den Bau der Eisenbahn nicht nur als ökonomischer, sondern auch als politischer Raum stabilisieren. Die Thesenführung der Befürworter des Eisenbahnbaus in Russland glich einem argumentativen Spagat. Auf der einen Seite beschworen sie das Verkehrsmittel als Zukunftstechnologie, die eine der „wichtigsten Epochen in der Geschichte der Menschheit“ einläute49 und die „ein zentrales Bedürfnis des gegenwärtigen Jahrhunderts, die Schnelligkeit, Pünktlichkeit und Bequemlichkeit der Verkehrsverbindungen“ befriedigen werde.50 Durch die Erleichterung im Verkehr werde die Eisenbahn die produktiven Kräfte des ökonomisch rückständigen Zarenreiches wecken und zur Belebung von Gewerbe und Handel beitragen.51 Auf der anderen Seite betonten die Befürworter der neuen Technologie, dass sich der angekündigte Epochenwandel nur im ökonomischen, nicht aber im politischen Raum vollziehen werde. Die Eisenbahn werde die Herrschaftsordnung der Autokratie nicht schwächen, sondern vielmehr zur Festigung der Macht des Zaren beitragen. Welche Gründe Nikolaus I. schließlich bewogen, am 1. Februar 1842 – gegen den Rat fast aller Minister – den Bau der Eisenbahn von St. Petersburg nach Moskau in Auftrag zu geben, ist in der Forschung umstritten.52 Pavel Mel’nikov, der 45
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Vor allem Innenminister Lev Alekseevič Perovskij warnte davor, dass sich durch die Eisenbahn in Russland leichter „fremde Ideen“ aus dem Ausland verbreiten könnten. Vgl. dazu Virginskij, Bor’ba, S. 85; Haywood, Beginnings, S. 224. Oproverženie komissii, S. 186. Vsepoddannejšee donesenie o proekte, S. 176. Zur Skepsis der russischen Führungselite der 1840er Jahre gegenüber der Industrialisierung des Landes: Tugan-Baranovsky, Geschichte der russischen Fabrik, S. 362–365. Mel’nikov, Ob otnositel’nych vygodach, S. 208. Vsepoddannejšee donesenie o proekte, S. 171. Oproverženie komissii, S. 180. Dieses Argument richtete sich gegen die These, dass sich die Eisenbahn nur in Ländern mit einer entwickelten Industrie lohnen würde und Russland als rückständiges Agrarland auf diese Verkehrswege verzichten könne. Vor dem Bau der staatlich finanzierten Strecke Moskau – St. Petersburg hatte Nikolaus I. bereits die mit privaten Mitteln gebauten Bahnprojekte von St. Petersburg nach Carskoe Selo
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an der entscheidenden Sitzung des Ministerrates am 13. Januar zwar nicht persönlich teilnahm, berichtet in seinen Erinnerungen, dass sich der Kaiser von dem Verkehrsprojekt vor allem die Belebung von Handel und Gewerbe im Zarenreich versprochen habe.53 Auch Richard Haywood weist darauf hin, dass Anfang der 1840er Jahre die meisten Vordenker des Eisenbahnbaus in erster Linie den Nutzen des Verkehrsmittels für den Agrarhandel im Blick hatten. Die Möglichkeit, mit der Eisenbahn zu einer Belebung des verarbeitenden Gewerbes beizutragen oder das neue Verkehrsmittel militärisch zu nutzen, habe in der politischen Debatte dagegen noch eine nachrangige Rolle gespielt.54 Im Gegensatz dazu unterstreicht die sowjetische Historikerin Aida Solov’eva, dass Nikolaus I.. bei seiner Entscheidung im Jahr 1842 „in erster Linie von militärisch-strategischen Überlegungen“ geleitet worden sei: „Eine Eisenbahn, die beide Hauptstädte des Russländischen Reiches miteinander verbindet, sollte die Kampffähigkeit des Staates und seines autokratischen Regimes festigen.“55 Auch wenn die Bahnlinie zwischen den beiden Hauptstädten möglicherweise noch nicht primär als politisches Herrschaftsinstrument konzipiert worden war, konnte an der strategischen Funktion der nächsten von Nikolaus I. bewilligten Bahnlinie kein Zweifel mehr bestehen. Noch bevor die Bahn von St. Petersburg nach Moskau am 1. November 1851 in Betrieb genommen wurde, waren in der Hauptstadt die Weichen für den Bau einer Schienentrasse von St. Petersburg nach Warschau gestellt worden.56 Die Bahnlinie, der führende Verkehrspolitiker, wie der Leiter der Hauptverwaltung für Verkehrswege Graf Petr A. Klejnmichel’, jegliche ökonomische Bedeutung absprachen, sollte vor allem das politisch unruhige
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und Pavlovsk (Anfang 1836, Eröffnung: 30.10.1837) sowie von Warschau nach Wien (Januar 1839, Eröffnung: September 1848) genehmigt. Mel’nikov, Svedenija, S. 351f. Haywood, Beginnings, S. 225–239. Diese These relativiert der Autor in: ders., Russia Enters the Railway Age, S. 10. Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 47. Ähnlich argumentieren Blackwell, Beginnings, S. 283; Rieber, Rise of Engineers in Russia, S. 561. Für diese These spricht, dass Nikolaus I. bereits 1835 im Kontext der Prüfung des Projektes von Gerstners für den Bau eines Eisenbahnnetzes in Russland die Vorteile von Eisenbahnen für den Truppentransport im Zarenreich hervorgehoben hatte. Vgl. dazu Haywood, Beginnings, S. 81. – Zur Entscheidung über den Bau der Linie St. Petersburg – Moskau vgl. auch A. I. Štukenberg: Iz istorii železnodorožnago dela v Rossii, in: Russkaja Starina Bd. 16 (1885), S. 309–322, hier S. 314–315; Verchovskij, Istoričeskij očerk, Bd. 1, S. 55–57. – Die Literatur zur Geschichte der Bahnlinie St. Petersburg-Moskau ist umfangreich. Vgl. u.a. Aleksej A. Golovačev: Istorija železnodorožnogo dela v Rossii, Sankt Peterburg 1881, S. 10–16; B. Velikin: Peterburg-Moskva. Iz istorii Oktjabrskoj železnoj dorogi, Leningrad 1934; Virginskij, Bor’ba; S. A. Urodkov, Peterburgo-Moskovskaja železnaja doroga, Leningrad 1951; Haywood, Russia Enters; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 51–67; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 46–56. Die Schienenanbindung der Hauptstadt des Königreichs Polen wurde seit Mitte der 1840er Jahre in St. Petersburg diskutiert und am 1. Februar 1851 durch einen kaiserlichen Erlass verordnet. Zur Geschichte der Bahn vgl. Mel’nikov, Svedenija, S. 345–47; Verchovskij, Istoričeskij očerk, Bd. 1, S. 72; Haywood, Russia enters, S. 536–544; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 59f.
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Königreich Polen stärker an Russland anbinden und helfen, die Westgrenze des Zarenreiches militärisch zu sichern.57 Nikolaus I. befürchtete, dass „angesichts der gegenwärtigen Entwicklung des Eisenbahnnetzes in Europa Warschau und unser ganzes westliches Gebiet im Falle eines plötzlichen Krieges von feindlichen Kräften überrannt werden könnte, ehe unsere Truppen aus Petersburg Luga erreicht hätten.”58
Der Bau der St. Petersburg-Warschau-Bahn musste jedoch bereits im Jahr 1855 aufgrund des Krimkrieges wieder unterbrochen werden.59 Die militärische Auseinandersetzung mit den europäischen Mächten auf eigenem Territorium führte der Zarenregierung die militärisch-strategische Bedeutung von Eisenbahnen praktisch vor Augen und machte ihr gleichzeitig den eigenen Entwicklungsrückstand beim Bau moderner Infrastruktur bewusst. Vor dem Beginn des Krieges verfügte das Zarenreich über ein Schienennetz von insgesamt nur 1.065 Kilometer.60 Praktisch bedeutete dies, dass ein französischer Soldat oftmals schneller den Ort der Kampfhandlungen von Sevastopol’ erreichte als ein russischer Rekrut, dessen Konvoi sich über unbefestigte Wege in den Süden des Zarenreiches vorkämpfen musste. Nach dem Ende der für Russland schmachvollen Auseinandersetzung läutete Kaiser Alexander II. am 26. Januar 1857 eine Wende in der Eisenbahnpolitik des Zarenreiches ein. In seinem Ukaz kündigte der Zar den Bau eines Schienennetzes im europäischen Teil des Landes und die Gründung der (privaten) Hauptgesellschaft der Russländischen Eisenbahnen an: „WIR haben schon lange erkannt, dass unser an Naturschätzen reiches, aber durch seine gewaltigen Ausdehnungen zerteiltes Vaterland besonders günstiger Verkehrsverbindungen bedarf. [...] Die Eisenbahnen, deren Nützlichkeit noch vor zehn Jahren von vielen angezweifelt wurde, erkennen heute alle Stände als zwingende Notwendigkeit für das Imperium an. [Der Bau der Eisenbahn] ist zu einem nationalen Anliegen und zum dringlichen Wunsch der Allgemeinheit geworden. Geleitet von dieser tiefen Überzeugung haben WIR sofort nach der Beendigung der Kriegshandlungen verfügt, Mittel zur Finanzierung dieser unaufschiebbaren Aufgabe aufzutun … und sich dabei auch an die private Industrie im In- und Ausland zu wenden.“61
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Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 53. Mel’nikov, ein Gegner der Bahn von St. Petersburg nach Warschau, bezweifelte auch deren militärischen Nutzen. Vgl. ders., Svedenija, S. 345–7. – 1851 ließ Nikolaus I. auch die Zollgrenze zwischen Polen und den russischen Kernländern abschaffen. Vgl. dazu: Rosa Luxemburg: Die industrielle Entwicklung Polens, Leipzig 1898, S. 9f. Imperator Nikolaj v soveščatel’nych sobranijach iz sovremennych zapisok štats-sekretarja barona Korfa, in: SIRIO 98 (1896), 125–127, zit. nach: Rieber, The Rise of Engineers in Russia, S. 562. Die Fertigstellung der Bahnlinie wurde nach Ende des Krimkriegs der Hauptgesellschaft der russländischen Eisenbahnen übertragen, die die ganze Strecke am 6. September 1862 in Betrieb nahm: Otkrytie dviženija na vsej linii Peterburgsko-Varšavskoj železnoj dorogi, in: Severnaja pčela, 10.9.1862. Zur Bedeutung der Bahnlinie während des Januaraufstandes vgl. Kap. 5.1.1. Voronin, Voronina, Mel’nikov, S. 59; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 68. Ukaz über den Bau eines Eisenbahnnetzes (O sooruženii pervoj seti železnych dorog v Rossii), zit. nach: PSZRI. Sobranie vtoroe, Bd. XXXII. Otdelenie pervoe. 1857. Sankt Peterburg 1858. Nr. 31448. S. 72–92, hier S. 73. Zur Wende in der Eisenbahnpolitik des Zarenreiches
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2.2. DIE LENKUNG DER WARENSTRÖME Ein Umdenken in der russländischen Verkehrspolitik hatte sich jedoch schon während des Krimkrieges abgezeichnet. Im Oktober 1854 hatte die Regierung eine Expedition unter der Leitung Pavel Mel’nikovs in den Süden des Reiches entsandt, um den Streckenverlauf einer Bahnlinie von Moskau nach Feodosija am Schwarzen Meer zu erkunden.62 Mel’nikov wurde 1855 zudem damit beauftragt, einen Plan für den Bau eines Eisenbahnnetzes im europäischen Teil des Zarenreiches zu entwickeln.63 Mel’nikovs Netzentwurf, der 1856 veröffentlicht wurde, verdient in unserem Kontext aus mehreren Gründen eine nähere Betrachtung. Zum einen kann der Plan als erster offizieller Entwurf eines Eisenbahnnetzes für das Zarenreich angesehen werden. Während frühere Konzepte von außen an die Reichsregierung herangetragen wurden oder die politischen Entscheidungen der Reichsregierung nicht maßgeblich beeinflussen sollten, diente Mel’nikovs Entwurf als bedeutsame Richtlinie für die Infrastrukturpolitik in den ersten Regierungsjahren Alexanders II.64 Als solcher war der Plan auch wichtiger Referenzrahmen in den lebhaft geführten öffentlichen Debatten um die Entwicklung des russländischen Eisenbahnnetzes. Zum anderen eröffnet Mel’nikovs Netzentwurf wertvolle Einblicke in die Gedankenwelt und Raumvisionen eines führenden russischen Eisenbahningenieurs der ersten Stunde. Der Nutzen der Eisenbahn für Russland war für den technikgläubigen Ingenieur eine feststehende, fast religiös anmutende „Wahrheit“. „Russland ist dringend auf die Eisenbahnen angewiesen“, so Mel’nikov nach der Rückkehr von seiner Studienreise in die USA im Jahr 1838; „man kann sogar sagen, dass die Eisenbahn für Russland erfunden worden sei [...] mehr als für irgendein anderes Land Europas.65
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nach dem Krimkrieg: Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 73ff.; Oleg Nikolaevič Eljutin: „Zolotoj vek“ železnodorožnogo stroitel’stva v Rossii e ego posledstvija, in: Voprosy Istorii, 2004, Nr. 2, S. 47–57, hier S. 48. Voronin, Voronina, Mel’nikov, S. 59. Neben der Hauptstrecke wurde das Gelände für den Bau von Verbindungsbahnen nach Sevastopol’, in das Donbas-Gebiet und nach Rostov/Don vermessen. Auch die Absetzung des Leiters der Hauptverwaltung für Verkehrswege, Graf Klejnmichel’, nach dem Tod Nikolaus’ I. im Herbst 1855 und die Einsetzung K. V. Čevkins als dessen Nachfolger läutete eine Wende der Eisenbahnpolitik des Zarenreiches ein. Čevkin stand insbesondere dem privat finanzierten Eisenbahnbau aufgeschlossener gegenüber als sein Vorgänger. Pavel’ P. Mel’nikov: O železnych dorogach, 1856, in: Voronin (u.a.) (Hg.): P. P. Mel’nikov, S. 195–212. Vgl. dazu Alfred Rieber: The Formation of "La Grande Société des Chemins de Fer Russes", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), S. 375–391, hier S. 377. – Zu früheren Netzentwürfen vgl. Haywood, Russia Enters, S. 564–580. Zu früheren, inoffiziellen Netzentwürfen, z.B. von F. Bulgarin (1836), A. Golievskij (1838), Nikolaj Nazarovič Murav’ev (1839) und A. Safonov (1839) vgl. Haywood, Beginnings, S. 164–166, 170–175. Mel’nikov, Svedenija, S. 276. Das Zitat stammt ursprünglich aus: ders.: Otčet o poezdke v Zapadnjuju Evropu i Ameriku. Rukopis’. Sankt Peterburg 1838. Vgl. dazu Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 4.
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In seinen Ausführungen über den zu erwartenden ökonomischen, politischen und militärischen Nutzen des Eisenbahnbaus im Zarenreich konnte Mel’nikov an bekannte Argumente früherer Debatten anknüpfen. Das neue Verkehrsmittel werde in einem so großen Land mit einem so unterentwickelten Wegenetz wie Russland zu einer spürbaren Reduktion der Transportzeiten und -kosten im Güterverkehr führen und so zu einer „maximalen Entwicklung der natürlichen Quellen des Reichtums, der produktiven Kräfte [...] beitragen.“66 Zudem müsse die Eisenbahn als „äußerst mächtiges Instrument der Regierung“ angesehen werden. Ähnlich wie Gerstner argumentierte Mel’nikov: „Es ist offensichtlich, wie nützlich ein System schneller und billiger Verbindungen aus administrativer Sicht für Anweisungen der Regierung und für die Kontrolle von deren Umsetzung sein wird. Die Befehle, die das ganze Leben (byt) des Landes – von allgemeinen staatlichen Maßnahmen bis zu Einzelheiten des Lebens eines jeden Mitglieds dieser 68 Millionen zählenden Familie – betreffen, gehen von einem Zentrum des Landes aus und müssen sich mit Schnelligkeit in allen Gegenden des größten Staates der Erde verbreiten.“67
Auch der militärische Nutzen der Eisenbahn lag für Mel’nikov auf der Hand. Der russische Staat müsse gegenwärtig in zahlreichen Regionen des Reiches Truppenkontingente unterhalten, was große Kosten verursache. Selbst eine Armee mit einer Stärke von einer Million Mann reiche nicht aus, um die „weitläufigen Grenzen“ (prostrannye granicy) des „gewaltigen Russland “ (ogromnaja Rossija) zu schützen.68 Die Eisenbahn biete die Möglichkeit, die militärische Reserve in reduzierter Zahl im Zentrum des Landes zu konzentrieren und im Ernstfall von dort über ein radial angelegtes Schienennetz schnell an den jeweiligen Einsatzort zu verlegen. Dies werde nicht nur zu einer Senkung der Militärausgaben, sondern zugleich zu einer Stärkung der Wehrkraft des Reiches führen. Auf diese Weise werden die Eisenbahnen dem Land als „eherne Klammern“ dienen: „Sie binden die am weitesten entfernten Regionen Russlands an dessen Zentrum und formen das Land zu einer gewaltigen, an innerem Leben reichen Einheit, die vor Angriffen jeglicher Art der neidischen Nachbarn gefeit sein wird.“69
Ungeachtet seiner Ausführungen über die politische und militärische Bedeutung der Eisenbahn im Zarenreich war der Ingenieur jedoch vor allem vom ökonomischen Nutzen des Verkehrsmittels überzeugt. Mel’nikov ging sogar so weit, die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Russlands gänzlich in Abhängigkeit vom Ausbau seiner Infrastruktur zu sehen. Der „Zustand der Untätigkeit“, unter dem das Zarenreich leide, leite sich, so Mel’nikov, „von der Unvollkommenheit der Verkehrswege im Inneren des Landes“ ab.70 Wenn es gelänge, diesen Missstand zu beseitigen, so gab sich der Ingenieur überzeugt, werde dies nicht nur zur Stei-
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Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 195. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 201. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 202. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 203. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 199.
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gerung des „Wohlstands“, sondern auch der „inneren und äußeren Stärke des Staates“ beitragen.71 Zentraler Referenzpunkt von Mel’nikovs Argumentation war das Vorbild USA. In seinen Memoiren beschrieb sich der Ingenieur als Mensch, der „im freien Amerika völlig gegensätzliche Ideen aufgenommen hatte und der voller Ungeduld darauf brannte, deren unverzügliche Umsetzung in seinem eigenen Vaterland zu sehen“.72 Das „freie Amerika“ und das politische Regime Nikolaus I. in einem Atemzug zu erwähnen, war für den Eisenbahnenthusiasten kein Problem. Die USA erschienen dem jungen Ingenieur aus drei Gründen besonders als Vorbild für Russland geeignet:73 Erstens stelle sich das Problem der Erschließung eines großen Territoriums in den Vereinigten Staaten in ähnlicher Weise wie im Zarenreich. Zweitens verfüge das Land jenseits des Atlantiks über ebenso große natürliche Ressourcen wie Russland und schließlich hätten die USA vor der Errichtung der Eisenbahnen ebenso wenig wie Russland auf ein gut entwickeltes Wegenetz aufbauen können.74 Mel’nikovs zentrale These lautete, dass die Vereinigten Staaten ihre rasante ökonomische Entwicklung vor allem dem raschen Ausbau ihrer Infrastruktur zu verdanken hätten. Aus dieser Perspektive gab es für ihn „nicht den geringsten Zweifel daran“, dass Russland mit einem an seine Bedürfnisse angepassten Eisenbahnnetz „in kürzester Zeit einen solchen Grad an [Geschäfts-]Tätigkeit entfalten und ebenso Zufriedenheit, Reichtum und Stärke entwickeln [werde], wie es dies die USA zum allgemeinen Erstaunen getan haben“.75
Mel’nikov ging in seinen Zukunftsprognosen sogar noch weiter. Aus mehreren Gründen, so der Ingenieur, werde sich der Bau von Eisenbahnen in Russland noch positiver auswirken als in den Vereinigten Staaten. Zum einen böte die Geografie des Zarenreiches, insbesondere der günstige Verlauf der großen Flüsse, noch bes71 72 73
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Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 199, 195. Mel’nikov, Svedenija, S. 278. Pavel P. Mel’nikov: Opisanie v techničeskom otnošenii železnych dorog Severoamerikanskich Štatov, in: Žurnal putej soobščenija, 1842, Bd. 2, Buch 1, S. 19–85; Buch 2: S. 95– 197, Buch 3: 209–265. – Alfred Rieber vermutet, dass Mel’nikov – wie die ganze erste Generation russischer Eisenbahningenieure – unter starkem Einfluss der Schrift Michel Chevaliers Lettres sur l’Amérique du Nord (Paris 1837) gestanden habe. Vgl. ders. The Rise of Engineers in Russia, S. 556. In der sowjetischen Historiografie der 1950er Jahre wurde der amerikanische Einfluss auf die Eisenbahngeschichte im Zarenreich im Allgemeinen und auf das Denken Pavel Mel’nikovs im Besonderen heruntergespielt. Vgl. u.a. Virginskij, Bor’ba, S. 77. Zur Wahrnehmung Amerikas in Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Maksis Lazersons: The American Impact on Russia, Diplomatic and Ideological, 1784–1917, New York 1950; Dieter Boden: Das Amerikabild im russischen Schrifttum bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1968; Aleksandr Ėtkind: Tolkovanie putešestvij. Rossija i Amerika v travelogach i intertekstach, Moskva 2001, Kap. 2 u. 3.; David Feest, Gábor T. Rittersporn: Antiamerikanismus und Amerikanophilie im Zarenreich und in der Sowjetunion der Vorkriegszeit. In: Jan C. Behrens, Árpád von Klimo, Patrice G. Poutrus (Hg.): Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa. Bonn 2005, S. 72–87. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 198. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 199.
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sere Bedingungen für den Bau eines effektiven Eisenbahnnetzes. Da sich ein zu bauendes Eisenbahnsytem gut mit den bestehenden Wasserstraßen kombinieren lasse, benötige Russland zunächst nur ein Streckennetz in einer Gesamtlänge von rund 3.000 Werst (ca. 3.210 Kilometer), was einem Zehntel der bereits bestehenden Eisenbahnanlagen der USA entsprach.76 Zum anderen seien auch die politischen Verhältnisse im Zarenreich für den zu erwartenden Nutzen des Eisenbahnbaus förderlich. Während in Amerika jeder Bundesstaat seine eigene Infrastrukturpolitik betreibe, läge die Planungskompetenz in Russland dagegen in einer Hand. Aufgrund des dezentralen politischen Systems würde sich der Eisenbahnbau in den USA vor allem im ökonomischen Bereich positiv bemerkbar machen, während in Russland zudem ein klarer administrativer und militärischer Nutzen zu erwarten sei.77 Dass die „erstaunliche“ ökonomische Entwicklung der USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielmehr mit dem Pioniergeist oder der politischen Freiheit der weißen Siedler zu tun haben könnte, lag außerhalb der technikorientierten Vorstellungswelt des Ingenieurs.78 Die Idee, gesellschaftlicher Wohlstand und Entwicklung folgten unmittelbar aus der infrastrukturellen Entwicklung eines Landes, eine technizistische Vision, die unter anderem der „Saint Simonist“ Michel Chevalier gepredigt hatte, hatte auch in Russland in der Person Mel’nikovs einen gläubigen Anhänger gefunden.79 Trotz der von ihm beschworenen politischen und militärisch-strategischen Bedeutung der Eisenbahn für das Zarenreich orientierte sich Mel’nikov bei der Formulierung seines Entwurfs für ein russisches Schienennetz vor allem an den ökonomischen Bedürfnissen des Landes. Dies entsprach der Generallinie, die der Leiter der Hauptverwaltung für Verkehrswege, Klejnmichel’, in seinem Bericht zur Planung des russischen Eisenbahnnetzes im Mai 1852 formuliert hatte.80 Mel’nikovs Beschreibung des russländischen Territoriums lässt sich somit auch als direkte Fortentwicklung der Imagination Russlands als Wirtschaftsraum bzw. 76 77 78
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Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 200. (1 Werst (versta) = 1,07 km). Zur Umrechnung russischer Maße und Gewichte vgl. auch Kap. 9. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 201. Schon Franz Anton von Gerstner war mit seiner Amerikabegeisterung und seinem Glauben an die Generierung ökonomischen Aufschwungs durch den Bau von Eisenbahnen in die Kritik geraten. Vgl. z.B. die Polemik von Avror Pravdin, O železnych i torcovych dorogach v Rossii, Moskva 1838, der scharf die merkantilistische These kritisierte, die Anlage eines neuen Weges, eines Hafens oder einer Stadt werde zur Belebung von Handel und Industrie führen. Weit wichtiger seien „Bildung und wirtschaftliche Tätigkeit“ für den ökonomischen Fortschritt (S. 17). Der ökonomische Erfolg der USA lasse sich weniger auf die Geografie oder die verkehrstechnische Erschließung des Landes, sondern vielmehr auf spezifische Charaktereigenschaften der Engländer, Holländer und Amerikaner (Fleiß und Sparsamkeit) sowie auf ein hohes Bildungsniveau zurückführen (S. 20f.) Generell bezweifelte Pravdin, dass sich in einem rückständigen Land wie Russland ein so teures Verkehrsmittel wie die Eisenbahn ökonomisch rentabel betreiben ließen. Zur Deutung des Wechselverhältnisses von technischem und gesellschaftlichen Wandel durch die Denkschule Claude Henri de Saint Simons: van der Vleuten, Infrastructures and Societal Change, S. 396f. Haywood, Russia Enters, S. 580; Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 40.
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Binnenmarkt von Ščeglov und anderen Vordenkern des frühen russischen Eisenbahndiskurses lesen. Obgleich er nur den europäischen Teil des Zarenreiches in seine Überlegungen einschloss, bezog sich Mel’nikov in seiner Abhandlung explizit auf das einprägsame Bild Russlands als „größtes Land der Erde“. Andererseits lasse sich das Zarenreich aus wirtschaftlicher Sicht als Zusammenschluss „mehrerer großer Staaten“ beschreiben, die jedoch durch einen regen Handel zu einem (ökonomischen) Raum verbunden werden könnten. Mit Hilfe moderner Infrastruktur ließen sich die landwirtschaftlich produktiven Regionen im Süden und Südosten des Landes mit den bedürftigen und zum Teil an Hunger leidenden Provinzen im Nordwesten und Westen verbinden.81 Zudem könnte der bislang „ertraglose Reichtum“ der Holz- und Kohlevorkommen des Landes mit der Eisenbahn zu den Manufakturen transportiert werden, denen es an entsprechendem Brennmaterial fehle. Nicht zuletzt eröffne die Eisenbahn auch die Möglichkeit, Wanderarbeiter, die „wertvolle Zeit bei ihren langen Märschen verlieren“, billig und schnell von ihrem Wohn- zu ihrem saisonalen Arbeitseinsatz zu befördern.82 Im Territorium, das von Mel’nikovs Eisenbahnen erschlossen werden sollte, gab es kein politisches Zentrum, keine Festungen und Kasernen oder andere strategisch wichtigen Punkte. Russland war für den Ingenieur in erster Linie ein Wirtschaftsraum, in dem die bisherigen „Arterien der Schifffahrt“ die Regionen der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktion, die Orte mit einer großen Nachfrage, die Bevölkerungszentren sowie die Häfen des Landes nur unzureichend miteinander verbanden.83 Es entbehrt daher nicht der Logik, dass Mel’nikov das Zentrum seines Eisenbahnnetzes nicht in Moskau, sondern in der Kleinstadt Orel verortete, die er als Mittelpunkt der (agrarisch) produktivsten Gebiete im europäischen Russland identifizierte.84 Ausgehend vom Knotenpunkt Orel entwarf der Ingenieur vier radial in 81
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Zur Bedeutung einer gedachten Binnengliederung Russlands in Wirtschaftsregionen, deren Beziehungen von interregionalen Warenströmen geprägt sind: Nailya Tagirova: Mapping the Empire’s Economic Regions from the Nineteenth to the Early Twentieth Century, in: Jane Burbank, Mark von Hagen, Anatolyi Remnev (Hg.): Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930, Bloomington 2007, S. 125–138; Walter Sperling: Die „Schicksalsfrage“ der Kleinstadt: Eisenbahn, Raum und Industrialisierung in der russischen Provinz, 1850–1914, in: ders. (Hg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich, 1800–1917, Frankfurt 2008, S. 127–161 und ders.: Aufbruch der Provinz, S. 59–145. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 198f. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 195. Zur Bezeichnung der Wolga und des Dnjepr als „Arterien der Schifffahrt“, ebd., S. 210. – Seit den 1840er Jahren beschworen russische Ingenieure der Verkehrswege auch Eisenbahnen als „Arterien“, die u.a. den „Körper der Stadt“ mit Nahrung versorgten. Vgl. z.B. Volkov, Iz zagraničnych pisem, S. 29 zit. nach: Gradostroitel’stvo Rossii serediny, Bd. 1, S. 89 und Rede des Vorsitzenden der IRTO A. N. Gorčakov am 18.12.1887, in: Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 2–4, S. 13. – Allgemein zur Geschichte der Metapher von Verkehrsnetzen als Arteriensysteme im staatlichen „Körper“ vgl. van der Vleuten, Infrastructures and Societal Change, S. 396f. Damit wich er nicht nur von einem seiner früheren Entwürfe (aus dem Jahr 1847), sondern auch vom Entwicklungsplan der Hauptverwaltung für Verkehrswege aus dem Jahr 1852 ab.
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die einzelnen Himmelsrichtungen verlaufende Hauptlinien. Im Norden sollten das Industriezentrum Tula sowie Moskau, im Süden die Städte Kursk, Char’kov und Sevastopol’, im Osten der Wolgahafen von Saratov und im Westen die Ostseestadt Riga via Dünaburg angebunden werden.85 Durch eine sinnvolle Einbeziehung der großen Wasserstraßen von Wolga, Don und Dnjepr in das geplante Wegesystem ließ sich die Länge des geplanten Eisenbahnnetzes auf insgesamt 2.960 Werst begrenzen.86 Der von dem Ingenieur imaginierte Eisenbahnraum umfasste vor allem die Kornkammern des Landes und reichte an seinen Grenzen bis zu den Häfen des Zarenreiches an Ostsee und Schwarzem Meer.87 Weder die Anbindung der imperialen Peripherie im Westen noch die Nutzung der Eisenbahn zur systematischen Förderung der Kohle- und Erzvorkommen des Landes waren in diesem Netzentwurf vorgesehen.88 Bezeichnenderweise fehlte in dem Konzept zum Beispiel die strategisch wichtige Bahnlinie von St. Petersburg nach Warschau, deren Bau 1851 begonnen worden war, nach Beginn des Krimkrieges jedoch wieder abgebrochen werden musste. Mel’nikov war ein entschiedener Gegner dieses Verkehrsprojektes, dem er jegliche ökonomische Bedeutung absprach und dessen militärischen Nutzen er in Zweifel zog.89 Es kann aus heutiger Sicht kaum überraschen, dass Mel’nikovs Plan für die Entwicklung eines russländischen Eisenbahnnetzes nach dem Ende des Krimkrieges nicht buchstabengetreu in die Praxis umgesetzt wurde. Zwar hatte der Ingenieur die militärisch-strategische Bedeutung einer Bahnlinie vom Zentrum des Landes bis an die Küsten des Schwarzen Meeres erkannt, die Ausklammerung einer Verbindung ins Königreich Polen jedoch musste innerhalb der zarischen Bürokratie auf Kritik stoßen. Das Schienennetz, für dessen Bau die 1857 gegründete Hauptgesellschaft der Russländischen Eisenbahnen (Société des Chemins de Fer Russes) die staatliche Konzession erhielt, unterschied sich daher in wichtigen
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In beiden Plänen war Moskau als Knotenpunkt eines zukünftigen russländischen Schienennetzes beschrieben worden. Vgl. Haywood, Russia Enters, S. 565, Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 40. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 209. Zu diesem Zeitpunkt war der Bau einer Bahn von Dünaburg nach Riga bereits in Planung. Über die Wolga und das Kaspische Meer könnten der südliche Kaukasus (Zakavkazskij kraj), über den Don das Donec-Becken und über den Dnjepr die Stadt Odessa angebunden werden. Vgl. Mel’nikov, O železnych dorogach, S. 211. Bereits Ende 1847 hatte Graf P. D. Kiselev, Minister der staatlichen Domänen, in der Handelszeitung (Kommerčeskaja gazeta) die Anbindung der Kornkammer Russlands an die Häfen an Ostsee und Schwarzem Meer mit Eisenbahnen gefordert. Vgl. Haywood, Russia Enters, S. 565f. – Rieber betont den Einfluss französischer Theoretiker wie z.B. Gabriel Lamés, Benoit Clapeyrons und der Gebrüder Flachat auf das Denken der russischen Ingenieure der Verkehrswege im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Vgl. Rieber, Formation, S. 384f. Der raumplanerische Ansatz dieser „Schule“, die produktiven Zentren Frankreichs mit den Häfen des Atlantiks und des Mittelmeers durch Eisenbahnen zu verbinden, könnte auch Mel’nikov bei seinem Netzentwurf inspiriert haben. Zur Bedeutung agrarischer Raumvorstellungen im Denken russischer Eliten Mitte des 19. Jahrhunderts: Sperling: Die „Schicksalsfrage“ der Kleinstadt, S. 138. Mel’nikov, Svedenija, S. 346–7.
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Punkten von Mel’nikovs Blaupause. So erhielt die vor allem mit privatem französischem Kapital ausgestattete Eisenbahngesellschaft den Auftrag, neben einer Südbahn zum Schwarzen Meer und einer Westbahn von Orel oder Kursk zum Ostseehafen Libau, die Strecke von Petersburg nach Warschau fertigzustellen und eine Eisenbahn von Moskau zur Messestadt Nižnij Novgorod an der Wolga zu bauen.90 2.3. DIE KONSOLIDIERUNG DES NATIONALEN RAUMS Die öffentliche Debatte um Mel’nikovs Netzentwurf, über den der Sovremennik (Der Zeitgenosse) in seiner zweiten Ausgabe des Jahres 1856 berichtet hatte, entzündete sich vor allem daran, dass der Ingenieur bei seiner Planung aus Sicht seiner Kritiker das Zarenreich zu stark als ökonomischen Raum imaginiert und dabei politisch-kulturelle Eigenarten sowie strategisch-militärische Bedürfnisse des Landes weitgehend ignoriert hatte. Am ersten der beiden Punkte setzte die Kritik an, die aus dem Lager der Slavophilen formuliert wurde. So nahm beispielsweise der Publizist Aleksandr Košelev, der sich 1856 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Russkaja beseda (Das russische Gespräch) zur Frage des Eisenbahnbaus in Russland äußerte, an der Wahl der Stadt Orel als Knotenpunkt in Mel’nikovs Netzentwurf Anstoß.91 Košelev unterstellte dem Ingenieur der Verkehrswege, sich bei der Formulierung seines Plans allein an den partikularen Interessen der Ökonomie und des Handels orientiert und dabei die Gesamtheit staatlicher Interessen aus dem Blick verloren zu haben.92 Man dürfe nicht den Fehler begehen, den Staat als eine Werkstatt, eine Börse oder ein Heerlager zu betrachten: „Jeder Staat verkörpert etwas Größeres, welches seine Bedeutung in der Welt ausmacht und welches das Handeln des Staates als ehernes Gesetz leiten sollte.“93 Daraus folge, so Košelev 90
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Geplanter Streckenverlauf der vier zu bauenden Linien: 1) St. Petersburg-Warschau (mit einer Zweigbahn von Vil’na zur preußischen Grenze); 2) Moskau-Tula-Orel-KurskChar’kov-Feodosija; 3) Kursk (oder Orel)-Vitebsk-Dünaburg-Libau; 4) Moskau-Nižnij Novgorod. – Zur Geschichte der Hauptgesellschaft: Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 69–78; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 64; Rieber, Formation; Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5, S. 193f.; Juan Camilo Vergara: La Grande Société des Chemins de Fer Russes (1856-1862): Coopération ferroviaire francorusse, administration de l'espace impérial et réformes de l'Etat en Russie au XIXe siècle (seit 2010 laufendes Dissertationsprojekt an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris.) Aleksandr Ivanovič Košelev: Soobraženija kasatel’no ustrojstva železnych dorog v Rossii, in: ders.: Dve stat’i o železnych dorogach, Moskva 1856, S. 1–11. (Wiederabdruck eines Aufsatzes aus der Zeitschrift Russkaja Beseda, Moskva 1856, Nr. 1.) Košelev unterstellte Mel’nikov zudem, bei der Formulierung seines Projektes stark von militärisch-ökonomischen Überlegungen geleitet worden zu sein, ein Punkt der angesichts der massiven Kritik an Mel’nikov aus dem militärstrategisch orientierten Lager (siehe unten) nicht recht zu überzeugen vermag. Košelev, Soobraženija, S. 3.
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weiter, dass sich der Mittelpunkt eines nationalen Eisenbahnnetzes nicht beliebig bestimmen lasse. Vielmehr gelte es, die historisch gewachsenen Kommunikationszentren eines Landes zu identifizieren und das Eisenbahnnetz an diesen auszurichten. Für den russischen Fall bedeute dies, dass nicht Orel, sondern nur Moskau die Funktion des Mittelpunktes im Kommunikationsnetz des Landes übernehmen könne. Moskau sei das „wahre Zentrum“ bzw. das „Herz Russlands“, das man nicht einfach verschieben könne.94 Historisch betrachtet sei Moskau der Mittelpunkt, um den sich die ganze russkaja zemlja einst gesammelt habe. Heute beherberge die Stadt das Zentrum der russischen Industrie, sie liege an der Grenze zur russischen Kornkammer und sei ein wichtiger Umschlagplatz für Waren aller Art. Kurzum sei die Wahl Moskaus als Mittelpunkt des russländischen Eisenbahnnetzes von zentraler Bedeutung für die „zukünftige Größe und Einheit“ des Reiches.95 Die Stellungnahme Košelevs illustriert, dass Vertreter der Slavophilen der westlichen Erfindung der Eisenbahn durchaus aufgeschlossen gegenüber standen, sie ihren Vorstellungen von der Entwicklung eines Eisenbahnnetzes im Zarenreich jedoch eine andere Raumvorstellung zugrunde legten als beispielsweise die Ingenieure in der Petersburger Hauptverwaltung für Verkehrswege.96 Während sich Mel’nikov bei der Imagination Russlands als Eisenbahnraum ausschließlich an Fragen des ökonomischen Nutzens entsprechender Bahnlinien orientierte, betonte Košelev, dass sich die Entwicklung des Eisenbahnnetzes an den historisch
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Zur Bedeutung der Metapher des „Herzens“ zur Beschreibung des Zentrums Russlands in russischen Raumdiskursen seit den 1830er Jahren: Leonid Gorizontov: The „Great Circle“ of Interior Russia: Representations of the Imperial Center in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Jane Burbank, Mark von Hagen, Anatolyi Remnev (Hg.): Russian Empire. Space, People, Power, 1700-1930, Bloomington 2007, S. 67–93, hier S. 68–69 und ders.: Vnutrennaja Rossija i ee simvoličeskoe voploščenie, in: M. D. Karpačev, M. D. Dolbilov, A. Ju. Minakov (Hg.): Rossijskaja imperija: strategii stabilizacii i opyty obnovlenija, Voronež 2004, S. 63–88, hier S. 71f. Košelev, Soobraženija, S. 9. Andere Denker, die ebenfalls dem Lager der Slavophilen zugerechnet werden können, warnten dagegen vor dem wachsenden Einfluss materialistischen, westlichen Gedankenguts, der mit dem Bahnbau in Russland einhergehe. David Bethea interpretiert beispielsweise den Roman Der Idiot als Ausdruck der slavophilen Geisteshaltung Fedor Dostoevskijs. In dem Text werde die Eisenbahn als ein Mittel zur Verbreitung von atheistischen Gedanken und als ein Werkzeug des Antichrist vorgestellt. Vgl. David M. Bethea: The Shape of Apocalypse in Modern Russian Fiction, Princeton 1989, S. 76. Dostoevskijs kritische Haltung gegenüber der Industrialisierung im Allgemeinen und dem Verkehrsmittel der Eisenbahn im Besonderen schlug sich auch in seinem “Reisebericht” Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke (Zimnie zametki o letnich vpečatlenijach), nieder, der 1863 erschien. Vgl. dazu: Anne Elizabeth Dwyer: Improvising Empire: Literary Accounts from the Russian and Austrian Borderlands, 1862–1923. Ph.D. Dissertation, University of California, Berkeley 2007, S. 93; dies.: Of Hats and Trains: Cultural Traffic in Leskov's and Dostoevskii's Westward Journeys, in: Slavic Review 70 (2011), no. 1, S. 67–93.
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gewachsenen Strukturen der politischen und kulturellen Geografie des Zarenreiches zu orientieren habe.97 Košelev war nicht der erste slavophile Denker, der sich positiv über den Bau von Eisenbahnen im Zarenreich äußerte. Bereits zehn Jahre zuvor hatte Aleksej Chomjakov in der Zeitschrift Moskvitjanin (Der Moskowit) für die Einführung des Verkehrsmittels in Russland plädiert.98 Während er die Verwestlichung der russischen Kultur scharf kritisierte, stand Chomjakov der Übernahme technischer Errungenschaften aus dem Westen aufgeschlossen gegenüber: „Wir müssen alles annehmen, das dazu beitragen kann, [unser] Land zu stärken, das Gewerbe auszuweiten und den Wohlstand der Gesellschaft zu verbessern“, so Chomjakov. Dazu zählte er auch die Eisenbahn, die Russland einführen könne, „ohne das eigene Selbstwertgefühl zu verletzen und ohne das Recht auf eine eigene [kulturelle und gesellschaftliche] Entwicklung aufzugeben.“99 Angesichts dessen, dass Russlands Nachbarn bereits mit dem Aufbau von Schienennetzen begonnen und 97
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Wenig später engagierten sich auch namhafte Slavophile aktiv im Eisenbahnbau. So zum Beispiel der Moskauer Unternehmer Fedor Vasil’evič Čižov, der ab 1858, gemeinsam mit Baron Andrej I. Delvig, den Bau einer Bahnlinie von Moskau nach Sergiev Posad vorantrieb. Čižov und Delvig verstanden das Unternehmen als Versuch, die Dominanz westlichen, v.a. französischen Kapitals im Eisenbahnbau mit einem russischen Bauvorhaben zu brechen. Die Strecke, die im August 1862 in Betrieb genommen und 1868–70 bis nach Jaroslavl’ ausgebaut wurde, entwickelte sich, nicht zuletzt dank des Pilgerverkehrs zur Troice Sergeevskaja Lavra, zu einer äußerst belebten und ökonomisch profitablen Verkehrsader. Allerdings musste sich die Unternehmergruppe bald von dem Ziel verabschieden, die Bahn ohne staatliche finanzielle Hilfe und nur mit „russischem“ Kapital und Material zu bauen. Ende der 1850er Jahre wurden die ersten Lokomotiven der Bahn bei den Berliner Borsig-Werken gekauft und Ende der 1860er Jahre der St. Petersburger Bankier jüdischer Herkunft Leon Rosenthal als Anteilseigner willkommen geheißen. Vgl. Thomas C. Owen: Dilemmas of Russian Capitalism. Fedor Chizhov and Corporate Enterprise in the Railroad Age, Cambridge, MA [u.a.] 2005, S. 92–110; Petuchova, Ploščad’ trech vokzalov, S. 13–15, 39–43. Aleksej Stepanovič Chomjakov: Pis’mo v Peterburg, in: Moskvitjanin, 1. Februar 1845, Nr. 2, S. 71–86. – In welchem Maße sich Anhänger slavophiler Gedanken mit den gesellschaftlichen Veränderungen durch technische Entwicklung auseinandersetzten, belegt z.B. der 1835 verfasste (und 1926 erschienene) utopische Roman 4338-i god von Vladimir Odoevskij. Vgl. Wladimir Odojewski: Das Jahr 4338, in: Erzählungen der russischen Romantik, Stuttgart 1990, S. 292–328, hier S. 295. Vgl. zu diesem Text u.a.: Alekseev, Puškin, S. 129. Chomjakov, Pis’mo, S. 83. – Im Gegensatz zu den Slavophilen, hofften die Vertreter des entgegengesetzten politischen Lagers der „Westler“, dass sich Russland im Zuge der technischen Modernisierung auch hinsichtlich der politischen Ordnung an westlichen Vorbildern orientieren würde. In einer der ersten Ausgaben seiner Zeitschrift Kolokol (Die Glocke) aus dem Jahr 1857 schrieb Alexander Herzen in einem offenen Brief an Alexander II.: “Having embarked on Western development, Russia should have gone on the exact same path. If the entirety of our progress were to happen ‘only’ in the government, we would give the world a completely unprecedented example of despotism, armed with everything that has been produced by freedom, slavery and violence, and supported by everything that science has discovered. This would be something on the order of Chingis-Khan with telegraphs, steamboats, [and] railroads […]” Ders.: Pis’mo k imperatoru Aleksandru II (po povodu knigi barona Korfa), in: Kolokol, 1.10.1857, zit. nach: David Saunders: Russia in the Age of Reaction and Reform. 1801–1881, London 1992, S. 113. Russ. Wortlaut des Briefes in: Aleksandr I. Gercen: Sobranie sočinenij v 30 tomach, Bd. 28, Moskva 1954, S. 354.
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dadurch auch ihre militärische Schlagkraft erhöht hatten, dürfe Russland nicht untätig bleiben: „Wenn alle anderen Staaten von Eisenbahnen durchkreuzt werden und [die Länder] dadurch Möglichkeit erhalten, schnell ihre [militärischen] Kräfte an einem Punkt zu konzentrieren und von einem Ende des Landes an das andere zu verlegen, muss auch Russland diese Option nutzen.“100
Russland, das bislang über kein gut ausgebautes Wegenetz verfüge, könne aus seiner Not eine Tugend machen, von den Fehlern des Westens lernen und sich mit Hilfe der Eisenbahn aus der „Wegelosigkeit“ direkt in das Zeitalter modernster Verkehrswege katapultieren.101 Als Chomjakov im Jahr 1845 seinen Brief nach Petersburg verfasste, lag die Entscheidung, beide Hauptstädte des Zarenreiches mit einer Eisenbahn zu verbinden, erst drei Jahre zurück. Der Plan, das ganze Land mit einem Schienennetz zu durchziehen, erschien zu diesem Zeitpunkt noch als ferne Utopie. Als sich 1856 Chomjakovs Bruder im Geiste Košelev zur Erschließung des Landes durch die Eisenbahn zu Wort meldete, hatten sich die politischen Rahmenbedingungen entscheidend verändert. Während Chomjakov seinen raumplanerischen Phantasien noch freien Lauf lassen konnte, hatte sich Košelev bereits mit konkreten Netzplänen der Petersburger Verkehrsbürokratie auseinanderzusetzen. Košelevs Plädoyer für die Berücksichtigung der historisch gewachsenen Strukturen der ökonomischen, kulturellen und historisch-politischen Geografie des Zarenreiches und für die Verortung des Knotenpunktes des russländischen Schienennetzes in Moskau war jedoch nur eine von vielen Stimmen in der lebhaft geführten Diskussion über die Entwicklung Russlands als ein durch Eisenbahnen vernetzter geografischer Raum.102 2.4. DAS BEDROHTE TERRITORIUM Einen neuen Höhepunkt erlebte die Debatte um die verkehrstechnische Erschließung des Zarenreiches Mitte der 1860er Jahre. Angestoßen wurde sie zum einen durch die sich seit 1862 abzeichnende Krise beim russischen Eisenbahnbau und zum anderen durch die Vorlage eines neuen Entwicklungsplanes für das Schienennetz im europäischen Teil des Reiches durch Pavel Mel’nikov, der 1862 die Leitung der Hauptverwaltung der Verkehrswege und öffentlichen Gebäude übernommen hatte. Die Eisenbahndebatte der 1860er Jahre kreiste dabei im Wesentli100 Chomjakov, Pis’mo, S. 71. 101 Zur Denkfigur des „Privilegs der Rückständigkeit“ in Russland: Hildermeier, Das Privileg der Rückständigkeit und jüngst ders.: Geschichte Russlands, insbes. S. 1315-1346. 102 Vgl. u.a. Aleksej Evteič L’vov: O vlijanii putej soobščenija na uspech narodnago bogatstva. Reč’, proiznesennaja v toržestvennom sobranii Jaroslavskago Demidovskago liceja, janvarja 15-go dnja 1856 goda, Professorom Političeskoj ėkonomii i Statistiki Alekseem L’vovym, \f „Orte“ ’ 1855; Aleksej Alekseevič Garjajnov: O železnych dorogach, Sankt Peterburg 1856 (= Wiederabdruck eines Artikels aus Nr. 265 der Zeitschrift Severnaja pčela).
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chen um zwei Fragen: Erstens, wem die Aufgabe übertragen werden sollte, das Zarenreich mit Schienenwegen zu erschließen – privaten Unternehmen wie der Hauptgesellschaft der Russländischen Eisenbahnen oder dem Staat – und zweitens, ob man sich bei den Planungen neuer Strecken eher an ökonomischen oder stärker an militärischen Bedürfnissen des Landes zu orientieren habe.103 Die Erfahrungen mit der 1857 gegründeten Hauptgesellschaft hatten den Kritikern des privat finanzierten Eisenbahnbaus in Russland Nahrung gegeben. Von den vier Magistral-Bahnen, die von dem Unternehmen gebaut werden sollten, konnten bis Ende 1862 nur zwei Linien – die Strecke von St. Petersburg nach Warschau und die Bahn von Moskau nach Nižnij Novgorod – in Betrieb genommen werden. Von der Verpflichtung, die beiden anderen Strecken von Moskau ans Schwarze Meer und von Kursk (oder Orel) an die Ostsee zu bauen, wurde das Unternehmen, das wegen Misswirtschaft, Korruption und Veruntreuungen in Verruf und finanzielle Schwierigkeiten geraten war, Anfang November 1861 entbunden.104 1865 kam der Bau neuer Strecken im Zarenreich schließlich fast völlig zum Stillstand. In den zehn Jahren zwischen 1855 und 1865 waren insgesamt nur 2.750 Kilometer neuer Eisenbahnen in Russland fertig gestellt worden.105 Von den in Mel’nikovs Netzentwurf aus dem Jahr 1856 formulierten Entwicklungszielen war die Verkehrspolitik des Zarenreiches noch weit entfernt. Der überarbeitete und 1863 veröffentlichte Entwicklungsplan Mel’nikovs für das russländische Eisenbahnnetz lässt sich als direkte Fortentwicklung seiner Planungsskizze aus dem Jahr 1856 lesen.106 Nach wie vor sah Mel’nikov die Eisenbahn im Zarenreich vor allem als ein Transportmittel von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, wobei inzwischen eine stärkere Berücksichtigung des Außenhandels bzw. des russischen Agrarexportes auffällt. Angesichts der wachsenden ausländischen Konkurrenz, der sich Russland auf den globalen Getreidemärkten zu stellen habe, dürfe das Land beim Eisenbahnbau nun keine Zeit mehr verlieren.107 Die stärkere gedankliche Verortung des Zarenreichs auf der Karte des internatio103 Zur Debatte um die Finanzierung des Eisenbahnbaus vgl. exemplarisch V. A. Panaev: Komu stroit’ železnye dorogi – pravitel’stvu ili kompanijam? In: Den’, Nr. 7 (16.2.1863), S. 8–11; Anatolij N. Kulomzin: Postrojka železnych dorog v Rossii i na zapade, in: Russkij vestnik, 1865, H. 11, S. 297–321; Nikolaj I. Lipin: Vzgljad na sposoby postroenija železnych dorog v Rossii, in: Sovremennaja letopis’. Voskresnyja pribavlenija k „Moskovskim vedomostjam“, 1865, Nr. 8 (fevral’), S. 1–8; Pavel G. fon Derviz: Russkija železnyja dorogi, Pribavlenie k „Moskovskim Vedomostjam“, Moskva 1865. 104 Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 80. 105 In den USA hatte man im gleichen Zeitraum fast 25.000 km neue Eisenbahn fertig gestellt. 106 Pavel P. Mel’nikov: Set’ glavnych linij železnych dorog Evropejskoj Rossii, sostavlennaja v Glavnom upravlenii putej soobščenija i publičnych zdanij, in: Žurnal Glavnogo upravlenija putej soobščenija i publičnych zdanij, 1863, Bd. XLI, Buch 5, S. 22–34. – Mel’nikovs Plan war am 26. Dezember 1862 und 3. Januar 1863 in einer Versammlung hoher Regierungsvertreter im Beisein des Kaisers abgesegnet worden. Vgl. Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 125f. Am 7. November 1863 wurde der Entwurf in den Sankt Peterburgskie vedomosti veröffentlicht, am 23. April 1865 erhielt er Gesetzeskraft. Vgl. Kraskovskij (Hg.), Istoria, Bd. 1, S. 87. 107 Mel’nikov: Set’ glavnych linij, S. 23.
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nalen Warenverkehrs hatte auch damit zu tun, dass Russland auf die Einnahmen aus dem Agrarexport für die Finanzierung des kostspieligen Eisenbahnbaus dringend angewiesen war. Um den dramatischen Rückstand seines Landes auf dem Gebiet der Infrastrukturplanung zu illustrieren, wies Mel’nikov auf das ungünstige Verhältnis von der Länge des eigenen Eisenbahnnetzes und der Fläche des Landes im internationalen Vergleich hin. Selbst wenn es gelänge, das Netz im Zarenreich in naher Zukunft auf eine Länge von 7.250 Werst auszubauen, so könne nur ein Verhältnis von einer Werst Schiene zu 607 Quadratwerst Landesfläche erreicht werden.108 In Großbritannien stünden dagegen einer Werst Eisenbahnstrecke ein Flächenanteil von nur 20 Quadratwerst gegenüber.109 Rechenspiele dieser Art waren in den folgenden Jahrzehnten ein fester Bestandteil des russischen Eisenbahndiskurses. Dass entsprechende Zahlen aufgrund der unterschiedlichen Siedlungsdichte z.B. in England und Russland nur schwer miteinander vergleichbar waren und sich die Notwendigkeit des Eisenbahnbaus nicht einzig aus der Größe des Territoriums eines Landes ableiten ließ, hatten zeitgenössische Kritiker zwar bereits erkannt.110 Dieser Einwand spielte in den Diskussionen um den Ausbau des russländischen Schienennetzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch keine erkennbare Rolle. Nach wie vor plante Mel’nikov, den Knotenpunkt des Eisenbahnnetzes im europäischen Russland in der Provinzstadt Orel anzusiedeln. Von dort sollten radial angelegte Magistralbahnen in den Süden nach Sevastopol’ (über Kursk, Char’kov, Ekaterinoslav), in den Norden nach Moskau, in den Osten nach Saratov (über Tambov) und in den Westen nach Dünaburg (über Smolensk) errichtet werden. Neu waren in Mel’nikovs Plan eine in südwestlicher Richtung verlaufende Bahnlinie von einem Punkt der Westbahn (zwischen Brjansk und Roslavl’) nach Odessa (über Černigov, Kiev und Balta) sowie die so genannte „Anthrazitbahn“ im Südosten des Landes, die der Versorgung des Eisenbahnnetzes mit Brennmaterial aus den Kohleminen von Gruševka (westlich des Don) dienen sollte.111 Das skizzierte Netz, so Mel’nikov, orientiere sich nicht nur an ökonomischen, sondern auch an strategisch-militärischen Bedürfnissen des Landes. Der Ingenieur gab sich optimistisch, dass sich durch die Erleichterungen für den Truppentransport die Armee des Zarenreiches deutlich verkleinern ließe. Die auf diese Art eingesparten Staatsausgaben ließen sich dann für eine Teilfinanzierung des Streckennetzes verwenden.112 Insbesondere die Bahnlinie von Orel ans Schwarze Meer und die 108 1 versta2 ≈ 1,14 km2 109 In Frankreich: 1:70; Deutschland: 1:136; USA: 1:156. Vgl. Mel’nikov: Set’ glavnych linij, S. 30. 110 Gillarij Perott: O postrojke seti železnych dorog v Rossii, Sankt Peterburg 1862. [Ursprünglich veröffentlicht in der Zeitung Akcioner, Nr. 7, 8, 9], S. 17–18. Wollte Russland eine ähnliche, an der Fläche des Landes gemessene Netzdichte wie England erreichen, so Perott, so müssten im Zarenreich insgesamt 383.000 Werst Schienen verlegt werden. Orientiere man sich an der Größe der Bevölkerung so läge der entsprechende Richtwert „nur“ bei 30.000 Werst. 111 Mel’nikov: Set’ glavnych linij, S. 25. 112 Mel’nikov: Set’ glavnych linij, S. 32.
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Schienenverbindung von Moskau über Kiev nach Odessa waren aus strategischen Gesichtspunkten in den Netzplan aufgenommen worden. Die Strecke von Odessa nach Kiev wurde dabei explizit als russische Antwort auf eine Bahnlinie im Habsburgerreich dargestellt, die jenseits der gemeinsamen Grenze im Bau war und die Städte Lemberg, Halič und Jassy miteinander verbinden sollte.113 Dieses Detail verdeutlicht den Bedeutungszuwachs der internationalen Dimension im russischen Eisenbahndiskurs der 1860er Jahre. Die Infrastruktur des Zarenreiches wurde von den Planern in der zentralen Verkehrsbehörde immer deutlicher in Relation zu den Verkehrsnetzen benachbarter Länder und anderer um ökonomischen und politischen Einfluss konkurrierender Staaten gesehen. Im russischen Eisenbahndiskurs ging dies mit einer noch deutlicheren Betonung der Häfen an Ostsee und Schwarzem Meer als Fluchtpunkte des Netzes einher. Gleichzeitig fällt die zunehmende Berücksichtigung der Außengrenzen des Landes bei der Konzeption neuer Eisenbahnanlagen ins Auge. Obwohl Mel’nikov in seinem Entwicklungsplan für den Eisenbahnbau in Russland aus dem Jahr 1862/63 versucht hatte, auch strategischen Interessen des Landes Rechnung zu tragen, stieß sein Entwurf im Lager der Militärverwaltung auf massive Kritik. Diese fand auch in der öffentlich geführten Debatte ihr Echo. Nicht zuletzt die Ereignisse des Januaraufstandes in Polen hatten den russischen Militärs die Nützlichkeit der Eisenbahn für die Niederschlagung von inneren Unruhen gezeigt.114 Gleichzeitig hatte die Erhebung im Königreich für viele Beobachter die besondere Gefährdung der Westgrenze des Zarenreiches offen gelegt. Der Bau von strategischen Eisenbahnen in den westlichen Randgebieten schien führenden Militärplanern die richtige Antwort auf die veränderte Sicherheitslage im eigenen Land zu sein. Bereits kurze Zeit nach der Veröffentlichung von Mel’nikovs Netzentwurf waren daher alternative Vorschläge für die Entwicklung des russländischen Eisenbahnnetzes im Umlauf, in denen das Territorium des Zarenreiches anhand anderer Kriterien vermessen und als latent von innen und außen bedrohter imperialer Raum beschrieben wurde. Einer der ersten öffentlich präsentierten Gegenentwürfe stammte aus der Feder des Deutschbalten A. Kursel’, der seine Vorstellungen von Russland als Eisenbahnraum 1864 in zwei Broschüren in St. Petersburg publizierte.115 Anders als die später aus Militärkreisen lancierten Netzpläne ließ sich Kursel’ bei der Formulierung seines Konzepts noch von ökonomischen und strategischen Überlegungen leiten. Wie Mel’nikov fokussierte auch Kursel’ zunächst auf die zentral gelegene Kornkammer des Landes, die bei entsprechender verkehrstechnischer Erschließung das Potential besitze, nicht nur Russland, sondern ganz Europa mit Getreide 113 Mel’nikov: Set’ glavnych linij, S. 31. 114 Vgl. dazu ausführlich Kap. 5.1.1. 115 A. Kursel’: Set’ russkich železnych dorog v eja praktičeskom primenenii, Sankt Peterburg 1864; ders.: O seti železnych dorog v Evropejskoj Rossii, Sankt Peterburg 1864. – Es konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob es sich bei A. Kursel’ um jenen Bevollmächtigten des Estländischen Adels handelt, der sich 1863 und 1865 bei der Regierung um eine Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie von St. Petersburg über Narva nach Reval bemühte. Vgl. dazu Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 275f.
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zu versorgen.116 Dementsprechend bilden auch hier die Häfen an Ostsee und Schwarzem Meer wichtige Fluchtpunkte des skizzierten Streckennetzes.117 Neu an Kursel’s Netzentwurf war die deutliche Hervorhebung der Funktion der Eisenbahn zur Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit im Zarenreich. Insbesondere der Januaraufstand in Polen habe gezeigt, „welch großer militärischer Nutzen sich aus der richtigen Streckenführung von Eisenbahnen“ ergebe. Die Bahnlinie von St. Petersburg nach Warschau habe es ermöglicht, Truppen innerhalb von zwei bis drei Tagen nach Vil’na und Warschau zu verlegen und die Kavallerie bereits am Tag nach ihrer Ankunft gegen die Insurgenten einzusetzen. Dies belege, dass die Eisenbahn ein wirksames Instrument zur „Sicherung der inneren Ruhe“ bzw. zur „Niederschlagung möglicher Revolten innerhalb des Staates“ sei.118 Auch für die Gewährleistung der äußeren Sicherheit sei die Eisenbahn mittlerweile ein unentbehrliches Mittel. Kursel’ betonte, dass sich die moderne Kriegsführung durch die neuesten Entwicklungen im Verkehrswesen entscheidend verändert habe. Bislang habe eine große Armee und eine Anzahl von Festungen genügt, um ein Land erfolgreich nach außen zu verteidigen. In der Kriegsführung der Gegenwart spiele mittlerweile jedoch der Faktor Zeit eine zentrale Rolle. „Schnell und entschieden“ einzugreifen und auf entsprechende Gefahren zu reagieren, sei der „Lebensnerv der [heutigen] Kriegskunst“ und die Eisenbahn daher ein wichtiges Mittel moderner Kriegsführung.119 Wie viele andere Eisenbahntheoretiker hob auch Kursel’ hervor, dass sich bereits aus der Größe des Zarenreiches die Notwendigkeit eines systematischen Ausbaus seines Eisenbahnnetzes ergebe. Neu war in seiner Argumentation indes der Hinweis auf die gefährdete, über 2.000 Werst lange Westgrenze des Reiches. Für Kursel’ bestand kein Zweifel daran, dass dem Zarenreich die größte militärische Gefahr in Zukunft von seinen westlichen Nachbarn Preußen und dem Habsburgerreich drohe.120 Entsprechend waren jene Eisenbahnen, die er als „operationelle Verteidigungslinien“ plante, an der Lage der westlichen Grenzmarken seines Landes ausgerichtet. Während in den an ökonomischen Bedürfnissen ausgerichteten Netzentwürfen die Häfen an Ostsee und Schwarzem Meer die Fluchtpunkte der Streckenplanung bildeten, orientierte sich Kursel’ bei der Definition der Kno-
116 Kursel’, Set’ russkich železnych dorog, S. 5. 117 Kursel’, Set’ russkich železnych dorog, S. 6–11; ders., O seti železnych dorog, S. 6. 118 Kursel’, Set’ russkich železnych dorog, S. 13f. Ähnlich argumentiert: A. Stankevič: Vopros o južnoj železnoj doroge s strategičeskoj točki zrenija, in: Sovremennaja letopis’. Voskresnyja pribavlenija k „Moskovskim vedomostjam“, 1865, Nr. 2 (janvar’), S. 1–3, hier S. 1. 119 Kursel’, Set’ russkich železnych dorog, S. 13. 120 Diese Einschätzung der außenpolitischen Lage Russlands nach dem Januaraufstand stand in einem Spannungsverhältnis zur konservativen Rezeption der Erhebung von 1863. Der konservative Publizist Michail Katkov sprach sich beispielsweise 1863 noch vehement für die Festigung des Bündnisses mit Preußen und Österreich aus und warnte vor einer Unterstützung der aufständischen Polen durch die Westmächte. Vgl. Dazu Martin Schulze Wessel: Russlands Blick auf Preußen. Die polnische Frage in der Diplomatie und der politischen Öffentlichkeit des Zarenreiches und des Sowjetstaates. 1697–1947, Stuttgart 1995, S.190f.
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tenpunkte seines Netzes auch an der Lage strategisch bedeutsamer Festungen, wichtiger Garnisonen und dem Verlauf taktisch relevanter Flüsse. Kursel’, der allem Anschein nach gut über die westliche Literatur zur Bedeutung der Eisenbahn für die moderne Kriegsführung informiert war, betrachtete das dampfbetriebene Verkehrsmittel auch als ein Instrument zur Verlegung von Truppenteilen von einem Frontabschnitt zum anderen sowie zum Transport von Nachschub und Verpflegung für die kämpfenden Einheiten aus dem Hinterland.121 Dementsprechend schlug er den Bau zweier in Nord-Süd-Richtung verlaufender Magistral-Bahnen in den westlichen Gebieten des Zarenreiches vor, die sich im Norden in der Hafenstadt Libau und im Süden in der Gegend von Žitomir treffen sollten. Die weiter im Westen gelegene Bahn, die eine erste Verteidigungslinie gegen den „Angriff des Feindes“ stärken sollte, konzipierte Kursel’ als Verbindung zwischen den Städten Grodno, Pinsk und Ostrov. Die weiter östlich gelegene Strecke sollte die strategisch wichtigen Festungen Kiev, Bobrujsk und Dünaburg miteinander verbinden. Der Versorgung aus dem Hinterland dienten zum einen die Strecke von St. Petersburg nach Warschau und zum anderen ein Zubringer von einem Punkt auf der Südbahn (bei Poltava) bis nach Kiev bzw. Žitomir. Den zentralen Knotenpunkt des von Kursel’ vorgeschlagenen Netzes sollte die „alte Hauptstadt“ Moskau bilden. Die „alte Stadt“ Kiev wollte er zum westlichen Drehkreuz des Eisenbahnverkehrs aufwerten.122 Interessant an der von Kursel’ entwickelten Skizze für ein Eisenbahnnetz im europäischen Russland erscheint, dass die geplante westliche „operationelle Verteidigungslinie“ nicht durch das Königreich Polen, sondern östlich der polnischen Grenze durch die sogenannten „Westgebiete (Zapadnyj kraj)“ des Zarenreiches verlaufen sollte.123 Trotz des Hinweises auf die Notwendigkeit, die westliche Reichsgrenze gegen äußere Feinde zu sichern und möglichen Unruhen innerhalb des Landes mit Hilfe der Eisenbahn Einhalt zu gebieten, schreckte Kursel’ offen-
121 Zur Rezeption westlicher Literatur zum Thema „Eisenbahn und moderne Kriegsführung“ vgl. u.a. Sergej Petrovič Buturlin: O voennom značenii železnych dorog i osobennoj ich važnosti dlja Rossii. S proektom seti sich putej i kartoju (= Čtenija v imperatorskom obščestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete, Bd. 4) 1865, S. 1–96, hier S. 8. Der General bezog sich in erster Linie auf die Studie von Karl Eduard Poenitz, Die Eisenbahnen und ihre Benutzung als militärische Operationslinien, aus den 1840er Jahren (2. Auflage: Adorf 1853). Poenitz’ Arbeit war in Russland in der französischen Übersetzung von 1844 bekannt. Eine russische Übersetzung erschien in Auszügen in der Zeitschrift Voennyj žurnal im Jahre 1846. Poenitz’ Buch wurde vollständig 1856 ins Russische übersetzt. Vgl. A. Kvist, Železnyja dorogi v voennom otnošenii, Teil 1: Perevozka vojsk po železnym dorogam, Sankt Peterburg 1868, S. II; Rieber, The Formation of La Grande Société, S. 377. Zu Poenitz vgl.: KlausJürgen Bremm: Von der Chaussee zur Schiene. Militärstrategie und Eisenbahnen in Preußen von 1833 bis zum Feldzug von 1866, München 2005, S. 135–138. 122 Kursel’, Set’ russkich železnych dorog, S. 16; ders., O seti železnych dorog, S. 3f., 7. 123 Zum Zeitpunkt der Publikation von Kursel’s Vorschlägen existierten im Königreich bereits zwei Bahnen von überregionaler Bedeutung, die Strecke von Warschau nach Wien und die Linie von Warschau nach Bromberg.
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bar vor der Idee einer territorialen Konsolidierung des politisch instabilen polnischen Kernlandes durch den Ausbau von dessen Infrastruktur zurück.124 Wie stark Kursel’s Konzeption jene Überlegungen zum Bau strategischer Eisenbahnen widerspiegelt, die in den 1860er Jahren im Kriegsministerium entwickelt wurden, wird beim Blick auf die Projektskizze für ein russländisches Schienennetz deutlich, das der General der Infanterie Sergej Buturlin im Jahr 1865 der Öffentlichkeit präsentierte. Buturlins Broschüre Über die militärische Bedeutung der Eisenbahnen und deren Notwendigkeit für Russland basierte auf einer Vorlesung vor der Kaiserlichen Gesellschaft für Geschichte und Archäologie in Moskau.125 Im Gegensatz zu Kursel’ konzentrierte sich Buturlin bei seinen Überlegungen gänzlich auf die Frage, wie die Eisenbahn zur Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit des Zarenreiches genutzt werden könne. Mel’nikovs Netzentwurf von 1862/63 lehnte der General mit dem Hinweis ab, dass dieser den strategischen Bedürfnissen des Landes nicht gerecht werde.126 Dass er selbst wiederum ökonomische Überlegungen bei seinen Planungen ignorierte, rechtfertigte der General mit dem Hinweis, dass „merkantile Interessen“ in den Hintergrund treten müssten, wenn es um den Schutz der Sicherheit des Staates gehe. Konkret bedeutete dies sogar, dass Buturlins Netzentwurf nicht vorsah, die Kornkammer des Zarenreiches, d.h. die fruchtbare Gegend zwischen Kiev, Char’kov und Voronež, an das Schienennetz anzubinden.127 Dass die Eisenbahnen eine zentrale Rolle bei der Planung moderner Kriege spielen werde, war für Buturlin dagegen keine Frage. Spätestens der französischpiemontesische Krieg gegen Österreich im Jahre 1859 habe die Bedeutung der Eisenbahn für die Durchführung schneller militärischer Operationen bewiesen.128 „Für unser Vaterland“, so gab sich Buturlin überzeugt, „ist [der Rückgriff auf die Eisenbahn als Mittel der Kriegsführung] wichtiger als für jedes andere Land“.129 Insbesondere die „Größe des Reiches“, aus der Russland auf der einen Seite Kraft und Wohlstand schöpfe, die sich auf der anderen Seite jedoch auch als militärstrategisches Problem darstelle, machten für ihn die Notwendigkeit des taktischen Eisenbahnbaus in seinem Land evident.
124 Die „innere Ruhe“ (vnutrennoe spokojstvie) in den westlichen Provinzen des Zarenreiches lasse sich auch mit Hilfe der Bahn entlang der westlichen Verteidigungslinie aufrechterhalten, so Kursel’, O seti železnych dorog, S. 9. – Zu den kontroversen Debatten über die Bedeutung der Eisenbahn für die Schaffung eines „nationalen Raums“ in den westlichen Randgebieten des Zarenreiches vgl. auch: Alexei Miller: The Romanov Empire and the Russian Nation, in: Stefan Berger, Alexei Miller (Hg.): Nation Building in the Core of European Empires (im Erscheinen). 125 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog. 126 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 14f. 127 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 61. 128 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 7. Buturlin regte an, Experten in die USA zu entsenden, um dort den Einsatz der Eisenbahn im Bürgerkrieg zu studieren. 129 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog , S. 11.
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Auch Buturlin war der Überzeugung, dass Russlands innere und äußere Sicherheit in Zukunft vor allem an dessen Westgrenze bedroht sei. Auf die Ereignisse des polnischen Januaraufstandes anspielend führte der General aus: „Eisenbahnen haben eine große strategische Bedeutung als Mittel der Landesverteidigung gegen äußere und innere Feinde. [Die gilt insbesondere für jene] Staaten, die Länder mit Stämmen unterschiedlicher ethnischer Herkunft annektiert haben, die in moralischer Hinsicht noch nicht mit dem erobernden Volk verschmolzen sind. Integration und Akkulturation (sljianie) kann und muss mit Hilfe rechtlicher und politischer Mittel erreicht werden. […] Falls es dort jedoch Elemente gibt, die offen oder im Geheimen die moralische Integration aller Teile des politischen Körpers, zu dem sie gehören, hintertreiben, […] muss die Regierung ihre Herrschaft in den revoltierenden Gegenden auf militärische Institutionen gründen. Zu diesen zählen unter anderem die permanente Stationierung von Streitkräften, die Errichtung von Festungen und der Bau von Verkehrswegen. Diese erleichtern es der Armee, [...] schnell zu jedem Ort zu gelangen, um innere Unruhen zu unterdrücken [...] und einen Angriff von außen abzuwehren.“130
Die Bedrohung der Westgebiete des Zarenreiches ergebe sich, so Buturlin, nicht nur aus der mangelnden Loyalität der dort lebenden (polnischen) Untertanen. Die Sicherheitslage „unserer Grenzländer“ sei zudem aufgrund deren großer geografischer Entfernung zu den zentralrussischen Gouvernements prekär. Buturlin erinnerte seine Leser daran, dass die Distanz zwischen Warschau und dem Rhein um zweihundert Werst kürzer sei als jene zwischen der Hauptstadt Polens und Moskau. Berücksichtige man zudem den schlechten Zustand der Straßen Russlands, so sei die tatsächliche „Entfernung“ zwischen Warschau und Moskau sogar noch größer. Die westeuropäischen Staaten, die in den vergangenen zwanzig bis dreißig Jahren ein dichtes Eisenbahnnetz geschaffen hatten, konnten, so Buturlin, „die Distanz zwischen sich und Russland“ sogar noch beträchtlich verringern. An der Entfernung zwischen Russland und dem Westen habe sich dagegen überhaupt nichts verändert.131 Das Zarenreich müsse daher in Zukunft alle Anstrengungen unternehmen, um die westlichen Gebiete des Reiches mit Hilfe der Eisenbahn enger an die zentralen Gouvernements anzubinden: „Ich bin der Meinung, dass es noch lange sinnvoller und angemessener sein wird, die Verbindungen der westlichen Gebiete des Imperiums mit dem Inneren des Staates zu verbessern und auszubauen, als [die Verbindungen aus den Westgebieten] in andere Staaten bzw. zwischen diesen Regionen [zu erweitern].“132 130 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog , S. 2. 131 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 13. 132 Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 48 (FN 44). Auch Mitarbeiter des Generalgouverneurs von Vil’na warnten in diesen Jahren vor einer größeren verkehrstechnischen Vernetzung der Westgebiete mit dem Königreich Polen. In einem Bericht vom 23. August 1867 wies beispielsweise der Beamte A. P. Storoženko darauf hin, dass der Bau der Eisenbahn von Warschau nach Vil’na die nationale Propaganda polnischer Aktivisten im Gouvernement Grodno erheblich erleichtert habe. Die Bahn bringe nicht nur „masurische Schweinehändler“, sondern auch “verschiedene Agenten der polnischen Sache (pol’skoj spravy)” in die Region, die hier “Unruhe stiften (raznosjat smuty)”. Lietuvos Valstybės Istorijos Archivas, f. 378, BS, 1866, b. 1152, ll. 86–86v. Zit. nach: Michail Dolbilov: “We are at one with our tsar who serves the Fatherland as we do”. The Civic Identity of Russifying Officials in the Em-
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Zugleich plädierte der General dafür, den westlichen imperialen Grenzraum Russlands durch den Bau strategischer Eisenbahnlinien abzusichern. Wie Kursel’ schlug auch Buturlin die Errichtung zweier in Nord-Süd-Richtung verlaufender Magistral-Bahnen vor, die in einem großen europäischen Krieg die Verlegung der Zarenarmee von einem Frontabschnitt zum anderen erleichtern sollte.133 Der Prognose Buturlins zufolge werde sich der „westliche Landstrich“ des Zarenreiches jenseits der Flüsse Düna (im Norden) und Dnjepr (im Süden) zum Schauplatz eines Verteidigungskrieges gegen die verbündeten europäischen Großmächte entwickeln.134 Diesen galt es mit Bahnen, die Versorgung und Nachschub aus dem Hinterland in den Westen transportieren können, zu sichern. Als westlichsten Punkt seines strategischen Streckennetzes definierte Buturlin die Stadt BrestLitovsk. Wie schon Kursel’ wollte auch der General das Königreich Polen selbst nicht weiter durch den Bau strategischer Bahnlinien sichern. Große Teile des Landes sollten vielmehr im Falle eines Angriffs aus dem Westen schnell von russischen Truppen geräumt werden.135 Als Drehkreuz des strategischen Eisenbahnnetzes in Zentralrussland hatte Buturlin die Stadt Brjansk vorgesehen, von wo im Kriegsfalle über eine nördliche oder eine südliche Route Nachschub an die Front geschickt werden sollte.136 Zudem schlug er vor, die militärische Reserve in den Städten Orša und Kiev zu konzentrieren, die beide auf der geplanten östlichen Nord-Süd-Achse lagen. Im Ernstfall könnten von diesen beiden Militärbasen schnell Einsatzkräfte von der Ostsee bis auf die Krim entsandt werden.137 Die Diskussion über die territoriale Konsolidierung des Zarenreiches durch den Bau strategischer Eisenbahnen erhielt durch den deutsch-deutschen Krieg im Jahr 1866, in dem vor allem Preußen sein Schienennetz offensiv nutzte, neue Nahrung. Der russländische Kriegsminister Dmitrij Miljutin, der konstatierte, dass das Schienennetz des Zarenreiches den militärischen Bedürfnissen des Landes nicht im geringsten genüge, beauftragte Ende 1868 vor diesem Hintergrund Oberst Nikolaj N. Obručev, Professor an der Akademie des Generalstabes, mit der Ausar-
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pire’s Northwestern Region after 1863 (unveröffentlichtes Paper) 2004, S. 11. Ich danke M. Dolbilov für die Einsicht in diesen Text. Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 30, 58. – Die westliche Linie sollte das Gebiet Poles’e (von Gorodišče im Norden über Pinsk, Žitomir bis Kamenec Podol’skij) queren. Die östliche Bahn war als Magistrale von Riga bis Sevastopol’ (über Dünaburg, Vitebsk, Mogilev, Černigov, Kiev, Nikolaev) geplant. Daneben betonte Buturlin auch die Notwendigkeit, die Küstenstreifen entlang der Ossee, entlang des Schwarzen Meeres und des Azovschen Meeres durch parallel verlaufende Eisenbahnen zu sichern. Zur Defensivstrategie der russländischen Militärverwaltung vor 1911 vgl. Heywood, ‘The Most Catastrophic Question’, S. 49. Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 16. Dem anderen Teil des Königreiches, in dem sich fünf bedeutsame Festungen befanden, kam in dem Szenarium des Verteidigungskrieges die Rolle eines nicht an das Eisenbahnnetz angeschlossenen Brückenkopfes zu. Vgl. ebd. S. 30. Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 52. Buturlin, O voennom značenii železnych dorog, S. 58. Für die Umsetzung dieser Pläne schlug der General die Errichtung großer Militärbahnhöfe an 25 Knotenpunkten des Netzes vor.
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beitung eines weiteren Netzplanes strategischer Eisenbahnlinien.138 Auch Obručev betonte, dass die westlichen Provinzen des Zarenreiches „eine Schlüsselfunktion für unsere Verteidigung“ spielen.139 In diesem Zusammenhang mahnte er, dass der am meisten gefährdete Abschnitt der russischen Verteidigungslinien noch nicht durch sichere Verkehrswege mit dem Zentrum des Staates verbunden sei. „Hinsichtlich der Allokation der Armee im Grenzland und der Truppenbewegungen von einem Distrikt zum anderen“, so Obručev weiter, „sind wir dem Feind weit unterlegen.“140 Obručevs Plan, mehrere Eisenbahnlinien bauen zu lassen, die Zentralrussland mit der Krim und der Weichselregion verbinden, sollte dieses Problems lösen. Der Staat sollte die Initiative beim Bau strategischer Eisenbahnen ergreifen und so die Unterlegenheit Russlands auf den Gebieten der Mobilisierung und Beförderung der Truppen gegenüber Österreich und Preußen beseitigen. Das von Kursel’, Buturlin, Obručev und anderen Teilnehmern der Debatte über den strategischen Eisenbahnbau in Russland gezeichnete Bild des Zarenreiches als vom Westen bedrohtes Territorium, findet sich auch in Dokumenten der obersten Militärverwaltung des Landes aus den späten 1860er Jahren wieder. In seiner Eingabe an Zar Alexander II., in der Kriegsminister Miljutin im Oktober 1868 für die Berücksichtigung strategischer Interessen bei der Verkehrsplanung plädierte, wird eindringlich auf die offene Flanke des Zarenreiches im Westen hingewiesen.141 Für den Kriegsminister präsentierten sich die „westlichen Grenzländer“ als neuralgischer „Schwachpunkt“. Schließlich handele es sich dabei um Gebiete, die noch nicht „vollständig mit dem Kernland Russlands verschmolzen sind“.142 Selbst wenn ein Feind, der aus dem Westen angreift, nicht davon träumen sollte, bis zum „Herzen Russlands“ vorzustoßen, so könne er doch in „unseren Grenzgebieten“ großen Schaden anrichten. Besonderes Augenmerk verdiene in diesem Zusammenhang das Königreich Polen, das den „Brückenkopf (golova)“ 138 Vgl. Dazu Petr A. Zajončkovskij: Voennye reformy 1860–1870 godov v Rossii, Moskva 1952, S. 120–124 und Jacob W. Kipp: Strategic Railroads and the Dilemmas of Modernization, in: David Schimmelpenninck van der Oye, Bruce W. Menning (Hg.): Reforming the Tsar’s Army. Military Innovation in Imperial Russia from Peter the Great to the Revolution, Cambridge 2004, S. 82–103, hier S. 92. – Nikolaj N. Obručev hatte sich bereits 1864 als Vordenker des strategischen Eisenbahnbaus im Zarenreich hervorgetan. Vgl. ders.: Set’ russkich železnych dorog. Učastie v nej zemstva i voiska, in: Eženedel’noe pribavlenie k Russkomu Invalidu, Nr. 22, 15.6.1864, S. 2–14; Nr. 23, 22.6.1864, S. 2–11; Nr. 24, 6.7.1864, S. 3–9. Zu Obručev, dem “russischen Moltke” vgl. David Alan Rich: The Tsar’s Colonels: Professionalism, Strategy, and Subversion in Late Imperial Russia, Cambridge, M.A. 1998, insbes. S. 256; Oleg R. Airapetov: Zabytaja kar’era ‘russkogo Mol’ke’. Nikolaj Nikolaevič Obručev (1830-1904), St. Petersburg 1998; John W. Steinberg: All the Tsar’s Men. Russia’s General Staff and the Fate of the Empire, 1898-1914, Baltimore 2010, S. 39f.; Alfred J. Rieber: Nationalizing Imperial Armies. A Comparative and Transnational Study of Three Empires, in: Stefan Berger, Alexei Miller (Hg.): Nation Building in the Core of European Empires (im Erscheinen). 139 Zit. nach Zajončkovskij, Voennye reformy, S. 121. 140 Zajončkovskij, Voennye reformy, S. 121. 141 Vgl. dazu: Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 333–334. 142 Miljutin hatte dabei nicht nur das Königreich Polen, sondern darüber hinaus Finnland, die Ostseeprovinzen, Litauen, Volhynien, Bessarabien, die Krim und den Kaukasus im Blick.
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der westlichen Grenzländer bilde. Sein Territorium reiche tief in den „Körper Europas (telo Evropy)“ hinein, und die dortige politische Situation biete mehr Zündstoff als jene in anderen Regionen. Wenn wir es zuließen, so Miljutin weiter, dass sich der Feind an der Weichsel festsetzt, hätte das für den territorialen Zusammenhalt des Zarenreiches gravierende Folgen. Auf keinen Fall dürfe man dem Feind erlauben, die nationale Frage an unsere Grenze zu tragen, die vor ihrer Zuspitzung [noch] durch russischen Einfluss ausgeglichen werden kann.“ Sonst, sei, so Miljutin, „der Zusammenhalt aller unserer staatlichen Gebiete erheblich gefährdet.“143 Aus der Tatsache, dass die potentiellen Angreifer aus dem Westen – d.h. Preußen und das Habsburgerreich – über bessere Eisenbahnverbindungen zur Grenze mit Russland verfügten als das Zarenreich, leitete Miljutin die dringende Forderung nach dem Ausbau des eigenen Schienennetzes in den russischen Westgebieten ab. Dabei hatte er vor allem die Anbindung der Festung von BrestLitovsk durch drei Schienenstränge ins Hinterland (nach Grodno im Nordosten, nach Smolensk im Osten und nach Kiev im Südosten) und eine in Nord-SüdRichtung verlaufende Bahnlinie von Kiev in das litauisch-weißrussische Grenzgebiet im Blick.144 Diese Bahnen sollten die Verlegung von Truppenteilen zwischen den einzelnen Frontabschnitten und die schnelle Versorgung der kämpfenden Einheiten aus den zentralen Gouvernements ermöglichen. Obwohl Polen auch von Miljutin als Schauplatz eines möglichen Verteidigungskrieges des Zarenreiches gegen seine westliche Nachbarn angesehen wurde, plädierte auch er nicht für die Ausdehnung des strategischen Schienennetzes Russlands bis in das „Weichselgebiet“ hinein.145 Miljutin klagte in seiner Eingabe vom Oktober 1868 darüber, dass in den vergangenen Jahren bei der Planung neuer Eisenbahnverbindungen ökonomischen Erwägungen stets mehr Gewicht beigemessen worden sei als den strategischen Interessen des Landes. Vermutlich hatte der Kriegsminister dabei unter anderem 143 Zit. nach: Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 1, S. 333. – Die ethnische Gemengelage an Russlands (West-)Grenze wurde von russischen Militärstatistikern und -geografen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend als strategisches Problem beschrieben. Vgl. Peter Holquist: To Count, to Extract, and to Exterminate. Population Statistics and Population Politice in Late Imperial and Soviet Russia, in: Ronald G. Suny, Terry Martin (Hg.): A State of Nations. Empire and Nation-Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford, New York 2001, S. 111–144, hier S. 115. 144 Daneben hielt Miljutin an der Forderung fest, eine möglichst direkte Schienenverbindung von Moskau bis nach Sevastopol’ am Schwarzen Meer zu bauen. 145 Die Haltung des Kriegsministeriums zum Bahnbau in Polen änderte sich in den folgenden Jahrzehnten mehrfach. 1873 forderte Miljutin auf einer Sicherheitskonferenz den Bau von 5.000 Werst neuer Eisenbahnen im Westen des Zarenreiches, 1.000 davon im Königreich Polen. Von den elf geforderten Strecken waren bis 1881 jedoch noch keine und bis 1888 nur drei errichtet worden. Nach einem erneuten Wandel der militärischen Strategie sprach sich das Kriegsministerium 1910 wieder gegen den Bahnbau auf polnischem Gebiet aus. Man befürchtete nun, dass diese den potentiellen Angreifern aus dem Westen bei ihrem Vormarsch helfen könnten. William C. Fuller: Strategy and Power in Russia. 1600–1914, New York 1992, S. 295–298, 305, 339, 440.
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jene öffentliche Debatte im Sinn, die in den Jahren 1863-64 am Projekt der so genannten „Südbahn“ entbrannt war und die die verschiedenen Lager der Eisenbahnpolitik im Zarenreich gegeneinander aufgebracht hatte.146 Die Diskussion, an der sich nicht nur hohe Beamte aus St. Petersburg, sondern auch zahlreiche Würdenträger aus der Provinz sowie Unternehmer und namhafte Wissenschaftler beteiligt hatten, kreiste, vereinfacht gesprochen, um die Frage, ob die Zarenregierung den Bau einer Bahnlinie von Odessa über Balta und Kremenčug (am Dnjepr) nach Char’kov genehmigen oder als Alternative ein Bahnprojekt von Odessa nach Kiev (bzw. weiter nach Moskau) vorantreiben solle. Während die erste Option von Finanzminister Michail Ch. Rejtern (von Reutern), Innenminister Petr A. Valuev, dem Vizekönig von Polen Großfürst Konstantin Nikolaevič, dem Generalgouverneur von Neurussland und Bessarabien Pavel Estav’evič Kocebu (Paul Demetrius Kotzebue) sowie einer Reihe Unternehmer mit deutschbaltischem Hintergrund unterstützt wurde, standen hinter dem zweiten Vorschlag Kriegsminister Miljutin, der Minister der staatlichen Güter A. A. Zelenoj, der Leiter der Hauptverwaltung der Verkehrswege Mel’nikov, der einflussreiche Publizist Michail Katkov sowie eine Gruppe Moskauer Geschäftsleute. Während die Fürsprecher der Bahnlinie Odessa-Kremenčug auf das ökonomische Potential dieses Verkehrsprojektes hinwiesen, mit dem die fruchtbaren Gegenden Süd-Podoliens an die Hafenstadt am Schwarzen Meer angebunden werden sollten, polemisierten ihre Gegner, dass die Bahnlinie nur ausländischen Interessen dienen und separatistische Tendenzen in der Ukraine fördern würde.147 Anfang Dezember 1864 lieferten sich Vertreter der beiden Lager auf einer Sitzung der statistischen Abteilung der Kaiserlichen Russländischen Geografischen Gesellschaft (IRGO) einen heftigen Schlagabtausch, wobei die Befürworter der Bahnlinie von Kiev nach Odessa vor allem auf die militärische Bedeutung dieses Vorhabens hinwiesen. Unter ihnen war auch Oberst Nikolaj Obručev, der in der Diskussion die Bedeutung der Strecke als Verlängerung einer strategischen Linie von Moskau über Kursk nach Kiev hervorhob.148 Ungeachtet des massiven Widerstands hochrangiger Vertreter der Ministerialbürokratie votierte Mitte Dezember 1864 das Ministerkomitee für die Bahnlinie von Balta über Kremenčug
146 Vgl. dazu ausführlich: Alfred Rieber: The Debate over the Southern Line: Economic Integration or National Security, in: Serhii Plokhy, Frank Sysyn (Hg.): Synopsis. A collection of Essays in Honour of Zenon E. Kohut, Toronto 2005, S. 371–397; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 90–92. 147 Zur „ukrainischen Frage” nach dem Januaraufstand: Aleksej I. Miller: „Ukrainskij vopros“ v politike vlastej i russkom obščestvennom mnenii (vtoraja polovina XIX v.), Sankt Peterburg 2000, Kap. 7. 148 Rieber, The Debate Over the Southern Line, S. 390. Obručev publizierte seine Ansichten zur Süd-Bahn und zur Entwicklung des russischen Schienennetzes in: ders., Set’ russkich železnych dorog. Diese Argumentation findet sich z.B. auch bei: Stankevič, Vopros. – A. Zelenoj legte 1863 einen eigenen Netzentwurf vor. Vgl. dazu: Daniel R. Brower: The Russian City between Tradition and Modernity 1850–1900, Los Angeles, Oxford 1990, S. 42–43. Browers These, dass dieser Plan zur Basis der staatlichen Eisenbahnpolitik der kommenden Jahre werden sollte, entbehrt jeder Grundlage.
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nach Char’kov.149 Dieser Entscheidung schloss sich wenig später auch Zar Alexander II. an. Ausschlaggebend war dabei offensichtlich das Argument von Finanzminister von Reutern, dass sich die staatliche Eisenbahnpolitik kurz- und mittelfristig vor allem an ökonomischen Interessen des Landes zu orientieren habe. Die Bahn von Odessa nach Kremenčug bzw. Char’kov verspreche die Wirtschaftlichkeit russischer Eisenbahnen sichtbar unter Beweis zu stellen, den Export von Agrarerzeugnissen aus Südrussland und der Ukraine anzukurbeln und dadurch dringend benötigte Finanzmittel in die Staatskasse des Zarenreiches zu spülen. Die Forderung des gegnerischen Lagers, die Ukraine mit Hilfe einer strategischen Eisenbahnlinie auch ökonomisch enger an die zentralrussischen Gouvernements anzubinden, wies von Reutern mit dem Hinweis zurück, dass dies erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen könne.150 Als sich Kriegsminister Miljutin im Herbst 1868 bei Alexander II. für den Ausbau des strategischen Schienennetzes im Zarenreich einsetzte, hatte sich die finanzielle Lage für den Eisenbahnbau in Russland jedoch deutlich verändert. Hintergrund war die Einrichtung eines staatlichen Finanzfonds im Jahr 1867, der die Vergabe von Krediten an private Eisenbahngesellschaften erleichtern sollte und der in den Jahren 1868-1872 den ersten Bauboom in der Eisenbahngeschichte des Zarenreiches auslöste.151 Auf der Grundlage überarbeiteter Pläne für die Entwicklung des Eisenbahnnetzes im europäischen Russland wurden in diesen fünf Jahren rund 9.600 Kilometer neuer Eisenbahnlinien fertig gestellt. Viele dieser Strecken orientierten sich an ökonomischen Interessen, andere befriedigten eher die Bedürfnisse der russländischen Militärstrategen.152 Nach einer über dreißig 149 Rieber, The Debate Over the Southern Line, S. 394. 150 Rieber, The Debate Over the Southern Line, S. 394. 151 Aida M. Solov’eva: Promyšlennaja revoljucija v Rossii v XIX v., Moskva 1990, 136; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 95; Eljutin, „Zolotoj vek“ železnodorožnogo stroitel’stva v Rossii. – Die Mittel, die in diesen Eisenbahnfonds flossen, stammten zum einen aus dem Verkauf Alaskas an die Vereinigten Staaten im Jahr 1867, der Privatisierung staatlicher Bahnlinien (Nikolaj-Bahn, Odessa-Bahn, Moskau-Kursk-Bahn) sowie der Auflage von in- und ausländischen Anleihen im großen Stil. Zum anderen wurde der Fonds durch den Rückfluss von Krediten und Zinsen von den Eisenbahngesellschaften gespeist. Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 98; Alfred Rieber: Interest-Group Politics in the Era of the Great Reforms, in: Ben Eklof u.a. (Hg.): Russia’s Great Reforms, 1855–1881, Bloomington/Ind. 1994, S. 58–83, hier S. 67; Owen, Dilemmas, 124–134. 152 Zu den Entwicklungsplänen von 1868 bzw. 1870 vgl. Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 2, S. 35–38, 46–56. Der modifizierte Entwicklungsplan für das russische Eisenbahnnetz, den der Nachfolger Mel’nikovs als Verkehrsminister, Graf V. A. Bobrinskoj, 1870 erarbeitete, sah insgesamt 27 neue Eisenbahnen in einer Gesamtlänge von 7.362 Werst vor. Rieber argumentiert, dass sich für die strategischen Bahnen, die ökonomisch weniger rentabel waren, jedoch kaum interessierte Eisenbahnunternehmer gefunden hätten. Vgl. ders., InterestGroup Politics, S. 68. – Die Entscheidung über den konkreten Verlauf bestimmter Strecken war dabei nicht allein das Ergebnis von Aushandlungsprozessen innerhalb den zarischen Zentralbehörden. Auch lokale Akteure, wie z.B. Kaufmannsvereinigungen oder zemstva versuchten, über Eingaben, Pressekampagnen oder Bestechung Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung in St. Petersburg bzw. der Leitungen der entsprechenden Bahngesellschaften zu nehmen. Vgl. dazu: Brower, Russian City, S. 45; Sperling, Aufbruch in die Provinz.
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Jahre lang geführten Debatte zwischen Befürwortern eines an ökonomischen Interessen orientierten Netzes und Verfechtern des strategischen Eisenbahnbaus schien sich die Möglichkeit zu eröffnen, ein Streckennetz im europäischen Russland zu realisieren, das die Bedürfnisse beider Lager befriedigte.153 2.5. DIE SCHAFFUNG EINES INDUSTRIALISIERTEN RAUMS Die Grundstruktur des russländischen Eisenbahnnetzes im europäischen Teil des Reiches entstand während des ersten großen Eisenbahnbooms der späten 1860er und frühen 1870er Jahre. Mit der fortschreitenden Vernetzung des Landes waren die politischen Grundsatzdebatten über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Russland mit Eisenbahnen zu erschließen, hinfällig geworden. Auch der Streit über die Frage, ob man sich bei der Netzplanung primär an ökonomischen oder an strategischen Bedürfnissen orientieren sollte, hatte sich deutlich entschärft. Die öffentlichen Diskussionen um den Bau von Eisenbahnen im Zarenreich drehten sich seit den 1860er Jahren vermehrt um die Frage nach der Rolle des Staates bei der Finanzierung und dem Betrieb neuer Strecken. Unter Finanzminister von Reutern (1862-1878) beschränkte sich die Reichsregierung zunehmend auf die Vergabe von Konzessionen für den Bau neuer Eisenbahnlinien an private Unternehmen und engagierte sich finanziell mit der Garantie fester Dividenden des in die Aktiengesellschaften investierten in- und ausländischen Kapitals. Ende der 1870er Jahre waren die russischen Eisenbahnen fast vollständig in privater Hand.154 Die unterschiedlichen Interessengruppen innerhalb und außerhalb der Reichsregierung stritten zwar nach wie vor darüber, ob man bei der Vergabe neuer Konzessionen Eisenbahnen mit ökonomischer oder Strecken mit strategischer Bedeutung den Vorzug geben sollte. Die Zusage staatlich garantierter Dividenden führte in der Praxis jedoch dazu, dass sich – zumindest während des Eisenbahnfiebers der 1860er und 1870er Jahre – offenbar auch Investoren für Verkehrsprojekte fanden, die keinen größeren Profit versprachen. Obwohl die Eisenbahn seit den 1830er Jahren in russischen Debatten wiederholt als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beschworen wurde, fällt auf, dass selbst die Fürsprecher einer schnellen verkehrstechnischen Er153 Dessen ungeachtet führte die Forderung der Militärs nach mehr strategischen Eisenbahnlinien bis zum Ersten Weltkrieg immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen dem Kriegsministerium auf der einen und dem Finanz- bzw. Verkehrsministerium auf der anderen Seite. Vgl. Fuller, Strategy and Power, S. 295–298, 339, 391, 461. Heywood weist darauf hin, dass das strategische Schienennetzes im Zarenreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht so schlecht entwickelt war, wie die Militärs stets behaupteten. Vgl. ders., The most Catastrophic Question, S. 51, 53, 62. 154 Zu Ende der Amtszeit von Finanzminister von Reutern wurden – abgesehen von einer kurzen Schmalspurbahn – alle Eisenbahnen im Zarenreich (in einer Gesamtlänge von 20.416 Werst) von privaten Eisenbahngesellschaften betrieben. Vgl. Valentin Wittschewsky: Rußlands Handels-, Zoll- und Industriepolitik von Peter dem Großen bis auf die Gegenwart, Berlin 1905, S. 113.
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schließung des Zarenreiches von relativ statischen ökonomischen Strukturen des Landes als agrarisch geprägter Wirtschaftsraum ausgingen. Auch Finanzminister von Reutern wollte mit Hilfe der Eisenbahn zunächst vor allem die Ausfuhr landwirtschaftlicher Güter ankurbeln. So sollte auf eine ausgeglichene Handelsbilanz hingewirkt und die desolate Situation der Staatsfinanzen nach dem Krimkrieg aufgebessert werden. In seiner Denkschrift über die finanzielle und wirtschaftliche Lage des Staats vom 16. September 1866 bezeichnete er die Erbauung von Eisenbahnen als „für die Zukunft Russlands wichtigste Aufgabe der Regierung. [...] Die durch die Eisenbahnen vermehrte Ausfuhr [von Agrarerzeugnissen] erscheint [...] als der einzig mögliche Ausweg für unsere zerrütteten Valutaverhältnisse und folglich auch für den Staatskredit und die Finanzen überhaupt.“155
Der Gedanke, dass Eisenbahnen helfen könnten, neben der Förderung der „Landbaus“ auch die Entwicklung der gewerblichen und industriellen Produktion des Landes voranzutreiben, fand nur langsam Eingang in die Eisenbahndebatten im Zarenreich.156 Zwar hatte schon P. Mel’nikov in seinem Entwicklungsplan für das russländische Eisenbahnnetz aus dem Jahr 1862/63 den Bau einer sogenannten „Anthrazitbahn“ von Ekaterinoslav am Dnjepr bis zu den Minen von Gruševskaja (westlich des Severnyj Donec) vorgeschlagen, eine Bahn, die in west-östlicher Richtung die Kohlelagerstätten des Donec-Beckens durchquert hätte. Diese Strecke sollte jedoch nur die Versorgung russischer Lokomotiven mit Brennmaterial sicher stellen.157 Auch der Entwicklungsplan für das russländische Streckennetz, der unter Mel’nikovs Nachfolger Graf Bobrinskoj im Jahre 1870 entwickelt wurde und der den Neubau von über 7.000 Werst neuer Eisenbahnen vorsah, zielte in erster Linie darauf ab, die landwirtschaftlichen Produktionszentren des Landes mit den russischen Fluss- und Seehäfen zu verbinden.158 Einige der in die Planung neu aufgenommenen Linien waren allerdings auch bereits darauf ausgerichtet, die Schwerindustrie im Süden des Landes und im Uralgebiet zu fördern. So querten zwei der in den späten 1860er bzw. frühen 1870er Jahren gebauten Nord-Süd-
155 Denkschrift über die finanzielle und wirtschaftliche Lage des Staats, 16.9.1866, in: W. Graf Reutern - Baron Nolcken (Hg.): Die finanzielle Sanierung Rußlands nach der Katastrophe des Krimkrieges 1862–1878 durch den Finanzminister Michael von Reutern, Berlin 1914, S. 16– 96, hier S. 55. Russische Ausgabe: Zapiska razsmotrennaja v Vysočajšem prisutstvii v komitete finansov 16 Sentjabrja 1866 g., in: A. N. Kulomzin, V. G. Rejtern-Nol’ken: M. Ch. Rejtern. Biografičeskij očerk, Sankt Peterburg 1910, S. 64–138, hier S. 100. Rieber nennt die Denkschrift vom 16.9.1866 “the touchstone for Russian economic policy down to Witte’s time.” Ders., Interest-Group Politics, S. 65. Ähnlich argumentiert der Eisenbahningenieur und Zeitgenosse von Reuterns N. N. Iznar in seinen 1917 verfassten Memoiren: Ders.: Zapiski inženera, in: Voprosy istorii, 2004, Nr. 1, S. 106. 156 William L. Blackwell: The Industrialization of Russia. A Historical Perspective, Arlington Heights, Ill. 31994, S. 27–29. 157 Mel’nikov, Set’ glavnych linij, S. 25, 28. 158 Zum Entwicklungsplan von 1870 vgl. Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 2, S. 46–54.
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Verbindungen das Donec-Becken an dessen östlichem und westlichem Rand.159 Für das Ural-Gebiet, das bis in die 1890er Jahre das wichtigste Zentrum der metallurgischen Produktion in Russland darstellte, wurde eine Bergbau-Bahn 1870 geplant (jedoch erst in den Jahren 1875-1878 errichtet).160 Auch die DonecSteinkohle-Bahn, die maßgeblich für die Gründerzeit im Bergbau im DonecBecken in den 1880er Jahren verantwortlich war, entstand erst in den Jahren 1878/79.161 Die für die Entwicklung der russischen Schwerindustrie im Süden des Landes bedeutsame Verbindung zwischen den Erzvorkommen von Krivoj Rog und den Kohleflözen des Donec-Beckens (Ekaterininskaja-železnaja doroga) wurde erst im Jahr 1884 in Betrieb genommen.162 Da heimische Produktionskapazitäten noch nicht ausreichend entwickelt waren, profitierte vor allem die ausländische Schwerindustrie vom Ausbau des russischen Schienennetzes in den Jahren zwischen 1868 und 1872.163 Auch dank einer äußerst liberalen russischen Zollpolitik stammten nur 9 % der im Jahr 1875 im Zarenreich verlegten Eisenbahngleise aus eigener Produktion.164 Vor diesem Hintergrund setzte sich auch bei Finanzminister von Reutern die Erkenntnis durch, 159 Die Kursko-Char’kovo-Azovskaja-Bahn, gebaut 1868–69 durchquerte den westlichen Teil, die 1871 fertiggestellte Kozlovo-Voronežsko-Rostovskaja-Bahn den östlichen Teil des Donec-Beckens. 1873 wurde zudem eine Zweigbahn von der Lozovo-Sevastopol’skajaEisenbahn zum Donec-Becken in Betrieb genommen. Vgl. Solov’eva, Promyšlennaja revoljucija, S. 139. 160 Zur Geschichte der Ural’skaja gornozavoskaja železnaja doroga: Ju. L. Il’in (Hg.): Sozdanie velikogo sibirskogo puti, Bd. 1, Sankt Peterburg 2005, S. 19–30. 161 Solov’eva, Promyšlennaja revoljucija, S. 140. Die Entscheidung zum Bau der Doneckaja kamenougol’naja železnaja doroga fiel im April 1875. Vgl. Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 2, S. 219, 224, 227. 162 Zur Geschichte der Katharinen-Bahn: Po Ekaterininskoj železnoj doroge, hg. von Upravlenija Ekaterininskoj železnoj dorogi, Ekaterinoslav 1903, S. 22–27. Zur Bedeutung der Bahn vgl. auch: Dietrich Beyrau, Manfred Hildermeier: Von der Leibeigenschaft zur frühindustriellen Gesellschaft (1856–1890), in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 3/1: 1856 bis 1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat, hg. von Gottfried Schramm, S. 5–202, hier S. 122; Roger Portal: The Industrialization of Russia, in: The Cambridge Economic History of Europe, Bd. 6/2, Cambridge 1965, S. 801–872, hier S. 819; Wегnег E. Mosse: An Economic History of Russia 1856–1914. London 1996, S. 106; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 199–202; Tugan-Baranovsky, Geschichte, 406; Hans-Heinrich Nolte: Technologietransfer in Rußland vor 1914. Möglichkeiten und Grenzen nachholender Industrialisierung. In: Technikgeschichte 51 (1984), S. 319–334, hier S. 323. 163 Wittschewsky, Rußlands Handels-, Zoll- und Industriepolitik, S. 222–224; Solov’eva, Promyšlennaja revoljucija, S. 178. 164 Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 131. Der Zolltarif von 1868 erlaubte den abgabenfreien Import von Eisenbahnschienen nach Russland. Vgl. Peter Gatrell: The Tsarist Economy 1850–1917, London 1986, S. 150. Von Reutern war davon überzeugt, dass man mit dem Ausbau des russischen Schienennetzes nicht so lange warten dürfe, bis die heimische Industrie über die entsprechenden Produktionskapazitäten verfügt. Damit rechtfertigte er den Import z.B. von Schienen aus England. Vgl. Iosif F. Gindin: Rol’ železnodorožnogo stroitel’stva v industrializacii Rossii i železnodorožnaja politika S. Ju. Vitte, in: S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 2, Moskva 2006, S. 583–622, hier S. 585.
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dass vom Ausbau des Eisenbahnnetzes nicht nur die Produzenten und Exporteure russischer Agrargüter, sondern auch die eigene Schwerindustrie nachhaltig profitieren könnte und sollte.165 In einer Denkschrift aus dem Jahr 1876 über Maßnahmen zur Entwicklung der Schienenproduktion in Russland schrieb er: „Unsere Eisenbahnen wurden zum Großteil mit Hilfe ausländischen Kapitals errichtet und ohne diese Mittel können sie auch in der Zukunft zweifellos nicht gebaut werden. Es darf jedoch nicht sein, dass die Eisenbahnen auch weiterhin nur unter Zuhilfenahme von Schienen und Fahrzeugen aus ausländischer Produktion instand gehalten werden können. Dies würde uns in eine doppelte Abhängigkeit von ausländischem Kapital bringen.“166
Sowohl die staatliche Förderung der russischen Eisenbahnindustrie in den 1870er Jahren als auch die Abschaffung der zollfreien Einfuhr von Schienen im Mai 1876 waren eine logische Schlussfolgerung aus dieser Einsicht.167 Ohne Eisenbahnen und eine eigene mechanische Industrie, so von Reutern, könne die Sicherheit Russlands in seinen heutigen Grenzen nicht mehr garantiert werden. Vielmehr drohe der Einfluss des Landes in Europa auf ein Niveau zu sinken, das seiner „inneren Macht“ und historischen Bedeutung nicht entspreche.168 Nicht zuletzt aus machtpolitischen Erwägungen versuchte die Reichsregierung ab den späten 1870er Jahren in wachsendem Maße durch staatlichen Eisenbahnbau neue gewerbliche Produktionszentren zu schaffen und so die Industrialisierung des Landes voranzubringen. Dieser Paradigmenwechsel hatte weitreichende Folgen für das wirtschaftsräumliche Denken im Zarenreich. Während bislang die Eisenbahn vor allem als Verkehrs- und Transportmittel in einer weitgehend agrarisch geprägten Volkswirtschaft gesehen wurde, sollte sie nun in verstärktem Maße die Nachfrage nach Erzeugnissen der russischen Schwerindustrie sicherstellen. Von Bedeutung war dabei nicht nur, welche industriellen Standorte, welche Hüttenwerke sowie Kohle- und Erzlagerstätten in das Schienennetz 165 Alfred Rieber: Železnye dorogi i ėkonomičeskoe razvitie: istoki sistemy Rejterna, in: V. M. Panejach (Hg.): Stranicy Rossijskoj istorii. Problemy, sobytija, ljudi. Sbornik statej v čest’ B. V. Anan’iča, Sankt Peterburg 2003, S. 150–179. Rieber nennt, in Anlehnung an I. Gindin und Jakob Kipp, von Reutern einen Vorläufer der Wirtschaftspolitik Vittes. Dabei betont er jedoch auch die Unterschiede im wirtschaftspolitischen Denken der beiden Finanzminister. Ebd. S. 177–178. 166 Zit. nach: Iosif F. Gindin: Gosudarstvennyj bank i ėkonomičeskaja politika carskogo pravitel’stva. 1861–1892 gody, Moskva 1960, S. 191. 167 Zur Förderung der russischen Schwerindustrie durch staatliche Aufträge und Schutzzölle in den 1870er Jahren: Wittschewsky, Rußlands Handels-, Zoll- und Industriepolitik, S. 234; Beyrau, Hildermeier, Von der Leibeigenschaft, S. 116–118; Gatrell, Tsarist Economy, S. 151; Arcadius Kahan: Russian Economic History: The Nineteenth Century, Chicago 1989, S. 19; A. P. Pogrebinskij, Stroitel’stvo železnych dorog v poreformennoj Rossii i finansovaja politika carizma (60–90-e gody XIX v.), in: Istoričeskie Zapiski 47 (1954), S. 149–180, hier S. 164; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 136–144; Gindin, Gosudarstvennyj bank, S. 194. 168 M. Ch. Rejtern. Biografičeskij očerk, Sankt Peterburg 1910, priloženija, S. 162, zit. nach: Iosif F. Gindin: K voprosu ob ėkonomičeskoj politike carskogo pravitel’stva v 60–80 godach XIX v., in: Voprosy istorii, 1959, Nr. 5, S. 63–82, hier S. 67. Das Zitat stammt aus einer Vorlage (doklad) aus den 1860er/70er Jahren.
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des Zarenreiches eingebunden werden sollten, sondern zugleich wie die Nachfrage nach den Erzeugnissen der russischen Eisenbahnindustrie (wieder) angekurbelt werden könnte. Nachdem der Bau neuer Schienenverbindungen im Zarenreich Ende der 1870er Jahre nahezu zum Stillstand gekommen war, sprachen sich immer mehr Personen für ein stärkeres Engagement des Staates im Eisenbahnbau aus. In den meisten Arbeiten zur russischen Wirtschaftsgeschichte wird das Konzept, mit Hilfe massiver staatlicher Investitionen im Eisenbahnbau und einer protektionistischen Zollpolitik die Industrialisierung des Zarenreiches voranzubringen, vor allem mit dem Namen von Finanzminister Sergej Jul’evič Vitte (18921903) in Verbindung gebracht.169 – Vitte durchlief eine beispiellose Karriere vom Generaldirektor der (privaten) Süd-West-Eisenbahnen zum Chef des EisenbahnDepartements im Finanzministerium, um später das Amt des Verkehrs- und bald darauf das des Finanzministers zu übernehmen. Als Eisenbahnexperte war er davon überzeugt, dass die Reichsregierung mit dem modernen Verkehrsmittel über ein „äußerst machtvolles Instrument zur Steuerung der ökonomischen Entwicklung des Landes“ verfüge.170 Das Ziel der Industrialisierung des Zarenreiches leitete Vitte vor allem aus machtpolitischen Überlegungen ab. Ähnlich wie von Reutern argumentierte er, nur durch den Aufbau einer eigenen Industrie könne der Großmachtstatus des Zarenreiches erhalten und verhindert werden, dass Russland auf das Niveau einer Kolonie des Westens absinke.171 In seinem vertraulichen Bericht an Nikolaus II. vom Februar 1900 führte er aus: „Wie kein anderes Land ist Russland (mit seiner großen multiethnischen Bevölkerung, mit seinen vielfältigen historischen Aufgaben auf der internationalen Bühne und mit seinen viel169 Theodore H. von Laue: Sergei Witte and the Industrialization of Russia, Columbia 1963; Jürgen Nötzold: Agrarfrage und Industrialisierung am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Dietrich Geyer (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland, Köln 1975, S. 228–251, hier S. 233; Mosse, Economic History, S. 105; Paul Gregory: Before Command. An Economic History of Russia. From Emancipation to the First Five-Year Plan, Princeton 1994, S. 55; Gindin, Rol’, S. 606; Jane Mellor: Modernization Theory and Count Witte’s Russia in the 1890s, in: Slovo: An interdisciplinary journal of contemporary Russian and East European Affairs 1 (1988), Nr. 2, S. 8–34, insbes. S. 22–25. – Viele Autoren betonen indes, dass Vitte mit seiner Politik an die Strategie seiner Vorgänger, insbesondere an die Nikolaj Bunges und Ivan Vyšnegradskijs anknüpfen konnte. Vgl. u.a. Blackwell, Industrialization of Russia, S. 30ff. 170 Zit. nach: von Laue, Sergei Witte and the Industrialization of Russia, S. 78. Zur Biografie Vittes (neben dem Werk von Laues): Boris Vasil’evič Anan’ič, Rafail Šolomovič Ganelin: Sergej Jul’evič Vitte i ego vremja, Sankt Peterburg 1999; Sidney Harcave: Count Sergei Witte and the Twilight of Imperial Russia. A Biography, Armonk (NY), London 2004; Frank Wcislo: Sergei Witte and His Times. A Historiographical Note, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 5 (2004), H. 4, S. 749–758; ders.: Tales of Imperial Russia. The Life and Times of Sergei Witte, 1849-1915, New York 2011; Sergej Il’in: Vitte, Moskva 2006. 171 Blackwell, Industrialization, S. 32; Dietrich Geyer: Russland an der Jahrhundertwende. Zeitdiagnosen und Zukunftsprojektionen aus östlicher Perspektive, in: Ute Frevert (Hg.): Das neue Jahrhundert: Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 244–264, hier S. 258.
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Territoriale Visionen im russischen Eisenbahndiskurs schichtigen Interessenslagen im Inneren) darauf angewiesen, dass das nationale, politische und kulturelle Gebäude [des Gemeinwesens] auf einer entsprechenden ökonomischen Grundlage steht. [Ziel sollte es sein,] das Imperium Eurer Hoheit nicht nur in politischer und agrarischer, sondern auch in industrieller Hinsicht zu einer Großmacht zu machen.“172
Vitte vertrat nicht nur das von den Schriften Friedrich Lists inspirierte Konzept einer protektionistischen und an nationalen Interessen ausgerichteten Industriepolitik.173 Als Finanzminister setzte er sich zudem für den umfangreichen Bau neuer Eisenbahnen durch die Regierung im europäischen und asiatischen Teil des Reiches ein. In seine Amtszeit als Finanzminister fiel der zweite Bauboom der russischen Eisenbahngeschichte in den 1890er Jahren. Zwischen 1890 und 1900 wurden im Zarenreich 22.638 Kilometer neuer Eisenbahnstrecken verlegt. Zwischen 1897 und 1901 entstanden in keinem anderen Land Europas so viele Eisenbahnkilometer pro Jahr, wie in Russland. Knapp die Hälfte der zwischen 1893 und 1900 gebauten Strecken wurde dabei aus der Staatskasse finanziert.174 Kein anderes Ressort konnte in diesen Jahren einen ähnlichen Zuwachs des eigenen Budgets verbuchen wie das Verkehrsministerium, dessen Haushalt von 12,14 Mio. Rubel im Jahr 1882 auf 435,55 Mio. Rubel im Jahr 1902 wuchs.175 Der Ausbau des Schienennetzes schuf – wie erhofft – die Grundlage für den Aufbau einer russi-
172 Doklad S. Ju. Vitte Nikolaju II o neobchodimosti soglasovannoj politiki v oblasti promyšlennosti («O položenii našej promyšlennosti»), in: Sud’by Rossii. Problemy ėkonomičeskogo razvitija strany v XIX – načale XX vv. Dokumenty i memuary gosudarstvennych dejatelej, hg. von L. E. Šepelev, Sankt Peterburg 22007, S. 360–370, hier S. 363. 173 Nötzold, Agrarfrage, S. 237; Anan’ič, Ganelin, Sergej Jul’evič Vitte i ego vremja, S. 54; 67f.; Harcave, Count Sergei Witte, S. 49f.; Roman Szporluk: Communism and Nationalism. Karl Marx versus Friedrich List, New York u.a. 1988, S. 209f.; Eugen Wendler: Friedrich List. Politische Wirkungsgeschichte des Vordenkers der europäischen Integration, München 1989, S. 125–136; A. N. Bochanov: Probleme der industriellen Modernisierung Russlands (Sergej Witte und Friedrich List), in: Dietrich Beyrau (u.a.) (Hg.): Reformen im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts: Westliche Modelle und russische Erfahrungen, Frankfurt 1996, S. 139–149; Joachim Zweynert: Eine Geschichte des ökonomischen Denkens in Russland. 1805–1905, Marburg 2002, S. 336–338. – 1889 veröffentlichte Vitte seine Abhandlung über die nationalökonomische Theorie Friedrich Lists und machte diese damit einer breiteren Leserschaft im Zarenreich bekannt. Vgl. Sergej Ju. Vitte: Po povodu nacionalizma. Nacional’naja ėkonomika i Fridrich List, in: ders.: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov, Bd. 1, Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 35–90. 174 Heinz-Dietrich Löwe: Von der Industrialisierung zur ersten Revolution 1890 bis 1904, in: Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 3/1: 1856 bis 1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat, hg. von Gottfried Schramm, S. 203–335, hier S. 224f. Zwischen 1890 und 1900 gab die russische Regierung jährlich im Schnitt 120 Mio. Rubel für den Eisenbahnbau aus. Vgl. Laue, Sergei Witte, S. 262. 175 Vincent Barnett: The Revolutionary Russian Economy, 1890–1940. Ideas, Debates, and Alternatives, London, New York 2004, S. 30. Zahlen nach: Ivan Christoforovič Ozerov: Ėkonomičeskaja Rossija, eja finansovaja politika na ischode XIX i v načale XX veka, Moskva 1905, S. 237. – Das Budget des MPS überflügelte im Jahr 1902 sogar jenes des Kriegsministeriums (325,6 Mio.) und des Finanzministeriums (335,2 Mio.) Rubel.
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schen Schwerindustrie und entwickelte sich insgesamt zum Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1890er Jahre.176 In seinen Vorlesungen über Volks- und Staatswirtschaft, in denen Vitte 1902/03 seine volkswirtschaftliche Konzeption zusammenfasste, betonte er, dass in Russland der „Annäherung der verschiedenen Landesteile [durch die Eisenbahn] eine viel größere Bedeutung zu[komme] als in den anderen Staaten.“177 Die Eisenbahn erleichtere nicht nur die Überwindung räumlicher Distanz im „unermesslich“ großen Zarenreich.178 Zudem habe die (staatliche) Nachfrage nach Schienen und rollendem Material die Industrialisierung des Landes maßgeblich gefördert. Die Eisenbahnen mit ihren rund 400.000 Angestellten hätten sich bis zur Jahrhundertwende selbst zum größten Gewerbe des Landes entwickelt. In keiner anderen „Industrie“ würden so viele Menschen arbeiten, wie auf den Eisenbahnen des Zarenreiches.179 Vittes Eisenbahnpolitik zielte aber nicht nur auf die Förderung der russischen Schwerindustrie ab. Dem Vorbild Bismarcks folgend trieb Vitte auch die Verstaatlichung privater russischer Eisenbahngesellschaften voran.180 Auch der Bau großer Transkontinentalbahnen und die Einführung eines differenzierten Systems staatlich festgelegter Frachttarife sollten zu einer grundlegenden Veränderung der russischen Wirtschaftsgeografie beitragen und Russlands Position als internationale Handelsmacht stärken.181 Als Leiter des Eisenbahndepartements im Finanzministerium war Vitte für die Ausarbeitung jenes Gesetzes verantwortlich, mit dem 1889 einheitliche Fracht- und Personentarife für alle Eisenbahngesellschaften des Zarenreiches festgelegt wurden. Die Grundlage für dieses Gesetzesvorhaben bildete Vittes Abhandlung über Prinzipien der Eisenbahntarife für den Gütertransport (1883).182 Bis 1889 hatten private Eisenbahngesellschaften im Zaren176 Löwe, Industrialisierung, S. 224; Laue, Sergei Witte, S. 265f.; Nötzold, Agrarfrage, S. 233; Tugan-Baranovsky, Geschichte, S. 411; Gindin, Rol’, S. 588. Vgl. auch die Quellensammlung S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 2, Moskva 2006, S. 571–582. 177 Sergej Ju. Witte: Vorlesungen über Volks- und Staatswirtschaft, Bd. 2, Stuttgart 1913, S. 67. 178 Witte, Vorlesungen, Bd. 1, S. 71. 179 Witte, Vorlesungen, Bd. 2, S. 66. 180 Zur Verstaatlichung der Eisenbahnen unter Vitte: Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 178–192 und die Quellensammlung in: S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 2, Moskva 2006, S. 347–668. Gindin betont, dass Vitte nicht die Verstaatlichung aller Eisenbahngesellschaften des Zarenreiches angestrebt und dass sich seine Politik in diesem Punkt von jener Bismarcks unterschieden habe. Vgl. ders. Rol’, S. 610. 181 Zur Tarifpolitik Vittes: Löwe, Industrialisierung, S. 218; Laue, Sergei Witte, S. 90; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 163–178 und die Quellensammlung in: S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 2, Moskva 2006, S. 21–343. 182 Sergej Ju. Vitte: Principy železnodorožnych tarifov po perevozke gruzov, Kiev 1883. Vgl. dazu: T. M. Kitanina, N. K. Figurovskaja: Tarifnaja reforma na železnodorožnom transporte, in: S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 2, Moskva 2006, S. 7–20, hier S. 9f.; Harcave: Count Sergei Witte, S. 28; Frank Wcislo: Rereading Old Texts: Sergei Witte
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reich nach eigenem Ermessen die Preise für ihre Transportleistungen festlegen können, ein System, das aus Sicht der Reichsregierung den Bedürfnissen des Binnen- und Außenhandels des Zarenreiches immer weniger gerecht wurde.183 In seiner Schrift über Die russischen Häfen und die Eisenbahntarife, die Vitte 1886 noch in seiner Funktion als Generaldirektor der Süd-West-Eisenbahnen schrieb, heisst es: „Im wirtschaftlichen Organismus nimmt die Eisenbahn denselben Rang ein, wie im Körper die Circulation des Blutes, welche letztere jeden kleinsten Teil des Körpers mit Nahrung versorgt. Es ist nicht nur möglich, sondern sogar unumgänglich notwendig, die Blutcirculation zu regulieren, doch darf man keineswegs den Kreislauf desselben dahin ändern, dass man es vorwiegend dem einen Körperteile auf Unkosten des anderen Körperteiles zulenkt.“184
Für Vitte war es keine Frage, dass dem Staat, bzw. der Reichsregierung die Aufgabe zufalle, die „Blutzirkulation“, d.h. die Warenströme, innerhalb des Körpers der russländischen Volkswirtschaft zentral zu „regulieren“. Diesem Zweck diente die staatliche Tarifpolitik, die sich in den Jahren 1893-1903 zu einem der „wichtigsten Instrumente staatlicher Wirtschaftspolitik“ entwickelte.185 Vittes wirtschaftsgeografisches Denken zeichnete sich auch dadurch aus, dass er den volkswirtschaftlichen Organismus des Zarenreiches in seiner ganzen imperialen Ausdehnung in den Blick nahm. Nicht zuletzt an der Ausrichtung der staatlichen Tarifpolitik für die russländischen Eisenbahnen in den 1890er Jahren lässt sich die zunehmende Bedeutung der imperialen Dimension im russländischen Eisenbahndiskurs ablesen. Die Ausdehnung des Streckennetzes in die asiatische Peripherie des Reiches hatte zur Folge, dass immer mehr Wirtschaftsregionen in den Wirkungsbereich des neuen Verkehrsmittels kamen, was in der Konsequenz auch eine reichsweite Wirtschaftspolitik erheblich erleichterte. 2.6. DIE KONSOLIDIERUNG DES IMPERIALEN RAUMS Bei der Betrachtung russischer Eisenbahndiskurse der 1850er und frühen 1860er Jahre fällt auf, dass die meisten umfassenden Netzentwürfe nur den europäischen Teil des Zarenreiches in den Blick nahmen. Obwohl der Topos von Russland als dem „größten Land der Erde“ schon früh von Verfechtern des Eisenbahnbaus beschworen wurde, richteten sich deren Visionen zunächst auf die zentralrussischen Gebiete sowie die westlichen und süd-westlichen Randregionen des Landes. Bereits in den frühen Debatten über die verkehrstechnische Anbindung des Königand the Industrialization of Russia, in: Susan P. McCaffray, Michael Melancon (Hg.): Russia in the European Context. 1789–1914. A Member of the Family, New York 2005, S. 71–83. 183 Die Kritik richtete sich nicht nur auf kontraproduktive Preiskämpfe zwischen den einzelnen Eisenbahngesellschaften, sondern auch darauf, dass niedrige Tarife für Transporte von den Häfen ins Landesinnere den Import ausländischer Industriegüter verbilligen und so der Schutzzollpolitik der Reichsregierung entgegen wirken würde. Vgl. Gindin, Rol’, S. 606. 184 Sergej Witte: Die russischen Häfen und die Eisenbahntarife, Wien 1886, S. 9. 185 Gindin, Rol’, S. 606.
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reichs Polen und der Ukraine war jedoch deutlich geworden, dass der Bau von Eisenbahnen eng mit der Frage der territorialen Konsolidierung Russlands als imperialer Raum verbunden war. Als während des ersten russischen EisenbahnBooms die Vernetzung des Vielvölkerreiches in seiner ganzen Ausdehnung mittelfristig realisierbar erschien, weitete sich auch der Horizont in den russischen Eisenbahndebatten deutlich.186 Das Augenmerk richtete sich zunehmend auf die Frage, wie das dampfgetriebene Verkehrsmittel zur Festigung der Verbindungen zwischen dem russischen Zentrum und der asiatischen Peripherie beitragen könne. Nach dessen „Befriedung“ Ende der 1850er Jahre rückte zunächst der Kaukasus in den Blick der Verkehrsplaner. Im Zuge der Eroberung Zentralasiens folgten Debatten über die Rolle der Eisenbahn bei der Unterwerfung, Beherrschung und ökonomischen Ausbeutung von Russisch-Turkestan.187 In den 1870er und 1880er Jahren intensivierten sich schließlich auch Diskussionen um die verkehrstechnische Anbindung und Durchquerung Sibiriens. 2.6.1. Kaukasus/Transkaukasus An den Diskussionen über den Bau einer Nord-Kaukasus-Bahn in den späten 1860er Jahren lässt sich nicht zuletzt der Einfluss regionaler Interessensvertreter bei der Planung neuer Schienenverbindungen im Zarenreich in dieser Zeit ablesen. Das Projekt einer privat finanzierten Eisenbahn von Rostov am Don nach Vladikavkaz am Fuße des Kaukasus wurde vor allem von Großfürst Michail Nikolaevič, dem regionalen Statthalter des Zaren, unterstützt. In einem Brief an Alexander II. beschwor der Großfürst im Januar 1869 die Bedeutung eines Schienenstrangs für die dauerhafte Integration des Kaukasus in das Zarenreich: „Der Kaukasus ist unterworfen und befriedet. Bislang handelt es sich dabei aber nur um eine physische Unterwerfung, die [weiter] Eventualitäten ausgesetzt ist. Um die Verbindung zu verfestigen, bedarf es auch einer geistigen Unterwerfung, die sich [jedoch] nur mittels der Verkürzung der Entfernungen, die den Kaukasus vom Reich trennen, erreichen lässt. [...] [Nur eine Eisenbahn von Rostov nach Vladikavkaz] vermag den Kaukasus und den Transkaukasus für immer mit untrennbaren Fesseln an Russland zu binden. Dann wird es in ferner Zukunft vielleicht keinen Kaukasus mehr geben und [das Gebiet] wird sich zu einer Fortsetzung Südrusslands bis zu seinen asiatischen Grenzen entwickeln.“188
Das in diesem Text evozierte Bild des Zarenreiches als homogener nationaler Raum, in dem politische und kulturelle Binnengrenzen keine Rolle mehr spielen, 186 Eine erste Version der folgenden Überlegungen wurde bereits an anderer Stelle publiziert. Vgl. Frithjof Benjamin Schenk: Das Zarenreich als Transitraum zwischen Europa und Asien. Russische Visionen und westliche Perzeptionen um die Jahrhundertwende, in: Aust, Martin (Hg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851-1991, Frankfurt/Main 2013, S. 41-63. 187 Zur Diskussion um die Anbindung Zentralasiens an das Zentrum des Zarenreiches vgl. Zajnab K. Achmedžanova: Železnodorožnoe stroitel'stvo v Srednej Azii i Kazachstane. Konec XIX – načalo XX v., Taškent 1984, S. 13–15. 188 Zit. Nach: Kislinskij, Naša železnodorožnaja politika, Bd. 2, S. 34.
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illustriert die hochfliegenden Hoffnungen, die Entscheidungsträger im Zarenreich mitunter in die Vernetzung des imperialen Raumes durch die Eisenbahn setzten. Da sich im Falle des Bahnprojektes von Rostov nach Vladikavkaz die politischen Interessen der lokalen Machthaber mit dem ökonomischen Kalkül privater Investoren und den strategischen Erwägungen des Kriegsministeriums in St. Petersburg leicht in Einklang bringen ließen, konnte die Strecke bereits im Dezember 1869 in den offiziellen Entwicklungsplan des russländischen Eisenbahnnetzes aufgenommen und im Jahr 1875 feierlich eröffnet werden.189 Mit dem Bau der Bahnverbindung nach Baku entlang der Westküste des Kaspischen Meeres wurde 1899 auch die Transkaukasus-Bahn in das Streckennetz des Russländischen Reiches integriert.190 Für diese, in den Jahren 1866 bis 1883 zunächst als isolierte Bahnlinie angelegte Strecke im südlichen Kaukasus hatten sich zunächst die regionalen Repräsentanten der Zarenmacht eingesetzt. Bereits Ende 1857 wandte sich der Statthalter im Kaukasus, Fürst Aleksandr Ivanovič Barjatinskij, in einem Schreiben an Zar Alexander II. und plädierte mit Nachdruck für den Bau einer Eisenbahnstrecke von der Ostküste des Schwarzen zur Westküste des Kaspischen Meeres. Ähnlich wie Großfürst Michail Nikolaevič zwölf Jahre später verwies Barjatinskij auf die Abgelegenheit und Isolation der
189 Ab 1884 entwickelte sich die private Vladikavkaz-Eisenbahngesellschaft zu einem ökonomisch äußerst erfolgreichen Unternehmen, das 1888 eine Verbindung zum Schwarzmeerhafen von Novorossijsk errichtete, in den 1890er Jahren die Kurbäder des nördlichen Kaukasus’ erschloss und 1899 mit einer Bahn nach Caricyn für die Anbindung der Region an die Wolga sorgte. 1894 konnte eine Zweigbahn zum Hafen von Petrovsk am Kaspischen Meer und 1899 die Verbindung zur Transkaukasus-Bahn nach Baku in Betrieb genommen werden, für deren Bau sich insbesondere Vertreter der dortigen Ölindustrie eingesetzt hatten. Um die Jahrhundertwende war die Vladikavkaz-Eisenbahngesellschaft eines der wenigen privatwirtschaftlichen Unternehmen, das ökonomisch prosperierte und daher der Verstaatlichung entgangen war. Zur Geschichte der Rostov-Vladikavkaz-Bahn (1884 umbenannt in „VladikavkazBahn“): John N. Westwood: The Vladikavkaz Railway: A Case of Enterprising Private Enterprise, in: Slavic Review 25 (1966), Nr. 4, S. 669–675; N. Ju. Silaev: “Kavkaz ne stanet…” Vladikavkazskaja železnaja doroga: neskol’ko nezamečennych sjužetov, in: Kavkazskij sbornik 1 (33) (2004), S. 110–128; Dž. Gakkaev (Hg.): Severnyj kavkaz v sostave Rossijskoj imperii, Moskva 2007, S. 233f.; Sunderland, Taming the Wild Field, S. 196. Zum wirtschaftlichen Erfolg der Eisenbahngesellschaft: Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 238–240; Westwood, Vladikavkaz Railway, S. 672. 190 Zur Geschichte der Transkaukasus-Bahn: Aristakes T. Sagratjan: Istorija železnych dorog Zakavkaz’ja, 1856–1921, Erevan 1970; Sarah Searight: Russian Railway Penetration of Central Asia, in: Asian Affairs 23 (1992), S. 171–180, insbes. S. 173–176; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 95, 101. – Die Bauarbeiten am ersten Streckenabschnitt von Poti nach Tiflis wurden im Jahr 1872 abgeschlossen. Auf Druck der Ölindustrie von Baku erfolgte zwischen 1879 und 1883 der Bau der Linie von Tiflis an die Westküste des Kaspischen Meeres und die Anbindung der Bahn an den Schwarzmeerhafen Batum, der 1878, nach dem Sieg über das Osmanische Reich, an Russland gefallen war. 1889 ging die private Bahngesellschaft in staatlichen Besitz über. Anfang der 1890er Jahre zählte sie aufgrund der steigenden Transportmengen von Erdölprodukten aus Baku nach Batum zu den ertragreichsten Eisenbahnen des Zarenreiches. Vgl. Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauz-Efron, Bd. 12, Sankt Peterburg 1894, S. 149–150, s.v. „Zakavkazskaja železnaja doroga“.
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transkaukasischen Gebiete und beschwor die Eisenbahn als ein geeignetes Mittel, die Provinz näher an das Zentrum des Reiches anzubinden: „Heute sind die Regionen des Transkaukasus nur auf einer geografischen Karte Teil des Imperiums. In Wirklichkeit stellen sie ein Gebiet dar, das in jeder Beziehung von Russland abgetrennt ist. Die riesigen Verkehrsprobleme und die gewaltigen Entfernungen zu jenen Orten, an denen die wichtigsten Kräfte des Staates konzentriert sind, trennen sowohl in militärischer als auch in ökonomischer Hinsicht den Transkaukasus vom Reich.“191
Nicht nur militärische Transporte in die Provinz würden durch die schwach entwickelte Infrastruktur behindert. Auch die Wirtschaft der Region leide unter den hohen Preisen für Transporte nach Russland, so Barjatinskij. Eine Eisenbahn durch den südlichen Kaukasus werde den „Höhenkamm des Kaukasus auf der Handelskarte einebnen“ und zu einer Belebung der regionalen Wirtschaft nachhaltig beitragen. In erster Linie werde ein Schienenstrang zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer jedoch helfen, den Transkaukasus als bedeutsame Transitregion zwischen Europa und Asien auf der Karte des Welthandels zu etablieren: „Die transkaukasische Region liegt an der Scheidelinie zweier Kontinente und bietet dadurch einen [Transit-] Ort für den freien Welthandel. In den vergangenen fünfzig Jahren der russischen Herrschaft hatten die Regionen jenseits der Berge für den Staat nur eine politische Bedeutung und verursachten ausschließlich Kosten. Tatsächlich hat die Region das Potential, sich zum reichsten Teil des Imperiums zu entwickeln. […] Die Wiedergeburt dieses Landes ist ohne Handel nicht möglich, in diesem liegt sein ganzer geografischer Sinn. […] Aus eigenem Interesse und aus Interesse für die Region muss Russland die Landenge des Kaukasus zu einer großen Straße des Welthandels machen. […] Der Bau einer Eisenbahn wird im Transkaukasus die gleiche Wirkung entfalten wie Wasser in fruchtbarer, aber von der Sonne ausgedörrter Erde.“192
2.6.2. Zentralasien Die Idee, Russland mit Hilfe von Eisenbahnen zu einem Transitland des Welthandels zu machen und auf diese Art das Reich neu auf der Karte globaler Warenströme zu positionieren, findet sich auch in den Diskussionen über den Bau der zwei großen Transkontinental-Bahnen im Zarenreich, die Bahn durch Zentralasien und den „Großen Sibirischen Weg“, wieder. Anders als seine Kollegen im Kaukasus, konnte sich der russische Generalgouverneur von Turkestan Konstantin von Kaufmann (1867–1882) jedoch mit seiner Forderung nach der Anbindung der ihm unterstellten Provinz an das Schienennetz des Zarenreiches zunächst nicht durchsetzen.193 Die Diskussion über den Bau einer Eisenbahn aus dem europäischen 191 A. M. Argutinskij-Dolgorukov: Istorija sooruženija i ėkspluatacija Zakavkazskoj železnoj dorogi za 25 let ee suščestvovanija (1871–1896), Tiflis 1896, zit. nach Sagratjan, Istorija, S. 11–12. 192 Zit. nach Sagratjan, Istorija, S. 13. 193 Zur Geschichte der verkehrstechnischen Erschließung Russisch-Turkestans: Oscar Heyfelder: Transkaspien und seine Eisenbahn. Nach Akten des Erbauers General Lieutenant M. Annen-
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Russland (bzw. Sibirien) nach Zentralasien wurde insbesondere seit den frühen 1870er Jahren in Regierungskreisen, der Presse sowie in gesellschaftlichen Vereinigungen wie der IRGO geführt. Zwischen 1865 und 1880 gingen bei der Regierung über vierzig Bahnprojekte zur Prüfung ein.194 In den meisten Eingaben wurde der Bau einer Schienenverbindung aus dem europäischen Russland bzw. der Steppenregion um Orenburg nach Taschkent angeregt.195 Viele Vorschläge stammten dabei von ausländischen Ingenieuren, Unternehmern und Banken. Dies verdeutlicht, dass die verkehrstechnische Erschließung des Zarenreiches längst zu einem Thema internationaler Debatten über den „Weltverkehr“ und zu einem begehrten Betätigungsfeld transnational operierender Wirtschaftsakteure geworden war.196 Besondere Aufmerksamkeit zog das Projekt des französischen Ingenieurs Ferdinand de Lesseps auf sich, der im Jahr 1873 der Zarenregierung den Vorschlag unterbreitete, Turkestan mittels einer transkontinentalen Eisenbahn quer durch Russland zu einem Transitland für den Handel zwischen Europa und Indien aufzuwerten.197 Hinter de Lesseps, der als Erbauer des Suez-Kanals zu den großen
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kow, Hannover 21888 (Erstauflage 1887); W. E. Wheeler: The Control of Land Routes: Russian Railways in Central Asia, in: Journal of the Royal Central Asian Society 21 (1934), S. 585–608; Zajnab K. Achmedžanova: K istorii stroitel’stva železnych dorog v Srednej Azii (1880–1917), Taškent 1965; dies., Železnodorožnoe stroitel'stvo; Searight, Russian Railway Penetration; Derek W. Spring: Railways and Economic Development in Turkestan before 1917, in: Leslie Symons, Colin White (Hg.): Russian Transport. A Historical and Geographical Survey, London 1975, S. 46–74; Stadelbauer, Bahnbau und kulturgeographischer Wandel in Turkmenien; ders.: Russische Eisenbahnen in Turkestan. Pionierleistung oder Hemmnis für eine autochthone Raumentwicklung?, in: Wolf-Dieter Hutteroth u.a. (Hg.): Frühe Eisenbahnbauten als Pionierleistungen. Neustadt an der Aisch, 1993, S. 69–91; Seymour Becker: Russia's Protectorates in Central Asia: Bukhara and Khiva, 1865–1924, London, New York 2004, S. 125ff.; S. Smirnova (Hg.): Central’naja Azija v sostave Rossijskoj Imperii, Moskva 2008, (Reihe: Okrainy Rossijskoj Imperii), S. 143f. Achmedžanova, K istorii, S. 27; Richard A. Pierce: Russian Central Asia. 1867–1917, Berkeley 1960, S. 184. Achmedžanova, K istorii, S. 30. Vgl. Gr. v. Helmersen: Beitrag zur Kenntniss der geologischen und physiko-geographischen Verhältnisse der Aralo-Kaspischen Niederung, in: Mitteilungen der Kaiserlich-Königlich Geografischen Gesellschaft Wien, 22 (1879), S. 531–535, hier S. 532. – Zum Topos des „Weltverkehrs“ vgl. exemplarisch: Otto von Wittenheim: Beiträge zur Kenntniss der Verbindungen durch Eisenbahnen in Russland im Allgemeinen u. besonders über die projectirte DünaburgRigaer Bahn, Leipzig 1852, S. 3ff.; Michael Geistbeck: Weltverkehr. Die Entwicklung von Schiffahrt, Eisenbahn, Post und Telegraphie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Freiburg 1895 (Reprint: Hildesheim 1986); Thomas Lenschau: Das Weltkabelnetz, Halle a. S. 1903; Albrecht Wirth: Der Weltverkehr, Frankfurt 1906; Iris Schröder, Sabine Höhler: WeltRäume: Annäherungen an eine Geschichte der Globalität im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt/Main 2005, S. 9–47, insbes. 12–17; Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 63ff.; Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt 2006. M. Ė. Mitina: Imperatorskoe Russkoe Geografičeskoe Obščestvo i voprosy železnodorožnogo stroitel’stva v 60-e načale 80-ch godov XIX v., in: Izvestija vsesojuznogo geografičeskogo
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Visionären der globalen Vernetzung zählte, standen vor allem französische Banken. Sie betrachteten das Vorhaben einer Bahn nach Indien als Konkurrenzprojekt zum britisch dominierten Suez-Kanal.198 Lesseps Vorschlag wurde nicht zuletzt von Generalgouverneur von Kaufmann unterstützt, der davon träumte, eine Eisenbahn könnte die „schlafenden Energien des [ihm unterstellten] Landes zum Leben erwecken und dessen natürlichen Reichtum erschließen“.199 Von Kaufmann gab sich überzeugt, dass eine Schienenverbindung nach Turkestan die Provinz nicht nur in politischer Hinsicht enger an Russland anbinden, sondern beide Teile des Reiches zu einer „Union der Interessen“ verbinden würde.200 Weder das Renommee des französischen Ingenieurs de Lesseps noch der Hinweis von Kaufmanns auf die strategische Bedeutung einer Bahnverbindung nach Turkestan konnten die Kritiker des Projekts in St. Petersburg überzeugen. Selbst Kriegsminister Miljutin, eigentlich ein Verfechter des Baus strategischer Bahnlinien, gab am 3. Januar 1875 in einer Diskussion über das Projekt einer Zentralasien-Bahn zu Protokoll: „Die Länge einer solchen Bahn wäre so groß, die Schwierigkeiten ihres Baus so gewaltig und die von ihr durchquerten Gegenden so wüst, dass sich eine Strecke bis Taškent nie rechnen würde. Da es momentan so viele Bahnprojekte gibt, die für Russland unerlässlich sind, wäre es nicht an der Zeit, Vorhaben dieser Art in Erwägung zu ziehen. […] Das Vorhaben de Les-
obščestva 123 (1991), Nr. 4, S. 360–364, hier S. 361; Pierce, Russian Central Asia, S. 184f. De Lesseps schlug vor, eine Schienenverbindung von Ekaterinburg (auf der diskutierten „Südroute“ der Transsibirischen Eisenbahn) über Troick, Samarkand nach Indien zu bauen und so das europäische Schienennetz an das des indischen Subkontinents anzubinden. Laut George Curzon schlug de Lesseps (in Kooperation mit dem Ingenieur Ch. Cotard) als Alternative den Bau einer Bahn von Orenburg nach Samarkand vor. Diese war als Teil einer 7.500 Meilen (12.070 km) langen „Welt-Bahn“, eines Schienenweges von Calais nach Calcutta gedacht. Die Bahn nach Samarkand sollte von russischer, der Abschnitt Samarkand-Peševar von britischer Seite gebaut werden. Vgl. Harpers New Monthly Magazine 47 (1873), Nr. 279, S. 473; George Curzon: Russia in Central Asia in 1889 and the Anglo-Russian Question, London 1889 (Reprint 2008), S. 35. – Neben dem Projekt von de Lesseps wurde 1874 in der russischen Öffentlichkeit auch der Vorschlag des russischen Ingenieurs S. I. Baranovskij diskutiert, eine Bahn von Saratov über Zentralasien und Afghanistan nach Peševar zu bauen. Vgl. Mitina, S. 361. 198 Alternativ wurde in den 1870er Jahren in Russland über die Möglichkeit diskutiert, den AmuDarja als Wasserweg nach Indien auszubauen und dafür dessen Mündung vom Aralsee an das Kaspische Meer zu verlegen. Ein Fürsprecher dieses Vorhabens war L. F. Kostenko: Srednjaja Azija i vodvorenie v nej russkoj graždanstvennosti, Sankt Peterburg 1871, S. 348–353. Ablehnend äusserten sich zu diesem Projekt M. I. Venjukov: Postupatel’noe dviženie Rossii v Srednej Azii, in: Sbornik gosudarstvennych znanij, Bd. 3, hg. von V. P. Bezobrazov, Sankt Peterburg 1877, S. 58–106, hier S. 70f. und Petr Semenov: Turkestan i Zakaspijskij kraj v 1888 godu, in: Izvestija imperatorskogo russkogo geografičeskogo obščestva XXIV (1888), S. 289–326. Für diese Hinweise danke ich Ulrich Hofmeister. 199 Po voprosu o provedenii Sredne-Aziatskoj železnoi dorogi, zit. nach: Daniel Brower: Turkestan and the Fate of the Russian Empire, London, New York 2003, S. 80. 200 Brower, Turkestan, S. 81.
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Territoriale Visionen im russischen Eisenbahndiskurs seps ist in einem solchen Maße phantastisch, dass es nicht lohnt, gründlich auf seine Vor- und Nachteile geprüft zu werden.“201
Die in den folgenden Jahren auftretenden Probleme der russischen Militärführung, den Widerstand regionaler Kräfte in der Transkaspischen Region zu brechen und der sich verschärfende außenpolitische Konflikt mit Großbritannien in Zentralasien führten jedoch zu einem schnellen Umdenken des Kriegsministers in dieser Frage.202 Das Scheitern der ersten russischen Achal-Teke-Expedition im September 1879 und das militärische Vorgehen der Briten gegen Afghanistan in den Jahren 1878/79 nährten in der Petersburger Regierung die Angst vor dem Verlust der eigenen Machtposition in Zentralasien. Am 29. Februar 1880 warnte Kriegsminister Miljutin in einem Schreiben an Alexander II. eindringlich: „England hat Afghanistan unterworfen, enge Verbindungen mit den Turkmenen geknüpft und es verstärkt seine Bemühungen, auch Persien auf seine Seite zu ziehen. Damit wächst die Bedrohung für die Transkaspische Region. Aus diesem Grund dürfen wir hier nicht untätig zu bleiben.“203 Besondere Bedeutung hatte aus der Sicht des Ministers die verkehrstechnischen Erschließung des Transkaspischen Gebiets, die insbesondere der Vorbereitung des nächsten Unterwerfungsversuchs der TekeTurkmenen erleichtern sollte. Während in den 1870er Jahren de Lesseps und andere Visionäre einer Eisenbahn nach Zentralasien von der Idee fasziniert waren, Turkestan nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch in das Zarenreich zu integrieren und der Region einen festen Platz auf der Karte globaler Handelsströme zuzuweisen, dominierte in der Debatte der ersten Monate des Jahres 1880 das Bild von RussischTurkestan als von äußeren Feinden bedrohter imperialer Randregion, die es galt, mit Hilfe einer strategischen Bahnlinie abzusichern. Die Transkaspische Eisenbahn, mit deren Bau im August 1880 an der Ostküste des Kaspischen Meeres begonnen wurde und die 1888 Samarkand erreichte, war die erste Militärbahn des Zarenreiches.204 Sie wurde von russischen Eisenbahn-Bataillonen errichtet und 201 Zit. nach: Achmedžanova, K istorii, S. 25, 31. 202 Die 1881 als Verwaltungseinheit geschaffene Transkaspische Region (Zakaspijskaja oblast’) mit der Hauptstadt Aschabat umfasste die russischen Besitzungen zwischen dem Kaspischen Meer im Westen, dem Chanat von Chiva und dem Emirat Buchara im Osten, Persien und Afghanistan im Süden sowie der Ural’skaja oblast’ im Norden. Bis 1890 unterstand die Region dem Generalgouverneur des Kaukasus, von 1890 bis 1898 war sie direkt dem Kriegsministerium, danach dem Generalgouverneur von Turkestan unterstellt. Vgl. Seymour Becker: Russia’s Central Asian Empire, in: Michael Rywkin (Hg.): Russian Colonial Expansion to 1917, London, New York 1988, S. 235–256, hier S. 236f. und Pierce, Russian Central Asia, S. 55. 203 Zit. nach: Achmedžanova, K istorii, S. 32. 204 Nach dem Zusammenstoß russischer und afghanischer Verbände im März 1885 wurde im Mai in St. Petersburg die Fortsetzung der Bahn aus der Transkaspischen Region nach Turkestan, bzw. zunächst von Kizil-Arvat bis nach Aschabat (Dezember 1885) und zur Oase Merv (Juli 1886) beschlossen. In Verbindung mit Dampfschiffen auf dem Kaspischen Meer war Russisch-Turkestan somit an das europäische Russland angeschlossen. Ende 1886 erreichte die Bahn die Stadt Čardžou und durchquerte das Emirat von Buchara. Im Jahr 1898 erfolgte die Anbindung Taschkents, ein Jahr später die des Ferghana Beckens. 1899 wurde die „Transkaspische Militärbahn“ in „Zentralasiatische Eisenbahn“ umbenannt. Vgl. Achmedža-
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unterstand der Leitung des Kriegsministeriums.205 Als erste Bahnlinie, die eine Sandwüste durchquerte, wurde sie international als ein Wunderwerk der Technik und als Zeichen des Sieges des Menschen über die Natur gefeiert.206 Die Idee, Russland mit Hilfe einer transkontinentalen Eisenbahn nach Zentralasien zu einer Durchgangsstation der Handelsströme von Indien nach Europa zu machen und so das Zarenreich auf den Karten des „Weltverkehrs“ neu zu positionieren, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im Kontext der Debatte um den Bau einer Eisenbahn von Orenburg nach Taschkent erneut diskutiert.207 Insbesondere Finanzminister Vitte sprach sich im April 1900 auf der entscheidenden Sitzung eines interministeriellen Komitees mit Nachdruck für den Bau einer Eisenbahn von Saratov nach Čardžou (an der Grenze der Transkaspischen Region und des Emirats von Buchara) aus.208 Dieses Bahnprojekt stand in Konkurrenz zum Vor-
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nova, K istorii, S. 38-47; dies., Železnodorožnoe stroitel’stvo, S. 16–29. – Der Generalgouverneur von Turkestan, Michail G. Černjaev (1882–1884), der zunächst Zweifel an der technischen Realisierbarkeit des Projektes äußerte, sprach sich später gegen die Verlängerung der Transkaspischen Bahn nach Aschabat und Merv aus. Vermutlich befürchtete er, dies könne die Bedeutung der Transkaspischen Region aufwerten, die zu dieser Zeit noch nicht dem Generalgouverneur von Turkestan unterstand. Černjaev machte sich dagegen für den Bau einer Zentralasiatischen Bahn aus dem europäischen Russland nach Chiva stark. Vgl. Pierce, Russian Central Asia, S. 186; Becker, Russia’s Protectorates, S. 126; Curzon, Russia in Central Asia, S. 43. Winfried Baumgart: Eisenbahn und Kriegsführung in der Geschichte, in: Technikgeschichte 38 (1971), S. 191–219, hier S. 205. Vgl. z.B. die Eindrücke des russischen Forschungsreisenden Nikolaj Prževal’skij, der im September 1888 die Transkaspische Bahn ein „Wunder in der hiesigen Wüste (čudo v zdešnich pustynjach)“ nannte. Zit. nach Achmedžanova, Železnodorožnoe stroitel’stvo, S. 24. Vgl. auch: Stefan Karlovič Dževeckij: O Zakaspijskoj železnoj doroge, in: Železnodorožnoe delo 8 (1889), Nr. 23–24, S. 219–236, insbes. S. 220. Zur westlichen Berichterstattung: Curzon, Russia in Central Asia, S. 5–8. Auch Curzon feierte die Bahn als menschlichen Sieg über die Unbilden der Natur. Ebd. S. 274, 276. Der Bau der Bahn inspirierte auch Schriftsteller, z.B. Jules Verne – der Russland nie bereiste – zu seinem 1893 erschienen Roman Jules Bombarnac. Für den Bau einer Eisenbahn aus der Steppenregion nach Taschkent hatten sich insbesondere die Generalgouverneure von Turkestan, M. G. Černjaev (1882–1884) und A. B. Vrevskij (1889–1898), wiederholt ausgesprochen. Vrevskij nutzte die Krönungsfeierlichkeiten Nikolaus’ II. im Jahre 1896, um dem Kaiser den Plan für den Bau einer Schienenverbindung nach Taschkent zu unterbreiten. Wie von Kaufmann hatte Vrevskij vor allem den ökonomischen Nutzen dieser Verkehrsverbindung im Blick. Trotz der generellen Zustimmung Nikolaus’ II. wurde das Projekt jedoch zunächst hinter den Bau der Sibirischen Bahn zurückgestellt. Erst die Verschlechterung der russisch-britischen Beziehungen Ende der 1890er Jahre, der Aufstand im Gebiet von Andižan im Mai 1898 und schließlich die Forderung von Kriegsminister Kuropatkin vom April 1899, die verkehrstechnische Anbindung Zentralasiens zu verbessern, gaben die entscheidenden Impulse für den Bau dieser Bahn. Vgl. I. V. Lukojanov: Sooruženie železnych dorog v Srednej Azii i Persii, in: Sergej Jul’evič Vitte. Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov, Bd. 1, Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 413–417, hier S. 415f. Vgl. auch Brower, Turkestan, S. 82; Achmedžanova, Železnodorožnoe stroitel’stvo, S. 29–31. Žurnal osobogo soveščanija, obrazovannogo po Vysočajšemu poveleniju dlja rassmotrenija voprosa o soedinenii Evopejskoj Rossii s Sredneju Azieju splošnom rel’sovym putem
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haben einer Schienenverbindung von Orenburg nach Taschkent, die insbesondere von Kriegsminister Kuropatkin favorisiert wurde.209 In seinem Plädoyer für eine zwischen Kaspischem Meer und Aralsee trassierte Eisenbahn wies Vitte darauf hin, dass es sich dabei um eine „internationale Strecke von Weltbedeutung“ handele.210 Vitte prophezeite die baldige Anbindung des russischen und des britischen Eisenbahnnetzes in Zentralasien und Afghanistan und sagte Russland eine große Zukunft als Transitland für die Handelsströme von Indien nach Europa voraus.211 Der Finanzminister konnte sich mit seinem verkehrsräumlichen Entwicklungsmodell, in dem Eisenbahnen der Stärkung Russlands als ökonomische Großmacht dienen sollten, jedoch nicht gegen die Position Kuropatkins durchsetzen. Der Kriegsminister räumte zwar ein, dass die westliche Strecke etwas kürzer sei als die von ihm bevorzugte Trasse von Orenburg nach Taschkent. Letztere sei jedoch billiger zu bauen und diene den militärischen Interessen des Reiches besser als die von Vitte vorgeschlagene Bahn. Zudem meldete Kuropatkin Zweifel an der Vision von Russland als Transitraum des Handels von Indien nach Europa an. England habe kein Interesse an der Verknüpfung der Eisenbahnnetze von RussischTurkestan und Britisch-Indien und somit seien die politischen Bedingungen für die von Vitte skizzierten Entwicklungen schlichtweg nicht gegeben.212 Kuropatkins Argumentation, eine Bahn von Orenburg nach Taschkent werde das Zentrum von Russisch-Turkestan an Moskau „annähern“ und die Verlegung von Truppen aus dem Mutterland nach Zentralasien erleichtern, schlossen sich Außenminister Graf Michail Murav’ev, Verkehrsminister Michail Chilkov und schließlich auch Nikolaus II. an.213 1906 wurde die Bahnlinie von Orenburg nach Taschkent feierlich eingeweiht. Russlands Eisenbahnbau in Turkestan wurde schon von Zeitgenossen als Teil des Kampfes zwischen dem Zarenreich und England um konkurrierende imperiale Interessenssphären in Zentralasien (Great Game) wahrgenommen.214 Gleichzeitig feierten sowohl russische als auch westeuropäische Beobachter die Transkaspi-
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(4.4.1900), in: S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 427–449. Vgl. auch: Žurnal osobogo, obrazovannogo po Vysočajšemu poveleniju soveščanija, 26. ijunja 1899 goda, po voprosu s soedinenii železnoju dorogoju Srednej Azii s obščeju set’ju, in: ebenda, S. 418–426. Kuropatkins Vorschlag wurde offenbar auch vom Generalgouverneur von Turkestan, Sergej M. Duchovskoj (1898–1900), unterstützt. Vgl. Varvara F. Duchovskaja: Turkestanskija vospominanija, Sankt Peterburg 1913, S. 100. Žurnal osobogo soveščanija, S. 443, 448. Vgl. dazu auch Brower, Turkestan, S. 83 und ders.: Islam and Ethnicity: Russian Colonial Policy in Turkestan, in: ders., Edward J. Lazzerini (Hg.): Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, 1700–1917, Bloomington 1997, S. 115–137, hier S. 132. Vgl. auch: Žurnal osobogo, obrazovannogo po Vysočajšemu poveleniju soveščanija, S. 422. Žurnal osobogo soveščanija, S. 437–440. Žurnal osobogo soveščanija, S. 441f. Zum Great Game: Jennifer Siegel: Endgame. Britain, Russia, and the Final Struggle for Central Asia, London 2002; Karl E. Meyer, Shareen Blair Brysac: Turnament of Shadows. The Great Game and the Race for Empire in Central Asia, Washington D.C. 1999.
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sche und die Zentralasiatische Eisenbahn als Ausdruck einer erfolgreichen mission civilizatrice des „Westens“ in Asien.215 Die Idee, mit Hilfe von Lokomotiven ließen sich der Funke der „Zivilisation“ und westliche Ordnungsvorstellungen nach Asien tragen, findet sich schon in Texten des russischen Eisenbahndiskurses aus den 1850er Jahren. In seinen Politischen Briefen aus Russland formulierte bereits der Vordenker des Panslavismus Michail Pogodin die Idee, mit Hilfe der Eisenbahn den politischen und ökonomischen Einfluss Russlands in Asien auszubauen. Offen forderte er: „Durchzieht das asiatische Russland mit Eisenbahnen [...], verbindet auf diese Art Sibirien mit Europa [...], bringt europäische Waaren [sic!] nach Asien [...] und umgekehrt Waaren aus den reichsten Ländern, wie China und Japan, nach Europa – und ihr werdet Segen und Überfluss über die ganze Erdkugel verbreiten. Asien, Europa, Einfluss über die ganze Welt! Welche Zukunft voll Herrlichkeit wartet Russlands!“216
In seiner visionären Broschüre über die Annäherung Zentralasiens und Europas mit Hilfe der Eisenbahnen beschwor auch Heinrich [Genrich] I. Ljubanskij im Jahr 1858 das Dampfross bereits als mächtigen Zivilisationsmotor: „Es ist eine feststehende Wahrheit: Dort, wo Eisenbahnschienen verlaufen, finden wir die Annehmlichkeiten der Kunst, verfeinerte Sitten, Sauberkeit, Ordnung, Bequemlichkeit und gutes Benehmen [...] und vor allem beobachten wir das ökonomische Aufblühen der entsprechenden Region; dem fleißigen Menschen eröffnen sich neue Felder wirtschaftlicher Aktivität und Initiative; hier finden wir Aufklärung und die Kunst, die ihre Wohltaten allen Mitgliedern der menschlichen Familie zuteil werden lassen.“217
Zwar wurden die russischen Eisenbahnen in Zentralasien nicht primär mit dem Ziel gebaut, „verfeinerte Sitten, Sauberkeit und Ordnung“ in die imperiale Peripherie zu tragen. Der Hinweis auf die zivilisierende Kraft der Technik war jedoch ein wichtiger Topos in Diskursen imperialer Selbstbeschreibung im Zarenreich. Selbst Fedor Dostoevskij, der bekanntlich der Erfindung der Eisenbahn äußerst skeptisch gegenüberstand, beschwor das Verkehrsmittel in seinem Tagebuch eines Schriftstellers (1881) als Instrument der russischen mission civilizatrice in Asien: „Mit unserem Drängen nach Asien wird bei uns der Aufschwung des Geistes und der Kräfte wiedergeboren. [...] In Europa waren wir Kostgänger und Sklaven, aber in Asien werden wir als Herren erscheinen. In Europa waren wir Tataren, aber in Asien sind wir Europäer. Die Mission, unsere zivilisatorische Mission in Asien wird unseren Geist freikaufen und uns dorthin ziehen, wollte nur die Bewegung beginnen. Erbaut nur zwei Eisenbahnlinien, beginnt da-
215 Zum Konzept der mission civilizatrice: Jürgen Osterhammel: „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmissionen und Moderne, in: Boris Barth, Jürgen Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425. Zum russischen Diskurs über die eigene Rolle bei der „Zivilisierung“ Asiens Mitte des 19. Jahrhunderts: Bassin, Imperial Visions, S. 50–57. 216 Michail Pogodin: Politische Briefe aus Russland, Leipzig 1860, S. 196f. 217 Genrich I. Ljubanskij: Sbliženie Srednej Azii i Evropy pomošč’ju železnych dorog, Sankt Peterburg 1858, S. 4.
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Territoriale Visionen im russischen Eisenbahndiskurs mit, die eine nach Sibirien und die andere nach Mittelasien, und ihr werdet sogleich die Folgen sehen.“218
Das Sprechen über die verkehrstechnische Erschließung der imperialen Peripherie eröffnete der russischen Führungselite die Möglichkeit, das Territorium des Vielvölkerreiches als einen Raum der Zukunft und des Fortschritts (nach europäischen / westlichen Mustern) vorzustellen. Der asiatischen Peripherie fiel dabei die passive Rolle zu, die „Früchte der Zivilisation“ in Empfang zu nehmen und dankbar den russischen Kolonialherren auf dem Weg des Fortschritts zu folgen. Der russische Staatsrat Oscar Heyfelder, der 1880 als Chefarzt an der Achal-TekeExpedition von General Skobelev teilgenommen hatte und 1887 seine Studie über Transkaspien und seine Eisenbahn veröffentlichte, feierte beispielsweise die Transkaspische Eisenbahn als „ein wichtiges Glied in dem großen Bande der Kultur und der Verkehrsmittel, welches die gesamte Erde zu umschließen bestimmt ist.“219 Die Eisenbahn habe den „Ruhm Russlands auf solch eminent civilisatorischem Gebiete“ gemehrt und bereits einen „Umschwung [...] in den Sitten und Anschauungen unserer ehemaligen tapferen Feinde, der Teke-Turkmenen, hervorgebracht.“220 Als 1888 die Züge der Transkaspischen Bahn Samarkand erreichten, begrüßte auch die Stadtregierung von Taschkent dies in ihrem Glückwunschtelegramm als Zeichen der fortschreitenden Integration der Region in die russische staatliche und gesellschaftliche Ordnung. Der Schienenstrang trage zur Aufklärung Asiens bei, er schaffe eine dauerhafte Verbindung zwischen den „halbwilden Nomaden“ und Europa und fördere deren Vereinigung in einer großen „russischen Familie“.221 Auch ausländische Beobachter feierten den Bau russischer Eisenbahnen in Asien als Sieg westlicher Zivilisation.222 Allerdings sahen die westeuropäischen 218 Zit. nach: Gesemann, Zur Rezeption der Eisenbahn durch die russische Literatur, S. 366. 219 Heyfelder: Transkaspien und seine Eisenbahn, S. IX. 220 Heyfelder, Transkaspien, S. IXf. – Von der „zivilisierenden Kraft“ der Eisenbahn waren auch die Kolonialherren westlicher Großmächte überzeugt, so z.B. Oscar Baumann, der 1894 davon träumte, mit der Eisenbahn würden „Ordnung und Sittsamkeit“ Eingang in den deutschen Kolonien Afrikas halten. Vgl. ders.: Durch Massailand zur Nilquelle. Reisen und Erforschungen der Massai-Expedition des deutschen Antisklaverei-Komitees in den Jahren 1891–1893, Berlin 1894, S. 258, zit. bei: Alexander Honold: Flüsse, Berge, Eisenbahnen. Szenen geografischer Bemächtigung, in: ders., Klaus R. Scherpe (Hg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen, Zeitschrift für Germanistik, N.F., Beiheft 2 (1999), S. 149–174, hier S. 173. 221 Turkestanskaja Tuzemnaja gazeta, 4.6.1888, zit. nach: Brower, Turkestan, S. 82. – Zur „zivilisierenden Kraft“ der Eisenbahn von Orenburg nach Taschkent: N. P. Verchovskij: Taškentskaja železnaja doroga kak pioner kul’tury i civilizacii, in: Železnodorožnoe delo 28 (1909), Nr. 33, S. 183–184. Vgl. auch A. v. Vendrich: Kul’turnaja missija Rossii, v zavisimosti ot razvitija rel’sovoj seti, in: ebd. 18 (1899), Nr. 16, S. 133–134. – Andererseits äußerten Vertreter der russischen Elite Turkestans auch Bedenken, dass der Bau der Eisenbahn mit einem Anwachsen des Proletariats, der Entstehung politischer Unruhen und der Störung des abgeschiedenen Lebens der imperialen Oberschicht einhergehen könnte. Vgl. Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent. 1865–1923. Bloomington 2007, S. 120–124. 222 Im Frank Leslie’s Popular Monthly vom März 1887 (Bd. 23, Nr. 3, S. 299) wurde z.B. die Transkaspische Bahn als „Russia’s great strategic line in Central Asia“ dargestellt und ihr
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Kommentatoren die Chancen einer dauerhaften Umgestaltung der imperialen Peripherie nach europäischen Ordnungsmustern deutlich skeptischer als die Enthusiasten im Zarenreich. In seinem Bericht The Transcaspian Railway aus dem Jahr 1887 hob zum Beispiel der ungarische Orientalist und Reiseschriftsteller Arminius (Hermann) Vambéry neben der strategischen und ökonomischen Bedeutung der neuen Eisenbahn auch deren „civilizing importance“ hervor.223 Die Schienenverbindung habe bereits jetzt den Charakter der Region östlich des Kaspischen Meeres grundlegend verändert: „There, where my camel [...] once dragged his weary limbs through the deep sand [...] now rushes the steam horse, snorting and puffing. Shifting sands and shifty Turkomans have either disappeared or been forcibly fastened to the ground. […] A magical iron band bridges over all difficulties and irregularities, and where distances used to be measured by the months of the camel-driver they are now measured by the hours of the engine-driver and will soon be set down in Hendschel or Baedeker.”224
Auch Vambéry war davon überzeugt, dass die Transkaspische Bahn der „civilizing mission of the West“ in Asien helfen werde. Einschränkend fügte er jedoch hinzu, dass es lange dauern werde, ehe „this new railway can act as a sort of telegraph wire along which the European spirit, with its ceaseless and fruitful activity, can flash all of a sudden into the recesses of Central Asia.”225 Zwar werden die Turkmenen in die Städte ziehen, die entlang der Eisenbahn entstehen und ihren nomadischen Lebenswandel nach und nach aufgeben. Die Mentalität (mental condition) der Menschen werde sich durch die Eisenbahn jedoch nicht nachhaltig verändern: „the mass of the Moslem population will remain thoroughly Asiatic.“226
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Bau mit der Verlegung des transatlantischen Telegraphiekabels sowie dem Bau des SuezKanals und der Eisenbahn vom Atlantik zum Pazifik in Nordamerika verglichen. Vgl. auch: The Central-Asian Railway, in: Littell’s Living Age, 29.9.1888, S. 178, beide Quellen zit nach: American Periodicals Series Online. Arminius Vambéry, The Transcaspian Railway, in: Fortnightly Review, February 1887, S. 294–311. Reprint in: Britain and Russia in Central Asia, 1880–1907, ed. by Martin Ewans, Vol. 1: Documents, London 2008, S. 97–115, hier S. 98. Vambéry, The Transcaspian Railway, S. 98f. Zur Wirkung der Bahn auf die indigene Bevölkerung Transkaspiens: Curzon, Russia in Central Asia, S. 276. Vambéry, The Transcaspian Railway, S. 107. Vambéry, The Transcaspian Railway, S. 110. – In anderen Berichten westlicher Beobachter wird hervorgehoben, dass die Eisenbahn „die Russifizierung von Transkaspien ungemein fördern” werde. C. v. Hahn: Die transkaspische Eisenbahn, in: Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, 73 (1898), Nr. 9, S. 140–144, hier S. 140. George Curzon betont in seinem Bericht die politische Bedeutung der Bahn, die die Transkaspische Region und Turkestan „into a single Central Asian Empire“ umgeformt habe. Ders., Russia in Central Asia, S. 274.
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2.6.3. Sibirien Von der „zivilisierenden Kraft“ der Eisenbahn war man in Russland bis in die höchsten Regierungskreise überzeugt. In seinen Vorlesungen über Volks- und Staatswirtschaft, die auf ein Manuskript zur Unterweisung des Großfürsten Michail Aleksandrovič in den Jahren 1900-1902 zurückgingen, referierte Finanzminister Vitte auch ausführlich über den „Kulturwert“ der Eisenbahnen. Vitte pries den „zivilisierenden Einfluss“, den das Verkehrsmittel „als eine theoretische und praktische Schule“ ausübe. Er betonte, dass sich dabei „die Eisenbahn [nicht so sehr] selbst den lokalen Umständen anpasst, wie diese letzteren sich den Bedürfnissen der Eisenbahn anpassen. [...] Die Eisenbahn ist gleichsam ein Ferment, das in der Bevölkerung eine Kulturgärung hervorruft, und sogar wenn sie auf diesem Wege einer absolut wilden Bevölkerung begegnete, würde sie diese in kurzer Zeit zu dem für sie notwendigen Niveau emporheben.“227
Vittes Interesse, mit Hilfe der Eisenbahn Russland als imperialen Raum zu konsolidieren und dessen „wilde Bevölkerung“ auf ein höheres Kulturniveau zu heben, richtete sich in erster Linie auf die östliche Hälfte des Zarenreiches, auf Sibirien. Als Vitte im Februar 1892 das Amt des russischen Verkehrsministers übernahm, war die Entscheidung, Sibirien mittels einer Transkontinentalbahn enger an das russische Mutterland anzubinden, bereits gefallen.228 Dessen ungeachtet ist die Geschichte dieses gewaltigen Infrastrukturprojekts aufs Engste mit seiner Person verbunden. In seiner Funktion als Finanzminister (ab August 1892) trieb Vitte das
227 Witte, Vorlesungen, Bd. 2, S. 67. Ders.: Konspekt lekcij o narodnom i gosudarstvennom chozjajstve, čitannych ego imperatorskomu vysočestvu velikomu knjazju Michailu Aleksandroviču v 1900–1902 godach, Moskva 1997, S. 306. 228 Die Literatur zur Entstehungsgeschichte des „Großen Sibirischen Weges“ ist äußerst umfangreich. Vgl. exemplarisch: Materialy k istorii voprosy o Sibrskoj železnoj doroge. Priloženie k žurnalu Železnodorožnoe delo, Sankt Peterburg 1891; Verchovskij, Istoričeskij očerk, Bd. 2, S. 435–591; Platon Nikolaevič Krasnov: Sibir’ pod vlijaniem rel’sovogo puti, Sankt Peterburg 1902; Sibirskaja železnaja doroga v ee prošlom i nastojaščem, sost. S. V. Sabler, I. V. Sosnovskij; Tupper, To the Great Ocean; Borzunov, Istorija sozdanija trans-sibirskoj železnodorožnoj magistrali; ders., Transsibirskaja magistral' v mirovoj politike; Poulsen, Kuranow, Die Transsibirische Eisenbahn; de Cars, Caracalla, Die Transsibirische Bahn; Marks, Road to Power; David N. Collins: Plans for Railway Development in Siberia 1857–1890. An Aspect of Tsarist Colonialism?, in: Sibérie II. Questions sibériennes. Histoire, cultures, littérature, Paris 1999, S. 149–164; I. V. Lukojanov: Velikaja Sibirskaja železnaja doroga I KVŽD, in: Sergej Jul’evič Vitte. Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov, Bd. 1, Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 123–158; Il’in (u.a.) (Hg.), Sozdanie velikogo sibirskogo puti; Dietmar Neutatz: Der Traum von der Transsib: Visionen, Wünsche, Präsentationen und Wahrnehmungen 1857–1914, in: Sibirienbilder. Konzeptualisierungen des russischen Nord-Ostens in den Kulturwissenschaften, Irkutsk 2005, S. 179–203; V. A. Lamin: The „Moving Frontier“: The Trans-Siberian Railroad, in: Eva-Maria Stolberg (Hg.): The Siberian Saga. A History of Russia’s Wild East, Frankfurt/M. u.a. 2005, S. 109–118 sowie jüngst (allerdings mit zahlreichen inhaltlichen Fehlern): Eva-Maria Stolberg: Sibirien: Russlands „Wilder Osten“. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009, S. 73–100.
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bis dahin größte staatliche Investitionsprojekt entschieden voran und trug so maßgeblich zur Fertigstellung der längsten Eisenbahn der Welt bei.229 Am 6. November 1892 stellte Vitte Alexander III. seine Vision von der transkontinentalen Schienenverbindung als Mittel der territorialen Integration und sozio-ökonomischen Umgestaltung der östlichen Reichshälfte vor.230 „Obwohl Sibirien ein Teil Russlands“ sei, so der Finanzminister, „hatte es an dessen zivilisatorischen, kulturellen und ökonomischen Erfolgen [bislang] keinen Anteil.“231 Bis heute habe man den „Eingeborenen“ (aborigeny) weder „die wichtigsten Charakteristika der russischen Volkstümlichkeit (narodnost’) noch Keime der Kultur“ vermitteln können. Sibirien befinde sich in „gesellschaftspolitischer Hinsicht auf einem [bedenklich] niedrigen Niveau.“232 Der Bau der großen Transkontinentalbahn, den Alexander III. selbst als „wahrhaft nationale Aufgabe“ bezeichnet hatte, biete nun die Möglichkeit, Sibirien an das europäische Russland anzunähern und die Region stärker „in das russische Leben“ einzubeziehen.233 229 Zu Vittes Rolle beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn: Marks, Road to Power, S. 117– 169. – In seinen Memoiren unterstreicht Vitte seine eigene Rolle beim Bau der Transkontinentalbahn. Während seine Vorgänger und Kollegen im Ministerkomitee und Reichsrat (Gosudarstvennyj sovet) den Wunsch Alexanders III., die Sibirische Bahn zu bauen, stets hintertrieben hätten, habe er seit seiner Ernennung als Finanzminister alles für die Realisierung dieses Projekts getan. Vgl. Sergej Ju. Vitte: Vospominanija, hg. von Arkadij L. Sidorov, Bd. 1, Moskva 1960, S. 433. 230 Sergej Ju. Vitte: Vsepoddannejšij doklad upravljajuščego ministerstvom finansov o sposobach sooruženija Velikogo Sibirskogo Železnodorožnogo puti i o naznačenii soveščanija dlja obsuždenija sego dela. 6 nojabrja 1892 g., in: ders.: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 159–183. 231 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 160. 232 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 160. 233 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 160 (Hervorhebung: F.B.S.) – Mit diesen Formulierungen spielte Vitte offensichtlich auf Formulierungen des Glückwunschschreibens Alexanders III. an den Generalgouverneur von Ostsibirien anlässlich der 300-Jahrfeier der Eroberung der Region im Jahr 1883 an: „Ich hoffe, dass mit der Zeit und mit Gottes Hilfe, die weite, reiche Region Sibiriens, die schon seit drei Jahrhunderten einen untrennbaren Teil Russlands bildet, in einen Zustand kommen wird, von ihr [Russland] untrennbar die gleichen Einrichtungen zu genießen [...], die Segnungen der Aufklärung und die wachsende industrielle Aktivität zum allgemeinen Nutzen und Ruhm für unser geliebtes Vaterland.“ Trechsotletnyj jubilej prisoedinenija Sibiri, in: Russkaja mysl’, 1883, Buch 1, S. 119–121. Deutsche Übersetzung nach: Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde, S. 171. In seinem an Thronfolger Nikolaj Aleksandrovič gerichteten Reskript vom 17. März 1891 hatte Alexander III. betont, dass er die Eisenbahn durch ganz Sibirien als eine „wahrhaft nationale Aufgabe (istinno narodnoe delo)“ betrachte. Die Verkehrsader solle den Austausch (snošenija) zwischen Sibirien und den „übrigen Teilen des Imperiums (s pročimi častjami Imperii)“ erleichtern und dadurch den Menschen vor Augen führen, wie sehr dem Monarchen an der Entwicklung der Region (kraj) gelegen ist. Vgl. Velikaja Sibirskaja železnaja doroga. Vsemirnaja vystavka 1900 g. v Pariže, hg. von Kanceljarija Komiteta ministrov, Sankt Peterburg 1900, S. 7. Die Losung vom Bau der Sibirischen Bahn als „nationale Aufgabe” wurde von der russischen Presse in Moskau und St. Petersburg dankbar aufgegriffen und weiter verbreitet. Vgl. Moskovskie vedomosti, 14.5.1891 (Nr. 131), S. 2; Novoe vremja, 13.5.1891, Nr. 5460, S. 1.
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Aus Äußerungen dieser Art sprach die Hoffnung, die Transkontinentalbahn könne einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung des Russischen Reiches als nationaler Raum leisten. Ähnliche Gedanken hatten schon die slavophilen Kritiker des Netzentwurfes von Pavel Mel’nikov Mitte der 1850er Jahre formuliert.234 Die Idee, mit dem Bau von Eisenbahnen lasse sich das Vielvölkerreich gleichsam in einen Nationalstaat verwandeln, fand schließlich im Zeitalter des „offiziellen Nationalismus“ der 1880er Jahre immer mehr Anhänger. Der einflussreiche Publizist Michail Katkov, ein Bewunderer der Eisenbahnpolitik des Deutschen Reiches, schrieb im August 1883 in der von ihm herausgegebenen Zeitung Moskovskie vedomosti (Moskauer Nachrichten): „Nach dem Bajonett trägt die Eisenbahn am stärksten zur Herstellung des nationalen Zusammenhaltes bei.“235 Auch Vitte war von der deutschen Reichseinigung unter Bismarck fasziniert, in der er nicht zuletzt das Ergebnis einer von Friedrich List beschworenen nationalen Eisenbahnpolitik erblickte.236 Der Eisenbahnbau erschien Vitte in mehrfacher Hinsicht als ein geeignetes Mittel, um das Territorium Russlands als nationalen Raum zu stabilisieren. Mit dem Projekt der „Großen Sibirischen Bahn“ verknüpfte der Finanzminister unter anderem das Ziel, bäuerliche Kolonisten in großer Zahl aus den überbevölkerten Gegenden der westlichen und zentralen Provinzen des europäischen Russland in die dünnbesiedelten Gebiete der östlichen Reichshälfte umzusiedeln.237 Damit sollte zum einen der sich verschärfenden Agrarkrise im europäischen Teil des Reiches entgegengewirkt und das „russische Element“ in den außenpolitisch sensiblen Gebieten der östlichen Peripherie gestärkt werden. Dem 1893 eingerichteten Komitee der Sibirischen Eisenbahn (KSŽD), das die Planung und den Bau des großen Infrastrukturprojektes koordinierte, wurde die Aufgabe übertragen, auch 234 Vgl. oben, Kap. 2.3. – Zu vergleichbaren Debatten in den USA: Marsden; Smith, Engineering Empires, S. 162–171. 235 Moskovskie vedomosti vom 4.8.1883, zit. nach Valentina A. Tvardovskaja: Ideologija poreformennogo samoderžavija. M. N. Katkov i ego izdanija, M. 1978, S. 79. 236 Zu Lists These von der Eisenbahn als Motor nationaler Einigung in Deutschland: Szporluk, Communism and Nationalism, S. 111–113; Bremm, Von der Chaussee zur Schiene, S. 22–27; Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 42. 237 Zu Vittes Plänen der Kolonisation Sibiriens: Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 161–173; ders.: O porjadke i sposobach sooruženija Velikogo Sibirskogo Železnodorožnogo puti (13.11.1892), in: ders.: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 184– 229, hier S. 187–190; Sergej Ju. Vitte, P. Romanov: O vspomogatel’nych predprijatijach s postrojkoj Sibirskoj Železnoj dorogi svjazannych (1.2.1893), in: S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 230–241, hier S. 232–237; Edward H. Judge: Peasant Resettlement and Social Control in Late Imperial Russia, in: ders., James Y. Simms (Hg.): Modernization and Revolution: Dilemmas of Progress in Late Imperial Russia, New York 1992, S. 75–94, hier S. 76; Marks, Road to Power, insbes. S. 153–169; ders.: Conquering the Great East: Kulomzin, Peasant Resettlement, and the Creation of Modern Siberia, in: Stephen Kotkin, David Wolff (Hg.): Rediscovering Russia in Asia, Armonk 1995, S. 23–39; Sunderland, The ‘Colonization Question’. Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Kap. 4.4.
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den Transfer bäuerlicher Kolonisten in die Gebiete jenseits des Ural unterstützend zu begleiten.238 Zum ersten Mal in der Geschichte russischer Eisenbahnen nahmen Verkehrsplaner damit von Anfang an systematisch die Frage mit in den Blick, wie eine Schienenverbindung neben dem Transport von Waren und der Verlegung von Truppen auch die Mobilität von Menschen erleichtern könnte. Die geplante Eisenbahn könne Sibirien einen „gewaltigen Entwicklungsimpuls“ geben, gab sich Vitte überzeugt.239 Die bäuerlichen Kolonisten würden „mit ihrer Arbeit die schlafenden Schätze Sibiriens zum Leben erwecken“.240 Ihnen würden mit der Zeit auch Mitglieder der „gebildeten Schichten der Gesellschaft“ folgen, die mit ihrem „Kapital, Wissen und zivilisierenden Einfluss“ schließlich zur kulturellen Hebung des Landes beitragen würden.241 Vitte schrieb der Großen Sibirischen Eisenbahn nicht nur die Funktion einer „Arterie“ zu, die „schlafende Teile“ des nationalen Körpers zum Leben erweckt. Gleichzeitig war die Verkehrsverbindung ein wichtiges Element seiner Pläne, Russland zu industrialisieren und dem Land als Handelsmacht einen neuen Platz auf der Karte der sich vernetzenden globalen Ökonomie des späten 19. Jahrhunderts zuzuweisen. Wie bereits der Blick auf die Debatte um die Streckenführung der Zentralasiatischen Eisenbahn im April 1900 gezeigt hat, träumte Vitte von der Umlenkung der Warenströme von Asien nach Europa über russisches Territorium. Der Finanzminister war ein Verfechter der ehrgeizigen Idee, Russland solle nicht nur als militärische, sondern auch als ökonomische Großmacht seinen Einfluss in der Welt verteidigen und ausbauen. In der Errichtung einer Transkontinentalbahn durch Sibirien erblickte er die Chance, das Zarenreich zu einer Drehscheibe des Warenverkehrs zwischen China, Japan und Europa zu machen. Voller Optimismus bezeichnete er den Bau der Sibirischen Bahn als „Weltereignis“, das eine „neue Epoche der Menschheitsgeschichte“ einläute.242 Die Eisenbahn werde 400 Millionen Chinesen und 35 Millionen Japaner via Russland mit dem europäischen Kontinent verbinden und so Russlands Position auf dem „Weltmarkt“ festigen.243 Vitte wies zwar wiederholt darauf hin, dass aus seiner Sicht eine engere ökonomische Verflechtung der Länder zur Festigung der friedlichen Beziehungen zwischen den Staaten beitragen werde.244 Dessen ungeachtet tragen seine handelspolitischen Pläne auch eindeutig aggressive Züge. Dezidiert stellte er das Projekt der 238 Zum Komitee der Sibirischen Eisenbahn: Marks, Road to Power, S. 131–140, 153–160. Lev M. Damešek, Anatolij V. Remnev (Hg.): Sibir’ v sostave Rossijskoj imperii, Moskva 2007, S. 134–137. Vgl. auch Statut des KSŽD (Položenie o Komitete Sibirskoj železnoj dorogi) vom 21.2.1893, in: Sibirskie pereselenija, Bd. 2: Komitet Sibirskoj železnoj dorogi kak organizator pereselenij. Sbornik dokumentov, hg. von Michail V. Šilovskij, Novosibirsk 2006, S. 72–74. 239 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 161. 240 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 173. 241 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 162. 242 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 168. 243 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 168f. Die Idee, Russland mit Hilfe moderner Verkehrswege zu einer „Brücke“ zwischen Europa und Asien zu machen, war indes älteren Datums. Bereits der Historiker Michail Pogodin hatte 1854 mit diesem Ziel für den Bau einer Eisenbahn an die Ostgrenze Russlands plädiert. Vgl. Bassin, Imperial Visions, S. 68. 244 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 171.
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Sibirischen Eisenbahn in den Kontext eines weltweiten „Wirtschaftskampfes“, in dem die Großmächte um den Profit des globalen Warenverkehrs ringen. So sei es beispielsweise Kanada mit dem Bau der Canadian Pacific Railroad gelungen, einen Teil des Tee- und Seidenhandels vom Suez-Kanal abzuziehen.245 In ähnlicher Form müsse sich Russland bemühen, den lukrativen Teehandel aus China, der gegenwärtig vor allem von der englischen Handelsflotte dominiert werde, auf das eigene Territorium umzulenken.246 Vor diesem Hintergrund sind die Äußerungen Vittes in seinen Erinnerungen, dass der Bau der Großen Sibirischen Bahn „durchaus keine militärisch-politische, sondern eine rein wirtschaftliche Angelegenheit“ gewesen sei und dass das Projekt nur eine ökonomische Bedeutung „im Sinne einer rein defensiven, aber durchaus keiner offensiven Maßnahme“ gehabt habe, eher kritisch zu sehen.247 Kriegsminister Kuropatkin referiert dagegen in seinen Memoiren einen eigenen Bericht aus dem Jahr 1900, in dem es offen hieß: „Wenn Russland die Eisenbahnverbindungen zwischen dem Großen Ozean und der Ostsee in den Händen hält […], kann es mit seinen unerschöpflichen natürlichen Reichtümern den Mächten der ganzen Welt eine furchtbare wirtschaftliche Konkurrenz schaffen.“248 Tatsächlich ist die Entstehung der längsten Eisenbahn der Welt nur zu verstehen, wenn man die Wahrnehmung der außen- und innenpolitischen Lage in den 1870er und 80er Jahren durch die Elite des Zarenreiches berücksichtigt. Die Anfänge des „Großen Sibirischen Weges“ Wie im Falle des Kaukasus und Zentralasiens hatten sich auch in Sibirien zunächst die lokalen Repräsentanten der Zarenmacht für den Bau von Eisenbahnen in der Region stark gemacht. Der erste Vorschlag aus russischer Feder, Sibirien bzw. den Fernen Osten durch Schienenstränge territorial zu konsolidieren, stammte vom Generalgouverneur Ostsibiriens, Graf Nikolaj N. Murav’ev (Amurskij), der im Juli 1858 Großfürst Konstantin Nikolaevič die Idee unterbreitete, eine Ei245 Die 1885 eingeweihte Canadian Pacific Railroad wurde von Vitte nicht nur als konkurrierende Verkehrsader des Weltverkehrs, sondern insbesondere auch als Vorbild der Sibirischen Bahn betrachtet. Vitte hob in seinen Berichten an Alexander III. die Rolle der Kanadischen Bahn bei der Erschließung und Besiedelung wüster Landstriche hervor. Vsepoddannejšij doklad, S. 173; O porjadke i sposobach sooruženija Velikogo Sibirskogo Železnodorožnogo puti, S. 184–229, hier S. 211; Vitte, Romanov, O vspomogatel’nych predprijatijach, S. 232f. Zur C.P.R. vgl. u.a. Marsden; Smith, Engineering Empires, S. 171–177; Andy A. Den Otter: The Philosophy of Railways. The Transcontinental Railway Idea in British North America, Toronto 1997. 246 Vitte, Vsepoddannejšij doklad, S. 169. Teile dieser Argumentation stammen aus einer Eingabe von Repräsentanten der Messe von Nižnij Novgorod aus dem Jahr 1889. Vgl. Siberia and the great Siberian railway, übers. u. hg. von John M. Crawford, St. Petersburg 1893 (= The industries of Russia. For the World's Columbian Exposition at Chicago, Bd. 5), S. 263. 247 Graf Witte: Erinnerungen. Mit einer Einleitung von Prof. Otto Hoetzsch, Berlin 1923, S. 36. 248 General Kuropatkin: Memoiren. Die Lehren des Russisch-Japanischen Krieges, Berlin 1909, S. 78.
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senbahn vom rechten Ufer des Amur an die Küste des Japanischen Meeres zu bauen.249 Murav’ev hatte früher bereits ausländischen Eisenbahnprojekten für den Fernen Osten seine Unterstützung geliehen, so zum Beispiel der Idee des amerikanischen Ingenieurs Perry M. Collins, der 1857 den Bau einer Schienenverbindung von Irkutsk nach Čita angeregt hatte.250 Die Reichsregierung stand Projekten dieser Art jedoch reserviert gegenüber. Zum einen befürchtete sie, dass eine verkehrstechnische Erschließung Ostsibiriens eine Verselbstständigung der Provinz nach dem Muster der USA befördern könnte.251 Zum anderen widersprachen Pläne zur Entwicklung der Infrastruktur in Russlands östlicher Reichshälfte dem expliziten Wunsch St. Petersburgs, Sibirien in ökonomischer Rückständigkeit zu belassen und mit den Waldgürteln Ostsibiriens das Reich gen Osten abzuschirmen.252 Schließlich mussten Vorschläge, die in den 1850er Jahren auf den Bau von Eisenbahnen in Russlands östlicher Peripherie abzielten, angesichts der finanziell desolaten Situation des Landes nach dem Krimkrieg als phantastische Utopien erscheinen. Ausländische Investitionen in Infrastrukturprojekte in Sibirien lehnte die Reichsregierung – anders als im europäischen Russland – aus strategischen Überlegungen strikt ab. Dessen ungeachtet beschäftigte seit den späten 1850er Jahren die Idee des Eisenbahnbaus in und nach Sibirien die russische Öffentlichkeit in zunehmendem Maße. Allein zwischen 1857 und 1874 erschienen in Russland über hundert Broschüren sowie Artikel in sibirischen und überregionalen Zeitungen, in denen dieses Thema verhandelt wurde.253 Die Frage des Baus von Eisenbahnen nach und in Sibirien interessierte im Speziellen regionale Selbstverwaltungsorgane (zemstva) im europäischen Russland, Kaufmannsvereinigungen und städtische Versammlungen sowie die Mitglieder der Kaiserlichen Russländischen Geografischen Gesellschaft (IRGO), der Gesellschaft zur Förderung der Industrie und des Handels sowie der Kaiserlichen Russländischen Technischen Gesellschaft (IRTO) in St. Petersburg und in der Provinz.254 Diskutiert wurde über alternative Strecken249 Verchovskij, Istoričeskij očerk, Bd. 2, S. 435; Cars, Caracalla, S. 17; Il’in (u.a.) (Hg.), Sozdanie velikogo sibirskogo puti, Bd. 1, S. 11; Bassin, Imperial Visions, S. 242. 250 Verchovskij, Istoričeskij očerk, Bd. 2, S. 435; Marks, Road to Power, S. 32. – Zu Collins: Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde, S. 92f., 159; John B. Dwyer: To Wire the World. Perry M. Collins and the North Pacific Telegraph Expedition, Westport, London 2001. 251 Bassin, Imperial Visions, S. 168. 252 Marks, Road to Power, S. 49, 59; Zum Bild Sibiriens als Russlands asiatische Peripherie bzw. Kolonie: Mark Bassin: Imperialer Raum/Nationaler Raum. Sibirien auf der kognitiven Landkarte Rußlands im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), S. 378–403, insbes. S. 382–387. 253 Collins, Plans for Railway Development, S. 149. 254 Während in der IRGO (Statistische Abteilung) bereits 1870 intensiv über den Eisanbahnbau in Sibirien diskutiert wurde, erlebten die Diskussionen über die Große Sibirische Bahn in der IRTO (VIII. Abteilung) Ende der 1880er Jahre ihren Höhepunkt. Während in der IRGO noch über Sinn und Bedeutung einer Transkontinentalbahn diskutiert wurde, ging es in den Debatten der IRTO bereits um den besten Streckenverlauf und die Durchführung der Planungs- und Bauarbeiten sowie um flankierende regionale Entwicklungsmaßnahmen. Die Diskussionen der IRGO im Jahr 1870 sind dokumentiert in: Stenografičeskij otčet otdelenija statistiki IRGO
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verläufe und Kosten sowie über den zu erwartenden ökonomischen, politischen und strategischen Nutzen der Bahn. Bis Mitte der 1870er Jahre konzentrierte sich die öffentliche Debatte auf Bahnprojekte aus dem europäischen Russland nach (und noch nicht durch) Sibirien.255 Die 1875 beschlossene Strecke von Nižnij Novgorod über Kazan’, Ekaterinburg nach Tjumen’ konnte jedoch aufgrund der finanziellen Belastungen des russisch-osmanischen Krieges von 1877/78 nicht realisiert werden.256 1884 präsentierte Verkehrsminister Konstantin N. Pos’et schließlich den Vorschlag, eine transkontinentale Eisenbahn durch Russlands östliche Reichshälfte zu bauen, die von Samara über Ufa, Čeljabinsk, Omsk, Irkutsk, Čita und entlang des Amur bis Chabarovsk nach Vladivostok, d.h. auf der nach 1891 realisierten Trasse, verlaufen sollte.257 Ein Jahr nach den offiziellen Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag der Eroberung Sibiriens durch russische Kosakenverbände betonte Pos’et insbesondere den zu erwartenden politischen Nutzen einer Transkontinentalbahn zum Pazifik.258 Wie später Vitte in seinem Memorandum vom 6. November 1892, betonte Pos’et bereits im Juni 1884, dass sich die Gesellschaft Sibiriens separat zu jener des russischen Mutterlandes entwickelt habe. Eine Eisenbahn eröffne nun die Möglichkeit, die östliche Reichshälfte politisch und kulturell stärker an das Zentrum anzubinden.259 Diesen Gedanken hob er auch in seiner Rede zur Eröffnung der Bahnlinie von Samara nach Ufa am 10. September 1888 hervor. Der Verkehrsminister unterstrich, dass mit diesem Streckenabschnitt der Grundstein eines Schienenstrangs von Moskau nach Irkutsk gelegt sei. Diese „gewaltige Bahnlinie von Warschau über Moskau nach Irkutsk wird einen ehernen, nein vielmehr einen stählernen Gürtel bilden, der beide Hälften des Staates fest miteinander verbindet und der dem ‚Riesen Russland’ neue Kraft auf den Gebieten der Produktion, des Handels und der Politik verleihen wird [...]“260
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po voprosu o napravlenii Ural-Sibirskoj železnoj dorogi, Sankt Peterburg 1870, jene der VIII. Abteilung der IRTO in den Jahren 1888–1890 in: Železnodorožnoe delo, 7 (1888) – 9 (1890). Zur IRGO: Collins, Plans, S. 151f. und Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde, S. 170. Zur Geschichte der IRGO und der IRTO: Joseph Bradley: Voluntary Associations in Tsarist Russia. Science, Patriotism, and Civil Society, Cambridge 2009. Marks, Road to Power, S. 57–64. Marks, Road to Power, S. 68, 75. Lukojanov, Velikaja Sibirskaja železnaja doroga i KVŽD, S. 125. Pos’et hatte sich seit Mitte der 1870er Jahre für den Bau einer Transkontinentalbahn durch Sibirien stark gemacht. Dabei betonte er, wie später Vitte, die Bedeutung einer solchen Verbindung als Verkehrsader zwischen Europa und Asien. Schon Pos’et träumte davon, mit Hilfe einer Sibirischen Bahn Teile des Welthandels vom Suez-Kanal abzulenken und über russisches Territorium zu führen. Marks, Road to Power, S. 64–66. Zu den Feierlichkeiten des 300. Jahrestages der Eroberung Sibiriens: Trechsotletnyj jubilej und Anatolij V. Remnev: 300-letie prisoedinenija Sibiri k Rossii. V ožidanii „Novogo istoričeskogo perioda“, in: Kult´turologičeskie issledovanija v Sibiri, Omsk 2007, Nr. 1 (21), S. 34-50. Marks, Road to Power, S. 76. Reč’ Ministra putej soobščenija o Sibirskoj železnoj doroge 10 sentjabrja 1888 g., in: Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 33–34, S. 284.
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Ungeachtet der Mahnungen von Gegnern der Sibirischen Bahn in seiner Regierung, die vor den gewaltigen Kosten und dem zweifelhaften ökonomischen Nutzen des Projektes gewarnt hatten, gab Alexander III. am 15. Februar 1891 grünes Licht für den Bau eines durchgehenden Schienenstrangs von Čeljabinsk im Ural zum Pazifikhafen Vladivostok. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Kaisers waren offenbar die eindringlichen Appelle der lokalen Repräsentanten der Zarenmacht in Sibirien und im Fernen Osten, ihre Regionen nicht länger zu vernachlässigen.261 Insbesondere die Berichte der Generalgouverneure Ostsibiriens sowie des Amur-Gebietes, Graf Aleksej P. Ignat’ev und Baron Andrej von Korff, die den Zaren im Jahr 1886 über die Reorganisation der chinesischen Armee, die wachsende chinesische Zuwanderung in die fernöstlichen Provinzen des Reiches sowie die zunehmenden Aktivitäten der Engländer in der Region informierten, beunruhigten den Kaiser in St. Petersburg.262 Den Bericht Ignat’evs versah Alexander III. mit der Marginalie: „Wie viele Berichte der Generalgouverneure Sibiriens habe ich schon gelesen! Mit Kummer und Scham muss ich bekennen, dass die Regierung bis jetzt fast nichts für die Befriedigung der Bedürfnisse dieses reichen, doch verlassenen Landes getan hat. Es ist Zeit, höchste Zeit!“263
Die Äußerung wurde auf der Sitzung des Ministerkomitees vom 16. Dezember 1886 als Ausdruck des kaiserlichen Willens gelesen, den Bau der Großen Sibirischen Bahn endlich in Angriff zu nehmen.264 Ähnlich wie im Falle des Bahnbaus in Zentralasien, der 1880 aufgrund der wachsenden Ängste der russischen Militärführung vor dem Vordringen Englands und vor dem Verlust der eigenen Machtstellung in der Region begonnen wurde, gaben somit auch bei der Großen Sibirischen Bahn Befürchtungen vor dem Verlust der territorialen Integrität des Reiches den Ausschlag, das kostspielige Verkehrsprojekt zu realisieren. Ökonomische Erwägungen spielten dagegen eine untergeordnete Rolle. Der Bau der transsibirischen Magistrale sollte aus Sicht der 261 Am 19. Mai 1891 legte Thronfolger Nikolaj Aleksandrovič in Vladivostok den Grundstein für den östlichen Streckenabschnitt der Großen Sibirischen Bahn im Ussurij-Gebiet. Zur offiziellen Darstellung dieser Zeremonie, die einen Höhepunkt der Asienreise des zukünftigen Kaisers Nikolaj in den Jahren 1890–1891 bildete: Ėsper Ėsperovič Uchtomskij: Putešestvie na Vostok Ego Imperatorskago Vysočestva Gosudarja Naslědnika Cesareviča (Nikolaja II.). 1890–1891, St. Peterburg, Leipzig 1893–97 (3 Bde.), hier Bd. 3 (1897), S. 114f. (dt. Übersetzung: Orientreise Seiner Kaiserlichen Hoheit des Grossfürsten-Thronfolgers Nicolaus Alexandrowitsch von Russland 1890–91. Im Auftrag Seiner Kaiserlichen Hoheit verfasst von Esper Uchtomskij, Leipzig 1894–99 (2 Bde.) Zur Reise Nikolajs vgl. auch Kap. 5.1.1. Zu Uchtomskijs Bericht: David Schimmelpenninck van der Oye: Toward the Rising Sun. Russian Ideologies of Empire and the Path to War with Japan, DeKalb 2001, S. 57–60; Raphael Utz: Die Orientreise Nikolaus II. und die Rolle des Fernen Ostens im russischen Nationalismus, in: Maik H. Sprotte (u.a.) (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit?, Wiesbaden 2007, S. 113–145, insbes. S. 127–135. 262 Tupper, To the Great Ocean, S. 72; Marks, Road to Power, S. 94, 104; Cars, Caracalla, Die Transsibirische Bahn, S. 25f. 263 Zit. nach: Verchovskij, Istoričeskij očerk, Bd. 2, S. 451. 264 Marks, Road to Power, S. 95.
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Reichsregierung helfen, die Versorgung der östlichen Reichshälfte – auch in militärischer Hinsicht – zu verbessern und so China und England machtpolitisch die Stirn zu bieten. Die Debatte über die verkehrstechnische Erschließung der östlichen Reichshälfte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzog sich in enger Verbindung mit der gedanklichen Umdeutung Sibiriens im politischen Bewusstsein der russländischen Elite von einem „Reich der Kälte“, einem Ort der Verbannung und der ökonomischen Rückständigkeit in einen genuinen Teil des nationalen Territoriums sowie einen schillernden „Zukunftsraum“.265 Von Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch die Entstehung einer regionalistischen Bewegung in Sibirien in den 1860er Jahren, deren Aktivitäten man in St. Petersburg mit Sorge beobachtete und deren Fürsprecher als Separatisten mit aller Härte verfolgt wurden. Vertreter des sibirischen oblastničestvo kritisierten die Ausbeutung der Region als „Kolonie“ durch das russische Mutterland und mahnten die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung des vernachlässigten Landes an.266 Führer der Bewegung wie Nikolaj M. Jadrincev und Grigorij N. Potanin sprachen sich in den 1870er Jahren entschieden gegen die Anbindung der östlichen Reichshälfte an das Eisenbahnnetz im europäischen Russland aus. Sie befürchteten, eine Schienenverbindung werde letztendlich nur dem imperialen Zentrum zur Ausbeutung der rohstoffreichen Provinz dienen. Aus ihrer Sicht sollten dem Bau einer Großen Sibirischen Bahn die industrielle Entwicklung der Region und der Ausbau der Verkehrswege innerhalb Sibiriens vorangehen.267 Sympathisanten der Bewegung, wie 265 Zur mentalen „Aneignung“ Sibiriens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Elite des Zarenreiches: Susi Frank: Reisen nach Sibirien. Zwischen Heterotopie und Topographie, in: KEA 12 (1999), S. 113–136, insbes. S. 130–134; Bassin, Geographies of Imperial Identity, insbes. S. 59–62; ders., Imperialer Raum, nationaler Raum, S. 388–398; Anatolij V. Remnev: Rossija i Sibir’ v menjajuščemsja prostranstve imperii (XIX-načalo XX v.), in: Aleksej I. Miller (Hg.): Rossijskaja imperija v sravnitel’noj perspektive. Sbornik statej, Moskva 2004, S. 286–319; Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde; Lutz Häfner: Von der frontier zum Binnenraum. Visionen und Repräsentationen Sibiriens als innerrussländischer Grenzraum, in: Christophe Duhamelle u.a. (Hg.): Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. Bis 20. Jahrhundert, Frankfurt 2007, S. 25–50. 266 Zur Geschichte des sibirischen Regionalismus vgl. u.a.: Wolfgang Faust: Rußlands Goldener Boden. Der sibirische Regionalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Köln 1980; Leonid M. Goryushkin: Late Nineteenth- and Early Twentieth-Century Siberian Regionalists’ Views on the Economic Independence of Siberia, in: Siberica. Journal of Siberian Studies 1 (1990–1991), S. 152–168; N.G.O. Pereira: The Idea of Siberian Regionalism in Late Imperial and Revolutionary Russia, in: Russian History/Histoire Russe 20 (1993), S. 163–178; Stephen Digby Watrous: The Regionalist Conception of Siberia, 1860–1920, in: Galya Diment, Yuri Slezkine (Hg.): Between Heaven and Hell: The Myth of Siberia in Russian Culture, New York 1993, S. 113–132; Damašek, Remnev (Hg.), Sibir’, S. 302–335; Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde, S. 127–146. 267 Faust, Russlands Goldener Boden, S. 342, 394–97; Marks, Road to Power, S. 87–91. – Anders als Potanin stand Jadrincev der Anbindung Sibiriens an das Schienennetz im europäischen Russland anfangs noch aufgeschlossen gegenüber. 1873 stellte er die Eisenbahn noch als probates Mittel der Entwicklung und Kolonisation Sibiriens dar. Mit Blick auf die USA argumentierte er: „Die Amerikaner bauen Telegraphen, um mit Europa verbunden zu werden.
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der Petersburger Geografie-Professor Ėduard Ju. Petri, warnten noch 1888 vor der Gefahr, eine Transkontinentalbahn könne Sibirien mehr Schaden als Nutzen bringen. Vor einer Anbindung der Provinz an das europäische Russland müsse man Sibirien erst die Chance einer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung geben. Gebraucht würden zunächst kurze Schienenverbindungen in der Region, eine kluge Ansiedlungspolitik und die Aufmerksamkeit des Zentrums für die spezifischen Bedürfnisse der „Kolonie“ und seiner Bewohner.268 Argumenten dieser Art begegneten konservative Ideologen der Zarenmacht, wie zum Beispiel Konstantin P. Pobedonoscev, mit dem Hinweis, Russlands östliche Reichshälfte sei keineswegs dessen Kolonie, sondern ein genuiner und untrennbarer Bestandteil des Zarenreiches.269 Schließlich muss auch der Beschluss von 1891, die östliche ReichsIn ihrem Land wird jede Bahnlinie als Sieg der Zivilisation angesehen. Sie bauen Eisenbahnen in die Wüste – und die Wüsten werden besiedelt, in ihnen blühen mächtige Städte auf und ein industrielles Leben. Derartige Vorteile kann auch unser Osten von geeigneten Verkehrswegen davontragen.“ Nedelja 1873, Nr. 5, zit. nach Faust, Russlands Goldener Boden, S. 340. Drei Jahre später warnte Jadrincev jedoch vehement vor der Plünderung der Naturschätze durch das Mutterland, die sich durch die verkehrstechnische Anbindung Sibiriens noch intensivieren werde. Ebd. S. 397. Auch in anderen Randgebieten des Imperiums formierte sich Widerstand gegen die Anbindung an das Schienennetz des Kaiserreiches. Achmedžanova beschreibt den Protest der muslimischen Geistlichkeit in Buchara, der es 1886 sogar gelang Demonstrationen gegen den Bau der Transkaspischen Eisenbahn durch das Emirat zu organisieren. Vgl. dies. K istorii, S. 24. Im nördlichen Kaukasus begrüßten Repräsentanten der lokalen Elite den Bau der Eisenbahn von Rostov nach Vladikavkaz dagegen als „Lichtstrahl der Zivilisation“. So z.B. der ossetische Intellektuelle Inal Kankov im Jahr 1875. Vgl. Silaev, Kavkaza ne stanet, S. 110. 268 Ėduard Jul’evič Petri: O narodonaselenii Sibiri i o Velikoj Vostočnoj železnoj doroge, in: Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 33–34, S. 267–283, hier S. 268f., 271f., 274. – Petri bezeichnete in seinem Vortrag vor den Mitgliedern der VIII. Abteilung der IRTO vom 19.4.1888 die Führer des sibirischen oblastničestvo Jadrincev und Potanin als „Lichtgestalten der russischen Kultur“ (S. 271). Das zentrale Werk Nikolaj Jadrincevs aus dem Jahr 1882, Sibir’ kak kolonija, hatte Petri 1886 ins Deutsche übersetzt. Vgl. N. Jadrinzew: Sibirien. Geographische, ethnographische und historische Studien, nach dem Russischen bearbeitet und vervollständigt von Dr. Ed. Petri, Jena 1886. Der deutschen Übersetzung fügte Petri auch ein Kapitel über die „Erschließung Sibiriens“ (S. 479–537) hinzu, die in der russischen Ausgabe fehlt. Zu den „Pacificbahnprojekten“, die „als Phantasiegebilde den Unwillen der mit den sibirischen Angelegenheiten Betrauten erregt haben“, S. 496. Petris Fazit lautete: „Solange die Produktionskräfte Sibiriens noch mangelhaft entwickelt sind […] darf von einer Pacificbahn für Sibirien keine Rede sein. Sibirien ist nicht Nord-Amerika!“ Ebd. – Zur wissenschaftlichen Biografie Petris und zu seiner Rolle bei der Übertragung des Paradigmas der „kolonialen Anthropologie“ von Berlin nach St. Petersburg vgl. Marina Mogil’ner: Homo imperii. Istorija fizičeskoj antropologii v Rossii (konec XIX – načalo XX v.), Moskva 2008, S. 112–120. 269 Marks, Road to Power, S. 52; Häfner, Von der frontier zum Binnenraum, S. 43. – Diese offizielle Haltung kam u.a. in der Abschaffung sämtlicher Zeichen administrativer Eigenständigkeit Sibiriens in den 1880er Jahren zum Ausdruck. Vgl. Marks, Road to Power, S. 91. 1887 verschwand „Sibirien“ als offizielle Bezeichnung der administrativen Gebietseinheiten östlich des Ural. Zu den Reformen der sibirischen Regionalverwaltung in den 1880er Jahren: Remnev: Rossija i Sibir’ v menjajuščemsja prostranstve imperii, S. 292; Watrous, Regionalist Conception, S. 119. Zur Angst der zarischen Bürokratie, in Sibirien könnte, wie vormals in den USA, der antikoloniale Diskurs in eine separatistische Bewegung münden: ders.: Koloni-
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hälfte durch eine Transkontinentalbahn enger an das europäische Russland anzubinden, als Ausdruck der offiziellen Bemühungen gesehen werden, das Reich als nationalen Raum zu konsolidieren. Kein anderes Eisenbahnprojekt hat Phantasien und Hoffnungen der territorialräumlichen Transformation des Russländischen Reiches in dem Ausmaß beflügelt wie der Bau der Großen Sibirischen Bahn. Befürworter des Projektes griffen dabei auf etablierte Topoi der Eisenbahnmythologie zurück, beschworen Schienenstränge als „Lebensnerven“ im Körper einer Nation270 und das Verkehrsmittel als Agent einer europäischen mission civilizatrice in Asien. Der russische General Evgenij V. Bogdanovič, der sich seit den 1860er Jahren engagiert für den Bau einer Eisenbahn nach Sibirien einsetzte, stellte beispielsweise 1875 auf dem Internationalen Geografenkongress in Paris das Verkehrsprojekt als Teil einer Kulturmission des „Westens“ dar: „Le mouvement de civilisation de l’Occident vers l’Orient se produit avec une rapidité qui peut être ralentiée par les obstacles, mais non point arrêtée. […] La victoire du progrès occidental est déjà assurée en Asie.“
Wie später Sergej Vitte träumte er davon, China und Europa „à travers les régions productives de la Russie, de l’Oural et de la Sibérie jusqu’à l’Océan Pacifique“ zu einen. Seine Vision war „une voie ferrée portant la civilisation européenne dans tout l’Orient, et faisant nos frères, nos égaux et presque nos concitoyens de 350 millions d’êtres humaines“.271 Nicht zuletzt sollte jedoch Sibirien selbst von der Kultur bringenden Kraft der Bahn profitieren. In einer Rede vor Mitgliedern der IRTO vom März 1888 hob zum Beispiel der Verkehrsexperte N. A. Sytenko hervor, dass sich mit dem Bau der Großen Sibirischen Bahn „erneut die alten Wege der Hunnen und Mongolen nach Europa öffnen werden, doch dieses Mal nicht für sie; auf diesen Wegen werden Lokomotiven pfeifen und Eisenbahnwaggons rattern und Leben und Zivilisation in das Land der Bären, Zobel und des Goldes tragen.“272
ja ili okraina? Sibir’ v imperskom diskurse XIX veka, in: M. D. Karpačev, M. D. Dolbilov, A. Ju. Minakov (Hg.): Rossijskaja imperija: strategii stabilizacii i opyty obnovlenija, Voronež 2004, S. 112–146, hier S. 127–129. 270 Neskol’ko slov po voprosu o sibirskoj železnoj dorogi, Moskva 21882, Wiederabdruck in Auszügen in: Železnyja dorogi v Sibir’, in: Železnodorožnoe delo 2 (1883), Nr. 8, 10, 11–12, S. 100–102, 109–111, 113–115, hier S. 101; Rede des Vorsitzenden der VIII. Abteilung der IRTO, A. N. Gorčakov, am 18.12.1887, zit. in: O naivygodnejšem napravlenii magistral’noj i nepreryvnoj Vserossijskoj velikoj vostočnoj železnoj dorogi, in: Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 2–4, S. 13–30, hier S. 13f. 271 Evgenij V. Bogdanovič: Exposé de la question relative au chemin de fer de la Sibérie et de l’Asie centrale, Paris 1875, zit. nach: Collins, Plans, S. 157f. 272 N. A. Sytenko: O velikom Sibirskom puti v svjazi s pravitel’stvennymi izyskanijami. Doklad i beseda v VIII Otdele IRTO, 31-go Marta 1888, in: Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 22– 24, S. 169–198, hier S. 177.
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Die Präsentation der Transsibirischen Bahn auf den Weltausstellungen Die Vision von der Transformation Sibiriens in einen Raum der Zukunft und eine Transitzone des Welthandels, die Finanzminister Vitte am 6. November 1892 Alexander III. vorgestellt hatte, wurde in den Folgejahren von der Reichsregierung nicht nur innerhalb des eigenen Landes, sondern auch international systematisch propagiert.273 Die offizielle Außendarstellung des Projektes der Großen Sibirischen Bahn zielte auf den Wandel des Bildes von Sibirien in der westlichen Öffentlichkeit ab. Mit der Präsentation des technischen Vorhabens auf Weltausstellungen und in westeuropäischen und US-amerikanischen Publikationen sollte der Welt zudem das Zarenreich insgesamt als ein Land des Fortschritts vorgestellt werden.274 Ein wichtiges Ziel der Reichsregierung war es dabei nicht zuletzt, Investoren für ein finanzielles Engagement in der östlichen Reichshälfte zu gewinnen und dadurch den ökonomischen Wachstumsimpuls zu steigern, den man sich vom Bau der Transkontinentalbahn erwartete.275 Auf lange Sicht würde der wirtschaftliche Aufschwung Sibiriens, so das Kalkül der Reichsregierung, zur Amortisierung der gewaltigen Kosten des Großprojektes beitragen. Eine wichtige Bühne für die Selbstdarstellung Russlands als Land der Zukunft waren die Weltausstellungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, auf denen sich die „europäische Moderne als eine technische Moderne präsentierte.“276 273 Zur Strategie Vittes, in den 1890er Jahren mit Hilfe der St. Petersburger Presse die öffentliche Meinung in der Hauptstadt zu lenken und Werbung für das Projekt der Großen Sibirischen Bahn zu machen vgl. Louise McReynolds: The News Under Russia's Old Regime. The Development of a Mass Circulation Press, Princeton 1991, S. 126–130; Zur allgemeinen Strategie Wittes, die Presse für seine politischen Interessen einzusetzen: Stanislas M. von Propper: Was nicht in die Zeitung kam. Erinnerungen des Chefredakteurs der „Birschewyja Wedomosti“, Frankfurt 1929, S. 153. 274 Das Bild Sibiriens und Russlands in der westlichen Öffentlichkeit hatte insbesondere nach der Veröffentlichung des kritischen Reiseberichtes von George Kennan Siberia and the Exile System (2 Bde.), New York 1891 gelitten. 275 Anatolij V. Remnev: Učastie komiteta sibirskoj železnoj dorogi vo vsemirnoj vystavke 1900 goda v Pariže, in: Chozjajstvennoe osvoenie Sibiri. Istorija, istoriografija, istočniki, vyp. 1, Tomsk 1991, S. 167–176, hier S. 168. Zu Bemühungen der Zarenregierung, die öffentliche Meinung in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts durch gezielte Bestechung von Journalisten zu manipulieren: A. Raffalovitch: L’abominable vénalité de la presse... D’après des archives russes (1897-1917), Paris 1931; Geyer, Imperialismus, S. 288, FN 4; James W. Long: Russian Manipulation of the French Press, in: Slavic Review 32 (1972), S. 343–354; Fiona K. Tomaszewski: A Great Russia. Russia and the Triple Entente 1905 – 1914, Westport/CT 2002, S. 144. Ich danke Martin Aust für diesen Literaturhinweis. 276 Jakob Vogel: Mythos Moderne. Die Technik in der nationalen Selbstdarstellung in Europa, in: Detlef Altenburg (u.a.) (Hg.): Im Herzen Europas. Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Köln 2008, S. 105–120, hier S. 107 (Hervorhebung F.B.S.). Zu Weltausstellungen allgemein: Pascal Ory: Les expositions universelles de Paris, Ramsay 1982; Paul Greenhalgh: Ephemeral Vistas. The expositions universelles. Great Exhibitions and World’s Fairs, 1851– 1939, Manchester 1988; Winfried Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt 1999. Zur Selbstdarstellung Russlands auf den Weltausstellungen 1851–1900: David C. Fisher: Exhibiting Russia at the World’s Fairs, 1851–1900, (unveröffentlichte) Dissertation, In-
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Für die Weltausstellung in Chicago 1893 erstellte das Departement für Handel und Manufakturen (Departement torgovli i manufakur) des russischen Finanzministeriums eine umfangreiche Dokumentation mit dem Titel Sibirien und die Große Sibirische Eisenbahn (Sibir’ i Velikaja Sibirskaja železnaja doroga), die parallel in russischer und englischer Sprache erschien.277 In den ersten Kapiteln des Bandes stellten die Autoren Sibirien als eine Region mit einem großen Entwicklungspotential vor. Negative Aspekte des etablierten Sibirien-Bildes, wie zum Beispiel die Geschichte des Verbannungssystems, wurden systematisch heruntergespielt, der Reichtum des Landes an Bodenschätzen sowie der staatlich geförderte Prozess der bäuerlichen Kolonisation dagegen hervorgehoben. Die letzten drei Kapitel des Buches sind dem Projekt der Großen Sibirischen Bahn gewidmet, das als Mittel zur Transformation Sibiriens zu einer Drehscheibe des internationalen Warenverkehrs zwischen Europa und Asien sowie zwischen Russland und Amerika vorgestellt wird. Wie Vitte in seinem Bericht für Alexander III. vom 6. November 1892 äußerten auch die Autoren dieses Bandes die Hoffnung, mit der Sibirischen Bahn ließe sich ein Teil des Handels zwischen Europa und Asien mit kostbaren Waren wie Tee, Seide und Pelzen vom Suez-Kanal bzw. von der Canadian Pacific Railroad auf russisches Territorium umleiten und die Bedeutung Russlands auf dem Weltmarkt deutlich steigern.278 Schließlich eröffne die Eisenbahn zum Pazifik die Möglichkeit, „to carry on more direct intercourse with the United States of America, which in spite of being the great competitor of Russia in the grain trade of Europe, in consequence of the solidarity of its political and other interests, cherishes sincere sympathy for Russia.”279 Die Publikation von 1893 griff zentrale Punkte von Vittes Vision der Neupositionierung Sibiriens auf der Weltkarte durch die Schaffung der Sibirischen Bahn auf und steckte gleichzeitig den Rahmen für die Darstellung des Verkehrsprojek-
diana University 2003, insbes. S. 213–226 und jüngst: Mirjam Voerkelius: Russland und die Sowjetunion auf den Weltausstellungen, in: Martin Aust (Hg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte, 1851-1991, Frankfurt 2013, S. 207-224. 277 Sibir’ i velikaja sibirskaja železnaja doroga, hg. von V. I. Kovalevskij, P. P. Semenov, Sankt Peterburg 1893; Siberia and the great Siberian railway, 1893. Vgl. dazu: Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde, S. 222–224; dies.: Representing the Empire: The Meaning of Siberia for Russian Imperial Identity, in: Nationalities Papers 35 (2007), S. 439–456, hier S. 445f.; Neutatz, Der Traum von der Transsib, S. 185–187. – Neben dem Projekt der Großen Sibirischen Bahn präsentierte das russische Verkehrsministerium auch die allgemeine Erschließung des Landes mit Eisenbahnen und Kanälen als nationale Errungenschaft. Vgl. Statističeskij obzor železnych dorog i vnutrennych vodnych putej, hg. von I. F. Borkovskij (im Auftrag der Statistischen Abteilung des Ministerstvo putej soobščenija für die Weltausstellung von Chicago), Sankt Peterburg 1893. 278 Siberia and the great Siberian railway, S. 263. 279 Siberia and the great Siberian railway, S. 265. – Die Hoffnung, der Bau der Transsibirischen Bahn werde auch zur Intensivierung der Beziehungen zwischen Russland und den USA beitragen, hatte bereits Vitte in seinem Bericht vom 6. November 1892 zum Ausdruck gebracht. Vgl. ders. Vsepoddannejšij doklad, S. 171.
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tes auf der Weltausstellung von Paris im Jahr 1900 ab.280 Die Präsentation der Großen Sibirischen Eisenbahn und der damit verbundenen Anstrengungen der Reichsregierung, bäuerliche Kolonisten in großer Zahl in die östliche Reichshälfte umzusiedeln sowie die natürlichen Reichtümer der Region zu erschließen, nahm einen zentralen Platz in der Selbstdarstellung des Zarenreiches auf der internationalen Leistungsschau ein. Russland war auf der Pariser Weltausstellung mit einem eigenen Pavillon vertreten, der der Erschließung und Entwicklung der „Randgebiete des Imperiums (Okrainy Rossii)“ gewidmet war.281 Die Darstellung Sibiriens, des Kaukasus, Zentralasiens sowie des russischen Nordens zielte darauf ab, den Unterschied zwischen der kultivierten „Entwicklungspolitik“ des Zarenreiches in seinen Randprovinzen auf der einen und der ausbeuterischen Kolonialpolitik westlicher Imperien auf der anderen Seite herauszustreichen.282 So stand auch bei der Präsentation der Großen Sibirischen Bahn, die drei Säle des Pavillons ein-
280 Zur Präsentation der Großen Sibirischen Bahn auf der Pariser Weltausstellung: I. V. Sosnovskij: Otčet ob ustrojstve Otdela Komiteta Sibirskoj železnoj dorogi na Vsemirnoj vystavke 1900 g. v Pariže, Sankt Peterburg 1901; V. Verchovskij: VI gruppa Russkogo otdela na Vsemirnoj 1900 goda vystavke v Pariže, in: Železnodorožnoe delo 21 (1902), Nr. 1, S. 2–13; Galina Zakrevskaja: Ėksponaty vsemirnoj parižskoj vystavki 1900 goda v fondach CMŽT MPS, in: Železnodorožnoe delo, 1998, Nr. 6, S. 13–15; Remnev, Učastie; Vladislav T. Koptelov: Velikij Sibirskij put’ ot Aleksandra III do Nikolaja II. Istoričeskij očerk, Tjumen’ 2003, S. 104f.; Cars, Caracalla, Die Transsibirische Bahn, S. 71–78; Weiß: Representing the Empire, S. 446–450; dies., Wie Sibirien „unser“ wurde, S. 224–226; Neutatz, Der Traum von der Transsib, S. 187f. Quellen: Velikaja Sibirskaja železnaja doroga. Vsemirnaja vystavka 1900 g. v Pariže; Ot Volgi do Velikago okeana. Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge s opisaniem Šilko-Amurskago vodnago puti i Mančžurii, hg. von Ministerstvo Putej Soobščenija, hg. von A. I. Dmitriev-Mamonov, Sankt Peterburg 1900, (dt. Übersetzung: Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, hg. von Ministerium der Wege - Kommunikation, Red: A. I. Dmitrijew-Mamonov, Sankt Peterburg 1901, engl. Übersetzung: A. Dmitriev-Mamonov: Guide to the Trans-Siberian Railway, St. Petersburg 1900); Statističeskij obzor železnych dorog i vnutrennych vodnych putej Rossii, hg. von Otdel statistiki i kartografii Ministerstva putej soobščenija, 2 Bde, Sankt Peterburg 1900 (frz. Übersetzung: Aperçu statistique des chemins de fer et des voies navigables de la Russie, Sankt Peterburg 1900); Katalog russkogo otdela na Vsemirnoj vystavke v Pariže, Sankt Peterburg 1900; Rossija na Vsemirnoj vystavke v Pariže v 1900 g., Sankt Peterburg 1900. 281 Die Architektur des Pavillons auf dem Trocadero (Entwürf: P. F. Mel’cer) erinnerte an die Gestalt des Moskauer Kreml. 282 Remnev, Učastie, S. 175, FN 5; Weiß, Representing the Empire, S. 449. Zur Bedeutung der Weltausstellung als Mittel zur kompetitiven Repräsentation imperialer Macht: Greenhalgh, Ephemeral Vistas, Kap. 3 (S. 52–81), zur Pariser Schau von 1900: ebd. S. 67f. – Russische Besucher der Pariser Weltausstellung, wie z.B. die Frau des Generalgouverneurs von Turkestan, Varvara F. Duchovskaja, sahen den russischen Pavillon, der den „Randgebieten des Imperiums“ gewidmet war, als Äquivalent zur Präsentation der Kolonien westlicher Mächte – z.B. des französischen Algerien-Pavillons. Duchovskaja berichtet in ihren Erinnerungen, dass man die Ausstellungshalle mit Exponaten aus Sibirien und dem Kaukasus „Les Indes Russes“ genannt habe. Vgl. dies.: Turkestanskija vospominanija, S. 86. Für diesen Hinweis danke ich Ulrich Hofmeister.
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nahm, der Aspekt der Erschließung Sibiriens und die Einbeziehung der Region in das System des Weltverkehrs im Vordergrund. Für die Zusammenstellung der Exponate war neben dem russischen Verkehrsministerium das Komitee der Sibirischen Eisenbahn (KSŽD) zuständig. Zudem beteiligte sich an der Ausstellung die Internationale Schlafwagengesellschaft (Compagnie International des Wagons Lits, CIWL), die seit 1898 einen Luxuszug von Moskau nach Krasnojarsk betrieb und die in Paris im großen Stil Werbung für ihren „Transsibirien-Express“ machte.283 Die CIWL lockte die Besucher der Weltausstellung mit einer besonderen Attraktion. Die belgische Firma hatte im Pavillon der Kaiserin Marie vier luxuriöse Eisenbahnwaggons aufstellen lassen, die für den Verkehr auf der Großen Sibirischen Bahn vorgesehen waren (dort jedoch nie zum Einsatz kamen). Nach Erwerb einer „Fahrkarte“ konnten Besucher in einem der beiden Restaurantwagen Platz nehmen und sich auf eine imaginäre Reise durch Raum und Zeit begeben. Nach dem dritten Läuten der Stationsglocke setzte sich der edle Zug scheinbar in Bewegung. Vor den Fenstern zog gemächlich die weite Landschaft Sibiriens vorbei, die Künstler der Pariser Oper auf ein gewaltiges, mehrschichtiges Panoramagemälde gebannt hatten. Vier verschiedene Ebenen des Kunstwerkes, die sich in unterschiedlichem Tempo bewegten, sorgten für die perfekte Illusion.284 Nach einer dreiviertel Stunde „Fahrt“ entstiegen die
283 Die CIWL war seit 1888 in Russland aktiv und betrieb Luxuszüge u.a. auf den Strecken Moskau – St. Petersburg, St. Petersburg – Riga, Moskau – Nižnij Novgorod sowie Char’kov – Kiev. Vgl. Cars, Caracalla, Die Transsibirische Bahn, S. 81; Albert Mühl, Jürgen Klein: Reisen in Luxuszügen. Die internationale Schlafwagengesellschaft. Die großen Expresszüge und Hotels. Geschichte und Plakate, Freiburg 22006, S. 112–123. 284 Das Panorama erstellten die Chefdekorateure der Pariser Oper, Marcel Jambon und Alexandre Bailly. Vgl. Cars, Caracalla, Die Transsibirische Bahn, S. 78; Poulsen, Die Transsibirische Eisenbahn, S. 58; Thomas Kuchenbuch: Die Welt um 1900. Unterhaltungs- und Technikkultur, Stuttgart 1992, S. 201; Joachim Paech: Die Ankunft des Zuges, in: epd Film 6/84, S. 16– 23, hier S. 19–22; Fisher, Exhibiting Russia, S. 220f.; Alexis Gregory: Bon Voyage. Die Goldene Zeit des Reisens 1850–1950, München 1991, S. 148. Neben der CIWL präsentierte das russische Verkehrsministerium auf der Weltausstellung ein 940 m langes Panoramagemälde der Großen Sibirischen Bahn, ein Werk des Malers Pavel Ja. Pjaseckij. Das Aquarell zeigte die Bahnstrecke von der Wolga bis zum Pazifik, wobei die (neunte) Rolle mit dem letzten Teilstück vom Bajkalsee bis Vladivostok erst nach der Weltausstellung fertig gestellt wurde. Vgl. Sosnovskij, Otčet, S. 3; Verchovskij, VI gruppa, S. 8f; Fisher, Exhibiting Russia, S. 219; Valerij Privalichin: Dostojnaja Sibiri. Istorija samoj dlinnoj akvarel’noj panoramy, http://www.stm.ru/archive/07-12/06.html (aufgerufen am 27.7.2013); Marie-Louise von Plessen (Hg.): Sehnsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Basel 1993, S. 17, 248–250; G. A. Bočanova: Iz istorii panoramy P. Ja. Pjaseckogo ‚Velikij Sibirskij Put’, in: N. N. Pokrovskij (Hg.): Sibir’ v XVI–XX vekach: Ėkonomika, obščestvenno-političeskaja žizn’ i kul’tura, Novosibirsk 1997, S. 155–169. Abb. von Fragmenten dieses Gemäldes in: Bodo Thöns: Die Transsibirische Eisenbahn. Die frühen Jahre 1900 bis 1916, Erfurt 2004, S. 60f. Allgemein zum Panorama als Attraktion auf der Weltausstellung von Paris: Kretschmer, Geschichte, S. 147; von Plessen (Hg.), Sehnsucht, S. 17f. Zum Wechselverhältnis der Rezeption von Panoramagemälden und der Raumwahrnehmung von Eisenbahnreisenden: Ana Parejo Vadillo, John Plunkett: The Railway Passenger, or the Training of the Eye, in: Matthew
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Reisenden dem prachtvollen Waggon und wurden auf dem Bahnsteig von Beamten in chinesischer Tracht in „Peking“ willkommen geheißen. Die Phantasiereise von Moskau nach China in 45 Minuten war ein gewaltiger Publikumserfolg.285 Die Inszenierung kündete vom Sieg über Raum und Zeit in naher Zukunft. In der Attraktion schienen sich die hoffnungsvollen Erwartungen der Menschen an das noch junge 20. Jahrhundert wie in einem Brennspiegel zu bündeln. Dabei war es von nachrangiger Bedeutung, dass eine Fahrt von Moskau nach Peking „damals noch gar nicht möglich [war] und durch die chinesischen Wirren [des Boxeraufstandes] in weite Ferne gerückt schien.“ Viele Besucher verdrängten offenbar, „dass es sich in Paris wesentlich nur um ein Zukunftsbild handelte, dessen vollständige Ausführung man erst in den nächsten Jahren versprechen konnte.“286 Die Beschwörung dieses Zukunftsbildes von Sibirien in der Inszenierung der CIWL lag durchaus im Interesse der russischen Behörden, die für die Präsentation des sibirischen Bahnprojektes auf der Pariser Weltausstellung verantwortlich waren. Die Vision der Überwindung von Raum und Zeit wurde in dem vom russischen Verkehrsministerium konzipierten Teil der Ausstellung unter anderem mittels der Darstellung herausragender Projekte russischer Ingenieurkunst im Brückenbau beschworen.287 Modelle und Fotografien von Eisenkonstruktionen über die großen Ströme Sibiriens kündeten von der Bezwingung der Natur durch den menschlichen Geist und stellten der Weltöffentlichkeit das Zarenreich als ein modernes Land des Wissens und der technischen Bildung vor. Die Auszeichnung der Bogenbrücke über den Jenissej bei Krasnojarsk, ein Werk des Ingenieurs Lavr D. Proskurjakov, mit einer Goldmedaille erfüllte die russische Delegation dabei mit besonderem Stolz.288 Das Bild einer Stahlkonstruktion, die einen Fluss überspannt, hatte sich international längst als eine Chiffre des Eisenbahnzeitalters und
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Beaumont, Michael Freeman (Hg.): The Railway and Modernity. Time, Space, and the Machine Ensemble, Oxford 2007, S. 45–67. Vgl. u.a. Duchovskaja, Turkestanskija vospominanija, S. 90; Paul Morand: 1900 [Dix-neuf cent], Paris 1931, S. 121–127; John Dos Passos: Orient-Express (1927), München 2013, S. 162-176. Zahlreiche Besucher ließen sich durch die imaginäre Reise auf der Weltausstellung zu einer Fahrt nach Sibirien anregen. So z.B. Eugen Zabel: Transsibirien. Mit der Bahn durch Rußland und China, 1903, hg. von Bodo Thöns, Darmstadt 2003, S. 49–51 u. Annette M. B. Meakin: A Ribbon of Iron, Westminster 1901 (Repr. New York 1970), S. 12. Zabel, Transsibirien, S. 50f. – Zur Zeit der Weltausstellung konnte man mit dem Luxuszug der CIWL von Moskau nur bis nach Irkutsk reisen. Für die Weiterfahrt stand eine Dampferverbindung über den Bajkalsee zur Verfügung. Vom Ostufer konnte die Reise mit der Transbajkal-Bahn bis Sretensk fortgesetzt werden. Von dort erreichte man mit dem Schiff, das auf dem Amur und der Schilka verkehrte, Chabarovsk, von wo man mit der Ussurij-Bahn Vladivostok erreichte. Vgl. G. Krahmer: Sibirien und die große sibirische Eisenbahn, Leipzig 21900. Das russische Verkehrsministerium präsentierte sich in Paris nicht nur mit dem Projekt der Großen Sibirischen Bahn. Gleichzeitig stellte es in thematischen Pavillons stolz die Ergebnisse seiner Arbeit zur Schau. Die Entwicklung des Verkehrsnetzes im Zarenreich dokumentierte beispielsweise ein speziell angelegter Band mit Statistiken und Karten: Statističeskij obzor, 1900. Thöns, Die Transsibirische Eisenbahn, S. 49 (dort mit falscher Namensangabe); Gradostroitel’stvo Rossii, Bd. 1, S. 32.
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der technischen Moderne insgesamt etabliert. Es diente nicht nur auf der Weltausstellung als Symbol der Beherrschung der Natur und der Landschaftsgestaltung im Zeitalter der technischen Moderne, sondern zählte seit den 1850er Jahren zum festen Zeichenrepertoire (nicht nur) des russischen Eisenbahndiskurses.289 Das Komitee der Sibirischen Eisenbahn präsentierte die Ergebnisse und Ziele seiner Arbeit auf dem Gebiet der Kolonisation und Erschließung der östlichen Reichshälfte vor allem auf thematischen Wandkarten und in speziell für die Weltausstellung konzipierten Publikationen. Insbesondere der Prachtband Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn (Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge) und die Broschüre Die Große Sibirische Eisenbahn (Velikaja Sibirskaja železnaja doroga), die beide in russischer, französischer, englischer und deutscher Ausgabe erschienen, waren als Mittel zur Verbreitung der offiziellen russischen Sicht des großen Infrastrukturprojektes in der westlichen Welt gedacht.290 Die Darstellung in der handlichen Broschüre, die in einer Auflage von 80.000 Stück gedruckt wurde, folgte im Wesentlichen (und in verknappter Form) jener des offiziösen Bandes Sibirien und die Große Sibirische Eisenbahn von 1893. Die Autoren präsentieren Sibirien als eine an Bodenschätzen reiche Provinz, deren „Anbindung (prisoedinenie)“ – nicht „Eroberung“ (!) – durch das Russländische Reich im 16. Jahrhundert begonnen hatte und die dank einer Jahrhunderte währenden Kolonisation und des sich daraus resultierenden „Übergewichts des russischen Elements“ den Charakter „eines gänzlich russischen Landes“ angenommen habe.291 Während die Nutzung Sibiriens als Verbannungsort von Strafgefangenen nur im Zusammenhang mit der Beschreibung der Angliederung Sachalins an das Zarenreich im Jahre 1875 Erwähnung findet, werden der Prozess der bäuerlichen Kolonisation und die Maßnahmen der Regierung, diesen zu fördern und zu regulieren, ausführlich thematisiert.292 Das zweite Kapitel des Bändchens ist der Entstehungsgeschichte der Transsibirischen Eisenbahn gewidmet, die als zentrales Verbindungsglied eines „durchgehenden Schienenstrangs vom Atlantischen zum Pazifischen Ozean“ und als eine bedeutsame Arterie des Weltverkehrs vorgestellt
289 Einer der ersten Reiseführer der Nikolaj-Eisenbahn (zwischen St. Petersburg und Moskau) war beispielsweise mit einem kolorierten Stich mit einer Darstellung der Eisenbahnbrücke über den Fluß Msta illustriert. Vgl. Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge ot S.Peterburga do Moskvy i obratno, Sankt Peterburg 1858, S. 36f. Diese Brücke diente dem Maler A. Petzold (Petcol’t) 1851 auch als Motiv für ein Landschaftsaquarell: Abb. in: Gradostroitel’stvo Rossii, Bd. 2, S. 471. Zudem zählten Eisenbahnbrücken – neben Bahnhöfen – zu wichtigen Landmarken, die Zugreisenden die Orientierung im Territorium ermöglichten (vgl. dazu Kap. 3.4.1. und Kap. 4.2.) und – im Zuge der Ausbreitung der Fotografie – zu beliebten Motiven russischer Ansichtskarten (vgl. Abb. 8 und 16). 290 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, 1900; Die Große Sibirische Eisenbahn. Pariser Weltausstellung des Jahres 1900, hg. von der Kanzlei des Ministerkomitees, St. Petersburg 1900. Vgl. dazu: Sosnovskij, Otčet, S. 5–14; Remnev, Učastie, S. 169f.; Neutatz, Der Traum von der Transsib, S. 187f. Während der Weltausstellung in Paris wurden 38.400 Exemplare der Broschüre verkauft bzw. kostenlos verteilt. Vgl. Sosnovskij, Otčet, S. 13. 291 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 6. 292 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 4–6, 11–16.
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wird.293 Berauscht vom zeitgenössischen Kult um Geschwindigkeit und Beschleunigung wiesen die Autoren auf den Bau von 5.062 Werst Eisenbahn in Weltrekordzeit hin.294 Gleichzeitig betonen sie, dass sich nach Fertigstellung der Bahn die Reisezeit von Paris oder London nach Shanghai von 34–36 auf 16, später vielleicht sogar auf nur zehn Tage verkürzen lasse.295 Im Einklang mit der von Vitte propagierten Vision von Russland als Drehscheibe des Handels zwischen Europa und Asien wird in der Broschüre hervorgehoben, dass bald 9.600 Werst, d.h. 6/7 einer „idealen Schienenroute“ zwischen dem Atlantik und dem Pazifik über russisches Territorium verlaufen werden.296 Eine der Broschüre beigefügte Landkarte, die Europa und Asien als einen von großen Magistral-Bahnen strukturierten Raum zeigt, war offenbar als Illustration dieses Zukunftsbildes gedacht.297 (Abb. 1) Im Zentrum der Kartendarstellung steht das asiatische Russland bzw. der asiatische Kontinent. Sibirien erscheint nicht wie auf üblichen Russland-Karten als „Anhängsel des europäischen Russland, sondern umgekehrt: Westeuropa wirkt wie ein kleines Anhängsel Sibiriens.“298 Die im Text als „ideale Verbindung“ zwischen dem Atlantik und dem Pazifik dargestellte Route von Le Havre über Paris, Köln, Berlin, Warschau, Moskau, Samara, Čeljabinsk und Irkutsk nach Vladivostok ist auf der Landkarte wie eine Arterie als durchgehende rote Linie eingezeichnet.299 Auffallend an der offiziellen Darstellung des Sibirischen Bahnprojektes in der Broschüre zur Weltausstellung ist die völlige Ausblendung des erhofften politischen, strategischen und ökonomischen Nutzens der Eisenbahn. Zwar ist am Rande vom erhofften Wachstum des Güterverkehrs von, nach und durch Sibirien die
293 Velik\f „Orte“ aja Sibirskaja železnaja doroga, S. 9. 294 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 8. Zum Geschwindigkeitskult um die Jahrhundertwende: Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt 2004; Stephen Kern: The Culture of Time and Space. 1880–1918, Cambridge (Mass.) 71994, S. 109–124. 295 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 10. Die anvisierte Fahrzeit von London nach Vladivostok wird an anderer Stelle mit dreieinhalb Wochen angegeben (gegenüber sechs Wochen per Schiff), ebd. S. 9. 296 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 9. 297 Auf der Karte sind lediglich die Außengrenzen des Russländischen Reiches und der Ural als Binnengrenze in grüner Farbe eingezeichnet. – Der Broschüre war eine weitere, großformatige Karte des Russländischen Reiches beigefügt, die das Schienennetz des Zarenreiches, die wichtigsten Städte, die administrative Binnengliederung sowie den Verlauf der großen Flüsse und Gebirgszüge zeigt. Auch auf dieser Landkarte ist der Schienenstrang der Sibirischen Bahn als durchgehende rote Linie von Le Havre bis Vladivostok eingezeichnet. 4.100 Exemplare dieser Karte wurden vom KSŽD in Paris an ausländische Journalisten verteilt, die damit ihre Texte über die Sibirische Bahn illustrieren sollten. Sosnovskij, Otčet, S. 14. 298 Neutatz, Der Traum von der Transsib, S. 187. 299 Der russischen Ausgabe dieser Broschüre war eine Landkarte mit einem anderen Kartenausschnitt beigefügt. Auf dieser Darstellung, auf der unter anderem auch die arabische Halbinsel, Indien und Südostasien zu sehen ist, konnte der Betrachter entlang einer gestrichelten Linie die ungleich längere Schiffsroute von Europa nach Asien, d.h. den Seeweg von London über Gibraltar, den Suez-Kanal und Ceylon nach Shanghai nachvollziehen.
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Rede.300 Anspielungen auf den von Vitte 1892 erwähnten „Wirtschaftskampf“ mit England um Anteile des lukrativen Handels zwischen Asien und Europa finden sich in der Broschüre (aus verständlichen Gründen) jedoch nicht. Bescheiden wird die Sibirische Bahn als Konkurrent der Personenschifffahrt von Europa nach Asien dargestellt. Dabei wird hervorgehoben, dass Reisende erster Klasse auf der Schiene nicht nur schneller, sondern auch billiger an ihr Ziel kommen werden als mit dem Ozeandampfer.301 Wohlweislich hatten die Autoren darauf verzichtet, auf die gewaltigen Kosten des Bauvorhabens einzugehen.302 Die schwindelerregend großen Zahlen hätten auch bei Laien die Frage provoziert, ob die Zarenregierung mit Investitionen in dieser Höhe nicht auch andere Ziele verfolge, als den Transfer bäuerlicher Kolonisten nach Sibirien und die Reise westlicher Touristen nach Asien zu erleichtern.303 Dass die Broschüre dazu dienen sollte, die politischen und strategischen Ziele, die die Reichsregierung mit dem Bauvorhaben verfolgte, zu verschleiern, lässt sich auch an der Hervorhebung von Vladivostok als Endpunkt der Sibirischen Bahn ablesen. Anders als die CIWL, die Besucher der Weltausstellung zu einer Zeitreise von Moskau nach Peking einlud, war den russischen Behörden an einer Darstellung der Sibirischen Bahn als innerrussische Schienenverbindung gelegen. Ungeachtet dessen, dass bald nach der gewaltsamen Inbesitznahme der Halbinsel Liaodong durch die russische Marine im Dezember 1897 die Hafenstädte Port Arthur bzw. Dalien/Dal’nij von der Reichsregierung als neue Endpunkte der durchgehenden Bahnstrecke nach Fernost definiert worden waren, präsentierte die Reichsregierung der Weltöffentlichkeit in Paris weiterhin den Hafen von Vladivostok als Terminus der Bahn.304 Dem Bau der Ostchinesischen Eisenbahn, die in russischen Netzplänen seit 1896 das östlichste Verbindungsstück der Sibirischen Eisenbahn darstellte, widmet die Broschüre lediglich sechs Zeilen.305 Weder juristisch noch politisch korrekt stellen die Autoren die Gesellschaft der Ostchinesischen Eisenbahn als eine „private russische Gesellschaft (častnoe russkoe 300 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 10. 301 Eine Fahrt Erster Klasse von Paris nach Shanghai werde mit der Bahn ca. 320 Rubel (gegenüber 900 Rubel mit dem Schiff) kosten. Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 10. 302 In diesem Punkt weichen die verschiedenen Sprachfassungen der Broschüre offenbar voneinander ab. Während die russische Ausgabe zu den veranschlagten Baukosten schweigt, werden in der deutschen Fassung Zahlen (1,7 Mrd. Mark) genannt. Vgl. Die Große Sibirische Eisenbahn, S. 16. 303 In der Publikation des Finanzministeriums zur Weltausstellung von Chicago wurden die Kosten des Bahnprojekts mit 350 Mio. Rubel beziffert. Siberia and the great Siberian railway, S. 260. Der Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge von 1900 sprach bereits von Ausgaben von voraussichtlich 780 Mio. Rubel. Vgl. Ot Volgi do Velikago okeana, S. 56. Steven Marks beziffert die Baukosten der Bahn, die bis 1914 aufliefen, auf 1,47 Mrd. Rubel. Ders. Road to Power, S. 217. 304 Dies wird auch beim Vergleich der beiden in Paris zur Schau gestellten Panoramagemälde der Sibirischen Bahn deutlich. Während die CIWL in ihrer Präsentation die Strecke zwischen Moskau und Peking illustrierte, zeigte das Aquarell des russischen Verkehrsministeriums die Landschaft entlang der Bahnlinie von Moskau nach Vladivostok. 305 Velikaja Sibirskaja železnaja doroga, S. 9.
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obščestvo)“ dar. Die außen- und wirtschaftspolitischen Ziele, die Russland mit dem Verkehrsprojekt verfolgte, finden in der Darstellung keine Erwähnung.306 Das Vorhaben, mit dem sich Russland als Akteur des railway imperialism profilierte, passte offensichtlich nicht ins gewünschte Bild des Zarenreiches, das sich im Pavillon Okrainy Rossii als eine Macht präsentierte, die sich an der aggressiven Kolonialpolitik westlicher Imperien in Asien (scheinbar) nicht beteiligte. In dem voluminösen Führer auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, den das russische Verkehrsministerium der Öffentlichkeit präsentierte, wurde dementsprechend der Bau der Schienenverbindung als „Sieg der zivilisatorischen Mission des russischen Staates im fernen Osten“ dargestellt.307 Gleichzeitig unterstrichen die Autoren, dass sich die Asienpolitik des Zarenreiches substantiell von jener der anderen Großmächte unterscheide: „Seine [, d.h. Russlands,] Handlungsweise hat sich […] die Aufrechterhaltung der Ruhe auf dem unermesslichen Raume seiner Grenzbesitzungen zum Nutzen und Frommen aller Völker zur Aufgabe gemacht. Russland vor allem wurde die hohe Ehre zu Teil, im Zentrum Asiens das Panier christlicher Kultur aufzupflanzen. Die reichlich aufgewandte staatliche Fürsorge und die ins Werk gesetzten großen, kulturfördernden Unternehmen werde sicherlich in Bälde die glänzendsten Resultate zeigen.”308
Mit Genugtuung stellten die Verantwortlichen für die Präsentation der Sibirischen Bahn in Paris nach dem Ende der Weltausstellung fest, dass die westliche Presse nicht nur ausführlich, sondern mehrheitlich auch in der gewünschten Weise über das Bauvorhaben berichtet hatte. Die Mitarbeiter des Komitees der Sibirischen Eisenbahn hatten am Rande der sieben Monate währenden Ausstellung an die 1.000 Artikel aus 395 ausländischen Zeitungen zusammengetragen, die dem Bau der Sibirischen Bahn bzw. der Darstellung des Projektes auf der Pariser Leistungsschau gewidmet waren.309 Zufrieden übermittelten die Beamten nach St. Petersburg, dass westliche Zeitungen dankbar das in der Broschüre Die Große Sibirische Eisenbahn präsentierte Material für ihre eigenen Kompilationen verwandt hätten. Zudem habe man in großer Zahl Korrespondenten nach Russland geschickt, die sich vor Ort ein Bild von dem Infrastrukturprojekt machen sollten. Auch die zahlreichen Buchpublikationen westlicher Autoren über das Bahnprojekt 306 Zur Geschichte der Ostchinesischen Eisenbahn siehen unten, Kap. 2.7. 307 Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 55; Guide to the Great Siberian Railway, S. 47. 308 Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 57–59; Guide to the Great Siberian Railway, S. 51. 309 Sosnovskij, Otčet, S. 17–34. – Der Analyse der westlichen Berichterstattung über die Sibirische Bahn im Bericht Sosnovskijs schenkte man in Russland große Aufmerksamkeit. Davon zeugen mehrere Publikationen, in denen die Ausführungen Sosnovskijs erneut abgedruckt bzw. ausführlich zitiert werden. Vgl. z.B. Velikij Sibirskij železnodorožnyj put’ v otzyvach inostrannoj pečati, in: Sibirskij nabljudatel’ 3 (1901), Buch 8, S. 1–14; D. Destrem: Obzor otzyvov pečati po povodu desjatiletija Velikago Sibirskago rel’sogago puti, in: Železnodorožnoe delo 21 (1902), Nr. 2–3, 5–6, 7, S. 27–29, 64–67, 79–80, hier S. 64–67. Die Ausführungen Destrems bezogen sich auf den Wiederabdruck der Presseanalyse Sosnovskijs im im Pravitel’stvennyj vestnik vom 19.5.1901.
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und die russische Aufbauarbeit in Asien, so zum Beispiel das Werk des renommierten französischen Kolonisations-Experten Pierre Leroy-Beaulieu La Rénovation de l'Asie, nahmen die russischen Regierungsvertreter mit Wohlwollen zur Kenntnis.310 Insbesondere die Presse des befreundeten Frankreich habe ein durchweg positives Bild der russischen Infrastrukturpolitik in Sibirien gezeichnet. So habe ein französischer Journalist den Bau der Transsibirischen Eisenbahn mit der Entdeckung Amerikas und der Errichtung des Suez-Kanals verglichen und zu einem der bedeutendsten Ereignisse der Weltgeschichte erklärt.311 In der Zeitung La France sei hervorgehoben worden, dass die Politik der Zarenregierung in Sibirien die reiche Provinz aus einem „tiefen Schlaf“ geweckt habe und dass die „freie Kolonisation“ das ehemalige „Land der Verbannung und der Lager“ beleben werde.312 Die Würdigung des „Zivilisierungsvorhabens“, das Russland auf dem asiatischen Festland mit Erfolg vorantreibe, durchziehe die französische Berichterstattung „wie ein roter Faden“. Leroy-Beaulieu habe pointiert „die Sibirische Eisenbahn [als] eines der größten Bauwerke unseres Jahrhunderts [bezeichnet], das dem Fortschritt in der Welt unersetzliche Dienste erweist“.313 Den Repräsentanten der Reichsregierung entging jedoch nicht, dass sich englische Zeitungen, im Unterschied zur französischen, amerikanischen und deutschen Presse, sehr kritisch mit Russlands Infrastrukturpolitik in Asien auseinandersetzten.314 Die negative Berichterstattung über die Sibirische Bahn in den britischen Medien wurde von den russischen Regierungsvertretern als Versuch gewertet, „die Bedeutung dieser russischen Unternehmung in der öffentlichen Meinung Europas [gezielt] zu diskreditieren“.315 Der Presseauswertung zufolge kreiste die
310 Im Bericht Sosnovskijs werden insbesondere genannt: Pierre Leroy-Beaulieu: La Rénovation de l'Asie. Sibérie – Chine – Japon, Paris 21900; Jules Legras: En Sibérie, Paris 1899; Kurt Wiedenfeld: Die wirthschaftliche Bedeutung der sibirischen Bahn, Berlin 1900. Vgl. Sosnovskij, Otčet, S. 18. 311 Sosnovskij, Otčet, S. 19. 312 Sosnovskij, Otčet, S. 19. 313 Sosnovskij, Otčet, S. 23. Im französischen Original heißt es: «[…] le Transsibérien sera aussi l’une des œuvres de ce siècle qui serviront le mieux la cause de la civilisation générale.» Leroy-Beaulieu, La Rénovation de l'Asie, S. 152. 314 Zur amerikanischen und deutschen Presse: Sosnovskij, Otčet, S. 23–34. 315 Sosnovskij, Otčet, S. 24. – Die russische Regierung versuchte, das negative Image der Sibirischen Bahn in der britischen Öffentlichkeit durch eine eigene Werbekampagne gezielt zu verändern. Der Repräsentant des russischen Finanzministeriums in London, S. S. Tatiščev, sorgte für den Verkauf von 450 Exemplaren der Broschüre The Great Siberian Railroad im englischen Buchhandel und lancierte die Publikation an Redaktionen der wichtigsten Zeitungen der Insel. 1901 wurden weitere 5.000 Exemplare des Heftes in englischer Übersetzung für den Vertrieb auf der International Exhibition in Glasgow gedruckt. Sergej Vitte gestattete Tatiščev, einen Vortrag über die Sibirische Bahn vor einer wissenschaftlichen Vereinigung in London zu halten, wies ihn jedoch an, politische Fragen in seinen Ausführungen auszuklammern und den Schwerpunkt auf die ökonomische Entwicklung Sibiriens und die Aktivitäten der Zarenregierung im Schul- und Kirchenbau zu legen. Vgl. Remnev, Učastie, S. 171. – Tomaszewski zufolge war bereits das Buch Siberia as it is von Harry de Windt von 1892 ein Auftragswerk der Zarenregierung. Es sollte im Westen ein Gegengewicht zum negativen Si-
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englische Berichterstattung vor allem um die Frage der strategischen Bedeutung der sibirischen Bahn sowie der zu erwartenden Auswirkungen auf den europäischen, resp. englischen Seehandel mit Asien. Während gemäßigte Stimmen Zweifel geäußert hätten, ob sich die neue Verkehrsverbindung wirklich zu einer Transitroute des Welthandels entwickeln werde, hätte man in anderen Zeitungen das Bahnprojekt gar als „enormous bluff“ diffamiert. Als Beispiele werden Artikel aus der Zeitung Daily Mail angeführt, die argumentierten, dass sich durch den Bau der Bahnlinie nichts an der Abhängigkeit Russlands von England und dem britisch kontrollierten Suez-Kanal ändern werde.316 Mehrheitlich kämen die britischen Medien zu dem Schluss, dass von der Bahn keinerlei Gefahr für den eigenen Seehandel mit Asien ausginge. Lediglich auf dem Gebiet des Personenverkehrs und des Transports von Tee und Seide aus China nach Europa würden dem neuen Schienenweg in der englischen Presse Vorteile gegenüber den bestehenden Dampfschiff-Verbindungen zugestanden.317 Aufmerksam registrierten die Mitarbeiter des KSŽD, wie sich westliche Zeitungen zu den Auswirkungen der russischen Infrastrukturpolitik in Asien auf die Beziehungen zwischen dem Zarenreich und China äußerten. Dabei wurden wiederum besonders die Differenzen zwischen der französischen und der britischen Berichterstattung zur Kenntnis genommen. In der französischen Presse, so die Analyse der russischen Beamten, werde „fast einhellig“ Russlands „wachsender Einfluss in China“ gewürdigt, der sich aus dem Bau der Sibirischen Bahn ergebe. Im Journal de Rouen habe man voller Anerkennung geschrieben, dass das Zarenreich „ohne einen Schuss abzugeben und nur mit Hilfe von Eisenbahnkonzessionen eine Reihe exklusiver Rechte erworben habe, die einer vollständigen Angliederung der Mandschurei gleich kämen.“ Mit der Fertigstellung der Großen Sibirischen Bahn werde sich die Mandschurei – so die Einschätzung der französischen Zeitung – in naher Zukunft „zu einer russischen Provinz entwickeln.“318 Ausführlich habe man in der französischen Presse über die „chinesischen Ereignisse“ – wie die gewaltsamen Unruhen des „Boxer-Aufstands“ des Jahres 1900 im offiziellen russischen Sprachgebrauch euphemistisch genannt wurden – berichtet. Dabei seien wiederholt die „verdienstvolle Leistung (važnaja usluga)“ der Sibirischen Bahn beim Transport russischer Truppen nach Asien hervorgehoben worden.319 Dass die englische Presse die Aktivitäten Russlands im Fernen Osten um einiges kritischer sah, dürfte die Zarenregierung nicht verwundert haben. Mit „zynischer Freude“, so die Autoren der Presseschau, hätten zahlreiche Zeitungen in England über die Zerstörung russischer Bahnanlagen in der Mandschurei durch rebellische „Faustkämpfer“ berichtet.320 Zur Erklärung der schlechten Reputation der Sibirischen Bahn in der britischen Öffentlichkeit verwiesen die Verfasser des
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birienbild in George Kennans Siberia and the Exile System (New York 1891) schaffen. Vgl. dies., A Great Russia. S. 158, FN 5. Sosnovskij, Otčet, S. 24. Sosnovskij, Otčet, S. 26. Sosnovskij, Otčet, S. 20. Hervorhebung F.B.S. Sosnovskij, Otčet, S. 20. Sosnovskij, Otčet, S. 21.
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Presseberichts auf die Ausführungen des englischen Ökonomen Archibald R. Colquhoun, der sich in seiner Heimat mehrfach (wohlwollend) zu dem russischen Verkehrsprojekt geäußert hatte.321 Colquhoun zufolge habe sich die öffentliche Meinung in England zur Sibirischen Eisenbahn nach der Bestimmung Port Arthurs zum neuen Terminus’ der Schienenverbindung deutlich verändert: „Als man vor neun Jahren mit dem Bau der Sibirischen Eisenbahn begann, so Colquhoun, handelte es sich bei dem Unternehmen ungeachtet seiner gewaltigen Maßstäbe um eine innerrussische Angelegenheit, die das westliche Europa nicht sonderlich interessieren musste. Solange Vladivostok, ein abgelegener, zufrierender russischer Hafen, der Endpunkt der Strecke war, gab es nichts gegen den Bau der Sibirischen Eisenbahn einzuwenden. Ab dem Zeitpunkt [jedoch], an dem Vladivostok [als Terminus] durch Port Arthur und faktisch durch Peking ersetzt wurde, hat sich das Bild drastisch verändert: [Diese Entscheidung] verlieh der Bahn internationale Bedeutung, ihre Realisierung stellte sich nun als ein schwerer Schlag für die Interessen, die Größe und den Fortschritt Englands dar.“322
Colquhouns Fazit lautete, dass sich die „Bahn zu einer politischen Waffe in den Händen Russlands entwickeln [werde], deren Schlagkraft und Bedeutung heute noch schwer zu ermessen ist“.323 2.7. RAILWAY IMPERIALISM: DIE EXPANSION DES IMPERIALEN RAUMS Colquhouns Ausführungen machen deutlich, dass Russland mit seiner Eisenbahnpolitik gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Grenzen des eigenen Herrschaftsbereichs längst überschritten hatte. Bis Ende der 1870er Jahre hatte die Reichsregierung den Eisenbahnbau lediglich zur Vernetzung und Konsolidierung eines zu einem früheren Zeitpunkt und mit anderen Mitteln erweiterten imperialen Territoriums genutzt. 1880, als das russische Kriegsministerium auf den Bau eines Schienenstrangs von der Ostküste des Kaspischen Meeres ins Landesinnere drängte, stellten Verkehrsplaner die Eisenbahn erstmals als ein Hilfsmittel der militärischen Unterwerfung fremder Gebiete vor.324 Während jedoch die Bahn in Transkaspien „nur“ helfen sollte, den Widerstand lokaler Kräfte in einer militärisch bereits eroberten Region zu brechen, betrat Russland im Jahr 1896 mit dem
321 Archibald R. Colquhoun hatte 1900 sein Buch The “Overland” to China (London 1900) und zahlreiche Artikel u.a. in der Morning Post und der Westminster Gazette veröffentlicht. 322 Sosnovskij, Otčet, S. 25. Auch aus russischer Sicht handelte es sich bei der Einnahme der Halbinsel Liaodong durch das Zarenreich, die im März 1898 in einem Abkommen mit China ihren formalrechtlichen Abschluss fand, um eine „Begebenheit von nicht abzuschätzender historischer Tragweite“ (Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 57), eine Einschätzung die in der offiziellen Lesart der russischen Behörden natürlich einen anderen Beiklang hatte, als im britischen Diskurs. 323 Sosnovskij, Otčet, S. 25. 324 Wirt Gerrare: Greater Russia. The Continental Empire of the Old World, New York 1903, S. 294.
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Beschluss, eine Eisenbahn durch die Mandschurei, d.h. über chinesisches Territorium zu bauen, endgültig die Bühne des europäischen railway imperialism.325 Spiritus rector der Strategie einer pénétration pacifique der Mandschurei mittels russischer Eisenbahnen war Finanzminister Vitte. Im Zuge der Verhandlungen um ein geheimes Defensivbündnis gegen Japan hatte er China im Frühjahr 1896 die Konzession zum Bau einer Bahnlinie durch die nördliche chinesische Provinz abgerungen. Eine Ostchinesische Eisenbahn sollte auf kürzestem (und billigstem) Wege die durchgehende russische Schienenverbindung zum Pazifik vollenden.326 Rückblickend stellte Vitte das Infrastrukturprojekt als politisch völlig unverfängliches Unternehmen dar, das allein der Förderung des Welthandels und der Anbindung des Fernen Ostens an Europa dienen sollte. In seinen Memoiren führt er aus, dass die Schienenverbindung durch die Mandschurei „die Sibirische Bahn tatsächlich zu einer Weltverkehrsstraße [gemacht habe], die Japan und den ganzen Fernen Osten mit Russland und Europa verband.“327 Selbst unmittelbar nach dem Ausbruch des „Boxer-Aufstandes“ im Jahr 1900, der sich auch gegen russische Bahnanlagen in China richtete, stellte Vitte den Bau der Ostchinesischen Eisenbahn als Teil eines im Kern „friedlichen und zivilisatorischen und
325 Zum Themenfeld des railway imperialism und zur Geschichte der Ostchinesischen Eisenbahn vgl. u.a. Divall, Railway Imperialisms. Railway Nationalisms, S. 205; Lee, Railways and Imperialism; ders.: Railways, Space and Imperialism, in: Günter Dinhobl (Hg.): Eisenbahn/Kultur. Railway / Culture, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 7, Wien 2004, S. 91–106, insbes. S. 96; Glatfelter, Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway; Sarah C. M. Paine: Imperial Rivals: China, Russia, and Their Disputed Frontier, Armonk 1996, S. 178–208; Frithjof Benjamin Schenk: Kommunikation und Raum im Jahr 1905. Die Eisenbahn in Krieg und Revolution, in: Martin Aust, Ludwig Steindorff (Hg.): Russland 1905 – Perspektiven auf die erste Revolution im Zarenreich, Frankfurt/Main 2007, S. 47–67, insbes. S. 50–57; Urbansky, Kolonialer Wettstreit. 326 Für Vitte ergab sich das „Recht [Russlands] zum Bau dieser Bahn [...] unmittelbar aus seiner moralischen Unterstützung, die wir China nach seinem unglücklichen Krieg mit Japan erwiesen hatten.“ Sergej Ju. Vitte: Vospominanija. Carstvovanie Nikolaja II, Berlin 1922, Bd. 1, S. 67. Übersetzung zit. nach: Witte, Erinnerungen, S. 57. – Gebaut werden sollte der Schienenstrang auf Wunsch der chinesischen Regierung nicht vom russischen Staat, sondern von einer privaten Gesellschaft, an der die Russisch-Chinesische Bank in maßgeblichem Umfang Anteile hielt. Diese Konstruktion gewährleistete einen großen politischen Einfluss des russischen Finanzministers auf das Unternehmen. Der Vertrag über den Bau der Ostchinesischen Eisenbahn wurde am 27. August (8. September) 1896 in Berlin unterzeichnet. Nach einer über 18monatigen Planungs- und Erschließungsphase begann die Gesellschaft der Chinesischen Ostbahn im Frühjahr 1898 mit den Bauarbeiten in der Mandschurei. Innerhalb von fünf Jahren errichtete sie einen Schienenstrang von Čita nach Vladivostok und eine Bahnlinie in die südliche Mandschurei, die die Ostchinesische Eisenbahn mit den Häfen von Port Arthur und Dalien (Dal’nij) verband. Die Konzession für den Bau der sogenannten Südmandschurischen Bahn hatten die russischen Unterhändler China im Rahmen der Verhandlungen über die Pacht von Port Arthur und Dalien (Vertrag vom 15. März 1898) abgenötigt. Die Einweihung beider Linien erfolgte am 1. Juli 1903. 327 Vitte, Vospominanija (Berlin 1922), Bd. 1, S. 42. Übersetzung zit. nach: Witte, Erinnerungen, S. 35. Vgl. auch ders., Vorlesungen, Bd. 1, S. 220 bzw. ders., Konspekt lekcij, Moskva 1997, S. 200.
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nicht militärisch-imperialistischen Drangs Russlands nach Asien“ dar.328 In seinen Vorlesungen über Volks- und Staatswirtschaft aus den Jahren 1900-1902 grenzte er Russlands Asienpolitik sogar dezidiert von jener der westlichen Kolonialmächte ab: „Eine Kolonialpolitik braucht Russland nicht, seine Auslandsaufgaben tragen einen nicht nur friedlichen, sondern sogar einen höchst kulturellen Charakter im wahren Sinne dieses Wortes, weil die Mission Russlands im Osten, im Gegensatz zum Streben der westeuropäischen Mächte nach wirtschaftlicher und nicht selten politischer Unterjochung der Völker des Ostens, eine schützende und bildende Mission sein muss. Russland fällt auf natürliche Weise die Aufgabe zu, die angrenzenden östlichen Länder, die sich in seiner Einflusssphäre befinden, vor den übermäßigen politischen und kolonialen Ansprüchen der übrigen Mächte zu schützen.“329
Tatsächlich verfolgten Vitte und die Reichsregierung mit dem Projekt der Ostchinesischen Eisenbahn handfeste ökonomische und machtpolitische Interessen.330 In einem Memorandum an Nikolaus II. vom 31. März 1896 hatte der Finanzminister argumentiert, dass der Bau einer Eisenbahnlinie durch die Mandschurei eines der besten Mittel sei, „to guarantee our economic influence in China.“ Im April des gleichen Jahres prophezeite er: “China […] will appreciate our services and thereby agree to a peaceful correction of our borders.”331 Nach Abschluss des Vertrages über den Bau der Ostchinesischen Eisenbahn zwischen der chinesischen Regierung und der Russisch-Chinesischen Bank im September 1896 pries Vitte das Ereignis als eines der „ruhmreichsten Kapitel der Geschichte Russlands im Fernen Osten“.332 Vitte war kein Verfechter einer martialischen Großmachtpolitik, die auf die Erweiterung von Territorium und imperialer Macht mit militärischen Mitteln ab-
328 Sergej Ju. Vitte: Vsepoddannejšaja zapiska stats-sekretarja Vitte po delam Dal’nego Vostoka (11. August 1900), in: ders.: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 314–327, hier S. 322. An anderer Stelle spricht er von einem „unaufhaltsamen Streben Russlands gen Asien“, dessen Beginn man bis in die Zeit des alten Novgorod zurückverfolgen könne. Ebd., S. 320. – Auch im offiziellen Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn aus dem Jahr 1900 (dt. Übers. 1901) wurde betont, dass die Mandschurei (nach dem Bau der Ostchinesischen Eisenbahn) „in politischer Hinsicht [...] ein untrennbarer Teil dem Reich der Mitte“ bleibe. Im „wirtschaftlichen [...] und sogar kulturellen Leben [werde die Region jedoch] zu einem integrierenden Bestandteil jenes größeren Ganzen, um welches der fortlaufende Schienenweg das einigende Band seines mächtigen und alles bezwingenden Einflusses schwingt.“ Ebd., S. 56. 329 Witte, Vorlesungen, Bd. 1, S. 204, ders., Konspekt lekcij, Moskva 1997, S. 186. 330 Olga Bakich: Origins of the Russian Community on the Chinese Eastern Railway, in: Canadian Slavonic Papers 27 (1985), S. 1–14, hier S. 13.; Urbansky, Wettstreit, S. 43. 331 Zit. nach: Schimmelpenninck van der Oye, Toward the Rising Sun, S. 75. 332 Sergej Ju. Vitte: [Vsepoddannejšij doklad] po povodu zaključennogo meždu kitajskim pravitel’stvom i russko-kitajskim bankom dogovora na postrojku i ėksploataciju železnoj dorogi v Man’čžurii (September 1896), (RGIA f. 1622, op. 1, ed. chr. 118), in: ders.: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 252–256, hier S. 255.
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zielte.333 Der Finanzminister setzte vielmehr auf die Kraft der Ökonomie und dabei insbesondere auf das Instrument des Eisenbahnbaus.334 Aus diesem Grund kann er als Vertreter par excellence des von den europäischen Großmächten getragenen Eisenbahn-Imperialismus im Zeitalter der technischen Moderne gelten.335 Dass Vitte in den Verhandlungen mit seinen chinesischen Gesprächspartnern 1896 versuchte, die imperialistischen Ziele Russlands zu verschleiern, dürfte dabei kaum überraschen. Der Finanzminister bemühte sich, den chinesischen Gesandten vielmehr mit sicherheitspolitischen Argumenten von der Nützlichkeit des Bahnprojektes zu überzeugen: Mit Blick auf die gegen Japan gerichtete russischchinesische Defensivallianz hob er hervor, dass die Ostchinesische Bahn auch für China notwendig sei, damit „wir im Bedarfsfalle unsere Truppen aus dem Europäischen Rußland und aus Vladivostok herbeischaffen können.“336 In der Tat sollte sich die Bahn zu einem wichtigen Mittel des russischen Truppentransportes entwickeln, allerdings nicht in dem Sinne, den sich die chinesische Regierung damals erhoffte. Auch wenn Vitte eine offensive Dimension des Projektes der Ostchinesischen Eisenbahn in seinen Erinnerungen abstreitet, hatte der Schienenstrang große militärstrategische Bedeutung für Russland.337 Dank der Eisenbahn durch die Mandschurei wurde der Flottenstützpunkt in Vladivostok auf direktem Landwege mit dem europäischen Russland verbunden und so die Kommunikation und der Transport von Truppen zwischen Zentrum und der östlichen Peripherie des Imperiums erheblich beschleunigt. Die strategischen Vorteile, die Russland durch den Bau der Ostchinesischen Eisenbahn entstanden, zeigten sich bereits während des Boxer-Aufstandes im Jahr 1900, wie bereits der britische Beobachter Colquhoun treffend bemerkt hatte. Die Ausweitung des russischen Einflusses in der Mandschurei wurde nicht nur in England mit Sorge registriert, sondern vor allem in Japan als Bedrohung eigener Interessen in der Region empfunden. Die Darstellung in Vittes Erinnerungen, dass der Bau der Ostchinesischen Eisenbahn von Japan „ohne jeden Arg333 Nach der Besetzung der chinesischen Halbinsel Liaodong durch die russische Marine im Dezember 1897 bat Vitte Nikolaus II. als Zeichen des Protests um seine Demission, wurde vom Zaren jedoch nicht aus dem Dienst entlassen. Vgl. Vitte, Vospominanija (Berlin 1922), Bd. 1, S. 127. Nach der Niederschlagung des Boxer-Aufstandes sprach er sich – anders als zum Beispiel Kriegsminister Kuropatkin – entschieden gegen die Annexion der Mandschurei durch Russland aus. Vitte, Vsepoddannejšaja zapiska, S. 321, 326. Nach der Rückkehr von einer Inspektionsreise in die Region plädierte er für den Abzug russischer Soldaten aus der Mandschurei. Sergej Ju. Vitte: Vsepoddannejšij doklad Ministra Finansov po poezdke na Dal’nyj Vostok (Oktober 1902) (RGIA f. 1622, op. 1, ed. chr. 711, ll. 1–81), in: ders.: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 332–409, hier S. 356ff. 334 Geyer, Der Russische Imperialismus, S. 144–148; G. Patrick March: Eastern Destiny. Russia in Asia and the North Pacific, London 1996, S. 172. 335 Vgl. Schimmelpenninck van der Oye, Toward the Rising Sun, S. 75f. Die Eisenbahn war eine von zahlreichen Großmächten genutzte Waffe aus dem Arsenal des „informal empire“. Vgl. Ian Nish: The Origins of the Russo-Japanese War, London 1985, S. 18. 336 Vitte, Vospominanija, Bd. 1 (Berlin 1922), S. 46f. Zit. nach: Witte, Erinnerungen, S. 39. 337 Vitte, Vospominanija, Bd. 1 (Berlin 1922), S. 43.
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wohn aufgenommen worden [sei]“, ist ein Versuch massiver Geschichtsklitterung.338 Die Jahre zwischen 1895 und 1904 fallen in die Ära des kompetitiven Eisenbahnbaus im Fernen Osten, an dem sich Russland und Japan engagiert beteiligten.339 Tokio betrachtete vor allem die Errichtung der Ostchinesischen Eisenbahn sowie der Südmandschurischen Eisenbahn als direkte Bedrohung der eigenen kolonialen Absichten in Korea.340 Hier entwickelte sich ein „clash of railway systems”, der maßgeblich zum Ausbruch des für Russland fatalen Krieges von 1904/05 beitrug.341
338 Vitte, Vospominanija, Bd. 1 (Berlin 1922), S. 47. Zit. nach: Witte, Erinnerungen, S. 39. 339 Vgl. Ian Nish: The Russo-Japanese War: Planning, Performance and Peace-Making, in: Josef Kreiner (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg (1904/05), Göttingen 2005, S. 11–25, hier S. 18; N. E. Ablova: Rossija i russkie v Man’čžurii v konce XIX – načale XX vv., in: O. P. Ajrapetov (Hg.): Russko-japonskaja vojna 1904–1905, Moskva 2004, S. 183–213, hier S. 187. 340 Ian Nish: Streching Out for the Yalu: A Contested Frontier, 1900–1903, in: John W. Steinberg (u.a.) (Hg.): The Russo-japanese War in Global Perspective, Leiden 2005, S. 45–64. 341 Nish, The Russo-Japanese War, S. 12f. Zur Bedeutung der Sibirischen Bahn im russischjapanischen Krieg vgl. Kap. 5.4.1.
3. DAS TECHNISCHE ENSEMBLE UND DIE STRUKTURIERUNG DES RAUMS Die meisten Fürsprecher des Eisenbahnbaus im Zarenreich, unabhängig davon, ob sie sich von der verkehrstechnischen Erschließung des Landes die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes, die Konsolidierung des imperialen Herrschaftsraumes oder die Ausbreitung bestimmter Zivilisationsmuster versprachen, betrachteten das maschinengetriebene Verkehrsmittel als ein Instrument zur Integration und Vereinheitlichung territorial-räumlicher Strukturen. Der Charakter der Eisenbahn als „maschinelles Ensemble“ (Schivelbusch), das nur funktioniert, wenn bestimmte technische Normen an allen Punkten des Schienennetzes eingehalten werden, schien Raumphantasien dieser Art geradezu zu beflügeln. Wie in anderen Ländern beschleunigte die Eisenbahn auch in Russland den Transport von Gütern und Menschen über weite Entfernungen in bislang ungekanntem Ausmaß, was von Zeitgenossen vielfach als eine „Verkleinerung“ des geografischen Raumes wahrgenommen wurde. Gleichzeitig trug der Bau des neuen Verkehrsmittels auch im Zarenreich zu einer Transformation von Landschaft und Landschaftswahrnehmung bei. Die Funktionsweise des neuen Verkehrsmittels machten den Streckenbau entlang gedachter Raumachsen sowie die Nivellierung von Steigungen und Gefällen durch Einschnitte, Aufschüttungen, Tunnels und Brückenbauten erforderlich. Unabhängig von der Existenz menschlicher Siedlungen waren Bahnhofsanlagen entlang der Strecke in regelmäßigen Abständen zu bauen, um die Versorgung der Lokomotiven mit Brennstoff und Wasser zu gewährleisten. Das Spalier von Telegrafenmasten sowie die uniformen Wohnhäuser der Strecken-, Weichenund Brückenwärter verstärkten den Eindruck eines klar strukturierten und homogen gestalteten Verkehrsraums. Tatsächlich war die Schaffung eines nach einheitlichen Prinzipien und Regeln operierenden Eisenbahnnetzes im Zarenreich ein schwieriges und langwieriges Unterfangen. Bis in die 1870er Jahre gab es in Russland keine allgemein gültige Betriebsordnung für die verschiedenen, mehrheitlich privat betriebenen Bahngesellschaften. Was sich beim Blick auf die sich immer weiter verzweigenden Streckennetzkarten des Zarenreiches als eine relativ homogene Matrix darstellte, war in Wirklichkeit ein Mosaik separat betriebener Teilnetze, die erst langsam zu einem landesweiten Verkehrssystem zusammenwuchsen. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit den Schwächen des russischen Eisenbahnwesens während des Krieges gegen das Osmanische Reich in den Jahren 1877/78 führten der Reichsregierung die Notwendigkeit vor Augen, die Betriebsabläufe der einzelnen Bahngesellschaften enger aufeinander abzustimmen und die staatliche Kontrolle über das Verkehrswesen effektiver zu gestalten. Das verstärkte Engagement der Regierung im Eisenbahnbau und die fortschreitende Verstaatlichung privater Linien in der „Ära Vitte“ trugen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer weiteren Homogenisierung des
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russischen Eisenbahnsystems bei. Dessen ungeachtet blieb das russische Eisenbahnnetz bis zum Untergang der Monarchie ein „gemischtes System“, in dem Züge auf Gleisen unterschiedlicher Spurweite verkehrten, private und staatliche Gesellschaften nebeneinander existierten und Reiseführer einzelne Strecken oder Teilnetze als eigenständige Einheiten vorstellten. Trotz der verstärkten Bemühungen der Reichsregierung, die Eisenbahn zu einem effektiven Mittel territorialer Konsolidierung auszubauen, blieb das Imperium bis zu seinem Untergang ein äußerst heterogener Verkehrsraum. 3.1. DIE TRANSFORMATION DER LANDSCHAFT In seiner Pionierstudie Geschichte der Eisenbahnreise hat Wolfgang Schivelbusch die Transformation der Landschaft durch das „maschinelle Ensemble der Eisenbahn“ detailliert beschrieben.1 Seine Beobachtungen, die sich auf Untersuchungen des Verkehrswesens im westlichen Europa sowie Nordamerikas stützen, haben auch für Russland Gültigkeit, ja scheinen auf das Zarenreich sogar in besonderer Weise zuzutreffen. In kaum einem anderen europäischen Land wurde zum Beispiel die Maxime, Eisenbahnen zwischen zwei Endpunkten auf kürzestem Wege zu bauen, so konsequent umgesetzt wie im Zarenreich.2 Dies führte in der Praxis dazu, dass Bahnstrecken wiederholt an größeren Städten vorbeigeführt wurden, ohne diese direkt an das Schienennetz anzubinden. Bahnhöfe zahlreicher Orte befanden sich mitunter in großer Entfernung zu der entsprechenden Ortschaft oder Siedlung, eine Praxis, die Zeitgenossen oft als „russische Eigenart (po russkomu obyčaju)“ im Eisenbahnwesen wahrnahmen und beschrieben.3 Bedeutsame Städte, die in weiter Entfernung zur kostengünstigsten (kürzesten) Verbindung zwischen zwei Endpunkten lagen, mussten oft ganz auf eine direkte Schienenanbindung verzichten. Prägend wirkte sich in dieser Beziehung der Bau der ersten staatlichen Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau (ab 1855 „Nikolaj-Bahn“) in den Jahren 1842-1851 aus. Um Kosten zu sparen, sollte die Bahn die beiden Hauptstädte auf dem kürzest möglichen Weg miteinander verbinden. Ungeachtet des massiven Protests des Gouverneurs von Novgorod E. A. Zurov sowie zahlreicher Minister der Reichsregierung wurde die alte Handelsstadt nicht an die neue Verkehrsader
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Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 21ff. Zur Transformation der Landschaft und die Idee der geraden Linie im Eisenbahnzeitalter vgl. auch Borscheid, Tempo-Virus, S. 118. Vgl. z.B. Aleksandr Petrovič Miljukov: Letnye poezdki po Rossii. Zapiski i putevye pis’ma, Sankt Peterburg 1874, S. 18. – Zeitgenossen, die mit dem Eisenbahnwesen in Russland und im westlichen Ausland vertraut waren, beschrieben die Praxis des Streckenbaus entlang der kürzesten Verbindung mitunter als russische Besonderheit. So zum Beispiel der Geschäftsmann Vasilij Aleksandrovič , der sich 1857 auf eine Europareise begab. Ders.: Tri večera. Rasskazy iz zagraničnoj žinzni, in: Ju. Kostjašov, G. Kretinin: Rossijane v vostočnoj Prussii, č. 2: Dnevniki, pis’ma, zapiski, vospominanija, Kaliningrad 2001, S. 143–145, hier S. 144.
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angebunden.4 Für den Bau der direkten Verbindung zwischen St. Petersburg und Moskau, die keine Anbindung Novgorods vorsah, hatte sich – neben Finanzminister Kankrin – insbesondere der Eisenbahningenieur und spätere Verkehrsminister Pavel Mel’nikov ausgesprochen.5 Anfang 1843 argumentierte er in einer vergleichenden Studie über die beiden alternativen Streckenverläufe, dass der Bau von Eisenbahnen in Russland anderen Bedingungen unterworfen sei als in Westeuropa.6 Während man dort den Bau längerer Strecken in Kauf nehmen könne, um möglichst viele Städte und wirtschaftliche Zentren an neue Bahnlinien anzubinden, habe in Russland die „Verkürzung der Entfernung“ zwischen zwei Endpunkten – insbesondere beim Bau der Schienenverbindung zwischen den beiden Hauptstädten – höchste Priorität. Mel’nikov hob die „staatliche Bedeutung“ der Bahnlinie von Petersburg nach Moskau hervor. Ihr Nutzen liege darin, dass sie zu einer „Annäherung (sbliženie) der Hauptstadt und des wichtigsten Hafens mit dem Zentrum des riesigen Staates“ beitrage.7 Die Interessen der 15.000 Einwohner Novgorods wögen dagegen nicht schwer genug, um die Verteuerung von Bau und Betrieb der Bahn sowie eine Verlängerung der Reisezeit zwischen den beiden Endpunkten um jeweils fünf Prozent zu rechtfertigen.8 Der Bau der Eisenbahn von Petersburg nach Moskau, die auf der Landkarte wie mit einem Lineal in die Landschaft eingezeichnet scheint, lässt sich als gutes Beispiel des doppelten Effekts von Raumverkleinerung und Raumerweiterung lesen, den Schivelbusch mit der Einführung des dampfgetriebenen Verkehrsmittels im 19. Jahrhundert verbindet.9 Auch in Russland versprach man sich von der Eisenbahn den Sieg über räumliche Distanz, auch hier erschlossen Schienensträn4
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Zu dieser Debatte vgl. Richard M. Haywood: The ‘Ruler Legend’: Tsar Nicholas I and the Route of the St. Petersburg – Moscow Railway, 1842–1843, in: Slavic Review 37 (1978), Nr. 4, S. 640–650. Erst Anfang der 1870er Jahre wurde Novgorod mit einer Schmalspurbahn nach Čudovo an die Bahnlinie von Petersburg nach Moskau angebunden. Ebd. S. 649; I. P. Zolotnickij: Po Novgorodskoj doroge, Sankt Peterburg 1885, S. 1–7. Zur Diskussion über den Streckenverlauf vgl. u.a. Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 53f. – Für eine Anbindung Novgorods hatten sich dagegen unter anderem Innenminister L. A. Perovskij sowie der Minister der staatlichen Domänen P. D. Kiselev ausgesprochen. Pavel P. Mel’nikov: Zapiska k planam sravnitel’nych izyskanij po dvum linijam časti S. Peterburgo-Moskovskoj železnoj dorogi, meždu S. Peterbrgom i Vyšnim Voločkom, in: Michail I. Voronin (u.a.) (Hg.): P. P. Mel’nikov. Inžener, Učenyj, Gosudarstvennyj dejatel’, Sankt Peterburg 2003, S. 187–191. Mel’nikov, Zapiska, S. 189. Mel’nikov, Zapiska, S. 190. Vgl. dazu auch: ders., Svedenija, S. 384, 395f. Die Strecke via Novgorod wäre um 24 ¼ Werst länger gewesen als die direkte Verbindung. Einem Mythos der russischen Eisenbahngeschichte zufolge habe Nikolaus I. mit einem Lineal den Streckenverlauf der Bahnlinie zwischen den beiden Hauptstädten auf einer Landkarte eingezeichnet. An der Stelle, an dem der Daumen des Kaisers das Lineal hielt, habe die Linie eine Delle bekommen. Da kein Ingenieur gewagt habe, sich dem Willen des Kaisers zu widersetzen, sei die Bahn in dieser Form – mit einer einzigen Kurve im Streckenverlauf gebaut worden. Tatsächlich resultierte die „Ausbuchtung“ im Streckenverlauf in der Nähe des Bahnhofs Oksoči aus der Umfahrung einer Hügelkette. Vgl. dazu: Blackwell, Beginnings, S. 285; Haywood: The ‘Ruler Legend’, S. 640–642; Vul’fov, Povsednevnaja žizn’ Rossijskich železnych dorog, S. 14.
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ge neue bzw. bislang schwer erreichbare geografische Regionen. Gleichzeitig führte auch hier der Bau von Eisenbahnlinien zur Vernichtung des „traditionellen Reiseraums“, des Raums zwischen zwei Endpunkten einer Fahrt.10 Die Planung der Strecke von St. Petersburg nach Moskau illustriert, dass die Eisenbahn auch in Russland nur „Start“ und „Ziel“ kannte, der Raum dazwischen spielte demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Für die altehrwürdige Handelsstadt Novgorod, die im Mittelalter ein politisches, kulturelles und ökonomisches Zentrum der Rus’ bildete, bedeutete die Entscheidung zur Streckenführung der Bahn die allmähliche Verdrängung aus der Achse der Kommunikation zwischen den beiden Hauptstädten.11 In den folgenden Jahren sollten auch noch andere, einstmals bedeutende städtische Zentren das gleiche Schicksal erfahren wie die alte Handelsstadt am Volchov, so zum Beispiel die sibirische Gouvernements-Hauptstadt Tomsk.12 Bei der Neuordnung der Verkehrsräume in Russland war wenig Platz für sentimentale Gefühle: „Die heutige Bedeutung Novgorods“, so Mel’nikov, „kann nur Begeisterung bei den Liebhabern der Geschichte wecken. Der Bau einer Eisenbahn lässt sich davon [jedoch] nicht ableiten.“13 Gerade im Zarenreich, wo der chronische Finanzmangel den Bau kostengünstiger Strecken diktierte, orientierten sich Planer an der Maxime der Errichtung möglichst kurzer Verbindungen zwischen zwei Endpunkten. In der Praxis führte dies zu einer Aufwertung der Zentren und Knotenpunkte des imperialen Eisenbahnnetzes und zum Bedeutungsverlust von Städten, die entweder gar nicht oder nur durch Stichbahnen an das Schienensystem angebunden wurden.14 Nicht zuletzt in der Selbstwahrnehmung der Bevölkerung in russischen Kleinstädten kam die ausbleibende Anbindung an das Schienennetz des Reiches oft der Verdammung in die ewige „Provinz“ gleich, ein Topos, der auch in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vielfach aufgegriffen wurde.15 Unterstrichen wurde die gedankliche Aufwertung von „Start“ und „Ziel“ einer Bahnlinie in Russland (bzw. die Abwertung des Reiseraumes „dazwischen“) auch 10 11
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Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 37–39. Haywood weist darauf hin, dass Novgorod aufgrund seiner Lage am schiffbaren Volchov auch nach dem Bau der Magistralbahn ein wichtiges regionales Handelszentrum blieb. Vgl. ders., Russia Enters, S. 521f. und Blackwell, Beginnings, S. 318. Um die Hintergründe der Entscheidung, Tomsk nicht direkt, sondern nur durch eine Stichbahn an den Schienenstrang der Großen Sibirischen Bahn anzubinden, rankten sich Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Legenden. Vgl. dazu u.a. Lindon Wallace Bates: The Russian Road to China, Houghton 1910, S. 56; Basset Digby, Richardson Little Wright: Through Siberia: An Empire in the Making, New York 1913, S. 19; Il’in, Sozdanie velikogo sibirskogo puti, Bd. 1, S. 131f.; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 155. Mel’nikov, Svedenija, S. 396. Der Bedeutungsverlust kleinerer Orte und Bahnhöfe einer Eisenbahnlinie wurde auch dadurch hervorgehoben, dass diese in Kursbüchern im Taschenformat Ende des 19. Jahrhunderts aus Platzgründen zum Teil gar nicht mehr aufgeführt wurden. Sperling, Die „Schicksalsfrage“ der Kleinstadt; Anne Lounsbery: Dostoevskii’s Geography: Centers, Peripheries, and Networks in ‚Demons’, in: Slavic Review 66 (2007), S. 211–229, hier S. 211–217. Zur Kategorie „Provinz“ im Russischen: Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz. Russische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2008, S. 63ff.
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durch die Namensgebung neuer Eisenbahnstrecken. In der Regel wurden neue Eisenbahnlinien im Zarenreich sowie die Gesellschaften, die für ihren Bau und Betrieb verantwortlich zeichneten, nach den Endpunkten des entsprechenden Schienenstrangs benannt. So trug die erste Eisenbahngesellschaft im Zarenreich den Namen „Carskoe-Selo-Eisenbahn“ (Inbetriebnahme 1837). Ihr folgten die „Warschau-Wien-Eisenbahn“ (1848) und die „St. Petersburg-Moskau-Eisenbahn“ (1851). In der Praxis führte dies dazu, dass Zeitgenossen mit so sperrigen Namen wie „Rjazansko-Kozlovskaja železnaja doroga“ hantieren mussten. Andererseits fand auf diesem Wege die Idee Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch, die Eisenbahn schaffe eine direkte Verbindungslinie zwischen zwei entfernten geografischen Punkten.16 Mel’nikovs Diktum, mit Hilfe einer geraden Eisenbahnlinie von Petersburg nach Moskau die Distanz zwischen den beiden Hauptstädten des Zarenreiches zu reduzieren, schlug sich auch in der architektonischen Gestaltung der Fassaden der beiden Endbahnhöfe nieder. Nikolaus I. hatte angeordnet, die Passagierstationen in beiden Städten als repräsentative Bauten „on a magnificent scale“ zu planen.17 Die Architekten Konstantin A. Ton und Rudolf A. Željazevič lösten diese Aufgabe, indem sie den Bahnhöfen eine nahezu identische äußere Gestalt verliehen.18 Beim Entwurf der beiden symmetrischen Fassaden, deren Spiegelachse jeweils ein schlanker Uhrturm bildet, griffen die Baumeister auf Stilelemente der italienischen Renaissance zurück und kombinierten diese mit Formen aus der russischen Bautradition. Auf diese Art brachten die beiden Gebäude eine Verschmelzung westeuropäischer bzw. altrussischer Architekturformen zum Ausdruck, die jeweils das Stadtbild St. Petersburgs bzw. Moskaus prägten.19 Gleichzeitig nährte die nahezu identische Fassadengestaltung die Illusion, der Raum zwischen den beiden Hauptstädten sei durch den Bau der Eisenbahn gleichsam aufgehoben, als befände 16
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Im Laufe der Jahre differenzierte sich die Praxis der Namensgebung von Eisenbahnlinien in Russland etwas. Zum einen wurden bestimmte Strecken zu Monumenten historischer Erinnerung aufgewertet und nach herausragenden Herrscherpersönlichkeiten benannt. So wurde zum Beispiel die Petersburg-Moskau-Eisenbahn nach dem Tod Nikolaus’ I. am 8. September 1855 in „Nikolaj-Bahn“ umbenannt. Zum anderen lässt sich seit den 1870er Jahren die Praxis beobachten, neue Eisenbahnlinien nach jenen geografischen Regionen zu benennen, die von ihnen erschlossen wurden, z.B. „Baltische Eisenbahn“ (Baltijskaja železnaja doroga) (1872), „Doneck-Eisenbahn“ (1879) oder „Transkaspische Eisenbahn“ (Zakaspijskaja železnaja doroga) (1888). – Zum Themenkomplex „Eisenbahn und Erinnerung“ vgl. Frithjof Benjamin Schenk: Reisen in die Vergangenheit: Eisenbahn und Erinnerung im späten Zarenreich, in: Kirstin Buchinger (u.a.) (Hg.): Europäische Erinnerungsräume (FS Etienne François), Frankfurt 2009, S. 58–71, hier S. 65. Haywood, Russia Enters, S. 207. Zur Geschichte der beiden Bahnhofsgebäude: I. G. Tokareva: Proektirovanie i stroitel’stvo peterburgskich vokzalov, in: Architektura Peterburga. Materialy issledovanija, Sankt Peterburg 1992, č. 2, S. 71–79, hier S. 75–77; T. A. Slavina: Konstantin Ton, Leningrad 1989, S. 117–125; Bogdanov, Vokzaly Peterburga, S. 96–99; Petuchova, Ploščad’ trech vokzalov, S. 25–38; Frithjof Benjamin Schenk: Bahnhöfe. Stadttore der Moderne, in: Karl Schlögel, Frithjof Benjamin Schenk und Markus Ackeret (Hg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt 2007, S. 141–157, hier S. 143f. und 150–153. Petuchova, Ploščad’ trech vokzalov, S. 36f.
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sich ein Reisender, der in Petersburg den Schnellzug bestieg, bereits am Endbahnhof in Moskau und umgekehrt (Abb. 2 u. 3). Die Idee, mit Hilfe architektonischer Stilelemente eine gedankliche Brücke vom Startpunkt einer Bahnlinie zu deren Zielort zu schlagen, griffen in den folgenden Jahren zahlreiche Baumeister russischer Bahnhöfe wieder auf. Die Fassade des 1904 eingeweihten Bahnhofs der Moskau-Windau-Rybinsk-Eisenbahn in St. Petersburg (heute Witebsker Bahnhof) schmücken beispielsweise die Wappen St. Petersburgs und der Stadt Vitebsk, die von hier aus mit dem Zug erreichbar war. Zum Bildprogramm des monumentalen Gebäudes zählten desweiteren Ansichten der Peter-und-Pauls-Festung und des Hafens von Odessa.20 Mit diesen Gemälden knüpften die Gestalter des Jugendstilbaus gedankliche Verbindungen von der Ostsee zum Schwarzen Meer und beschworen die Überwindung räumlicher Distanz durch das dampfgetriebene Verkehrsmittel. Ein weiteres Beispiel für diesen formalästhetischen Kunstgriff ist der Neubau des Moskauer Bahnhofs der Moskau-Jaroslavl’-Archangel’sk-Bahn (heute Jaroslavskij vokzal), der 1902-1904 nach Plänen des Architekten Fedor O. Šechtel’ realisiert wurde.21 (Abb. 3) Nach dem Willen N. Kazakovs, des Leiters der staatlichen Bahngesellschaft, sollte der Bahnhof die Geschichte jener Orte widerspiegeln, die durch den in nördlicher Richtung verlaufenden Schienenstrang und dessen Zweigbahnen verbunden wurden. Aus der Sicht des Eisenbahners erfüllte der Entwurf Šechtel’s dieses Kriterium mustergültig.22 In einem Schreiben an das Verkehrsministerium von Anfang 1903 hob Kazakov hervor, die vorgeschlagene Fassade sei im „russischen Stil gestaltet und den Klöstern und Kirchen der nördlichen Region, d.h. Bauten des 16. Jahrhunderts in den Gouvernements Oloneck, Vologda und Archangel’sk nachempfunden. […] Der Giebel über dem Eingang des Vestibüls erinnert an den Eingang des Erlöser-Klosters in Jaroslavl’.“23 Das Äußere des Bahnhofsgebäudes mit seinen zwei ungleichen, festungsartigen Ecktürmen und seinem gewaltigen Eingangsportal präsentiert sich dementsprechend als Mosaik verschiedener Architekturzitate des russischen Nordens und lädt den Betrachter zu einer Gedankenreise in die von der Eisenbahn erschlossenen geografischen Regionen ein. Wappen der Städte Jaroslavl’ und Archangel’sk, Ornamentbänder an der Fassade mit Motiven aus Flora und Fauna der Tundra und Taiga sowie ausgedehnte Wandgemälde im Inneren des Gebäudes bereiteten die Reisenden gedanklich auf die Landschaften des russischen Nordens vor.24 In umgekehrter Richtung schufen Bahn20 21 22
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Bogdanov, Vokzaly, S. 48f. Vgl. dazu ausführlicher: Karl Schlögel: Moskau lesen, Berlin 1984, S. 81; Petuchova, Ploščad’ trech vokzalov, S. 73–86; Schenk, Reisen in die Vergangenheit, S. 68f. Moskovsko-Jaroslavsko-Archangel’skaja železnaja doroga. Linija Moskva-Jaroslavl’. K fasadu prestraivaemago passažirskago zdanija na stancii Moskva Jaroslavskaja, in: Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv (RGIA), fond 229, opis 4, ed. chr. 524, l. 137–138, hier l. 138. RGIA f. 229, op. 4, ed. chr. 524, l. 138. Petuchova, Ploščad’ trech vokzalov, S. 84. – Auch der Neubau des Kazanskij vokzal in Moskau (1913–1926, Architekt: A. V. Ščusev) mit seinem Uhrturm, der einem Turm des Kreml’ von Kazan’ nachgebildet war und von einem gefügelten goldenen Drachen (dem Wappentier
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hofsgebäude, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den asiatischen Provinzen des Zarenreiches im „neo-russischen Stil“ gebaut wurden, gedankliche Verbindungslinien, die an die Zugehörigkeit Sibiriens zum russischen Mutterland erinnerten.25 Mit dem Bau der Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau legten die russischen Verkehrsbehörden Standards fest, welche die Strukturen des russischen Eisenbahnsystems insgesamt nachhaltig prägen sollten. Schon Zeitgenossen beschrieben das Bauvorhaben als ein groß angelegtes räumliches Ordnungsprojekt. Die Aufsicht über Planung und Bau lag in den Händen des Leiters der zentralen Verkehrsbehörde Graf Petr A. Klejnmichel’, der ab 1826 die Verwaltung der berühmt-berüchtigten Militärkolonien Arakčeevs geleitet hatte und dem der amerikanische Ingenieur und Berater George W. Whistler attestierte, er habe „the faculty [to render] order out of disorder“.26 Zahlreiche Maßnahmen, die zu einer Strukturierung des russischen Eisenbahnraums beitrugen, leiteten sich dabei direkt von den technischen Betriebsbedingungen des maschinengetriebenen Verkehrsmittels ab. Die Versorgung der Güter- und Personenzuglokomotiven mit Brennmaterial und Wasser machte zum Beispiel den Bau von Bahnhöfen in einem Abstand von 20, bzw. 40 Kilometer erforderlich. Alle 80 Kilometer wurden Bahnhöfe für den Passagierverkehr eingerichtet, die mit Buffets und einem Warteraum für Zugreisende ausgestattet waren. Fünf dieser Anlagen (einschließlich der beiden Endbahnhöfe) wurden als Stationen „erster Kategorie“ (1-ogo klassa) ausgewiesen. Sie verfügten über Wartesäle für alle drei Klassen, gut ausgestattete Restaurants, einen Rückzugsraum für Frauen, Gemächer für Mitglieder der kaiserlichen Familie, ein Telegrafenbüro und andere Serviceeinrichtungen.27 Die Stationen wurden nicht nur in regelmäßigen Abständen errichtet. Die Bahnhöfe der Kategorien „zwei“ bis „vier“ baute man zudem in standardisierter Form, was zum einheitlichen Erscheinungsbild der gesamten Anlage beitrug.28 Auch bei später errichteten Eisenbahnstrecken in Russland griffen Planer auf Prototypen für den Bau von
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des alten Chanats an der Wolga) gekrönt wurde, war als „Tor zum (russischen) Orient“ geplant. Ebd. S. 96. Ivan V. Nevzgodine: The Impact of the Trans-Siberian Railway on the Architecture and Urban Planning of Siberian Cities, in: Ralf Roth, Marie-Noëlle Polino (Hg.): The City and the Railway in Europe, Aldershot 2003, S. 79–103, hier S. 85, 96. Zit. nach Blackwell, Beginnings, S. 295. Zu Klejnmichel’ vgl. auch: Upravlenčeskaja ėlita Rossijskoj Imperii. Istorija ministerstv. 1802–1917, Sankt Peterburg 2008, S. 223f. Haywood, Russia Enters, S. 81, 226–228. Vgl. Sankt-Peterburgsko-Moskovskaja železnaja doroga. Čerteži i sooruženij, Sankt Peterburg 1847; Al’bom čertežej sooruženij vsech Rossijskich železnych dorog, hg. von I. Volgunov, Serija 2: Passažirskie zdanija, Moskva 1872, Blätter 12, 13.; Očerk seti russkich železnych dorog, ee ustrojstva, soderžanie i dejatel’nost’ po 1892 g. sostavlennyj i izdannyj po poručeniju Russkago Otdela postojannoj komissii meždunarodnych železnodorožnych kongressov VIII-m odelom Imperatorskago Russkago Techničeskago Obščestva, Al’bom čertežej, Sankt Peterburg 1896, Blatt 60; Ot Carskosel’skoj do Oktjabrskoj. Istorija razvitie perspektivy. Al’bom, hg. von L. A. Davydova, Sankt Peterburg 22007, S. 38.
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Bahnhöfen zurück.29 So wurden beispielsweise die Gebäude entlang der Großen Sibirischen Bahn nicht nur nach einheitlichen Mustern gebaut, sondern die Holzbauten „dritter“ und „vierter Kategorie“ erhielten auch noch einen Anstrich in den gleichen Farben. All dies ließ die gesamte Bahn als „huge architectural entity“ erscheinen.30 Der gleichförmige Eindruck der Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau wurde zudem durch die lange Reihe von Telegrafenmasten verstärkt, die die Strecke säumten und eine Leitung für technische Kommunikation der Eisenbahn sowie eine für „besondere Verfügungen und Befehle der Regierung“ bzw. für persönliche Korrespondenz führten.31 Die Betriebsverordnung der Bahnlinie zwischen den beiden Hauptstädten sah zudem die Einrichtung von StreckenwärterPosten im Abstand von 500 sažen (1.065 Meter) vor, in denen insgesamt 1.200 Wächter in zwei Schichten Dienst taten. Diese wurden von 1.550 Brücken-, Schranken- und Weichenwärtern unterstützt, deren Wohn- und Diensthäuschen die Bahnlinie in regelmäßigen Abständen säumten.32 Alle Beschäftigten der Bahngesellschaft waren verpflichtet, im Dienst Uniform zu tragen, was das Erscheinungsbild des Verkehrsmittels als „wohl geordnete“ Einrichtung abrundete.33 Auch die Festlegung der Spurbreite von fünf Fuß (= 1.524 mm), die 1842 für den Bau der Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau und 1860 schließlich für alle neu errichteten Schienenstränge im Zarenreich vorgenommen wurde, trug langfristig zur Integration des Russländischen Reiches als einheitlicher Verkehrsraum bei.34 Während der Verkehr auf Bahnen gleicher Spur bald zu den nicht hinterfragten Selbstverständlichkeiten des Reisens im Zarenreich zählte, wurde der 29
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E. G. Ščeboleva: Ansambl’ železnoj dorogi kak novyj gradostroitel’nyj organizm, in: Gradostroitel’stvo Rossii serediny XIX – načala XX veka, Bd. 2: Goroda i novye tipy poselenij, hg. von Evgenija Ivanovna Kiričenko, Moskva 2003, S. 470–505, insbes. S. 476, 505. Nevzgodine, The Impact, S. 84–86, Zitat S. 86. Položenie o sostave Upravlenija S. Peterburgo-Moskovskoj železnoj dorogi (6.8.1851), in: Severnaja pčela, Nr. 227, 12.10.1851, S. 905–906, § 108. Zur Infrastruktur der Telegrafie als fester Bestandteil des „maschinellen Ensembles” der Eisenbahn vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 32–34. – An den Waggonfenster „vorbeifliegende” Telegrafenmasten gehörten zum festen Motivkanon der literarischen Eisenbahnreise in der russischen Belletristik des 19. Jahrhunderts, so z.B. in Jakov Polonskijs Gedicht Na železnoj doroge (1868), in: ders.: Stichotvorenija, Leningrad 21954, S. 285, in Ivan Bunins Novaja Doroga (1901), in: Vul’fov, Povsednevnaja žizn’, S. 43–51, hier: S. 46 oder Andrej Belyjs Iz okna vagona (1908), in: ders.: Sočinenija v dvuch tomach, Moskva 1990, Bd. 1, S. 92. Vgl. dazu auch Zoreva, Die Eisenbahn im russischen kulturellen Raum, S. 120, 122. Položenie o sostave Upravlenija S. Peterburgo-Moskovskoj železnoj dorogi, §§ 30, 31, 38, 47. Vgl. dazu auch Haywood, Russia Enters, S. 433–437. Položenie o sostave Upravlenija S. Peterburgo-Moskovskoj železnoj dorogi, § 126. Zur Geschichte der russischen Regelspur: Kak bylo ustanovlena normal’naja širina putej russkich železnych dorog. Dokumenty iz dela Departamenta Železnych dorog Glavnogo Upravlenija Putjam soobščenija i publičnymi zdanijami za 1842 g. K materialam Komissii pri VIII Otdela Russkogo Techničeskogo obščestva po voprusu o širine kolei, Sankt Peterburg 1902, (= Beilage der Zeitschrift Železnodorožnoe delo, 1902, Nr. 22–23); Richard M. Haywood: The Question of a Standard Gauge for Russian Railways, 1836–1860, in: Slavic Review 28 (1969), Nr. 1, S. 72–80; ders., Russia Enters, S. 119.
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Wechsel von der mitteleuropäischen „Normal-“ zur russischen Breitspur und das damit verbundene Umsteigen in Fahrzeuge anderen Typs an der westlichen Außengrenze des Reiches von Reisenden zunehmend mit Bedeutung aufgeladen und wiederholt als Ausdruck einer politischen und kulturellen Scheidelinie innerhalb Europas interpretiert.35 Bereits in den 1860er Jahren entstand beispielsweise die Legende, Nikolaus I. habe sich für die breitere Spur entschieden, um westlichen Angreifern die Nutzung der russischen Bahnanlagen zu erschweren.36 Tatsächlich hatte die Zarenregierung bereits 1839 den Bau einer Bahn von Warschau nach Wien genehmigt, die, um den Verkehr des Königreichs Polen mit Österreich/Ungarn zu erleichtern, auf Gleisen der im Habsburgerreich gängigen Spur von 1.435 mm verkehrte. Die Grenze zwischen dem Schienennetz in mitteleuropäischer „Normalspur“ und jenem in russischer Breitspur fiel somit nicht mit der westlichen Außengrenze des Russländischen Reiches zusammen, sondern lief quer durch das vom Zaren beherrschte Königreich Polen. Reisende aus Zentralrussland nach Krakau, Łódź, Wien oder in die preußische Stadt Bromberg mussten bis zum Ersten Weltkrieg schon in Warschau von einem Zug in den anderen umsteigen.37 Da dies in der Regel mit dem Transfer von einem Kopfbahnhof der Stadt zu einem anderen verbunden war, nahmen viele Fahrgäste von dem Spurwechsel an der Weichsel vermutlich kaum Notiz. Obwohl gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem in Militärkreisen, immer wieder darüber diskutiert wurde, die Gleise der Warschau-Wien-Bahn umzunageln und an die russische Regelspur anzupassen – eine Maßnahme, die 1913 von der Reichsregierung sogar angeordnet, jedoch nicht umgesetzt wurde – blieb der „Bruch“ des Schienennetzes
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Dies trifft insbesondere für den Übertritt über die Grenze Russlands und Preußens (bzw. des Deutschen Reiches) bei Veržbolovo (Wirballen) und Eydtkunen zu. Zur Erfahrung dieser Grenze in russischen und westlichen Reiseberichten vgl. Kap. 4.2.2.; Karl Schlögel: Berlin. Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998, S. 39–56. Vgl. z.B. Camille Martner: Emploi des chemins de fer pendant la Guerre D’Orient. 1876– 1878, Paris 1878, S. 11. Zu dieser Legende: Westwood, Geschichte der russischen Eisenbahnen, S. 28f.; Haywood, Question of a Standard Gauge, S. 78. Haywood legt dar, dass der amerikanische Ingenieur George W. Whistler, der als Berater am Bau der Bahnlinie von Sankt Petersburg nach Moskau mitwirkte, für die Wahl der Spurbreite von fünf Fuß verantwortlich zeichnete. Sein Vorschlag konkurrierte mit der Idee Pavel Mel’nikovs, die Bahnlinie nach amerikanischem Vorbild (und nach dem Vorbild der Carskoe Selo-Bahn) auf der Breitspur von 6 Fuß zu errichten. Dabei hatte Whistler vor allem im Blick, dass Bahnen auf einer breiteren Spur schneller und ruhiger fahren können als auf schmaleren Gleisen. Den Bau der Bahn auf einer Spur von sechs Fuß lehnte er aus Kostengründen ab. Vgl. ebd. Neben der Hauptlinie von Warschau nach Wien wurden auch die 1863 fertig gestellte Zweigbahn über Lobkowicz nach Bromberg sowie die Verbindungsbahn nach Łódź (1866) in Normalspur von 1435 mm gebaut. Ende der 1860er Jahre entschied die Reichsregierung jedoch, nur noch Bahnen zu genehmigen, die in der russischen Regelspur gebaut wurden. Vgl. Haywood, Question of a Standard Gauge, S. 79; Kipp, Strategic Railroads, S. 84; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 58f. Ausnahmen wurden weiterhin für Militärbahnen (z.B. Transkaspische Bahn) sowie ab 1870 für Schmalspurbahnen von regionaler Bedeutung gemacht.
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in den Westgebieten des Zarenreiches bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges unverändert erhalten.38 So lange der Bau eines Eisenbahnnetzes noch kein Thema in den politischen Debatten des Zarenreiches war, so lange bestand auch noch keine Notwendigkeit, allgemeingültige Standards für den Bau und Betrieb neuer Bahnlinien in Russland gesetzlich festzulegen. Die Reichsregierung beschränkte sich zunächst darauf, entsprechende Normen bilateral mit einzelnen Eisenbahngesellschaften auszuhandeln und in Statuten (ustavy) festzulegen.39 So wurde beispielsweise die Hauptgesellschaft der Russländischen Eisenbahnen im Januar 1857 dazu verpflichtet, die vier zu errichtenden Bahnlinien in „russischer“ Breitspur zu bauen und für den Transport von Gütern und Personen nicht mehr Geld zu verlangen als in dem Vertragswerk festgelegt.40 Gesonderte Erlasse regelten die Verpflichtungen der einzelnen Bahngesellschaften bezüglich des Transports von Post, Soldaten und Häftlingen.41 Mit wachsender Anzahl der Akteure im russischen Eisenbahngeschäft und angesichts der zunehmenden verkehrstechnischen Vernetzung des Landes setzte sich in der Reichsregierung in den späten 1850er Jahren jedoch die Erkenntnis durch, dass ein funktionierendes Eisenbahnsystem landesweit einheitlicher gesetzlicher Regelungen bedürfe. Zunächst definierte die Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude im März 1860 die Spurweite von 5 Fuß als verbindliche Norm für alle in Zukunft zu errichtenden Eisenbahnlinien im Zarenreich und legte entsprechende Richtwerte für die Abmessungen von Lokomotiven, Waggons und anderes „rollendes Material“ fest.42 38
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Vgl. Metzeltin: Spur, Spurweite, in: Freiherr von Röll: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 9, Berlin, Wien 1921, S. 121–126, hier S. 125. Den Umbau der Warschau-Wien-Bahn auf russische Breitspur hatte 1912 die französische Militärführung im Rahmen der französichrussischen Kriegsallianz gefordert. Vgl. K. Ušakov: Podgotovka voennych soobščenij Rossii k mirovoj vojne, Moskva/ Leningrad 1928, S. 29; Tuomo Polvinen: Die finnischen Eisenbahnen in den militärischen und politischen Plänen Russlands vor dem ersten Weltkrieg, Helsinki 1962, S. 35f. Vgl. z.B. Ukaz i ustav Obščestva Carskosel’skoj železnoj dorogi (12.8.1837), in: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III: Vysočajšija povelenija, ukazy pravitel’stvujuščago senata i ministerskija postanovlenija, hg. von Ministerstvo Putej Soobščenija, departament železnych dorog, Sankt Peterburg 1867, S. 9–17; Položenie o signalach storoževych budok S. Peterburgo-Moskovskoj i S. Peterburgo-Varšavskoj železnych dorog, Sankt Peterburg 1853. Ukaz i položenie ob osnovych uslovijach dlja sooruženija pervoj seti železnych dorog, i ustav Glavnogo Obščestva Rossijskich železnych dorog (28.1.1857), in: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 168–207, hier S. 174, 179–182. Vysočajšee povelenie i Položenie o perevozke počt po S. Peterburgo-Moskovskoj železnoj doroge (13.12.1851), in: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 100–104; Položenie o perevozke arestantov po S.-Peterburgo-Moskovskoj železnoj doroge (16.7.1853), hg. von Glavnoe upravlenie putej soobščenija i publičnych zdanij, Sankt Peterburg 1853; Položenie o perevozke baškirskich 4-go i 3-go polkov po S.-PeterburgoMoskovskoj železnoj doroge iz Moskvy v S.-Peterburg v janvare 1855 goda (22.11.1854), hg. von Glavnoe upravlenie putej soobščenija i publičnych zdanij, Sankt Peterburg 1854. Ministerskoe postanovlenie Nr. 1: O predelach razmerov podvižnago sostava i približenija stroenij k putjam železnych dorog v Rossii, in: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Ros-
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Wichtige Impulse zur Standardisierung des Verkehrssystems gingen in den folgenden Jahren vom russischen Kriegsministerium aus. So erließ die Reichsregierung Ende 1862 eine Verordnung, die den Transport von Truppen und militärischer Ausrüstung einheitlich regelte.43 Die hier festgelegten Prinzipien wurden später mehrfach überarbeitet, ergänzt und an die Bedürfnisse der Militärs angepasst. So wurden beispielsweise alle Eisenbahngesellschaften im Jahr 1870 angewiesen, in ihrem Fuhrpark dauerhaft drei bis neun Züge für den Transport von Fußtruppen, Kavallerie und Artillerie sowie ein Kontingent standardisierter Güterwaggons zu unterhalten, die im Bedarfsfall für den Transport von Soldaten umgebaut werden konnten.44 In den Folgejahren kamen neue militärische Verordnungen hinzu, die auf den bei Bedarf verbesserten Zugriff des Kriegsministeriums auf die fast vollständig privat betriebenen Bahnen abzielten. Wichtigstes Vorbild der Militärverwaltung war seit dem deutsch-französischen Krieg die preußische Heeresführung, die ihren Sieg von 1871 zu einem wesentlichen Teil dem taktischen Einsatz von Eisenbahnen verdankte.45 Erst einige Jahre nach der Regelung des Schienenverkehrs im Militärwesen erfolgte die amtliche Festlegung der für den allgemeinen Eisenbahnbetrieb landesweit verbindlichen Signalzeichen und -farben. In der Verordnung vom 31. Januar 1873 legte das Verkehrsministerium beispielsweise fest, mit welchen Fahnen die Strecken-, Brücken- und Schrankenwärter dem Zugpersonal das Zeichen für „freie Fahrt“ oder „Anhalten“ übermitteln sollten bzw. was die drei Glockenzeichen vor der Abfahrt eines Zuges an einem Bahnhof bedeuten.46 Bestimmungen dieser Art waren nicht nur für den sicheren Betriebsablauf auf dem Streckennetz
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sii, 1867, otdel III, S. 350–355. Vgl. auch: Sbornik ministerskich postanovlenij i obščich pravitel’stvennych rasporjaženij Ministerstva Putej Soobščenija po železnym dorogam, Bd. 1, Sankt Peterburg 1874, S. 1–4. – Zur Bedeutung der Eisenbahn für die Standardisierung räumlicher Strukturen: Alain Gras: Grandeur et dépendence. Sociologie des macro-systèmes techniques, Paris 1993, S. 89–99. Položenie o perevozke vojsk železnymi dorogami (13.12.1862), in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1, S. 219–278. Vgl. auch: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 525–558; Sistematičeskij sbornik dejstvujušich na russkich železnych dorogach uzakonenij i rasporjaženij pravitel’stva, a takže položenij, pravil, instrukcij i soglašenij, izdannych ili odobrennych pravitel’stvom, hg. von Nikolaj L. Brjul’, Bd. 1: s 1860 g. po 1 ijunja 1889 g., Sankt Peterburg 1889, S. 511–657 (Položenie o perevozke vojsk in der Fassung vom 12.1.1873). Ministerskoe postanovlenie Nr. 36 (27.2.1870): O prisposoblenie podvižnago sostava železnych dorog k perevozke vojsk, in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1, S. 41–52. Zur Vorbildrolle Preußens für die militärische Nutzung der Eisenbahnen in Russland vgl. Kap. 2.4. und 5.3. Ministerskoe postanovlenie Nr. 42 (31.1.1873): O signalach na železnch dorogach Rossii, in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1, S. 68–78. – Das in der Verordnung vom 31.1.1873 festgelegte dreimalige Läuten der Stationsglocke, das den Passagieren signalisierte, den Bahnsteig zu betreten, den Zug zu besteigen und die Plätze einzunehmen, wurde aus den Bestimmungen für den Verkehr der Petersburg-Moskau-Bahn (aus dem Jahr 1851) übernommen. Vgl. Položenie o dviženie po S. Peterburgsko-Moskovskoj železnoj doroge (vom 24.10.1851), in: Severnaja pčela 5.11.1851, Nr. 247, S. 985–987, hier §§ 58–64; Instrukcija ober konduktoru S. Peterburgo-Moskovskoj železnoj dorogi, Sankt Peterburg 1852, S. 22ff.
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des Zarenreiches unerlässlich. Gleichzeitig trug die Standardisierung der Zeichensprache innerhalb des Eisenbahnsystems zu einer Vereinheitlichung des äußeren Erscheinungsbildes des gesamten technischen Ensembles und des von ihm erschlossenen Verkehrsraumes bei. Das Bild des Streckenwärters mit erhobener Signalfahne gehörte ebenso zum Inventar des standardisierten russischen Eisenbahnraums wie das dreimalige Läuten der Stationsglocke vor der Abfahrt des Zuges. Reisenden, die in Wirballen/Veržbolovo die preußisch-russische Grenze übertraten, mit dem Zug die Wüste Transkaspiens durchquerten oder aus dem Waggonfenster die Weiten der sibirischen Landschaft betrachteten, signalisierten diese einheitlichen Zeichen, dass sie sich nicht nur innerhalb eines Verkehrssystems, sondern in den Grenzen eines nach einheitlichen Mustern gegliederten und strukturierten politischen Machtraumes bewegten.47 Erst vierzehn Jahre nach der Verabschiedung gesetzlicher Bestimmungen für den Truppentransport auf russischen Eisenbahnen widmete sich die Reichsregierung der Festlegung allgemeingültiger Regeln für den zivilen Schienenverkehr.48 1874 erließ das Verkehrsministerium die Pravila dviženija po železnym dorogam otkrytym dlja obščestvennago pol’zovanija, eine Betriebsverordnung für jene Eisenbahnen, die der öffentlichen Nutzung zur Verfügung standen.49
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Vgl. exemplarisch die Eindrücke westlicher Reisender auf der Sibirischen Bahn: Robert L. Jefferson: Roughing it in Siberia. With Some Account of the Trans-Siberian Railway, and the Gold- Mining Industry of Asiatic Russia, London 1897, S. 3f.; Gerrare, Greater Russia, S. 77; Bates, The Russian Road to China, S. 33, 37, 44, 63; Samuel Turner: Siberia. A Record of Travel, Climbing and Exploration, London 21911, S. 39; Digby, Wright, Through Siberia, S. 115; Marcus L. Taft: Strange Siberia. Along the Trans-Siberian Railway. A Journey from the Great Wall of China to the Skyscrapers of Manhattan, New York 1911, S. 63. Zeitgleich mit den Bemühungen der Reichsregierung, die Betriebsabläufe auf dem russischen Eisenbahnnetz zu standardisieren, verstärkte sie ihre Anstrengungen, die Bewegung von Zügen, Gütern und Personen im eigenen Land möglichst genau zu erfassen. Diesem Ziel diente die Einrichtung einer Statistikabteilung im Petersburger Verkehrsministerium im September 1873, an die sämtliche Eisenbahngesellschaften in regelmäßigem Abstand Daten über den Zugverkehr, Umsätze, Verspätungen, Beschädigungen der Gleise, Unfälle etc. melden mussten. Vgl. Cirkuljar techničeskogo-inspektorskago komiteta železnych dorog, Nr. 4461 (19.9.1873), in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1, S. 206. – Zur Geschichte der russischen Verkehrsstatistik: N. G. Bespalov, I. I. Eliseeva: Železnye dorogi Rossii v XX veke v zerkale statistiki, Sankt Peterburg 2008, S. 36–40; Michail Abramovič Davydov: Vserossijskij rynok v konce XIX – načale XX vekov i železnodorožnaja statistika, Sankt Peterburg 2010, S. 80–86. – Zur Statistik als imperiales Herrschaftsinstrument: Leonhard, von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten, S. 53–76. Pravila dviženija po železnym dorogam otkrytym dlja obščestvennago pol’zovanija, hg. von Ministerstvo Putej Soobščenija, Moskva 1874. Das Gesetz regelte die Zusammensetzung des Eisenbahnerpersonals an Bahnhöfen (§ 3) und die Aufgaben der einzelnen Dienstgrade und setzte Höchstgeschwindigkeiten für Passagier- und Güterzüge fest (§ 26). Neben der Verpflichtung aller Eisenbahner im Dienst Uniform zu tragen (§ 8) enthielt das Gesetz Bestimmungen zur Gestaltung und Bekanntmachung von Fahrplänen (§§ 30, 36), zur Zusammenstellung und Abfertigung von Zügen an Bahnhöfen und zu Verhaltensregeln des Zugpersonals während der Fahrt sowie bei unvorhergesehenen Zwischenfällen auf der Strecke.
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3.2. ZEITRÄUME, ZEITDISKURSE Folgenreich für die Gestaltung der Fahrpläne und für die Wahrnehmung der Reisezeit auf russischen Eisenbahnen war die Bestimmung in § 30 der Pravila dviženija von 1874, in der festgelegt wurde, den Zugverkehr im Zarenreich nach der St. Petersburger Ortszeit (po peterburgskomu meridianu) zu regeln.50 Wie in anderen Ländern erwiesen sich auch in Russland Eisenbahn und Telegrafie als die wichtigsten Schrittmacher bei der Standardisierung von Zeitvorstellungen und Zeitmessung auf landesweiter Ebene.51 Vor dem Bau von Eisenbahnen, die geografisch weit auseinander liegende Gegenden miteinander verbanden und die Überwindung großer Distanz in bislang ungekannter Geschwindigkeit ermöglichten, stellte die Existenz unterschiedlicher Ortszeiten in den einzelnen Städten und Regionen Russlands kein Problem dar, das Zeitgenossen ernsthaft beschäftigen musste. Mit der Errichtung der Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau rückte den Verkehrsplanern im Zarenreich jedoch ins Bewusstsein, dass ein überregionaler Fahrplan auch in Russland nur auf der Grundlage einer landesweit einheitlichen Eisenbahnzeit funktionieren könne. Allerdings finden sich in der Betriebsordnung der ersten Eisenbahn-Magistrale des Zarenreiches aus dem Jahr 1851 noch keine Hinweise darauf, ob die Züge nach Petersburger Ortszeit oder nach der um 29 Minuten abweichenden Zeitmessung von Moskau verkehren sollten.52 Erst eine Verordnung, die 1853 den Transport von Häftlingen auf der Eisenbahn zwischen den beiden Hauptstädten regelte, problematisierte den Zeitunterschied zwischen den beiden Endpunkten der Bahn. Die Položenie o perevozke arestantov, die einen genauen Fahrplan für jene Züge festlegte, die in der einen Woche Gefangene von Petersburg nach Moskau und in der folgenden Woche in umgekehrter Richtung beförderten, bestimmte auch, an welchem Punkt der Strecke (und um 50
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Pravila dviženija po železnym dorogam, S. 36. – Eine erste Fassung der folgenden Überlegungen erschien in: Frithjof Benjamin Schenk: Universal’noe vremja versus lokal’nye vremena: Železnye dorogi i spory o vremjaisčislenii v Rossii (1870–1910-e gody), in: Elena A. Višlenkova, Denis A. Sdvižkov (Hg.): Izobretenie veka. Problemy i modeli vremeni v Rossii i Evrope XIX stoletija, Moskva 2013, S. 131–147. Kern, Culture of Time and Space, S. 12; Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 43f.; ders.: Railroad Space and Railroad Time, in: New German Critique, No. 14 (Spring) 1978, S. 31–40; Eviatar Zerubavel: The Standardization of Time: A Sociohistorical Perspective, in: American Journal of Sociology 88/1 (1982), S. 1–23, insbes. S. 6ff. Zum russischen Fall gibt es bislang keine Forschungsliteratur. Peter Hoffmann geht in seiner Abhandlung Zeitrechnung und Kalender nicht auf das Problem der Standardisierung der Zeitmessung in Russland ein. Vgl. ders.: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 6: Einführung in Literatur, Quellen und Hilfsmittel, Stuttgart 2004, S. 185–197. Erste Überlegungen dazu: Frithjof Benjamin Schenk: Imperiale Raumerschließung. Beherrschung der russischen Weite, in: Osteuropa 3/2005, S. 33–45, hier S. 43. Položenie o dviženii po S. Peterburgsko-Moskovskoj železnoj doroge. – Reisende von Petersburg mussten ihre Uhren um 29 Minuten vorstellen, um diese an die Moskauer Ortszeit anzupassen. Vgl. Sputnik po Rossii. Redaktor F. Ch. Šljuter, Izdanie N. Kimmelja – Coursbuch für Russland. Redakteur Th. Schlüter, Verlag von N. Kymmel, November–April, Riga 1888, S. 43.
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welche Uhrzeit) weitere Häftlinge in die Waggons verladen werden könnten, die aus anderen Städten kamen und nach Moskau bzw. Petersburg überführt werden sollten.53 Die zeitliche Koordination des Fahrplans der Eisenbahn und der Gefangenentransporte zur Bahnlinie machte die Festlegung einer für beide Bewegungen verbindlichen Zeit, in diesem Falle der Petersburger Ortszeit, notwendig.54 Es dauerte jedoch bis 1874, bis die Erstellung der Fahrpläne und der Verkehr auf allen Bahnlinien des Zarenreiches entsprechend der Zeitmessung des Observatoriums von Pulkovo gesetzlich festgeschrieben wurde. 1872 hieß es in einem Eisenbahnreiseführer noch, dass „die Abfahrts- und Ankunftszeiten in der lokalen Zeit des jeweiligen Ortes / Bahnhofes (po mestnomu vremeni každoj stancii) festgelegt [sei].“55 1874 bestimmten dann die Pravila dviženija, dass in Zukunft „alle Zeitangaben in den Fahrplänen nach Petersburger Zeit anzuzeigen [seien], auf den Fahrplänen, die an den Bahnhöfen ausgehängt werden, müssten sie auch in der entsprechenden Ortszeit (po mestnomu meridianu) angegeben werden.“56 In ihrem Bemühen, eine einheitliche Eisenbahnzeit im größten Land der Erde einzuführen, waren die Gesetzgeber des Zarenreiches ganz auf der Höhe der Zeit, ja im Vergleich mit anderen Staaten sogar durchaus progressiv. Zwar galt auf den Eisenbahnen in England und Schottland seit 1847 die vom Observatorium von Greenwich bestimmte Zeit, im Deutschen Reich operierten die verschiedenen Eisenbahngesellschaften jedoch bis Anfang der 1890er Jahre mit unterschiedlichen Ortszeiten und in den USA hatten bis 1883 noch 75 verschiedene Eisenbahnzeiten nebeneinander Gültigkeit.57 Die fortschrittlichen Bestimmungen der Zarenregierung hinsichtlich der Vereinheitlichung der in Russland gültigen Eisenbahnzeiten aus dem Jahr 1874 wurden von den entsprechenden Bahngesellschaften jedoch nur zögerlich in die Praxis umgesetzt. Während einzelne Unternehmen, wie zum Beispiel die Rjažsko-Vjazemskaja-Eisenbahn die Formulierungen aus den Pravila von 1874 umgehend und fast wortgleich in die eigene Betriebsordnung übernah-
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Položenie o perevozke arestantov po S.-Peterburgo-Moskovskoj železnoj doroge. Vgl. auch Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 253–256 (Položenie in der Fassung vom 27.3.1858). Položenie o perevozke arestantov po S.-Peterburgo-Moskovskoj železnoj doroge, S. 7 (§ 16). Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam, s priloženiem karty železnodorožnych soobščenij, Moskva 1872, S. 7. Pravila dviženija po železnym dorogam, S. 36. Freiherr von Röll: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 4, Berlin, Wien 1913, S. 149-152, s.v. Eisenbahnzeit, hier S. 150 und Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München 1992, S. 320; Martin H. Geyer: Prime Meridians, National Time, and the Symbolic Authority of Capitals in the Nineteenth Century, in: Andreas W. Daum, Christoph Mauch (Hg.): Berlin – Washington, 1800–2000. Capital Cities, Cultural Representation, and National Identities, Cambridge 2005, S. 79–100, hier S. 96. – Zur Einführung der Standard Time in den USA: Ian R. Bartky: The Adoption of Standard Time, in: Technology and Culture 30 (1989), S. 25–56; Zerubavel, Standardization, S. 10ff. Zur Standardisierung der Zeitmessung auf den britischen Inseln: Jack Simmons: The Victorian Railway, London 1991, S. 345–351.
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men58, sucht man entsprechende Festlegungen in den Statuten anderer Gesellschaften vergeblich.59 1884 bilanzierte die Fachzeitschrift Železnodorožnoe delo nüchtern, dass sich von den 49 Eisenbahngesellschaften des Zarenreiches nur zwanzig der Petersburger Zeit bedienten, vierzehn fuhren nach Moskauer Zeit, fünf nach der Zeit jenes Ortes, in dem sich die eigene Verwaltung befand.60 Einen erneuten Vorstoß zur Vereinheitlichung der im Zarenreich gültigen Eisenbahnzeiten unternahm Anfang der 1880er Jahre die sogenannte BaranovKommission, ein interministerielles Gremium, das 1876, nach dem Ende des ersten russischen „Eisenbahnfiebers“, mit einer kritischen Bestandsaufnahme des Eisenbahnwesens im Zarenreich und mit der Erarbeitung einer einheitlichen Rahmengesetzgebung für den Schienenverkehr im ganzen Land beauftragt worden war.61 In einem Entwurf für das Allgemeine Gesetz der russländischen Eisenbahnen (Obščij ustav rossijskich železnych dorog) aus dem Jahr 1882 findet sich eine Formulierung, die der entsprechenden Bestimmung in den Pravila dviženija 58
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Uslovija perevozki passažirov, bagaža, sobak, životnych, ėkipažej i tovarov v poezdach bol’šoj i maloj skorosti, o-vo Rjažsko-Vjazemskoj železnoj dorogi, Sankt Peterburg 1874, S. 3 (§ 1). Exemplarisch kann hier auf die Beförderungsbedingungen der Eisenbahn des Weichselgebiets (Privislinskaja železnaja doroga) aus dem Jahr 1877 hingewiesen werden, in denen zwar mitgeteilt wird, dass die Züge dieser Gesellschaft auf der Grundlage öffentlich bekanntgegebener Fahrpläne verkehren, auf welche Ortszeit diese ausgerichtet sind, erfuhr der Leser dabei jedoch nicht. Vgl. Uslovija perevozki passažirov, bagaža, životnych, ėkipažej i tovarov. Klassifikacija i tarif, Nr. 1, hg. von Privislinskaja železnaja doroga, Varšava 1877, S. I. Vvedenie novago normal’nago sčeta vremeni na železnych dorogach Soedinennych Štatov, in: Železnodorožnoe delo 3 (1884), Nr. 6, S. 47–48, hier S. 47. Auch in der ersten Auflage des Baedeker für West- und Mittelrussland aus dem Jahr 1883 wurde betont, dass auf russischen Bahnen die Zeitangaben „sehr verschieden“ seien. Vgl. Karl Baedeker: West- und Mittel-Russland. Handbuch für Reisende, Leipzig 1883, S. XVII. – Einen Überblick über die 1875 gängigen Eisenbahnzeiten im Zarenreich gibt der Eisenbahnführer Frooms Railway Guide: Ukazatel’ „Frum“. Putešestvie po Rossii po prjamym železnodorožnym i parochodnym soobščenijam. Karta železno-dorožnych i parochodnych soobščenij. Adresy Pravlenij železnych dorog, bankov i strachovych obščestv v S.-Peterburge i Moskve. Tarif počt i telegrafov. Jg. 11., Nr. 82., Ijul’ 1875. Zur Arbeit der Baranov-Kommission: Trudy vysočajše učreždennoj komissii dlja issledovanija železnodorožnago dela v Rossii, Bd. 1, Teil 1, Sankt Peterburg 1879, Železnodorožnoe delo 1 (1882), S. 170–173, 263; S. I–V; Vasilij V. Salov: Istoričeskij očerk učreždenija, pod predsedatel’stvom general-ad’jutanta grafa Ė. T. Baranova, Komissii dlja issledovanija železnodorožnago dela v Rossii, Sankt Peterburg 1909; Kraskovskij (Hg.), Istorija, Bd. 1, S. 98, 109; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 153–160. – In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre setzte in Russland eine breite gesellschaftliche Debatte darüber ein, welchen ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzen (bzw. Schaden) der erste „Eisenbahnboom“ dem Zarenreich gebracht habe. Die Einsetzung und Arbeit der Baranov-Kommission ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Zu dieser Diskussion vgl. exemplarisch: Pol’za i vred železnych dorog, in: Nedelja, 1876, Nr. 28, Sp. 920–924; Zil’berg: O torgovom, političeskom i meždunarodnom značenii železnych dorog, in: Sankt Peterburgskie Vedomosti, Nr. 131, 13.5.1877, S. 1–2; Ivan Stanislavovič Blioch: Vlijanie železnych dorog na ėkonomičeskoe sostojanie Rossii, 5 Bde., St. Peterburg 1878. Von der kontrovers geführten Diskussion wurde zweifelsohne auch Lev Tolstoj beeinflusst, der in dieser Zeit an seinem Roman Anna Karenina arbeitete (veröffentlicht 1877/78).
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von 1874 fast aufs Wort gleicht: „Fahrpläne geben Ankunfts- und Abfahrtszeiten sowohl in der Petersburger als auch in der Ortszeit wider, die Stationsuhren zeigen Ortszeit.“62 Damit wurde implizit zum Ausdruck gebracht, alle Bahnen des Landes sollten ihre Betriebsabläufe nach der Zeitmessung der Hauptstadt ausrichten. In der am 12. Juni 1885 verabschiedeten Fassung des Allgemeinen Gesetzes wurde die Frage der Eisenbahnzeiten im Zarenreich entsprechend diesem Vorschlag geregelt.63 Allerdings wurde auch diese gesetzliche Bestimmung nicht von allen Bahnen unmittelbar umgesetzt.64 In den kommenden Jahren erfolgte jedoch Schritt für Schritt die Angleichung der für den Betrieb der Eisenbahnen im Zarenreich gültigen Zeitmessung. Um die Jahrhundertwende war die Standardisierung auf diesem Gebiet weitgehend abgeschlossen. Nur die Eisenbahnen im Großfürstentum Finnland und die Ostchinesische Eisenbahn ließen ihre Züge noch 1908 nach der Ortszeit von Helsingfors bzw. Charbin verkehren.65 Im Falle der Bahn durch die Mandschurei wurde damit unterstrichen, dass die Region nicht in den unmittelbaren Herrschaftsbereich des Russländischen Kaisers fiel. Für das Großfürstentum Finnland symbolisierte diese Praxis – neben anderen Bestimmungen – die weitgehende Autonomie des Landes im Verbund des Russländischen Imperiums.66
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Obščij ustav rossijskich železnych dorog. Proėkt. o.O. [Sankt Peterburg] O.J. [vermutlich 1881/82], in: Rossija. Gosudarstvennyj Sovet. Materialy, T. 156.1885, (Signatur RNB 135/286.156), S. 32 (Art. 145). – In seinen Erinnerungen rühmt sich Sergej Vitte, nicht nur der einzige Eisenbahn-Experte und der wesentliche Impulsgeber in der Baranov-Kommission gewesen zu sein, sondern auch, den Obščij ustav „fast völlig“ alleine verfasst zu haben. Vgl. Iz Archiva S. Ju. Vitte: Vospominanija, Bd. 1, Rasskazy v stenografičeskoj zapiski, Buch 1, Sankt Peterburg 2003, S. 116 und Harcave, Count Sergei Witte, S. 21–23; Anan’ič, Ganelin, Sergej Jul’evič Vitte, S. 13f. Dabei ließ es der Gesetzgeber jedoch offen, nach welcher Ortszeit die Bahngesellschaften die Uhren auf ihren Bahnhöfen zu stellen hatten. – Obščij ustav Rossijskich železnych dorog i položenie o sovete po železnodorožnym delam, Sankt Peterburg 1886, S. 9 (Art. 15). – Eine deutsche Übersetzung des Allgemeinen russischen Eisenbahngesetzes vom 12.6.1885 erschien im Archiv für Eisenbahnwesen 8 (1885), S. 643–670, hier: S. 646. Zum Beispiel fuhren noch 1888 die Züge von Riga nach Dünaburg und von Riga nach Tuckum sowie die Mitauer Eisenbahn nach der jeweils gültigen Ortszeit. Die Baltische Eisenbahn (Baltijskaja železnaja doroga) operierte dagegen bereits mit der Petersburger und die Moskau-Nižnij Novgorod-Bahn (noch) mit der Moskauer Zeit. Vgl. Sputnik po Rossii – Coursbuch für Russland, 1888, S. 4, 6, 14ff., 30ff. Sputnik po Rossii – Kursbuch für Russland, Verlag N. Kymmel, Riga 1908, S. 164–177, 40– 41b. Das Schienennetz des Großfürstentums Finnland war nicht direkt mit dem des russischen Kernlandes verbunden. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte das Verkehrsministerium in St. Petersburg Pläne für den Zusammenschluss beider Schienensysteme. Vgl. dazu: Polvinen, Die finnischen Eisenbahnen, 92ff. Die relative Eigenständigkeit des Großfürstentums Finnland zeigte sich auch daran, dass dort eine andere Landeswährung Gültigkeit hatte und russische Zugreisende für den Kauf von Fahrscheinen in Finnland Rubel in Finnische Mark tauschen mussten. Vgl. zu diesem Problem: Doklad o passažirskom dviženii, hg. von Vysočajše učreždennaja Kommisija dlja issledovanija železnodorožnago dela v Rossii, Sankt Peterburg 1881, S. 211.
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Anders als beispielsweise im Deutschen Reich, wo am 1. April 1893 per Gesetz landesweit die Mitteleuropäische Zeit für den Eisenbahn- und Telegrafieverkehr und für sämtliche andere Lebensbereiche eingeführt wurde, existierten in Russland bis zur revolutionären Umstellung der Zeitmessung durch die Bol’ševiki im Jahr 1919 das System einer einheitlichen Eisenbahnzeit und die Vielfalt unterschiedlicher Ortszeiten im „zivilen Leben“ parallel nebeneinander. Für Reisende ergab sich dadurch vor der Abfahrt eines Zuges die Schwierigkeit der Umrechnung von einem System der Zeitmessung in das andere. Abhilfe schufen hier Umrechnungstabellen in Eisenbahnreiseführern, denen Passagiere beispielsweise entnehmen konnten, dass zur Mittagszeit in St. Petersburg die Uhren in Warschau 11 Uhr 22 (und 52 Sekunden) zeigten, in Vologda 12 Uhr 38, in Nižnij Novgorod 12 Uhr 56, in Tiflis 12 Uhr 58 und in Samara 1 Uhr 19 (nachmittags).67 Daneben wiesen auch die in den Bahnhöfen angeschlagenen Wandfahrpläne – wie im Allgemeinen russischen Eisenbahngesetz von 1885 festgelegt – die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge sowohl in Petersburger als auch in der jeweiligen Ortszeit aus.68 Für die Fahrt auf den Transkontinentalbahnen, die die Gültigkeitsbereiche zahlloser Ortszeiten durchquerten, legte das Verkehrsministerium eigene Fahrplan-Büchlein auf, denen die Reisenden die geplanten Ankunfts- und Abfahrzeiten (in Petersburger Zeit) entnehmen konnten.69 In diesen Fahrplänen fehlten die Spalten, in denen die entsprechenden Verkehrsdaten in der jeweiligen Ortszeit aufgelistet waren. Die Reisenden bewegten sich somit während ihrer langen Fahrten in einem geschlossenen Zeitsystem, das auf den Pendelschlag des haupstädtischen Observatoriums von Pulkovo ausgerichtet war. Konkret bedeutete dies, dass Passagiere auf ihren Zugreisen ins asiatische Russland weder ihre Uhren umstellen mussten, noch unter den Folgen einer Zeitumstellung zu leiden hatten.70 Diese 67
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Vgl. z.B. Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam, Moskva 1872, S. 2; Polnyj karmannyj putevoditel’ dlja železnodorožnych, parachodnych i počtovych prjamych soobščenij. Zima i vesna 1882–83 g. Sankt Peterburg 1882, S. 57; Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam i parochodnym soobščenijam, o.O. 141885, S. 46–48; Sputnik po Rossii – Coursbuch für Russland (1888), S. 42f. (1908), S. 264f.; Oficial’nyj ukazatel‘ železnodorožnych, parachodnych i drugich passažirskich soobščenij, hg. von Ministerstvo Putej Soobščenija, pod red. N. L. Brjulja, letnee dviženie 1904g., Sankt Peterburg 1904, S. IV. Vgl. z.B. der Wandfahrplan der Sibirskaja kazennaja železnaja doroga für das Jahr 1911: RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 441, l. 54. Vgl. auch: ebd. ed. chr. 312, l. 146 (Wandfahrplan der Severnaja železnaja doroga vom 18.4.1909). Vgl. z.B. Normal’noe raspisanie choda poezdov kommerčeskago dviženija meždu stancijami Čeljabinsk-Irkutsk i po Tomskoj vetvi (letnee) s 18 Aprelja 1911 goda. Časy oboznačeny po S.-Peterburgskomu vremeni, Nr. 16, Tomsk 1911: RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 441, ll. 57– 235. Die „Chronometrisierung” Russlands im 19. Jahrhundert ist noch ein Forschungsdesiderat. Erste Überlegungen zur Verbreitung von Uhren im Zarenreich: Hoffmann, Zeitrechnung, S. 190. Der Bau der Eisenbahn und die Verbreitung von Uhren gingen auch in Russland offenbar Hand in Hand. So führte der Bau von Bahnhofsbauten seit den 1850er Jahren zu einer zunehmenden Präsenz von Uhren im öffentlichen Raum. Die Einführung von Uhren in Zentralasien wurde von europäischen Reisenden als Zeichen der „Zivilisierung“ der imperialen Peripherie des Zarenreiches wahrgenommen. Vgl. z.B. die Beschreibung der Uhr an der Wand des Herrscherpalastes von Buchara durch den deutschen Reisenden Max Albrecht im Jahr
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Form der Fortbewegung bewirkte, dass sich Zugreisende wie in einem zeitlichen Kokon durch die Weiten des Zarenreiches bewegten und innerhalb dieser abgeschlossenen Sphäre ein Leben pulsierte, das auch in zeitlicher Hinsicht vom Alltag jenseits der Waggonfenster abgekoppelt war. Exkurs: Russland und die „Weltzeit“ Die gesetzliche Einführung einer einheitlichen Eisenbahnzeit im Russländischen Reich zwischen 1874 und 1885 muss vor dem Hintergrund der auf internationaler Ebene geführten Diskussion über die Festlegung eines Null-Meridians und die Einführung einer „Weltzeit“ in den 1880er Jahren gesehen werden, an denen sich auch russische Wissenschaftler und Ingenieure engagiert beteiligten. Einen Meilenstein bildete hier die siebte Internationale Geodätische Konferenz in Rom im Oktober 1883, deren Teilnehmer in der abschließenden Resolution empfahlen, den Längengrad des Observatoriums von Greenwich als allgemein gültigen NullMeridian festzulegen sowie auf die Vereinheitlichung der Zeitmessung auf internationaler Ebene hinzuarbeiten. Die Einführung einer „Weltzeit“ sollte insbesondere die wissenschaftliche Zusammenarbeit in globalen Kontexten sowie die Kommunikation innerhalb der nationalen und internationalen Telegrafie-, Dampfschifffahrts- und Eisenbahnnetze erleichtern. Die Beschlüsse der Konferenz von Rom, die allerdings keinerlei politische Verbindlichkeit hatten, wurden von der russischen Presse mit großem Interesse aufgenommen und der interessierten Öffentlichkeit im Zarenreich in gesonderten Publikationen erläutert.71 Auch über die Entscheidung der Eisenbahngesellschaften der USA, am 18. November 1883 die Vielfalt unterschiedlicher Betriebszeiten abzuschaffen und zu einem System gestaffelter Zeitzonen überzugehen, das sich am Null-Meridian von Greenwich orientierte, war die russische Fachöffentlichkeit informiert.72 Vor dem Hintergrund der Beschlüsse von Rom und der Einführung von Zeitzonen im US-amerikanischen Eisenbahnsystem lud die Regierung der USA im Herbst 1883 Vertreter aller „zivilisierten Länder“ zu einer Konferenz nach Washington ein.73 Dort sollten Fachleute im folgenden Jahr die Festlegung eines allgemein verbindlichen Null-Meridians und die Einführung einer Weltzeit auf politischer Ebene diskutieren. Zu diesem Treffen waren auch Vertreter der Zarenregierung geladen. Nach Eingang des Einladungsschreibens formierte sich in St. Petersburg im Frühjahr 1884 auf Initiative der Kaiserlichen Geografischen Gesellschaft eine Kommission aus Wissenschaftlern und Vertretern verschiedener Ministerien, um sich auf eine offizielle Position des Zarenreiches in den ange-
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1893. Ders.: Russisch Centralasien. Reisebilder aus Transcaspien, Buchara und Turkestan, Hamburg 1896, 144f. Stanislav D. Ryl’ke: Pervyj meridian i vseobščee vremja, Sankt Peterburg 1884, S. 42f. Zur Berichterstattung über die Konferenz von 1883 in der russischen Presse vgl. ebd., S. V. Vvedenie novago normal’nago sčeta vremeni na železnych dorogach Soedinennych Štatov. Zur Meridian-Konferenz in Washington 1884 vgl. u.a. Geyer, Prime Meridians, S. 94–98.
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sprochenen Fragen zu verständigen.74 An den Diskussionen dieses Gremiums nahmen unter anderem der Oberstleutnant des Generalstabs, S. D. Ryl’ke und der Direktor des Observatoriums von Pulkovo (Nikolaevskaja glavnaja astronomičeskaja observatorija) Otto Vasil’evič Struve teil.75 Beide waren von der Bedeutung der in Washington zu diskutierenden Probleme überzeugt und begrüßten die Entsendung einer dreiköpfigen Delegation ihres Landes zu der internationalen Konferenz.76 In seiner Studie Der erste Meridian und die Weltzeit (Pervyj meridian i vseobščee vremja), die Ryl’ke noch vor Beginn der Washingtoner Konferenz abschloss, betonte der Militärexperte, wie wichtig die Frage des Null-Meridians und der einheitlichen Zeitmessung gerade für das Zarenreich sei: „Die geografische Lage Russlands, dessen Territorium sich über 180 Längengrade erstreckt, verursacht schon heute – obwohl das Netz seiner Wasserwege, Eisenbahnen und Telegrafenleitungen noch vergleichsweise schwach entwickelt ist – einige Probleme, die sich auf die Messung von Stunden und Tagen nach unterschiedlichen Ortszeiten zurückführen lassen. [...] Die Frage der Standardisierung der Zeitmessung [hat daher] eine große Bedeutung für Russland und dies nicht nur mit Blick auf die internationalen Verbindungen, sondern auch hinsichtlich der gesellschaftlichen und privaten Interessen innerhalb unseres Landes.“77
Ryl’ke wies darauf hin, dass „neue Faktoren der menschlichen Entwicklung, wie die [Erfindung der] Dampfkraft und der Elektrizität“ einen weiteren Schritt hin zu einer „Vervollkommnung der Zeitmessung“ erforderten. Die Einführung einer „Weltzeit“, die wiederum auf die Festlegung eines Null-Meridians als Referenzpunkt angewiesen sei, müsse als Schritt in diese Richtung interpretiert werden.78
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Otto V. Struve: O rešenijach, prinjatych na Vašingtonskoj konferencii otnositel’no pervogo meridiana i vselenskogo vremeni, Sankt Peterburg 1885, S. 10f.; Ieronim I. Stebnickij: Otčet o zanjatijach Meždunarodnoj konferencii po voprosu o pervom meridiane i universal’nom vremeni (čit. v obščem sobranii IRGO 7 nojabrja 1884 g.), Sankt Peterburg 1885, S. 1f. Otto Struve, der die Arbeit der Kommission leitete, hatte bereits 1870 in einem Vortrag vor den Mitgliedern der IRGO auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich international auf einen Null-Meridian festzulegen und die „nationale Selbstverliebtheit“ zu überwinden, die eine zwischenstaatliche Einigung in diesem Punkt bislang verhindert habe. Als der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming im Jahre 1879 mit seinem Vortrag Zeitmessung und die Einführung eines Null-Merdians einen erneuten Vorstoß zur Standardisierung der Zeitmessung und zur Einführung von 24 Zeitzonen unternahm, sorgte Struve für die Verbreitung dessen Ideen in russischen Fachkreisen. Vgl. Ryl’ke, Pervyj meridian i vseobščee vremja, S. VII, 29, 32; O. V. Struve: O pervom meridiane, in: Izvestija Imperatorskogo Rossijskogo Geografičeskogo Obščestva, Bd. VI. – Zu Fleming: Clark Blaise: Die Zähmung der Zeit: Sir Sandford Fleming und die Erfindung der Weltzeit, Frankfurt/Main 2001, hier S. 241. An der Washingtoner Konferenz nahmen von russischer Seite der Gesandte des Zaren bei der Regierung der Vereinigten Staaten Karl Vasil’evič Struve, der Leiter der militärischtopografischen Abteilung im Kaukasus Generalmajor Ieronim I. Stebnickij und der Ingenieur aus dem Rat des russischen Verkehrsministers I. S. Kologrivov teil. Vgl. Struve, O rešenijach, S. 11. – Die Instruktionen für die russische Delegation wurden veröffentlicht in: Izvestija Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva, 20 (1884), Nr. 3, S. 344–347. Ryl’ke, Pervyj meridian i vseobščee vremja, S. VI. Ryl’ke, Pervyj meridian i vseobščee vremja, S. 22.
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In dem Maße, in dem Ryl’ke die Festlegung des Längengrades von Greenwich als international verbindlicher Null-Meridian begrüßte und die Bedeutung einer standardisierten Zeitmessung innerhalb der nationalen und internationalen Kommunikations- und Verkehrsnetze unterstrich, lehnte er die vollständige Abschaffung verschiedener, am Lauf der Sonne orientierter Ortszeiten und die Übertragung der „Normalzeit“ auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Russland ab. Ryl’ke betonte die Bedeutung der „natürlichen Zeit (estestvennoe vremja)“ für die Bedürfnisse der „sesshaften Bevölkerung (osedloe naselenie)“. Gleichzeitig unterstrich er, dass die „historische Entwicklung unserer Kultur über mehrere tausend Jahre die Messung der Stunden nach der lokalen Zeit aufs engste mit der religiös-lebenspraktischen Seite des alltäglichen Lebens verbunden [habe]. Die [völlige] Abschaffung der lokalen und die Einführung einer allgemeinen Zeitmessung [...] würde [daher in Russland] kaum Unterstützer finden.“79
Ryl’kes Ausführungen spiegeln im Wesentlichen die offizielle russische Haltung wider, die die Delegierten des Zarenreiches bei der Prime Meridian Conference vom 1.–22. Oktober 1884 vertraten.80 Die russischen Vertreter unterstützten die in Washington verabschiedete Resolution hinsichtlich der Einführung der Weltzeit „in all jenen Bereichen, in denen dies von praktischem Nutzen ist“. Auch der Zusatz, dass „diese Zeitmessung den Gebrauch einer Ortszeit oder einer anderen gewünschten Normalzeit nicht behindern [solle]“, entsprach der russischen Position.81 Die Standardisierung der Zeitmessung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens lehnten die Repräsentanten des Zarenreiches aus den von Ryl’ke formulierten Gründen jedoch ab. Skeptisch betrachteten die russischen Experten auch die Pläne der Unterteilung der Welt in 24 Zeitzonen. Dieser Plan basierte auf den Vorschlägen, die der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming 1879 entwickelt hatte und von denen sich die amerikanischen Eisenbahngesellschaften bei der Unterteilung des Kontinents in fünf Zeitzonen im Oktober 1883 leiten ließen.82 Der russische Gesandte bei der Regierung der Vereinigten Staaten Karl Vasil’evič Struve trug in Washington die Bedenken der Zarenregierung in dieser Frage vor. Dabei betonte er, es sei wissenschaftlich noch nicht erwiesen, ob die Unterteilung der Welt in 24 Zeitzonen (von je einer Stunde bzw. 15°) oder die Gliederung in 144 kleinere Abschnitte (von je 10 Minuten bzw. 2 ½ Längengraden) günstiger sei.83
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Ryl’ke, Pervyj meridian i vseobščee vremja, S. 48. Vgl. Stebnickij, Otčet; Struve, O rešenijach. – Zur Prime Meridian Conference: Blaise, Zähmung, S. 244ff.; Zerubavel, Standardization, S. 12–16; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 119–121. Stebnickij, Otčet, S. 8; Struve, O rešenijach, S. 14, 17. Vgl. u.a. Sandford Fleming: The Adoption of a Prime Meridian to be Common to all Nations. The Establishment of Standard Meridians for the Regulation of Time. Read Before the International Geographical Congress at Venice September 1881, London 1881. Stebnickij, Otčet, S. 12. Die Unterteilung der Welt in 144 Zeitzonen (à 2 ½° bzw. 10 Min.) hatte der Direktor des zentralen Observatoriums von Stockholm, Gylden, vorgeschlagen. Vgl. Ryl’ke, Pervyj meridian i vseobščee vremja, S. 51.
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Während die russischen Experten hinsichtlich der Einführung global gültiger Zeitzonen zurückhaltend blieben, plädierten sie in Washington dafür, man solle international von der Praxis abrücken, die Zeit des Tages in zwei Abschnitten je zwölf Stunden (vormittags und nachmittags) zu messen und stattdessen allgemein zu einer 24-Stunden-Zählung übergehen.84 Damit griffen sie eine Forderung auf, die bereits in der Resolution der Geodätischen Konferenz von Rom im Jahr 1883 enthalten war.85 Auch in Russland herrschte zu diesem Zeitpunkt noch die bis heute u.a. in England und den USA gültige Praxis, die Stunden des Tages in zwei Zwölfer-Abschnitten (ante-meridiem – vormittags – dopoludnja und postmeridiem – nachmittags – posle poludnja) zu zählen. Insbesondere die übersichtliche grafische Darstellung und die Interpretation von Eisenbahnfahrplänen gestalteten sich angesichts dieser Regelung als relativ schwierig.86 Abhilfe versprach die Idee, jeder Stunde des Tages eine eindeutige Zahl von Null bis 24 zuzuweisen, die Zeitmessung sowie die Darstellung von Uhrzeiten auch in dieser Hinsicht zu standardisieren und den technischen Erfordernissen der Eisenbahn und Telegrafie anzupassen. Die Beschlüsse der Meridian-Konferenz von Washington wirkten sich auf die Praxis der Zeitmessung im Zarenreich zunächst nur unmerklich aus. Zwar hatten die russischen Delegierten die Entscheidung mitgetragen, den Längengrad von Greenwich als allgemein verbindlichen Null-Meridian anzuerkennen. Aus diesem Beschluss resultierte im Zarenreich jedoch weder die Einführung von Zeitzonen noch die allgemeine Standardisierung der Zeitmessung jenseits der Eisenbahnund Telegrafie-Netze. Lediglich der Wunsch nach einer im ganzen Reich verbindlichen Eisenbahnzeit, auf die man sich in russischen Fachkreisen allerdings schon 1874 bzw. 1882 verständigt hatte, wurde durch die Beschlüsse von Washington weiter bekräftigt. Dass die entsprechende Ortszeit von St. Petersburg um zwei Stunden und eine Minute – und nicht um genau zwei Stunden – von der Referenzzeit in Greenwich abwich, wurde von russischen Fachleuten nicht als ernstzunehmendes Problem angesehen. Aus russischer Perspektive war für die Vernetzung der globalen Verkehrs- und Kommunikationswege die Festlegung einer international anerkannten Bezugsgröße in der Zeitmessung (d.h. die Festlegung des NullMeridians von Greenwich) von größerer Bedeutung als die weltweite Standardisierung von Orts- und Landeszeiten gemäß einheitlicher Zeitzonen. Dessen ungeachtet setzten sich in den folgenden zwanzig Jahren vor allem russische Ingenieure und Geografen immer wieder für eine weitere Standardisierung der Zeitmessung im Zarenreich und für deren Anpassung an weltweit sich durchsetzende Muster ein. Vor allem zwei Themen bestimmten dabei die politische 84 85 86
Stebnickij, Otčet, S. 13; Struve, O rešenijach, S. 24f. Ryl’ke, Pervyj meridian i vseobščee vremja, S. 36, 43. Die Legende besagt, dass Sandford Fleming auf die Idee der Weltzeit (und der 24– Stundenzählung) gekommen sei, nachdem er 1876 im irischen Ort Bandoran einen Zug verpasst hatte. Aufgrund eines Druckfehlers im Fahrplan sei Fleming 5 Uhr 35 p.m., anstatt 5 Uhr 35 a.m. am Bahnhof erschienen und musste so zwölf Stunden auf den nächsten Zug warten. Vgl. Blaise, Zähmung, S. 30, 103.
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Debatte, an der sich nicht zuletzt Ingenieure des Eisenbahnwesens engagiert beteiligten: erstens die generelle Einführung der Standard Time und von Zeitzonen im Zarenreich sowie zweitens die Umstellung der Stundenzählung im russischen Eisenbahn- und Telegrafie-Wesen auf ein 24-Stunden-System. In der Frage, ob Russland bei der Einführung von Zeitzonen nicht dem Vorbild der amerikanischen Eisenbahngesellschaften folgen solle, die sich 1883 auf die Unterteilung des Kontinents in fünf Zeitabschnitte (je 15° und einer Stunde) geeinigt hatten, herrschte bereits innerhalb der dreiköpfigen russischen Delegation auf der Meridian-Konferenz in Washington Dissens. Während der russische Gesandte bei der US-amerikanischen Regierung Karl Struve betonte, es sei noch zu früh, sich auf einen der konkurrierenden Vorschläge hinsichtlich der Unterteilung der Welt in Zeitzonen festzulegen, äußerte sich der Leiter der militärischtopografischen Abteilung im Kaukasus Generalmajor Ieronim I. Stebnickij in seinem Konferenzbericht positiv über die Einführung von Standardzeit und Zeitzonen in naher Zukunft auch im Zarenreich.87 Stebnickij wies auf die Probleme hin, die in Russland aus der Differenz der St. Petersburger-Zeit im Eisenbahnwesen und entsprechender Ortszeiten resultierten. Es sei daher „an der Zeit, an die Einführung der Standard Time nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten zu denken.“88 Auch der Leiter des Observatoriums von Pulkovo, Otto Struve, der an der Washingtoner Konferenz nicht teilgenommen hatte, brachte 1885 die Hoffnung zum Ausdruck, die Kongresse der Eisenbahngesellschaften sowie der Telegrafieund Postagenturen des Zarenreiches würden sich in naher Zukunft an den Beschlüssen der Meridian-Konferenz orientieren und in ihrem Wirkungsbereich die Weltzeit einführen. Auch wenn die Schwierigkeiten, die sich aus der Differenz unterschiedlicher Ortszeiten ergeben, auf den ersten Blick nicht sonderlich groß erschienen, so sei doch, so Struve, „nicht zuletzt in Russland mit seiner gewaltigen Längenausdehnung das Verständnis unterschiedlicher [Orts]-Zeiten [viel] stärker ausgeprägt als in anderen Staaten.“89 Trotz dieser Überlegungen änderte sich an der Praxis der Zeitmessung im Zarenreich in den nächsten Jahren relativ wenig. Offensichtlich waren die von Stebnickij und Struve beschworenen Probleme, die sich (angeblich) aus dem Nebeneinander einer landesweit gültigen Eisenbahnzeit und den zahlreichen Ortszeiten ergaben, nicht groß genug, um die Einführung der Standard Time und die Unterteilung des Reiches in Zeitzonen zu rechtfertigen. Auf die Anfrage der zentralen Eisenbahnbehörde (Upravlenie železnych dorog) im russischen Ministerium der Verkehrswege vom 7. März 1913, ob man die Einführung von Zeitzonen im russischen Eisenbahnwesen nach US-amerikanischem Vorbild begrüßen würde, reagierten die Leitungen der Regionalkomitees für die Verteilung von Transportmitteln für Massengüter auf der Eisenbahn (Porajonnye komitety po raspredeleniju na železnych dorogach perevozočnych sredstv dlja massovych gruzov) äußerst
87 88 89
Stebnickij, Otčet, S. 13, FN 2. Stebnickij, Otčet, S. 13, FN 2. Struve, O rešenijach, S. 21.
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zurückhaltend.90 Das Warschauer Regionalkomitee erachtete die Unterteilung des Russländischen Reiches in Zeitzonen „im Prinzip für sinnvoll“. Allerdings müsse diese Reform dann auf „gesetzlichem Wege für das gesamtstaatliche Leben“ – d.h. nicht nur im Eisenbahnwesen – durchgeführt werden. Ansonsten halte er die Beibehaltung der einheitlichen Zeitmessung nach Petersburger Zeit im Eisenbahnverkehr für sinnvoller.91 Die Leitung des Petersburger Regionalkomitees äußerte sich noch reservierter. Insgesamt betrachte man die Einführung von Zeitzonen im russischen Eisenbahnwesen als „nicht wünschenswert“.92 Auf der Sitzung des Regionalkomitees vom 22./23. März 1913 hatte der Sprecher der NordBahnen (Severnye železnye dorogi), R. A. von Zelja, zu Protokoll gegeben, dass sich die Benutzer der russischen Eisenbahnen bereits an die St. Petersburger Zeit in den Fahrplänen gewöhnt hätten. Außerdem gab er zu bedenken, dass man in keinem Staat Westeuropas Zeitzonen im Eisenbahnwesen eingeführt habe. Daher bestehe „auch für den europäischen Teil Russlands keine Notwendigkeit, eine solche Zeitmessung zur Regel zu erheben.“93 Die Hervorhebung der Tatsache, dass Russland Teil der europäischen Staatenfamilie ist und aus diesem Grund keiner „Sonderregelung“ bedürfe, war für diesen Ingenieur offenbar wichtiger als die Anerkennung der gewaltigen Größe des Staatsgebietes des Zarenreiches, die eine Einführung von Zeitzonen ggf. gerechtfertigt hätte. Nur für den asiatischen Landesteil konnte sich von Zelja eine Unterteilung in zwei bis drei Zeitzonen vorstellen. Allerdings könnten sich dann auch hier neue Probleme, zum Beispiel bei der Berechnung von Transportzeiten, ergeben.94 Für die Leitung des Moskauer Regionalkomitees war die Größe des Zarenreiches sogar der zentrale Grund, die Unterteilung des Landes in Zeitzonen kategorisch abzulehnen. In ihrem Antwortschreiben vom 10. Juni 1913, dessen Argumentationslogik schwer nachzuvollziehen ist, hoben die Eisenbahner hervor, dass man angesichts der „gewaltigen Ausdehnungen des Russischen Reiches“ dem amerikanischen Vorbild in diesem Punkte auf keinem Fall folgen solle. Die Einführung von Zeitzonen sei insgesamt problematisch und führe in der Praxis sowohl für die Eisenbahnleitungen als auch für die Bevölkerung zu erheblichen Problemen.95 Während die Leitungen der verschiedenen Bahngesellschaften der Einführung von Zeitzonen im russischen Eisenbahnwesen zurückhaltend gegenüberstanden, begrüßten sie die Pläne, im Fahrplanwesen und in der Telegrafie-Kommunikation zu einer 24-Stunden-Zählung überzugehen und die bisherige Praxis der Aufteilung des Tages in zwei Zwölfstundenabschnitte abzuschaffen. Nachdem der entsprechende Vorstoß der russischen Delegierten auf der Meridian-Konferenz von 1884 zunächst ohne größere Wirkung geblieben war, unternahm N. Verchovskij im Jahr 1898 einen erneuten Anlauf in dieser Sache. In der Fachzeitschrift 90 91 92 93 94 95
RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, ll. 184, 185, 187. Zur Zusammensetzung und den Aufgaben dieser Komitees vgl. Vysšie i central’nye gosudarstvennye učreždenija Rossii, Bd. 3, S. 61f. RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 349–349ob (Schreiben vom 13. Mai 1913). RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 351–351ob (Schreiben vom 19. Mai 1913). RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 428. RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 428. RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 495ob–496.
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Železnodorožnoe delo erläuterte der Eisenbahningenieur die Vorteile einer Stundenzählung von Null bis 24.96 Verchovskij unterstrich, dieses System, mit dem bereits in der Astronomie gearbeitet werde, sei nicht nur logisch, klar und praktisch, es böte darüber hinaus auch die Möglichkeit, in der TelegrafieKommunikation in erheblichem Umfang Zeit, Arbeitsaufwand und Leitungskapazitäten zu sparen. So habe die US-amerikanische Gesellschaft Western Union Telegraf errechnet, dass man durch die eindeutige Benennung einer Stunde mit einer Zahl und durch den Wegfall der Zusätze „vormittags“ bzw. „nachmittags“ bei 44 Mio. Telegrammen pro Jahr ca. 150 Mio. Zeichen sparen könne.97 Auch ließen sich Eisenbahnfahrpläne auf diese Art übersichtlicher gestalten. Grafische Hervorhebungen oder Zusätze sprachlicher Art hinter den entsprechenden Ziffern wären nicht mehr nötig. Die Beispiele der Canadian Pacific Railroad sowie der Eisenbahnen Indiens, Belgiens und Italiens zeigten zudem, dass sich das System der 24-Stunden-Zählung auch in der Praxis schon bewährt habe.98 Verchovskij träumte nicht nur davon, auf russischen Bahnhöfen neue Zifferblätter einzuführen, die auf einem inneren Kreis in römischen Zahlen die Stunden I–XII und auf einem äußeren Ring die Stunden 13–24 anzeigen. Ausgehend von der Eisenbahn sollte sich das System der 24-Stunden-Zählung auf das „alltägliche und gesellschaftliche Leben“ im ganzen Land verbreiten. Einmal mehr wurde das Dampfross als „Vermittler und Pionier der Kultur und Entwicklung“ beschworen. Die Eisenbahn sollte „am eigenen Beispiel zeigen, wie gut, logisch und einfach dieses Systems [sei] und wie wichtig dessen Einführung für die Lösung des ernsthaften Problems der umfassenden Vereinheitlichung in der Bestimmung der Zeit.“99 Es sollten jedoch weitere fünfzehn Jahre vergehen, ehe die zentrale russische Eisenbahnbehörde am 3. November 1913 in einer Vorlage für den Verkehrsminister die Einführung der 24-Stunden-Zählung in der internen Kommunikation der Bahngesellschaften sowie im Fahrplanwesen auf den Weg brachte.100 Zuvor hatte der Betriebsleiter der Moskau-Brest-Bahn, K. A. Čaplin, in einem Vortrag vor Kollegen am 25. Februar 1902 in Kiev entsprechende Überzeugungsarbeit geleistet.101 Čaplins Vortrag führte offenbar dazu, dass zahlreiche Eisenbahngesell96
N. Verchovskij: Dvadcatičetyrech časovoj cifferblat po otnošeniju k isčisleniju vremeni sutok v železnodorožnych rospisanijach, in: Železnodorožnoe delo 17 (1898), Nr. 18–19, 22–23, 26–27, S. 234–237, 315–317, 354–358. 97 Verchovskij, Dvadcatičetyrech časovoj cifferblat, S. 315. 98 Verchovskij, Dvadcatičetyrech časovoj cifferblat, S. 236. Auf der Canadian Pacific Railroad und in Belgien wurde die 24-Stunden-Zählung im Jahr 1886 eingeführt, auf den italienischen Eisenbahnen im Jahr 1893. Vgl. ebd., S. 236 und Železnodorožnoe delo 5 (1886), Nr. 37–38, S. 314. 99 Verchovskij, Dvadcatičetyrech časovoj cifferblat, S. 358. 100 RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 499. 101 K. A. Čaplin: O neobchodimosti sčeta časov do 24-ch v železnodorožnych raspisanijach, depešach, rasporjaženijach i proč., Moskva 1902. Zur Diskussion über dieses Werk innerhalb des Verkehrsministeriums: RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, ll. 7–8, 15–30. Čaplin hatte errechnet, dass allein auf der Linie Moskau-Brest pro Jahr 30 Mio. Zeichen in der Telegrafiekommunikation nur für die Unterscheidung der Stunden mit gleicher Ziffernbezeichnung aufgewandt werden müssen. Vgl. ebd. l. 7ob.
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schaften in den Jahren 1904–1907 zur 24-Stunden-Zählung übergingen, ohne dass dies vom Verkehrsministerium in St. Petersburg initiiert oder genehmigt worden war.102 Das eigenmächtige Vorgehen veranlasste den Minister sogar, am 30. Mai 1907 den entsprechenden Betrieben die Rückkehr zur alten zweimal-zwölfStunden-Zählung anzuordnen.103 Am 31. Oktober 1909 unternahm N. P. Verchovskij einen erneuten Vorstoß, wandte sich in einem Schreiben persönlich an den Verkehrsminister und legte S. V. Ruchlov die Vorzüge einer Reform der Stundenzählung im Eisenbahn- und Telegrafie-Wesen dar.104 Im Sommer 1912 erkundigte sich schließlich das Verkehrsministerium bei den Kollegen in Frankreich und fragte diese nach den Erfahrungen mit der dortigen Umstellung der Stundenzählung im Mai dieses Jahres.105 Zudem musste sich die staatliche Eisenbahnleitung in dieser Frage natürlich mit der zentralen Behörde für das Telegrafieund Postwesen (Glavnoe upravlenie počt i telegraf) abstimmen.106 Nachdem schließlich im Sommer 1913 von den entsprechenden Regionalkomitees keine Einwände gegen eine Umstellung auf die 24-Stunden-Zählung kamen, leitete die Verkehrsbehörde den entsprechenden Reformvorschlag an den Ministerrat zur Prüfung weiter. Allerdings ging diese Reform in den Wirren des bald ausbrechenden Weltkrieges unter, sodass auch die Einführung der 24-Stunden-Zählung in Russland erst im April 1919 von den Bol’ševiki (im Zuge der Unterteilung des Landes in elf Zeitzonen) vorgenommen wurde.107 Die Diskussion um die Einführung von Standard Time, Zeitzonen und 24Stunden-Zählung im russischen Eisenbahnwesen verdeutlicht zum einen die starke Verflechtung der Fachdebatten im Zarenreich mit den Diskussionen, die zeit102 RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 2. Die Südwest-Bahnen hatten sich zu diesem Schritt am 15.10.1904, die Warschau-Wien-Bahn am 18.4.1906, die Süd-Bahnen am 15.10.1906 und die Ekaterinen-Bahn am 18.4.1907 entschlossen. 103 RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 3. 104 RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, ll. 50–51ob. In diesem Schreiben beschwor Verchovskij die Eisenbahn als „globalen Impuls[geber] des Blutkreislaufs eines Landes (mirovoj impul’s krovoobraščenija strany)“, der dafür sorge, dass dieser in „einem einheitlichen Takt schlage (vyzvat’ bienie ego odnim obščim tempom)“. Ebd. l. 51–51ob. Verchovskijs Schreiben wurde 1910 in überarbeiteter Form auch veröffentlicht: Zapiska o 24-časovom isčislenii vremeni sutok, in: Železnodorožnoe delo 29 (1910), Nr. 3–4, S. 23–24. – Im Juli 1909 wurde in der russischen Presse gemeldet, die Zentrale Verwaltung der Post und des Telegrafiewesens plane, auf den Bahnhöfen der Nikolaj-Bahn die 24-Stundenzählung einzuführen. Vgl. Novyj sčet vremeni, in: Peterburgskij listok, Nr. 204, 28.7.1909 (RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 312, l. 189). Vgl. auch: Železnodorožnija novosti, in: Permskie vedomosti, Nr. 125, 12.6.1910 (ebd. ed. chr. 393, l. 50). 105 RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 126, Antwortschreiben: l. 130. 106 RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 340, l. 137–137ob. 107 Vgl. Dekret o sčeta vremeni v Rossijskoj Socialističeskoj Federativnoj Sovetskoj Respublike po meždunarodnoj sisteme časovych pojasov, in: Evgenij L. Bjalokoz: Novyj sčet vremeni v tečenie sutok vvedennyj dekretom Soveta narodnych komissarov dlja vsej Rossii s 1-go aprelja 1919 g., Petrograd 21919, S. 19–23, hier S. 19. – Neben Sowjetrussland hatten 1918 unter anderem auch China, Persien, die Niederlande, Abessinien und Mexiko die Weltzeit noch nicht übernommen. In den Niederlanden erfolgte dieser Schritt erst 1940. Vgl. Zerubavel, Standardization, S. 16f.
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gleich auf internationaler Ebene geführt wurden. Russische Wissenschaftler und Ingenieure rezipierten nicht nur aufmerksam, was in westlichen Medien geschrieben und gedacht wurde. Russische Fachvertreter nahmen aktiv an den auf internationaler Ebene geführten Diskussionen über die Standardisierung der Geodäsie und Zeitmessung teil und gaben diesen wichtige inhaltliche Impulse. Bei der Übernahme bestimmter Standards, wie zum Beispiel der Weltzeit und der Unterteilung des Globus in Zeitzonen, verfolgten russische Experten dabei jedoch dezidiert eigene Wege. Dies erfolgte weniger aus einer generellen Fortschrittsskepsis oder einer Ablehnung westlicher Kulturmuster. Einer umfassenden Standardisierung in Gebieten, die tief in die kulturell geprägten Alltagsgewohnheiten und die historisch gewachsenen Praktiken der Menschen eingreifen, wollte man sich in Russland nur dort unterwerfen, wo dies aus objektiver und praktischer Warte unmittelbar notwendig erschien. So war einerseits die Anerkennung des NullMeridians von Greenwich als internationale Referenzgröße der Zeitmessung in Russland – anders als zum Beispiel in Frankreich – nie ein Thema politischer oder wissenschaftlicher Debatten.108 Da sich den russischen Ingenieuren der Nutzen einer Unterteilung des Zarenreiches in Zeitzonen nach amerikanischem Vorbild jedoch nicht direkt erschloss, entschied man sich andererseits für die Beibehaltung des Mosaiks „natürlicher“, am Lauf der Sonne orientierter Ortszeiten und die Einführung einer einheitlichen Eisenbahnzeit, die im Prinzip bis heute für die Erstellung von Fahrplänen im russischen Schienenverkehr verbindlich ist.109 Schivelbuschs Diagnose, dass die Eisenbahn den Landschaften, die sie durchquerte, ihre lokale Zeit genommen habe, trifft daher für Russland im 19. Jahrhundert nicht in gleichem Maße zu wie für England, Deutschland oder die USA.110 Aus der Einführung der technischen Innovationen Telegrafie und Eisenbahn folgte im Zarenreich nicht automatisch die Unterwerfung sämtlicher Lebensrhythmen unter das Primat der technischen Großsysteme. Vielmehr ließ der Aufbau neuer Infrastrukturnetze noch genug Freiheit für die Wahl eines eigenen Weges in die technische Moderne.111 Zum anderen geben die hier ausführlich referierten Debatten über die Einführung von Zeitzonen und 24-Stunden-Zählung einen guten Einblick in die komplizierten Aushandlungsprozesse auf dem Gebiet der Standardisierung von techni108 Zum französischen Widerstand gegen die Anerkennung des Längengrades von Greenwich als allgemeingültiger Null-Meridian: Blaise, Zähmung, S. 254ff.; Zerubavel, Standardization, S. 13f. 109 Mit der Verlegung der Hauptstadt von Petrograd nach Moskau durch die Bol’ševiki verlor im Frühjahr 1918 auch das Observatorium von Pulkovo seine Stellung als zentraler Zeitmesser des Landes. Ab 1930 wurde die Zeit der „zweiten“ Zeitzone, auf die nach wie vor die Fahrpläne der russischen Bahnen ausgerichtet sind, „Moskauer Zeit“ (vorher „Osteuropäische Zeit“) genannt. Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. 34, 21955, S. 327–328, s.v. „Pojasnoe vremja“, hier S. 328; Vladimir N. Milovanov: Pojasnoe vremja v predelach SSSR, Moskva 1925, S. 6. 110 Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 43. 111 Zur Kritik an deterministischen Sichtweisen gesellschaftlicher Folgen von technischem Wandel: van der Vleuten, Infrastructures and Societal Change, S. 407; Osterhammel, Verwandlung, S. 121.
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schen Maßen und Betriebsabläufen im Eisenbahnwesen im späten Zarenreich. Anders als in vielen älteren Arbeiten zur Infrastrukturgeschichte Russlands dargestellt, waren die äußere Gestalt und organisatorische Struktur des russischen Eisenbahnwesens mit seinen geraden Streckenverläufen und seiner einheitlichen Zeit nicht primär Ausdruck des despotischen Willens eines autokratischen Herrschers in St. Petersburg.112 Vielmehr wirkten an der konkreten Gestaltung des russischen Eisenbahnwesens als geordneter sozialer Raum neben den zentralen Behörden in St. Petersburg eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure mit, die der Struktur und Organisation dieses Systems ihren eigenen Stempel aufdrückten. Als 1874 in den Räumen der Petersburger Verkehrsbehörde der Beschluss gefasst wurde, alle Eisenbahngesellschaften sollten ihre Fahrpläne nach der Uhrzeit des Observatoriums von Pulkovo ausrichten, hatte dies in der Praxis zunächst keinerlei nennenswerte Folgen. Die Leitungen der Eisenbahngesellschaften entschieden vielmehr eigenmächtig, wie bestimmte Fragen der Raumorganisation für sie selbst am günstigsten zu lösen seien. Noch 1907 mussten die Leitungen zahlreicher Bahngesellschaften, die auf eigene Faust bei ihrer Fahrplangestaltung zur 24-Stunden-Zählung übergegangen waren, von der Petersburger Ministeral-Verwaltung zurückbeordert und auf die Richtlinienkompetenz der zentralen Behörden in Fragen der Standardisierung verpflichtet werden. Letztendlich fehlten den Regierungsstellen des Zarenreiches der politische Wille, die missionarisch-technische Vision und die entsprechenden Machtinstrumente, um die Vielfalt räumlicher Strukturen im größten Kontinentalreich der Erde den Zwängen einer allumfassenden Standardisierung im Zeitalter der technischen Moderne zu unterwerfen. Zwar trug die Eisenbahn als „maschinelles Ensemble“ in großem Umfang zur Standardisierung räumlicher Strukturen im Zarenreich bei.113 Die Übertragung entsprechender Ordnungsmodelle aus den Netzsystemen der Tele112 Zu dieser Interpretationsfigur kritisch: Haywood, The ‘Ruler Legend’. 113 Ein weiteres Beispiel für das Wechselspiel von Eisenbahnbau und Homogenisierung räumlicher Strukturmuster ist die Geschichte der Standardisierung von Maßen und Gewichten im Zarenreich. Zeitgleich mit der Diskussion über den Vorschlag Franz Anton von Gerstners, im europäischen Russland ein Eisenbahnnetz zu bauen, wurde ein neues Gesetz zur Standardisierung russischer Maße erlassen. Vgl. dazu: Michael D. Gordin: Measure of All the Russias. Metrology and Governance in the Russian Empire, in: Kritika 4 (2003), Nr. 4, S. 783–815, hier S. 793ff. Da sich der Wunsch Nikolaus’ I., auch in seinem Land Eisenbahnen zu bauen, nur mit Hilfe des Imports von Maschinen aus dem westlichen Ausland realisieren ließ, war die gesetzliche Festlegung verbindlicher Umrechnungsmodi westeuropäischer und russischer Längen- und Gewichtsmaße unerlässlich. In den Folgejahren setzten sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen für die Einführung des metrischen Systems in Russland ein. Offiziell wurde in Russland der Meter 1899 als optionale, jedoch erst 1918 als verbindliche Maßeinheit eingeführt. Vgl. zu diesem Thema auch Peter Hoffmann: Messen und Wiegen, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 6, Einführung in Literatur, Quellen und Hilfsmittel, Stuttgart 2004, S. 199–212. Zur Karriere des Meter als internationale Maßeinheit: Martin H. Geyer: One Language of the World: The Metric System, International Coinage, Gold Standard, and the Rise of Internationalism, 1850–1900, in: ders., Johannes Paulmann (Hg.): The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, London 2001, S. 55–92, insbes. 57–69.
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grafie und der Eisenbahn auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche, wie sie zum Beispiel in der Abschaffung regionaler Ortszeiten und der zentralistischen Festlegung von Zeitzonen zum Ausdruck kam, erfolgte jedoch erst am 1. April 1919, nach dem Sturz des ancien régime.114 Es ist eine Ironie des Schicksals, dass 1919, nachdem das erste „globale Zeitalter“ in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges und dem Kugelhagel der Oktoberrevolution zu Ende gegangen war, der russischen Öffentlichkeit die Einführung von Zeitzonen in der RSFSR mit dem Hinweis auf die „ständige und wechselseitige Annäherung der Staaten“ erklärt wurde. Diese sei nicht nur mit einem intensiven Waren- und Ideenaustausch, sondern unweigerlich auch mit einer Anpassung kultureller Standards, wie der Zeitmessung verbunden.115 3.3. RAUM UND BESCHLEUNIGUNG Die Betrachtung der Debatten, die in Russland seit den 1830er Jahren um die Erschließung des Zarenreiches mit Eisenbahnen geführt wurden, hat gezeigt, dass sich die Fürsprecher des neuen Verkehrsmittels von diesem nichts weniger als die „Verkleinerung“ des Territoriums im größten Land der Erde erhofften.116 Wie in anderen Staaten sollte sich auf den neuen Verkehrswegen die wundersame „Vernichtung des Raumes“ durch die beschleunigte Überwindung geografischer Distanz vollziehen. Auch wenn die Züge im Zarenreich im internationalen Vergleich verhältnismäßig langsam fuhren, so reduzierte die Eisenbahn doch auch in Russland Reise- und Transportzeiten zwischen weit entfernten Orten in einem bislang ungekannten Maß.117 Während Reisende im Zarenreich vor dem Bau der Eisenbahnen auf den schlecht ausgebauten Provinzstraßen und den wenigen Chausseen pro Tag maximal 125 Kilometer zurücklegen konnten, ließ sich die Distanz von rund 607 Werst (680 Kilometern) zwischen St. Petersburg und Moskau im Jahr 1851 mit dem Zug bereits in 22 Stunden überwinden. Eine reguläre Reise von Moskau nach Irkutsk nahm im Winter 1856/57 ca. 33 Tage in Anspruch, mit der Großen Sibirischen Bahn brauchten Passagiere im Jahr 1912 für die gleiche Strecke von 5.080 Werst (5.435 Kilometer) mit dem Schnellzug nur noch fünf, mit
114 Zur Einführung der Zeitzonen in Sowjetrussland: Trudy mežduvedomstvennoj komissii po vvedeniju v Rossii pojasnogo vremeni, vyp. 1, Istoričeskij očerk i žurnaly zasedanij komissii za 1918, 1919 i 1920 gg., hg. von V. V. Achmatov, Petrograd 1921. 115 Bjalokoz, Novyj sčet vremeni, S. 7. Im Dekret über Einführung der Zeitzonen in der RSFSR formulierten die Bol’ševiki das Ziel, die Zeitmessung in der “zivilisierten Welt” zu vereinheitlichen (“V celjach ustanovlenija odnoobraznogo so vsem civilizovannym mirom sčeta vremeni…”) Vgl. Dekret o sčeta vremeni, S. 19. 116 Vgl. dazu insbes. Kap. 2.1. 117 Die Klagen und Ausführungen über die Langsamkeit russischer Züge im 19. Jahrhundert sind Legion. Vgl. stellvertretend: Doklad o passažirskom dviženii, S. 103, 219; Praktik: Skorost’ perevozki passažirov pervych trech klassov po russkim železnym dorogam, in: Železnodorožnoe delo 9 (1890), Nr. 37–38, S. 337–338, hier S. 338.
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dem Postzug acht Tage.118 Nach dem Ausbau der Transkaspischen Eisenbahn bis Taschkent im Jahr 1898 ließ sich die Reise von St. Petersburg in die Hauptstadt Turkestans – eine ca. 4.000 Werst lange Strecke über Petrovsk und eine Schiffspassage über das Kaspische Meer – in nur noch elf Tagen bewältigen.119 Auch die internationalen Verkehrsverbindungen erlebten in dieser Zeit eine deutliche Beschleunigung. So benötigte man 1894 für die Reise von Berlin nach St. Petersburg im Expresszug nur noch 35 Stunden – übrigens fünf Stunden weniger als Passagiere, die 2009 im Direktzug von der Spree an die Neva reisten.120 Durchschnitts- und Höchstgeschwindigkeiten waren auf den russischen Eisenbahnen – abgestuft für die verschiedenen Zug-Typen und Strecken – gesetzlich festgelegt.121 Die legendäre Langsamkeit der Eisenbahnreise in Russland war nicht nur eine Folge dieser Obergrenzen. Sie ergab sich auch aus der Vielzahl der Aufenthalte der Züge während ihrer langen Fahrten.122 1890 konnten Bahnreisende im Zarenreich bestimmte Wegstrecken – Aufenthaltszeiten an Bahnhöfen bereits eingerechnet – mit einer Geschwindigkeit von über 40 Werst/Stunde (42,8 km/h) zurücklegen. Im ganzen Land gab es aber nur drei Bahnen, die Züge in diesem Tempo verkehren ließen.123 Über 70 % der Streckenwerst im Personenverkehr wurden Ende der 1880er Jahre in Waggons zurückgelegt, die langsamer als 30 Werst/Stunde fuhren.124 In den Genuss einer schnellen Bahnfahrt kamen vor allem jene Passagiere, die in sogenannten Schnell-Zügen (Kur’erskie bzw. 118 Zur Reisegeschwindigkeit in Russland vor dem Bau der Eisenbahnen vgl. Cvetkovski, Modernisierung, S. 77, 179; bzw. für Sibirien: Tupper, To the Great Ocean, S. 13, 47. Zur Reisezeit auf der St. Petersburg-Moskau-Bahn im Jahr 1851 vgl. Haywood, Russia Enters, S. 443. Zur Fahrzeit zwischen Moskau und Irkutsk im Jahr 1912 vgl. Karl Baedeker: Russland, nebst Teheran, Port Arthur, Peking. Handbuch für Reisende, Leipzig 71912, S. 503. 119 Duchovskaja, Turkestanskija vospominanija, S. 5–17. 120 Geistbeck, Weltverkehr, S. 279 (Angabe nach dem Reichs-Kursbuch, Berlin Mai 1894). 1913 konnte man die Distanz zwischen St. Petersburg und Berlin mit dem Zug bereits in 25 Stunden zurücklegen. Vgl. Peterburgskij listok vom 29.10.1913 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 597, l. 404). Der Direktzug von Berlin nach St. Petersburg (Vitebskij vokzal) um 15.32 Uhr benötigte im Sommer 2009 39 h 45 min. Vgl. http://reiseauskunft.bahn.de [aufgerufen am 10.08.2009]. Im Fahrplan des Jahres 2013 existierte diese direkte Zugverbindung bereits gar nicht mehr. 121 Für Personenzüge der St. Petersburg-Moskau-Bahn galt 1851 die Höchstgeschwindigkeit von 37 ½ Werst/Stunde. Vgl. Položenie o sostave Upravlenija, § 85. Zur Unterteilung der Personenzüge in Geschwindigkeitsklassen: Pravila dviženija (1874), S. 32 (§ 27) bzw. Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 2, Sankt Peterburg 1877, S. 268f. (Zirkular vom 23.7.1876). Für „Hofzüge” galt die Höchstgeschwindigkeit von 50 Werst/Stunde. Vgl. Pravila o poezdach, upotrebljaemych dlja proezda Vysočajšich Osob po železnym dorogam (10.10.1878), in: Sistematičeskij sbornik dejstvujuščich na russkich železnych dorogach uzakonenij, Bd. 1, S. 342–345, Art. 7. 122 Praktik, Skorost’ perevozki passažirov, S. 337. Bereits 1851 summierten sich die Aufenthaltszeiten eines Zuges auf der Strecke von Petersburg nach Moskau auf insgesamt 3 Stunden und 35 Minuten. Haywood, Russia Enters, S. 446. 123 Züge dieser Geschwindigkeitsklasse fuhren auf der Nikolaj-Bahn, der St. PetersburgWarschau-Bahn sowie den Südwest-Bahnen. Praktik, Skorost’ perevozki passažirov, S. 337. 124 Praktik, Skorost’ perevozki passažirov (Anhang), Tabelle 7.
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skorye poezda) unterwegs waren und die in der Regel nur Waggons erster und zweiter Klasse führten.125 Wie andernorts war die schnelle Beförderung auf der Eisenbahn somit auch in Russland vor allem ein Privileg der wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Reisende, die in der Lage und bereit waren, für eine Zugreise einen Fahrschein erster oder zweiter Klasse zu lösen, konnten ihr Ziel in deutlich kürzerer Zeit erreichen als Passagiere der dritten Klasse.126 1881 kostete eine Fahrt mit dem Nachtzug von St. Petersburg nach Moskau im langsamen Passagierzug zehn und im luxuriösen Schnellzug dreißig Rubel.127 Zwar waren Fahrkarten in Russland im internationalen Vergleich relativ billig.128 Dessen ungeachtet blieb das Reisen mit den Eisenbahnen im Zarenreich – nicht zuletzt aufgrund der großen Entfernungen, die russische Passagiere bisweilen zurücklegen mussten – ein recht teures Vergnügen. Vor der Einführung eines Differentialtarifs für den Personenverkehr im Jahr 1894 errechnete sich der Preis einer Fahrkarte aus einem 125 Praktik, Skorost’ perevozki passažirov, S. 337. Bestimmte Bahnlinien (wie z.B. MoskauBrest, Moskau-Rjazan’ oder St. Petersburg-Warschau) boten jedoch auch sog. „durchgehende Züge (skvoznye poezda)” an, die Waggons aller drei Klassen führten und Distanzen in 35–40 Werst/Stunde zurücklegten. 126 Cvetkovski, Modernisierung, S, 289. Ab 1857 galten auf den russischen Eisenbahnen für die verschiedenen Passagierklassen gesetzlich festgelegte Tarife pro Person und Werst: 1. Klasse: 3 Kopeken, 2. Kl.: 2 ¼ Kop.; 3. Kl.: 1 ¼ Kop. Vgl. Ukaz i položenie ob osnovnych uslovijach dlja sooruženija pervoj seti železnych dorog (28.1.1857), S. 179; Doklad o passažirskom dviženii, S. 181. Seit 1879 mussten Zugreisende beim Kauf eines Fahrscheins darüber hinaus eine Art Mobilitätssteuer, bzw. „Sonderabgabe“ (osobyj sbor) in Höhe von 15 % (3. Klasse) bzw. 20 % des Fahrpreises (1. u. 2. Klasse) entrichten. Vgl. ebd. S. 182. Für Kinder, Soldaten und Häftlinge galten gesonderte Tarifbestimmungen. – Im Vergleich mit der Reise per Pferdepost war die Benutzung der Eisenbahn in Russland billig. Zwar variierten die Preise der einzelnen Fuhrunternehmen je nach Strecke und Region. Im Durchschnitt musste ein russischer Kutschenpassagier Anfang der 1880er Jahre jedoch Reisekosten von 2 ½ bis 3 ½ Kop. pro Zugpferd und Werst veranschlagen. Vgl. Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, Sankt Peterburg 21884, S. 8. 127 Doklad o passažirskom dviženii, S. 190. In diesen Fahrpreisen waren Zuschläge für den Nachtzug und die „Sonderabgabe“ bereits enthalten. – Ein russischer Industriearbeiter verdiente im Jahr 1880 monatlich im Schnitt 16 Rubel, 56 Kopeken, ein Erntearbeiter im Jahr 1903 25 Kopeken pro Tag. Vgl. Boris Mironov: Social’naja istorija Rossii perioda imperii (XVIII – načalo XX v.), Bd. 2, Sankt Peterburg 2000, S. 389; N. V. Šachovskij: Zemledel’českij otchod krest’jan, hg. von Vysočajše učreždennoe Osoboe Soveščanie o nuždach sel’skochozjajstvennoj promyšlennosti, Sankt Peterburg 1903, S. 112. 128 Bereits in den frühen 1870er Jahren war das Reisen mit dem Zug in Russland im internationalen Vergleich (gemessen am Fahrpreis pro Werst bzw. km) relativ billig. Zwar mussten russische Passagiere der ersten beiden Klassen vergleichsweise viel – jedoch immer noch weniger als Reisende in England oder Spanien – bezahlen. Das Reisen in der dritten Klasse war in Russland dagegen preiswerter als in anderen Ländern und nur in Belgien und Bayern noch günstiger. Vgl. Putevoditel’ po Rossii i za graniceju. Železnyja dorogi, parachody, počta, telegraf, metrologija, ob’javlenija i proč. S kartoju železnych dorog Rossijskoj Imperii. St. Peterburg 201872, S. 299. Eine Untersuchung der Baranov-Kommission dokumentierte im Jahr 1881, dass die russischen Beförderungstarife (berechnet in Person/Werst) im europäischen Vergleich niedrig waren. Nur in Norwegen war das Reisen mit der Eisenbahn noch billiger. Doklad o passažirskom dviženii, S. 217. Vgl. dazu auch: Passažirskie tarify v Evrope, in: Železnodorožnoe delo 10 (1891), Nr. 13, S. 166.
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festen Basistarif (pro Werst), der mit der Länge der entsprechenden Strecke multipliziert wurde. Insbesondere Mitglieder der ärmeren Schichten blieben so über lange Jahre vom Privileg der schnellen Raumüberwindung weitgehend ausgeschlossen. Die Tatsache, dass es saisonale Wanderarbeiter alljährlich in großer Zahl vorzogen, den weiten Weg von ihren Dörfern zu ihren ländlichen oder städtischen Arbeitsorten nicht mit der Eisenbahn, sondern zu Fuß – oft entlang der Eisenbahngleise – zurückzulegen, erfüllte Verkehrsplaner und Ökonomen seit den späten 1870er Jahren mit wachsender Sorge.129 Auch die Mitglieder der BaranovKommission wiesen 1881 darauf hin, dass die „arme Arbeiterklasse“ in Russland aufgrund der „besonderen ökonomischen Bedingungen“ des Landes dazu gezwungen sei, regelmäßig „erhebliche Entfernungen“ zu überbrücken.130 Da das Reisen mit der Eisenbahn für Menschen aus „armen Schichten“ zu teuer sei, würden zum Beispiel Erntearbeiter den Weg in die südlichen Gebiete Russlands in „großer Zahl“ zu Fuß zurücklegen, zum Schaden der Landwirtschaft in diesen Gebieten und der russischen Volkswirtschaft im Ganzen.131 Um diesem Problem Herr zu werden und die russischen Arbeiter von der Straße in die Züge zu holen, schlug die Kommission die Abschaffung der staatlichen Sonderabgabe auf Bahntickets, die Einrichtung von Arbeiterzügen (bzw. eines speziellen „Arbeitertarifs“ vierter Klasse) sowie die Einführung verbilligter Tarife für Fahrten über eine Distanz von mehr als 1.000 Werst vor. Zudem sollten Waggons dritter Klasse nicht nur an langsamen, sondern möglichst an allen Zügen mitgeführt werden. Fast schon utopisch mutete dabei die Forderung an, dass einem „jeden Menschen“ die Möglichkeit gegeben werden sollte „die eigene Arbeitszeit zu sparen, die durch die Fahrt in langsamen Zügen über große Distanz unproduktiv vergeudet wird und die Ausgaben für die eigene Fortbewegung zu begrenzen, die heute noch beträchtlich sind.“132 Auch wenn sich in den folgenden Jahren wenig an dem Umstand ändern sollte, dass vor allem die Mitglieder wohlhabender Schichten in den Genuss der schnellen Überwindung geografischer Distanz im Zarenreich kamen, so trifft die in der jüngeren Forschung formulierte These mitnichten zu, die Bevölkerung des Zarenreichs habe dem Problem der Beschleunigung im Landverkehr weitgehend gleichgültig gegenübergestanden.133 Zum einen verknüpften Visionäre und Planer 129 Zapiska ob otchožich (zemledelčeskich i nezemledelčeskich) promyslach i o peredviženii rabočich partij po železnym dorogam, Sankt Peterburg 1879. Vgl. dazu: Cvetkovski, Modernisierung, S. 290. 130 Doklad o passažirskom dviženii, S. 219. 131 Doklad o passažirskom dviženii, S. 221; Doklad o peredviženii rabočich partij po železnym dorogam, hg. von Vysočajše učreždennaja Kommisija dlja issledovanija železnodorožnago dela v Rossii, Sankt Peterburg 1881, S. 5, 9, 12, 65. 132 Doklad o passažirskom dviženii, S. 226. 133 Cvetkovski, Modernisierung, S. 19, 51, 230, 242f., 319. Die These, russische Passagiere hätten kein Interesse an der Frage der Geschwindigkeit auf den Eisenbahnen, findet sich schon in der zeitgenössischen Literatur. Vgl. V. S.: Bystrota železnodorožnych soobščenij, in: Žurnal Ministerstva Putej Soobščenija, 1891, Ausgabe Mai/Juni. Referiert und kritisch beleuchtet
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des Eisenbahnbaus in Russland – wie ihre Kollegen in anderen Ländern – mit der Einführung des neuen Verkehrsmittels von Anbeginn große Erwartungen hinsichtlich der beschleunigten Überwindung geografischer Distanz.134 Zum zweiten verdeutlichen zahlreiche russische Reiseberichte, dass die Fahrt in bislang ungekannter Geschwindigkeit auch in Russland zu den Schlüsselerlebnissen des Reisens im Eisenbahnzeitalter zählte.135 Zum dritten verfolgten insbesondere russische Ingenieure die technische Entwicklung und die wachsende Beschleunigung auf den Verkehrsnetzen in anderen Ländern Europas und in Nordamerika mit großem Interesse.136 So berichtete zum Beispiel die Fachzeitschrift Železnodorožnoe delo im Jahr 1882 begeistert von der Spitzengeschwindigkeit von 85 km/h, die ein Zug auf der Strecke von Jersey City nach Philadelphia erreicht hatte.137 Als 1893 die Züge auf dieser Bahnlinie eine Geschwindigkeit von 137 Werst/Stunde erreichten, wurde dies in der russischen Fachpresse erneut bewundernd zur Kenntnis genommen.138 Die Tatsache, dass russische Züge im Gegensatz dazu vergleichsweise langsam unterwegs waren, prangerten Vertreter der technischen Intelligenz als Indikatoren der Rückständigkeit des Zarenreiches an, die es mit Nachdruck zu bekämpfen galt.139 Schließlich setzten sich Regierungsbeamte und Verkehrsplaner in Russland seit den 1880er Jahren verstärkt dafür ein, die Geschwindigkeiten im russischen Zugverkehr zu erhöhen sowie die sozialen Zugangsschranken zu die-
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bei: Aleksandr P. Borodin: Bystrota železnodorožnych soobščenij, Kiev 1891 (Wiederabdruck aus der Zeitschrift Inžener), S. 5f.; Dal’nejšija želatel’nye reformy passažirskago tarifa, in: Železnodorožnoe delo 15 (1896), Nr. 30–31, S. 248–250, hier S. 250. Vgl. dazu insbes. Kap. 2.1. Bereits die Passagiere auf der ersten Eisenbahn im Zarenreich von St. Petersburg nach Carskoe Selo waren vom Tempo der Fahrt mit dem Dampfross begeistert. Am 31. Oktober 1837 gab ein anonymer Passagier in den Sankt Peterburgskie vedomosti zu Protokoll: „Sechzig Werst in der Stunde – eine schreckliche Vorstellung! Dabei sitzen sie ruhig, sie nehmen das Tempo gar nicht wahr, die ihre Phantasie erschüttert, nur der Wind weht, nur das Ross schnaubt feurigen Schaum und lässt weiße Dampfwolken hinter sich. Was für eine Kraft trägt diese gewaltigen Waggons mit Windgeschwindigkeit in die Wüste, welche Kraft vernichtet den Raum und absorbiert die Zeit? Diese Kraft ist der menschliche Verstand.“ Sankt Peterburgskie vedomosti, Nr. 247, 31.10.1837, S. 1115. Vgl. auch: Anonymus: Buduščnost’ železnych dorog. In: Moskovskij nabljudatel’. 1837. Buch XI. S. 475–483, hier: S. 476, 478 und N.N.: Železnaja doroga. Pis’mo k prijatelju v derevnju. In: Severnaja pčela, 11.4.1852, S. 317–318. – Zur Erfahrung der Fahrt auf den Eisenbahnen im Zarenreich vgl. ausführlicher Kap. 4.2.1. – Cvetkovski zitiert selbst zahlreiche dieser Berichte, spricht ihnen aber offenbar historische Bedeutung ab. Vgl. ders., Modernisierung, S. 189, 262. Darauf geht auch Cvetkovski ein: ders., Modernisierung, S. 231ff. Naibol’šaja skorost’ choda passažirskich poezdov, in: Železnodorožnoe delo 1 (1882), S. 315. Vgl. u.a. Naibol’šaja skorost’ dviženija poezdov, in: Železnodorožnoe delo 12 (1893), Nr. 3, S. 32. Die Meldungen über Geschwindigkeitsrekorde auf russischen Bahnen wirkten im internationalen Vergleich relativ bescheiden. So berichtete beispielsweise die Peterburgskaja gazeta, Nr. 166 vom 30.4.1911 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 454, l. 23) über einen Zug namens „Blitz (Molnija)“, der auf der Strecke Petersburg-Kislovodsk verkehrte und Spitzengeschwindigkeiten von über 100 Werst/Stunde erreichte. Borodin, Bystrota, S. 1, 3.
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sem modernen Verkehrsmittel abzubauen.140 Als im Mai 1891 in der Zeitschrift des Verkehrsministeriums die Beschleunigung im Personenverkehr sowie die verstärkte Beförderung von Waggons dritter Klasse an russischen Schnellzügen angemahnt wurden, erntete der anonyme Autor aus Fachkreisen für seinen Vorstoß großen Beifall.141 Auch der Reform der Tarife für den Personenverkehr auf den russischen Eisenbahnen im Jahr 1894 lag die Erkenntnis zu Grunde, dass Menschen ärmerer Bevölkerungsschichten das dampfbetriebene Verkehrsmittel nicht deshalb ablehnten, weil sie den Wert der schnellen Beförderung nicht schätzten. Vielmehr, so die Diagnose, hatte die starre Tarifpolitik der russischen Verkehrsbehörden bislang dazu geführt, dass Wanderarbeiter von den hohen Preisen für Eisenbahnfahrten über große Distanzen – selbst in der einfachen „Holzklasse“ – abgeschreckt wurden.142 In seiner Aktennotiz für Alexander III. erläuterte Sergej Vitte am 20. Mai 1894 die Zielsetzung der neuen Tarifpolitik für den Personenverkehr in entsprechender Weise.143 Russland, so der Finanzminister, sei „aufgrund seiner großen Entfernungen“ wie kein anderes Land auf die Mobilität seiner Bevölkerung angewiesen, ja diese sei sogar „eine der wichtigsten Bedingungen für die Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstandes“.144 Insbesondere die „Masse der bäuerlichen Bevölkerung“ müsse in Russland „alljährlich große Entfernungen zu den Einsatzgebieten der saisonalen Feld- und Fabrikarbeit zurücklegen“. Ein Blick auf die Passagierzahlen der Eisenbahnen des Zarenreiches und deren Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten zeige jedoch, dass gerade im Vergleich mit anderen europäischen Ländern relativ wenige Menschen in Russland mit der Bahn unterwegs seien. Insbesondere die große Zahl saisonaler Wanderarbeiter, die alljährlich gro140 Die Gründe für den vergleichsweise langsamen Personenverkehr auf den russischen Bahnen waren unter Zeitgenossen umstritten. Während die einen auf die schlechte Qualität der Gleisanlagen, die Schneeverwehungen und strengen Fröste im Winter, auf die geringe Zahl zweigleisiger Strecken und die fehlende Nachfrage nach schnellen Verbindungen hinwiesen, führten andere das Fehlen von Konkurrenz zwischen einzelnen Eisenbahngesellschaften, eine falsche Tarifpolitik, zu lange Aufenthalte an den Bahnhöfen und das generelle Desinteresse der Bahngesellschaften am verlustreichen Personenverkehr ins Feld. Vgl. Borodin, Bystrota, S. 4–6. 141 V. S., Bystrota und die Reaktion bei: Borodin, Bystrota; Praktik: Neskol’ko slov ob uskorenii passažirskago dviženija po russkim dorogam, in: Železnodorožnoe delo 10 (1891), Nr. 35–36, S. 370–373. 142 Zur Tarifreform von 1894: Ljudvig I. Perl’: Po voprosu o reforme passažirskich tarifov, Sankt Peterburg 1892; Sergej Ju. Vitte: Vsepoddannejšaja dokladnaja zapiska ministra finansov po departamentu železnodorožnych del o reforme passažirskogo tarifa (20.5.1894), in: ders.: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov v pjati tomach, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 2, Moskva 2006, S.209–213; ders. Vsepoddannejšaja dokladnaja zapiska ministra finansov po departamentu železnodorožnych del o reforme passažirskogo tarifa (18.11.1894), in: ebd., S. 216–218; Poniženie passažirskich tarifov na russkich železnych dorogach, in: Železnodorožnoe delo 13 (1894), Nr. 12, S. 126. 143 Seit 1889 wurde die Tarifpolitik im Eisenbahnwesen zentral vom Eisenbahndepartement im russischen Finanzministerium gesteuert. Bis Februar 1892 hatte Vitte diese Abteilung geleitet. 144 Vitte, Vsepoddannejšaja dokladnaja zapiska (20.5.1894), S. 209.
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ße Distanzen zu Fuß zurücklegten und so „unproduktiv Zeit und Kräfte“ verzehrten, benannte Vitte als gravierendes Problem.145 Als wichtigsten Grund für die Zurückhaltung der ärmeren Bevölkerungsschichten, die Dienste der Eisenbahn in Anspruch zu nehmen, führte der Finanzminister die überhöhten und starren Eisenbahntarife im Personenverkehr an, die insbesondere Fahrten über lange Distanz für gering begüterte Menschen unerschwinglich machten. Abhilfe sollte hier ein Differentialtarif schaffen, der die Reise auf der Bahn über große Entfernungen verbilligte und der am 1. Dezember 1894 im Zarenreich in Kraft trat.146 Tatsächlich entwickelten sich die Zahlen der verkauften Eisenbahntickets dritter Klasse nach der Tarifreform von 1894 äußerst dynamisch. Während 1894 nur 42,5 Mio. Menschen in der einfachen „Holzklasse“ reisten, waren es 1903 bereits 93,5 Mio. und 1912 schon 163,1 Mio.147 Ein weiteres Instrument, Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten das Reisen mit der Eisenbahn über weite Distanzen zu erleichtern, war der verstärkte Einsatz von Waggons vierter Klasse, d.h. die Beförderung von Menschen in primitiven, für den Personenverkehr umgerüsteten Güterwaggons. Schon in den 1870er Jahren hatten verschiedene Bahngesellschaften ihren Fahrgästen diese billige Transportvariante angeboten. Die jährlichen Passagierzahlen in dieser Klasse überstiegen aber immer nur geringfügig die Marke von einer Million.148 Nach 1894 weisen die Statistiken des russischen Verkehrsministeriums jedoch steigende Zahlen für jene Passagiergruppe nach, die zum sogenannten „Arbeitertarif“ reiste.149 Während anfangs nur ca. 1,8 Millionen Menschen pro Jahr dieses 145 Vitte, Vsepoddannejšaja dokladnaja zapiska (18.11.1894), S. 216. 146 Der Differentialtarif wurde am 1.12.1894 gesetzlich eingeführt. Der Grundpreis für eine Fahrkarte 3. Klasse blieb für die ersten 160 Werst bei 1 ¼ Kopeke/Werst. Für die weitere Fahrt – bis zu einer Distanz von 300 Werst – wurden 0,9 Kopeke/Werst berechnet. Ab einer Distanz von 1.500 Werst kostete jede weitere Werst 0,4 Kopeken. Für die 2. und 1. Klasse erhöhten sich diese Werte um den Faktor 1,5 bzw. 2,5. 147 Vgl. Statističeskij sbornik Ministerstva Putej Soobščenija vyp. 46 (1897), Tab. VII, 81 (1905), Tab. VII, 131 (1916), Bde. 2–3, Tab. VII. – Diese Entwicklung resultierte nicht nur aus der Einführung eines neuen Tarifsystems. Bevölkerungswachstum, Netzausbau, Industrialisierung, Urbanisierung und andere Faktoren führten in gleichem Maße zu einem Anstieg der Fahrgastzahlen in den billigeren Klassen. – Zu den Folgen der Tarifreform von 1894: N. A.: Po povodu reformy passažirskago tarifa i vyzvannoj eju stat’i g-na M. Filonenko, in: Železnodorožnoe delo 14 (1895), Nr. 11, S. 85–87; Pervye priznaki vlijanija ponižennago passažirskago tarifa na russkich železnych dorogach, in: ebd., Nr. 21–22, S. 206; Evgenij Vladimirovič Michal’cev: Ėvoljucija passažirskich perevozok na železnych dorogach v dovoennoe vremja, Moskva 1926, S. 42f. 148 Vgl. Statističeskij sbornik Ministerstva Putej Soobščenija vyp. 1 (1877), Tab. IV und Doklad o passažirskom dviženii, S. 211–213. 149 Die Beförderung zum „Arbeitertarif“ kostete auf den ersten 920 Werst eine ¾ Kopeke/Werst. Danach reduzierte sich auch dieser Satz stufenweise. Im Gegensatz zu den Tarifen der Klassen eins bis drei konnte der „Arbeitertarif“ jedoch nur von Gruppen in Anspruch genommen werden. Vgl. dazu: K. I. Gucevič: Perevozka rabočich po železnym dorogam. Spravka i perečnja voprosov po delu ob uporjadočenii zemledel’českago otchoda krest’jan, Sankt Peterburg 1903, S. 1. Erst 1913 wurden die Passagiere vierter Klasse allen anderen Fahrgästen gleichgestellt, d.h. ab diesem Zeitpunkt musste der Tarif auf allen Bahnen und angeboten
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Angebot in Anspruch nahmen, fuhren 1903 bereits 7,8 Mio. Fahrgäste in der vierten bzw. „Arbeiterklasse“, 1912 waren es schon 44,2 Mio.150 Hinzu kamen in den 1890er Jahren noch jene Passagiere, die als bäuerliche Siedler zum sogenannten „Kolonistentarif“ aus dem europäischen Russland nach Sibirien und Zentralasien reisten. Im Jahr 1900 überstieg deren Zahl zum ersten Mal die Millionengrenze, in den Jahren 1907–1909, der Hochphase der russischen Kolonisierungspolitik in der asiatischen Reichshälfte, bevölkerten jährlich über drei Millionen pereselency die Bahnhöfe und Züge der russischen Eisenbahnen.151 Der signifikante Anstieg der Fahrgastzahlen in den billigeren Klassen illustriert den deutlichen Zuwachs geografischer Mobilität im Zarenreich, die seit den 1890er Jahren immer größere Bevölkerungskreise erfasste. Gegenüber den 208,9 Mio. Reisenden, die 1912 Fahrscheine dritter oder vierter Klasse (oder Tickets zum „Kolonistentarif“) gelöst hatten, nahmen sich die 22,3 Mio. Passagiere erster und zweiter Klasse als Minderheit aus.152 Die Erfahrung der schnellen Überwindung geografischer Distanz auf der Eisenbahn war daher auch im Zarenreich alles andere als ein Elitenphänomen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts unternahm die Regierung wachsende Anstrengungen, insbesondere die Mobilität der einfachen Bevölkerungsschichten nach Kräften zu fördern. Hatte Finanzminister von Kankrin 1840 noch vor den Folgen „allzu großer Communicabilität“ im Eisenbahnzeitalter gewarnt, beschwor sein Nachfolger Vitte fünfzig Jahre später die Bedeutung geografischer Mobilität für die ökonomische Entwicklung sowie für die „Steigerung des Austauschs [...] und Intensivierung der ökonomischen und sozialen Beziehungen zwischen den einzelnen Regionen des Landes“.153 Zweifelsohne wurden auch noch nach 1894 Wanderarbeiter in großer Zahl von der teuren Eisenbahnfahrt abgeschreckt und viele zogen es aus Kostengründen vor, große Distanzen weiterhin zu Fuß zurückzulegen.154 Auch die Reisege-
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werden und war auch von alleine reisenden Personen buchbar. Vgl. Normirovanie IV-go passažirskogo klassa, in: Železnodorožnoe delo 32 (1913), Nr. 41, S. 202; Reforma 4-go klassa, in: Novoe vremja vom 6.4.1914 (= RGIA, f. 273, op. 10, ed. chr. 622, l. 52). – Den verbilligten Transport von Arbeitern in Güterwaggons hatten bereits 1881 die Mitarbeiter der Baranov-Kommission vorgeschlagen. Vgl. Doklad o peredviženii rabočich partij, S. 66, 94ff. und Kap. 3.5.3. – Diese Beförderungsart war kein russisches Spezifikum. Zum deutschen Fall vgl. Roth, Jahrhundert, S. 137f. Statističeskij sbornik Ministerstva Putej Soobščenija vyp. 46 (1897), Tab. VII, 81 (1905), Tab. VII, 131 (1915), Bde. 2–3, Tab. VII. Statističeskij sbornik Ministerstva Putej Soobščenija vyp. 81 (1905), Tab. VII, 113 (1912), Bde. 1–2, Tab. VII. Der höchste Wert (3,56 Mio.) ist für das Jahr 1907 dokumentiert. Statističeskij sbornik Ministerstva Putej Soobščenija vyp. 131 (1916), Bde. 2–3, Tab. VII. Auch in anderen europäischen Ländern reiste zu Beginn des 20. Jahrhunderts die große Mehrheit der Passagiere 3. bzw. 4. Klasse. Vgl. dazu: Roth, Jahrhundert der Eisenbahn, S. 138f. bzw. S. 243. Vitte, Vsepoddannejšaja dokladnaja zapiska (20.5.1894), S. 209. Dieses Problem beschäftigte Verkehrsplaner und Ökonomen weiterhin, so zum Beispiel die interministerielle Konferenz zur Untersuchung der Bedürfnisse der Landwirtschaft (Vysočajše učreždennoe Osoboe Soveščanie o nuždach sel’skochozjajstvennoj promyšlennosti) im Jahr 1903. Vgl. Nikolaj V. Ponomarev: O peredviženii sel’skochozjajstvennych rabočich, napravljajuščichsja v novorossijskie gubernii, Sankt Peterburg 1895; ders.: O
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schwindigkeit der russischen Züge hatte sich im internationalen Vergleich bis 1900 kaum erhöht.155 Im diachronen Vergleich ist jedoch auch für das Zarenreich zu diagnostizieren, dass die Eisenbahn die Überwindung geografischer Distanz für große Bevölkerungskreise in bislang unbekanntem Tempo ermöglichte. Dadurch veränderten sich nicht nur massenhaft die Muster subjektiver Raumwahrnehmung, sondern objektiv auch die geografischen Aktionsradien für große Teile der Bevölkerung. Unbestritten wurden nicht alle Menschen von dieser Welle beschleunigter Kommunikation erfasst – wovon die bäuerlichen Wander-Migranten am Rande der Bahngleise ein beredtes Zeugnis ablegen. Bedeutsamer als dieses Phänomen erscheint jedoch die Tatsache, dass kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges über 90 % der „gewöhnlichen“ Passagiere auf den Eisenbahnen des Zarenreiches (Militärs und Häftlinge nicht einberechnet) in den niederen Fahrgastklassen reisten. Zwar waren die Züge, die Waggons dritter und vierter Klasse führten, in der Regel um einiges langsamer unterwegs als die Express- und Kurierzüge mit ihren Passagieren erster und zweiter Klasse. Mit Blick auf die beschwerliche und zeitraubende Reise auf dem schlecht ausgebauten Netz von Straßen und Wasserwegen waren jedoch selbst Reisende auf den gemächlichen russischen Eisenbahnen relativ zügig unterwegs. Somit eröffnete der Bau der Eisenbahn auch in Russland großen Teilen der Bevölkerung gänzlich neue Möglichkeiten, das Land in seiner Größe sowie geografischen und kulturellen Vielfalt neu zu er-fahren und als zusammenhängendes Ganzes zu erleben. Auch wenn die Züge im Zarenreich nie die Geschwindigkeiten erreichten, mit denen die Eisenbahnen westlicher Länder prahlen konnten, ging auch in Russland für viele Menschen im späten 19. Jahrhundert auf der Eisenbahn der Traum vom Sieg der Technik über die geografische Distanz ein Stück weit in Erfüllung. 3.4. RAUMREPRÄSENTATIONEN UND KOGNITIVE KARTEN Die Integration des Russländischen Reiches in einen einheitlich strukturierten Verkehrsraum war nicht nur eine Frage der technischen Umsetzung der Visionen von Ingenieuren und Verkehrsplanern sowie der Standardisierung der rechtlichen peredviženii sel’skochozjajstvennych rabočich, napravljajuščichsja v jugovostočnyja mestnosti Rossii, Sankt Peterburg 1896; I. Karyšev: Ideal’nyj tarif dlja russkich železnych dorog, in: Železnodorožnoe delo 15 (1896), Nr. 3–4, 5–6, S. 19–23, 33–36; Dal’nejšija želatel’nyja reformy passažirskago tarifa, in: ebd, Nr. 30–31, S. 250; Šachovskij: Zemledel’českij otchod krest’jan; Gucevič, Perevozka rabočich; Žurnal Vysočajše učreždennago Osobennago Soveščanija o nuždach sel’skochozjajstvennoj promyšlennosti. Nr. 17. Zasedanija XXXV, XXXVI i XXXVII. 1, 8, i 22 nojabrja 1903 goda. Po delu ob uporjadočenii zemledelčeskago otchoda krest’jan, in: Rossija. Gosudarstvennyj Sovet, Vremennye organizacii, Materialy, T. 41.1902–1904, (Signatur RNB 135/300-41). 155 Praktik: Skorost’ perevozki passažirov pervych trech klassov po russkim dorogam letom 1900 i 1890 godov, in: Železnodorožnoe delo 20 (1901), Nr. 17, S. 149–151. Am schnellsten fuhr im Zarenreich im Jahr 1900 der „Nord-Express“, der auf der Strecke von Warschau nach Aleksandrov an der russisch-österreichischen Grenze 53,9 Werst/Stunde erreichte.
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Rahmenbedingungen für den Betrieb des Schienenverkehrs. Die Vernetzung und Erschließung des Zarenreiches mit Eisenbahnen ging auch mit einer neuen Form der mentalen Aneignung des Landes mit seinem gewaltigen Territorium und seiner in ethnischer und religiöser Hinsicht äußerst heterogenen Bevölkerung einher. Die Eisenbahn schuf völlig neue Möglichkeiten, geografische Distanz unabhängig von Witterung sowie von Tages- und Jahreszeit schnell und relativ komfortabel zu überwinden, Möglichkeiten, die von immer mehr Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft genutzt wurden. Wie in anderen Ländern revolutionierten der Bau und die Nutzung der Eisenbahn auch im Zarenreich die Wahrnehmung von Raum und Zeit. Die neuartige Erfahrung einer Fahrt mit einer dampfgetriebenen Maschine über einen wie mit dem Lineal in die Landschaft gezeichneten Schienenstrang, der Unebenheiten des Geländes mit Hilfe von Brücken, Aufschüttungen und Einschnitten ausgleicht, fand auch in Russland Eingang in eine Vielzahl von Reiseberichten. Mit dem Anstieg geografischer Mobilität zwischen den von der Eisenbahn erschlossenen Städten und Regionen des Imperiums entstand seit den 1850er Jahren in Russland auch ein Markt für informative Ratgeber- und Reiseliteratur. Reisende, die mit den Besonderheiten einer Fahrt auf der čugunka („der Gusseinernen“) – so wurde die Eisenbahn im Volksmund genannt – noch nicht vertraut waren, sollten mit speziellen Handbüchern auf die neuen Praktiken und die Erfahrung des Dampfmaschinenzeitalters vorbereitet werden. Eine wachsende Anzahl von Reiseführern (putevoditeli) und „Reisebegleitern“ (sputniki) auf dem Buchmarkt versorgte Eisenbahnpassagiere mit praktischen Informationen wie Fahrplänen, Beförderungstarifen sowie Auszügen aus Verordnungen für den Personenverkehr. Zudem standen Reisenden seit den 1850er Jahren kleine Handbücher zur Verfügung, die Auskunft über Geschichte und Sehenswürdigkeiten jener Städte und Ortschaften gaben, die an entsprechende Eisenbahnlinien angebunden waren. Im Unterschied zur Reise mit der Postkutsche ermöglichte die vergleichsweise ruhige Fahrt mit der Eisenbahn den Passagieren das Lesen im Abteil, eine Beschäftigung, die auch in Russland schnell zu den Konventionen der Eisenbahnreise der gebildeten Gesellschaftsschicht gehörte.156 Die für den Bahnreisenden konzipierten putevoditeli verfolgten das Ziel, die Passagiere auf ihren mitunter langen Fahrten informativ zu unterhalten. Dabei lenkten sie den Blick ihrer Leser und Leserinnen in einer neuen Form auf Dinge, Menschen und Orte jenseits des Waggonfensters und trugen so maßgeblich zu einer Neuvermessung des Landes in den Köpfen der Eisenbahnreisenden bei.157 Die Lektüre von Reiseführern, das Studium von Kursbüchern und die Betrachtung von Landkarten, in die das wachsende Streckennetz des Reiches mit dicken schwarzen oder roten Linien eingezeichnet war, ließ in der 156 Zur Kultur der Eisenbahnreise der russländischen „Gesellschaft“ (obščestvo) vgl. Kap. 4.2.; Zum Thema der Eisenbahnlektüre im Allgemeinen: Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 62–65; Dieter Vorsteher: Bildungsreisen unter Dampf, in: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 304–311, insbes. S. 308–311; Freeman, Railways, S. 86–88. 157 Zum Konzept der kognitiven Landkarte (Mental map) vgl. u.a. Schenk, Mental Maps: Die kognitive Kartierung des Kontinents.
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Vorstellungswelt der Leserinnen und Leser Bilder von einem homogenen russländischen Verkehrsraum entstehen, der weder geografische Hindernisse wie Gebirgszüge oder Sümpfe noch administrative Binnengrenzen kannte. Das Schienennetz des Russländischen Reiches präsentierte sich dem Reisenden in Reiseführern und Streckennetzkarten ab den 1870er und 1880er Jahren als ein Skelett, welches das größte Kontinentalreich der Erde als „ein geeintes, unteilbares Ganzes (odno edinoe nerazdel’noe celoe)“158 zusammenhielt. Die Entstehung dieses Raumbildes war ein relativ langer Prozess, an dem zunächst vor allem private Akteure und erst ab den 1880er Jahren in zunehmendem Maße auch staatliche Stellen mitwirkten. 3.4.1. Die ersten russischen Eisenbahnreiseführer Die ersten Reiseführer, die sich explizit an Eisenbahnpassagiere richteten, kamen in den 1850er Jahren auf den russischen Buchmarkt. 1853 erschien in Moskau ein kleines Handbuch, dem man Informationen für eine 47 Werst lange Eisenbahnfahrt nach Krjukovo entnehmen konnte.159 Fünf Jahre später brachte der St. Petersburger Verleger N. Tichmenev einen handlichen Reiseführer heraus, der Passagiere über die Besonderheiten und Sehenswürdigkeiten der gesamten Strecke zwischen der nördlichen Hauptstadt und Moskau informierte.160 Allem Anschein nach dienten Publikationen aus dem westlichen Europa als Vorbilder für diese Reiseführer.161 So wird im putevoditel’ aus dem Jahr 1853 beklagt, dass in Russland – im Gegensatz zu „Europa“ – das Genre des Reiseführers noch nicht weit entwickelt sei, ein Zustand, dem man nun Abhilfe verschaffen wollte.162 Es 158 Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 1. Zum Konzept territorialer Integrität in Russland seit dem 18. Jahrhundert: Richard Wortman: The „Integrity“ (Tselost’) of the State in Imperial Russian Representation, in: Ab Imperio 2/2011, S. 20-45. Aus rechtshistorischer Sicht: Caroline von Gall: Die Konzepte „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der russischen Theorie von Staat und Recht. Der Einfluss des Gemeinschaftsideals auf die russische Verfassungsentwicklung, Berlin 2010, insbes. S. 74-141. 159 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj v g. Voskresensk, i po Novomu Ierusalimu 1853 goda, Moskva 1853. Krjukovo lag auf der Bahnlinie von Moskau nach Petersburg. 160 Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge. 161 An welchen Vorbildern aus dem westlichen Ausland sich die Autoren dabei konkret orientierten, ließ sich leider nicht ermitteln. Eine mögliche Vorlage stellte beispielsweise der Bradshaw’s descriptive guide to the London & South Western Railway (London 1845) dar. 162 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 4. Auf welche Beispiele aus dem sich dynamisch entwickelnden Reiseführermarkt der Autor des putevoditel’ anspielte, bleibt im Dunkeln. – Neue Standards auf dem westlichen Reiseführermarkt setzten 1836 John Murray und 1839 Karl Baedeker mit ihren Nachschlagewerken. – Zur Geschichte des Reiseführers im westlichen Europa vgl. u.a.: Burkhart Lauterbach: Baedeker und andere Reiseführer. Eine Problemskizze, in: Zeitschrift für Volkskunde 85 (1989), S. 206–236; Gabriele M. Knoll: Reisen als Geschäft. Die Anfänge des organisierten Tourismus, in: Bausinger (u.a.) (Hg.): Reisekultur, S. 336–343, insbes. S. 341–343; Ulrike Pretzel: Die Literaturform Reiseführer im 19. und 20. Jahrhundert. Untersuchungen am Beispiel des Rheins, Frankfurt/M.
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erscheint verständlich, dass der Autor dieses Reiseführers aus verkaufsstrategischen Gründen behauptete, sein Werk biete dem russischen Leser etwas völlig Neues. Zwar handelte es sich bei dem Buch allem Anschein nach tatsächlich um den ersten russischen Reiseführer für Zugreisende.163 Das Genre des Reiseführers an sich wurde mit diesem Werk jedoch nicht gänzlich neu in Russland eingeführt. So waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des putevoditel’ bereits mindestens drei Handbücher auf dem Markt, die sich an Kutschenreisende auf der Chaussee von St. Petersburg nach Moskau richteten und sie mit nützlichen Informationen über die Sehenswürdigkeiten entlang der Überlandstraße versorgten.164 Dass sich die Autoren der neuen Eisenbahnreiseführer an diesen Werken aus dem Kutschenzeitalter orientierten, belegt eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten, die beide Typen der Reiseliteratur des frühen 19. Jahrhunderts aufweisen: Zum einen entwarfen die Autoren, die sich an Reisende in Postkutschen wandten und jene, die für Eisenbahnpassagiere der gehobenen Gesellschaftsschicht schrieben, ein ähnliches Reiseideal, das sich an Vorstellungen der Aufklärung orientierte und in dem „Reisen“ und die eigene „Bildung“ zwei eng aufeinander bezogene Kulturtechniken waren.165 So heißt es im Vorwort eines putevoditel’ für die Chaussee von Petersburg nach Moskau aus dem Jahr 1839, dass der „neugierige Reisende“ – für den das Werk geschrieben war – „etwas über den
1995; Christoph Hennig: But never Mr. Baedeker! Eine kleine Geschichte des Reiseführers, in: NZZ Folio 06/96, http://folio.nzz.ch/1996/juni/never-mr-baedeker [aufgerufen am 30.7.2013]; Rudy Koshar: „What Ought to be seen“. Tourist Guidebooks and National Identities in Modern Germany and Europe, in: Journal of Contemporary History 33 (1998), H. 3, S. 323–340; ders.: German Travel Cultures, Oxford 2000; Jan Palmowski: Travels with Baedeker. The Guidebook and the Middle Classes in Victorian and Edwardian Britain, in: Rudy Koshar (Hg.), Histories of Leisure, Oxford 2002, S. 105–130. Zu den ersten Eisenbahnreiseführern (in England): Parejo Vadillo, Plunkett, The Railway Passenger, S. 57; Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers. 1830–1945, Frankfurt/M. 2012. 163 Die Erforschung der Geschichte russischer Reiseführer steht noch am Anfang. Zur Geschichte der ersten russischen putevoditeli für Stadtreisende (nach St. Petersburg) aus dem späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert: Dolženko, Istorija turizma, S. 13–17; Emily D. Johnson: How St. Petersburg Learned to Study Itself. The Russian Idea of Kraevedenie, University Park, Pennsylvania 2006, S. 25–28. Erste Überlegungen zur Arbeit mit putevoditeli für Dampfschiff- bzw. Kutschenreisende im 19./20. Jahrhundert finden sich bei: Ely, The Origins of Russian Scenery; Guido Hausmann: Uskorennoe vremja i istoričeskaja pamjat’ v putevoditeljach po Volge 19-go i načala 20-go vekov. Unveröffentlichtes Manuskript (Juni 2007) sowie Bekasova, The Making of Passengers in the Russian Empire. 164 Ivan Gluškov: Ručnoj dorožnik dlja upotreblenija na puti meždu Imperatorskimi vserossijskimi stolicami, Sankt Peterburg 1801; Putevoditel’ ot Moskvy do S.-Peterburga i obratno, soobščajuščij istoričeskija, statističeskija i drugija svedenija o zamečatel’nych gorodach, mestach i predmetach nachodjašichsja po doroge meždu obeimi stolicami, sostavil i izdal N.D., Moskva 21847 (erste Auflage: 1839); Sputnik ot Moskvy do Sankt Peterburga. Sputnik ot Sankt Peterburga do Moskvy, Moskva 1841. 165 Zum Ideal der Bildungsreise: Cornelius Neutsch: Die Kunst, seine Reisen wohl einzurichten. Gelehrte und Enzyklopädisten, in: Hermann Bausinger (u.a.) (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 146–152, insbes. S. 148.
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Ort und die Dinge wissen möchte, auf die sein Blick [während der Fahrt] fällt“.166 Auch der Eisenbahnreiseführer von 1853 führte aus, dass man eine Fortbewegung im Raum nur dann eine „Reise“ nennen könne, wenn ein Mensch mit dem Ziel unterwegs sei, von der durchfahrenen Gegend etwas zu „sehen“, zu „bemerken“ und von dem Gesehenen etwas „mitzunehmen“.167 Wie sein Kollege, der vierzehn Jahre früher für Kutschenreisende geschrieben hatte, wollte der Autor mit seinem Werk Bahnpassagieren ermöglichen, eine „Reise“ in diesem Sinne zu unternehmen. Reiseführer für Kutschen- bzw. für Zugreisende wiesen zum zweiten deutliche Ähnlichkeiten bezüglich der Auswahl der Sehenswürdigkeiten und hinsichtlich des Arrangements der entsprechenden Informationen im Text auf. Schon die Reiseführer aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts lenkten den Blick erstens auf Orte und Gebäude von kultureller und historischer Bedeutung, zweitens auf Landschaften, die den romantischen Idealen einer „schönen“ und „interessanten“ – meist hügeligen und waldreichen – Natur entsprachen und drittens auf Bauwerke der Gegenwart, die Zeugnis von der Wirtschaftsweise und dem Entwicklungsstand der Technik in der durchfahrenen Gegend ablegten.168 Die hier betrachteten Reiseführer des Postkutschenzeitalters waren – wie die jüngeren Werke für Passagiere der Eisenbahn – so arrangiert, dass Reisende sie während der Fahrt zur Hand nehmen konnten und beim Weiterlesen über Sehenswürdigkeiten informiert wurden, die auf der Wegstrecke vor ihnen lagen. Die Linearität bzw. der „Rote Faden“ des Textes folgte somit dem Streckenverlauf der Chaussee – bzw. später der Eisenbahn.169 Auch wichtige raumbezogene Hinweise, die Eisenbahnhandbücher ihren Lesern als Hilfen für die Orientierung im Raum an die Hand gaben, lassen sich bereits in Handbüchern für Kutschenreisende nachweisen. So finden sich beispielsweise bereits in Begleitbüchern aus dem Kutschenzeitalter Anweisungen an die Leser, sie mögen ihren Blick „nach links“ oder „nach rechts“ vom eigenen Weg lenken, um die eine oder andere Sehenswürdigkeit zu entdecken.170 Auch die Praxis, einen Ort im Terrain mit Hilfe der Entfernungsangabe der vom Ausgangspunkt zurückgelegten Wegstrecke (in Werst) genau zu lokalisieren, existierte be-
166 Putevoditel’ ot Moskvy do S.-Peterburga i obratno, Vorwort, o.P. 167 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 3f. 168 Zu diesem „Dreiklang“ und zu der (angreifbaren) These, es handele sich dabei um eine „Erfindung“ des Eisenbahnzeitalters: Koshar: „What Ought to be Seen“. 169 Besonders originell war in dieser Hinsicht der Sputnik ot Moskvy do Sankt Peterburga aus dem Jahr 1841. Wollte der Reisende Informationen über Sehenswürdigkeiten auf der Strecke von Moskau nach Petersburg erhalten, so konsultiere er die rechte Seite des Buches. Reiste er in der anderen Richtung, so drehte er das Buch um 180° und las den Text, der auf der Gegenseite „auf den Kopf gestellt“ gedruckt war. 170 Vgl. exemplarisch: Gluškov, Ručnoj dorožnik, S. 2; Sputnik ot Moskvy do Sankt Peterburga, S. 7, 13. – Zur Disziplinierung der Raumwahrnehmung im Eisenbahnzeitalter: Daniel Speich: Rechts und Links der Eisenbahn. Zur visuellen Standardisierung der touristischen Eisenbahnfahrt, in: Monika Burri (u.a.) (Hg.): Die Internationalität der Eisenbahn. 1850–1970, Zürich 2003, S. 91–109; Parejo Vadillo, Plunkett, The Railway Passenger, S. 57.
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reits in der Ära der Postkutsche.171 Schließlich wiesen bereits ältere Reiseführer auf Kreuzungen der Chaussee mit anderen Wegenetzen wie z.B. Straßen und Kanälen als wichtige Orientierungsmarken im Terrain hin, eine Praxis, die später auch die Kartierung und Beschreibung des durchfahrenen Verkehrsraums in Eisenbahnreiseführern maßgeblich prägen sollte.172 Trotz dieser Ähnlichkeiten, die belegen, dass die Entwicklung der Reisekultur des Eisenbahnzeitalters in vielfältiger Weise an jene der Postkutschenära anknüpfte, weisen die Reisehandbücher für Zugpassagiere aus den 1850er Jahren zahlreiche innovative Elemente auf, die auf die tiefgreifende Neuorganisation der Wahrnehmung der Landschaft sowie der Bewegung im Raum in diesen Jahren auch im Zarenreich hindeuten. Erstens betrachteten es die Autoren der ersten russischen Eisenbahn-Begleitbücher als ihre Aufgabe, Reisende, die mit den Besonderheiten einer Zugfahrt noch nicht vertraut waren, über die Regeln einer Fahrt mit der čugunka aufzuklären. Wie in anderen Ländern mussten Menschen auch in Russland die Praktiken der modernen Eisenbahnreise erst erlernen, und Reiseführer boten in dieser Hinsicht wichtige Hilfestellungen. Sowohl der putevoditel’ aus dem Jahr 1853 als auch jener von 1858 erklärte seinen Lesern, wo sich der Bahnhof (putevoj dvor)173 befindet, an dem sich die Reisenden einzufinden haben, wo man Fahrkarten erhält und welche Dokumente man beim Kauf vorlegen muss. Zudem klärten sie darüber auf, wie viel eine Fahrt in den verschiedenen Klassen kostet, was man am besten auf eine Reise mitnimmt und dass am Bahnsteig vor der Abfahrt des Zuges ein dreifaches Glockenzeichen zu hören ist.174 Schließlich wurde den Reisenden die Funktion von Gebäuden und technischen Einrichtungen des Eisenbahnsystems wie Lokschuppen, Signalsysteme, Telegrafenleitungen, Streckenwärter-Häuschen etc. erklärt.175 Diese Hinweise sollten den Passagieren
171 Vgl. u.a. Putevoditel’ ot Moskvy do S.-Peterburga i obratno, S. 1, 309f. – Die Entfernungsangaben konnte der Reisende an den Werst-Pfählen ablesen, die entlang der Chaussee aufgestellt waren. 172 Vgl. exemplarisch: Putevoditel’ ot Moskvy do S.-Peterburga i obratno, S. 304f.; Sputnik ot Moskvy do Sankt Peterburga, S. 16f., 21. 173 Anfang der 1850er Jahre hatte sich im Russischen noch keine einheitliche Bezeichnung für einen „Bahnhof” etabliert. Haltepunkte der Eisenbahn und deren Gebäude wurden entweder „stancija“ oder „putevoj dvor“ genannt. Mit dem Wort „vokzal“, das später einen „Bahnhof“ bezeichnen sollte (und in dieser Bedeutung bis heute im Russischen verwendet wird), bezeichnete man seit dem späten 18. Jahrhundert in Anlehnung an die vauxhall in London einen städtischen Vergnügungsort, an dem sich Mitglieder der kultivierten russischen „Gesellschaft“ zum Besuch von Restaurants, Konzerten, Theateraufführungen und Tanzveranstaltungen einfanden. Auf ein entsprechendes Etablissement im Petrovskij Park bzw. in Chimki bei Moskau weisen der Putevoditel’ ot Moskvy do S.-Peterburga i obratno (S. 2, 4–6) sowie der Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge (S. 92) und der Sputnik ot Moskvy do Sankt Peterburga (S. 6f.) hin. Zur Etymologie des Wortes „vokzal” vgl. u.a. Bogdanov, Vokzaly, S. 5. 174 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 6–9; Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge, S. 1–9. 175 Vgl. exemplarisch: Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 12f., 21f., 24, 28, 30; Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge, S. 12, 23, 32, 43, 44.
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helfen, die neuen Elemente des Landschaftsbildes in ein sich konfigurierendes modernes Raumbild sinnhaft einzufügen. Die zweite Besonderheit, die Reiseführer des Eisenbahnzeitalters von älteren Handbüchern unterscheidet, war ein völlig neuer Umgang mit den Kategorien „Zeit“ und „Geschwindigkeit“. Dies lässt sich an unterschiedlichen Punkten verdeutlichen. Zum einen verpflichteten die putevoditeli ihre Leser auf die neuen Regeln der Pünktlichkeit und Berechenbarkeit einer Reise im Zeitalter der Dampfmaschine. So heißt es im Reiseführer von 1853: „Bei der Abfahrt der Züge herrscht auf der Eisenbahn mathematische Pünktlichkeit: man wartet auf niemanden, nicht eine Minute.“176 Der putevoditel’ von 1858 gab seinen Lesern den Rat, am Tag vor der Abfahrt des Zuges zum Bahnhof zu gehen, um die eigene Uhr nach den dortigen Zeitmessern zu stellen.177 Die Pünktlichkeit der Züge und die daraus resultierende Berechenbarkeit einer Fahrt mit der Eisenbahn erlaube es den Fahrgästen auch, so der Autor voller Optimismus, sich mit Hilfe der Uhr im Raum zu orientieren: „Gesetzt den Fall ein Reisender schläft während der Fahrt ein und wird plötzlich unerwartet geweckt, [...] so genügt ein Blick auf die Uhr und der Reiseführer sagt ihm präzise, welchen Bahnhof der Zug passiert hat und welche Station noch vor ihm liegt.“178
Um den Reisenden das Gefühl zu nehmen, einem anonymen technischen System hilflos ausgeliefert zu sein, dessen Zeitrhythmen der Passagier unterworfen wurde, machte der Reiseführer seine Leser mit dem Fahrplan des Zuges vertraut: Die „unangenehmste und ärgerlichste Seite einer Fahrt mit der Eisenbahn ist das Gefühl der Ungewissheit: wo befindet sich der Zug zu einem bestimmten Zeitpunkt, wird er bald anhalten, wenn ja, wo genau und wie lange wird der Aufenthalt dauern? All das sind für jeden Passagier äußerst wichtige Informationen, um rechtzeitig alles zu regeln und bei kurzen Aufenthalten die Mireisenden nicht unnötig nervös zu machen, wenn man aussteigt, um eine Zigarette zu rauchen, ein Glas Tee zu trinken oder eine Frikadelle zu essen.“179
Beide der hier betrachteten Eisenbahnreiseführer aus den 1850er Jahren gehen an mehreren Stellen auch explizit auf die neue Form der beschleunigten Reise im Eisenbahnzeitalter ein. So hebt der putevoditel’ aus dem Jahr 1853 hervor, dass sich Zugreisende nicht nur vom Anblick der vorbeiziehenden Orte, sondern auch von der „Geschwindigkeit der Lokomotiven“ begeistern lassen. Da die Fortbewegung mit dem Zug um einiges schneller sei als das Reisen mit der Kutsche und Reisende an den Dingen jenseits des Waggonfensters in ungekannter Geschwindigkeit vorübereilen, müsse sich ein Reiseführer in der heutigen Zeit darauf beschränken, im Text nur das „Allerbemerkenswerteste“ zu erwähnen.180 Diese Ansicht führte dazu, dass Begleitbücher, die für Eisenbahnpassagiere geschrieben wurden, einen weniger ausschweifenden Stil pflegten, nur jene Sehenswürdigkei176 177 178 179 180
Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 6. Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge, S. 1. Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge, S. III. Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge, S. I–II. Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 5, 29. Zur Beschreibung der Geschwindigkeit im Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge: S. 8, 12, 16.
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ten und Orte beleuchteten, die in unmittelbarer Nähe zum Schienenstrang der Eisenbahn lagen und in der Regel dünner und handlicher waren als entsprechende Begleitbücher aus dem Postkutschenzeitalter.181 Reiseführer für Eisenbahnpassagiere zeichneten sich drittens dadurch aus, dass sie den Blick ihrer Leser auf die tiefgreifende Transformation der Landschaft jenseits des Waggonfensters lenkten, die das Zeitalter der Industrialisierung auch in Russland mit sich brachte.182 Die Repräsentation der transformierten Landschaft in entsprechenden Raumbildern russischer Reiseliteratur lässt sich exemplarisch am ältesten Eisenbahnreiseführer aus dem Jahr 1853 nachzeichnen. Für den Autor dieses Werkes war es keine Frage, dass mit der Einführung der Dampfmaschine und der elektrischen Telegrafie auch im Zarenreich eine neue Ära begonnen hatte, die alle technischen Errungenschaften der Vergangenheit in den Schatten stellte. Im Bewusstsein, Zeuge eines gewaltigen Fortschritts zu sein, stellte er begeistert fest: „Wer hätte vor wenigen Jahren geglaubt, dass sich ein Gedanke in einen Funken und einen donnernden Pfeil verwandeln und der Dampf den Menschen mit der Geschwindigkeit gleich stürmender Wolken [durch den Raum] bewegen würde?“183
Angesichts der epochalen Neuerung, die jenes „kerzengerade Band [verkörperte], das die beiden Hauptstädte miteinander verband“, wirkte die Chaussee von St. Petersburg nach Moskau, die sich dem Betrachter vor kurzem noch als „vollendetes Werk“ dargeboten hatte, bereits als etwas völlig Antiquiertes und Überholtes“.184 Als Signifikanten des „Jahrhunderts des Dampfes und der Eisenbahn (vek parov i železnych dorog)“185 betrachtete der Autor nicht zuletzt die zahlreichen Werke moderner Ingenieurkunst, die den von der Eisenbahn geschaffenen Verkehrsraum prägten. Voller Bewunderung für die „Eleganz und Schlichtheit“ moderner Eisenkonstruktionen lenkte der putevoditel’ den Blick seiner Leser an die Decke der Bahnsteighalle des Moskauer putevoj dvor: „Was für eine Leichtigkeit vereint mit Stabilität; das Dach erscheint nur dem Auge leicht, denn [tatsächlich] ist es ganz aus Eisen.“186 Eine noch größere Zeichenhaftigkeit wies der Autor den zahlreichen Eisenbahnbrücken zu, die dem Reisenden als Wegmarken die Orientierung im Raum erleichtern sollten und die als ästhetische Manifestationen des technischen Fortschritts gefeiert wurden: „Alle diese Brücken sind so schön“,
181 Der Putevoditel’ ot Moskvy do S.-Peterburga i obratno aus dem Jahr 1839 hatte beispielsweise einen Umfang von 660 Seiten und ging auf jede Sehenswürdigkeit der Strecke und deren Geschichte in großer Genauigkeit ein. Daneben gab es allerdings auch schon im Postkutschenzeitalter handliche Reiseführer, wie z.B. Gluškovs Ručnoj dorožnik für die Reise zwischen den beiden Hauptstädten aus dem Jahr 1801, der nur 111 Seiten umfasste. 182 Dieser Trend lässt sich auch in Reiseführern aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Deutschland beobachten, die in dieser Zeit erschienen. Vgl. Koshar, „What Ought to be Seen“, S. 333. 183 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 29. 184 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 25. 185 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 4. 186 Meine Hervorhebung. Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 7f.
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ließ sich der Reiseautor hinreißen.187 Die Bauwerke müssten als Zeugnisse der „menschlichen Schaffenskraft“ angesehen werden, die sich „in ihrer Schlichtheit gut [in die Landschaft] einfügen“ und angesichts ihrer Tragfähigkeit „Wunder der Vollkommenheit“ darstellten.188 Bei aller Begeisterung für die segenbringende Kraft des Fortschritts verschloss der Autor des putevoditel’ jedoch nicht die Augen vor den ökologischen Folgen, die mit der Urbanisierung und verkehrstechnischen Erschließung des Landes in seiner Gegenwart verbunden waren. Beim Anblick der zahlreichen Felder des Torfstichs, die nördlich von Moskau die Bahnlinie nach St. Petersburg säumten, erläuterte der putevoditel’, dass öffentliche und private Gebäude in Moskau sowie die dortigen Bäder, Fabriken und Manufakturen jährlich um die 930 Tausend sažen Holz verbrauchen und dabei der wachsende Bedarf der Eisenbahn an Brennstoff noch gar nicht einberechnet sei.189 Angesichts der wachsenden Nachfrage von Stadt und Verkehrssystem nach Brennmaterial gebe es in der Umgebung von Moskau bereits kaum mehr Wälder. Es wäre eine „Sünde“, auch noch Hand an die verbleibenden Gehölze zu legen und daher ausdrücklich zu begrüßen, dass man anstatt der bereits seltenen Eichen nun Torf zum Verfeuern abbaue.190 In Äußerungen dieser Art scheinen Ängste vor der zerstörerischen Kraft des technischen Wandels durch, die selbst eingefleischte Enthusiasten der Eisenbahn in Russland, wie den Autor dieses Reiseführers, bewegten. Das Motiv der Eisenbahn, die als feuerspeiende Maschine in die Natur einbricht und die Welt des „alten, dörflichen Russland“ zerstört, ein Topos, der sich insbesondere im späten 19. Jahrhundert – nicht zuletzt als Folge der Rezeption der Romane und Theaterstücke von Lev Tolstoj (Anna Karenina) und Anton Čechov (Der Kirschgarten) – fest in der Bilderwelt der russischen Moderne etablierte, klang bereits in den sensiblen Landschaftsbeschreibungen dieses Reisebuches an.191 Das Spannungsverhältnis zwischen offensichtlicher Technikbegeisterung und nostalgischem Blick auf die Landschaften, die mit dem Bau der Eisenbahn zerstört wurden, ergab sich nicht zuletzt daraus, dass sich die Autoren von Reiseführern für Zugpassagiere eng an entsprechenden Handbüchern aus dem Postkutschenzeitalter orientierten und von diesen die Muster einer romantischen Natur187 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 16 und auch S. 21. 188 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 23, 27f. – Bei den meisten der hier gepriesenen Eisenbahnbrücken handelte es sich noch um Konstruktionen aus Holz. Ein Stich der Eisenbahnbrücke über die Msta schmückte den Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge aus dem Jahr 1858, S. 36f. 189 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 19. 1 sažen = 2,13 m. 190 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 18f., 26. Im Jahr 1841 galt der Torfabbau in der Umgebung von Moskau noch als eine ungewöhnliche Erscheinung. Vgl. Sputnik ot Moskvy do Sankt Peterburga, S. 11. – Auf die ökologischen Folgen für die russischen Wälder, die aus dem großen Bedarf nach Brennmaterial der Eisenbahn resultierten, hatte bereits der fortschrittsskeptische Finanzminister von Kankrin Ende der 1830er Jahre hingewiesen. Vgl. Mel’nikov, Svedenija, S. 242 und Kap. 2.1. 191 Zum Motiv der Eisenbahn im Werk Čechovs vgl. u.a.: Stephen L. Baehr: The Machine in Chekhov’s Garden: Progress and Pastoral in “The Cherry Orchard”, in: Slavic and East European Journal 43 (1999), Nr. 1, S. 99–121.
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wahrnehmung adaptierten. Als „schön“ und „bemerkenswert“ galt den Autoren der ersten russischen Eisenbahnreiseführer nach wie vor eine vermeintlich „unberührte“ Landschaft, die von Hügeln, Wasserläufen und Wäldern geprägt war. Zog eine entsprechende Landschaft am Waggonfenster vorbei, so „eröffneten“ sich dem Autoren „Blicke (otkryvajutsja vidy)“ sowie „malerische Ansichten (živopisnye vidy)“, und der Reisende konnte sich an „der Natur und der Aussicht erfreuen“.192 War die Landschaft dagegen flach, karg und von Sümpfen durchzogen – was auf der Strecke zwischen Moskau und Petersburg eher die Regel als die Ausnahme bildete – so konnte der Betrachter beim Blick aus dem Fenster „nichts Bemerkenswertes (ničem zamečatel’noe)“ entdecken.193 Aus dieser ästhetischen Konvention folgte auch, dass es für Zugpassagiere im Winter, wenn die Natur unter einer Schneedecke versank, nach Ansicht des putevoditel’ beim Blick auf die vorbeiziehende Landschaft „nichts zu sehen“ gab und man sich in dieser Zeit ganz dem Gespräch mit den Mitreisenden bzw. der Zuglektüre widmen konnte.194 Jene „sehenswerten“ Orte und Naturschönheiten, die sich dem panoramatischen Blick des Passagiers darboten, ordnete und lokalisierte der putevoditel’ für den Betrachter stets in Relation zur Koordinatenachse, die der Schienenstrang für die Bewegung des Reisenden im Raum vorgab.195 Gerahmt wurde das Landschaftsbild, das sich dem Zugreisenden eröffnete, von den Umgrenzungen des Waggonfensters.196 Erwähnenswert waren für den Reiseführer nur jene Dinge, die ins Blickfeld der Passagiere rückten.197 Nachdem der Punkt auf der Bewegungsachse des Betrachters, d.h. die Entfernung des Zuges zum Ausgangspunkt der Reise bzw. zum letzten Bahnhof in Werst, bestimmt waren, gab der Reiseführer die Blickrichtung des Passagiers „links“ bzw. „rechts des Schienenstrangs“ vor und definierte die Entfernung des entsprechenden Gegenstandes zum Abteilfenster: „nicht weit von der Eisenbahn (nedaleko ot čugunki)“; in der Ferne sieht 192 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 28f. Zur Geschichte der Landschaftswahrnehmung und -malerei in Russland im 18. und 19. Jahrhundert vgl. insbes. Ely, This Meager Nature. 193 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 20. Vgl. auch Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge, S. 12, 17, 36, 60–62. – Auch in den ersten Reiseführern für Wolgatouristen aus dem 19. Jahrhundert wurde die flache Landschaft Zentralrusslands, die der Fluß durchquerte, als bedeutungslos und unattraktiv beschrieben. Ely argumentiert, dass sich jedoch ab 1862 in Reiseführern eine Ästhetisierung der russischen Landschaft im Allgemeinen und des Wolgaraums im Besonderen vollzogen habe. Vgl. ders., Origins, S. 671–675. Zur „Russifizierung” des Wolgabildes vgl. auch Hausmann, Mütterchen Wolga, S. 381ff. 194 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 24. Auch in den russischen Reiseführern des Postkutschenzeitalters habe ein „ewiger Sommer” regiert, beobachtet Bekasova, The Making of Passengers in the Russian Empire. 195 Zum “panoramatischen Blick“ als Phänomen des Eisenbahnzeitalters: Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 51–60. 196 Die Rahmung des Blicks durch die Begrenzung des Waggonfensters knüpfte an entsprechende Sehgewohnheiten des Kutschenzeitalters an. So findet sich bereits im Sputnik ot Moskvy do Sankt Peterburga aus dem Jahr 1841 die Formulierung „durch das Fenster der Kutsche sehen Sie... (v okno karety, možete vy videt’...)“, S. 31. 197 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 6.
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man... (vidna vdali)“; „rechts sieht man in der Ferne (vpravo vidnejutsja vdali)“ etc.198 Orte, die außerhalb des Blickfeldes des Eisenbahnpassagiers lagen, weil sie sich zu weit entfernt von der Bahnlinie befanden, fielen dem selbsterklärten Ziel der Reiseführer zum Opfer, sich nur auf das „Allerbemerkenswerteste“ entlang der Wegstrecke zu konzentrieren. Auf diese Art und Weise wurde die Topografie der Sehenswürdigkeiten des Zarenreiches neu vermessen. Orte, die früher aufgrund ihrer historischen Bedeutung Erwähnung in entsprechenden Reiseführern fanden, liefen nun Gefahr, aus dem Blickfeld der Reisenden herauszufallen, wenn sie sich zu weit entfernt vom Schienenstrang der Eisenbahn befanden. Ein prominentes Beispiel in dieser Beziehung ist die altehrwürdige Handelsstadt Novgorod, die bis 1851 – aufgrund ihrer großen historischen Bedeutung und angesichts ihrer Anbindung an die Chaussee von St. Petersburg nach Moskau – zu den obligatorischen Stationen eines gebildeten und interessierten Reisenden gehörte, der von der einen russischen Hauptstadt in die andere unterwegs war. Während Handbücher für Kutschenreisende für die Fahrt von der Neva an die Moskva selbstverständlich ein längeres Kapitel über Geschichte und Sehenswürdigkeiten Novgorods enthielten, suchten beispielsweise Leser des Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge aus dem Jahr 1858 entsprechende Informationen vergeblich in ihrem Begleitbuch, da sich die Baumeister der Bahnlinie von Petersburg nach Moskau aus ökonomischen Gründen dazu entschieden hatten, die Stadt am Volchov bei der Streckenplanung zu umgehen.199 Novgorod, ehemals eine feste Wegmarke des Erinnerungsraumes zwischen den beiden russischen Hauptstädten, rückte durch diese Neujustierung des „touristischen Blicks“ unweigerlich aus dem Gesichtsfeld der Passagiere.200 Die Bedeutung der sich hier abzeichnenden Neukartierung der Erinnerungslandschaft des Zarenreiches im Zeitalter der Eisenbahn ist nicht zu unterschätzen. Bereits die Autoren von Reiseführern, die sich an Passagiere der zwischen St. Petersburg und Moskau kursierenden Kutschenunternehmen wandten, waren mit dem Anspruch angetreten, ihren Lesern bei der „Entdeckung“ des eigenen Landes und seiner Geschichte behilflich zu sein und dadurch zur Festigung von russischem Heimatbewusstsein und Patriotismus beizutragen. Im Vorwort des Putevoditel’ ot Moskvy do Sankt Peterburga aus dem Jahr 1839 erkärte der Autor, dass sich das Studium der Städte St. Petersburg und Moskau und dabei insbeson198 Putevoditel’ po železnoj doroge ot Moskvy do st. Krjukovskoj, S. 15, 16, 21. Zur Selbstverortung im Raum im Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge: S. 12, 54, 60. 199 Vgl. dazu ausführlicher oben Kap. 3.1. 200 Vgl. exemplarisch: Gluškov, Ručnoj dorožnik (1801), S. 16–45 und Putevoditel’ po Nikolaevskoj železnoj doroge (1858), S. 26. – Zum Terminus des „Erinnerungsraumes” bzw. zum Begriffspaar „Raum und Erinnerung“ vgl.: Sabine Damir-Geilsdorf, Angelika Hartmann, Béatrice Hendrich (Hg.): Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005, darin insbesondere die Beiträge von Sabine Damir-Geilsdorf, Béatrice Hendrich, Angelika Hartmann und Andreas Langenohl sowie Kirstin Buchinger, Claire Gantet, Jakob Vogel (Hg.): Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt 2009, darin insbesondere die Einleitung der Herausgeber. Zur Vorstellung Russlands als nationaler Raum vgl. oben, Kap. 2.3.
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dere die Betrachtung „unseres Volkstums (našej narodnosti)“ noch nie so gelohnt habe wie in der heutigen Zeit.201 Damit brachte der Verfasser die Überzeugung zum Ausdruck, dass es das Ziel einer „aufgeklärten Reise“ sei, nicht nur möglichst viele „bemerkenswerte“ Dinge auf der Fahrt zu „sehen“, sondern in diesen „Sehenswürdigkeiten“ auch etwas „Eigenes“ zu entdecken und sich dabei als Teil einer größeren, vorgestellten Gemeinschaft zu begreifen. Die Praxis der gelehrten Reise wurde gleichsam als Teil eines größeren (nationalen/imperialen) Identitätsprojektes gesehen. Eine Reise zu den Orten des „eigenen Volkstums“ wurde dabei als Fahrt zu den Orten der „eigenen“ Geschichte begriffen. Der Katalog an Sehenswürdigkeiten, den die ersten russischen Reiseführer für Kutschen- und später für Eisenbahnreisende vor ihren Lesern ausbreiteten, war dementsprechend von Orten geprägt, die von Schlüsselereignissen der Geschichte des Zarenreiches kündeten. Reiseführer kartierten das von ihnen erschlossene Territorium als spezifischen Erinnerungraum und vermittelten ihren Lesern ein besonderes, raumorientiertes Bild der „eigenen Geschichte“. Fiel ein Ort aus dem Kanon der Sehenswürdigkeiten einer bestimmten Reiseroute heraus, so veränderte sich dadurch auch das Bild der „eigenen“ Vergangenheit, das sich dem Leser in seinem gedruckten „Reisebegleiter“ darbot. Die Kartierung Russlands als integrierter nationaler bzw. imperialer Erinnerungsraum stand in den 1850er Jahren aus verständlichen Gründen noch nicht auf der Agenda der Autoren russischer Eisenbahnreiseführer. Wie die beiden hier referierten Beispiele zeigen, ging es den Verfassern dieser Werke zunächst nur um die Beschreibung von Sehenswürdigkeiten und Erinnerungslandschaften entlang einzelner Bahnstrecken. Erst mit der ab den 1860er Jahren einsetzenden infrastrukturellen Vernetzung des europäischen und seit den 1880er Jahren des asiatischen Landesteils wuchs auch in der russischen Reiseliteratur das Zarenreich als ein Verkehrs- und Erinnerungsraum zusammen.202 3.4.2. Kursbücher Bevor in den 1880er Jahren erste putevoditeli für Bahnreisende auf den russischen Buchmarkt kamen, die den Anspruch verfolgten, ihre Leser mit geografischen und historischen Informationen zu Städten und Sehenswürdigkeiten aller Landesteile zu versorgen, konnten sich Zugpassagiere bereits mit Hilfe anderer Medien bei ihren Fahrten auf dem expandierenden russländischen Schienennetz orientieren. So standen russischen Reisenden seit den späten 1860er Jahren diverse Kursbücher sowie Fahrplanzeitungen und Streckennetzkarten zur Verfügung, mit deren Hilfe sich eine Fahrt von einem Ort des Landes an einen anderen detailliert planen ließ. Kompilationen von Fahrplänen sowie Streckennetzkarten, die auf den ersten Blick ihren Benutzern nur „objektive“ und „sachliche“ Informationen darboten, 201 Putevoditel’ ot Moskvy do S.-Peterburga i obratno, Vorwort, o.P. 202 Zu Reiseführern für russische Zugpassagiere aus den 1880er Jahren, in denen Russland als vernetzter Verkehrsraum vorgestellt wurde, vgl. unten, Kap. 3.4.6.
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lassen sich zugleich als mediale Repräsentationen spezifischer Raumbilder lesen – welche die Vorstellungen ihrer Betrachter von Russland in seiner territorialräumlichen Gestalt nachhaltig prägen konnten.203 Wie das russische Beispiel zeigt, sind Kursbücher äußerst komplexe historische Quellen, die uns nicht nur über Ankunfts- und Abfahrtszeiten von Zügen in einem bestimmten Jahr informieren, sondern deren Gestaltung und innere Organisation zugleich Aufschluss über entsprechende Raumvorstellungen ihrer Verfasser (und ihrer Leser) erlauben. Eine wichtige Rolle kommt dabei dem Zusammenspiel bzw. der grafischen Zusammenschau von Text sowie Zahlenmaterial auf der einen, und kartografischen Darstellungen – wie Streckennetzkarten – auf der anderen Seite zu. Das Kursbuch als umfassende, von zentraler staatlicher Stelle herausgegebene Kompilation von Fahrplänen eines nationalen (bzw. imperialen) Verkehrsraumes fand erst relativ spät Eingang ins russische Eisenbahnwesen. Ergänzt durch eine Streckennetzkarte gab das Kursbuch Aufschluss über die Bewegung eines jeden Zuges in einem bestimmten Gültigkeitsraum und ermöglichte die Planung von Fahrten über weite geografische Distanzen innerhalb eines Landes und über dessen Grenzen hinaus. Während in Preußen 1860 das erste amtliche „Eisenbahn-, Post- und Dampfschiff-Coursbuch“ erschien, herausgegeben vom Coursbureau des Königlichen Generalpostamtes in Berlin, überließen die russischen Behörden die Zusammenstellung von Fahrplanbüchern zunächst ausschließlich privaten Unternehmern.204 Das erste offizielle (staatliche) Kursbuch aller Eisenbahn- und Dampfschiff-Verbindungen des Zarenreiches (Oficial’nyj ukazatel‘ železnodorožnych, parochodnych i drugich passažirskich soobščenij), herausgegeben vom Peterburger Ministerium der Verkehrswege (MPS), erschien erst im Jahr 1897.205
203 Während Karten in der Geschichtswissenschaft mittlerweile vielfach als historische Quellen herangezogen werden, wartet das Kursbuch noch darauf, als Medium der Raumrepräsentation systematisch erschlossen zu werden. Zur Geschichte der Kartografie und zur Karte als historische Quelle vgl. exemplarisch: Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004; John Brian Harley: The Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, Baltimore 2001. Zur Geschichte der Kartografie im Zarenreich: Valerie A. Kivelson: Cartographies of Tsardom. The Land and ist Meanings in Seventeenth-century Russia, Cornell 2006; Vytautas Petronis: Constructing Lithuania: Ethnic Mapping in Tsarist Russia. 1800–1914, Stockholm 2007. – Zum Kursbuch als historische Quelle: Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 352–362. Bereits 1957 hat Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedicht ins lesebuch für die oberstufe auf den Quellenwert von Fahrplänen hingewiesen. Vgl. ders.: Letzter Halt Internet. Das Kursbuch der Bahn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.07.2008 und http://www.faz.net/ [aufgerufen am 30.7.2013]. 204 Zur Geschichte des Kursbuchs: Freiherr von Röll: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 7, Berlin, Wien 1915, S. 42–44, s.v. „Kursbücher“; Krajewski, Restlosigkeit., S. 29–37. – Auch in West- und Mitteleuropa wurden die ersten Kursbücher für Eisenbahn- und Dampfschiffreisende von privaten Personen (z.B. Hendschel in Deutschland, Bradshaw in England) und nicht von Behörden kompiliert. 205 Oficial’nyj ukazatel‘ železnodorožnych, parochodnych i drugich passažirskich soobščenij, vyp. 1, Sankt Peterburg 1897. – Dass dieses umfangreiche Kompendium auf Reisen ein nicht unbedingt handlicher Begleiter war, wurde wiederholt beklagt. Vgl. z.B. P. Percov: Puchlyj
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Mit dieser Veröffentlichung unterstrich die Reichsregierung, die seit der Amtszeit Sergej Vittes als Finanzminister (1892–1903) auch die Verstaatlichung des russländischen Schienennetzes systematisch vorantrieb, den eigenen Anspruch, die Eisenbahn verstärkt als Instrument der territorial-räumlichen Integration des Imperiums zu nutzen. Als 1851 die erste Bahnlinie von nationaler Bedeutung in Russland den Betrieb zwischen St. Petersburg und Moskau aufnahm, wurde die verantwortliche (staatliche) Bahngesellschaft in den entsprechenden Statuten dazu verpflichtet, ihre Züge nach einem festgelegten Fahrplan verkehren zu lassen und diesen an Bahnhöfen sowie in Zeitungen der beiden Hauptstädte zu veröffentlichen.206 Auch sämtliche anderen Gesellschaften, die eine Konzession für den Bau und Betrieb einer Eisenbahnstrecke in Russland erhielten, mussten die Öffentlichkeit über die Abfahrts- und Ankunftszeiten ihrer Züge mittels Anschlägen an Bahnhöfen und Fahrplänen in der Presse informieren.207 Mit der zunehmenden verkehrstechnischen Erschließung des Landes sollte sich diese Informationspraxis, die auf der Idee insulärer (und nicht vernetzter) Verkehrswege basierte, bald als unzureichend erweisen. Ende der 1860er Jahre entdeckten Verleger, dass sich mit Kursbüchern für Zugreisende ein neuer, lukrativer Markt erschließen ließ.208 Anfang der 1870er Jahre standen russischen Eisenbahnpassagieren mindestens fünf verschiedene, von privaten Unternehmen herausgegebene Nachschlagewerke zur Auswahl, die neben den Fahrplänen von Eisenbahnen jene der Dampfschifflinien und wichtiger Postkutschenverbindungen sowie ein breites Spektrum weiterer Informationen enthielten.209 Auch wenn sich die Kursbücher hinsichtlich ihres Informationsgehalts nicht maßgeblich voneinander unterschieden, so fallen doch signifikante Eigenheiten bezüglich des Aufbaus und der grafischen Darstellung von Informati-
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putevoditel’, in: Novoe vremja, Nr. 11958, 28.6.1909 (RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 312, l. 172). Položenie o dviženii po S. Peterburgsko-Moskovskoj železnoj doroge. Pravila dviženija po železnym dorogam (1874), S. 36f. (§ 36). Die Ursprünge des Eisenbahn-Kursbuches lassen sich auf den ersten Railway Guide für das englische Streckennetz von George Bradshaw aus dem Jahr 1838 zurückführen. Vgl. Matthew Beaumont, Michael Freeman: Introduction: Tracks to Modernity, in: dies. (Hg.): The Railway and Modernity. Time, Space, and the Machine Ensemble, Oxford 2007, S. 13–43, hier S. 19 und Richards, MacKenzie, The Railway Station, S. 96. Frooms Railway Guide – Ukazatel’ „Frum“. Putešestvie po Rossii po prjamym železnodorožnym i parochodnym soobščenijam, o.O., 1867ff.; Putevoditel’ po Rossii, č. I. Železnyja dorogi. Izdanie kartografičeskago zavedenija A. Il’ina, Sankt Peterburg, 1867ff.; Putevoditel’ po Rossii i za graniceju. Železnyja dorogi, parochody, počta, telegraf, metrologija, ob’javlenija i proč, Sankt Peterburg (vermutlich) 1869ff.; Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam, Moskva (vermutlich) 1872ff.; Sputnik po russkim železnym dorogam, hg. von Vestnik železnych dorog i parochodstva, Sankt Peterburg (V. P. Lancert), 1875 ff. – Weitere, von privater Seite herausgegebene Kursbücher mit späterem Erstauflagedatum: Polnyj karmannyj putevoditel’ po Rossii, Sankt Peterburg, 1880(?)ff. (ab 1882 unter dem Titel: Polnyj karmannyj putevoditel’ dlja železnodorožnych, parachodnych i počtovych prjamych soobščenij); Sputnik po Rossii – Coursbuch für Russland, Riga 1888ff.; Poputčik po russkim železnym dorogam, hg. von Anton Florianovič Adamovič, o.O. [Sankt Peterburg] 1898ff.
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onen zur Raumorientierung ins Auge. Diese Varianz verdeutlicht, dass in Russland Ende der 1860er Jahre noch mit verschiedenen Modellen experimentiert wurde, wie sich die verkehrstechnische Vernetzung des Landes in einem handlichen zweidimensionalen Zeichensystem darstellen und repräsentieren ließ. Wie die Autoren der ersten russischen Eisenbahnreiseführer aus den 1850er Jahren, so orientierten sich auch die Herausgeber der frühen Kursbücher für den Zugverkehr im Zarenreich an westeuropäischen Vorbildern. Dieser Wissenstransfer wurde nicht zuletzt dadurch erleichtert, dass unter den Pionieren des russischen Kursbuchwesens offenbar Herausgeber mit biografischen Wurzeln im westlichen Europa, wie zum Beispiel der Verleger des Froom’s Railway Guide – Ukazatel’ Frum, waren. Zudem konnten sich die Kursbuchredakteure an einer Vielzahl russischer Handbücher für Postkutschenreisende (počtovye dorožniki) aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert orientieren.210 Diese Kompendien, die unter anderem vom Petersburger Postamt (Počt-Amt) bzw. Post-Departement (Počtovyj departament) herausgegeben wurden, enthielten Listen aller russländischen (und der wichtigsten europäischen) Postkurse, Entfernungstabellen (poverstnaja kniga), die die Berechnung der Kosten einer Reise innerhalb des Reiches ermöglichten, sowie Auszüge aus entsprechenden Reise- und Postverordnungen.211 Ein Blick in diese ersten russischen Kursbücher verdeutlicht, dass das Zarenreich beim Eintritt ins Eisenbahnzeitalter bereits über ein Netz regelmäßiger Postkutschenverbindungen verfügte und dass seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts russischen Reisenden Handbücher zur Verfügung standen, mit deren Hilfe sie sich bereits ein Bild des Reiches als zusammenhängender und mit dem westlichen Europa vernetzter Verkehrsraum machen konnten. Auf diesen Grundlagen bauten die Herausgeber der ersten russischen Kursbücher für Zugreisende auf. Sie sprachen mit ihren Publikationen dabei einen sehr viel größeren Personenkreis an. Angesichts des schleppenden Ausbaus des russischen Schienennetzes machten sie den Gebrauch der alten Postkursbücher jedoch noch lange nicht überflüssig. Ähnlich den älteren Kursbüchern für russische Kutschenreisende boten die Werke des Eisenbahnzeitalters ihren Käufern weit mehr Informationen als nur Zugfahrpläne. So enthielt beispielsweise der Putevoditel’ po Rossii i za graniceju aus dem Jahr 1872 neben den Abfahrts- und Ankunftszeiten der Personenzüge aller russländischen Bahngesellschaften Auszüge aus den Benutzungsbedingun210 Vgl. exemplarisch: Dorožnik čužezemnyj i rossijskij i poverstnaja kniga rossijskago gosudarstva s priobščeniem izvestija o počtach […] Sobrany i napečatany na iždivenii Imperatorskago Sanktpeterburgskago Počt-Amta pod smotreniem Vasil’ja Grigor’eviča Rubana, Sankt Peterburg. 1777; Novejšij russkij dorožnik verno pokazujuščij vse počtovye puti Rossijskoj Imperii i novoprisoedinennych ot Porty Ottomanskoj i Respubliki Pol’skoj oblastej, sobrannyj čerez perepisku so vsemi počtovymi kantorami […], Sankt Peterburg 1803; Počtovyj dorožnik ili opisanie vsech počtovych dorog Rossijskoj imperii, Carstva Pol’skago i drugich prisoedinennych oblastej v trech častjach. Izdan ot počtovago departamenta, Sankt Peterburg 1824. 211 Zur Kultur der Kutschenreise im Zarenreich: Cvetkovski, Modernisierung, S. 88–183, zu Kursbüchern: S. 117f., 128f. sowie Randolph, The Singing Coachman.
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gen für den Personenverkehr (Obščija pravila dlja perevozki passažirov, bagaža i sobak), Daten über die Inbetriebnahme einzelner Strecken, Fahrpläne für den Zugverkehr im (westlichen) Ausland, Listen der Telegrafenbüros im Zarenreich, Tabellen für die Umrechnung ausländischer Maße und Gewichte und vieles andere mehr.212 Neben Reisehandbüchern, die, wie der putevoditel’ von 1872, auch noch Fahrpläne der wichtigsten Postkurse und Dampfschifflinien des Zarenreiches enthielten, waren zu dieser Zeit auch Kursbücher auf dem Markt, die sich ausschließlich an Zugreisende richteten.213 Um den Preis der Fahrplanbüchlein möglichst niedrig zu halten – ihr Preis bewegte sich zwischen 25 und 40 Kopeken – enthielten die meisten Kursbücher eine relativ umfangreiche Werbungsrubrik, die oft auf farbigem Papier gedruckt und dem Informationsteil vor- oder nachgeschaltet war. Dieser Annoncenteil, in dem zum Beispiel für Hotels, Kaufhäuser, Nähmaschinen, Flügel, Buchgeschäfte, Speditionen oder Produkte von Waffen- und Uhrenfabrikanten geworben wurde, lässt sich nicht nur als Spiegel des wachsenden Waren- und Dienstleistungsangebots in den russischen Metropolen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lesen. Gleichzeitig macht das breite geografische Spektrum der Orte der hier beworbenen Hotels deutlich, dass die Zahl der Menschen, die aus geschäftlichen, dienstlichen oder privaten Gründen in dieser Zeit mobil waren, auch im Zarenreich langsam aber stetig zunahm. Auch wenn sich der Grad der Mobilität russischer Zugreisender nur schwer quantifizieren lässt, so deutet das Nebeneinander der Werbeanzeigen eines Hotels in St. Petersburg und eines Hotels in Paris, Mailand oder Nizza im Annoncenteil auch auf den sich weitenden geografischen Horizont (betuchter) russischer Reisender hin.214 3.4.3. (Streckennetz-)Karten Neben diesen impliziten räumlichen Bezügen im Werbeteil, die weit über die Grenzen des Zarenreichs hinaus wiesen, fanden in den 1860er Jahren unterschiedliche Modelle räumlicher Repräsentation des Russländischen Reiches Eingang in russische Kursbücher, die wechselseitig aufeinander verwiesen. Als erstes ist hier die Land- bzw. Streckennetzkarte zu nennen, die in keinem guten Kursbuch fehlen durfte. Bei der Streckennetzkarte handelt es sich um eine auf die Bedürfnisse 212 Putevoditel’ po Rossii i za graniceju 201872. Der Frooms Railway Guide – Ukazatel’ „Frum“ aus dem Jahr 1875 (11. Jg., Nr. 82) informierte seine Leser zudem über die Gültigkeit verschiedener Ortszeiten im Zarenreich, über Adressen von Versicherungsgesellschaften, die Geburts- und Namenstage der Mitglieder der Kaiserlichen Familie, Adressen der Ministerien in St. Petersburg, Namen der Mitarbeiter des Verkehrsministeriums sowie über die Durchschnittsgeschwindigkeit der Eisenbahnen in verschiedenen europäischen Ländern im Vergleich. 213 Frooms Railway Guide – Ukazatel’ „Frum“ 111875, Nr. 82. 214 Vgl. exemplarisch den Anhang mit Werbung im Putevoditel’ po Rossii i za graniceju (201872) oder im Frooms Railway Guide – Ukazatel’ „Frum“ (111875, Nr. 82). Letzterer enthielt zudem einen kleinen Reiseführer für ausgewählte Städte im westlichen Europa mit Informationen zu deren Verkehrsanbindung, Sehenswürdigkeiten etc. ebd. S. 250–357.
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von Zugreisenden zugeschnittene grafische Darstellung eines bestimmten Territoriums sowie der dort gebauten Eisenbahnlinien für den öffentlichen Betrieb.215 Hervorgegangen ist dieses spezielle Genre der Verkehrskarte offenbar aus entsprechendem Kartenmaterial, das für die Planung und Trassierung von Eisenbahnlinien und -netzen entworfen wurde. Wie sich an älteren Kursbüchern aus dem westlichen Europa, so zum Beispiel am englischen Bradshaw’s Railway Companion aus dem Jahr 1841 zeigen lässt, experimentierten die Herausgeber entsprechender Reiseliteratur anfangs noch mit älterem und relativ detailliertem Kartenmaterial, in das neu gebaute Eisenbahnlinien lediglich mit einer etwas dickeren schwarzen Linie eingezeichnet wurden. Topografische Details, die für die Planung einer Zugreise nicht von Bedeutung waren, wie z.B. kleinere Städte ohne Gleisanschluss, Nebenstraßen, nicht-schiffbare Wasserläufe oder administrative Binnengrenzen, waren in diesen Karten noch verzeichnet.216 Das Kartenmaterial, das den ersten russischen Kursbüchern aus den späten 1860er bzw. frühen 1870er Jahren beigefügt war, unterschied sich deutlich von diesen Vorläufern aus dem westlichen Europa. So enthielt beispielsweise der Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam in der Ausgabe vom März 1872 eine Streckennetzkarte, die sich auf die Wiedergabe jener topografischer Informationen beschränkte, die für die Planung einer Bahnreise bzw. für die räumliche Orientierung eines Passagiers während der Fahrt relevant waren.217 Der gewählte Karten215 Die Geschichte der Streckennetzkarte als Medium der Raumrepräsentation ist noch weitgehend unerforscht. Zu Karten europäischer Infrastrukturnetze des 20. Jahrhunderts als historische Quellen: Alexander Badenoch: Myths of the European Network: Construction of Cohesion in Infrastructure Maps, in: ders.; Andreas Fickers (Hg.): Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe, New York 2010, S. 47–77. Eine faszinierende Karten-Sammlung und erste Überlegungen zur Geschichte der Eisenbahnkarte finden sich in: Mark Ovenden: Great Railway Maps of the World, London 2011. – Bereits im 19. Jahrhundert forderten russische Ingenieure, die neuen Formen der kartografischen Darstellung von Verkehrsräumen im Eisenbahn-Zeitalter zum Gegenstand einer neuen Wissenschaftsdisziplin zu machen, die sie „Sidero-Dromographie“ (Abgeleitet von „sideros“ (griech.: „Eisen“) und „dromos“ (griech.: „Weg, Straße“) nannten. Vgl. Destuševskij: Novyj opyt železnodorožnoj geografii Rossii, in: Železnodorožnoe delo 17 (1898), Nr. 13–14, S. 163–167. 216 Bradshaw’s Railway Companion: Containing the Times of Departure, Fares, &c. of the Railways in England, and also Hackney Coach Fares from the Principal Railway Stations, Manchester 1841, S. 4. Vgl. auch: R. A. Schulz’s neue praktische Reisekarte mit Angaben der Distanzen, Wien 1846. 217 Karta Rossijskich železnych dorog. 1872 (= Beilage des Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam, s priloženiem karty železnodorožnych soobščenij, Moskva 1872). – In Deutschland waren Karten dieser Art spätestens seit den 1850er Jahren in Gebrauch. Vgl. Eisenbahn- und Post-Routen Karte zu Hendschel’s Telegraph, Übersicht der Eisenbahn-, Post-, Dampfschiffund Telegraphenverbindungen Deutschlands und der angrenzenden Länder, bearbeitet von U. Hendschel, Frankfurt 1856 (Repr. 1976). – Als Vorläufer dieser deutschen Streckennetzkarten kann die Skizze Das deutsche Eisenbahnsystem betrachtet werden, die Friedrich List seiner Broschüre Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems aus dem Jahr 1833 beilegen ließ. List hat auf diesem Kartenentwurf nur die nördlichen Küstenlinien Mitteleuropas sowie die wichtigsten Flüsse eingezeichnet und auf der ansonsten weißen Fläche nur jene Städte vermerkt, die er für Knotenpunkte eines zukünf-
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ausschnitt zeigt das mittel- und osteuropäische Schienennetz im Jahr 1872 von Wien im Westen, Helsingfors im Norden, Ekaterinburg im Osten und Petrovsk an der Westküste des Kaspischen Meeres im Süden (Abb. 4). Eingezeichnet sind neben den bereits gebauten und in Betrieb befindlichen Strecken (mit kräftigen, schwarzen Linien) auch Bahnlinien, die sich noch in Planung bzw. im Bau befanden (markiert mit gestrichelten Linien). Das von der Struktur schwarzer Linien durchzogene Territorium wird als eine durchgehende weiße Fläche gezeigt, die nur von den Außengrenzen der Imperien, den Wasserläufen der großen FlussSysteme sowie den wichtigsten Gebirgszügen im Osten (Ural) und Süden (Kaukasus) durchbrochen und strukturiert wird. Städte, die 1872 noch außerhalb des Einflussgebietes einer Eisenbahnlinie lagen, sind in der Karte nur in Ausnahmefällen verzeichnet. Andere Orte, deren Bedeutung sich vor allem aus der Tatsache herleitete, dass sie sich an einem Kreuzungspunkt zweier Bahnlinien befanden, wie z.B. Dünaburg oder das Dorf Bologoe an der Schnittstelle der Bahn von Petersburg nach Moskau mit jener nach Rybinsk (an der Wolga), verzeichnete die Karte dagegen auf ähnliche Weise wie Gouvernement-Hauptstädte und wertete sie so zu neuen Orientierungspunkten im russländischen Kartenraum auf. Als Zentrum des Netzes ist auf der Karte mit Hilfe eines weißen Kreises mit schwarzem Punkt in der Mitte die Stadt Moskau markiert, deren Bedeutung dadurch über jene von St. Petersburg, der Hauptstadt des Imperiums, gehoben wird.218 Die Berücksichtigung von Bahnlinien, die sich noch im Bau oder in Planung befanden, verlieh dem dargebotenen Raumbild schließlich einen prospektiven Charakter. Reisende konnten sich mit dieser Karte nicht nur ein Bild davon machen, welche Städte und Regionen in der Gegenwart mit Hilfe des Zuges zu erreichen waren. Zugleich ließ sich mit diesem Material gleichsam in die Zukunft blicken, und man konnte in Gedanken bereits Pläne für Fahrten nach Perm, Orenburg oder Vladikavkaz schmieden. Dadurch überlagerten sich Bilder vom gegenwärtigen Russland als integriertem Verkehrsraum, wie sie Werke der russischen Reiseliteratur der 1860er/70er Jahre zeichneten, mit Zukunftsvisionen, die Verkehrsplaner in der gleichen Zeit von der verkehrstechnischen Entwicklung des Landes entwarfen.219 Neben diesem Modell der kartografischen Darstellung des russländischen Schienennetzes, das sich in der Folgezeit in den meisten Verkehrskarten russischer Reiseführer in dieser oder einer ähnlichen Form durchsetzen sollte, experimentierten Kartografen in den späten 1860er Jahren auch noch mit anderen Mustern der kartengestützten Raumrepräsentation. So finden sich beispielsweise im Putevoditel’ po Rossii aus dem Jahr 1868 neben einer relativ detaillierten topografischen Karte des europäischen Russland, in die gebaute bzw. im Bau befindliche und geplante Eisenbahnlinien eingezeichnet waren, Darstellungen von Streckentigen Schienennetzes in Deutschland hielt. Die Punkte auf der Karte verband er schließlich mit geraden Linien. Vgl. List, Über ein sächsisches Eisenbahnsystem, S. 189 (Kartenbeilage). 218 Aufgrund seiner zentralen geografischen Lage und ökonomischen Bedeutung hatte sich Moskau bereits in den 1860er Jahren zum Mittelpunkt des Schienennetzes im europäischen Russland entwickelt. Anfang des 20. Jahrhunderts verfügte die Stadt über zehn Kopfbahnhöfe, von denen entlang radialer Achsen Eisenbahnlinien in alle Himmelsrichtungen abgingen. 219 Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.
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profilen jener Linien, die für den Personenverkehr zur Verfügung standen (Abb. 5).220 Diese Bilder zeigen die einzelnen Bahnlinien des Zarenreiches isoliert voneinander in separaten tabellenähnlichen Zeichnungen. Das Zentrum der jeweiligen Darstellung bildet eine gerade, vom oberen zum unteren Bildrand vertikal verlaufende Linie, die den entsprechenden Schienenstrang symbolisiert. Die Gerade wird durchbrochen von kleinen schwarzen Kästchen, die auf die Bahnhöfe und Haltepunkte auf der Strecke verweisen und deren Namen auf der rechten Seite des „Schienenstrangs“ verzeichnet sind. Auf der linken Seite der Linie sind zwischen den schwarzen Kästchen mit kleinen Zahlen die Entfernungsangaben zwischen den Haltepunkten (in Werst) vermerkt. Dünne gestrichelte Linien, die horizontal von einzelnen Punkten auf der „Bahnstrecke“ zum linken Bildrand verlaufen, verweisen auf Gouvernements- bzw. Distrikts- (uezd) Grenzen, die die Bahnlinie kreuzt. Neben diesen im Territorium unsichtbaren administrativen Grenzen weist die Kartenzeichnung auch auf wahrnehmbare topografische Orientierungspunkte hin. So sind entlang des Streckenverlaufs der Bahn die Kreuzungspunkte mit größeren Flüssen und Straßen eingezeichnet, deren Namen und der durch sie angebundenen Orte ebenfalls notiert sind. In einer Spalte am rechten Bildrand findet sich schließlich eine vertikale Zahlenreihe, mit deren Hilfe sich die Entfernung eines Zuges zum Ausgangs- bzw. Zielpunkt der Strecke exakt beziffern ließ. In diesem Kartenbild, das sich vom Anspruch der maßstabsgetreuen Darstellung einer Eisenbahnlinie und deren Trassierung im Territorium gelöst hat, finden sich gleich mehrere Topoi der veränderten Raumwahrnehmung des Eisenbahnzeitalters wie in einem Brennspiegel gebündelt wieder. Erstens ist auf die Darstellung des Schienenstrangs als gerade, wie mit dem Lineal in die Landschaft gezeichnete Linie hinzuweisen. Auch wenn zahlreiche russische Zugreisende ihre Fahrt mit der čugunka mit dem Flug eines Pfeils durch den Raum verglichen und der Verlauf der Bahnlinie von Petersburg nach Moskau vielen Zeitgenossen an eine in den Raum gelegte Gerade erinnerte, so entsprach die Darstellung von Eisenbahnen als ungekrümmte Linie mehr einem abstrakten Denkbild als einer mimetischen Repräsentation territorial-räumlicher Strukturen.221 Zweitens fällt der „Tunnelblick“ des hier entworfenen Raumbildes ins Auge. Vergleichbar der Darstellung der Sehenswürdigkeiten entlang einer Bahnlinie in Reiseführern für Zugpassagiere aus den 1850er Jahren wird in diesem Kartenbild die Topografie jenseits des Schienenstrangs komplett ausgeblendet. Der Orientierung im Raum dienen, wie in den zeitgenössischen Reiseführern, zum einen die Angaben der Entfernung eines Punktes auf der Strecke zum letzten Bahnhof (bzw. zum Ausgangsund Zielpunkt der Linie) und zum anderen die Kreuzungspunkte mit anderen Wege- und Verkehrsnetzen (Straßen, Flüsse). Drittens bringt diese abstrakte Darstellung von Teilen des russländischen Verkehrsraums die Idee von der rationalen Gestaltung und Gliederung territorial-räumlicher Strukturen im technischen Zeitalter auf den Punkt. Die tabellenförmige Darstellung, die von vertikalen und horizontalen Linien dominiert wird, evoziert das Bild von der Unterwerfung der Natur 220 Putevoditel’ po Rossii, č. I. Železnyja dorogi, Sankt Peterburg 21868. 221 Vgl. dazu auch Kap. 2.1.
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durch den menschlichen Geist und von der Regelhaftigkeit, die die Funktionsweise des maschinellen Ensembles der Eisenbahn idealiter bestimmte. Lediglich die Flüsse und Straßen, die, angedeutet von kurzen gekrümmten Linien, den geraden Schienenstrang kreuzen, erinnern noch an den „Rest“ der „natürlichen“ Umgebung, die den Gesetzen menschlicher Rationalität noch nicht unterworfen waren. 3.4.4. Der Fahrplan Die Raumbilder der tabellarischen Streckenprofile im Putevoditel’ po Rossii aus dem Jahr 1868 korrespondierten mit einem zweiten Modell räumlicher Repräsentation, das ein wichtiger Bestandteil auch dieses Kursbuches war – dem Fahrplan. Anders als Streckennetzkarten oder Streckenprofile dokumentieren Fahrpläne die Lagerelation geografischer Orte nicht nur hinsichtlich ihrer räumlichen, sondern zugleich ihrer zeitlichen Distanz. Anders als beim Reisen mit der Postkutsche eröffnete sich Zugpassagieren erstmals die Möglichkeit, jene Zeit, die für die Überwindung einer geografischen Entfernung erforderlich war, mit Hilfe eines Fahrplans genau vorherzusagen.222 Die Berechenbarkeit der Stunden und Minuten, die die Durchquerung des geografischen Raums „kostet“, gehörte auch in Russland zu den Schlüsselerfahrungen des Eisenbahnzeitalters. Kein anderes Medium brachte dieses Versprechen der technischen Moderne besser zum Ausdruck als der Eisenbahnfahrplan, er war „the sacred text at the ritual centre“.223 Zugfahrpläne in Kursbüchern informierten ihre Leser über Namen jener Orte, die an das Streckennetz der Eisenbahn angebunden waren, lokalisierten diese auf bestimmten Eisenbahnlinien (maršruty), und gaben Auskunft über die Abfahrts- und Ankunftszeiten aller Züge, die auf diesen Strecken verkehrten. Die Lokalisierung eines Ortes im entsprechenden Raumbild erfolgte nicht mit Hilfe eines Koordinatensystems von Längen- und Breitengraden, sondern mit Hilfe eines Streckennetzplans, dessen einzelne Teilstücke mit Zahlen versehen waren, die wiederum auf die Ordnungsnummern der Bahnlinien im Fahrplan verwiesen. Die Distanz zweier Orte ermittelte sich nicht mehr ausschließlich über deren geografische Entfernung, sondern zudem über die Faktoren Zeit und Geld. Die Dauer einer geplanten Reise ließ sich, so das Versprechen der Eisenbahn, mit Hilfe eines Fahrplans auf die Minute, der Preis einer Fahrt auf die Kopeke genau berechnen. Der Fahrplanteil russischer Kursbücher war in der Regel in einzelne Abschnitte untergliedert, die jeweils über die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Personenzüge einer bestimmten Bahnlinie bzw. Bahngesellschaft informierten. Die Herausgeber ordneten die Fahrplantabellen als ausschnitthafte Raumbilder entwe222 Einschränkend ist hier zu erwähnen, dass mit der Einführung von Eilwagen und Schnellpost zu Beginn des 19. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern bereits der Anspruch der der exakten Berechenbarkeit der Reisezeit einer Postkutsche erhoben wurde. Darauf weist am deutschen Beispiel Klaus Beyrer hin: Die Postkutschenreise, Tübingen 1985, S. 235–248, insbes. S. 244, 247; ders.: Eilwagen und Schnellpost, in: ders. (Hg.): Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600–1900, Karlsruhe 1992, S. 189–197. 223 Beaumont, Freeman, Introduction: Tracks to Modernity, S. 19.
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der alphabetisch – nach dem Namen der Strecke bzw. des Betreibers – oder geografisch – nach der von der Bahnlinie erschlossenen Großregion (europäisches Russland, asiatisches Russland, Finnland etc.).224 Die Fahrpläne selbst waren, gemäß internationalem Standard, meist in Tabellenform gestaltet und führten in einer Spalte die Namen der Haltepunkte einer Bahnstrecke in der Reihenfolge ihrer Lage entlang des Schienenstrangs in vertikaler Ordnung auf. Daneben fand sich in der Regel für jeden auf der Strecke regelmäßig verkehrenden Personenzug eine Spalte, in der die Uhrzeiten von dessen Ankunft und Abfahrt an einem jeden Haltepunkt verzeichnet waren.225 So vermittelte der Fahrplan den Eindruck, mit seiner Hilfe ließe sich genau bestimmen, welche Züge eines Verkehrssystems sich zu einer bestimmten Uhrzeit an welchem Ort des Streckennetzes befanden. Dem Leser eines Fahrplans wurde dadurch der Eindruck eines panoptischen bzw. totalisierenden Blicks auf einen komplexen Verkehrsraum und dessen innere Dynamik vermittelt. In kaum einem anderen Medium kamen die Phantasien des technischen Zeitalters, die von der Disziplinierung von Raum und Zeit durch den menschlichen Geist kündeten, besser zum Ausdruck als im chronotopischen Bild des modernen Zugfahrplans. Als drittes, weitaus weniger komplexes Raumbild, das in russische Kursbücher Eingang fand, lassen sich Tabellen geografischer Orte des Imperiums benennen, die dem Leser Auskunft über deren Entfernungen (gemessen in Werst oder in benötigter Reisezeit) nach St. Petersburg bzw. Moskau sowie über den Preis gaben, der für die Überwindung dieser Distanzen zu veranschlagen war.226 Im Zuge 224 Einzelne Kursbücher wiesen zudem die Fahrpläne des Vorortverkehrs der großen Metropolen sowie die Fahrpläne für den durchgehenden, überregionalen Verkehr (prjamoe passažirskoe soobščenie) gesondert aus. So informierte der Oficial’nyj ukazatel’ aus dem Jahr 1897 seine Leser beispielsweise in einem ersten Teil über Vorortverbindungen, in einem zweiten über die Fahrpläne der Bahnen im europäischen, im dritten über die Züge im asiatischen Russland und abschließend in einem vierten Abschnitt über die Verkehrszeiten der Züge in Finnland. In einem früheren, von privater Seite herausgegebenen Werk, waren die Fahrpläne gemäß einer gedachten Reise von St. Petersburg nach Moskau und von dort ausgehend nach einzelnen Himmelsrichtungen (južnye dorogi, central’nyja dorogi, zapadnyja dorogi etc.) geordnet. Vgl. Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam 141885 (Januar), S. 65–189. Lohnend erscheint ein systematischer Vergleich der „Regionalisierung“ des russländischen Eisenbahnnetzes in Kursbüchern mit Entwürfen territorial-räumlicher Gliederung des Zarenreiches in Geografielehrbüchern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, die Marina Loskutova untersucht hat. Vgl. dies.: A Motherland with a Radius of 300 Miles: Regional Identity in Russian Secondary and Post-Elementary Education from Early Nineteenth Century to the War and Revolution, in: European Review of History – Revue européenne d’histoire 9 (2002), Nr. 1, S. 7–22; dies.: S čego načinaetsja rodina? Prepodavanie geografii v dorevoljucionnoj škole i regional’noe samosoznanie (XIX – načalo XX v.), in: Ab Imperio, 3/2003, S. 159–198 und Evgenija I. Kiričenko: Prirodno-ėkonomičeskaja koncepcija rajonirovanija Rossii i izučenie gorodov, in: Gradostroitel’stvo Rossii, Bd. 1, S. 78–81. 225 Zudem war in Fahrplänen notiert, ob der entsprechende Zug täglich oder nur an bestimmten Tagen der Woche verkehrte und ob er Wagen aller Klassen bzw. Waggons mit Damen- und Nichtraucher-Abteilen führte. 226 Vgl. exemplarisch: Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam 141885, S. 190f.; Sputnik po Rossii – Coursbuch für Russland, 1888, S. 222–228.
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der voranschreitenden verkehrstechnischen Erschließung des Zarenreiches nahm die Anzahl der in diesen Listen verzeichneten Städte immer weiter zu. Dem Betrachter dieser Tabellen erschloss sich mit einem Blick, welche Städte bereits in das Schienennetz einbezogen waren. Mit dem Bau der großen TranskontinentalBahnen rückte seit den 1880er Jahren die imperiale Peripherie aus dieser Perspektive immer näher an das Zentrum des russländischen Verkehrsraumes heran: Die Überwindung der Entfernung von St. Petersburg nach Irkutsk war nach der verkehrstechnischen Anbindung Sibiriens aus dieser Perspektive ebenso klar kalkulierbar wie eine Reise von Moskau nach Nižnij Novgorod. Anders als vergleichbare Entfernungstabellen in den Kursbüchern für Kutschenreisende aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde Russland in Fahrplanbüchern des Eisenbahnzeitalters zunehmend als ein homogener, nach einheitlichen und rationalen Kriterien strukturierter Verkehrsraum entworfen. 3.4.5. Die Wirkung von Raumbildern des Eisenbahnzeitalters Wie stark die hier diskutierten Raumbilder in russischen Kursbüchern aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die kognitiven Karten russischer Reisender geprägt haben, ist schwer abzuschätzen. Der Gebrauch von Fahrplänen und die Lektüre von Streckennetzkarten dürfte vor allem die Reisepraktiken von Menschen aus den gebildeten Kreisen der russländischen „Gesellschaft (obščestvo)“ beeinflusst haben. Passagieren aus den ärmeren Schichten, insbesondere jenen, die des Lesens nicht kundig waren, blieb das komplizierte Zeichensystem in Kursbüchern dagegen verschlossen. Die Planung einer Reise und die Berechnung des Preises einer Fahrkarte war für diese Menschen nur mit Hilfe eines Bahnbediensteten möglich. Auf die Vorstellungen, die sich russische Passagiere aus gebildeten Kreisen vom Territorium des Zarenreiches gemacht haben, übten die in Fahrplänen und Verkehrskarten vermittelten Raumbilder jedoch vermutlich einen großen Einfluss aus. Schließlich wurden russische Zugpassagiere nicht nur in Kursbüchern mit Streckennetzkarten konfrontiert. Seit 1886 waren Bahngesellschaften im Zarenreich gesetzlich verpflichtet, die Warteräume in Bahnhöfen für die erste und zweite Klasse mit Wandkarten des imperialen Verkehrswegenetzes auszustatten.227 Karten dieser Art entsprachen im Wesentlichen dem Muster der oben diskutierten Beilage des Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam vom März 1872. Sie zeigten das Territorium des Zarenreiches als weiße Fläche, die von einem Netz kräftiger Linien durchzogen und strukturiert war.228 Den Betrachtern 227 Postanovlenie Ministra Putej Soobščenija vom 30.11.1886, Nr. 10771. Vgl. Sistematičeskij sbornik dejstvujuščich na russkich železnych dorogach uzakonenij i rasporjaženij pravitel’stva, Bd. 1, S. 63. Bereits Ende der 1870er Jahre fanden sich vereinzelt Streckennetzkarten an den Wänden der Wartesäle russischer Bahnhöfe. Vgl. Doklad o passažirskom dviženii, S. 26. 228 Vgl. exemplarisch: Schema rossijskich železnych dorog. Izd. I. F. Zauera (Po poručeniju 1-go očerednago Obščago S’ezda Predstavitelej russkich železnych dorog po tarifnym voprosam), Nojabr’ 1890 g. [= RNB K 3-Ross/362 6].
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präsentierte sich die gewaltige Landmasse des Zarenreiches in diesem Kartenbild als Fläche, die keine administrativen Binnengrenzen kannte und weder auf die geografische noch die ethnografische, historische oder kulturelle Vielfalt des Landes verwies. Wie die oben analysierte Karte aus dem Kursbuch von 1872 waren auf den Wandkarten der Wartesäle russischer Bahnhöfe seit den 1880er Jahren auch Strecken (mit gestrichelten bzw. gepunkteten Linien) eingezeichnet, die sich noch im Bau bzw. in Planung befanden. Es war somit in gewisser Weise auch hier ein räumliches Wunsch- und Zukunftsbild, auf das der Blick der wartenden Passagiere in den Bahnhöfen des Zarenreiches gegen Ende des 19. Jahrhunderts fiel. Dass Streckennetzkarten populäre Raumvorstellungen von Russland im späten 19. Jahrhundert nachhaltig prägten, lässt sich exemplarisch am Beispiel eines Werbeplakats für die russische Biermarke „Kalinkin“ aus dem Jahr 1903 verdeutlichen (Abb. 6). Die Chromolithografie eines unbekannten Petersburger Künstlers zeigt im Zentrum eine Frauengestalt mit langen, dunklen, zu einem Zopf gebundenen Haaren in folkloristischem Gewand. In ihrer rechten Hand hält sie einen mit dem Wappen des Zarenreiches geschmückten Kranz. Mit der Linken hebt die Figur, als wolle sie auf das Wohl des Betrachters anstoßen, ein schlankes, gefülltes Bierglas. Rechts von der Frau ist eine Flasche des beworbenen Getränks zu sehen, die ein russischer Doppeladler ziert. Die Frauenfigur und die Flasche an ihrer Seite erheben sich in überdimensionaler Größe von der Oberfläche einer Erdkugel, die von einem Gradnetz überzogen ist. Die Komposition wird umrahmt von einer Himmelsdarstellung, die der Künstler, gleich einem Sternenzelt, mit den Punkten und Linien einer „Streckennetzkarte“ des russischen Eisenbahnsystems geschmückt hat. Eine aufgehende Sonne im Rücken der Frauengestalt verleiht der Figur eine noch größere Strahlkraft. Am unteren Bildrand ist schließlich – unterlegt von einer Kette bauschiger, weißer Wolken – der Markenname des angepriesenen Bieres zu lesen. Diese komplexe Bildquelle ist hier vor allem hinsichtlich des im Hintergrund entworfenen Bildes von Russland als integrierter Verkehrsraum sowie dessen vielfältigen Bezüge zu anderen Elementen der Raumrepräsentation in dieser Komposition von Interesse. Bereits auf den ersten Blick fällt auf, dass sich der Künstler bei der Zeichnung des Streckennetzes nicht um geografische Genauigkeit bemüht hat. So stimmen weder die Lagerelationen der eingezeichneten Städte noch deren Entfernungen mit der Darstellung auf topografischen Karten überein. Auch die skizzierten Verbindungen zwischen den Punkten des Netzes waren eher der Phantasie des Künstlers entsprungen als einer Verkehrskarte des Zarenreiches entlehnt. Beide Details unterstreichen, dass es dem Zeichner offenbar mehr auf die Skizze eines idealisierten Raumbildes als auf das Abbild der geografischen „Wirklichkeit“ ankam. In diesem Punkt zeigen sich deutliche Übereinstimmungen mit den oben analysierten Streckennetzkarten aus Reiseführern und Kursbüchern. Auch das Werbeplakat zeigt das Territorium des Zarenreiches als grenzenlosen, homogenen Raum, der von einem Netz blauer Linien strukturiert und zusammengehalten wird. Linien, die an den linken und rechten Bildrand führen, deuten an, dass das Imperium zu groß war, um Platz auf einem so kleinen Werbeplakat zu
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finden. Gleichzeitig weisen die Verkehrsadern auf die Einbindung des russländischen Schienennetzes in das System europäischer und globaler Verkehrsströme hin. Die Auswahl der Städte, die bei der Zeichnung des „Streckennetzes“ als Knotenpunkte Berücksichtigung fanden, stellt Russland vor allem als ökonomischen Raum, d.h. integrierten und vernetzten Binnenmarkt vor. Neben den Hafenstädten Reval, St. Petersburg und Odessa nahm der Zeichner Zentren der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion (Moskau, Tula, Baku, Vil’na, Kiev, Voronež) sowie bedeutsame Umschlagplätze des Binnenhandels (Nižnij Novgorod, Samara, Saratov, Penza) in seine Darstellung auf.229 Dieser ökonomische Fokus mag bei einem Werbeplakat, dessen Ziel es war, für ein bestimmtes Produkt den nationalen Markt zu erobern, nicht weiter erstaunen. Bemerkenswert sind jedoch daneben die Bezüge der in das Streckennetz eingeschriebenen Raumvorstellungen zu den anderen Bildelementen des Plakats. Da ist zum einen die zentrale Frauenfigur zu nennen, zweifelsohne eine allegorische Darstellung Russlands, die – vergleichbar einer französischen Marianne oder deutschen Germania – das Zarenreich als reines, vollkommenes und für den männlichen Betrachter begehrenswertes weibliches Wesen zeigt. Insbesondere die folkloristische Tracht unterstreicht, dass es sich bei dem von Verkehrsnetz und Frauenkörper symbolisierten Raum um ein kulturell geformtes, nationales Territorium handelte. Zum anderen ist die Präsenz von Herrschaftszeichen der Zarenmacht auf dem Werbeplakat augenfällig. So verweist der Doppelkopfadler auf der Glasflasche am rechten Bildrand auf den imperialen und autokratischen Charakter von Herrschaft im Russländischen Reich. Dieses Motiv findet sich auf den Schmuckwappen des Kranzes in der linken Bildhälfte – vermutlich Auszeichnungen des beworbenen Produkts auf drei nationalen Leistungsschauen oder landwirtschaftlichen Messen – wieder. Das von ökonomischen und technischen Aspekten dominierte Raumbild der Streckennetzkarte findet so in anderen Elementen der Darstellung seine kulturell-nationale bzw. politische Ergänzung. In der Wunschvorstellung mancher Werbestrategen und Freunde des Biergenusses war Russland um die Jahrhundertwende ein „geeintes, unteilbares Ganzes“ und zwar in ökonomischer, kultureller und politischer Hinsicht. 3.4.6. Die ersten Eisenbahnreiseführer für das ganze Reich Mit dem Einzug von Streckennetzkarten in die Wartesäle der Bahnhöfe des Zarenreiches vervollständigte sich in den 1880er Jahren auch in den Reiseführern für Eisenbahnpassagiere das Bild Russlands als zusammenhängender Verkehrsraum. Im Zuge der voranschreitenden infrastrukturellen Erschließung des Imperiums kamen in Russland Handbücher auf den Markt, die nicht nur Informationen über Sehenswürdigkeiten entlang einzelner Bahnlinien darboten, sondern ihre Leser mit entsprechenden Angaben zu den wichtigsten Orten des ganzen Landes versorgten. Eine der ersten Publikationen dieser Art, der Sputnik po glavnym goro229 Zum Bild Russlands als Binnenmarkt in Diskursen russischer Verkehrsplaner vgl. Kap. 2.2.
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dam i lečebnym mestnostjam Rossii, erschien 1884 (in zweiter Auflage) in St. Petersburg.230 Das Handbuch richtete sich in erster Linie an Geschäftsreisende (lica raz’ezžajuščija po Rossii po torgovym delam), denen nützliche Informationen für ihre Fahrten im eigenen Land an die Hand gegeben werden sollten. Im Zentrum des Nachschlagewerkes stehen kurze Abhandlungen über die wichtigsten Städte des Zarenreiches mit Angaben über deren geografische Lage, Bevölkerungszahl, Wirtschaftsstruktur und Entfernung nach St. Petersburg bzw. Moskau. Es ist das Bild eines gegenwarts- und zukunftsorientierten und gleichsam geschichtslosen Landes, das der Reiseführer entwirft: Während in den Städteportraits Ausführungen über die Lokalgeschichte fehlen, geben sie Auskunft über Hotels, Restaurants, Bäder, lokale Zeitungen, Vergnügungseinrichtungen sowie Adressen von Anwälten, Notaren, Ärzten und Fabriken. In der Einleitung wird das Russländische Reich als „mächtiger Riese (moščnyj velikan)“ und – nach dem British Empire – als zweitgrößtes Land der Erde vorgestellt. Ungeachtet seiner territorialen Ausdehnung – „ein Sechstel der Erdoberfläche“, „doppelt so groß wie Europa“ – und der Vielzahl an Völkern und religiösen Gruppen, die innerhalb der Landesgrenzen leben, sei Russland ein „einziges, unteilbares Ganzes (odno edinoe nerazdel’noe celoe)“.231 Die These der territorialen Integration des Zarenreiches wird dabei mittels einer detaillierten Beschreibung des russländischen Eisenbahnnetzes untermauert. Russland, so heißt es, verfüge über ein Streckennetz in einer Gesamtlänge von 24.000 Werst, dessen Zentrum sich in Moskau befinde. Von dort stünden dem Reisenden Verkehrswege in alle Himmelsrichtungen zur Verfügung. Auch der russische Norden, der Kaukasus, das Trans-Ural-Gebiet und Zentralasien seien bereits von den Schienensträngen des modernen Verkehrsmittels erschlossen. Der Sputnik aus dem Jahr 1884 und die Vielzahl vergleichbarer Reiseführer, die in den Folgejahren in Russland erschienen, sind in zweierlei Hinsicht interessante Quellen.232 Zum einen dokumentieren sie die voranschreitende verkehrs230 Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, Sankt Peterburg 21884, S. 6. – 1883 erschien in Leipzig auch das erste „Handbuch für Reisende für West- und Mittelrussland“, hg. von Karl Baedeker. Die zweite Auflage des „Handbuchs“ aus dem Jahr 1888 deckte bereits ganz „Russland“ ab. 1912 erlebte der „Russland-Baedeker“ bereits seine siebte Auflage. – Zahlreiche Reiseführer des Baedeker-Verlages wurden auch ins Russische übersetzt, so z.B. das Handbuch für Reisende Königreich Polen (Sankt Peterburg 1913–14). – 1910 wurden die Leitungen der Eisenbahngesellschaften des Zarenreiches vom Verkehrsministerium dazu aufgerufen, Reiseführer für ihre Kunden nach dem Vorbild des Baedeker herstellen zu lassen. Cirkuljar Upravlenija Železnych Dorog 26 avgusta 1910 g., Nr. 22087/132, in: L. Timofeev: Objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii po žandarmsko-policejskoj časti, Sankt Peterburg 21912, S. 133f. 231 Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 1. Der Beschreibung der Vielzahl ethnischer Gruppen des Zarenreiches ist ein eigener Abschnitt des Buches (S. 10– 25) gewidmet. 232 Putevoditel’ po Rossii. Karmannoe izdanie. Sostavlen po oficial’nym svedenijam. Polnoe soderžanie železnodorožnych i parochodnych soobščenij po vsej Rossii. S priloženiem železnodorožnoj karty so vsemi neobchodimymi svedenijami, hg. von Tilli, Moskva 61893 (1. Auflage: 1891); Sputnik po rossijskim železnym dorogam. Rajon 1–20, Sankt Peterburg 1891;
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technische Erschließung des Zarenreiches gegen Ende des 19. Jahrhunderts und die Zunahme territorialer Mobilität der wirtschaflichen Elite des Landes. Zum anderen spiegeln sie, ähnlich wie Streckennetzkarten oder Kursbücher, ein ganz spezifisches Raumbild des Zarenreiches wider. Es ist das Bild eines Landes, das ungeachtet seiner Größe und seiner geografischen und ethnografischen Vielfalt, eine räumliche Einheit bildet. Der hier entworfene Raum kennt wie die oben analysierten Streckennetzkarten keine Binnengrenzen. Die Städteportraits im Sputnik aus dem Jahr 1884 bzw. in anderen vergleichbaren Reiseführern sind nicht nach Gouvernements oder geografischen Großregionen gegliedert, sondern in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt.233 Wenngleich einige Reiseführer ihre Leser mit knappen historischen Informationen zu einzelnen Orten des Landes versorgten, so überwiegt in den meisten Handbüchern eine auf gegenwärtige bzw. zukünftige sozial-räumliche Strukturen des eigenen Landes ausgerichtete Perspektive. Auffallend ist schließlich, dass sich alle Reiseführer, die den Anspruch erhoben, ihre Leser über ganz Russland zu informieren, auf die Betrachtung von Städten konzentrierten, genauer gesagt auf Städte, die mit der Eisenbahn oder dem Dampfschiff erreichbar waren. Folglich ist es das Bild eines „urbanen“ Russland, das sich den Lesern dieser Reiseführer präsentiert. Weder für die Welt des russischen Dorfes noch für historische, landschaftliche oder kulturelle Sehenswürdigkeiten auf der Wegstrecke zwischen zwei Städten hatten die Autoren dieser Bücher einen Blick. Der Raum zwischen den Haltepunkten des Eisenbahnsystems war in diesem Bild gleichsam aufgehoben. Die Prophezeiung des Eisenbahnzeitalters von der Vernichtung des Raumes und der Zeit ging hier in besonderer Weise in Erfüllung. Auffallend ist schließlich, dass Russland – „unser gewaltiges Reich (obširnaja naša imperija)“234 – dem Leser in den hier betrachteten Reiseführern weniger als politischer denn als ökonomisch integrierter Raum gegenüber tritt. In dem hier entworfenen Raumbild gibt es keine Kasernen, Gefängnisse oder Garnisonen. Die markanten Orte auf der kognitiven Landkarte bilden die Städte, Häfen und ökonomischen Zentren des Landes mit ihren jährlichen Messen und ihren Hotels, Restaurants, Fabriken und touristischen Sehenswürdigkeiten. Das Land scheint hier weniger durch die Herrschaft eines Monarchen und dessen bürokratischen Apparat im fernen St. Petersburg zusammengehalten als durch ein landesweites Schienennetz, durch Fahrpläne und einheitliche Tarife für Transport und Kommunikation via Eisenbahn, Dampfschiff, Post und Telegrafie. Neben diesen Reiseführern für das ganze Zarenreich wurden gegen Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland auch weiterhin Handbücher für Zugpassagiere vertrieben, die Informationen über einzelne Bahnlinien bzw. regionale Streckennetze enthielten. Publikationen dieser Art wandten sich, wie die Sputnik po Rossii s opisaniem gorodov, hg. von S. V. Kozočikin, Moskva 1896; Po Rossii. Putevoditel’ po vsej Rossii. Sputnik i spravočnik. Izdanie N. I. Ignatova. Sankt Peterburg 1901. 233 Eine Ausnahme bildete hier der Reiseführer Po Rossii. Putevoditel’ po vsej Rossii (Ignatov), in dem die Städteportraits nach Eisenbahnlinien gegliedert sind. 234 Putevoditel’ po Rossii (Tilli), S. 1.
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oben besprochenen putevoditeli aus den 1850er Jahren, an Passagiere, die sich über die Sehenswürdigkeiten entlang einer bestimmten Bahnlinie informieren wollten.235 Neben diesen praktischen Handbüchern waren desweiteren Publikationen auf dem Markt, die in erster Linie eine repräsentative Funktion erfüllen sollten. Sowohl einzelne Eisenbahngesellschaften als auch das russländische Verkehrsministerium traten seit Ende des 19. Jahrhunderts wiederholt als Herausgeber großformatiger und aufwändig gestalteter Reiseführer in Erscheinung, die sich – allein aufgrund ihres Gewichts – nur bedingt als Reiselektüre eigneten. Prachtbände wie der Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn (Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge), der 1900 für die Pariser Weltausstellung geschrieben wurde, dienten vor allem der Außendarstellung des Zarenreiches auf internationaler Bühne.236 In anderen Veröffentlichungen dieser Art, so z.B. im Reisehandbuch für die Alexander-Eisenbahn (Putevoditel’ po Aleksandrovskoj železnoj doroge) aus dem Jahr 1912, feierten sich private und staatliche Eisenbahngesellschaften werbewirksam als erfolgreich wirtschaftende Unternehmen.237
235 Vgl. z.B. Putevoditel’ dlja želajuščich soveršit’ putešestvie po Finljandii i Ėstlandskomu pribrež’ju v prjamom soobščenii po železnym dorogam, na parochodach i v diližansach, Sankt Peterburg 1874; I. P. Zolotnickij: Po Carskosel’skoj doroge, Sankt Peterburg 1882; ders., Po baltijskoj doroge, Bd. 2, Sankt Peterburg 1884; ders., Po Novgorodskoj doroge; Illjustrirovannyj putevoditel‘ po jugozapadnym kazennym železnym dorogam, Kiev 1898; Putevoditel’ po Baltijskoj i Pskovo-Rižskoj železnoj doroge. Sputnik i spravočnik. S kartoj i illjustracijami. Izd. N.I. Ignatova, Sankt Peterburg 1900, (Reihe: „Po Rossii“); Kratkij putevoditel’ na Dal’nyj Vostok po splošnomu železnodorožnomu puti. Moskva-Vladivostok-PortArtur-Pekin i obratno, Sankt Peterburg 1902; Po Ekaterininskoj železnoj doroge, hg. von upravlenija Ekaterininskoj železnoj dorogi, Ekaterinoslav 1903; Putevoditel’ po MoskovskoKurskoj železnoj doroge, Moskva 1905; Putevoditel’-Spravočnik po Orenburgu i Taškentskoj železnoj doroge s raspoložennymi na nej gorodami, sostavleno N. I. Bodrovym-Poviraevym, Orenburg 1908; Putevoditel’ po Moskovskoj okružnoj železnoj doroge, Moskva 1909; K. V. Bykov, G. G. Moskovič: Peterburg – Moskva – Kavkaz, Reihe: “Putevoditel’ po železnym dorogam”, maršrut Nr. 1. Sankt Peterburg o.J. [1911]. – Auch Reiseführer für die Ostchinesische Eisenbahn standen russischen Passagieren Anfang des 20. Jahrhunderts zur Verfügung, so z.B. Putevoditel’ kitajskovostočnoj železnoj dorogi, o.O. 1903. 236 Ot Volgi do Velikago okeana. Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge (vgl. dazu auch Kap. 2.6.3.); Der Autor des Putevoditel’, A. I. Dmitriev-Mamonov, legte 1903 auch ein Werk über die Zentralasiatische (ehemals Transkaspische) Eisenbahn und 1907 über die Bahn von Orenburg nach Taškent vor: Putevoditel' po Turkestanu i Sredne-Aziatskoj želěznoj dorogi; Putevoditel’ po Turkestanu i železnym dorogam Taškentskoj i Sredne-Aziatskoj 1907–08, Sankt Peterburg 1907; Putevoditel’ po Taškentskoj železnoj doroge s očerkom Ferganskoj nefti, Sankt Peterburg 1907. Vgl. auch der von der Verwaltung der Zentralasiatischen Eisenbahn herausgegebene Illjustrirovannyj putevoditel‘ po Sredne-Aziatskoj železnoj doroge. Ot st. Krasnovodsk do st. Taškent, Andižan, Skobelevo, Kuška i Buchara, izdanie SredneAziatskoj železnoj dorogi, Aschabad 1912. 237 Putevoditel’ po Aleksandrovskoj železnoj doroge (Moskva-Brest), sostavlen k 100-letnej godovščine Otečestvennoj vojny 1812g., Moskva 1912. Vgl. auch: Sputnik po MoskovskoVindavskoj železnoj doroge. Istoričeskoe, geografičeskoe i ėkonomičeskoe svedenija, Moskva 1909.
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3.4.7. Integrierter Raum und ethnografische Vielfalt Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte sich das Russländische Reich den Leserinnen und Lesern von Handbüchern für Zugreisende und den Betrachtern von Streckennetzkarten zunehmend als integrierter Verkehrs- und Kommunikationsraum dar. Von Warschau im Westen bis Vladivostok im Osten, von Archangel’sk im Norden bis Baku im Süden herrschten ein einheitliches Tarifsystem und eine vereinheitlichte Eisenbahnzeit. Mit Hilfe von Kursbüchern ließen sich die Dauer und der Preis einer Reise von St. Petersburg ins ferne Taschkent auf die Minute bzw. Kopeke genau berechnen. Mit Hilfe von Technik und Planung schien aus dieser Perspektive auch ein in geografischer und kultureller Hinsicht so heterogener Staat wie das Zarenreich integrierbar und als „ein geeintes, unteilbares Ganzes“ denkbar. Bei der Analyse dieser optimistischen und fortschrittsgläubigen Raumbilder in Reiseführern für russische Zugpassagiere fällt jedoch auf, dass die Autoren dieser Handbücher die Augen nicht vor der ethnografischen Vielfalt des Zarenreiches verschlossen, ja ihre Leser sogar explizit auf die Unterschiede innerhalb der Untertanenschaft des Zaren hinsichtlich Sprache, Aussehen und Lebensweise hinwiesen. Beschreibungen dieser Art trugen dazu bei, dass Reisende, die sich das größte Kontinentalreich der Erde mit Hilfe der Eisenbahn erschlossen, Russland nicht nur als politische und ökonomische Einheit, sondern zugleich als einen in kultureller und ethnischer Hinsicht äußerst fragmentierten Raum wahrnahmen. Nach der „Revision“ des Jahres 1857, so heißt es im Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii aus dem Jahr 1884, lebten 73 Millionen Seelen männlichen und weiblichen Geschlechts in Russland. Zwischen 1857 und 1883 sei diese Zahl bereits auf rund 100 Millionen Seelen angewachsen. Die Bevölkerung des Imperiums lasse sich dabei zum einen hinsichtlich des Wohnortes der Menschen in den verschiedenen Landesteilen (europäisches und asiatisches Russland, Finnland, Kaukasus, Sibirien, Zentralasien etc.) und zum anderen hinsichtlich der Stammes- bzw. „Rassen“-Zugehörigkeit klassifizieren.238 In einem 238 Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 9. – Zur kontrovers geführten Debatte über die Bedeutung des Terminus’ „Rasse“ im Russischen: Karl Choll [Hall]: „Pasovye prisnaki korenjatsja glubže v prirode čelovečeskogo organizma“: neulovimoe ponjatie rasy v Rossijskoj imperii, in: Aleksej Miller (u.a.) (Hg.): Ponjatija o Rossii. K istoričeskoj semantike imperskogo perioda, Bd. 2, Moskva 2012, S. 194-258; Nataniel Knight: Ethnicity, Nationalism and the Masses. Narodnost’ and Modernity in Imperial Russia, in: David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis (Hg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, New York 2000, S. 41–64; Marina Mogil’ner: Russian Physical Anthropology of the Nineteenth-Early Twentieth Centuries: Imperial Race, Colonial Other, Degenerate Types, and the Russian Racial Body, in: Ilya Gerasimov (u.a.) (Hg.): Empire Speaks Out: Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009, S. 155–189; Eugene Avrutin Racial Categories and the Politics of (Jewish) Difference in Late Imperial Russia, in: Kritika 8 (2007), S. 13–40; Susi K. Frank: Anthropologie als Instrument imperialer Identitätsstiftung: Russisch-sibirische Rassentheorien zwischen 1860 und 1890, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.): Kultur in der Geschichte Russlands, Göttingen 2007, S. 203–223; Vera Tolz: Rossijskie vostokovedy i obščeevropejskie tendencii v razmyšlenijach ob imperijach
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eigenen Kapitel über die „Stämme des Russländischen Reiches (plemena Rossijskoj Imperii)“ wird der Leser über die Eigenarten der „Stämme der kaukasischen“, bzw. „mongolischen Rasse (plemena kavkazskoj / mongol’skoj rasy)“ unterrichtet.239 In nüchternem, jedoch durchaus wertendem Stil referiert der Reiseführer über Wohnort, Abstammung und Religionszugehörigkeit sowie vorherrschende Wirtschaftsform und kulturelle Eigenarten der ethnischen Gruppen des Russländischen Reiches. Über die „Kleinrussen (Malorussy)“ heißt es beispielsweise, dass sie aus dem „südlichen Zweig der russischen Slaven“ hervorgegangen seien und sich heute „ausschließlich der Landwirtschaft“ widmeten. Ihr Charakter sei „um einiges weicher und herzlicher als jener der Großrussen“. 18 Millionen von ihnen lebten heute unter der Herrschaft des Zaren, wobei sich der von ihnen gesprochene „ukrainische Dialekt (ukrainskoe narečie)“ regional stark unterscheide.240 Über die „Juden (Evrei)“ erfährt man an anderer Stelle, dass es sich bei ihnen um ein „Volk semitischer Stammeszugehörigkeit“ handele, das sich im Königreich Polen, in allen westlichen Gouvernements und in Kleinrussland angesiedelt habe. Von den fünfeinhalb Millionen Juden der Erde lebten ca. die Hälfte in Russland.241 Von ihrer Wirtschaftsverfassung weiß der Reiseführer zu berichten, dass „die Juden seit jeher eine Abscheu gegen jede Form der landwirtschaftlichen Tätigkeit kultivieren und es bevorzugen, anderen Tätigkeiten nachzugehen. Vor allem der Handel [ist ihnen stets] als probates Mittel erschienen, monetäres Kapital anzuhäufen.“242 Überall dort, wo sich Juden niederließen, „verdrängen sie die Bauern aus den Gewerben“ und bildeten „eine Art mittlerer Stand“, dessen Größe nicht ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach. Eine Folge dieser Wirtschaftsstruktur, so der Reiseführer, sei die bittere Armut, unter der der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Štetl (mestečki) in den westlichen Gouvernements leide.243 Das Interesse für die ethnografische Vielfalt des Zarenreiches, das den Sputnik aus dem Jahr 1884 auszeichnet, lässt sich auch bei einer Vielzahl anderer Eisenbahnführer dieser Zeit nachweisen.244 In einem Handbuch für Passagiere der Baltischen Eisenbahn (Baltijskaja železnaja doroga), das ebenfalls 1884 erschien, war beispielsweise zu lesen, dass sich die Schweden, die im Gouvernement Estland lebten, hinsichtlich „Kleidung, Sitten und Sprache“ von der estnischen Mehrheitsbevölkerung unterschieden.245 Im putevoditel’ für die Alexander-Bahn (Moskau-Brest) aus dem Jahr 1912 referiert der Autor über die Unterschiede zwi-
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konca XIX – načala XX veka, in: Martin Aust, Ricarda Vulpius, Aleksej Miller (Hg.): Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917), Moskva 2010, S. 266–307, hier S. 276–283. Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 10–25. Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 11f. Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 18. Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 18. Sputnik po glavnym gorodam i lečebnym mestnostjam Rossii, S. 18. Vgl. U.a. Sputnik po Rossii s opisaniem gorodov, hg. von S. V. Kozočikin, Moskva 1896, S. 1f. Zolotnickij, Po baltijskoj doroge, Bd. 2, S. 53.
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schen Großrussen, Weißrussen, Polen, Tataren, Zigeunern und Juden in den Gouvernements Minsk, Mogilev und Grodno. Vor allem mit Blick auf ihr Aussehen könne man Juden und Weißrussen leicht auseinanderhalten, „von der großen Verschiedenartigkeit zwischen den Völkerschaften“ hinsichtlich ihres „Charakters (duševnyj sklad)“, ihrer „Lebensform (obraz žizni)“ sowie ihrer „Bräuche und Traditionen (obyčai)“ gar nicht zu sprechen.246 Einen besonderen Stellenwert hatten Abhandlungen über die Völkerschaften Russlands in Reiseführern für Passagiere der großen Transkontinentalbahnen, die die östliche Peripherie des Reiches erschlossen. Vor allem der Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, den das Verkehrsministerium im Jahr 1900 für die Weltausstellung in Paris anfertigen ließ, sollte sich für alle vergleichbaren Werke, die später erschienen – so zum Beispiel über die Zentralasiatische (ehemals Transkaspische) Bahn (1903) bzw. die Bahnlinie von Orenburg nach Taschkent (1907) – als stilbildend erweisen. Ausführungen über die „Stämme“ und „Fremdvölker“ der östlichen Reichshälfte finden sich in dem repräsentativen Reiseführer sowohl im einleitenden Kapitel zur Geografie Sibiriens als auch im Hauptteil des Buches, der den Streckenverlauf der Bahnlinie beschreibt.247 Auffallend ist, dass die Autoren des Wegweisers nicht nur an ethnografischen Besonderheiten der entsprechenden Großgruppen, wie Sprache, Religion und Lebensweise interessiert waren. Zusätzlich finden sich hier auch erstmals Ansätze, die Völker und Stämme des Zarenreiches mittels der Beschreibung von Körpergröße, Haut-, Haar- und Augenfarbe sowie der Schädel- und Gesichtsformen zu klassifizieren und zu beschreiben. Über das Volk der Baschkiren erfahren die Leser beispielsweise, dass sich dieses in zwei „Typen“ unterteilen lasse: „Der eine, mehr verbreitete Typus, ist der kalmükische oder mongolische des ‚Steppenbaschkiren’ mit seinem flachen Gesicht, mit einer breiten, geraden oder an der Wurzel eingedrückten Nase; der andere kommt seinen Zügen nach dem kaukasischen Typus näher, der vielen mittelasiatischen Völkerschaften eigen ist; er zeichnet sich durch eine gebogene Nase, ein hochgezogenes Gesicht, ein ovales, hervorstechendes Profil sowie hohen Wuchs aus: das ist der Typus des sogenannten ‚Waldbaschkiren’“.248
Anders als im drei Jahre später erschienenen Reiseführer über die Zentralasiatische Eisenbahn werden die ethnischen Großgruppen (ėtnografičeskij sostav) in der asiatischen Peripherie des Zarenreiches im Wegweiser noch nicht „Rassen (rasy)“, sondern „Völkerschaften (narodnosti)“, „Stämme (plemena)“ oder schlicht „Typen (tipy)“ genannt.249 Allerdings finden sich auch hier bereits deut-
246 Putevoditel’ po Aleksandrovskoj železnoj doroge, S. 28. Zur Beschreibung ethnischer Differenz in Reiseberichten aus den westlichen Provinzen des Zarenreiches vgl. Kap. 4.2.2. 247 Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 48–54, 110f., 158f., 182f., 276f., 295– 299, 413–415. 248 Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 111. – Vergleichbare Beschreibungen der Physiognomie finden sich in den Abschnitten über die Jakuten (S. 49) und die Sibirjaken (S. 159). 249 Nur vereinzelt ist im Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn von „Rassen“ die Rede, so z.B. auf S. 164: „In Sibirien siedeln Fremdvölker verschiedener Rassen und Kultur-
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lich wertende Aussagen über den Entwicklungsstand bzw. die Stellung der entsprechenden Großgruppe in der Völkerhierarchie des Imperiums. So standen beispielsweise die Wogulen aus der Sicht des Wegweisers „auf einer noch sehr niedrigen sozialen Entwicklungsstufe“250 und die „arktischen Völkerschaften“ (Lamuten, Jukagiren, Tschuktschen, Tschuwanzen, Korjaken) auf der „elementarsten Stufe menschlicher Kultur“.251 Bekannte sich eine Volksgruppe zum Heidentum, so wurde dies als Indikator einer „niedrigeren Kulturstufe“ gelesen. Entsprechend abfällig fiel die Beschreibung der Lebensverhältnisse dieser Menschen im Wegweiser aus. Die Ausführungen des Reiseführers über die „Fremdstämmigen (inorodcy)“ Sibiriens korrespondieren mit einer großen Anzahl Fotografien, die in den Text eingestreut sind und die Repräsentanten der einzelnen ethnografischen „Typen“ zeigen. Über siebzig Abbildungen des Wegweisers sind der Illustration der Vielfalt der Bevölkerung der sibirischen Peripherie des Zarenreiches gewidmet. Diese Bilder, die von unterschiedlichen Fotografen aufgenommen wurden, zeichnen sich alle durch die Dominanz eines exotisierenden Blicks des (europäischen) Betrachters auf das aufgenommene (asiatische) Objekt aus. Bei der Inszenierung der gestellten Aufnahmen wurde darauf geachtet, dass die Dargestellten traditionelle Kleidung und Schmuck trugen und ihre (fremdartigen) Gesichtszüge gut zu erkennen waren. Häufig wurden die aufzunehmenden Personen vor ihren Wohnhäusern positioniert und mit Gegenständen des Alltagslebens ausgestattet.252 Große Bedeutung wurde der Ablichtung von Stammesführern und -ältesten beigemessen, die den Lesern als „Häuptlinge“ vorgestellt werden.253 Die Zuordnung der dargestellten Personen zu bestimmten ethnografischen „Typen“ erfolgt mittels der Klassifizierung der Objekte in den Bildunterschriften, die dem Betrachter eine
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stufen.“ Zur Klassifikation von Rassen im Putevoditel’ po Turkestanu (1903) vgl. ebd., S. 40– 61. Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 50; Ot Volgi do Velikago okeana, S. 46. Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 52; Ot Volgi do Velikago okeana, S. 50. Die Erforschung der Geschichte der ethnografischen Fotografie im Zarenreich steht noch am Anfang. Vgl. Margaret Dikovitskaia: Central Asia in Early Photographs: Russian Colonial Attitudes and Visual Culture, in: Tomohiko Uyama (Hg.): Empire, Islam, and Politics in Central Eurasia, Slavic Eurasian Studies, Nr. 14, Sapporo 2007, S. 99–136, insbes. S. 106– 108. http://src-h.slav.hokudai.ac.jp/coe21/publish/no14_ses/04_dikovitskaya.pdf [aufgerufen am 30.7.2013]; Francine Hirsch: National Types, in: Valeri Kivelson, Joan Neuberger (Hg.): Picturing Russia: Explorations in Visual Culture, New Haven 2008, S. 157–161; Boris Groys, Peter Weibel (Hg.): Bilder eines Reiches. Leben im vorrevolutionären Russland, Karlsruhe 2012 (insbes. die Beiträge von Swetlana Artamonowa und Karina Solowjowa). An einer Studie über Fotografien aus Russisch-Turkestan aus den Jahren 1866–1876 arbeitet Heather S. Sonntag von der University of Wisconsin-Madison. Vgl. Dies.: Photography & Mapping Russian Conquest in Central Asia: Early Albums, Encounters, & Exhibitions 1866–1876, in: Journée d'Etude Centrasiatique. Atelier 3: Oct. 26, 2007. http://www.reseau-asie.com/articleen/heather-s-sonntag-photography-mapping-russian-conquest-in-central-asia-early-albumsencounters-exhib/ [aufgerufen am 30.7.2013]. Laura Elias arbeitet zur Zeit an der Universität Basel an einer Dissertation über die Geschichte der ethnografischen Fotografie in Russland im 19. Jahrhundert. Vgl. zum Beispiel: Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 56, 159f.
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Person auf einem Foto zum Beispiel als „Jakutentypen“, „Frauentypen des Mordwinenstamms“, „Ostjakentypen“ oder eine „Kirgisenbraut“ vorstellen.254 (Abb. 7) Die Darstellung dieses breit gefächerten Tableaus der Völkerschaften des Zarenreiches ließ in den Köpfen der Leser des Wegweisers das Bild eines in ethnografischer Hinsicht äußerst heterogenen, exotischen und „fremden“ Landes entstehen, das der Schienenstrang des Großen Sibirischen Weges durchquerte, ein Bild, das die Vorstellung von Russland als einheitlicher Verkehrs- und Kommunikationsraum scheinbar konterkarierte. Allerdings wird das Bild Russlands als Vielvölkerreich, das der Illustrationsteil des Reiseführers plastisch zeichnet, durch eine zweite, gegenläufige und in die Zukunft weisende ikonografische „Erzählung“ ergänzt. Über zwei Drittel der Fotografien des Wegweisers sind nicht dem ethnografischen Thema gewidmet, sondern zeigen Eisenbahnbauten (wie Brücken, Bahnhöfe und Tunnel) sowie Ansichten der von der Bahnlinie erschlossenen Städte Sibiriens (Abb. 8). In diesem Bildprogramm wird dem Betrachter die östliche Reichshälfte als eine Region des Aufbruchs und der sich durchsetzenden (europäischen) Zivilisation präsentiert. Die Fotografien zeigen eindrucksvolle Eisenkonstruktionen, die sibirische Flüsse überspannen, Fabriken mit rauchenden Schornsteinen, Goldwäschereien und Städte mit strahlend weißen Kathedralen, Klöstern, Schulen, Theatern und Hospitälern.255 In diesen Bildern findet die zentrale Botschaft des Reiseführers von der zivilisationsbringenden Kraft des neuen Verkehrsmittels und von Sibirien als „Zukunftsraum“ ihre ikonografische Verdichtung.256 Sie bilden den Gegenpol zu jenen Fotografien, die die „rückständigen Fremdvölker“ Sibiriens darstellen und zeigen den Entwicklungspfad auf, der diesen von russischen Ingenieuren und Kolonisten gewiesen werden sollte.257 Die Praxis, russische Eisenbahnreiseführer mit Fotografien der Fremdvölker des Zarenreiches zu illustrieren, war kein Spezifikum der Handbücher für Reisende auf den großen Transkontinentalbahnen.258 Auch in Reiseführern, die sich an Passagiere auf dem europäischen Schienennetz des Imperiums wandten, lassen sich mitunter Abzüge ethnografischer Fotografien finden. Als Beispiel kann hier 254 Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn, S. 53, 111, 163, 189. 255 Im Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn finden sich allein über 25 Fotografien von Eisenbahnbrücken. Vgl. exemplarisch S. 99 (Alexanderbrücke über die Wolga), S. 335– 337 (Brücke über den Jenissej). 256 Vgl. dazu auch Kap. 2.6.3. 257 Ein ähnliches Bildprogramm findet sich bereits in der reich illustrierten Publikation: „Velikij put’”. Vidy Sibiri i eja železnych dorog, vyp. 1, vidy snjaty fotografom I. P. Tomaškevičem, Krasnojarsk 1899. – Zum Glauben der aufgeklärten russländischen „Gesellschaft“, die vermeintlich „rückständigen“ Völker des Zarenreiches „zivilisieren“ zu können: Avrutin, Racial Categories, S. 22; Sunderland, Taming the Wild Field, S. 165–167. 258 Von einer ähnlichen Doppelstruktur von ethnografischer Fotografie auf der einen und technischer bzw. zivilisationstechnischer Fotografie auf der anderen Seite ist auch der Illustrationsteil des Putevoditel’ po Turkestanu (1903) und des Putevoditel’ po Taškentskoj železnoj doroge (1907) geprägt. Die Herausgeber des Illjustrirovannyj putevoditel‘ po SredneAziatskoj železnoj doroge aus dem Jahr 1912 verzichteten indes auf die Verwendung ethnografischer Fotografien.
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auf das Handbuch für die Moskau-Windau-Eisenbahn aus dem Jahr 1909 hingewiesen werden, in dem ein Foto „Kurländischer Zigeuner“ abgedruckt wurde, das stilistisch dem beschriebenen Genre der „kolonialen Fotografie“ entspricht (vgl. Abb. 9).259 Aber auch Repräsentanten der orthodoxen russischen Mehrheitsbevölkerung waren vor dem exotisierenden Blick der Fotografen aus der gebildeten, hauptstädtischen Oberschicht nicht geschützt. So griffen beispielsweise die Herausgeber des Reiseführers der Moskau-Kursk-Eisenbahn aus dem Jahr 1905 zur Illustration ihres Buches auf Fotografien zurück, die „Typen der Bauern des Gouvernement Tula“ oder (bäuerliche) „Typen des Gouvernements Orel“ zeigten.260 Kulturell waren einem gebildeten Aristokraten aus St. Petersburg oder Moskau die auf den Fotografien abgebildeten russischen Bauern vermutlich ähnlich fremd wie ein „Ostjakenhäuptling“ oder ein „Kirgisenweib“. In jedem Fall definierten viele Mitglieder der gebildeten russländischen „Gesellschaft (obščestvo)“ ihre Beziehung zu Vertretern der unteren Bevölkerungsschichten in einem ähnlichen Verhältnis wie jene zu den inorodcy der imperialen Peripherie. Vergleichbar den Fremdvölkern in den Randgebieten sollten auch die Bauern des russländischen Kernlandes mit Hilfe der Aufklärung und des technischen Fortschritts auf ein höheres Zivilisationsniveau gebracht werden.261 Die Haltung des Fotografen, der die Bauern im Gouvernement Tula ablichtete sowie des Verlegers, der diese Fotografien für die Bebilderung seines Reiseführers auswählte, lässt auf eine solche innere Distanz zwischen dem Betrachter und seinem Objekt schließen. Es war dieser exotisierende Blick auf das „Fremde“ im eigenen Land, der auch die Raumwahrnehmung vieler gebildeter russischer Eisenbahnpassagiere auf ihren eigenen „Entdeckungsreisen“ im Zarenreich im späten 19. Jahrhundert prägen sollte.262 Das wachsende Interesse der besser gestellten Bevölkerungsschichten des Zarenreiches für die ethnografische Vielfalt ihres Landes, wie es in den hier betrachteten Reiseführern aus dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert zum Ausdruck kommt, war nur mittelbar eine Folge der voranschreitenden verkehrstechnischen Erschließung des Imperiums.263 Schon seit den großen geografischen Expeditionen des 18. Jahrhunderts arbeiteten Wissenschaftler in St. Petersburg und Moskau an einer systematischen Bestandsaufnahme der Völkerschaften des Russländischen Reiches. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, nahezu zeitgleich mit der inf259 Sputnik po Moskovsko-Vindavskoj železnoj doroge, S. 272. Vgl. auch Bykov; Moskovič, Peterburg – Moskva – Kavkaz (Deckblatt). 260 Putevoditel’ po Moskovsko-Kurskoj železnoj doroge, S. 213–221. – Der Autor dieses Reiseführers orientierte sich bei der Erstellung seines Werkes explizit am Handbuch für die Große Sibirische Eisenbahn aus dem Jahr 1900. Vgl. ebd., S. 2. 261 Aleksandr Ėtkind: Bremja britogo čeloveka, in: Ab Imperio, 1/2002, S. 265–299; ders.: Russkaia literatura XIX vek: Roman vnutrennei kolonizacii, in: Novoe Literaturnoe Obozrenie, Nr. 59 (2003), S. 103–124; ders.: Internal Colonization. Russia's Imperial Experience, Cambridge 2011. 262 Vgl. dazu auch Kap. 4.2.2. 263 Mogil’ner führt das wachsende Interesse an Fragen der Ethnografie und Rassenkunde in Russland unter anderem auf die zunehmende Binnenmigration im Zarenreich im 19. Jahrhundert zurück. Vgl. dies., Homo imperii, S. 11, 160.
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rastrukturellen Vernetzung des Imperiums, erlebten die mit der ethnografischen Erfassung und Kartierung des Landes befassten Wissenschaftsdisziplinen jedoch einen deutlichen Professionalisierungsschub. Mit der Gründung der Kaiserlichen Russländischen Geografischen Gesellschaft (IRGO) und ihrer Abteilung für Ethnografie im Jahre 1845 wurden beispielsweise wichtige institutionelle Grundlagen für die Vermessung des Russländischen Reiches nach ethnografischen Kriterien gelegt.264 Die Anfänge der physiologischen Anthropologie im Zarenreich, eine Wissenschaftsdisziplin, die sich nicht nur für die Unterscheidung menschlicher Großgruppen hinsichtlich ihrer Sprache, Religion und Lebensweise interessierte, sondern zusätzlich nach äußeren Merkmalen biologischer Differenz (Körpergröße, Farbe von Haut, Augen, Haaren, Schädelform etc.) fragte, lassen sich auf das Jahr 1863 zurückdatieren, als sich in Moskau die Kaiserliche Gesellschaft der Liebhaber der Naturwissenschaften, Anthropologie und Ethnografie (IOLEAĖ) etablierte.265 1867 fand in Moskau die erste Allrussländische ethnografische Ausstellung statt, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihren Besuchern die Vielfalt der Völker des Reiches vor Augen zu führen.266 Die Haltung der Reichsregierung gegenüber der Entstehung jener Wissenschaftsdisziplinen, die sich der Klassifizierung der ethnischen Vielfalt des Zarenreiches verschrieben hatten, war durchaus ambivalent.267 Auf der einen Seite bildete das von Ethnologen und Anthropologen in Feldstudien gesammelte Material eine wichtige Grundlage für die Planung politischer Herrschaft in imperialen Kontexten. So arbeiteten zum Beispiel Ethnologen der IRGO im zentralen statistischen Komitee des Innenministeriums mit und halfen bei der Ausarbeitung der Volkszählung des Jahres 1897.268 Auch an der Vorbereitung von ethnografischen Ausstellungen oder der Präsentation des Zarenreiches auf Weltausstellungen, wie zum Beispiel in Paris im Jahre 1900, waren russische Ethnologen beteiligt.269 Andererseits befürchteten Regierungsvertreter, dass das von Ethnologen und Anthropologen zutage geförderte Wissen über die Unterschiede zwischen den Völker264 Vgl. dazu: Nathaniel Knight: Science, Empire, and Nationality. Ethnography in the Russian Geographical Society, 1845–1855, in: Jane Burbank (u.a.): Imperial Russia. New Histories for the Empire, Bloomington 1998, S. 108–141; Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde; Yvonne Kleinmann: Wissenschaft imperial – Wissenschaft national. Entwurf einer Geschichte der Ethnographie im Russländischen Reich, in: Guido Hausmann (u.a.) (Hg.): Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive, (FS Andreas Kappeler), Wiesbaden 2009 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 75), S. 77–103. Zu den Anfängen jüdischer Ethnografie im Zarenreich: Avrutin, Racial Categories. Zur Geschichte der ethnografischen Kartografie im späten Zarenreich: Hirsch, Empire and Nations, S. 35–44. 265 Vgl. dazu: Mogil’ner, Homo imperii; Avrutin, Racial Categories, S. 23f., 27–29. Zur Geschichte der IOLEAĖ: Bradley, Voluntary Associations in Tsarist Russia, S. 128–168. 266 Vgl. Nataniel Knight (Najt): Panslavizm. Imperija napokaz: Vserossijskaja ėtnografičeskaja vystavka 1867 goda, in: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2001, Nr. 5, S. 111–131; Mogil’ner, Homo imperii, S. 42–45. 267 Mogil’ner, Homo imperii, S. 106. 268 Francine Hirsch: Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca 2005, S. 33. 269 Zur Beteiligung der IRGO an der Vorbereitung der Weltausstellung von 1900 vgl. Kap. 2.6.3.
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schaften des Zarenreiches den Vorkämpfern jener nationalen Bewegungen in die Hände spielen könnte, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in den westlichen Gouvernements des Reiches formierten und dort die offizielle, identitätsstiftende Idee der „großen russischen Nation“ (bestehend aus Großrussen, „Kleinrussen“ [Ukrainern] und Weißrussen) herausforderten.270 In der Praxis bedeutete dies, dass die Reichsregierung die Arbeit von Geografen, Ethnologen und Anthropologen in den Gebieten der östlichen und südöstlichen Peripherie des Imperiums systematisch förderte, in den westlichen Randgebieten jedoch versuchte, diese nach Möglichkeit zu behindern oder gar zu unterbinden. Während beispielsweise Generalgouverneur von Kaufmann die Einrichtung einer regionalen Abteilung der IOLEAĖ in Taschkent im Jahre 1870 nach Kräften unterstützte, scheiterte 1889 die Initiative, eine vergleichbare Organisation an der VladimirUniversität in Kiev einzurichten, am Widerstand der Behörden.271 Ungeachtet dessen, dass sich russische Ethnologen und Anthropologen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederholt über die zu geringe Unterstützung ihrer Arbeit durch die Reichsregierung beklagten, leisteten beide Wissenschaftsdisziplinen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag bei der Neukonfiguration der kognitiven Landkarten der Eliten des Russländischen Reiches.272 Marina Mogil’ner spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich „das Idiom der Anthroplogie [im späten Zarenreich] zu einer der wichtigsten Sprachen der Selbsterneuerung von Wissenschaft und Gesellschaft sowie der Kommunikation zwischen Gesellschaft und Staat entwickelt [habe], jedoch nie eine [offizielle] Sprache des [russländischen] Staates geworden sei.“273 Der Bedeutungszuwachs anthropologischen Denkens und Sprechens lässt sich auch an der oben skizzierten Penetration ethnografischen Wissens in das Narrativ von Reiseführern für russische Eisenbahnpassagiere aus den drei Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges festmachen. Autoren und Herausgeber von Büchern dieser Art griffen bei der Kompilation ihrer Werke wiederholt auf Text- und Bildmaterial geografischer, ethnografischer und anthropologischer Forschung zurück.274 Zum Teil waren professionelle Geografen 270 Hirsch, Empire of Nations, S. 33. Zum Konzept der „großen russischen Nation”: Miller, Ukrainskij vopros, S. 31–41. 271 Brower, Islam and Ethnicity, S. 124; Mogil’ner, Homo imperii, S. 101–104. 272 Zur Klage beider Disziplinen: Mogil’ner, Homo imperii, S. 50, 131; Hirsch, Empire of Nations, S. 34. 273 Mogil’ner, Homo imperii, S. 147. 274 Von zentraler Bedeutung waren in diesem Zusammenhang die mehrbändigen Abhandlungen Živopis’naja Rossija. Otečestvo naše v ego zemel’nom, istoričeskom, plemennom, ėkonomičeskom i bytovom značenij, hg. von Petr Petrovič Semenov, Sankt Peterburg, Moskva 1881–1901 sowie Rossija. Polnoe geografičeskoe opisanie našego otečestva, 11 Bde., hg. von dems., Veniamin Petrovič Semenov-Tjan-Šanskij, Vladimir Ivanovič Lamanskij, Sankt Peterburg 1899–1914. Auf die Arbeiten Semenovs bezieht sich u.a. der Herausgeber des Putevoditel’ po Moskovskoj-Kurskoj železnoj doroge, ebd., S. 2. – 1899 rief das Petersburger Verkehrsministerium die Leitungen der Eisenbahngesellschaften des Zarenreiches auf, das Werk Rossija. Polnoe geografičeskoe opisanie našego otečestva in das Sortiment ihrer Bahnhofsbuchhandlungen aufzunehmen. Vgl. Cirkuljar’ po ėkspluatacionnomu otdelu, 19.5.1899, Nr. 19850, in: Sistematičeskij sbornik uzakonenij i obščich rasporjaženij, otnosjaščichsja do
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und Ethnologen auch selbst an der Zusammenstellung entsprechender Handbücher beteiligt.275 Ungeachtet dessen, ob die Verbreitung des entsprechenden Wissens den politischen Zielen der Reichsregierung entsprach, trugen Reiseführer zu einer Popularisierung ethnografischen Wissens, zu einer Sensibilisierung des Blicks und dadurch zur Neukonfigurierung der Raumwahrnehmung im späten Zarenreich bei. Gerade bei jenen Menschen, die die Möglichkeit nutzten, das größte Reich der Erde als „Einheit“ zu erleben und persönlich zu er-fahren, boten sie ein Dispositiv für die Wahrnehmung der ethnografischen Diversität des Landes. So schuf paradoxerweise gerade die verkehrstechnische Integration des Vielvölkerreiches eine wichtige Voraussetzung für die massenhafte Rezeption des Landes in seiner ganzen kulturellen und ethnografischen Vielfalt. 3.5. DIE ORDNUNG DER REISENDEN: BAHNHÖFE UND ZÜGE Der Bau der Eisenbahn im Russländischen Reich führte nicht nur auf der Ebene des Territoriums zu einer tiefgreifenden Neukonfiguration sozialer Räume. Auch in Bahnhöfen und Zügen, d.h. in Bereichen der unmittelbaren Begegnung und Interaktion von Passagieren, schufen Ingenieure, Architekten und Juristen neue räumliche Strukturen, die die Lebenswirklichkeit einer wachsenden Anzahl von Menschen nachhaltig prägen sollten. Schon früh wurden Bahnhöfe und Personenzüge von russischen Verkehrsplanern als Orte mustergültiger sozialer Ordnung imaginiert, die als „Keimzellen der Zivilisation“ auf die dort verkehrenden Menschen und auf das von den Gleisen erschlossene Land abstrahlen sollten.276 Die Matrix dieser Ordnungsentwürfe, die sich unter anderem in Verhaltensregeln für Passagiere, Konstruktionszeichnungen für Personenzüge oder der Architektur russischer Bahnhöfe widerspiegelte, erinnert auf den ersten Blick an die Organisationsmuster der hierarchischen Stände (soslovie)-Ordnung der russländischen Gepostrojki i ėkspluatacii železnych dorog kaznoju, Bd. 2: c 1 ijunja 1898 g. po 31 ijunja 1899 g. vključitel’no. Sankt Peterburg 1901, S. 180. – Als eine weitere Inspirationsquelle für die Illustrierung des Wegweiser auf der Großen Sibirischen Eisenbahn mit ethnografischen Fotografien dürfte der offizielle Reisebericht über die Asienreise von Thronfolger Nikolaj Aleksandrovič (1890/91) gedient haben, den Fürst Ėsper Uchtomskij in den Jahren 1893–97 veröffentlichte und der bereits mit entsprechendem Bildmaterial ausgestattet war. Vgl. ders.: Putešestvie na Vostok, z.B. Bd. 3 (1897), S. XXXVIII, XLII, L, LVIIIf., 107, 139, 151. 275 Zur Mitarbeit des Vizepräsidenten der IRGO, Petr Petrovič Semenov, an der Publikationen Sibir’ i velikaja sibirskaja železnaja doroga für die Weltausstellungen von Chicago 1893 Vgl. Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde, S. 208, 222–224. 276 Vorüberlegungen zum Folgenden habe ich bereits an anderem Ort publiziert: Frithjof Benjamin Schenk: Im Kampf um Recht und Ordnung: Zivilisatorische Mission und Chaos auf den Eisenbahnen im Zarenreich, in: Ralf Roth (u.a.) (Hg.): Neue Wege in ein neues Europa. Verkehr und die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2009, S. 197–221; ders.: Die Produktion des imperialen Raumes: Konzeptionelle Überlegungen zu einer Sozial- und Kulturgeschichte der russischen Eisenbahn im 19. Jahrhundert, in: Karl Schlögel (Hg.): Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte, München 2011, S. 109-127.
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sellschaft. Wie in anderen Ländern des europäischen Kontinents wurden auch im Zarenreich die Passagiere der Eisenbahn in „Klassen“ unterteilt, die die Gliederung der Gesellschaft in „Stände“ (Adel, Kaufmannschaft, Bauern etc.) gleichsam zu reproduzieren schien. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass das „Klassensystem“ an den Orten der russländischen Eisenbahn nach anderen Gesetzen funktionierte als die ständisch organisierte Gesellschaft jenseits der Schienenwege. Zum einen waren die Grenzen des sozial-räumlichen Ordnungsmodells des maschinellen Ensembles durchlässiger als jene der traditionalen russländischen Gesellschaftspyramide. Zum anderen brachte das System der Eisenbahn auch im Zarenreich alternative und potentiell demokratische Modelle der gesellschaftlichen Organisation (z.B. das Bild des „homogenen“ Passagiers) hervor, welche die Muster der allgemeinen sozialen Ordnung in Frage stellten und herausforderten.277 Allerdings vermochten diese neuen sozialen Ordnungsentwürfe der technischen Moderne die gesellschaftlichen Strukturen des Zarenreiches nicht nachhaltig zu verändern. Dies hatte mehrere Gründe. Zum einen blieb die Durchdringung des Landes mit Eisenbahnen im internationalen Vergleich bis 1914 relativ gering. So erreichte die Zahl der Passagiere auf den Bahnen des Zarenreiches nie das Niveau anderer Flächenstaaten, wie zum Beispiel der USA. Zum zweiten waren die Erwartungen, welche die russländische Eliten in die zivilisierende Kraft des technischen Fortschritts setzten, offenbar deutlich überzogen. Schließlich wurde die Eisenbahn dort, wo es ihr gelang, Bauern und Arbeiter in großer Zahl als Passagiere zu gewinnen, von ihrem eigenen Erfolg im wahrsten Sinne des Wortes überrollt. Es waren die großstädtischen Bahnhöfe, einstmals als Tempel der Zivilisation und der verfeinerten Sitten gefeiert, die angesichts des Ansturms von Wanderarbeitern zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus allen Nähten zu platzen drohten und so Zeitgenossen ein Schaufenster für die sich abzeichnenden sozialen Verwerfungen des industriellen Zeitalters boten.278 3.5.1. Der Bahnhof als Projektionsfläche gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe Wie in anderen Ländern des europäischen Kontinents war das Reisen mit der Eisenbahn auch in Russland zunächst ein äußerst kostspieliges Unternehmen und somit weitgehend dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung vorbehalten. Die Betreiber der ersten Eisenbahn des Zarenreiches, der 1837 eingeweihten Bahnlinie von St. Petersburg nach Carskoe Selo und Pavlovsk, orientierten sich in erster Linie an den Bedürfnissen der betuchten hauptstädtischen Oberschicht. Diese nutzten den Dienst der privaten Bahngesellschaft für Fahrten zu ihren Wochenendhäusern (dači) in den südlichen Vororten der Metropole oder zu Konzert- und 277 Lohnend wäre in diesem Zusammenhang auch eingehender zu untersuchen, inwiefern die Eisenbahn in Russland zur Transformation einer vormodernen Stände- in eine moderne Klassen-Gesellschaft beigetragen hat. Für diese Anregung danke ich Martin Schulze Wessel. 278 Zu zeitgenössischen Berichten über die Zustände auf den großstädtischen Bahnhöfen Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Kap. 6.
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Ballveranstaltungen im „musikalischen Bahnhof (vokzal)“ von Pavlovsk.279 Nicht nur das luxuriöse „Konzerthaus mit Gleisanschluss“ im Park der Zarenresidenz, auch der Bahnhof der Carskoe Selo-Bahn in St. Petersburg musste den Ansprüchen an Komfort und Luxus der begüterten Zielgruppe genügen.280 Auch die in den späten 1840er Jahren errichteten Bahnhöfe für den Personenverkehr auf der Strecke von St. Petersburg nach Moskau waren noch nicht als Orte des modernen Massenverkehrs konzipiert, zu denen sie sich im Zuge des Anstiegs der Passagierzahlen vor allem der dritten und vierten Klasse schnell entwickeln sollten. Vorbildern aus dem westlichen Europa und den USA folgend, entwarfen russische Architekten die ersten Passagierstationen des Zarenreiches nicht als nüchterne Zweckbauten, sondern als repräsentative Verkehrspaläste.281 Wie ihre westlichen Vorbilder präsentierten sich auch die russischen „Stadttore der Moderne“ in ihren Schaufassaden als moderne Architektur in historisierendem Gewand, während die Gleis- und Bahnsteighallen von nüchternen Konstruktionen aus Stahl und Glas dominiert wurden.282 Wappen des Kaiserhauses an der Fassade zahlreicher Stationsgebäude, Herrscherbüsten in den Wartesälen und Zarendenkmäler auf den Vorplätzen hauptstädtischer Terminale werteten die Zentren des modernen Massenverkehrs zu Orten herrschaftlicher Repräsentation auf.283 Das Bild des Bahnhofs als Ort des geregelten Lebens und der Zivilisation wurde durch die Anlage von Gärten auf den Vorplätzen zahlreicher russischer Passagierstationen und die 279 Zum vokzal von Pavlovsk vgl. u.a. Frithjof Benjamin Schenk: Der musikalische Bahnhof. Eine Episode aus der Klanggeschichte der technischen Moderne im späten Zarenreich, in: Michael Kunkel (u.a.) (Hg.): Dreizehn 13. Basels Badischer Bahnhof in Geschichte, Architektur und Musik Ein multidisziplinäres Projekt zur Vergangenheit und Gegenwart eines Stadtmonuments, Saarbrücken 2012, S. 13-21; A. S. Rozanov: Muzykal’nyj Pavlovsk, Leningrad 1978 (Repr.: Sankt Peterburg 2007); Jurij L. Aljanskij: Veseljaščijsja Peterburg: Po materialam sobr. G. A. Ivanova, Sankt Peterburg 1994, Bd. 3; E. D. Uvarova, Razvlekatel’naja kul’tura Rossii XVIII–XIX vv.: Očerki istorii i teorii, Sankt Peterburg 2000, S. 317–349; Nikolaj Fedorovič Findejzen: Pavlovskij muzykal’nyj vokzal. Istoričeskij očerk (1837–1912), Sankt Peterburg 2005. 280 Zum ersten großstädtischen Bahnhof in Russland: Bogdanov, Vokzaly Peterburga, S. 11–53, insbes. S. 22–26, 36–39. 281 Konstantin Ton, der Architekt des ersten Petersburger Bahnhofs der Carskoe Selo-Eisenbahn sowie der beiden Terminale der St. Petersburg-Moskau-Eisenbahn, zeichnete u.a. auch für den Bau des Kreml’-Palastes und der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau verantwortlich. Vgl. T. A. Slavina: Konstantin Ton, Leningrad 1989. 282 Zum neuen Gebäudetyp des großstädtischen Bahnhofs: Meeks, The Railroad Station, S. 1– 142; Vasil’ev, Ščetinin, Architektura železnodorožnych vokzalov, S. 9–31; Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 152–157; Richards; MacKenzie, The Railway Station, S. 19– 36; Batyrev, Vokzaly, S. 55–87. Gottwaldt, Der Bahnhof. – Zur Geschichte des Bahnhofs im Zarenreich: Bogdanov, Vokzaly Peterburga; Petuchova, Ploščad’ trech vokzalov; Ščeboleva, Ansambl’ železnoj dorogi; Schenk, Bahnhöfe. 283 Herrscherdenkmäler befanden sich unter anderem im Petersburger und Moskauer Bahnhof der Nikolaj-Bahn sowie im 1904 errichteten Neubau der Moskau-Windau-Rybinsk-Eisenbahn in Petersburg (in beiden Nikolaus I.). Auch die Bahnhofsplätze der Petersburger Station der Nikolaj-Bahn sowie der Moskau-Windau-Rybinsk-Eisenbahn waren mit Herrscherdenkmälern (Alexander III. und Nikolaus I.) dekoriert. Vgl. dazu: Schenk, Reisen in die Vergangenheit, S. 65–69.
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Dekoration der Wartesäle erster Klasse mit Palmen und anderen exotischen Pflanzen abgerundet.284 Die optische Einheit von historisierenden Bahnhofsfassaden und gepflegten Grünanlagen mit Springbrunnen und Blumenrabatten sollte dabei nicht nur als Kontrapunkt zum Erscheinungsbild des technischen Ensembles mit seinen Bahnsteighallen aus Stahl und Glas, nüchternen Wassertürmen und Telegrafenleitungen gesehen werden. Vielmehr findet sich hier die Idee des wohlgeordneten und nach rationalen Prinzipien sowie einheitlichen Regeln funktionierenden Verkehrssystems in gewandelter Form wieder. Gerade der Rückgriff auf Stilelemente aus der Kirchen- und Palastarchitektur früherer Epochen sowie auf die Formensprache der europäischen Garten- und Parkgestaltung bringt besonders anschaulich die Hoffnung moderner Verkehrsplaner zum Ausdruck, die sich auf die zivilisierende Kraft des technischen Fortschritts richtete.285 Die Idee der idealen gesellschaftlichen Ordnung, die ihre Verkörperung in der äußeren Gestalt russischer Bahnhöfe fand, sollte nach Ansicht der Verkehrsplaner des Zarenreiches auch die Interaktion der verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb dieser Gebäude bestimmen. Seit den 1870er Jahren intensivierten Beamte des Verkehrsministeriums ihre Bemühungen, mit Hilfe gesetzlicher Bestimmungen das Verhalten von Passagieren und Eisenbahnpersonal in Zügen und Bahnhöfen des Zarenreiches bis ins Detail zu regeln. Bei der Lektüre entsprechender Zirkulare und Verordnungen springt dem Leser das Wort „Ordnung“ (porjadok bzw. blagočinie) fast in jedem zweiten Satz ins Auge. In einer Verordnung des Verkehrsministeriums aus dem Jahr 1873 wird beispielsweise hervorgehoben, dass die Organisation von „Bällen, Picknicks und anderer Festivitäten“ an russischen Bahnhöfen verboten sei und dass der Aufenthalt von Menschen, die nicht auf einen Zug warten, als eine „Verletzung der Bahnhofsordnung“ geahndet werde.286 In einer 1874 erlassenen Instruktion, die den Betrieb von Buffets und Restaurants in russischen Bahnhöfen regelte, wird betont, dass dort das Personal nüchtern und „korrekt gekleidet“ zu sein habe, die Gäste „freundlich und zuvorkommend“ zu behandeln seien und das verzinnte Kupfergeschirr in „makellosem Glanz“ erstrahlen solle.287 In den Allgemeinen Bestimmungen für den Transport von Passagieren, Gepäck und Hunden, die Anfang der 1870er Jahre die Verhaltensregeln von Fahrgästen auf den russischen Eisenbahnen definierten, wurde darauf hingewie284 Zu Gärten an russischen Bahnhöfen: Doklad o passažirskom dviženii, S. 25; Sputnik po Moskovsko-Vindavskoj železnoj dorogi, S. 19; Haywood, Russia Enters, S. 485; George Kennan: Und der Zar ist weit. Sibirien 1885, Berlin 31981, S. 53f.; Harry de Windt: Siberia as it is, London 1892, S. 12. 285 Anders argumentiert Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 155, der den Gegensatz von historisierenden Fassaden und Glas/Stahl-Architektur der Bahnsteighallen betont. 286 Ministerskoe postanovlenie Nr. 45, 31.5.1873, in: Sistematičeskij sbornik dejstvujušich na russkich železnych dorogach uzakonenii, Bd. 1, S. 172–173. 287 Pravila soderžanija bufetov i vsjakogo naimenovanija s’estnych zavedenij na stancijach železnych dorog, Ministerskoe povelenie Nr. 50, 23.3.1874, in: Sbornik ministerskich postanovlenij i obščich pravitel’stvennych rasporjaženij, Bd. 2, S. 2–4, hier S. 3. Vgl. auch Mustervertrag für die Verpachtung von Bahnhofsbuffets aus dem Jahr 1883, in: Sistematičeskij sbornik uzakonenij i obščich rasporjaženij, Bd. 1, S. 645–649.
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sen, dass Passagieren, die sich in Zügen oder auf Bahnhöfen nicht an die „allgemeingültige Ordnung“ hielten, das Recht auf Beförderung entzogen werde.288 Diese Regelung zielte insbesondere darauf ab, Fahrgäste, die betrunken waren oder „andere Passagiere belästigten“, aus der wohlgeordneten Eisenbahngesellschaft auszuschließen. Genauso unerwünscht wie alkoholisierte Fahrgäste waren den Eisenbahnjuristen bestechliche und rüde Bahnbedienstete. „Die Angestellten der Eisenbahnen sind angewiesen“, so die Verordnung, „sich gegenüber den Fahrgästen höflich und zuvorkommend“ zu benehmen. „Für ihre Ordnungsdienste“ sollten die Angestellten von den Passagieren keine Bezahlung erhalten.289 In der gesetzlich geregelten Utopie war kein Platz mehr für die in Russland verbreiteten Laster der Trunkenheit und Korruption.290 In der Vorstellung zarischer Verkehrsplaner sollte das geordnete Leben des russländischen Eisenbahnraums zur Läuterung der hier verkehrenden Menschen beitragen. Gleichzeitig setzten russische Ingenieure große Erwartungen in die zivilisationsbringende Kraft des maschinellen Ensembles über die territorialen Grenzen des Schienensystems hinaus.291 Das Projekt einer von Lokomotiven getragenen mission civilizatrice zielte nicht nur auf die imperiale Peripherie des Za288 Die Obščija pravila dlja perevozki passažirov wurde 1885 durch Art. 155 des Allgemeinen russischen Eisenbahngesetzes (Obščij ustav Rossijskich železnych dorog) sowie 1891 durch die Pravila dlja passažirov v poezdach železnych dorog und die Pravila pol’zovanija passažirskimi pomeščenijami železnodorožnych stancij abgelöst. Vgl. Sobranie uzakonenij i rasporjaženij pravitel’stva za 1891 god, Nr. 20, dokumentiert u.a. in: Železnodorožnoe delo 10 (1891), Nr. 11, S. 135f. und Sergej Ivanovič Fedorov: Spravočnaja knižka dlja nižnich činov žandarmskich policejskich upravlenij železnych dorog, Sankt Peterburg 21903, S. 173–176. Zur Diskussion innerhalb der Verwaltung der staatlichen Eisenbahn (Upravlenie kazennych železnych dorog) über diese Verordnungen vgl. RGIA f. 265, op. 4, ed. chr. 271. 289 Obščija pravila dlja perevozki passažirov, bagaža i sobak, in: Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam (1872), S. 5–11, hier S. 6–7. – Der rüde Umgangston und die Bestechlichkeit der Bediensteten waren in den Folgejahren wiederholt Gegenstand von Beschwerden, die beim MPS eingingen. Immer wieder mussten die Bahnverwaltungen daran erinnert werden, dass ihre Mitarbeiter die “Ordnung” in Zügen und Bahnhöfen repräsentierten. Vgl. ein entsprechender Schriftverkehr aus dem Jahr 1890: CGIA SPb f. 1374, op. 1, ed. chr. 343 (“O vežlivom obraščenii agentov”), l. 20–20ob. 290 Diese Liste könnte noch beliebig verlängert werden. Die Ordnungshüter der Eisenbahn sollten in Zügen und Bahnhöfen auch andere Laster des alltäglichen Lebens wie z.B. das Glückspiel bekämpfen. Vgl. Cirkuljar’ Departamenta železnych dorog Nr. 3.389, 24.4.1885, in: Sistematičeskij sbornik dejstvujušich na russkich železnych dorogach uzakonenii, Bd. 1, S.181– 182 und Timofeev, Objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii, S. 302–305. Zum Kampf gegen Bettler, fliegende Händler und Musikanten in Zügen: ebd., S. 298. – Zum Ideal des zivilisierten und zuvorkommenden Bahnbediensteten vgl. auch: M. A.Stržiževskij, Dobrye sovety načal’nikam železnodorožnych stancij i licam izučajuščim ich objazannosti, Sankt Peterburg 1901, S. 38 und CGIA SPb f. 1374, op. 1, ed. chr. 343, l. 43–43ob. 291 Schon 1838, ein Jahr nach der Eröffnung der Bahnline von St. Petersburg nach Carskoe Selo, verglichen russische Zeitgenossen das neue Verkehrsmittel mit der Buchpresse Gutenbergs. Die Eisenbahn, so N. Kukol’nik im Mai 1838 in der Severnaja pčela, werde in Russland eine ebenso nützliche Kraft entfalten (stol’ že polezny), wie einstmals die Erfindung des Buchdrucks. Ders., Pavlovskij vokzal. Pis’mo M.I. Glinke in: Severnaja pčela, Nr. 116, 26.5.1838, S. 461f.
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renreiches, sondern zugleich auf die ländliche Provinz im europäischen Russland.292 Bahnhöfen wurde dabei die Rolle zivilisatorischer Leuchttürme in dem von Aufklärung und Fortschritt unberührten Hinterland zugedacht. In einem Reiseführer der staatlichen Südwest-Eisenbahn aus dem Jahr 1898 heißt es beispielsweise: „Die Fertigstellung jeder neuen Werst Eisenbahnstrecke bedeutet den Abschluss einer neuen Etappe auf dem Weg der kulturellen Entwicklung des Landes (kraja). Jede neue Eisenbahnstation stellt ein neues Zentrum dar, von dem die Aufklärung (prosveščenie) und das Licht des Wissens (svet znanij) in die Tiefe der verlassenen Einöde dringt.“293 Nicht zuletzt über den Bahnhofsbuchhandel hofften fortschrittsgläubige Zeitgenossen, den Funken der Bildung und Zivilisation in die russische Provinz tragen zu können. In einem visionären Artikel räsonnierte ein anonymer Autor im Januar 1909 in den Sanktpeterburgskie vedomosti (St. Petersburger Nachrichten): Ein Ort „an dem es ein gutes Buch für eine, zwei oder drei Kopeken zu kaufen gibt, könnte nicht nur zur angenehmen Erholung am Ort des Wartens beitragen, sondern sich zugleich zu einer Quelle des Lichts und der Freude (istočnik sveta i radosti) in jenen verlassenen Gegenden verwandeln, in die es mittellose Passagiere oft verschlägt. Verkaufsstände für Bücher an Eisenbahnstationen mit einem ausgesuchten Sortiment erbaulicher Literatur könnten [...] unikale Orte des Lichts (svetlye točki) werden, gestreut in die Einöde des grenzenlosen Raums, der sich zwischen den wenigen Städten unserer Heimat erstreckt.“294 292 Zur Erwartung russischer Verkehrsplaner in die zivilisierende Kraft der Eisenbahn in der imperialen Peripherie des Zarenreiches vgl. Kap. 2.6. – Die aufwändige Ausstattung von Bahnhofsgebäuden wurde von Eisenbahnfachleuten mitunter scharf kritisiert. So nahm 1885 beispielsweise ein gewisser V. Kurdjumov in der Fachzeitschrift Železnodorožnoe delo Anstoß an der Gestaltung der Passagierstationen auf der 1883 eingeweihten TranskaukasusEisenbahn. In seinem Text über die Verschwendung finanzieller Mittel auf russländischen Eisenbahnen brandmarkte er die Größe der Wartesäle auf den Bahnhöfen Elizavetpol’ und Adži Akul’ sowie deren Ausstattung mit Polstermöbeln, Tischen aus Marmor und vernickelten Wasserhähnen in den Waschräumen. Die Menschen des Kaukasus, so Kurdjumov, bräuchten all diesen Luxus nicht: „Ein sauberer, beheizter Raum auf einer Bahnstation würde den bescheidenen Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung völlig genügen, die zum Teil in Erdhütten und im Dreck unter einem Dach mit ihren Pferden und Schafen lebt.“ V. Kurdjumov: K voprosu o pričinach maloj dochodnosti železnych dorog, in: Železnodorožnoe delo 4 (1885), Nr. 1, S. 6–13. 293 Illjustrirovannyj putevoditel‘ po jugozapadnym kazennym železnym dorogam, Kiev 1898, S. X. 294 „Warum?“ (Prodaža plochich knig v kioskach), in: Železnodorožnoe delo 28 (1909), Nr. 14– 15, S. 88 (Wiederabdruck eines Artikels aus den Sanktpeterburgskie vedomosti Nr. 12 vom 16.1.1909). Für die Verbreitung „nützlicher (poleznaja) Literatur“ durch Bücher-Kioske der staatlichen Bahnen hatte sich 1903 bereits die Leitung der Petersburger Alphabetisierungsgesellschaft (Obščestvo gramotnosti) eingesetzt. Vgl. RGIA f. 265, op. 4, ed. chr. 1134, ll. 144– 156ob. Zum (abgelehnten) Vorschlag des Adeligen N. N. Lupul vom 14.11.1902, Reisenden zweiter und dritter Klasse erbauliche Lektüre gegen Pfand zu leihen: ebd. ll. 139–143. Kritisch zum Angebot der Buch-Kioske russischer Bahnhöfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Železnodorožnyja biblioteka, in: Russkoe Slovo, 3.8.1901 (ebd. l. 135ob); K ulučšeniju železnodorožnych kioskov, in: Železnodorožnoe delo 28 (1909), Nr. 19–20, S. 120. Zum Bahnhofsbuchhandel in Russland im Allgemeinen: Doklad o passažirskom dviženii, S. 62– 68, zu dessen Reglementierung und Kontrolle: Timofeev, Objazannosti, S. 212–225. Vgl.
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Die Utopie von der zivilisationsstiftenden Kraft der Eisenbahn war natürlich keine russische Erfindung. Auch in anderen Ländern diente im 19. Jahrhundert das von der Dampfmaschine geschaffene Verkehrssystem als Projektionsfläche für leuchtende Zukunfts- und Ordnungsentwürfe.295 Offensichtlich hatte jedoch die Idee von der zivilisierenden Kraft der Eisenbahn in Russland eine besondere Anziehungskraft. Der Glaube an die dampfgetriebene Maschine als Heilsbringer von Fortschritt und Entwicklung war eine neue Spielart des traditionsreichen Projekts der westlich orientierten Elite, die eigene Bevölkerung auf den Pfad von Zivilisation und Fortschritt zu führen.296 Aus dieser Perspektive betrachtet, fügt sich das Vorhaben, mit Hilfe der Eisenbahn moderne Ordnungsvorstellungen bis in den letzten Winkel des Reiches zu tragen, in die lange Reihe all jener staatlichen Modernisierungsversuche ein, die vom Umbau von Staat und Gesellschaft unter Peter dem Großen bis zu den großen Reformen Alexanders II. reicht. Nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Provinz sollte sich die Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“ an den Bahnhöfen des russischen Eisenbahnsystems indes bald zu einer kaum mehr zu bewältigenden Aufgabe entwickeln. Dies hatte zum einen mit dem deutlichen Zuwachs an Mobilität gerade der Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten zu tun, die im Zeitalter der Industrialisierung und Urbanisierung verstärkt die Dienste der russischen Bahnen in Anspruch nahmen. Gerade die Provinzbahnhöfe des Zarenreiches entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu belebten Orten des öffentlichen Raums und zu wichtigen Anziehungspunkten, sowohl für die lokale Bevölkerung als auch für eine wachsende Anzahl von reisenden Menschen. In vielen Orten bildete das Telegrafenbüro des nächst gelegenen Bahnhofs die einzige Schaltstelle schneller Kommunikation zwischen Peripherie und Zentrum. Hier konnte sich die ländliche Bevölkerung auch durch den Verkauf von Lebensmitteln an durchreisende Passagiere ein kleines Zubrot zum eigenen Auskommen verdienen. Im Gegenzug diffundierten über die Bahnstationen Nachrichten und Gerüchte aus den Städten in die Dörfer. Insbesondere in der kalten Jahreszeit dienten die Provinzbahnhöfe des Zarenreiches jenen Menschen, die hier aufgrund der Verspätung oder des Ausfalls eines Zuges festsaßen, auch als Schutzräume und Zufluchtsorte. Bereits die Mitarbeiter der Baranov-Kommission wiesen in ihrem Bericht über auch: E. G. Kir’janova: Puti soobščenija i tverskoe knižnoe delo (poslednjaja četvert’ XVIII– XIX vv.), in: Gosudareva doroga i ee dvorcy. Materialy mežregional’noj naučnoj konferencii, 19 – 21 nojabrja 2002 goda, Tver’ 2003, S. 67–80; Vul’fov, Povsednevnaja žizn’, S. 344f. 295 Zur Beschreibung des Eisenbahnabteils als geordneter Raum, beziehungsweise „Verwirklichung einer rationalen Utopie“: De Certeau, Die Kunst des Handelns, S. 209. Kritisch dazu: Matthew Beaumont: Railway Mania. The Train Compartment as the Scene of a Crime, in: ders., Freeman, Michael (Hg.): The Railway and Modernity. Time, Space, and the Machine Ensemble, Oxford 2007, S. 125–153, hier S. 151. 296 Jörg Baberowski: Auf der Suche nach Eindeutigkeit: Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 47 (1999), S. 482–504; Ėtkind, Bremja britogo čeloveka. Das Projekt, „rückständige“ Teile der „eigenen“ Bevölkerung auf ein höheres Zivilisationsniveau zu heben, war dabei alles andere als eine Erfindung russischer Eliten. Zu Westeuropa vgl. Osterhammel, The Great Work, S. 367.
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den Personenverkehr aus dem Jahr 1881 darauf hin, dass Stationen im dünn besiedelten Hinterland nicht nur als Orte zur Abwicklung des Personenverkehrs zu betrachten seien. In Russland mit seinen langen und strengen Wintern und seinen Bahnstationen, die sich häufig in großer Entfernung zur nächstgelegenen Stadt befanden und zudem oft schlecht angebunden waren, sei es von elementarer Bedeutung, Menschen das Recht zu gewähren, sich auch außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten im Wartesaal eines ländlichen Bahnhofs aufzuhalten.297 Den Verkehrsexperten war dabei vermutlich bewusst, dass es nur schwer miteinander zu vereinbaren war, Provinzbahnhöfe auf der einen Seite als „Leuchttürmen der Zivilisation“ zu etablieren und diese zum anderen für fahrendes Volk verschiedener Herkunft dauerhaft geöffnet zu halten. Letzlich setzten sich in diesem Zielkonflikt jene Stimmen durch, die für den Schutz der Reisenden vor den Unbilden des russischen Klimas plädierten – mit allen Konsequenzen für die „Ordnungssituation“ an diesen modernen Orten des öffentlichen Raums.298 3.5.2. Die „Klassengesellschaft“ und ihre Orte Wie in anderen europäischen Ländern bildete auch in Russland die Unterteilung der Fahrgäste in unterschiedliche „Klassen“ das Grundgerüst der Hierarchisierung des Kollektivs der Eisenbahnpassagiere.299 Die Idee, Reisende in „Klassen“ einzuteilen, war eine Innovation des Eisenbahnzeitalters und stammt ursprünglich aus England.300 Planer der ersten Bahnlinien des Zarenreiches übernahmen dieses Schema und boten ihren Kunden je nach Fahrpreis eine Reise mit vergleichsweise mehr oder weniger Komfort an. War ein Passagier bereit und finanziell in der Lage, einen höheren Preis für eine Fahrkarte zu bezahlen, so konnte er oder sie mit 297 Doklad o passažirskom dviženii, S. 3, 12–18. 298 Die Verordnung des Verkehrsministeriums vom 31.5.1873, die Menschen den Aufenthalt an einem Bahnhof außerhalb der Öffnungszeiten (vor der Ankunft bzw. nach der Abfahrt eines Zuges) verbot, wurde in den Folgejahren deutlich gelockert. Vgl. Obščij ustav Rossijskich železnych dorog (1885), Art. 156 und Pravila pol’zovanija passažirskimi pomeščenijami železnodorožnych stancij (8.1.1891), § 2–5. 299 Das Eisenbahnsystem der USA kannte die Unterteilung der Fahrgäste in „Klassen” dagegen nicht. Allerdings wurden dort in einigen Bundesstaaten seit 1876, in der sog. „Jim Crow Ära“, Weiße und Farbige in Zügen und Bahnhöfen räumlich voneinander getrennt. Vgl. Barbara Young Welke: Recasting American Liberty. Gender, Race, Law, and the Railroad Revolution, 1865–1920, Cambridge 2001, S. 249–279. 300 Simmons, The Victorian Railway, S. 359. Freeman betont, dass vor dem Bau der Eisenbahn auch im englischen Personenverkehr der Terminus „Klasse“ noch nicht existiert habe. Zwar hätten Schiffsreisende bereits früher die Wahl zwischen unterschiedlichen Kabinenstandards gehabt, diese seinen jedoch mit Bezeichnungen wie „innen“, „außen“, „Kabine“ und „Deck“ klassifiziert worden. Ders., Railways, S. 109f. – Zur Begriffsgeschichte des Wortes „Klasse“: Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke, hg. von Erich Bayer, Stuttgart 1960, S. 259f.; Franz Martin Schmölz: Klasse, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, in 5 Bänden, hg. von der Görres-Gesellschaft, 7. Auflage, Bd. 3, Freiburg 1987, Sp. 535–538.
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einem schnelleren Zug eine geografische Distanz in kürzerer Zeit überwinden als ein Fahrgast dritter oder vierter Klasse. Der Kauf einer Fahrkarte erster, zweiter, dritter oder vierter Klasse entschied zudem darüber, innerhalb welcher sozialräumlicher Strukturen sich der oder die Reisende während seiner bzw. ihrer Fahrt auf dem Schienennetz des Zarenreiches bewegen sollte.301 Auch innerhalb der Bahnhöfe und Züge führte das Klassensystem der Eisenbahn zu einer klaren sozial-räumlichen Segregation. Fahrgästen der ersten und zweiten Klasse standen nicht nur separate Waggons und Abteile mit entsprechend luxuriöser Ausstattung zur Verfügung.302 Auch in vielen Bahnhöfen hatten sie Zugang zu eigenen Wartesälen, Buffets sowie Gepäck- und Fahrkartenschaltern.303 Größe und Ausstattung der Räumlichkeiten, die Reisenden der einzelnen Klassen zustanden, war dabei in Russland seit den 1880er Jahren gesetzlich normiert. Ein Reglement aus dem Jahr 1886 sah vor, dass jedem Fahrgast dritter Klasse im Wartesaal eines Bahnhofs mindestens 1,14–1,5 m2 (0,25–0,33 sažen2) zur Verfügung stehen müssten. Passagiere der ersten und zweiten Klasse hatten dagegen Anrecht auf 3,41 bis 4,55 m2 (0,75–1 sažen2) Warteraum.304 Diese Zahlen sollten Architekten bei der Konzeption neuer Bahnhofsbauten als Richtschnur dienen.305 Durch den überproportionalen Anstieg der Passagierzahlen der niederen Klassen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb die Einhaltung der staatlich vorgegebenen Normen für die Fahrgäste der niederen Klassen jedoch ein reiner Wunschtraum. Bereits in den späten 1870er Jahren wiesen die Mitarbeiter der Baranov-Kommission auf die zum Teil unerträglichen Zustände in den Räumen der dritten Klasse einzelner Stationen hin. Der Bahnhof von Ljubotin, einer Kleinstadt westlich von Char’kov, in der sich zwei wichtige Eisenbahnlinien kreuzten, wurde beispielsweise zu dieser 301 Vgl. dazu ausführlich auch Kap. 3.3. 302 Eine Verordnung vom 30.9.1875 (Zirkular Nr. 11.202) verfügte, Waggons der ersten Klasse dunkelblau, jene der zweiten Klasse goldgelb und die der dritten Klasse grün zu streichen. Vgl. Sistematičeskij sbornik dejstvujušich na russkich železnych dorogach uzakonenij, Bd. 1, S. 184f. Diese Praxis war (mit anderen Farben) z.B. auch in England üblich: Freeman, Railways, S. 110. 303 In aller Regel verfügten Stationen aller vier Kategorien („Klassen“) über getrennte Wartebereiche für Fahrgäste der Klassen „eins“ bis „drei“. In vielen Fällen wurde Passagieren der ersten und zweiten Klasse ein gemeinsamer Wartebereich zugewiesen. Reisende der vierten hatten in der Regel Zugang zu den Räumlichkeiten der dritten Klasse. Es konnte jedoch auch vorkommen, dass sich Wartende in kleineren Bahnhöfen der russischen Provinz einen Aufenthaltsraum teilen mussten. Vgl. Sankt-Peterburgsko-Moskovskaja železnaja doroga. Čerteži i sooruženij; Al’bom čertežej sooruženij vsech Rossijskich železnych dorog; Očerk seti russkich železnych dorog, ee ustrojstva, soderžanie i dejatel’nost’ po 1892 g. Al’bom čertežej, sostavlennyj i izdannyj po poručeniju Russkago Otdela postojannoj komissii meždunarodnych železnodorožnych kongressov v VIII-m otdelom Imperatorskago Russkago Techničeskago Obščestva, Sankt Peterburg 1896; Al’bom graždanskich sooruženij Moskovsko-Vindavo-Rybinskoj železnoj dorogi, o.O. 1908; Sergej Dem’janovič Karejša: Železnodorožnye stancii i nadležaščee ich ustrojstvo, oborudovanie, obsluživanie i proektirovanie, Bd. 1, Petrograd 1917, S. 270–283. 304 Vasil’ev; Ščetinin, Architektura železnodorožnych vokzalov, S. 15. 305 Dabei orientierten sich russische Planer auch an Richtwerten aus der westlichen Fachliteratur. Vgl. Karejša, Železnodorožnye stancii, S. 277–279.
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Zeit jährlich von ca. 86.000 Passagieren dritter Klasse frequentiert. Im Stationsgebäude stand diesen Fahrgästen als Aufenthaltsraum nur ein Durchgangszimmer in der Größe von drei bis vier sažen2 (14–18 m2) zur Verfügung.306 Auch die räumlichen Verhältnisse in einigen Bahnhöfen der Hauptstädte waren in dieser Zeit bereits äußerst angespannt. So wurde das Stationsgebäude der NižnijNovgorod-Eisenbahn in Moskau schon 1881 von offizieller Seite als „eng, stickig und völlig ungeeignet für die Beherbergung einer beträchtlichen Anzahl von Passagieren“ kritisiert.307 Angesichts explodierender Fahrgastzahlen wurden um die Jahrhundertwende in zahlreichen Großstädten des Zarenreiches Projekte für die Erweiterung oder den Neubau von Bahnhofsgebäuden in Angriff genommen.308 So sollte zum Beispiel in Kiev im Jahr 1900 die alte Passagierstation der Süd-West-Eisenbahn durch einen geräumigen Neubau ersetzt werden – ein Projekt, dessen Realisierung jedoch letztendlich am Mangel finanzieller Mittel scheiterte. Im geplanten Bahnhof waren insgesamt 1.186 sažen2 für Vestibüle, Wartesäle und Restaurants vorgesehen. An der ungleichen Verteilung dieser Fläche auf die einzelnen Fahrgastgruppen wollten die Planer jedoch nichts ändern. Im Gegenteil: Während das Größenverhältnis der Aufenthaltsräume für Passagiere der ersten und zweiten bzw. der dritten Klasse im alten Gebäude noch 1:1,6 (37:60 sažen2) betrug, sollte sich dieses im Neubau, zu ungunsten der Fahrgäste dritter Klasse, auf ein Verhältnis von 1:1 (jeweils 298 sažen2) reduzieren.309 Dies konterkarierte die klar gegenläufige Entwicklung der Fahrgastzahlen in den einzelnen Klassen: Zum Zeitpunkt der Planungen wurde der Zentralbahnhof in Kiev täglich von nur ca. 450 Fahrgästen erster und zweiter Klasse und von ca. 2.000 Passagieren dritter Klasse frequentiert. Kunden vierter Klasse und reisende Rekruten eingerechnet, wurden um 306 Doklad o passažirskom dviženii, S. 9. 307 Doklad o passažirskom dviženii, S. 6. Vgl. dazu auch: Naši železnodorožnye vokzaly, in: Moskovskie vedomosti, 15.9.1881, Nr. 256, S. 3. 308 Zum Bahnhofsneubau in Kazatin (1887–1891): Novaja stancija Kazatin’. Al’bom, hg. von Jugo-Zapadnye železnye dorogi, o.O., o.J. [NTB PGUPS, Sign.: 23435.19]; S. Podgurskij: Novaja stancija Kazatin Jugo-Zapadnych železnych dorog, Kiev 1896 (Wiederabdruck aus der ZS Inžener, 1896); Zur Erweiterung des Jaroslavskij (1904) und Kazanskij vokzal (1913– 1926) in Moskau vgl. Petuchova, Ploščad’ trech vokzalov, S. 73–106; zum neuen Moskauer Bahnhof der Alexander-Bahn (Moskau-Brest) (1912): Putevoditel’ po Aleksandrovskoj železnoj dorogi, S. 72-78; zum (nicht realisierten) Neubauprojekt des Bahnhofs der NikolajBahn in St. Petersburg: Proekt rasširenija vokzala, in: Novoe vremja, Nr. 7049, 13.10.1895, S. 3; Perestrojka vokzala, in: St. Peterburgskie vedomosti, Nr. 65, 8.3.1902, S. 4; Perestrojka vokzala, in: Vedomosti Sankt Peterburgskogo gradonačal’stva, Nr. 55, 9.3.1902, S. 2; Predstojaščee stroitel’stvo novogo zdanija vokzala, in: Novoe vremja, Nr. 11333, 30.9.1907, S. 5; Perestrojka Nikolaevskogo vokzala, in: Zodčij, 1910, Nr. 17, S. 185; Poslednerazrabotannyj proekt pereustrojstva passažirskogo vokzala stancii S.-Peterburg Nikolaevskoj železnoj dorogi in: Železnodorožnoe delo 30 (1911), Nr. 17–19, S. 136–137. Zum Erweiterungsprojekt des Baltijskij vokzal in St. Petersburg (1910–11): CGIA SPb f. 1374, op.1, ed. chr. 495. 309 K. Tichomirov: Po povodu postrojki vremennago i novago postojannago passažirskich zdanij na st. Kiev I Jugo-Zapadnych železnych dorog, in: Železnodorožnoe delo 28 (1909), Nr. 42, S. 225–232, hier S. 226.
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die Jahrhundertwende ca. 5.000 Menschen täglich durch die Station geschleust.310 Für die kommenden Jahre gingen die Planer von einem weiteren Anstieg der Fahrgastzahlen auf 650 Passagiere erster und zweiter, 2.850 Fahrgäste dritter sowie 7.000 Kunden vierter Klasse aus.311 Unter Anwendung eines Koeffizienten von 18:6:1 (je 100 Passagiere/Tag) errechneten Ingenieure aus diesen Zahlen die Größe der neu zu bauenden Wartesäle (samt Restaurants) für die erste und zweite (112), dritte (172) und vierte Klasse (70 sažen2). Einem Passagier der obersten Klasse sollte im größten geplanten Bahnhofsneubau des Zarenreiches dreimal bzw. achtzehn Mal mehr Platz zur Verfügung stehen als einem Mitreisenden aus der dritten bzw. vierten Klasse.312 An wenigen Orten des öffentlichen Raums im Zarenreich manifestierte sich die Vorstellung von den unterschiedlichen Rechten und Bedürfnissen von Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten in einer räumlich so klar messbaren Form wie am großstädtischen Bahnhof. Auch in St. Petersburg, wo die reiche Moskau-Windau-Rybinsk-Eisenbahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Ort des ältesten Bahnhofs der Stadt den Neubau ihrer Passagierstation realisieren konnte, sollte die ungleiche Flächenverteilung der Wartebereiche für die Passgiere erster und zweiter bzw. dritter Klasse erhalten bleiben.313 Bei diesem Bauvorhaben gingen die Planer davon aus, dass jeder Passagier der oberen Klassen im entsprechenden Wartesaal Anspruch auf eine Fläche von einem sažen2 habe, während einem Fahrgast dritter Klasse nur die Hälfte dieser Fläche zustand.314 In dem prächtigen Jugendstilbau, der am 1. August 1904 feierlich eröffnet und von Beobachtern als „ganz und gar europäisch und einzigartig in Russland“ gefeiert wurde, standen Passagieren der ersten und zweiten Klasse Wartebereiche (incl. Restaurants) in einer Gesamtfläche von 149 sažen2 zur Verfügung.315 Kunden dritter 310 Tichomirov, Po povodu postrojki, S. 226. 311 Tichomirov, Po povodu postrojki, S. 226. 312 Die größten Passagierstationen des Zarenreiches waren um 1900 folgende Bahnhöfe (mit Angabe der entsprechenden Nutzfläche in sažen2: Kurskij i Nižne-Novgorodskij vokzal in Moskau (1.277), Odessa (944), Nikolaj-Bahnhof in St. Petersburg (906), Nikolaj-Bahnhof in Moskau (799), Nižnij Novgorod (649), Kiev, Süd-West-Eisenbahn (526). Tichomirov, Po povodu postrojki, S. 225. 313 Zur Planungs- und Baugeschichte des neuen Bahnhofs der Moskau-Windau-Rybinsk Eisenbahn in St. Petersburg (Architekt: Stanislav A. Bržozovskij) vgl. u.a. CGIA SPb f. 513, op. 146, ed. chr. 551, ll. 19ff. op. 137, ed. chr. 816; f. 569, op. 11, ed. chr. 1233a, ll. 10–96ob.; Konkurs po sostavleniju proektov fasadov i razrezov passažirskogo zdanija na Peterburgskoj stancii Sankt Peterburg-Vitebskoj linii, in: Stroitel’. Vestnik architektury i domovladenija i sanitarnago zodčestva, 1901, Nr. 7, Sp. 241–278; Iz otzyva žjuri po konkursu proektov fasada i razrezov passažirskogo zdanija na st. Peterburg Sankt Peterburg-Vitebskoj linii, in: Zodčij 30 (1901), Nr. 6, S. 79 sowie Nr. 5–6, Tafeln 24, 28–30; Peterburgskaja stancija MoskovskoVindavo-Rybinskoj železnoj dorogi, in: Zodčij 31 (1902), Nr. 51, S. 583–586; S. A. Bržozovskij: Peterburgskij vokzal Moskovskoj-Vindavo-Rybinskoj železnoj dorogi, in: Stroitel’, 1903, Nr. 19–24, Sp. 739–750; Bogdanov, Vokzaly, S. 47–52; Karejša, Železnodorožnye stancii, S. 317–319. 314 Al’bom graždanskich sooruženij Moskovsko-Vindavo-Rybinskoj železnoj dorogi, S. 5. 315 Reaktion in der Zeitung Novoe vremja vom 2. August 1904, zit. nach Bogdanov, Vokzaly, S. 51.
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Klasse, deren Zahl nach Schätzungen der Planer mehr als doppelt so groß war, mussten sich dagegen mit insgesamt nur 140 sažen2 zufrieden geben.316 Die Passagiere der russländischen Eisenbahnen sahen sich auch in den Zügen mit einer dramatisch ungleichen Verteilung räumlicher Kapazitäten konfrontiert. Trotz der großen Vielfalt an Waggontypen, die auf den Eisenbahnen des Zarenreiches im Einsatz waren, hatten Passagiere der dritten (und später der vierten) Klasse in Personenzügen deutlich weniger Platz als Mitreisende der oberen Kategorien.317 Wie in den Bahnhöfen verschärfte sich dabei mit dem dramatischen Anstieg der Fahrgastzahlen der niederen Klassen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in den Personenzügen die räumliche Situation zunehmend. Um die Jahrhundertwende war die Erfahrung einer Reise in großzügigen und nahezu leeren Waggons für einen russischen Passagier erster Klasse ebenso typisch wie das Erlebnis begrenzter Bewegungsfreiheit und räumlicher Enge für einen Fahrgast der dritten oder vierten Klasse. In den Personenwaggons, die 1851 auf der Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau zum Einsatz kamen, stand einem Passagier erster Klasse – bei normaler Auslastung – eine Grundfläche von 1,43 m2 zur Verfügung, während sich ein Fahrgast dritter Klasse mit weniger als einem Drittel dieser Fläche (0,45 m2) begnügen musste.318 Bereits 1875 legte das Verkehrsministerium Normen für die Größe der Sitzflächen in russischen Personenwaggons fest. Die Beamten gingen dabei wie selbstverständlich davon aus, dass einem Passagier der dritten Klasse nicht in gleichem Maße Bewegungsfreiheit und die Respektierung 316 Al’bom graždanskich sooruženij Moskovsko-Vindavo-Rybinskoj železnoj dorogi, S. 5. 317 Die Heterogenität des Personenfuhrparks auf den Eisenbahnen des Zarenreiches erklärt sich dadurch, dass, abgesehen von der Produktion des Aleksandrovskij zavod in St. Petersburg, bis Anfang der 1870er Jahre in Russland selbst kaum Eisenbahnwaggons hergestellt wurden und man den wachsenden Bedarf an rollendem Material über Importe aus dem westlichen Europa deckte. Während z.B. die in den Petersburger Werken hergestellten Personenwaggons der Nikolaj-Bahn dem Typ amerikanischer Züge entsprachen und die Aufteilung in Coupés nicht kannten, waren auf anderen Strecken Importe aus deutschen, französischen oder belgischen Fabriken im Einsatz. Mit der Ausweitung der heimischen Waggonproduktion seit den 1870er und 1890er Jahren wurden Personenwaggons westeuropäischer Bauart zunehmend aus dem Eisenbahnverkehr in Russland verdrängt. (Zur Unterscheidung von Personenwaggons des “europäischen” bzw. “amerikanischen” Typs: Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 67–105.) – Zur Konstruktion und Aufteilung von Personenzügen im Zarenreich: Stepan Muro, Robert von Frank: Karmannyj al’bom podvižnago sostava obščestva rossijskich železnych dorog, Sankt Peterburg 1867; Doklad o passažirskom dviženii, S. 103–165; Doklad Peterburgskoj podkomissii, S. 1–7; V. Arciš: Vagony russkich železnych dorog. Lekcija, čitannych v Kremenčugskom techničeskom železno-dorožnom učilišče, Kremenčug 1887; Čertež passažirskogo vagona 1-go klassa (Char’kovo-Nikolaevskaja železnaja doroga) (= RGIA f. 265, op. 4, ed. chr. 1182, l. 148); Al’bom čertežej podvižnogo sostava železnych dorog, ėkspon. na Vserossiijskoj vystavke v Nižnom Novgorode v 1896 g., Sankt Peterburg 1898 (2 Bde); Al’bom planov passažirskich vagonov na Nikolaevskoj železnoj doroge (1903) (= CGIA SPb f. 1480, op. 16, ed. chr. 8); Leonid Abramovič Šadur: Razvitie otečestvennogo vagonnogo parka, Moskva 1988, S. 42–61. Zur Konstruktion für den Personenverkehr umgebauter Güterwaggons (sog. tepljuški): Aleksandr Aleksandrovič Ljubimov: Tepluški dlja perevozki ljudej na russkich železnych dorogach, Penza 1909. 318 Šadur, Razvitie, S. 43f.
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seiner Intimsphäre zustehe wie einem Reisenden der ersten Klasse.319 Als Anfang der 1890er Jahre der russische Ingenieur B. Gincburg eine Konstruktion von Schlafstätten für Waggons dritter Klasse entwickelte, die es Fahrgästen abverlangte, auf einer engen Pritsche direkt neben einem fremden Menschen zu nächtigen, rechtfertigte er diese Idee mit dem Hinweis, dass Passagiere dieser Klasse „weniger anspruchsvoll (menee trebovatel’nych)” seien als Kunden der höheren Klassen.320 Selbstverständlich genossen Fahrgäste der ersten und zweiten Klasse in ihren Wartesälen und Eisenbahnwaggons nicht nur mehr Freiraum, sondern auch mehr Komfort. 1886 legte das Verkehrsministerium verbindlich fest, dass ein Wartesaal dritter Klasse in einem russischen Bahnhof mit Holzbänken und Tischen, einer Ikone, einem Fahrplan, einem Thermometer, Beleuchtung, einem Trinkwasserbehälter sowie einem Beschwerdebuch auszustatten sei. In den Sälen der höheren Klassen durften zudem gepolsterte Sessel, eine Wanduhr, eine Streckennetzkarte, eine Reinigungsmaschine für Trinkwasser, ein Aschenbecher sowie ein Spucknapf nicht fehlen.321 Luxus und Komfort in russischen Zügen und Bahnhofsrestaurants erster Klasse waren legendär und lösten schon im frühen Eisenbahnzeitalter bei in- und ausländischen Reisenden wahre Begeisterungsstürme aus. (Abb. 10) Die Käufer billigerer Fahrkarten mussten sich dagegen mit harten Sitzbänken, schlechter Beleuchtung, Heizung und Lüftung sowie bedenklichen hygienischen Bedingungen in der „Holzklasse“ zufrieden geben. Seit den 1890er Jahren waren im Zarenreich zudem Güterwaggons im Einsatz, die für den Personenverkehr 319 Die am 23.7.1875 festgelegten Mindestnormen für die Größe von Sitzen in der ersten, zweiten und dritten Klasse betrugen 5,5, 3,8 und 2,8 fut2. Diese Richtwerte wurden von den Betreibern der Eisenbahnlinien in den 1870er Jahren weitgehend respektiert. Dies legen die Untersuchungen der Baranov-Kommission nahe: Die Fläche, die Reisenden in den Personenzügen zum Sitzen zur Verfügung stand, betrug in der ersten Klasse – je nach Bauart des Waggons – 5–17 fut2 (0,45–1,53 m2), in der zweiten 4–13 fut2 (0,36–1,17 m2) und in der dritten 2,6–6,5 fut2 (0,2–0,58 m2). Doklad o passažirskom dviženii, S. 112. 320 O spal’nych vagonach III. Klassa (pis’ma v red.), in: Železnodorožnoe delo 11 (1892), Nr. 29–30, S. 319–321; Nr. 35–36, S. 376–377, hier S. 377. Den Vorwurf von Kollegen, es sei für einen Passagier nicht zumutbar, wenn ein Reisender über seinen schlafenden Nachbarn steige, um von der Liege auf den Gang zu gelangen, wies Gincburg zurück. Da die meisten Menschen mit angewinkelten Beinen schliefen, könnte ein Fahrgast von seinem Liegeplatz an der Wand über das Fußende der Pritsche auf den Gang gelangen, ohne seinen schlafenden Bettnachbarn zu stören. Gincburg reagierte damit auf die Kritik des Architekten M. Ju. Levestam, der es als „äußerst unpraktisch und unangenehm” empfand, wenn die Privatsphäre von Menschen, „die sich meistens nicht kennen” derart verletzt werde. Ebd., S. 320, 377. Gincburg wies dagegen auf den zusätzlichen Komfort hin, den seine Konstruktion Passagieren verschaffe, die in gewöhnlichen Waggons dritter Klasse im Sitzen oder auf dem Boden schlafen müssten. Schließlich hätten Fahrgäste aller Klassen das Recht, bei Tage im Sitzen und bei Nacht im Liegen zu reisen. Vgl. B. Gincburg: Passažirskij vagon III klassa, obraščaemyj v spal’nyj, bez umen’šenija čisla mest, sistemy inženera B. Gincburga, in: Železnodorožnoe delo 11 (1892), Nr. 43–44, S. 440–443, hier S. 440; ders.: K voprosu o spal’nych vagonach III. Klassa, in: ebd. 15 (1896), Nr. 1, S. 5–9. 321 Postanovlenie Ministra Putej Soobščenija, 30.11.1886, Nr. 10.771, in: Sistematičeskij sbornik dejstvujušich na russkich železnych dorogach uzakonenij, Bd. 1, S. 63.
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umgebaut worden waren. Diese sogenannten „tepluški“ wurden von „Reisenden“ vierter Klasse sowie von Übersiedlern genutzt, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in großer Zahl ihr Glück in Sibirien und Zentralasien suchten.322 Die Bereiche, die Reisenden der unterschiedlichen Klassen in Bahnhöfen und Zügen des Zarenreiches zur Verfügung standen, waren in der Regel räumlich klar voneinander getrennt (Abb. 11). Schon die Planer der ersten russischen Passagierstationen legten die Grundrisse ihrer Bauten so an, dass sich Fahrgäste der verschiedenen Fahrgastgruppen dort nach Möglichkeit nicht oder nur kurz begegneten.323 So gelangten Passagiere der ersten und zweiten bzw. der dritten Klasse am Petersburger Bahnhof der St. Petersburg-Moskau-Eisenbahn (ab 1855 „NikolajBahn“) über getrennte Eingänge in ihre Warteräume und durch separate Ausgänge auf den Bahnsteig für abfahrende Züge.324 Auf dem Weg der Reisenden zu ihren Waggons waren Begegnungen zwischen den einzelnen Passagiergruppen jedoch nicht zu vermeiden. Neben den Bahnsteigen waren in vielen Bahnhöfen auch die Eingangshallen, Vestibüle und Buffets sowie die Schlangen vor Fahrkarten- und Gepäckschaltern Sphären des potentiellen sozialen Kontakts. Dort, wo für die Verpflegung von Reisenden nur ein Raum zur Verfügung stand, war auch das Bahnhofsbuffet ein Ort möglicher zwischenmenschlicher Interaktion. Völlig getrennt von den Bereichen der „gewöhnlichen“ Passagiere waren an Bahnhöfen der ersten und zweiten Kategorie (1-go i 2-go klassa) die Räumlichkeiten, die Mitglieder der kaiserlichen Familie und andere hochrangige Würdenträger während ihrer Reisen durch das eigene Land nutzen konnten. Meistens waren diese Gemächer und repräsentativen Empfangsräume, die oft über einen eigenen Eingang bzw. eine entsprechende Auffahrt verfügten, in der Nähe des Wartesaals für die erste und zweite Klasse angesiedelt.325 Diese Nachbarschaft wertete den symbolischen Status der Räumlichkeiten der oberen Klassen innerhalb der Topografie des Bahnhofs weiter auf.
322 Zur Praxis und Wahrnehmung der Eisenbahnreise in Russland vgl. Kap. 4.2.1. und 4.3. 323 Sankt-Peterburgsko-Moskovskaja železnaja doroga. Čerteži i sooruženij; RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 267, ll. 138-144 und l. 148 (Grundrisse: Warschauer Bahnhof und Bahnhof der Nikolaj-Bahn in Petersburg 1898/1909); Al’bom čertežej sooruženij vsech Rossijskich železnych dorog; Očerk seti russkich železnych dorog, al’bom čertežej; Vasil’ev, Ščetinin, Architektura železnodorožnych vokzalov, S. 12 (Grundriss des Bahnhofs der Nikolaj-Bahn in Petersburg); Bogdanov, Vokzaly, S. 92; Bržozovskij, Peterburgskij vokzal, Sp. 743f. (Grundriss des Bahnhofs der Moskau-Windau-Rybinsk-Eisenbahn in St. Petersburg); Karejša, Železnodorožnye stancii, S. 295–319. 324 RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 267, l. 148. 325 Karejša, Železnodorožnye stancii, S. 274. – Nur wenige Stationen, so zum Beispiel der Petersburger Bahnhof der Moskau-Windau-Rybinsk-Eisenbahn, verfügten über einen eigenständigen Kaiserbahnhof. Zum Imperatorskij pavil’on am heutigen Vitebskij vokzal in St. Petersburg: Imperatorskij pavil’on Moskovsko-Vindavskoj železnoj dorogi, in: Zvezda, 1901, Nr. 52, S. 20–21; Novyj Carskij pavil’on Moskovsko-Vindavo-Rybinskoj železnoj dorogi, in: Stroitel’, 1901, Nr. 2, S. 129–130; Al’bom graždanskich sooruženij Moskovsko-VindavoRybinskoj železnoj dorogi, S. 38–39 (sowie Bildteil o.P.); Bogdanov, Vokzaly, S. 41–45.
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3.5.3. Alternative gesellschaftliche Ordnungsmuster an Orten des Eisenbahnsystems Für die meisten Zeitgenossen war es ein Allgemeinplatz, dass Repräsentanten des Adels, reiche Kaufleute, hohe Beamte und westliche Ausländer in Waggons der ersten Klasse reisten, während das „einfache (prostoj)“ oder „graue (seryj)“ Volk, d.h. z.B. Bauern, Arbeiter, Kleinbürger und Angestellte – so sie sich überhaupt eine Fahrkarte leisten konnten – in der dritten oder vierten Klasse zu finden waren. Dass Vertreter der wohlhabenden und privilegierten Schichten des Zarenreiches in den Waggons und Räumlichkeiten der ersten und zweiten Klasse meist unter sich blieben, lag vor allem daran, dass für die überwältigende Mehrheit der Passagiere die entsprechend teureren Fahrkarten unbezahlbar waren. War ein Vertreter aus einem unterprivilegierten Stand jedoch durch erfolgreiche ökonomische Tätigkeit oder Karriere im Staatsdienst zu Geld und Wohlstand gekommen, so stand es ihm frei, sich in der Klassengesellschaft des Eisenbahnsystems in die höchste Statusgruppe einzukaufen und deren Privilegien in Anspruch zu nehmen.326 Dadurch waren die sozial-räumlichen Grenzen an diesen „Orten der Moderne“ um einiges durchlässiger als die sozialen Barrieren der Stände (soslovie)Ordnung des Zarenreiches. Das neuzeitliche Versprechen von der Möglichkeit eines leistungsbedingten gesellschaftlichen Aufstiegs schien in Zügen und Bahnhöfen in geradezu paradigmatischer Form in Erfüllung zu gehen.327 Wollte sich ein Passagier der dritten Klasse in einem russischen Bahnhof Zutritt zu den Räumlichkeiten der exklusiven Fahrgastgruppen verschaffen, so musste er nicht unbedingt ein teureres Ticket lösen. Verfügte er über eine „ordentliche Garderobe“, d.h. entsprach sein Äußeres den Kleidernormen der „zivilisierten“ Gesellschaftsschichten, so standen ihm, gemäß einer Verordnung aus dem Jahr 1891, Kantinen und Buffets der ersten und zweiten Klassen offen.328 Fahrgäste der billigeren Klassen machten offensichtlich in zunehmendem Maße von diesem Recht Gebrauch. So schrieben zum Beispiel die Planer des neuen Bahnhofs der Moskau-Windau-Rybinsk-Eisenbahn in St. Petersburg in einer Publikation über das von ihnen errichtete Gebäude, dass sich Reisende der dritten Klasse verstärkt von der „Ordnung und Sauberkeit sowie den Restaurants“ in den Wartesälen der ersten und zweiten Klasse angezogen fühlten.329 Adelige und hohe Beamte reagierten dagegen mit Befremden und Empörung auf das Eindringen des „einfachen Volkes“ in ihre exklusiven räumlichen Sphären. So beschwerte sich beispielswei326 Die Angestellten der Bahngesellschaften waren angewiesen, alle Passagiere, ungeachtet der Fahrgastklasse, in der sie reisten und ungeachtet ihres „sozialen Stands“ immer „höflich, aufmerksam und zuvorkommend“ zu behandeln. CGIA SPb f. 1374, op. 1, ed. chr. 343, l. 43– 43ob. – Dass sich die Bediensteten nicht immer an diese Vorgaben hielten, steht auf einem anderen Blatt. 327 Umgekehrt konnten sparsame oder ärmere Vertreter der privilegierten Stände natürlich auch die niederen Fahrgastklassen nutzen, was offensichtlich häufiger vorkam als die Nutzung der ersten Klasse durch Bauern oder Arbeiter. 328 Pravila pol’zovanija passažirskimi pomeščenijami železnodorožnych stancij (8.1.1891), § 7. 329 Al’bom graždanskich sooruženij Moskovsko-Vindavo-Rybinskoj železnoj dorogi, S. 5.
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se der Adelsmarschall Ganeckij aus dem uezd Kobrin am 28. Februar 1893 beim Verkehrsministerium über die Anwesenheit von Passagieren dritter Klasse im noblen Bahnhofsrestaurant seiner Kreisstadt. In ihrem Antwortschreiben konnte die Behörde dem aufgebrachten Adeligen jedoch nur mitteilen, dass dieser Umstand im Einklang mit der gültigen Rechtsordnung stehe.330 Auch in russischen Personenzügen waren die räumlichen Sphären der verschiedenen Fahrgastgruppen nicht hermetisch voneinander getrennt. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass der 1906–07 diskutierte Vorschlag, in so genannten „gemischten Zügen“ die Verbindungstüren zwischen der ersten und zweiten bzw. der dritten Klasse zu verriegeln, um so das Eindringen von Dieben und „Übeltätern (zlomyšlenniki)“ aus den billigeren in die teureren Klassen zu verhindern, innerhalb der staatlichen Eisenbahnverwaltung (Upravlenie železnych dorog) nicht durchsetzbar war. Kritiker dieser Idee wiesen darauf hin, dass die Betriebsordnung der Bahnen aus Gründen des Feuerschutzes nicht verändert werden dürfe und die Übergänge von der einen in die andere Klasse weiterhin offen zu halten seien.331 An diesem Beispiel wird deutlich, dass an Orten des Eisenbahnsystems allein aus betriebstechnischen Gründen die sozial-räumlichen Grenzen zwischen den verschiedenen Statusgruppen durchlässiger sein mussten als außerhalb der industriell organisierten Welt. Die Bedeutung der „Klassentrennung“ innerhalb des Eisenbahnsystems wurde außerdem durch den Bedeutungszuwachs anderer Formen sozialer Stratifikation relativiert. So standen zum Beispiel Rauchern und Nichtrauchern sowie männlichen und weiblichen Passagieren in russischen Zügen und Bahnhöfen jeweils eigene räumliche Bereiche zur Verfügung. Die Definition sozial-räumlicher Grenzen dieser Art resultierte aus spezifischen Erfahrungen mit Mobilität im industriellen Zeitalter und war das Ergebnis zum Teil langer politischer Entscheidungsprozesse. Aufschlussreich ist hier insbesondere die Debatte, die in Russland seit den 1870er Jahren um die Einrichtung von exklusiven Zugabteilen bzw. Warteräumen für Frauen geführt wurde. Dass sich die Frage nach der Geschlechterordnung im öffentlichen Raum im Zeitalter der Eisenbahn auch in Russland neu stellte, lässt sich exemplarisch am Reisebericht des Übersetzers klassischer Literatur Aleksandr Klevanov illustrieren, der im Sommer 1870 in einem Wagen zweiter Klasse von Char’kov nach Moskau reiste. Der Zug, in dem Klevanov fuhr, war nicht voll besetzt. Zu seiner zufälligen Reisegesellschaft zählten neben einigen anderen Männern auch eine Frau, die sich auf der Rückreise von der Kur in Pjatigorsk nach Moskau befand. An der gemischten Besetzung des Großraumabteils nahm Klevanov keinen Anstoß, auch in Kutschen reiste man schließlich bis dahin immer wieder sowohl in männlicher als auch in weiblicher Gesellschaft. Empörung weckte bei ihm jedoch das Verhalten seiner männlichen Mitreisenden, die sich erdreisteten, ungeachtet der Anwesenheit einer Dame ihr Hemd auszuziehen und sich auf dem Diwan auszubreiten: 330 RGIA f. 265, op. 4, ed. chr. 1182, l. 690f. Vgl. auch: ebd. l. 487. – Zur Eisenbahn als Raum sozialer Begegnung und Interaktion vgl. insbes. Kap. 4.2.1. 331 RGIA, f. 273, op. 12, ed.chr. 145, ll. 1–14; ed. chr. 865, l. 37.
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„Das ist eine Ungeheuerlichkeit! Und ich glaube, dass man dergleichen nur bei uns beobachten kann. Sich am helllichten Tage in Anwesenheit einer Dame hinzulegen, die Beine auszustrecken und sich in ganzer Länge in unflätigen Posen zu zeigen, wird nirgends geduldet. In der Eisenbahn aber ist das möglich. Man kann auch nirgendwo anders hingehen, weil es überall dasselbe ist: Nein, es wäre in einem solchen Falle angebracht, wenn es separate Abteile für Männer und für Frauen gäbe. Im Übrigen hat sich einer der Männer sogar erdreistet, sich ganz auszuziehen und nur im Hemd zu bleiben.“332
In Russland, wo die mit der Bahn zurückzulegenden Distanzen oft lang waren und die Züge meist langsam fuhren, waren Menschen unterschiedlichen Geschlechts häufig genötigt, mehrere Tage und Nächte gemeinsam auf engstem Raume zu verbringen. Dies machte die Aushandlung der Grenzen von Privat- und Intimsphären sowie von Verhaltensregeln für Männer und Frauen im halböffentlichen / halbprivaten Raum von Zügen und Bahnhöfen nötig.333 1874 rief diese Frage das Verkehrsministerium auf den Plan, das alle Bahngesellschaften anwies, nach dem Vorbild ausländischer und einiger russischer Bahnen in Waggons erster und zweiter Klasse entsprechende Damenabteile einzurichten.334 Zu diesen Coupés sollten 332 Aleksandr Semenovič Klevanov: Putevyja zametki za graniceju i po Rossii v 1870 godu, Moskva 1871, S. 532. Ähnlich irritiert von der Nähe der Geschlechter in russischen Zügen waren Reisende aus dem westlichen Ausland noch Anfang des 20. Jahrhunderts: Vgl. z.B. Digby, Wright, Through Siberia (1913), S. 7. 333 1890 wurde zum Beispiel reisenden jungen Frauen vom Autor eines Ratgebers für gutes Benehmen nahe gelegt, sich in Zügen nicht hinzulegen oder die Beine auszustrecken, weil diese dadurch „allzu freien Blicken“ ausgesetzt würden. Vgl. Žizn’ v svete, doma i pri dvore, Sankt Peterburg 1890, zit. nach: Frolov, Vokzaly Sankt Peterburga, S. 64. – Dmitrij Zacharin vertritt die These, dass die Grenzen „intimer Territorien“ in Russland bis ins 19. Jahrhundert noch nicht so scharfe Konturen angenommen hätten, wie in den Ländern West- und Mitteleuropas. Dabei stützt er sich vor allem auf Beobachtungen und Berichte westlicher Russlandreisender. Vgl. ders.: Antropologija i genealogija intimnosti, in: Nadežda Grigor’eva (u.a.) (Hg.): Nähe schaffen, Abstand halten. Zur Geschichte der Intimität in der russischen Kultur, Wien 2005 (= Wiener Slawistischer Almanach Sonderband 62), S. 61–84, insbes. S. 80–84. – Der Reisebericht von Klevanov oder das Benimmbuch aus dem Jahr 1890 legen jedoch den Schluss nahe, dass in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in gebildeten Kreisen bereits ähnliche Vorstellungen von der Abgrenzung intimer (weiblicher und männlicher) Sphären im öffentlichen Raum existierten wie im „Westen“. 334 Zur Geschichte des „Frauenabteils”: Freiherr von Röll: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 5, Berlin, Wien 1914, S. 204f. s.v. „Frauenabteil“; Welke, Recasting American Liberty, S. 254, 282; Diane Drummond: The Impact of the Railway on the Lives of Women in the Nineteenth-Century City, in: Ralf Roth, Marie-Noëlle Polino (Hg.): The City and the Railway in Europe, Aldershot 2003, S. 237–255, insbes. S. 248–251. In russischen Bahnhöfen gab es seit Anfang der 1850er Jahre separate Warteräume für weibliche Passagiere (der ersten und zweiten Klasse). Vgl. Haywood, Russia Enters, S. 228; Sankt-Peterburgsko-Moskovskaja železnaja doroga. Čerteži i sooruženij; Očerk seti russkich železnych dorog; Očerk seti russkich železnych dorog, al’bom čertežej. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in der russischen Presse verstärkt die Einrichtung separater Warteräume auch für weibliche Passagiere der dritten und vierten Klasse gefordert. Vgl. z.B. G. Jurčenko: Čto ne sleduet upuskat’ iz vidu pri proektirovanii passažirskich zdanij dlja stancij III, II i I klassov, in: Železnodorožnoe delo 26 (1907), Nr. 4, S. 49. Auch die Einrichtung getrennter Räume für Frauen an Bahnhöfen folgte westlichen Vorbildern. Vgl.: Richards, MacKenzie, Railway Station, S. 158; Simmons, Victorian Railway, S. 335f.; Welke, Recasting American
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Männer selbst dann keinen Zutritt haben, wenn sie reisende Damen begleiteten.335 Das Recht, ungestört von männlicher Gesellschaft zu reisen, blieb zunächst ein Privileg weiblicher Passagiere der beiden höheren Klassen.336 Ab Februar 1891 war es gesetzlich jedoch auch vorgeschrieben, dass auf Bahnstrecken, auf denen mindestens zwei Zugpaare pro Tag verkehrten, weiblichen Passagieren aller drei Klassen in Nachtzügen entsprechende Abteile zur Verfügung stehen mussten.337 Die Verordnung ließ jedoch zahlreiche Ausnahmen zu und galt nicht für Züge, die am Tage verkehrten. Auch sogenannte „Arbeiterzüge“, das heißt Züge mit Waggons vierter Klasse, waren von der Verordnung ausgenommen.338 Nach wiederholten Beschwerden von Studentinnen, die sich über die Belästigung durch männliche Mitreisende in der dritten Klasse beklagten, wurde die staatliche Eisenbahnaufsicht im Juni 1891 erneut aktiv und rief in einer Zirkularverordnung die Bahngesellschaften dazu auf, für weibliche Studenten zu Beginn des Studienjahres spezielle Abteile bzw. Waggons dritter Klasse bereitzustellen.339 Diese Beispiele
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Liberty, S. 254, 282; Patricia Cline Cohen: Safety and Danger: Women on American Public Transport, 1750–1850, in: Dorothy O. Helly, Susan M. Reverby (Hg.): Gendered Domains. Rethinking Public and Private in Women’s History, Ithaca 1992, S. 109–122. Allgemein zu “Frauenräumen” bzw. “gendered domains” im öffentlichen Raum: Karin Hausen: Frauenräume, in: Journal für Geschichte, Nr. 2 (März/April) 1985, S. 12–15; Mary P. Ryan: Women in Public: Between Banners and Ballots, 1825–1880, Baltimore 1990. Cirkuljar’ Techničesko-Inspektorskago Komiteta železnych dorog Nr. 5563 vom 23.9.1874 (Ob ustrojstve, v vagonach pervych dvuch klassov, otdelenij dlja dam), in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 2 (1877), S. 127. Diese Verordnung wurde ein Jahr später für Bahnen zweiter und dritter „Kategorie (razrjad)” wieder gelockert. Vgl. Cirkuljar’ Techničesko-Inspektorskago Komiteta železnych dorog Nr. 5401, 24.9.1875 (O raspredelenii železnych dorog na razrjady v otnošenii ustrojstva v vagonach osobych otdelenij dlja dam i dlja nekurjaščich), in: ebenda, S. 176–178. Der Zugang zu Damenabteilen wurde in den Pravila dlja passažirov v poezdach železnych dorog vom 8.1.1891, § 9 geregelt. Gemäß dieser Bestimmung war es männlichen Passagieren über 10 Jahren verboten, Frauenabteile zu betreten. Vgl. O pravilach pol’zovanija passažirskimi pomeščenijami železnodorožnych stancij i pravila dlja passažirov v poezdach železnych dorog. Rasporjaženie, ob’javlennoe Pravitel’stvujuščemu senatu ministrom putej soobščenija, Ržev 1891. Doklad o passažirskom dviženii, S. 151–154. Pravila dlja passažirov v poezdach železnych dorog (8.1.1891), § 9; Cirkuljar Ministerstva Putej Soobščenija, Nr. 2364, 22.2.1891 (Pravila ob otvode v poezdach osobych otdelenij dlja dam), vgl. Železnodorožnoe delo 10 (1891), Nr. 10, S. 124; Cirkuljar po ėksploatacionnym otdelam Nr. 10.831, 27.4.1891 s pravilami ob otvode v poezdach kazennych železnych dorog osobych otdelenij dlja dam, in: Sistematičeskij sbornik uzakonenij i obščich rasporjaženij, Bd. 1, S. 688. Mit der Aufgabe, in Waggons dritter Klasse eigene Abteile für Frauen einzurichten, waren die russischen Eisenbahnverwaltungen offenbar überfordert. Als „Lösung” dieses Problems schlug das Verkehrsministerium im April 1891 vor, Frauen und Kinder in dieser Klasse völlig von jenen Passagieren zu trennen, die „angesichts ihres Gepäcks sowie den ihnen eigenen Gewohnheiten für alle anderen eine Zumutung darstellen.“ Cirkuljar po ėkspl. otd., 27.4.1891, Nr. 10.831. Cirkuljar’ Ministerstva Putej Soobščenija, 4.6.1891, Nr. 6981 (Ob otvedenii osobych pomeščenij dlja učaščichsja v vagonach III klassa), vgl. Železnodorožnoe delo 10 (1891), Nr. 23–24, S. 265.
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zeigen, wie an den Orten des russischen Eisenbahnraums gegen Ende des 19. Jahrhunderts sozial-räumliche Grenzen jenseits der „Klassenordnung“ neu gezogen wurden und wie dabei die Kategorie „Geschlecht“ eine deutliche Aufwertung erfuhr. Die Relativierung sozial-räumlicher Klassengrenzen des russländischen Eisenbahnraums im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lässt sich auch noch an einem anderen Beispiel aufzeigen. Die Erkenntnisse neuer Wissenschaftsdisziplinen wie zum Beispiel jene der „Sozialhygiene (obščestvennaja gigiena)“ stießen bei russischen Ingenieuren in den 1870er Jahren eine Debatte über die Aufteilung der Passagiere in „Klassen“ bzw. über die ungleiche Behandlung der verschiedenen Fahrgastgruppen an. Dabei reflektierten die Experten auch das Konzept des „homogenen Passagiers“, der aufgrund gleicher physiologischer Bedürfnisse nicht besser oder schlechter zu behandeln sei als ein Mitreisender eines anderen Standes. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im westlichen Europa intensiv über die gesundheitlichen Folgen der Nutzung der Eisenbahn für Zugpassagiere diskutiert.340 Einer der ersten russischen Wissenschaftler, der diese Debatten für interessierte Leser im eigenen Land aufarbeitete, war der Arzt Vladimir Ignat’evič Poraj-Košic (1843–1892). 1870–71 veröffentlichte er im Archiv für Gerichtsmedizin und Sozialhygiene (Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny) eine umfangreiche Studie über die „Eisenbahn aus sozialmedizinischer Sicht“, in der er versuchte, die Erkenntnisse der westlichen Forschung auf die russischen Verhältnisse zu übertragen.341 Ein längeres Kapitel der Arbeit Poraj-Košics ist der Frage 340 Vgl. z.B. Dr. Werm: Railway Travelling and its Effects on Health, in: Journal of Public Health and Sanitary Review 1 (1855); Le D’Prosper de Pietra Santa: Chemins de fer et santé publique, hygiène des voyageurs et des employés, Paris 1861. – Relativ gut ist die Geschichte medizinischer Diskurse über die psychischen Folgen der Eisenbahnreise, insbesondere des Eisenbahnunfalls (railway spine etc.) aufgearbeitet. Vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 106–149; Ralph Harrington: The Railway Journey and the Neuroses of Modernity, in: Richard Wrigley, George Revill (Hg.): Pathologies of Travel, Amsterdam 2000, S. 229–259; ders.: The Railway Accident: Trains, Trauma and Technological Crisis in Nineteenth-century Britain, in: Mark Micale, Paul Lerner (Hg.): Traumatic Pasts. History and Trauma in the Modern Age, Cambridge 2001, S. 31–56; Eric Caplan: Trains and Trauma in the American Gilded Age, in: ebd., S. 57–77; Andreas Killen: Berlin Electropolis. Shock, Nerves, and German Modernity, Berkeley 2006, S. 81–126; Laura Marcus: Psychoanalytic Training: Freud and the Railways, in: Matthew Beaumont, Michael Freeman (Hg.): The Railway and Modernity. Time, Space, and the Machine Ensemble, Oxford 2007, S. 155–175. 341 Vladimir Ignat’evič Poraj-Košic: Železnyja dorogi v sudebno–medicinskom i gigieničeskom otnošenijach, in: Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 6 (1870), Nr. 1, S. 122– 148; Nr. 2, S. 62–140; Nr. 3, S. 48–84; 7 (1871), Nr. 1, S. 59–81; Nr. 2, S. 78–99. Zur Person Poraj-Košics: http://dic.academic.ru/contents.nsf/enc_biography/ [aufgerufen am 30.7.2013]. Zur Geschichte der Zeitschrift Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny: P. E. Zabludovskij: Medicina v Rossii v period kapitalizma. Razvitie gigieny – Voprosy obščestvennoj mediciny, lekcii VIII i IX, Moskva 1956, S. 18–24; Aron Petrovič Žuk: Razvitie obščestvenno-medicinskoj mysli v Rossii v 60–70gg. XIX veka, Moskva 1963, S. 81–91. Nachdem das Archiv 1871 sein Erscheinen einstellen musste, wurde die Debatte über die sozialmedizinischen Folgen des Eisenbahnbetriebs in Russland in der Zeitschrift Zdorov’e weitergeführt: A. V-n: O našich železnych dorogach v sanitarnom otnošenii, in: Zdorov’e.
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gewidmet, welche Auswirkungen das Reisen mit der Eisenbahn auf die Gesundheit der Passagiere der einzelnen Klassen habe. Ein Aspekt, der ihn dabei besonders interessierte, war die Qualität der Atemluft, die einem Fahrgast während seiner Reise in einem vollbesetzten Eisenbahnwaggon zur Verfügung stand.342 Unter Bezugnahme auf neuere medizinische Erkenntnisse referierte der Arzt, dass ein erwachsener Mensch in einem geschlossenen Raum ca. 2.000 fut3 (ca. 60 m3) Atemluft in der Stunde benötige. Seinen Berechnungen zufolge standen 1870 einem Passagier erster Klasse in einem mit 16 Personen vollbesetzten Waggon der Hauptgesellschaft der russländischen Eisenbahnen nur je 212,5 fut3 (6,37 m3) Atemluft zur Verfügung. Auf einen Fahrgast dritter Klasse entfielen sogar nur 71,2 fut3 (2,14 m3). Aus diesen Zahlen leitete der Sozialmediziner die Forderung ab, die Personenzüge der russischen Eisenbahnen mit einer effektiven Ventilationstechnik auszustatten. Gleichzeitig plädierte er dafür, einen Personenwaggon mit einem Raumvolumen von 3.000–4.000 fut3 (90–120 m3) mit max. zwölf bis 16 Personen zu besetzen. Geradezu revolutionär mutete dabei die Forderung an, diese Richtwerte sowohl in der ersten als auch in der dritten Klasse zu berücksichtigen.343 Die gleiche Versorgung der Fahrgäste mit Bewegungsraum und Atemluft war für Poraj-Košic keine Frage sozialer Gerechtigkeit, sondern eine logische Ableitung aus allgemeinen physiologischen Beobachtungen: „Man kann kaum einen besseren Beweis für den Drang der Menschen nach Ausbeutung [anderer] finden. Die Luft erscheint uns als ein allgemeines Gut, das allen Lebewesen der Erde gehört, doch hier dient es [der Erwirtschaftung von] Profit! Gleichzeitig werden [auf den russischen Eisenbahnen] die Gesetze der Physiologie rücksichtslos mit Füßen getreten: Gerade den Passagieren der dritten Klasse müsste man mehr Luft zum Atmen geben, schließlich fahren hier vor allem Arbeiter, die einen kräftigeren Körperbau und stärkere Lungen haben und folglich mehr Sauerstoff benötigen.“344
Auch wenn die utopischen Forderungen dieses russischen Arztes aus den 1870er Jahren an naturrechtliche Traktate der Aufklärungsphilosophie erinnern, resultierten sie doch aus ganz pragmatischen, sozialhygienischen Überlegungen. Halte sich ein Mensch über längere Zeit in einem geschlossenen Raum mit schlechter Luftqualität – zum Beispiel in einem russischen Eisenbahnwaggon – auf, so PorajKošic, so schwäche dies den Organismus und erleichtere die Ansteckung an Bahnhöfen mit Krankheiten wie Cholera und Typhus.345 Allein aus epidemologischen Gesichtspunkten sollte man daher allen Passagiere der russischen Eisen-
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Naučno-populjarnyj gigieničeskij žurnal 2 (1875), Bd. 1, Nr. 7 (15.1.1875), S. 133–135; B. M. Šapiro: Naši železnyja dorogi v sanitarnom otnošenii, in: ebd. 2 (1875–76), Bd. 2, Nr. 34 (29.2.1876), S. 102–103. Zu dieser Zeitschrift vgl. Zabludovskij, Medicina v Rossii, S. 24. Poraj-Košic, Železnyja dorogi, in: Archiv sudebnoj mediciny, 7 (1871), Nr. 2, S. 86–99. Poraj-Košic, Železnyja dorogi, in: Archiv sudebnoj mediciny, 7 (1871), Nr. 2, S. 98. Poraj-Košic, Železnyja dorogi, in: Archiv sudebnoj mediciny, 7 (1871), Nr. 2, S. 87f. Poraj-Košic, Železnyja dorogi, in: Archiv sudebnoj mediciny, 7 (1871), Nr. 2, S. 92. – Die Überlegungen Poraj-Košics müssen im Kontext der breiteren sozialmedizinischen Debatten der Zeit über den Einfluss der Luftqualität bzw. CO2-Konzentration in geschlossenen Räumen auf die Gesundheit der Menschen, die sich dort aufhalten, gesehen werden. Vgl. dazu: E. I. Lotova: Russkaja intelligencija i voprosy obščestvennoj gigieny, Moskva 1962, S. 80–82.
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bahn in Personenzügen mindestens so viel Raum, d.h. Raumluft zugestehen wie gegenwärtig einem Fahrgast erster Klasse.346 Angesichts der Reisebedingungen, mit denen sich Passagiere der dritten Klasse schon in den 1870er Jahren auf russischen Eisenbahnen konfrontiert sahen, muteten die Forderungen Poraj-Košics wie Phantasien aus einer anderen Welt an. Dessen ungeachtet wurden sozialmedizinische Überlegungen dieser Art von Verkehrsplanern des Zarenreiches relativ breit rezipiert. So beschäftigten sich zum Beispiel auch die Mitarbeiter der von höchster Regierungsstelle eingesetzten Kommission zur Untersuchung des Eisenbahnwesens im Zarenreich (BaranovKommission) eingehend mit den sozialhygienischen Zuständen in russischen Zügen und Bahnhöfen. Angeregt durch die Arbeit Poraj-Košics und anderer Mediziner machten sich die Ingenieure Ende der 1870er Jahre daran, das Raummaß jener Luftmenge zu quantifizieren, die Menschen in einen russischen Eisenbahnwaggon zum Atmen blieb.347 Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen, die 1881 in einem ausführlichen Bericht über den russischen Personenverkehr veröffentlicht wurden, waren noch alarmierender als jene, die sich im Text Poraj-Košics fanden. Den aktuellen Messungen zufolge standen einem Passagier erster Klasse in Personenwaggons russischer Bahnen – je nach Bauart des Zuges – eine Luftmenge zwischen 41,5 und 173,7 fut3 (1,25–5,21 m3) zur Verfügung. Ein Reisender dritter Klasse konnte nur mit Atemluft im Umfang zwischen 22,6 und 51,6 fut3 (0,67– 1,54 m3) rechnen.348 Auch aufgrund der besseren Auslastung und der schlechteren Ventilation war die Qualität der Luft in Waggons der niederen Klassen um einiges schlechter als jene in der ersten Klasse.349 Die Schlussfolgerungen, die die Verkehrsexperten aus diesen Zahlen zogen, übertrafen jene Poraj-Košics noch an Schärfe. Auch die Ingenieure gingen von der Prämisse aus, dass jeder Passagier 346 Im Archiv sudebnoj mediciny erschienen in dieser Zeit wiederholt Artikel, die sich mit den desolaten Wohn- und Lebensverhältnissen von Arbeitern beschäftigten. Zabludovskij vermutet, dass der Abdruck eines Aufsatzes über die Lage der Arbeiter in Westeuropa aus sozialhygienischer Sicht im Jahr 1870, der streckenweise auf Das Kapital von Marx rekurrierte, dazu führte, dass die Zeitschrift 1871 ihr Erscheinen einstellen musste. Ders., Medicina v Rossii, S. 23. Žuk weist darauf hin, dass der Herausgeber der Zeitschrift, Sergej P. Lovcov, wegen dieses Vorfalls 1870 seinen Stuhl räumen musste. Ders., Razvitie, S. 81f., 88f. Das Archiv sudebnoj mediciny erschien ab 1872 wieder unter dem neuen Titel Sbornik sočinenij po sudebnoj medicine, obščestvennoj gigiene, ėpidemiologii, medicinskoj geografii i medicinskoj statistike. 347 In den 1870er Jahren unternahmen russische Sozialmediziner zu unterschiedlichen Jahresund Tageszeiten Messungen der Kohlendioxidkonzentration in Personenwaggons verschiedener Eisenbahngesellschaften. Dabei stellten sie insbesondere im Herbst, Winter und Frühjahr dramatische Überschreitungen der von Physiologen definierten Grenzwerte fest. Gleichzeitig wiederholten sie die Warnung Poraj-Košics, dass ein längerer Aufenthalt in einem geschlossenen Raum mit hohem CO2-Gehalt den Organismus schwäche und diesen anfälliger für ansteckende Krankheiten mache. Vgl. Izvlečenie iz doklada, sdelannago vračom N.F. Nagorskim na s’ezde estestvoispytatelej i vračej 28-go Dekabrja 1878 goda o porče vozducha v passažirskich vagonach, in: Doklad Peterburgskoj podkomissii dlja issledovanija železnodorožnogo dela v Rossii. Sanitarnaja čast’, Sankt Peterburg 1887, Beilage 6, S. XIX–XX. 348 Doklad o passažirskom dviženii, S. 110. 349 Doklad o passažirskom dviženii, S. 111.
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aufgrund gleicher physiologischer Bedürfnisse das Anrecht auf die gleiche Menge Atemluft in einem geschlossenen Eisenbahnwaggon habe. Zwar sei die luxuriöse Ausstattung, die gepolsterten Möbel und die mit Samt überzogenen Wände in der ersten Klasse mit Blick auf den hierfür zu entrichtenden höheren Fahrpreis zu rechtfertigen. Gleiches gelte jedoch nicht für die ungleiche Versorgung der Passagiere mit frischer Luft zum Atmen, auf die „ein jeder [Fahrgast], ganz gleich in welcher Klasse er reist, uneingeschränkt das gleiche Recht und den gleichen Anspruch hat.“350 Indirekt sprachen die Verkehrsexperten damit den Repräsentanten der wohlhabenden Stände, die den Luxus und Service der ersten und zweiten Klasse mehrheitlich in Anspruch nahmen, das Recht auf eine privilegierte Behandlung innerhalb des russischen Eisenbahnraums ab. Obgleich davon auszugehen ist, dass auch die Mitarbeiter der Baranov-Kommission in der Regel erster Klasse reisten, vertraten die Experten hier nicht die Interessen der alten ständischen Eliten, sondern ergriffen engagiert Partei für die Passagiere der dritten Klasse, d.h. indirekt für die unterprivilegierten Stände des Zarenreiches.351 Ungeachtet dieser nüchternen wissenschaftlichen Erkenntnisse und den daraus abgeleiteten Forderungen zur Reorganisation des Personenverkehrs auf den russischen Eisenbahnen änderte sich an den Reisebedingungen in der dritten Klasse allerdings wenig zum Positiven. Zwar wurde auch in den Folgejahren in Russland in der ingenieurwissenschaftlichen und medizinischen Fachpresse über das Problem der Luftqualität in den Personenwaggons der heimischen Eisenbahnen diskutiert, an der Verbesserung der Reisebedingungen ihrer Kunden, sei es durch die Reduzierung der Anzahl der Sitzplätze oder die Verbesserung der Ventilationstechnik in Waggons dritter Klasse, zeigten die verschiedenen Eisenbahngesellschaften jedoch kaum Interesse.352 Dennoch machen die hier betrachteten Debatten deutlich, dass die Erfahrung mit Massenmobilität im industriellen Zeitalter auch in Russland wissenschaftliche Diskussionen anstieß, in denen die ungleiche Verteilung von Raum bzw. die sozial-räumliche Diskriminierung der Menschen 350 Doklad o passažirskom dviženii, S. 111. Vgl. auch: Doklad Peterburgskoj podkomissii (1880), S. 6, 351 In ihrer Argumentation schlossen sich die Mitarbeiter der Baranov-Kommission den Überlegungen Poraj-Košics an, dass ein Arbeiter, der dritte Klasse reist, aufgrund seiner schweren körperlichen Tätigkeit und seiner kräftigeren Physiognomie eigentlich mehr Sauerstoff zum atmen brauche als ein Passagier erster Klasse. Doklad o passažirskom dviženii, S. 111. 352 A. Krickij: K voprosu ozdorovlenija vozducha v passažirskich vagonach, in: Železnodorožnoe delo 10 (1891), Nr. 39–40, 42–43, S. 403–405, 438–442, 11 (1892), Nr. 41–42, 43–44, 45–46, 47–48, S. 429–433, 443–449, 463–468, 484–492 (mit weiteren Literaturhinweisen); Dal’nejšija želatel’nyja reformy passažirskago tarifa, in: Železnodorožnoe delo 15 (1896), Nr. 30–31, S. 248–250, hier S. 249; M. Ju. Paškovskij: O vnutrennem ustrojstve passažirskich vagonov dlja ulučšenija gigieničeskich i sanitarnych uslovij poezda, in: ebd. 27 (1908), Nr. 13, S. 92–94. – Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die sozialmedizinischen Folgen des Eisenbahnverkehrs in Russland unter anderem auf Sitzungen der Gesellschaft zum Schutz der Volksgesundheit (Obščestvo ochranenija narodnago zdravija) sowie der Kongresse der Naturforscher und Ärzte (Kongres estestvoispytateli i vračej) diskutiert. – Zur Geschichte der 1877 gegründeten Gesellschaft zum Schutz der Volksgesundheit vgl. Zabludovskij, Medicina v Rossii, S. 25–37.
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aus den unterprivilegierten Schichten deutlich angeprangert wurde. Ausgangspunkt moderner wissenschaftlicher Überlegungen war nicht mehr die Vorstellung von einer hierarchisch organisierten Gesellschaft, in der Menschen eines höheren Standes mehr Privilegien genießen sollten als jene niederer Herkunft. Vielmehr legten auch russische Sozialmediziner ihren Überlegungen die Prämisse zugrunde, dass jeder Mensch, ungeachtet seines Standes (bzw. seiner „Klassen“Zugehörigkeit), über einen Körper mit den gleichen physiologischen Bedürfnissen verfüge. Aus diesem vom menschlichen Körper ausgehenden Denken resultierte auch ein neues Konzept für die Strukturierung und Organisation der Orte des öffentlichen Raums im System des industralisierten Massenverkehrs. Dass die Vorschläge der demokratischen Organisation von Personenzügen im Zarenreich, wie sie russische Ärzte und Ingenieure seit den 1870er Jahren vorbrachten, reine Wunschgebilde blieben, lag nicht zuletzt daran, dass den russischen Eisenbahngesellschaften sowohl die Mittel als auch der Willen fehlte, an den Zuständen im Personenverkehr etwas Entscheidendes zu verändern. Es war diese Kombination aus ökonomischer Schwäche und Ignoranz, die letztendlich dazu führte, dass sich auf dem Schienensystem des Zarenreiches die Vision von der wohl geordneten Eisenbahngesellschaft der frühen Jahre nicht durchsetzen konnte. Gerade die überfüllten und stickigen Waggons dritter und vierter Klasse sowie die großstädtischen Bahnhöfe, die angesichts des Ansturms der Passagiere aus den ärmeren Bevölkerungsschichten aus allen Nähten zu platzen drohten, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Sinnbildern der gescheiterten Ordnungsträume fortschrittsgläubiger Verkehrsplaner. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass gerade die Reduzierung des Eisenbahnpassagiers auf einen zu transportierenden Körper – ein Denkbild, aus dem aufgeklärte Mediziner und Ingenieure Forderungen nach der Gleichbehandlung der Fahrgäste aller Klassen ableiteten – auf der anderen Seite auch die Grundlage für die Betrachtung des Fahrgastes als anonyme Ware und seelenloses Transportgut legte. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Demokratisierung und Kommodisierung des modernen Passagiers scheint bereits in den Schriften der Baranov-Kommission aus den frühen 1880er Jahren auf. Während die einen Verkehrsexperten in der Abhandlung über den Personenverkehr forderten, Passagiere aller Klassen in Zügen mit der gleichen Menge Atemluft zu versorgen, plädierten andere im Vortrag über den Transport von Arbeitern für die Beförderung des „einfachen Volkes“ in primitiven Güterwaggons zu einem ermäßigten Tarif vierter Klasse. Mit diesem Instrument wollten sie die saisonalen Migrationsströme innerhalb Russlands auf das System der Eisenbahn umlenken.353 In ihrer Argumentation appellierten die Experten vor allem an den ökonomischen Sachverstand der Eisenbahngesellschaften. Diese sollten die Masse der zu transportierenden Arbeiter und Bauern nicht als „Passagiere“, sondern als „lebendiges Transportgut (živoj gruz)“ betrachten. Da das „arbeitende Volk (naš rabočij ljud)“ äußerst „anspruchslos, genügsam und geduldig (pri netrebovatel’nosti, vynoslivost’ i terpenii)“ sei, könne man es bedenkenlos in einfachen Güterwaggons transportieren, 353 Doklad o peredviženii rabočich partij. Vgl. zu dieser Debatte auch Kap. 3.3.
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selbst die Standards, die für die Beförderung von Rekruten gelten, müssten hier nicht beachtet werden.354 Ganz explizit zogen die Experten in ihrer Abhandlung den Vergleich zwischen Massenschüttgut (wie z.B. Weizen, Salz oder Kohle), das auf der Eisenbahn zu ermäßigtem Tarif transportiert wurde, und den Fahrgästen „vierter Klasse“: „Die Gruppe der Arbeiter ist ein lebendiges Transportgut, neben dem Getreide das zweit[wichtigste] der Eisenbahn.“355 Bei Wanderarbeitern handele es sich zudem um eine äußerst „praktische Ware (gruz samyj udobnyj)“, „sie muss weder auf- noch abgeladen werden, und erfordert keine Lagerung an Bahnhöfen. Auch während der Fahrt muss sie nicht vor dem Verderb bewahrt werden, im Gegenteil, sie kann unterwegs im Falle der Beschädigung eines Gleises oder eines Waggons sogar äußerst nützliche Hilfe leisten.“356
Ganz nüchtern rechneten die Autoren vor, dass es für eine Bahngesellschaft sogar lohnender sein könne, Arbeiter in großer Zahl zu ermäßigtem Tarif in Güterwaggons zu befördern als „Transportgut geringen Wertes“ wie Kohle oder Weizen. Besetze man einen zweiachsigen Güterwaggon mit 40 Personen und verlange von jedem „Passagier“ einen Fahrpreis von einer ¾ Kopeke/Werst, so ließen sich pro Waggon-Werst dreißig Kopeken erwirtschaften. Bei einem Zug mit dreißig vollbesetzten Waggons dieser Art ergebe dies eine Summe von neun Rubel/Werst. Würde dagegen die Bahngesellschaft in 50 Güterwaggons zum Beispiel Steinkohle transportieren, so käme sie lediglich auf einen Umsatz von sechs Rubel/Werst. Umgerechnet auf das durchschnittliche Gewicht eines arbeitenden Menschen könnten die Bahnen bei der Beförderung von Menschen einen Frachttarif von 1/20 Kopeke pro Pud und Werst veranschlagen, zweieinhalb mal mehr als für den Transport von Steinkohle.357 Die Transformation des Fahrgastes in eine Ware, die man in großer Zahl wie Vieh in Güterwaggons befördern konnte, repräsentierte die Kehrseite des modernen Diskurses über den „homogenen Passagier“. Dass diese Form des Transportes von Menschen im 20. Jahrhundert auch in Russland weit praktizierte Realität wurde – sei es bei der Organisation der bäuerlichen Migration nach Sibirien und Zentralasien, sei es bei der gewaltsamen Verschleppung ganzer Ethnien von einem Teil des Landes in einen anderen – ist bekannt. Diese Formen des „modernen“ Menschentransportes wurden nicht im „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm), sondern bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt und hatten auch im Zarenreich ihre Vordenker.
354 Die Güterwaggons, die seit den 1890er Jahren auf den russischen Eisenbahnen für den Transport von Menschen (v.a. Wanderarbeiter und Kolonisten) eingesezt wurden, waren in aller Regel jedoch mit einfachen Sitzbänken sowie einem primitiven „Kanonenofen“ ausgestattet und an Böden, Decken und Wänden gegen Kälte isoliert. Vgl. Ljubimov, Tepluški, S. 6–13. Zu den Beförderungsbedingungen in der vierten Klasse vgl. Kap. 4.3. 355 Doklad o peredviženii rabočich partij, S. 6. 356 Doklad o peredviženii rabočich partij, S. 94. 357 Doklad o peredviženii rabočich partij, S. 94f, (1 pud = 16,38 kg).
4. MOBILITÄT UND RAUMWAHRNEHMUNG Der strukturelle Wandel sozialer Räume an den Orten des Eisenbahnsystems im Zarenreich war nicht allein das Ergebnis der Visionen und Ordnungsentwürfe von Ingenieuren, Architekten, Verwaltungsbeamten und Juristen. Zu diesem Prozess trugen vor allem jene Menschen maßgeblich bei, die als Reisende die Züge und Bahnhöfe des Schienennetzes in Russland bevölkerten und durch ihr Mobilitätsverhalten, ihre Wahrnehmung sowie Interaktion soziale Räume an diesen Orten überhaupt erst schufen. Während in den vorangegangenen zwei Kapiteln die Raum- und Ordnungsvisionen der Experten bzw. der Vertreter der politischen und gesellschaftlichen Elite im Mittelpunkt standen, soll im folgenden Abschnitt der Blick auf die Passagiere der Eisenbahnen gelenkt werden. In einem ersten Schritt ist nach der Entwicklung der Fahrgastzahlen bzw. nach der Veränderung der rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen zu fragen, die die Entwicklung von Mobilität im Zarenreich seit 1837 beeinflussten. In einem zweiten Teil werden Veränderungen der Mobilitätsmuster unterschiedlicher sozialer Gruppen analysiert. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass sich „sozialer Raum“ im russländischen Eisenbahnzeitalter – ungeachtet des „demokratischen“ Charakters des neuen Verkehrsmittels – nur im Plural beschreiben lässt und sich für verschiedene soziale Kollektive in unterschiedlicher Form manifestierte bzw. veränderte. Diese Wandlungsprozesse sollen für einzelne Gruppen der mobiler werdenden Gesellschaft des Zarenreiches beschrieben werden. Im Einzelnen ist zu untersuchen, in welchem Maße die von den Planern des Eisenbahnsystems geschaffenen Raumbzw. Infrastrukturen die Mobilitätsmuster unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen veränderten. Zudem sollen jeweils die Fortbewegung innerhalb des Landes und das Verhalten der Menschen an Bahnhöfen und in Zügen als zentrale, den sozialen Raum konstituierende Praktiken in den Blick genommen und zusammen mit Formen der Raumwahrnehmung analysiert werden. Fluchtpunkt der Analyse ist jeweils die Frage, in wieweit die Nutzung der Eisenbahn im Zarenreich zu einer sozialräumlichen Integration beigetragen hat bzw. in welchem Maße die neuen Möglichkeiten, das Land in seiner geografischen und sozialen Vielfalt zu erfahren, bei der mobilen Bevölkerung das Bewusstsein von Russland als „geeintes, unteilbares Ganzes“ befördert oder geschwächt hat. Tatsächlich schuf der Bau des ehernen Schienennetzes für eine wachsende Anzahl von Menschen bisher ungekannte Möglichkeiten, sich das Reich in seiner sozialen und geografischen Vielfalt persönlich zu erschließen. Allerdings gehörte gerade die Wahrnehmung der vielfältigen kulturellen Unterschiede bzw. Grenzen zu den Schlüsselerlebnissen einer Eisenbahnreise im Russländischen Reich. Dies konnte einerseits den Stolz auf die Größe des Imperiums stärken, aber andererseits auch das Befremden angesichts der allgegenwärtigen Begegnung mit dem Unbekannten im eigenen Land befördern. Während die Eisenbahn so auf der einen Seite maßgeblich zu Prozessen der Vergesellschaftung innerhalb des Imperiums bei-
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trug, schuf sie auf der anderen Seite wichtige Grundlagen für die kollektive Wahrnehmung seiner inneren Friktionen. 4.1. RÄUMLICHE MOBILITÄT: PARAGRAPHEN UND ZAHLEN In den 1860er und 70er Jahren erlebte Russland seinen ersten, zwischen 1890 und 1907 seinen zweiten Boom im Eisenbahnbau. Während die Länge des russischen Streckennetzes im Jahr 1860 lediglich 1.589 Kilometer (1.485 Werst) betrug, waren Ende 1880 bereits 22.711 Kilometer (21.226 Werst) und 1900 schon 51.965 Kilometer (48.565 Werst) in Betrieb.1 Um die Jahrhundertwende verfügte das Zarenreich über das zweitlängste Schienennetz der Welt, das jedoch aufgrund der geografischen Ausdehnung des Landes relativ weitmaschig blieb.2 Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erstreckte sich das russländische Gleissystem über eine Gesamtlänge von 63.805 Werst (68.271 Kilometer).3 Mit dem wachsenden Streckennetz, das sich seit den 1880er Jahren auch in die asiatischen Teile des Imperiums ausdehnte, eröffneten sich für die Untertanen des Zaren und für Gäste des Landes völlig neue Möglichkeiten, im größten Flächenstaat der Erde geografische Distanz vergleichsweise schnell und bequem zu überwinden. Alle Menschen, ungeachtet ihres Standes, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft, durften die čugunka benutzen. Allerdings standen einer dynamischen Entwicklung der Mobilität aller gesellschaftlicher Schichten ökonomische Faktoren und rechtliche Hürden entgegen. Auch wenn das Reisen mit der Eisenbahn im Zarenreich im internationalen Vergleich relativ billig war, so blieb der Kauf einer Fahrkarte vor der Einführung des Differentialtarifs im Jahr 1894 für Menschen aus den ärmeren Schichten oftmals ein schwer zu finanzierendes Unternehmen.4 Wie oben dargelegt, setzte sich insbesondere Finanzminister Vitte seit den frühen 1890er Jahren für die Senkung der Beförderungstarife für Fahrten über längere Distanzen und für die Einrichtung einer vierten Klasse auf allen Eisenbahnstrecken des Zarenreiches ein. Mit diesen Maßnahmen sollten vor allem jene bäuerlichen Wanderarbeiter auf die Schiene gelockt werden, die bis dahin die Distanz zwischen ihrem Wohn- und saisonalen Arbeitsort zu Fuß anstatt mit dem Zug zurücklegten.
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Wert für 1860: Paul E. Garbutt: The Russian Railways, London 1949, S. 79. Für 1880 und 1900: Statističeskij sbornik MPS, Bde. 15 (1887), 81 (1905). Der Abstand zu den USA, dem „Weltmeister“ im Eisenbahnbau, die 1900 über ein Streckennetz in der Länge von 311.094 Kilometer verfügten, war jedoch gewaltig. Geyer, Imperialismus, S. 35. Ähnliche Zahlen bei Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 231. Zum innereuropäischen Vergleich: Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1850–1914, S. 157f. Zahl für das Jahr 1913: Rossija. 1913 god. Statistiko-dokumental’nyj spravočnik, Sankt Peterburg 1995, S. 109. Nicht berücksichtigt sind in dieser Zahl Zubringerbahnen (pod’ezdnye puti). – Im europäischen Russland (incl. Kongresspolen) waren 1913 58.441 Kilometer Eisenbahnstrecke in Betrieb. Vgl. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft Europas, S. 157. Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.3.
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4.1.1. Die Passgesetzgebung im Zarenreich Selbst wenn sich ein russischer Bauer oder Arbeiter die Fahrt mit der Eisenbahn leisten konnte, wurde sein Bewegungsradius bis Anfang des 20. Jahrhunderts durch die strikte Passgesetzgebung des Zarenreiches empfindlich eingeschränkt. Seit der Regierungszeit Peters I. war es jedem Untertan des russländischen Kaisers, d.h. auch Vertretern des Adels, der Geistlichkeit oder Kaufmannschaft, gesetzlich verboten, sich „ohne eine amtliche Genehmigung bzw. einen Pass von seinem permanenten Wohnsitz [zu] entfernen.“5 Mit der Einführung des Inlandspasses, mit dem sich ein Russe auszuweisen hatte, sobald er sich mehr als 30 Werst von seinem Wohnort entfernte, verfolgte Peter I. mehrere Ziele. Zum einen sollte mit diesem Instrument die Erhebung der Kopfsteuer sowie der Aufbau einer regulären Armee erleichtert werden, die sich auf die Rekrutierung junger Männer aus den steuer- und abgabenpflichtigen Bevölkerungsschichten stützte. Zum zweiten zielte die Regelung darauf ab, das im Gesetzbuch (uloženie) von 1649 fixierte System der Leibeigenschaft zu stärken und das „Läuflingswesen“, d.h. die Flucht der Bauern aus der Abhängigkeit ihrer Herren, besser bekämpfen zu können. Schließlich kann die Passgesetzgebung der Jahre 1719 bis 1724 als Ausdruck des monarchischen Willens gelesen werden, alle Untertanen auf den Dienst am „Allgemeinwohl (obščee blago)“ zu verpflichten. In der neu zu schaffenden Gemeinschaft „nützlicher“ Untertanen sollte kein Platz mehr sein für Landstreicher, Bettler und anderes „fahrendes Volk“.6 Mit der Einführung der Passpflicht wollte die Reichsregierung die Mobilität der eigenen Bevölkerung indes nicht völlig unterbinden. Vielmehr zielten die entsprechenden Regelungen darauf ab, staatlichen Stellen ein Mittel an die Hand zu geben, um die Bewegungen der Untertanen im eigenen Land besser reglementieren und kontrollieren zu können. Wollte eine Mensch für eine gewisse Zeit seinen permanenten Wohnort 5 6
Erlass Nr. 3345 vom 30.10.1719, zit. nach: Svod ustavov o pasportach i beglych, in: Svod Zakonov Rossijskoj Imperii, izd. 1857 g., Bd. 14, Sankt Peterburg 1857, S. 3–222, hier S. 3. Valentina Grigor’evna Černucha: Pasport v Rossii. 1719–1917, Sankt Peterburg 2007, S. 17– 28, 53; dies.: Pasport v Rossijskoj Imperii. Nabljudenija nad zakonodatel’stvom, in: Istoričeskie zapiski 4/122 (2001), S. 91–131, hier S. 91–98; Eric Lohr: Russian Citizenship. From Empire to Soviet Union, Cambridge, Mass. 2012, S. 25f.; Mervyn Matthews: The Passport Society. Controlling Movement in Russia and the USSR, Boulder 1993, S. 1–8. A. Ja.: Pasport / pasport zagraničnyj, in: Ėnciklopedičeskij slovar’, hg. von F. A. Brokgauz u. I. A. Efron, Bd. 22, Sankt Peterburg 1897, S. 923–927. – Seit der Einführung einer Pass-Gebühr (pasportnyj sbor) im Jahr 1763 verfolgte die Reichsregierung mit ihrer Gesetzgebung auch fiskalische Interessen. Ende der 1850er Jahre betrugen die staatlichen Einnahmen aus Passgebühren pro Jahr rund zwei, Mitte der 1880er Jahre bereits dreieinhalb Millionen Silberrubel. Vgl. Černucha, Pasport v Rossii, S. 41, 105f., 159. Der pasportnyj sbor wurde 1897 im Zuge der Reform der Passgesetze abgeschafft. Zur Geschichte der Passgesetzgebung im Zarenreich vgl. auch: Vladimir Fedorovič Derjužinskij: Policejskoe Pravo. Posobie dlja studentov, Sankt Peterburg 1903, S. 36–56. N. Javorskij: Policejskoe Pravo. Povtoritel’nyj kurs, Sankt Peterburg 1909, S. 8–11; Boris V. Anan’ič: Iz istorii zakonodatel’stva o krest’janach, in: V. V. Mavrodin (u.a.) (Hg.): Voprosy istorii Rossii XIX – načala XX veka, Leningrad 1983, S. 34– 45.
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verlassen, so musste er als erstes mit einem Entlassungsschreiben seines Herrn nachweisen, dass er frei von Steuer-, Abgaben- oder Dienstschulden war. Zudem hatte er darzulegen, dass er mit seiner Reise einen „nützlichen“, d.h. nicht privat motivierten Zweck verfolgte.7 Wurde ihm schließlich von der zuständigen Dienststelle die entsprechende Erlaubnis gewährt, so erhielt er den (zeitlich befristeten) Pass nicht auf der Grundlage eines rechtlichen Anspruchs, sondern als eine Art Gnadenakt „auf Geheiß seiner Kaiserlichen Hoheit (po ukazu ego Veličestva)“.8 Zeitgleich mit der Einführung der Passpflicht wurde im Zarenreich an den Toren der Städte und entlang der großen Überlandwege ein System polizeilicher Kontrollposten (zastavy) geschaffen, an denen sich Reisende auszuweisen hatten.9 Ausländer durften diese Punkte nur passieren, wenn sie im Besitz einer sog. podorožnaja, d.h. eines amtlichen Geleitbriefes waren, der über die Person und das Ziel des Reisenden Auskunft gab.10 Mit dem Bau der ersten Eisenbahnen wurde die Funktionsweise dieses Kontrollsystems grundlegend in Frage gestellt. Als 1836 in St. Petersburg über den Bau der Bahnlinie aus der Hauptstadt nach Carskoe Selo und Pavlovsk diskutiert wurde, schlug Nikolaus I. vor, die Passagierstation vor die Tore der Stadt zu verlegen, und an einem bereits existierenden Kontrollposten die Papiere der Fahrgäste kontrollieren zu lassen, ehe diese das Stadtgebiet betreten.11 Von Gerstner, der Bauherr des Unternehmens, sah hierdurch den Kern seines Projektes einer schnellen Verkehrsverbindung vom Petersburger Stadtzentrum zu den Zarenresidenzen in der näheren Umgebung der Metropole bedroht und versprach, an den Passagierstationen in Pavlovsk und St. Petersburg sog. „Kommissare“ der Bahngesellschaft mit der Kontrolle der Ausweise der Fahrgäste zu betrauen. Nikolaus I. ließ sich auf diesen Vorschlag ein, stellte jedoch sicher, dass die Kontrollen unter der Aufsicht des Petersburger MilitärGeneralgouverneurs stattfanden.12 Auch bei der am 1. November 1851 eingeweihten Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau versuchten die Behörden, das Procedere der Passkontrollen aus dem Postkutschenzeitalter auf das System der Eisenbahn zu übertragen. Die ersten Passagiere auf dieser Strecke waren verpflichtet, beim Kauf einer Fahrkarte neben ihrem Ausweis eine offizielle Bescheinigung vorzulegen, aus der hervorging, dass aus polizeilicher Sicht einer Reise dieser Person nichts entgegen stehe.13 Die Schalterbeamten hatten zudem den Auftrag, 7 8 9 10
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Matthews, Passport Society, S. 5. Černucha, Pasport v Rossii, S. 27, 39. Černucha, Pasport v Rossii, S. 23. Zur Institution der podorožnaja vgl. u.a. Rudolf Mumenthaler: Über Stock und Stauden. Reiseumstände in Rußland nach den Berichten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zwischen Adria und Jenissei. Reisen in die Vergangenheit, (FS Werner Zimmermann zum 70. Geburtstag), hg. von Nada Boškovska (u.a.), Zürich 1995, S. 225–273, hier 234f. Im 19. Jahrhundert benötigten Ausländer für eine Reise nach Russland einen von einem russischen Gesandten oder Generalkonsul „visierten Pass“. Vgl. zu diesen Bestimmungen: Baedeker, West- und Mittelrussland, S. XIIIf. Haywood, Beginnings, S. 99. Haywood, Beginnings, S. 100, 135. Prikaz S. Peterburgskogo Ober-Policejmejstera po S. Peterburgskoj Policii, 17.10.1851, Nr. 227, zit. in: Severnaja Pčela, Nr. 234, 20.10.1851, S. 935. Vgl. auch PSZRI, 2. Ser.,
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die Namen aller Fahrgäste in ein entsprechendes Register einzutragen, mit dem dokumentiert wurde, wer den entsprechenden Bahnhof mit dem Zug verlassen hatte.14 Schon bald sollte sich jedoch herausstellen, dass diese Bestimmungen, aus denen die Angst der Behörden vor einer nicht mehr zu kontrollierenden Welle geografischer Mobilität sprach, mit den Betriebsabläufen der Eisenbahn nicht kompatibel und angesichts des großen Zuspruchs des neuen Verkehrsmittels schlichtweg nicht anwendbar waren. In einem ersten Schritt schaffte die Reichsregierung bereits wenige Wochen nach der Inbetriebnahme der neuen Bahnlinie die Verordnung wieder ab, die beim Kauf eines Fahrscheins die Vorlage einer polizeilichen Bescheinigung verlangte.15 1857, fast zeitgleich mit der Entscheidung Alexanders II. für den Bau eines Eisenbahnnetzes im europäischen Russland, wurde schließlich auch die Verpflichtung aufgehoben, sich beim Kauf einer Fahrkarte mit einem Pass persönlich auszuweisen.16 Durch den Wegfall der regulären Personenkontrollen an den Bahnhöfen des Zarenreiches änderte sich an der Passgesetzgebung des Landes jedoch nichts. Diese zeigte sich sowohl gegen die sozio-ökonomischen Umwälzungen, die der Bau der Eisenbahn mit sich brachte als auch gegen die historische Zäsur, den die Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 markierte, weitgehend immun. Zwar wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Sonderregelungen der Passgesetze erlassen und zum Beispiel die Vergabe von Reisedokumenten an Bauern erleichtert, die unter Missernten litten.17 Auch durch die Schaffung rechtlicher Bestimmungen, die das Mobilitätsverhalten bestimmter Bevölkerungsgruppen (wie zum Beispiel jenes der Juden) gesondert regelten, differenzierte sich die russische Passgesetzgebung weiter aus.18 Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft
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Bd. XXVI, Nr. 25632. Ausnahmen wurden nur für Beamte in offizieller Mission, Bauern, die ihre agrarischen Erzeugnisse zum Markt fuhren, Menschen auf dem Weg zu ihrer dača, sowie Diener, die ihre Herren und Kinder, die ihre Eltern begleiteten, gemacht. Položenie o dviženie po S. Peterburgsko-Moskovskoj železnoj doroge, in: Severnaja pčela 5.11.1851, Nr. 247, S. 985–987, hier § 39. Auch an russischen Post- bzw. iam-Stationen wurden seit den 1820er Jahren Angaben über die Person und das Ziel eines Reisenden in entsprechenden Büchern vermerkt. Černucha, Pasport v Rossii, S. 23, 112, 120. Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 99; PSZRI, 2. Ser., Bd. XXVI, Teil 2, Nr. 25821, 13.12.1851, S. 166; Severnaja pčela, 21.12.1851, S. 1138. PSZRI, 2. Ser., Bd. XXXII, Nr. 32545; Černucha, Pasport v Rossii, S. 113, 120. – Auch in anderen europäischen Ländern führte der Bau von Eisenbahnen ab den 1850er Jahren zu einer Liberalisierung der Passbestimmungen. Ab 1889 verloren Pässe in West- und Mitteleuropa selbst im internationalen Reiseverkehr weitgehend ihre Bedeutung. Vgl. dazu Andreas Fahrmeir: Passport and the Status of Aliens, in: Martin H. Geyer, Johannes Paulmann (Hg.): The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, London 2001, S. 93–119, hier S. 103–106. Zur Liberalisierung der Passgesetzgebung in deutschen Landen angesichts der Ausbreitung der Eisenbahn in den 1860er Jahren: John Torpey: The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000, S. 77f. Černucha, Pasport v Rossii, S. 107. Erstmals wurde die russische Passgesetzgebung im Jahr 1832 im Svod Zakonov systematisch zusammengefasst. Vgl. dazu: Černucha, Pasport v Rossii, S. 97–99. Zur Geschichte und den changierenden Grenzen des „Ansiedlungsrayons” für jüdische Untertanen des Zarenreiches:
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wurden die Bauern zwar aus der persönlichen Abhängigkeit von ihren Gutsherren befreit, die Gewährung von Freizügigkeit war mit dieser Reform jedoch nicht verbunden. Wollte sich nun ein Landbewohner auf die Reise zur saisonalen Feldoder Fabrikarbeit begeben, musste er zunächst beim Ältesten (starosta) seiner Gemeinde (obščina) um ein entsprechendes Entlassungsschreiben bitten, um in einem zweiten Schritt bei der volost’-Verwaltung einen Pass beantragen zu können.19 Da die bäuerlichen Gemeinschaften bis zu den Agrarreformen unter Ministerpräsident Stolypin Anfang des 20. Jahrhunderts solidarisch für die Erbringung ihrer Steuer-, Abgaben- und Dienstverpflichtungen hafteten, hing die Erteilung einer Reiseerlaubnis für einen Bauern vielfach davon ab, ob dieser glaubhaft machen konnte, dass er nach einer festgesetzten Zeit in sein Dorf zurückkehren und der Gemeinschaft während seiner Abwesenheit Geld für die Deckung seiner Teilschuld an der kollektiven Steuerlast zukommen lassen würde. De facto wirkte die Schollenbindung der Bauern somit auch nach der Reform von 1861 weiter fort.20 Bis Mitte der 1890er Jahre änderte sich wenig an den gültigen Bestimmungen, wenngleich sich seit den 1850er Jahren in Russland die öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit einer Reform der Passgesetze intensivierte und verschiedene Regierungskommissionen entsprechende Reformvorschläge formulierten. Nach der Abschaffung der Kopfsteuer im Jahre 1887 setzte sich innerhalb der Bürokratie allmählich die Erkenntnis durch, dass dem Land aus der rigiden Praxis der Vergabe von Reisedokumenten großer ökonomischer Schaden entstehe. Insbesondere Finanzminister Vitte, der sich wenig später auch für die Einführung eines verbilligten Tarifs für den Transport von Arbeitern und Bauern auf der Eisenbahn einsetzen sollte, forderte 1892 mit Nachdruck, die russländischen Passgesetze spürbar zu lockern.21 Auch wenn von der entsprechenden Reform des Jahres 1894 vor allem Vertreter des Adels sowie Kaufleute und Ehrenbürger profitierten, nahm auch die Freizügigkeit von Kleinbürgern (meščane) und Bauern langsam zu.22 Während Angehörige der privilegierten Schichten von nun an das Recht auf einen (unbefristeten) Pass erhielten, der ihnen kostenlos auszuhändigen war, musste die einfache Stadt- und Landbevölkerung nach wie vor ein entsprechendes Dokument bei ihrer lokalen Gemeinschaftsverwaltung bzw. Standesorganisation beantragen. Eine gewisse Erleichterung bedeutete für die Mitglieder der ärmeren Schichten, dass 1894 der Radius, innerhalb dessen man sich ohne einen Pass von
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Yvonne Kleinmann: Neue Orte, neue Menschen. Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 77–83. Černucha, Pasport v Rossii, S. 123; Boris B. Gorshkov: Serfs on the Move: Peasant Seasonal Migration in Pre-Reform Russia, 1800–61, in: Kritika 1 (2000), Nr. 4, S. 627–656, hier S. 634. Jeffrey Burds: Peasant Dreams and Market Politics. Labor Migration and the Russian Village, 1861–1905, Pittsburgh 1998, S. 56–64. Černucha, Pasport v Rossii, S. 161, 191; Anan’ič, Iz istorii, S. 39. Zur Passreform vom 3. Juni 1894: Matthews, Passport Society, S. 11f.; Černucha, Pasport v Rossii, S. 161–165; Christoph Schmidt: Ständerecht und Standeswechsel in Rußland 1851– 1897, Wiesbaden 1994, S. 63f., 114 bzw. Položenie o vidach na žitel’stvo, in: PSZRI, 3. Ser., Bd. 14, Nr. 10709. Die neuen Passbestimmungen traten am 1. Januar 1895 in Kraft.
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seinem Wohnort wegbewegen durfte, auf 50 Werst ausgedehnt wurde. Zudem wurden die Gebühren, die bei der Beantragung eines Reisedokuments zu entrichten waren, auf wenige Kopeken gesenkt bzw. 1897 ganz abgeschafft. Schließlich erhielten auch Bauern und Kleinbürger die Möglichkeit, einen Pass mit einer Gültigkeit von bis zu fünf Jahren zu beantragen, was die Bewegungsspielräume dieser Menschen deutlich vergrößerte. Mit dem Aufhebung des Prinzips der Solidarhaftung der bäuerlichen Landgemeinden wurde schließlich im Rahmen der Stolypinschen Agrarreformen am 5. Oktober 1906 eine Gleichstellung der Bauern mit den privilegierten Schichten in Fragen der Passvergabe erreicht.23 Zwar waren auch nach 1906 reisende Menschen im Zarenreich dazu verpflichtet, entsprechende Identitätsdokumente mit sich zu führen. Diese konnten jedoch nun auch ohne zeitliche Befristung ausgestellt werden und fesselten den Inhaber nicht mehr an seinen angestammten Wohnort.24 Auch wenn ausländische Besucher, wie zum Beispiel der amerikanische Journalist George Kennan Mitte der 1880er Jahre, die fehlende Freizügigkeit im Zarenreich als eines der zentralen politischen Probleme des Landes geißelten oder Alexander Herzen das russische Passwesen als ein politisches Instrument zur „Verhinderung von Fortbewegung“ anprangerte, so war die russländische Gesellschaft im 19. Jahrhundert mitnichten eine immobile Gemeinschaft.25 Im Gegenteil: Vom hohen Grad der Mobilität fast aller Gesellschaftsschichten legen nicht nur die periodisch wiederkehrenden Debatten über das „Läuflingswesen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beredtes Zeugnis ab. Auch die zunehmende Zahl der Pässe, die seit den 1860er Jahren an bäuerliche Wanderarbeiter (otchodniki) ausgegeben wurden, dokumentiert eindrücklich den hohen Mobilitätsgrad der Bevölkerung des Zarenreiches.26 Das Bild einer Gesellschaft in zunehmender 23
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Vgl. dazu: Charles Steinwedel: Making Social Groups, One Person at a Time: The Identification of Individuals by Estate, Religious Confession, and Ethnicity in Late Imperial Russia, in: Jane Caplan, John Torpey (Hg.): Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 67–82, hier S. 76f.; Anan’ič, Iz istorii, S. 45 und PSZRI, 3. Ser., Bd. 26, Nr. 28392. Einschränkend ist jedoch zu betonen, dass diese liberalen Bestimmungen in Gouvernements, die nach den Notstandsverordnungen vom 14. August 1881 (Položenie ob usilennoj i črezvyčajnoj ochrane) regiert wurden, leicht außer Kraft gesetzt werden konnten. Auch in den beiden Hauptstädten und politisch sensiblen Regionen, wie zum Beispiel dem „Weichselgebiet“, herrschten gesonderte Sicherheitsbestimmungen. Jüdische Untertanen durften sich auch weiterhin nur im Ansiedlungsrayon bewegen, Frauen benötigten bis 1914 die Genehmigung ihres Vaters bzw. Ehemanns, wenn Sie einen Pass beantragen wollten. Steinwedel, Making Social Groups, S. 77; Barbara Alpern Engel: Women in Russia. 1700–2000, Cambridge 2004, S. 109. Zur Gültigkeit der Passgesetze in den Randgebieten des Russländischen Reiches: Černucha, Pasport v Rossii, S. 214–237. Dieses Forschungsfeld harrt jedoch noch einer intensiveren Bearbeitung. Zu Kennan: Matthews, Passport Society, S. 1; zu Herzen: Černucha, Pasport v Rossii, S. 119. Vgl. dazu u.a. Melville, Bevölkerungsentwicklung und demographischer Strukturwandel, S. 1059–1063. Burds beziffert die Zahl bäuerlicher Wanderarbeiter im europäischen Russland für die 1890er Jahre auf jährlich ca. sechs Millionen. Während in den Jahren 1861–70 im Durchschnitt im europäischen Teil des Reiches jährlich nur 1,2 Millionen. Pässe ausgestellt wurden, waren es 1902 bereits 7,8 Millionen und zwischen 1906 und 1910 pro Jahr schon 8,8
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Bewegung lässt sich schließlich unter Hinweis auf die massenhafte Binnenmigration ostslawischer Bauern in die asiatischen Regionen des Reiches27 bzw. auf die Wellen transatlantischer Emigration von jüdischen, polnischen, litauischen und deutschen Untertanen gegen Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts weiter abrunden.28 Gerade die große Bereitschaft der russländischen Bevölkerung, den eigenen Wohnort aus ökonomischen, sozialen oder politischen Gründen zu verlassen und das Glück an einem anderen Ort innerhalb oder außerhalb der imperialen Grenzen zu suchen, muss als der entscheidende Grund für die Einführung der strengen Passgesetzgebung im Zarenreich im 18. Jahrhundert und für deren Fortbestand fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Die rigiden Gesetze waren in der Tat weniger Ausdruck der Macht als der Ohnmacht der Reichsregierung, die Mobilität der Untertanen des Zaren wirksam zu reglementieren. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass sich ein Großteil der Migrations- und Wanderungsprozesse innerhalb des Zarenreiches bzw. über dessen Grenzen hinaus jenseits der strikten gesetzlichen Rahmenbedingungen vollzog. Die „illegale“ Fortbewegung von einem Ort des Landes zu einem anderen wurde durch den Bau von Eisenbahnen eher begünstigt als behindert. Zwar waren russische Bauern, die eine zeitlich befristete Arbeit in der Stadt oder einer Fabrik suchten, in der Regel darauf angewiesen, sich an ihrem Zielort ausweisen zu kön-
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Millionen. Das otchodničestvo war vor allem in den Gouvernements rund um die städtischen und die industriellen Zentren des Landes verbreitet. Insgesamt war die Zahl männlicher otchodniki drei bis fünf Mal höher als jene weiblicher Wanderarbeiter. Burds, Peasant Dreams, S. 21–25. Allerdings nahm der Anteil der Frauen unter der mobilen bäuerlichen Bevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts stetig zu. Vgl. Barbara Alpern Engel: Between the Fields and the City: Women, Work, and Family in Russia, 1861–1914, Cambridge 1996, S. 67. – Als Gründe für die Zunahme bäuerlicher Mobilität nach 1861 benennt Schmidt neben dem Bevölkerungswachstum und der wachsenden Landarmut die prekäre soziale Lage des Gesindes, das nicht von der Bodenumlage 1861 der Bauernbefreiung profitierte. Ders., Ständerecht, S. 116f. Zur Praxis des dauerhaften Wohnortswechsels („Landflucht“ und Kolonisation) im Zarenreich im 19. Jahrhundert: Anderson, Internal Migration. Von den 95,5 Millionen Einwohnern Russlands mit Geburtsort im europäischen Teil des Reiches lebten im Jahr 1897 9,3 Millionen, d.h. 9,83 % (11,7 % der Männer und 8,0 % der Frauen) nicht mehr in der Region ihrer Herkunft. Ebd., S. 60. Zwischen 1861 und 1915 wanderten ca. 4,2 Millionen Menschen aus dem Russländischen Reich aus, davon 3,97 Millionen in die USA. Die Mehrheit der Emigranten waren keine Russen, sondern Vertreter diverser Minderheiten, dvon rund 40 % Juden. Vgl. Ioncev, u.a., Ėmigracija i repatriacija v Rossii, S. 29; Kabuzan, Ėmigracija i reėmigracija v Rossii v XVIII – načale XX veka, S. 141. – Zur jüdischen Emigration: A. Gincburg: Ėmigracija evreev iz Rossii, in: Evrejskaja Ėnciklopedija, Bd. 16, Sankt Peterburg [o.J. (ca. 1912/13)], Sp. 264–268; Michael Just: Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung. 1881–1914. Transitprobleme in Deutschland und Aufnahme in den Vereinigten Staaten, Stuttgart 1988, hier S. 22–25; Selma Berrol: East Side / East End. Eastern European Jews in London and New York, 1870– 1920, London 1994, S. 1–12. Hans Rogger zufolge kehrten zwischen 1880 und 1914 ca. zwei Millionen Juden dem Zarenreich den Rücken. Ders.: Tsarist Policy on Jewish Emigration, in: Soviet-Jewish Affairs 3 (1973), Nr. 1, S. 26–36, hier S. 28.
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nen.29 Dies galt jedoch nicht in gleichem Maße für (jüdische) Kleinhändler auf Reisen, für Emigranten auf dem Weg zur bzw. über die „grüne Grenze“ oder für bäuerliche Kolonisten, die auf eigene Faust versuchten, in den dünn besiedelten Regionen im Süden und Osten des Reiches eine neue Existenz aufzubauen.30 Zwar waren gerade die Bahnhöfe der russländischen Eisenbahnen Orte des öffentlichen Raums mit einer besonders hohen Polizeipräsenz.31 Eine systematische Kontrolle aller Passagiere, die durch die Stationen geschleust wurden, fand im europäischen Russland seit den späten 1850er Jahren aus pragmatischen Gründen jedoch nicht mehr statt. Für die Bahnbeamten war es wichtiger, dass sich ein Fahrgast mit einem gültigen Fahrschein in einen Zug begab, als dass er über einen entsprechenden Pass verfügte. Die Fragen der Personenkontrolle wurde ganz dem Personal der Eisenbahngendarmerie überlassen, die mit der systematischen Überwachung der sprunghaft steigenden Mobilität jedoch hoffnungslos überfordert war. Der stetige Zuwachs der Passagierzahlen der russländischen Eisenbahnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich somit nicht wegen günstiger, sondern trotz widriger ökonomischer und rechtlicher Rahmenbedingungen für die Entfaltung geografischer Mobilität. 4.1.2. Die Entwicklung der Passagierzahlen Im Zarenreich wurde 1851 das „Zeitalter der Eisenbahn“ eingeläutet. Verlässliches Zahlenmaterial zur Entwicklung des landesweiten Fahrgastaufkommens liegt jedoch erst für die Zeit nach 1873 vor, als im Petersburger Verkehrsministerium (MPS) eine statistische Abteilung eingerichtet wurde.32 Seit diesem Jahr waren die 29 30
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Steinwedel, Making Social Groups, S. 77; Schmidt, Ständerecht, S. 114; Burds, Peasant Dreams, S. 56. So verließen beispielsweise die meisten jüdischen Emigranten in den Jahren nach 1881 das Zarenreich ohne gültige Reisedokumente über die „grüne Grenze“. Vgl. Rogger, Tsarist Policy on Jewish Emigration, S. 32; Berrol, East Side / East End, S. 8; Jack Wertheimer: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York 1987, S. 15. Ungeachtet wachsender Auswandererzahlen existierte bis 1917 kein rechtlicher Rahmen für die legale Emigration aus dem Zarenreich. Vgl. dazu: Eric Lohr: Population Policy and Emigration Policy in Imperial Russia (unveröff. Paper) Herbst 2007. (Ich danke dem Autor für die Einsicht in dieses Manuskript.) Zum Ausmaß der illegalen Migration ins asiatische Russland Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts: Donald W. Treadgold: The Great Siberian Migration. Government and Peasant in Resettlement from Emancipation to the First World War, Princeton 1957, S. 34; V. G. Tjukavkin: Velikorusskoe krest’janstvo i Stolypinskogo agrarnaja reforma, Moskva 2001, S. 225. Auch das Reise- und Mobilitätsverhalten der jüdischen Bevölkerung innerhalb der Grenzen des Zarenreiches ließ sich aufgrund mangelhafter Melderegister nur schwer kontrollieren. Vgl. dazu: Eugene M. Avrutin: The Politics of Jewish Legibility: Documentation Practices and Reform During the Reign of Nicholas I, in: Jewish Social Studies 11 (2005), Nr. 2, S. 136–169, hier S. 146f. Zur Geschichte und Aufgaben der Eisenbahngendarmerie in Russland vgl. Kap. 5.2.1. Zu den Anfängen der Eisenbahnstatistik in Russland vgl. Kap. 3.1. – Zur Entwicklung der Fahrgastzahlen bis 1873 vgl. z.B.: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii. 1867 god, 1868 god, otdel I i II, izd. departamentom železnych dorog, Sankt Peterburg 1867–1869; Ne-
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Verwaltungen aller Eisenbahngesellschaften verpflichtet, regelmäßig Berichte in die Hauptstadt zu übermitteln und darin alle Transportaktivitäten detailliert zu dokumentieren.33 Die aus diesen Daten kompilierten Tabellen des Statistischen Jahrbuchs des MPS geben einen guten Überblick über die Entwicklung der Passagierzahlen und der zurückgelegten Personenwerst zwischen 1873 und 1913.34 Mit Blick auf die Dynamik im Personenverkehr lässt sich dieser Zeitraum grob in zwei Phasen einteilen, wobei das Jahr 1894 den entsprechenden Wendepunkt markiert.35 In den ersten zwei Jahrzehnten dieser Periode stiegen die Passagierzahlen (und die Werte der generierten Personenwerst) in moderatem Tempo. Während 1877 ca. 32 Millionen Fahrgäste die Stationen und Züge der russländischer Bahnen bevölkerten, betrug diese Zahl siebzehn Jahre später 55,6 Millionen Dies entsprach einem Zuwachs von insgesamt 73,7 %.36 Nach 1894 dynamisierte sich diese Entwicklung spürbar. In den folgenden siebzehn Jahren, d.h. bis zum Jahr 1911, nahm die Anzahl der verkauften Fahrkarten in Russland um 272,3 % (auf ca. 207 Millionen) zu. 1912 verzeichneten die Statistiker des Verkehrsministeriums bereits 231,4 Millionen Passagiere auf den Bahnen des Zarenreiches.37 Dieser deutliche Zuwachs von Mobilität auf den Eisenbahnen des Zarenreiches Ende des 19. Jahrhunderts korrespondierte zum einen mit dem schnellen Wachstum der Bevölkerung des Landes und zum anderen mit dem Ausbau des Streckennetzes in der „Ära Vitte“.38 Gleichzeitig spiegeln die steigenden Passagierzahlen den tiefgreifenden sozioökonomischen Wandel des Landes im Zeitalter forcierter Industrialisierung und sprunghafter Urbanisierung wider. Daneben lassen sich die dynamisch wachsenden Fahrgastzahlen nach 1894 jedoch auch mit der Einführung gestaffelter Eisenbahntarife sowie der Reform der Passgesetze in diesem Jahr in Verbindung bringen. Vor allem ohne die Einführung eines Differentialtarifs hätten sich die Passagierzahlen kaum in dieser Form entwickeln kön-
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kotoryja svedenija o passažirskom dviženii za 1870, 1871, 1872 i 1873 gody, in: Žurnal Ministerstva Putej Soobščenija 1875, Nr. 1, S. 52–67; M. Korovicyn: Passažirskoe dviženie po russkim železnym dorogam za 1873 i 1874 gody, in: ebd., Nr. 6, Statističeskij otdel, S. 1–36. Cirkuljar’ techničesko-inspektorskago komiteta železnych dorog, Nr. 4461 (19.9.1873), in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1 (1874), S. 206. Der Begriff „Personen-“ bzw. „Passagierwerst“ ist ein Fachbegriff aus der Sprache der (russischen) Verkehrsstatistik. Er bezeichnet jene Strecke, die sich aus der Summe aller Wegstrecken ergibt, die Zugpassagiere auf einer bestimmten Bahnlinie (oder einem Streckennetz) in einem Zeitraum „x“ zurückgelegt haben. Erste Überlegungen zum Folgenden habe ich bereits an anderer Stelle publiziert. Vgl. Frithjof Benjamin Schenk: “This new means of transportation will make unstable people even more unstable”: Railways and geographical mobility in Tsarist Russia, in: John Randolph, Eugene Avrutin (Hg.): Russia in Motion. Cultures of Human Mobility Since 1850, Urbana, Chicago 2012, S. 218-234. Statističeskij sbornik MPS vyp. 15 (1887), 46 (1897). Statističeskij sbornik MPS vyp. 131, Bd. 2–3 (1915). Zwischen 1897 und 1914 wuchs die Bevölkerung im europäischen Russland (Grenzen von 1646) von 52,0 auf 73,0 Millionen. Innerhalb der Reichsgrenzen wuchs die Bevölkerung von 128,9 auf 178,4 Millionen Vgl. Mironov, Social’naja istorija Rossii, Bd. 1, S. 20.
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nen.39 Allein in den drei Jahren zwischen 1895 und 1897 generierten Züge im europäischen Russland in der Summe mehr Passagierwerst als in den gesamten 22 Jahren zuvor.40 Während russische Zugpassagiere 1894 insgesamt nur ca. 4,4 Mrd. Werst auf den Bahnen dieses Landesteils zurücklegten, betrug diese Zahl 1897 bereits 6,7 Mrd. Dies entsprach einem Zuwachs von 52 % innerhalb von nur drei Jahren. 1912 summierten sich die auf den Eisenbahnen im europäischen Russland zurückgelegten Passagierwerst bereits auf 18,8 Mrd.41 Wie oben bereits angedeutet, nahmen die Passagiere auf den Eisenbahnen des Zarenreiches vor allem die Dienste der billigeren Fahrgastklassen in Anspruch. Russische wie ausländische Reisende, die sich die Fahrt in den luxuriösen Waggons leisten konnten, berichteten wiederholt von nahezu leeren Waggons und Abteilen der ersten und zweiten Klasse. 1877 verkauften russische Bahnbeamte mehr als das Fünffache an Zugtickets dritter und vierter (22,1 Millionen) als erster und zweiter Klasse (4,0 Millionen).42 1912 hatte sich dieses Missverhältnis noch weiter verschärft. Während in diesem Jahr nur 22,4 Millionen Passagiere die erste und zweite Klasse nutzten, war die Anzahl der Fahrgäste in der dritten und vierten Klasse bereits auf das Neunfache (207,3 Millionen) angestiegen (bäuerliche Kolonisten (pereselency) nicht einberechnet).43 Die meisten Zugpassagiere im Zarenreich nutzten dabei das dampfbetriebene Verkehrsmittel für vergleichsweise kurze Fahrten. 1913 waren 92 % aller Eisenbahnfahrten im europäischen Russland kürzer als 250 Werst, 46 % der Passagiere legten mit dem Zug sogar nur weniger als 25 Werst zurück.44 Den Statistiken des Verkehrsministeriums zufolge waren die Fahrten von Passagieren in den billigeren Klassen im Durchschnitt kürzer als jene von Fahrgästen mit teureren Tickets. Während ein Passagier erster Klasse im Zarenreich im Jahr 1912 pro Fahrt im Schnitt 219,8 Werst zurücklegte, betrug diese Zahl für Reisende dritter Klasse nur 80 Werst.45 Da 1912 rund 70 % der 231,4 Millionen Zugpassagiere dritter Klasse reiste, nutzte somit die überwiegende 39
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Zudem wurden 1896 spezielle Tarife für den Nahverkehr geschaffen, die um ein Drittel niedriger waren als jene im Fernverkehr. Dies führte zu einer weiteren Belebung des Passagierverkehrs. Michal’cev, Ėvoljucija passažirskich perevozok, S. 25. Michal’cev, Ėvoljucija passažirskich perevozok, S. 42. Michal’cev, Ėvoljucija passažirskich perevozok, S. 16. Für das ganze Reich verzeichnete das Statistische Jahrbuch des MPS folgende Zahlen: 1894: 5,7 Mrd., 1897: 8,5 Mrd., 1912: 21,9 Passagierwerst. Statističeskij sbornik MPS vyp. 57 (1899), 131, Bd. 2–3 (1915). Fischer beziffert den Personenverkehr auf den Eisenbahnen des (gesamten) Zarenreiches im Jahr 1913 auf 29,3 Mrd. Personen-Kilometer (ca. 27,4 Mrd. Personenwerst). Im Deutschen Reich legten Zugpassagiere im gleichen Jahr 41,4 Mrd. Personen-Kilometer zurück. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft Europas, S. 159. Statističeskij sbornik MPS vyp. 15 (1887). Statističeskij sbornik MPS vyp. 131, Bd. 2–3 (1915). Michal’cev, Ėvoljucija passažirskich perevozok, S. 33, 44. Statističeskij sbornik MPS vyp. 131 (1916), Bd. 2–3, Tab. VII. Der Mittelwert einer Eisenbahnfahrt in Russland (europäischer und asiatischer Teil zusammen betrachtet) belief sich 1912 auf 103,96 Werst. – Für das Jahr 1897 verzeichneten die Statistiker ähnliche Zahlen: Erste Klasse: 213,5 Werst, dritte Klasse: 89,7 Werst, bäuerliche Kolonisten: 455,9 Werst, durchschnittliche Reisedistanz: 115,27 Werst. Statističeskij sbornik MPS vyp. 57 (1899).
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Mehrheit aller Eisenbahnreisenden das neue Verkehrsmittel vor allem für Fahrten innerhalb eines überschaubaren regionalen Rahmens. Der Rückgang der durchschnittlichen Reisedistanz von 142,23 Werst im Jahr 1906 auf 103,96 Werst im Jahr 1912 korrespondiert dabei mit dem Zuwachs der Passagiere aus den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten und kann als weiterer Indikator für die voranschreitende „Demokratisierung“ des dampfgetriebenen Verkehrsmittels gelesen werden.46 Der Zuwachs bzw. die Abnahme der Passagierzahlen auf den Eisenbahnen des Zarenreiches spiegelte insbesondere nach 1894 relativ deutlich die politische Großwetterlage bzw. die ökonomische Entwicklung des Landes wider. So stieg beispielsweise die Transportleistung der Bahnen (in Passagierwerst) in den Jahren des Wirtschaftsbooms der 1890er Jahre und zwischen 1909 und 1913 überdurchschnittlich an und fiel in den Jahren 1904–1905, als das Reich vom Krieg gegen Japan, dem Generalstreik im Oktober 1905 und den revolutionären Ereignissen der Jahre 1905–07 erschüttert wurde.47 Innerhalb eines Jahres waren die Passagierzahlen der russischen Bahnen saisonalen Schwankungen unterworfen. Da Russland bis zum Untergang des ancien régime ein agrarisch geprägtes Land blieb, nahmen die Transportaktivitäten der Bahnen im Personenverkehr im Winter deutlich ab. Sie erreichten im Februar ihren Tiefpunkt, wenn in der Regel nur ca. 69,7 % der im Jahresdurchschnitt verkauften Fahrkarten gelöst wurden. Im Mai, mit dem Beginn der Arbeitssaison in der Landwirtschaft und auf den Baustellen der Großstädte, verzeichneten die Bahnen einen Anstieg der Fahrgastzahlen auf 130 % des Jahresdurchschnitts. Eine zweite Nachfragewelle folgte im August. In dieser Zeit wurden Erntearbeiter in großer Zahl in Zentral- und Südrussland gebraucht, und die Passagierzahlen stiegen erneut auf 123 % des Jahresmittels an.48 Leider sagen die Statistiken des Verkehrsministeriums nichts über die soziale Herkunft bzw. den Stand der verschiedenen Fahrgastgruppen. Auch das Zahlenverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Passagieren lässt sich mit diesen Quellen leider nicht ermitteln. Aufgrund des „demokratischen“ Charakters der Eisenbahn konnte ein Bauer, der zu Wohlstand gekommen war, theoretisch einen Fahrschein erster Klasse lösen und sich in dem entsprechenden Abteil in die Ge46 47
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Zahlen: Statističeskij sbornik MPS vyp. 89 (1907), 113 (1912), 131 (1916). Passagierwerst (Mrd.) / Jahr der Eisenbahnen im Europäischen Russland: 4,4 (1894), 5,6 (1895), 6,3 (1896), 6,7 (1897), 7,6 (1898), 8,3 (1899), 9,1 (1900), 9,6 (1901), 10,0 (1902), 10,8 (1903), 10,6 (1904), 9,7 (1905), 11,0 (1906), 13,0 (1907), 13,7 (1908), 14,6 (1909), 16,1 (1910), 17,3 (1911), 18,8 (1912), 20,9 (1913). Michal’cev, Ėvoljucija passažirskich perevozok, S. 16. – Auf der anderen Seite erreichte die Zahl der von den Bahnen des Zarenreiches transportierten Soldaten zwischen 1904 und 1906 einen Höhepunkt. Während 1903 „nur“ 4,8 Millionen Fahrkarten dem Kriegsministerium in Rechnung gestellt wurden, hatte sich diese Zahl 1904 bereits verdoppelt (9,7 Millionen). Im Zuge der Demobilisierung der Truppen, die die Reichsregierung an den Kriegsschauplatz der Mandschurei befördert hatte, wurden 1906 rund zwölf Millionen Soldaten per Bahn von einer Region in eine andere verschoben. Statističeskij sbornik MPS, vyp. 81 (1905), 89 (1907), 113 (1912). Michal’cev, Ėvoljucija passažirskich perevozok, S. 43.
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sellschaft eines Adeligen begeben. In der Regel dürften Menschen aus den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten – so sie sich überhaupt eine Fahrkarte leisten konnten – in Waggons dritter bzw. vierter Klasse gereist sein. Dementsprechend blieb die erste Klasse allem Anschein nach ein exklusiver Ort, der vor allem von Vertretern des Adels, von hochrangigen Beamten und Offizieren sowie von reichen Kaufleuten und Ausländern frequentiert wurde. Es waren – wie in Tolstojs Kreutzersonate – vor allem die Waggons der zweiten Klasse, wo Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten miteinander in Kontakt kommen konnten. In welchem Maße sich diese Orte zu Schauplätzen einer „Vergemeinschaftung“ entwickelten, lässt sich jedoch nicht genauer beziffern. Gleiches gilt für die Frage nach der Mobilität von Frauen auf den Eisenbahnen des Zarenreiches. Wie oben dargelegt, boten die Bahngesellschaften des Reiches ihre Dienste Männern und Frauen in gleichem Maße an und stellten für weibliche Reisende in Bahnhöfen und Zügen sogar abgetrennte Räume und Abteile zur Verfügung.49 Zahlen, die darüber Auskunft geben, wie viele Frauen diese Angebote tatsächlich in Anspruch nahmen bzw. ob weibliche Reisende in einem ähnlichen Maße vom Zuwachs geografischer Mobilität profitierten wie Männer, haben sich jedoch leider nicht überliefert. 4.2. PASSAGIERE AUF REISEN Der Bau der Eisenbahn und die zunehmende verkehrstechnische Erschließung des Zarenreiches eröffneten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen die Möglichkeit, geografische Distanz vergleichsweise bequem und in relativ kurzer Zeit zurückzulegen und sich so das eigene Land persönlich neu zu erschließen. Erst durch die Betrachtung der sozialen Praxis der Zugreise, die das Leben von immer mehr Bewohnern Russlands prägen sollte, lassen sich die tiefgreifenden Veränderungen sozialer Räume ermessen, die das Land im Zeitalter des industrialisierten Personenverkehrs erfuhr. Die Frage, in welchem Maß das neue Verkehrsmittel Praktiken geografischer Mobilität der russländischen Gesellschaft veränderte, und wie sich dadurch Wahrnehmungsmuster sozialer Räume wandelten, steht im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts. Der Untersuchung geografischer Mobilität der russischen Gesellschaft im Eisenbahnzeitalter sowie des damit verbundenen Wandels der Wahrnehmung sozialer Räume ist ein relativ schwieriges Unterfangen: Erstens muss auf die fast unüberschaubar große und stetig wachsende Zahl reisender Menschen hingewiesen werden, die als historische Akteure (zumindest theoretisch) den Gegenstand einer solchen Analyse bilden. Während sich die quantitative Entwicklung der Fahrgastzahlen auf russischen Bahnen mit Hilfe von Statistiken relativ detailliert beschreiben lässt (vgl. Kap. 4.1.2.), muss die Auseinandersetzung mit individuellen Mobilitäts- und Wahrnehmungsmustern – ganz unabhängig von der Anzahl der betrachteten Personen – immer exemplarischen Charakter haben. Dieser Umstand 49
Vgl. dazu Kap. 3.5.3.
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verbietet es, vom einzelnen Fall pauschal auf das Allgemeine zu schließen. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass nur für wenige Passagiere Quellen (z.B. in Form von Reiseberichten oder Eintragungen in Beschwerdebüchern) greifbar sind, die Aufschluss über individuelle Mobilitäts- und Wahrnehmungsmuster geben. Im Fall des Russländischen Reiches ist dies nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem. Gerade Reiseberichte, die für die hier zu behandelnden Fragen eine wichtige Quellengruppe darstellen, stammen naturgemäß aus der Feder von Menschen, die des Lesens und Schreibens kundig waren und die im Kollektiv der Reisenden in Russland bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine deutliche Minderheit blieben. So lässt sich die kulturelle Praxis der Eisenbahnreise der gebildeten russischen „Gesellschaft (obščestvo)“ ungleich besser und detaillierter beschreiben als jene des „einfachen“ russischen „Volkes (narod)“. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die überwiegende Mehrheit der Passagiere, die über ihre Fahrten mit der Eisenbahn im Zarenreich berichteten, männliche Russen aus den städtischen Zentren des Landes waren. Während sich die Quellenlage für diese kleine Gruppe somit relativ günstig darstellt, lässt sich dies für reisende Frauen, für Passagiere aus der russischen Provinz oder für mobile Vertreter ethnischer Minderheiten nicht in gleicher Weise sagen. Eine dritte methodische Vorüberlegung betrifft die Quellengattung des Reiseberichts, dem, wie bereits erwähnt, für eine Analyse, wie sie hier erfolgt, eine Schlüsselfunktion zukommt.50 Reiseberichte sind wichtige historische Zeugnisse, will man etwas über Reisepraktiken und individuelle Perzeptionsmuster sozialer Räume erfahren. Bei der Analyse von Texten dieser Art – wie bei der Arbeit mit „ego-Dokumenten“ im Allgemeinen – ist jedoch stets zu berücksichtigen, dass sie nur in einem sehr beschränkten Ausmaß Einblick in „authentische“ historische Erlebnisse eines Subjekts ermöglichen. In Selbstzeugnissen schlagen sich individuelle Wahrnehmungen in sprachlich geformter Erfahrung nieder, wobei sowohl individuelle Perzeptionsmuster zum Zeitpunkt des Erlebens als auch Modi der sprachlichen Dokumentation im Augenblick der Niederschrift immer vom Vorwissen und kulturellen Hintergrund des historischen Subjekts vorgeprägt sind.51 50
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Aus der umfangreichen Literatur zum Reisebericht als historische Quelle vgl. exemplarisch: Peter J. Brenner: Die Erfahrung des Fremden. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/Main 1989, S. 14–49; Michael Maurer: Der Reisebericht, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 325–348, insbes. S. 325–332, 345f.; Hans Erich Bödeker, Arnd Bauerkämper, Bernhard Struck: Einleitung: Reisen als kulturelle Praxis, in: dies. (Hg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt 2004, S. 9–30, insbes. S. 21–25; Hagen Schulz-Forberg: European Travel and Travel Writing. Cultural Practice and the Idea of Europe, in: ders. (Hg.): Unravelling Civilisation. European Travel and Travel Writing, Brussels 2005, S. 13–42, insbes. 13–16, 24–29. Zum Konzept der „Erfahrung“: Ute Daniel: Erfahrung – (k)ein Thema der Geschichtstheorie?, in: L’Homme 11 (2000), S. 120–123; Kathleen Canning: Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Materialität, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 163–182. Zur Reise als „paradigmatischer Form der Er-fahrung“: Bödeker (u.a.), Einleitung, S. 14–18.
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Mit dem Verfassen eines Reiseberichts schreibt sich ein Autor somit stets in einen bestimmten Diskurs ein. Schließlich ist es schon fast ein Allgemeinplatz, dass Reiseberichte als Quellen mehr über den Autor und dessen Vorwissen, Vorurteile und Wahrnehmungsmodi als über den im Text beschriebenen Gegenstand verraten.52 Diese Tatsache ist für eine Untersuchung, wie sie hier angestrebt wird, jedoch nicht unbedingt von Nachteil. Im Gegenteil: Wenn im Folgenden danach gefragt wird, wie russische Passagiere soziale Räume an den Orten des Eisenbahnsystems des Zarenreiches wahrgenommen und beschrieben haben, geht es weniger darum offen zu legen, wie diese Räume „tatsächlich“ gewesen sind. Vielmehr gilt es, diese Raumbilder als Repräsentationen einer persönlich erfahrenen „Wirklichkeit“ zu beschreiben sowie individuelle Mobilität und Raumerfahrung als Praktiken ernst zu nehmen, die neue Strukturen sozialer Räume im russischen Eisenbahnzeitalter mit konstituierten. Allein die Tatsache, dass ein Reisender bzw. eine Reisende bei seiner/ihrer Fahrt im Zarenreich die Eisenbahn nutzte und danach in schriftlicher Form über die eigenen Erlebnisse berichtete, qualifiziert ihn/sie, bei der folgenden Analyse mit berücksichtigt zu werden. Aus welcher sozialen Schicht er oder sie stammte bzw. in welcher Klasse der Eisenbahn er/sie reiste, ist dabei nicht ausschlaggebend.53 Die Passagiere, deren Zugreisen hier betrachtet werden, verbindet, dass sie die regulären Dienste des Personenverkehrs der russischen Bahnen – und nicht deren Transportdienste z.B. für Kolonisten, Soldaten oder Häftlinge – in Anspruch nahmen und im Anschluss die eigenen Erfahrungen in schriftlicher Form verarbeiteten.54 Es ist dieses „spezielle Maß an Selbstreflektivität“55, das die Grundlage für die Entstehung eines jeden Reiseberichts bildet und das hier als Kriterium für die Berücksichtigung einer Eisenbahnfahrt als „Reise“ angesehen wird. Bei der folgenden Analyse einer größeren Anzahl (publizierter) Reiseberichte russischer Zugpassagiere soll in zwei Schritten vorgegangen werden. In einem ersten Teil sind Texte aus den frühen Jahren der Eisenbahngeschichte des Zarenreiches zu beleuchten, die Aufschluss über die Wahrnehmung des neuen Verkehrsmittels als technische Innovation und über die Perzeption des allgemeinen Wandels räumlicher Strukturen im Eisenbahnzeitalter auf einer Makroebene (des Territoriums) und einer Mikroebene (in Bahnhöfen und Zügen) erlauben. Ziel ist 52
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Immer noch zentral für die Osteuropäische Geschichte: Gabriele Scheidegger: Das Eigene im Bild vom Anderen. Quellenkritische Überlegungen zur russisch-abendländischen Begegnung im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 35 (1987), S. 339– 355. Bei der Recherche der Quellentitel wurde u.a. auf die Bibliografie Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel’ knig i publikacij v žurnalach, hg. von Petr A. Zajončkovskij, Bde. 2–4, Moskva, Leningrad 1977–1986 zurückgegriffen. Auch Fahrten von hochrangigen Würdenträgern (z.B. Ministern, Gouverneuren u.a.), die bei ihren Reisen im eigenen Land auf eine exklusive Infrastruktur, wie z.B Sonderzüge, Salonwaggons etc., zurückgreifen konnten, sollen hier nicht mit berücksichtigt werden. Frank, Reisen nach Sibirien, S. 114.
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es insbesondere, die im dritten Kapitel beschriebenen Strukturen sozialer Räume (imaginärer, baulich-materieller und normativer Natur), wie sie sich an Orten des Eisenbahnsystems manifestiert haben, mit sozialen Praktiken und Mustern der Raumwahrnehmung russischer Zugpassagiere in Beziehung zu setzen. In einem zweiten Schritt soll die Betrachtung auf die Frage fokussiert werden, inwiefern die neuen Möglichkeiten, das Russländische Reich im Eisenbahnzeitalter in seiner geografischen und kulturellen Vielfalt persönlich zu erfahren, bei russischen Zugreisenden die Vorstellung ihres Landes als räumliche Einheit gefestigt haben oder inwieweit die persönliche Erfahrung von (z.B. ethnischer und religiöskonfessioneller) Differenz Bilder von der Einheit des Landes erschütterten. Diese Fragen werden in zwei Fallstudien – einer zu Berichten über Reisen in die westlichen Randgebiete des Zarenreiches und einer zu Schilderungen von Fahrten nach Sibirien – diskutiert. Zu fragen ist jeweils, welche Spuren die persönliche Erfahrung des durchreisten Landes auf den kognitiven Karten der Zeitgenossen hinterlassen hat, anhand welcher Grenzen das Territorium gedanklich gegliedert wurde und in welchem Maße diese Vorstellungen mit einem Vorwissen an Raumbildern, z.B. aus russischen Eisenbahnreiseführern korrespondierten. 4.2.1. Eisenbahnreise als Raum-Erfahrung Wie in anderen Ländern revolutionierte die Einführung der Eisenbahn auch in Russland die Wahrnehmung von Raum und Zeit. Gerade im Zarenreich, das zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme der ersten Eisenbahnstrecken (1837 bzw. 1851) erst über ein rudimentäres Netz befestigter Chausseen verfügte und wo die Überwindung größerer Distanzen (insbesondere im Frühjahr und im Herbst) ein mühsames und zeitraubendes Unterfangen war, wurde die Erfahrung der vergleichsweise schnellen Fahrt auf ebener Schiene von vielen Zeitgenossen als Sensation empfunden.56 Ungeachtet der schlechten Verkehrswege und der Mühsal der Fortbewegung innerhalb des eigenen Landes war die Bevölkerung des Zarenreiches vor dem Bau des Eisenbahnnetzes jedoch alles andere als eine immobile Gesellschaft. Beim Blick auf steigende Passagierzahlen in russischen Zügen sollte nicht vergessen werden, dass die Notwendigkeit, geografische Distanz im eigenen Land zu überwinden, auch schon vor der Einführung der Dampfmaschine das Leben vieler Untertanen des Zaren bestimmte. Zur mobilen Bevölkerung des Reiches zählten schon im frühen 19. Jahrhundert orthodoxe Pilger, Adelige auf dem Weg zu ihren Gütern oder ins westliche Ausland, Wanderarbeiter, Kaufleute, Handwerker, Studenten, Wissenschaftler, ausländische Gesandte und Bildungsreisende, Verbannte und Sträflinge, Repräsentanten der Reichsregierung sowie Landstreicher und an56
Zur Entwicklung der Verkehrswege des Zarenreiches vor dem Bau der Eisenbahn vgl. Haywood, Beginnings, S. 3–45; Kraskovskij (u.a.), Istorija, S. 11–24; Mumenthaler, Stock und Stauden; Roland Cvetkovski: Russlands Wegelosigkeit. Semiotiken einer Abwesenheit, in: Karl Schlögel (Hg.): Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte, München 2011, S. 91-107.
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deres „fahrendes Volk“. Neben die Menschen, die nur für eine vorübergehende Zeit ihren Wohnort verließen, gesellten sich auf den Straßen und Wasserwegen des Landes noch jene, die ihrer Heimat dauerhaft den Rücken kehren wollten, wie flüchtige Bauern und Soldaten, Kolonisten und Migranten. Kaum eine Gruppe dieser mobilen Gesellschaft blieb vom Bau der Eisenbahn im Zarenreich unberührt, wenngleich das neue Verkehrsmittel aus ökonomischen Gründen auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele Bewohner des Imperiums unerreichbar blieb. Tatsächlich machten im 19. Jahrhundert in Russland im internationalen Vergleich nur relativ wenige Menschen die Erfahrung einer Fahrt mit der Eisenbahn.57 Selbst jene Reisende, die sich ein Zugticket leisten konnten, mussten bei ihren Fahrten häufig auf althergebrachte Verkehrsmittel wie Kutschen und Flussschiffe zurückgreifen, da zahlreiche Regionen lange auf die Anbindung an das eherne Schienennetz warten mussten oder nie in den Genuss einer solchen kamen. Bis weit ins 20. Jahrhundert standen die Verkehrsnetze von Straße, Fluss/Kanal und Schiene für den Personenverkehr im Zarenreich somit eher in einem komplementären als in einem konkurrierenden Verhältnis.58 Raum, Zeit, Geschwindigkeit Noch vor der Eröffnung der ersten Eisenbahn in Russland hatten Zeitschriften im Zarenreich über die Erlebnisse russischer Passagiere berichtet, die in Westeuropa mit einen Zug gereist waren.59 Mit der Fertigstellung der Bahnstrecke nach Carskoe Selo eröffnete sich schließlich am 30. Oktober 1837 auch für die Bewohner St. Petersburgs die Möglichkeit, selbst mit dem dampfgetriebenen Verkehrsmittel zu fahren. In den ersten Berichten, in denen Passagiere von diesem Erlebnis berichten, finden sich bekannte Topoi aus den frühen Debatten über die Notwendigkeit des Eisenbahnbaus im Zarenreich wieder.60 So beschwor zum Beispiel der Journalist der Sankt Peterburgskie vedomosti am Tag nach der Eröffnung der Strecke begeistert den „menschlichen Verstand“, der diese Maschine hervorgebracht habe, die „Raum vernichtet (uničtožaet prostranstvo)“ und „Zeit absorbiert 57
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59 60
1913 entfielen auf einen Einwohner des Zarenreiches rein rechnerisch pro Jahr nur 1,35 Zugfahrten. In Deutschland betrug diese Zahl dagegen 24,2, in Frankreich 12,8 und in den USA 10,2. Während die durchschnittliche Reisedistanz in diesen Ländern jedoch relativ kurz war (DR: 22 Kilometer, F: 32 Kilometer, USA: 50 Kilometer) legte ein russischer Passagier bei einer Zugfahrt im Jahr 1912 im Schnitt 103,96 Werst (ca. 111 Kilometer) zurück. Michal’cev, Ėvoljucija, S. 9; Statističeskij sbornik MPS vyp. 131 (1916). Insbesondere die Einführung regelmäßiger Dampfschiffverbindungen auf den großen Strömen des Reiches trug, neben dem Bau der Eisenbahn, zum Wandel des ÜberlandPersonenverkehrs in Russland im 19. Jahrhundert bei. Dieses Thema harrt noch einer systematischen Untersuchung. Erste Überlegungen dazu finden sich bei: Ely, This Meager Nature und Hausmann, Mütterchen Wolga. Zum Bericht des Petersburger Professors Gabriel Lamé über seine Fahrt mit der Eisenbahn von Liverpool nach Manchester im Jahr 1830 vgl. Kap. 2.1. Vgl. Kap. 2.1. – Zur Ästhetisierung der Eisenbahn(fahrt) in der russischen Literatur der 1830er und 1840er Jahre: Alekseev, Puškin, S. 153.
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(pogloščaet vremja)“.61 Besonders fasziniert war der Fahrgast von der „Kraft, welche die gewaltigen Kutschen mit der Geschwindigkeit eines Wüstenwindes“ beschleunige.62 Auch das Tempo von sechzig Werst/Stunde (ca. 64 km/h), mit dem der Zug „fast unmerklich“ die 21 Werst lange Strecke zurücklegte, ließ den Reporter „staunend erschauern“. Für diesen Zeitgenossen bestand kein Zweifel daran, dass der 30. Oktober 1837 in die Geschichte St. Petersburgs und Russlands eingehen werde und dass in Zukunft in „unserem Vaterland“ weitere Eisenbahnen gebaut werden, deren „positiven Wirkung“ heute noch gar nicht absehbar sei.63 Von der Geschwindigkeit und der Planmäßigkeit der Fortbewegung auf der Eisenbahn waren auch jene Passagiere begeistert, die Ende 1851 über ihre Fahrt auf der ersten Magistral-Bahn des Zarenreiches zwischen St. Petersburg und Moskau berichteten.64 Die Bilder, die dabei von russischen Eisenbahnanhängern beschworen wurden, glichen auf verblüffende Weise jenen, mit denen auch in anderen Ländern die beschleunigte Fahrt im neuen Verkehrsmittel gefeiert wurde, so als hätten russische Autoren diese aus einer übernationalen Sprache der Technikbegeisterung und des Fortschrittsglaubens entlehnt.65 So „flog“ – in den Worten des namhaften russischen Literaturkritikers und -historikers Nikolaj Greč – der Zug von Petersburg nach Moskau „wie ein von einem Bogen geschossener Pfeil“ durch die Landschaft.66 Wie schnell sich Bilder dieser Art als Schablonen für die Beschreibung der neuen Erfahrung der Eisenbahnreise im russischen Sprachgebrauch etablierten, lässt sich an dem Bericht über eine Fahrt zwischen den beiden Hauptstädten zeigen, der kurze Zeit später in der Severnaja pčela (Biene des Nordens) erschien. Bei seiner Fahrt nach Moskau, so der (anonyme) Autor, sei es ihm vorgekommen, als fliege die Maschine „wie ein Vogel, wie ein Pfeil, wie ein
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Vnutrennyja izvestija, in: Sankt Peterburgskie vedomosti, Nr. 247, 31.10.1837, S. 1115. Mit der Technisierung und Beschleunigung der Fahrt sei jedoch auch die „Poesie des Reisens (poėzija putešestvija)“ des Postkutschenzeitalters verloren gegangen, klagten andere. [Boris Nikolaevič Čičerin:] Vospominanija B. N. Čičerina. Moska 1840-ch godov, Moskva 1929, S. 86. Sankt Peterburgskie vedomosti, 31.10.1837, S. 1115. Sankt Peterburgskie vedomosti, 31.10.1837, S. 1115. Zur Eröffnung der Bahnlinie am 1. November 1851 vgl. u.a. Sankt Peterburgskie vedomosti, Nr. 246, 2.11.1851, S. 985; Nr. 247, 3.11.1851, S. 989f.; Nr. 257, 15.11.1851, S. 1029–1031; Severnaja pčela, Nr. 245, 2.11.1851, S. 977. Stephen Baehr zufolge konnten die ersten russischen Autoren, die ihr Geschwindigkeitserlebnis auf der Eisenbahn in Worte fassten, bereits auf ältere literarische Bilder zurückgreifen, in denen zum Beispiel die Fahrt in „fliegenden Schlitten“ beschworen wurde. Das Bild des Raumes, der durch die beschleunigte Fahrt schrumpft, sowie der Landschaftsbilder, die am Auge des Betrachters vorbeihuschen, könnten jedoch als Innovationen des Eisenbahnzeitalters angesehen werden. Vgl. ders., The Troika and the Train, S. 94–96. Zu „westlichen“ Beschreibungsmodi des neuen Erlebnisses der Eisenbahnfahrt vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 53–55; Freeman, Railways and the Victorian Imagination, S. 38–43; Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt/M. 2004, S. 90–101; Parejo Vadillo, Plunkett, The Railway Passenger. Nikolaj Ivanovič Greč: Poezdka v Moskvu, Sankt Peterburg 1851, (Repr. aus: Severnaja pčela, 1851, Nr. 157–160), S. 2.
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Traum.“67 Fast unbemerkt habe der Zug die große Distanz zurückgelegt, so dass ihm die vielen hundert Werst nur noch wie „nicht zu fangende Schatten oder schillernde Trugbilder“ vorkamen.68 Frühe Berichte russischer Zugpassagiere legen auch Zeugnis davon ab, dass sich diese im Innenraum des Abteils wie abgeschieden von dem am Fenster vorbeiziehenden Land fühlten. Dieser Eindruck deckt sich mit den von Schivelbusch analysierten Mustern der Raumperzeption von westlichen Eisenbahnreisenden: „Es scheint, als sitzt du in einer Art beweglichem Arbeitszimmer, du liest ein Buch und unterhältst Dich mit Deinem Nachbarn [...], die Zeit vergeht unmerklich, und unterdessen werden in jeder Stunde vierzig Werst Wegstrecke zurückgelegt.“69
Sowohl die Organisation der optischen Eindrücke von Orten des „Außenraums“ hinsichtlich ihrer Lage zum befahrenen Schienenstrang („auf der linken Seite...“) als auch die Rückbindung eines Punktes auf der Landkarte an eine bestimmte Zeit im Fahrplan des Zuges („um halb vier entdeckten wir...“) sollten später auch die typische Form der Landschaftsbeschreibung in den ersten russischen Eisenbahnreiseführern prägen.70 Zu diesen räumlichen Perzeptions- und Beschreibungsmustern zählte auch der Vergleich des Landschaftsbildes, das sich einem Reisenden beim Blick durch das Waggonfenster bot, mit einem Panoramagemälde, wie er sich zum Beispiel in der Schilderung Nikolaj Grečs von seiner Fahrt von Petersburg nach Moskau findet: „Um halb vier entdeckten wir auf der linken Seite die Stadt Tver’. Die Glockentürme ihrer Kirchen zeichneten sich am Horizont ab wie in einem Panorama[gemälde].“71
Kaum ein Zugreisender, der später in schriftlicher Form über die Eindrücke seiner Eisenbahnfahrt berichtete, konnte sich diesen sprachlichen Schablonen der Zeitund Raumwahrnehmung entziehen. In zahllosen Texten liest man von Telegrafenmasten, Streckenwärterhäuschen und Wäldern, die am Waggonfenster „vorbeiflogen“ und von Städten, Klöstern oder anderen Gebäuden, die sich auf der „linken“ bzw. der „rechten Seite“ ins Blickfeld des Betrachters schoben und sich im Rahmen des Waggonfensters zu einem Panoramagemälde arrangierten.72 67 68
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N. N.: Železnaja doroga. Pis’mo k prijatelju v derevnju, in: Severnaja pčela, 11.4.1852, S. 317–318. N. N., Železnaja doroga, S. 317. – Zum Einfluss der Raumwahrnehmung des Eisenbahnzeitalters auf die russische Literatur: Zoreva, Die Eisenbahn im russischen kulturellen Raum, S. 121. N. N., Železnaja doroga, S. 317. Vgl. dazu Kap. 3.4.1. Greč, Poezdka, S. 8. Vgl. exemplarisch für eine nicht überschaubare Menge potentieller Referenzstellen: N. Podosenov: Iz putevych vpečatlenij, in: Permskie Eparchal’nye Vedomosti, 1880, Nr. 28, S. 279– 283, hier S. 282; Andrej Ivanovič Firsov: V vagone i na parochode. Iz letnich skitanij, Tula 1897, S. 7; Putešestvie studentov kazanskoj duchovnoj akademii v letnija kanikuly 1902 goda, Kazan’ 1902, S. 17 (Vergleich der optischen Eindrücke mit jenen eines Kaleidoskops); Palomničestvo vospitannic Odesskogo eparchal’nogo ženskogo učilišča črez Kiev v Moskvu i Troice-Sergievu lavru. Odessa 1910, S. 2; Nikolaev, Na otdyche, Nr. 4, S. 571f., Nr. 5, 661, Nr. 8–9, S. 24 (Vergleich des Blicks aus einem fahrenden Zug mit dem Besuch eines Kinos).
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Das Versprechen einer schnellen und fahrplanmäßigen Überwindung geografischer Distanz, mit dem die Betreiber der Eisenbahn ihre Kunden auch in Russland lockten, weckte bei den Passagieren entsprechende Erwartungen an Tempo und Pünktlichkeit des neuen Verkehrsmittels. Tatsächlich hatten russische Zugpassagiere die Regeln der zeitlichen Organisation einer Eisenbahnreise schnell verinnerlicht. Während sich Nikolaj Greč im Jahr 1851 noch beeindruckt zeigte, dass sein Zug am nächsten Morgen fahrplanmäßig, d.h. „pünktlich um neun Uhr“, sein Ziel in Moskau erreichte, war die Planbarkeit einer Fahrt im Zarenreich wenig später für die meisten Zugpassagiere eine Selbstverständlichkeit.73 Bald war nicht mehr die Einhaltung gesetzter zeitlicher Normen die Sensation, sondern deren Verletzung. Tatsächlich fuhren die Züge des Zarenreiches im internationalen Vergleich alles andere als schnell, und auch mit der Pünktlichkeit der Verbindungen war es oft nicht weit her. Die Fülle an Klagen über die Verletzung des Fahrplans oder über die kaum zu unterbietende Langsamkeit russischer Züge, die sich in zahllosen Reiseberichten russischer Passagiere finden und Beschwerdeakten im Archiv des Verkehrsministeriums füllen, sollten jedoch nicht nur als Indiz für die Schwächen der russländischen Eisenbahnen gelesen werden.74 Daneben beleuchten diese Quellen nämlich anschaulich, in welchem Umfang die modernen Rhythmen des Eisenbahnsystems im späten 19. Jahrhundert bereits Zeitgefühl und Zeitbewusstsein russischer Reisender und entsprechende Erwartungshaltungen an die technische Moderne zu prägen vermochten. Die wohlgeordnete Gesellschaft und ihre Klassen Die Eisenbahn im Zarenreich wurde, wie bereits dargelegt, von Planern und Ingenieuren nicht nur als ein nüchternes Verkehrsmittel betrachtet, sondern ihre Einführung auch mit der Hoffnung auf Durchsetzung bestimmter zivilisatorischer Standards unter der eigenen Bevölkerung verknüpft.75 Auch Zugreisende der frühen Jahre nahmen russische Bahnhöfe und Züge als besonders „zivilisierte“ Orte wahr, an denen eine neue, moderne Ordnung herrschte. Bereits Nikolaj Greč zeigte sich 1851 von den großzügigen und herrschaftlichen Bahnhofsgebäuden in Petersburg und Moskau mit ihren kultivierten Restaurants, Wartesälen und Gärten beeindruckt. Der Waggon erster Klasse, in dem er nach Moskau reiste, erinnerte ihn weniger an einen anonymen Ort im öffentlichen Raum. Vielmehr weckte er bei ihm Assoziationen an das behagliche Ambiente eines privaten Wochenendhauses:
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Greč, Poezdka, S. 9. Die behördliche Auswertung von Beschwerdebüchern russischer Bahhöfe und der Schriftverkehr zu Klagen von Passagieren, die das Verkehrsministerium erreichten, finden sich beispielsweise in: RGIA f. 265, op. 4, ed. chr. 1181, 1182, 1183, 1184; f. 273, op. 10, ed. chr. 267, 352, 413, 498, 554 und f. 1195, op. 1, ed. chr. 127, 210. Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.5.1.
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„Nachdem ich mein Ticket gelöst und mein Gepäck aufgegeben hatte, ließ ich mich in einem Wagen erster Klasse nieder. Stellen Sie sich ein helles, sauberes Wohnzimmer auf einer dača vor, das mit Liegesesseln möbliert ist; und in diesem Zimmer findet eine Versammlung von gebildeten, sympathischen und zum Teil untereinander bekannten Menschen statt: So sieht es in einem Wagen erster Klasse aus.“76
Auch den Schilderungen anderer Beobachter zufolge konnten sich die Bewohner der Hauptstädte an der „wunderbaren Neuerung“ der Eisenbahn von St. Petersburg nach Moskau „nicht satt sehen“. Angesichts der „Ordnung auf den Bahnhöfen und während der ganzen Fahrt“ seien alle Reisenden „voll des Lobes“ gewesen. Auch die Bediensteten hätten sich stets „höflich und umsichtig“ gezeigt. Kurzum sei die Bahn in jeder Hinsicht eine „vollendete Einrichtung.“77 Auch bei der Lektüre anderer Berichte über russische Bahnhöfe und Züge der frühen Jahre fallen immer wieder Worte wie „Luxus (roskošč)“, „Bequemlichkeit (udobstvo)“, „Ordnung (porjadok)“ und „Eleganz (izjaščestvo)“ auf.78 Zwar bezogen sich diese Attribute meist auf Räumlichkeiten, die Passagieren erster und zweiter Klasse vorbehalten waren.79 Im internationalen Vergleich galten aber auch russische Waggons und Wartebereiche für Passagiere dritter Klasse zunächst als relativ komfortabel. So lobte beispielsweise die Severnaja pčela am 2. November 1851 die „Räume dritter Klasse“ auf der St. Petersburg-Moskau-Bahn und hob hervor, dass „eine solche Fürsorge für Menschen aus den niederen Ständen sonst nirgendwo in Europa beobachtet werden“ könne.80 Noch lange erinnerten sich russi76 77 78
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Greč, Poezdka, S. 1. Vgl. auch: Fel’ton. Peterburgskaja letopis’, in: Sankt Peterburgskie vedomosti, Nr. 247, 3.11.1851, S. 989–991, hier S. 989. N.N.: Železnaja doroga, S. 318. Vgl. z.B. Bericht über die Einweihung des Bahnhofs der Peterhof-Bahn in St. Petersburg am 18.7.1857, in: Sankt Peterburgskie vedomosti, Nr. 139, 27.7.1857, S. 840f. oder Erzählung des Priesters Podosenov aus Perm von seiner ersten Eisenbahnfahrt nach Moskau und von seinen Eindrücken des Bahnhofs von Nižnij Novgorod: Podosenov, Iz putevych vpečatlenij, S. 282f. Der Komfort russischer Eisenbahnen war auch in zahlreichen westlichen Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert ein fester Topos. Insbesondere Schilderungen über Fahrten mit den Luxuszügen der Internationalen Schlafwagengesellschaft (CIWL) (Nord-Express und Transsibirien-Express) trugen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Verbreitung des Mythos’ von der luxuriösen – wenngleich langsamen – Eisenbahnfahrt im Zarenreich bei. Zu früheren westlichen Schilderungen von Eisenbahnfahrten in Russland vgl.: Blackwell, Beginnings, S. 316f.; von Moltke, Briefe aus Russland [1856/57], S. 89; Théophile Gautier: Voyage en Russie [1867], Paris 1990, [ein längeres Zitat aus diesem Bericht findet sich in deutscher Übersetzung in: Gregory, Bon voyage, S. 147f., Auszüge in russischer Übersetzung in: Sankt Peterburg – Moskva. Putešestvie po železnym dorogam vo vremeni i prostranstve, Sankt Peterburg 2001, S. 70, 92f., 117, 135]; Katharine Blanche Guthrie: Through Russia, Bd. 1, London 1874, S. 156, 295-298; Kennan, ... und der Zar ist weit, S. 52–54. Voller Lob für die „vortreffliche innere Einrichtung der Waggons“ erster Klasse in Russland ist auch Baedeker, West- und Mittelrussland, S. XVIII. „Die Waggons sind ebenso geräumig wie [jene der ersten und zweiten Klasse] und mit Bänken mit Rückenlehnen ausgestattet.“ Zudem würden die Passagiere auf ihrer Fahrt „durch ein Glasdach vor der schlechten Witterung geschützt“. Severnaja pčela, Nr. 245, 2.11.1851, S. 977; vgl. auch: Sankt Peterburgskie vedomosti, 3.11.1851, S. 989. Vgl. dazu Haywood, Russia Enters, S. 494.
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sche Reisende an den „staatlich-bürokratischen Charakter (kazennobjurokratičeskij charakter)“ der Bahnhöfe der Nikolaj-Bahn, mit ihren uniformierten Beamten, die im Befehlston sprachen und an die zahlreichen Verbote, die das Verhalten des „Publikums“ an diesen Orten des öffentlichen Raums regelten.81 Für den Petersburger Journalisten, der am 2. November in der Severnaja pčela über die Eröffnung der Bahnlinie nach Moskau berichtete, war es offenbar eine Selbstverständlichkeit, dass die dritte Klasse des Verkehrsmittels dem „einfachen Volk (prostoj narod)“ bzw. den „niederen Ständen (nizšie soslovija)“ vorbehalten war – ebenso wie die erste Klasse den Vertretern der gesellschaftlichen Elite. Auf diese Art spiegelte, in den Augen dieses Beobachters, das sozial-räumliche „Klassen“-System der Eisenbahn die Ständeordnung des Zarenreiches fast deckungsgleich wider.82 Obwohl die Grenzen der Klassenordnung auf der Schiene um einiges durchlässiger waren als jene der soslovie-Gesellschaft des Reiches und im Prinzip allein die finanziellen Möglichkeiten eines Passagiers über den Zugang in die eine oder andere Fahrgastklasse entschieden83, hielt sich lange die Vorstellung, dass ein Bauer oder Arbeiter in der ersten Klasse ebenso wenig verloren habe wie ein Gutsbesitzer in der dritten. So blieben die Mitglieder der wohlhabenden und privilegierten Schichten in den Waggons erster und zweiter Klasse häufig genauso unter sich wie Bauern, Arbeiter, Soldaten und einfache Angestellte in der dritten. Wie stark die Zugangsregeln und Verhaltensnormen für Passagiere in Waggons erster bzw. dritter Klasse dabei von traditionellen Normen der jeweils dominanten sozialen Gruppe bestimmt blieb, lässt sich anhand zweier Beispiele illustrieren. Im ersten Fall handelt es sich um die Schilderung einer Szene in einem Waggon erster Klasse, die sich in den Erinnerungen des russischen Offiziers der Gendarmerie Vasilij A. Rotkirch aus dem Jahr 1890 findet.84 Rotkirch, der auch als Schriftsteller und Übersetzer tätig war, beschreibt in dieser kurzen Darstellung eine Zugfahrt Anfang der 1870er Jahre auf der Bahnlinie von Orel nach Grjazi in Zentralrussland. Auf dieser von einer privaten Aktiengesellschaft betriebenen Bahn verkehrten äußerst luxuriöse Waggons erster Klasse, deren Abteile u.a. mit blauem Atlasstoff ausgeschlagen waren. Rotkirch war in einem dieser Gefährte in Begleitung eines Ingenieurs der Bahnlinie unterwegs, als ein „einfacher Bauer (prostoj mužik)“ an einem Zwischenhalt den Waggon bestieg. Er habe sich wohl in der Tür geirrt, wurde der Mann sogleich von dem Ingenieur Marskij angeherrscht. Mit dem Hinweis, dass dem nicht so sei, zeigte der Landmann auf seine Fahrkarte erster Klasse, und auch ein Schaffner, der zugegen war, bestätigte, dass die Sache seine Richtigkeit habe. Anstatt den Bauern nun als gleichberechtigten 81 82
83 84
Aleksandr Petrovič Miljukov: Letnie poezdki po Rossii. Zapiski i putevye pis’ma, Sankt Peterburg 1874, S. 3. Severnaja pčela, 2.11.1851, S. 977. Vgl. u.a. auch N. Demert: Iz nedavnej poezdki (po Moskovskoj i Nižegorodskoj doroge), in: Otečestvennye zapiski, 1868, Nr. 11, S. 1–33, hier S. 8; Nikolaev, Na otdyche, S. 644. Zum „demokratischen“ Charakter der Eisenbahn im Zarenreich vgl. Kap. 3.5.3. Vasilij Alekseevič Rotkirch: Vospominanija Teobal’da, Bd. 5, Vil’na 1890, S. 97–100.
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Passagier zu akzeptieren, der sich mit ehrlich verdientem Geld eine Reise unter „Menschen“ leisten wollte, gab ihm Marskij in rüdestem Tonfall zu verstehen, dass er an diesem Ort nichts verloren habe: „Was fällt Dir Graurock ein, hier einzudringen? Hast Du völlig vergessen, wo Du hingehörst? Du wirst mir noch den ganzen Waggon mit Teer und Fett versauen. Ich sage Dir in aller Deutlichkeit in Deine versoffene Visage: Siehst Du die Seidenstoffe hier überall? Wenn Du auch nur den kleinsten Fleck machst, übergebe ich Dich den Gendarmen und Du bezahlst mir für den ganzen Waggon tausend Rubel.“85
Dieser Einschüchterungsversuch hatte, den Schilderungen Rotkirchs zufolge, nachhaltigen Erfolg. Der Bauer zeigte in seinen Erwiderungen nicht nur alle Zeichen standesgemäßer Unterwürfigkeit – z.B. in der Anrede des Ingenieurs als „Euer Wohlgeboren (Vaše blagorodie)“. Völlig verschüchtert von dem Angriff breitete der Mann auch ein Tuch über seine Sitzbank und zog seine Stiefel aus, um das Mobiliar nicht zu beschmutzen. Vom schlechten Gewissen geplagt, legte er sich wenig später sogar auf den Boden und verließ nach fünf Stationen den Waggon. Zum Abschied rief er den beiden Mitreisenden zu, dass er sich doch lieber einen Platz in der dritten Klasse suchen wolle, wo man sich „freier und unbeschwerter“ fühle: „Nicht zu unrecht heißt es: Schuster bleib bei Deinen Leisten! Zeit meines Lebens werde ich nicht mehr erster Klasse fahren!“86 Die zweite Szene, die hier analysiert werden soll, spielt in einem Waggon dritter Klasse auf der Bahnlinie von Petersburg nach Moskau in den späten 1850er Jahren. In seinen Erzählungen (Novye rasskazy) aus dem Jahr 1900 erinnert sich der russische General und Schriftsteller Aleksandr V. Vereščagin – der Bruder des berühmten Malers Vasilij Vereščagin – an die alljährlichen Fahrten seiner Familie von St. Petersburg auf deren Landgut südöstlich von Novgorod.87 Die achtköpfige adelige Familie reiste in Begleitung von Gouvernanten, Hauslehrern und Freunden der Kinder und legte die Strecke von Petersburg zur Bahnstation Valdejka mit dem Zug zurück, von wo die Weiterfahrt mit der Kutsche angetreten wurde. Um Kosten zu sparen, löste der Vater für die reisende Gesellschaft stets Fahrkarten dritter Klasse, was er mit seinem Selbstverständnis als Gutsbesitzer offensichtlich problemlos vereinbaren konnte. Für den neunjährigen Aleksandr war die Fahrt im vollbesetzten Waggon der Holzklasse inmitten „des einfachen, arbeitenden Volks (prostoj rabočij narod) sowie kleinerer Angestellter und Kaufleute“ offensichtlich ein besonderes Erlebnis. Noch viele Jahre später konnte er sich an die Enge im Waggon sowie an die Passagiere erinnern, die bei der Abfahrt des Zuges ihren Hut abnahmen, sich bekreuzigten und die sich, kaum hatte die Fahrt begonnen, miteinander bekannt machten und in lebhafte Gespräche vertieften.88 Dabei ist hier nicht von Bedeutung, ob die in der Erzählung geschilderte Atmosphäre eines 85 86 87
88
Rotkirch, Vospominanija Teobal’da, S. 99. Rotkirch, Vospominanija Teobal’da, S. 100. Aleksandr Vasil’evič Vereščagin: Kanikuly, in: ders.: Novye rasskazy, Sankt Peterburg 1900, S. 13–32. – Trotz der Bezeichnung rasskazy handelt es sich bei den Erzählungen Vereščagins nicht um fiktive Texte, sondern um anekdotenhafte Erinnerungen aus seinem Leben. Vereščagin, Kanikuly, S. 15f.
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Waggons dritter Klasse wirklich der persönlichen Erinnerung des Autors entsprang oder er sich bei der Ausmalung seiner Geschichte allgemeiner Klischees von der Reisepraxis des „einfachen Volkes (prostoj ljud)“ bediente, wie sie zuhauf in anderen Reiseberichten bzw. in Werken der russischen Literatur zu finden waren.89 Auf eine authentische Erinnerung aus dem Familiengedächtnis der Vereščagins geht jedoch wahrscheinlich die Schilderung eines Streitgesprächs zwischen Aleksandrs Vater Vasilij und einem Vertreter des „einfachen Volkes“ zurück, die sich in dieser Erzählung findet. Der Konflikt zwischen den beiden Männern entzündete sich daran, dass ein Banknachbar des Gutsbesitzers, ein „großer, weißhaariger Bauer“ inmitten der Reisegesellschaft seine Bastschuhe auszog, die Beine von den Fußlappen befreite und damit begann, seine nackten Füße mit den Fingern zu massieren. Angewidert von diesem Verhalten entfuhr Vereščagin (Senior) die Frage: „Sag mal Bruder, weißt Du eigentlich, wo Du bist?“ Auf die Gegenfrage, was ihn das eigentlich angehe, erwiderte Vereščagin: „Kann man [hier] denn solch abstoßende Dinge tun? Du siehst doch, dass hier Herrschaften sitzen!“ Der Angegriffene ließ sich durch diesen Vorwurf jedoch nicht aus der Ruhe bringen und entgegnete selbstbewusst: „Und Du, werter Herr (barin), wie kommst Du dazu, Dich in unseren bäuerlichen Waggon (naš mužickij vagon) zu setzen?“90 Für unseren Kontext ist nicht entscheidend, dass der Bauer in diesem Konflikt am Ende den Kürzeren zog und auf Druck der umsitzenden Standesgenossen schließlich seine Schuhe wieder anzog. Wichtiger erscheint, dass sich der Mann in diesem ungleichen Disput deshalb in der stärkeren Position wähnte, weil der Streit in einem Waggon dritter Klasse stattfand. Ganz explizit betrachtete der Vertreter des niederen Standes den Ort, an dem er sich befand, als einen „bäuerlichen Waggon“. Davon leitete er für sich nicht nur das Recht ab, sich hier so zu verhalten, als befände er sich in den eigenen vier Wänden. Gleichzeitig fühlte er sich in dieser Umgebung sogar dazu befugt, einen fremden Gutsbesitzer zu „duzen“ und sich dessen Ermahnungen zu widersetzen. Während sich der Vertreter des Bauernstandes in der Erzählung Rotkirchs den Angriffen des Ingenieurs unmittelbar beugte – schließlich trug sich dieser Streit in einem Waggon erster Klasse zu – sah sich der mužik in der von Vereščagin geschilderten Episode im Wagen dritter Klasse zunächst im Vorteil. Beide Szenen illustrieren, dass sich weder in der ersten noch in der dritten Klasse jene rationalen Verhaltensregeln problemlos durchsetzen konnten, die optimistische Verkehrsplaner in die Betriebsverordnungen der Bahnen des Zarenreiches gemeißelt hatten. Der Alltag in russischen Zügen erinnerte nur selten an diese Regeln einer Eisenbahngesellschaft, die (in der Theorie) nur eine Stratifikation der Passagiere anhand finanzieller Kriterien kannten und die in allen Fahrgastklassen von einem „zivilisierten“ Umgang der reisenden Menschen miteinander ausgingen. Es war nicht das moderne, nach rationalen Kriterien organisierte 89
90
Relativ Stereotype Bilder einer Reise im Waggon dritter Klasse finden sich beispielsweise in der Erzählung Im Waggon (V vagone) von Anton Čechov (1881), in der Novelle Die Kreutzersonate von Lev Tolstoj (1891) oder der Erzählung Novaja Doroga von Ivan Bunin (1901). Vereščagin, Kanikuly, S. 17f.
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System der Eisenbahn, das den reisenden Menschen in Russland seine Verhaltensregeln zu diktieren vermochte. Es waren vielmehr die Passagiere, die durch ihr Verhalten die Strukturen sozialer Räume an den Orten des russischen Eisenbahnsystems nachhaltig prägten. Dementsprechend galten in einem Waggon erster Klasse in Russland noch lange de facto die Verhaltensregeln eines elitären Adelsclubs91, während sich Beobachter beim Anblick eines Waggons dritter Klasse wiederholt an das Treiben in einer bäuerlichen Wirtsstube erinnert fühlten. Zu Konflikten zwischen den verschiedenen Gruppen der mobilen Gesellschaft kam es meist dann, wenn in Zügen und Bahnhöfen traditionelle sozial-räumliche Grenzen überschritten wurden.92 Züge und Bahnhöfe als Orte der Begegnung Angesichts der durchlässigen Grenzen und der Berührungspunkte zwischen den räumlichen Sphären der Fahrgast-Klassen des russischen Eisenbahnsystems gehörte die Begegnung mit Menschen eines anderen Standes oder anderer kultureller Herkunft zu den Schlüsselerfahrungen einer Zugreise im Zarenreich. Während die schnelle Überwindung geografischer Distanz in Russland vor der Einführung der Dampfmaschine zu den Privilegien der gesellschaftlichen Elite zählte und ein Gutsbesitzer auf Reisen selten in Verlegenheit kam, die Kabine einer Postkutsche mit einem Bauern teilen zu müssen, gehörten Kontakte dieser Art, wie die genannten Beispiele zeigen, durchaus zum Alltag des Reisens im Schienenzeitalter. Als „demokratisches“ und vergleichsweise günstiges Verkehrsmittel eröffnete die Eisenbahn Menschen aus unterprivilegierten Schichten bislang ungekannte Möglichkeiten der schnellen Fortbewegung innerhalb des eigenen Landes. Da Züge – im Unterschied zur Kutsche – auch nachts auf Reisen waren und eine Fahrt im Zarenreich aufgrund großer Distanzen und begrenzter Geschwindigkeit oftmals mehrere Tage in Anspruch nahm, konnten Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft in einem Eisenbahnwaggon um einiges länger und intensiver ausfallen als an anderen Orten des öffentlichen Raums. Es kann daher nicht verwundern, dass die Begegnung zweier Menschen unterschiedlichen Standes im Zug von russischen Schriftstellern schon bald als ein beliebtes Erzählmotiv entdeckt wurde. Zu denken ist hier zum Beispiel an die 91 92
Vgl. z.B. Berichte über Fahrten mit Waggons erster Klasse: Firsov, V vagone, S. 1–10; Vertreter der gesellschaftlichen Oberschicht fanden es bisweilen empörend, an russischen Provinzbahnhöfen Wartezeit auf engstem Raum mit „betrunkenen mužiki und Bauersfrauen“ verbringen zu müssen. Vgl. z.B. Klevanov, Putevyja zametki, S. 441. – Zu Beschwerden adeliger Reisender über das Eindringen des „einfachen Volks“ in Waggons zweiter Klasse (1870er Jahre) vgl. auch: Izvlečenija iz del MPS po žalobam i zajavlenijam o bezporjadkach na russkich železnych dorogach v 1870–76 gg., in: Trudy vysočajše učreždennoj komissii dlja issledovanija železnodorožnago dela v Rossii, Bd. 1, Teil 2, Sankt Peterburg 1879, S. 1–283, hier u.a. S. 61. Die fehlende Abgrenzung der räumlichen Sphären der Fahrgastklassen blieb bis Anfang des 20. Jahrhunderts Anlass für Beschwerden. Vgl. z.B. CGIA SPb f. 1374, op. 1, ed. chr. 407.
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Eingangsszene von Dostoevskijs Roman Der Idiot oder an Lev Tolstojs Novelle Die Kreutzersonate.93 Aber auch viele Autoren, die in Zeitschriften oder in Buchform über ihre Reiseerlebnisse in russischen Zügen berichteten, betrachteten die intensive Begegnung mit fremden Menschen anderer Herkunft auf engem Raum offenbar als spezifische Erfahrung einer Eisenbahnreise.94 Die Wahrscheinlichkeit, in einem Eisenbahnwaggon auf Menschen eines anderen Standes zu treffen und mit diesem ins Gespräch zu kommen, war in der ersten und zweiten Klasse um einiges geringer als in der dritten. Schließlich waren in den dunkelblauen Waggons der ersten und in den gelben der zweiten Klasse vergleichsweise wenige Menschen unterwegs, und offensichtlich kam es auch häufiger vor, dass ein Adeliger, um Geld zu sparen, mit den grünen Waggons der Holzklasse reiste als umgekehrt ein Bauer bereit und in der Lage war, ein Ticket erster oder zweiter Klasse zu lösen.95 Zudem fuhren zahlreiche Passagiere gerade deshalb erster Klasse, weil sie während ihrer Reise nicht gestört werden wollten und es als Standesprivileg ansahen, alleine in einem Coupé, d.h. isoliert von der äußeren Umgebung unterwegs zu sein.96 Die Ruhe in einem Waggon erster oder zweiter Klasse wurde aber häufig gerade von einfachen Arbeitern und Angestellten der Bahngesellschaften gestört, die ihr Recht auf kostenlose Beförderung oft großzügig auslegten und statt in die Holzklasse in die gepolsterten Waggons drängten. Äußerst befremdet vom Anblick solcher Fahrgäste, deren „Kleidung, Manieren und Art zu leben verrieten“, dass sie eigentlich keine „Passagiere zweiter Klasse“ waren, zeigte sich beispielsweise der Offizier M. A. Spolitak, der 1907 in der Sibirischen Bahn in einem Waggon zweiter Klasse von Charbin ins westliche Russland reiste.97 Zwei Drittel der Plätze in seinem Waggon, so der Autor, seien von Menschen belegt gewesen, deren Benehmen darauf hindeutete, dass sie sich „in einer für sie ungewohnten Umgebung“ befanden. Ein Passagier dieser Kategorie, so Spolitak, „nimmt in den Waggon nicht nur allerlei hölzerne Truhen verschiedener Größe mit, sondern zudem fünf Pud schwere und dreckige Säcke mit Kartoffeln, Roter Beete und Kraut sowie 93 94
95
96 97
Vgl. dazu: Leving, Vokzal – Garaž – Angar, S. 63 und Kap. 1.1. dieser Arbeit. Vgl. exemplarisch: S**: Železnaja doroga meždu Peterburgom i Moskvoju. Fiziologičeskie zametki, in: Sovremennik 54 (1855), Nr. 1, Teil 5, S. 43–71; Podosenov, Iz putevych vpečatlenij, S. 283; Nikolaj Dmitrievič Puzanov: Dnevnik putešestvennika v Valaamskuju obitel’ v 1901 g., Moskva 1902, S. 100; D. Pokrovskij: Po Rossii. Iz vospominanij putešestvennika, in: Permskie Eparchal’nye vedomosti, 1905, Nr. 20, S. 233–242, hier S. 240–242; Nikolaev, Na otdyche, S. 570, 23f. Das „Farbenspiel“ der Fahrgastklassen auf den Eisenbahnen des Zarenreiches hat Aleksandr Blok in dem Gedicht Auf der Eisenbahn (Na železnoj doroge) aus dem Jahr 1910 eindrücklich festgehalten: „Die Waggons fuhren auf gewohntem Gleis, Sie schwankten und quietschten, Es schwiegen die gelben und blauen, In den grünen wurde geweint und gesungen.“ Zit. nach: A. M. Lejtes, P. G. Sdobnev, M. Ch. Danilov (Hg.): Železnodorožnyj transport v chudožestvennoj literature. Sbornik, Moskva 1939, S. 207. Vgl. z.B. Rotkirch, Vospominanija Teobal’da, S. 96f.; 101–103. M. A. Spolitak: Ot Charbina do Cholma: Beglye putevye nabroski, in: Oficerskaja žizn’, 1908, Nr. 131/32, S. 444–445; Nr. 133/34, S. 470–471; Nr. 136, S. 508–510; Nr. 138, S. 534– 36; Nr. 143, S. 612–14; Nr. 145, S. 642–644; Nr. 147, S. 679–680, hier Nr. 136, S. 509.
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Kissen und manchmal sogar ganze Federbetten. Aus zerbrochenen Gefäßen, die irgendwo in diesen Beuteln verborgen sind, fließt Petroleum, Milch oder Wodka. Aus irgendeiner käfigähnlichen Kiste schauen die Köpfe von Hühnern und Enten heraus; und zum Teil hört man dabei noch die laut geführten Gespräche in der primitivsten Gossensprache...“98
Wenn sich ein Vertreter der gebildeten Gesellschaftsschicht in einen Waggon dritter Klasse begab, in dem gesungen und getrunken wurde und die Passagiere Karten spielten und Sonnenblumenkerne knackten, war an eine ungestörte „Reise“ meist nicht mehr zu denken. Nur wenige, romantisch gesinnte Volkstümler konnten der Vereinigung mit den Vertretern der einfachen sozialen Schichten in den engen und stickigen Waggons dritter Klasse etwas Positives abgewinnen.99 Viele Schilderungen einer Reise in der russischen Holzklasse aus dem späten 19. Jahrhundert ähnelten jenen, die 1884 in der „künstlerisch-literarischen Zeitschrift“ Rossija zu lesen waren: „Inmitten von unvorstellbarem Schmutz [...], auf engen und äußerst unbequemen Bänken, saßen eng gedrängt und durcheinander gewürfelt Menschen unterschiedlichen Alters, Aussehens und Geschlechts. Neben einem wohlbeleibten Kaufmann, dessen kaum getragener Kaftan aus gutem Stoff ihn sichtlich einengte, kauerte an den Rand der Bank gedrängt eine kränkliche Frau mit einem Säugling. Neben und gegenüber von einem Beamten, der, nach seinem Äußeren zu schließen, sehr fleißig, aber dennoch arm war, saßen unbeholfen einfache Arbeiter mit ihren Werkzeugtaschen und Säcken, in Hemden mit charakteristischer Farbe und Geruch. Dann war da noch ein ‚Prachtkerl’ mit beeindruckender Physiognomie, einem ungewöhnlich roten Kopf und einer Mütze im Nacken, der Harmonika spielte und der irgend jemandem durch das offene Fenster in unflätigem Ton etwas zurief und ein kleiner Gymnasiast, der gerade erst vierzehn war. Dann gab es noch einen Geistlichen, dessen stutzerhaft gekämmter Bart nach Bergamotte-Öl roch und zwei kichernde, übermütige junge Arbeiterinnen, die sich laut mit einem angetrunkenen Mitreisenden in ihrer Nähe unterhielten. In größerer Entfernung sah ich noch einen Offizier unter Bastschuhmachern und in der Ecke ein ca. fünfzehn Jahre altes Mädchen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, das von in jeder Hinsicht unpassenden Banknachbarn umgeben war. Ungeachtet dessen, dass der Zug erst losgefahren war, lag über dieser Reisegesellschaft bereits eine betäubende Wolke von billigem Tabakrauch [...]“100
Ob der Autor dieser Szene diese Reisegesellschaft tatsächlich in einem russischen Waggon dritter Klasse beobachtet hat, oder ob die illustre Figurenkonstellation nicht eher seiner Phantasie entsprungen ist, ist hier nicht von entscheidender BeSpolitak, Ot Charbina do Cholma, Nr. 136, S. 509f. Eine Idealisierung der „grauen Passagiere“ der dritten Klasse findet sich z.B. in: Konstantin Michajlovič Stanjukovič: V dalekie kraja [1886], in: Polnoe sobranie sočinenija, 2. Aufl., Bd. 5, Sankt Peterburg 1907, S. 387–476, hier S. 397f. In den meisten Berichten werden die beengten Verhältnisse in der Holzklasse jedoch beklagt. Vergleiche mit den Transportbedingungen von Vieh oder der sprichwörtlichen „Sardinenbüchse“ finden sich in zahlreichen Texten. Vgl. z.B. Železnodorožnoe delo 14 (1895), Nr. 11, S. 87; Aleksandr Vasil’evič Anisimov: Palomničestvo na russkij Sever, in: Dušepoleznoe čtenie, 1903, Bd. 1, Nr. 1, S. 94– 101; Nr. 3, S. 467–474; Bd. 2, Nr. 6, S. 228–239; Nr. 9, S. 98–107; Nr. 10, S. 325–335; 1904, Bd. 1, Nr. 1, S. 134–143; Nr. 4, S. 654–668, Bd. 2, Nr. 6, S. 273–280, Nr. 7, S. 446–454, hier 1903, Bd. 1, Nr. 1, S. 97. 100 Michail Šč–ckoj: Putevyja zametki, in: Rossija. Žurnal chudožestvenno-literaturnyj, 1884, Nr. 7, S. 7–10, Zit. S. 8.
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deutung. Wichtiger erscheint, dass sich die hier geschilderte Szene im Prinzip in dieser Form abgespielt haben könnte und der Kern der Erzählung ein hohes Maß an Plausibilität besitzt. Besonders interessant an dem hier gewählten Quellentext ist jedoch noch ein anderer Punkt. Anstatt die Eisenbahn als einen Ort moderner Vergesellschaftung zu preisen, an dem Offiziere mit Arbeitern, Priester mit Studenten und Kaufleute mit Beamten ins Gespräch kommen können, problematisiert der Autor in seinem Text den Waggon als Ort potentieller sozialer Grenzüberschreitung, der für junge Frauen ebenso gefährlich ist wie für minderjährige Studenten und Kleinbürger. Zwar verteufelt der Verfasser dieses Reiseberichts das dampfgetriebene Verkehrsmittel nicht prinzipiell. In der bunt durcheinander gewürfelten Zusammensetzung eines Zugwaggons dritter Klasse sah er jedoch mehr Gefahr als gesellschaftlichen Nutzen. Könnte man, so gab der kritische Reisende zu bedenken, das sozial inhomogene „Publikum“ der Holzklasse nicht erneut sortieren und den einfachen Arbeitern (černorabočie), den „intelligenteren Passagieren (bolee intelligentnye passažiry)“ und schließlich den Frauen mit Kindern und den reisenden Familien separate Waggons anbieten?101 Überlegungen dieser Art, die auch von anderen Zeitgenossen ausgesprochen wurden, stellten letztlich das „demokratische“ Prinzip des modernen Personenverkehrs in Frage und beschworen die Erinnerung an die „gute alte Zeit“, als die räumlichen Grenzen zwischen den einzelnen sozialen Gruppen des Zarenreiches noch deutlicher gezogen waren.102 Es war die intensive persönliche Erfahrung mit den kulturellen Differenzen innerhalb der Gesellschaft des eigenen Landes, die bei Eisenbahn-Reisenden wie dem hier zitierten M. Šč–ckoj, weniger das Gefühl nationaler (oder imperialer) Zusammengehörigkeit förderte, sondern im Gegenteil Impulse sozialer Abgrenzung verstärkte.
101 Šč–ckoj: Putevyja zametki, Nr. 7, S. 8. 102 In einem Rundschreiben vom April 1891 schlug auch das MPS den Verwaltungen der russischen Eisenbahnen vor, in der dritten Klasse Frauen und Kinder von jenen Passagieren zu trennen, die „angesichts ihres Gepäcks sowie den ihnen eigenen Gewohnheiten für alle anderen eine Zumutung darstellen.“ Cirkuljar’ po ėksploatacionnym otdelam Nr. 10.831, 27.4.1891 s pravilami ob otvode v poezdach kazennych železnych dorog osobych otdelenij dlja dam, in: Sistematičeskij sbornik uzakonenij i obščich rasporjaženij, Bd. 1, S. 688. 1896 räsonnierte ein Autor in der Zeitschrift Železnodorožnoe delo sogar, man möge nach dem Vorbild der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln in den USA auch in Russland in Waggons der dritten Klasse das „saubere Publikum (čistaja publika)“ von dem gemeinen Volk trennen. Dal’nejšija želatel’nyja reformy passažirskago tarifa, in: Železnodorožnoe delo 15 (1896), Nr. 30–31, S. 248–250, hier S. 250. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts finden sich in der russischen Presse immer wieder Vorschläge, die in diese Richtung weisen. Vgl. z.B. Cirkuljar’ i dejstvitel’nost’, in: Kolokol’, Nr. 1404, 26.11.1910 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 393, l. 188).
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Männerräume, Frauenräume Auf den langen Zugfahrten im Zarenreich kreuzten sich nicht nur die Wege bislang unbekannter Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft. Die neue Form der Fortbewegung führte auch dazu, dass fremde Männer und Frauen in Bahnhöfen und Zügen zum Teil längere Zeit bei Tag und bei Nacht auf engstem Raum miteinander verbringen mussten. Die neuen Möglichkeiten der Überwindung geografischer Distanz des Eisenbahnzeitalters hatten nicht zuletzt auch die Mobilitätsmuster von Frauen aller sozialer Schichten verändert. Während es früher in höheren gesellschaftlichen Kreisen als unschicklich galt, wenn sich eine Dame ohne männliche Begleitung auf Reisen begab, nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar immer mehr weibliche Passagiere die Dienste der Eisenbahn in Anspruch. Dies galt für Vertreterinnen des Adels, die sich ein Ticket in den (vermeintlich) geschützten Sphären der ersten Klasse leisten konnten ebenso,103 wie für Arbeiterinnen oder Bäuerinnen, die in Waggons der dritten oder vierten Klasse zur Lohnarbeit in die Stadt fuhren oder ihre Männer an deren saisonalen Arbeitsorten besuchten. Der Kauf einer Fahrkarte für die Eisenbahn bedeutete für diese Frauen in der Regel, dass sie eine längere Zeit mit fremden Männern ein beengtes Zugabteil teilen und mit diesen gegebenenfalls auch die Nacht unter einem (Waggon)-Dach verbringen mussten. Zwar boten die Betreiber zahlreicher Bahnlinien alleine reisenden Frauen abgetrennte „Damenabteile“ in ihren Zügen an, und auch auf den großen Stationen konnten weibliche Fahrgäste oft separate Warteräume nutzen. Diese geschützten räumlichen Sphären waren jedoch zunächst weiblichen Passagieren der höheren Fahrgastklassen vorbehalten.104 So blieb es lange ein Privileg reisender Damen aus den höheren gesellschaftlichen Schichten, sich auf ihren Zugfahrten in räumlichen Sphären bewegen zu dürfen, in denen sie von unliebsamen Avancen, Blicken und der körperlichen Nähe fremder männlicher Passagiere abgeschirmt waren. Für viele russische Frauen blieb der Gedanken an eine Zugfahrt in einem gewöhnlichen Zugabteil daher eine angstbehaftete Vorstellung. So konnte sich beispielsweise Varvara Duchovskaja, geb. Golicyna, eine Dame aus dem russischen Hochadel, die selbstverständlich auf der Eisenbahn immer erster Klasse reiste, noch lange Jahre an jene Zugfahrt erinnern, die sie 1881 als junge Frau erstmals 103 An kaum einem anderen literarischen Text lässt sich die Verflechtung des Wandels weiblicher Rollenbilder im späten Zarenreich und die Entstehung neuer Spielräume geografischer Mobilität für (adelige) Frauen im Eisenbahnzeitalter so gut studieren, wie am Roman Anna Karenina von Tolstoj. Gerade die zahlreichen Zugfahrten, auf die Tolstoj seine Romanheldin schickt, können als Zeichen für deren Drang gelesen werden, als Frau den traditionellen Gender-Vorstellungen ihrer Zeit und Gesellschaft zu entfliehen. Vgl. Tolstoj, Anna Karenina, Teil 1, Kap. 29–31 (= Bd. 1, S. 150–161). – Zum Eisenbahnmotiv in Anna Karenina vgl. u.a. Stenbock-Fermor, The Architecture of Anna Karenina, S. 65–74; Jahn, The Image of the Railroad in Anna Karenina; Bethea, The Shape of Apocalypse, S. 77–79; Jackson, The Night Journey: Anna Karenina’s Return to Saint Petersburg. 104 Zur Einrichtung separater Warteräume und Zugabteile für reisende Frauen auf den Bahnen des Zarenreiches vgl. Kap. 3.5.3.
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ohne Begleitung unternahm. Um ja nicht in Kontakt mit der fremden und als bedrohlich empfundenen Umgebung zu kommen, habe sie die ganze Reise zurückgezogen in ihrem Coupé verbracht und für keinen Augenblick den Blick von den Seiten ihrer Lektüre abgewandt.105 Man kann sich leicht ausmalen, welche Zumutung es zuweilen für Frauen in der dritten Klasse gewesen sein muss, auf engstem Raum in fremder männlicher Gesellschaft über längere Distanzen zu reisen. Diesen Schluss legen zumindest entsprechende Beschwerden von Studentinnen nahe, die sich beim Verkehrsministerium über Belästigungen durch andere Passagiere in der Holzklasse beklagten.106 Von Männern wurde die neue Form der Begegnung mit Passagieren des anderen Geschlechts in Bahnhöfen und Zügen in höchst unterschiedlicher Form verarbeitet. Konservative Zeitgenossen, wie zum Beispiel der Übersetzer antiker Literatur, Aleksandr Klevanov, der 1871 über die Eindrücke seiner Reise im Vorjahr von Moskau in die Stadt Slavjansk im Doneck-Becken berichtete, nahmen die körperliche Nähe von fremden Männern und Frauen in engen Eisenbahnwaggons mit großer Irritation zu Kenntnis. Als geradezu unanständig empfand er es, dass man die Rückenlehnen der Sitzbänke seines Abteils zurückklappen konnte, um in dem gemischt besetzten Waggon in der Nacht bequemer schlafen zu können. „Insbesondere für Damen“ sei eine Reise unter solchen Bedingungen „äußerst unangenehm“, so Klevanov: „Wir sprechen hier [natürlich] nicht von jenen Damen, die die Bauweise dieser Waggons in höchsten Tönen loben, weil sie es ihnen erlaubt, sich neben einem [fremden] Mann in einer Entfernung von nur drei bis vier veršok [ca. 15 cm] zu betten. [...] Diese [Frauen] können aus dieser [Raumgestaltung] sogar Nutzen und Vergnügen ziehen, für eine ordentliche junge Frau oder eine Dame ist dies jedoch schlicht empörend.“107
Andere Männer empfanden es als herausragendes Ereignis und einer besonderen Erwähnung in ihrem Reisebericht wert, in einem Waggon mit einer fremden Frau ins Gespräch gekommen zu sein. So zum Beispiel der orthodoxe Geistliche Podosenov aus Perm, der 1880 in den Nachrichten seiner Eparchie (Permskie eparchal’nye vedomosti) über seine Reise nach Moskau und St. Petersburg berichtete. Den Lesern in seiner Heimat erzählte er mit großem Erstaunen, dass er im Waggon dritter Klasse unter lauter mužiki und Bauersfrauen eine junge, ordentlich gekleidete Frau getroffen habe, die, obgleich sie „bereits seit sieben Jahren verheiratet war“, beabsichtigte, in St. Petersburg medizinische Vorlesungen zu besuchen und sich dort ganz „der Wissenschaft“ zu widmen. Seine Reisebekanntschaft habe ihm zudem von zwei jungen Frauen erzählt, die die Mühsal eines mehrwöchigen 105 Varvara Duchovskaja: Iz moich vospominanij, Sankt Peterburg 1901, S. 127, 282. 106 Nach wiederholten Eingaben ähnlichen Inhalts wurde die Behörde im Juni 1891 aktiv und rief in einem Zirkular die privaten und staatlichen Bahngesellschaften auf, für weibliche Studenten zu Beginn des Studienjahres spezielle Abteile bzw. Waggons 3. Klasse bereitzustellen. Cirkuljar’ Ministerstva Putej Soobščenija, Nr. 6981, 4.6.1891, (Ob otvedenii osobych pomeščenij dlja učaščichsja v vagonach III klassa). Vgl. Železnodorožnoe delo 10 (1891). Nr. 23–24, S. 265. 107 Klevanov, Putevyja zametki, S. 5.
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Fußmarsches nicht scheuten, um in der Hauptstadt ein medizinisches Studium zu beginnen.108 Es ist kein Zufall, dass sich diese Schilderung in einem Bericht über eine Zugfahrt aus der russischen Provinz nach Moskau findet. Es waren die Zugwaggons der dritten Klasse und die Bahnhöfe der Eisenbahn, wo sich die Lebenswege der Repräsentanten der unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus kreuzten und es waren Reiseberichte dieser Art, in denen die lesende Öffentlichkeit an der Peripherie des Reiches erfahren konnte, dass sich in den urbanen Zentren des Landes seit den 1860er Jahren auch die traditionellen Geschlechterbilder im Umbruch befanden. Schließlich deuten beiläufige Bemerkungen in zahlreichen Reiseberichten darauf hin, dass auch in Russland offenbar viele männliche Passagiere den Zug als einen idealen Ort betrachteten, mit einer fremden Frau zu flirten. Die Beschreibung des unausweichlichen Blickkontakts zweier Menschen, die sich in einem Zugabteil gegenüber sitzen, gehört ebenso zu den festen Topoi russischer Reiseberichte des Eisenbahnzeitalters, wie andeutungshafte Schilderungen sexueller Phantasien beim Betrachten einer fremden Reisenden im Zug.109 Aus der Erfahrung der Begegnung der Geschlechter im Zugabteil speisten sich freizügige Männerphantasien, wie sie in der russischen Literatur des fin de siècle zu finden waren, ebenso110 wie weibliche Ängste vor einer Fahrt in einem von der Außenwelt abgeschnittenen Zugwaggon, von denen Berichte reisender Frauen im Zarenreich Zeugnis ablegen.111 4.2.2. Die Erkundung des imperialen Raums Mit dem Bau und der Nutzung der Eisenbahn veränderten sich in Russland neben der Raumwahrnehmung auch Reisepraktiken der mobilen Bevölkerung nachhaltig. Während früher zum Beispiel die Bildungs- oder Erholungsreise zu den Privilegien des russländischen Adels zählte, bildeten sich mit der Einrichtung regelmäßiger Dampfschiffverbindungen auf den großen Flüssen des Landes und der Vernetzung des Reiches mit dem Schienennetz der Eisenbahn im späten 19. Jahrhundert auch im Zarenreich erste Strukturen eines modernen Tourismus, von dem in zunehmenden Maße auch die sich formierende gesellschaftliche Mittelschicht
108 Podosenov, Iz putevych vpečatlenij, S. 283. 109 Vgl. z.B. Klevanov, Putevyja zametki, S. 28; Kruševan, Čto takoe Rossija, S. 76, 78; Konstantin Nikolaevič Teplouchov: Čeljabinskie chroniki. 1899–1924, Čeljabinsk 2001, S. 206 (Schilderung einer Zugfahrt von Čeljabinsk nach Warschau im Jahr 1911). Für den Hinweis auf die zuletzt genannte Quelle danke ich Igor Narskij. 110 Vgl. z.B. Na zare tumannoj junosti (An der Morgenröte der nebeligen Jugend) von Vladimir Sergeevič Solov’ev (erstmals veröffentlicht in: Russkaja mysl’, Mai 1892) oder die erotische Erzählung Četyre von Anatolij P. Kamenskij aus dem Jahr 1905. In: ders.: Rasskazy o ljubvi, Sankt Peterburg 2004, S. 245–266. Für den Hinweis auf den zuletzt genannten Text danke ich Eric Naiman. 111 Zur Gefährung alleinreisender Frauen vor kriminellen Übergriffen in Zügen vgl. Kap. 5.3.
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erfasst wurde.112 Von der Verbesserung der Verkehrsverbindungen profitierten Hotels in den städtischen Zentren ebenso wie Kurbäder an Ostsee, Schwarzem Meer und im nördlichen Kaukasus.113 Von dem neu erwachten Interesse der städtischen Bevölkerung an Vergnügungs-, Erholungs- und Entdeckungsreisen im eigenen Land legen die Gründungen erster touristischer Vereinigungen und Reisebüros in den 1880er und 1890er Jahren ebenso Zeugnis ab wie das wachsende Angebot an Reiseführern auf dem Buchmarkt der Metropolen.114 Nicht zuletzt kann die wachsende Anzahl von Reiseberichten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Zeitschriften oder oft auch in Buchform erschienen und in denen „Touristen“ über ihre Fahrten ins Ausland sowie in zunehmendem Maße auch über ihre Erkundungstouren im eigenen Land berichteten, als Indikator für eine zunehmende Verbreitung der Reise als „kulturelle Praxis“ im Zarenreich gewertet werden.115 112 Die Geschichte des Tourismus im Zarenreich harrt noch einer systematischen Untersuchung. Erste Ansätze finden sich bei: Dolženko, Istorija turizma; Louise McReynolds: The Russian Tourist at Home and Abroad, in: dies.: Russia at Play. Leisure Activities at the End of the Tsarist Era, Ithaca 2003, S. 154–192; dies.: The Prerevolutionary Russian Tourist: Commercialization in the Nineteenth Century; Ely, The Origins of Russian Scenery; Diane Koenker: Travel to Work, Travel to Play: On Russian Tourism, Travel, and Leisure, in: Slavic Review 62 (2003), S. 657–665. – Mit der Geschichte der Auslandsreise von russländischen Adeligen und Literaten und deren Reisetexten haben sich Literaturwissenschaftler und Historiker gleichermaßen befasst. Vgl. u.a.: Andreas Schoenle: Authenticity and Fiction in the Russian Literary Journey, 1790–1840, Cambridge 2000; Sergej Kozlov: Russkij putešestvennik ėpochi prosveščenija, Sankt Peterburg 2003; Alexandra V. Bekasova: Die Formierung eines kulturellen Milieus. Russische Studenten und ihre Reisen im späten 18. Jahrhundert, in: Arnd Bauerkämper (u.a.) (Hg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt 2004, S. 239–264; Izabela Kalinowska: Between East and West: Polish and Russian Nineteenth-Century Travel to the Orient, Rochester 2004; Sara Dickinson: Breaking Ground. Travel and National Culture in Russia from Peter I to the Era of Pushkin, Amsterdam 2006; Razvozjaeva, L’Histoire du tourisme russe. – Ein eigenes Forschungsfeld stellt die Geschichte der Reisepraxis (westlicher) Ausländer in Russland dar. Vgl. u.a. Friedhelm B. Kaiser (Hg.): Reiseberichte von Deutschen über Russland und von Russen über Deutschland, Köln, Wien 1980; Regina Stürickow: Reisen nach St. Petersburg. Die Darstellung St. Petersburgs in Reisebeschreibungen (1815–1861), Frankfurt/M. 1990; Gert Robel: Das ferne Reich des Nordens – Rußlandreisen, in: Hermann Bausinger (u.a.) (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 249–254. Vgl. auch die Quellensammlung (auf Microfiche): Russia through the Eyes of Foreigners. Travel and Personal Accounts from the Sixteenth Century to the October Revolution 1917, Leiden 2001. 113 Zu den Versuchen russischer Kurbäder, ihre Landsleute von der Praxis abzubringen, zur Erholung in westliche Badeorte zu reisen und statt dessen die Dienste der Kurorte des nördlichen Kaukasus’ in Anspruch zu nehmen, vgl. I. P. Zolotnickij: K Kavkazskim vodam. Kratkij putevoditel’, Sankt Peterburg 1883; Bykov, Moskovič, Peterburg – Moskva – Kavkaz (1911). 114 Vgl. dazu: Mc Reynolds, Russia at Play, S. 154–192. 115 Zur Unterscheidung der Begriffe „Tourist“ und „Reisender (traveller)“ bzw. der damit verbundenen Konzepte vgl. z.B.: James Buzard: The Beaten Track. European Tourism, Literature, and the Ways to Culture, 1800–1918, Oxford 1992. Inwieweit diese Differenzierung, die nicht zuletzt der (Selbst-) Abgrenzung des „aktiven“ Reisenden vom „passiven“ Touristen dient(e), auch für die historische Reiseforschung sinnvoll ist, wird jedoch kontrovers diskutiert. Vgl. Koenker, Travel to Work, S. 657f. – Im Rahmen der folgenden Betrachtung werden
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Das wachsende Interesse der gebildeten Mittelschicht, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die neuen Möglichkeiten der Fortbewegung im eigenen Land auch dafür zu nutzen, bislang unbekannte Regionen persönlich kennenzulernen und über die eigenen Erfahrungen in Reiseberichten zu reflektieren, spiegelte auch die Suche dieser Menschen nach (räumlichen) Anhaltspunkten und Orientierung in den zeitgenössischen Debatten über konkurrierende Konzepte kollektiver Identität im Zarenreich wider, die seit der Mitte des Jahrhunderts die russische Öffentlichkeit intensiv beschäftigten.116 Seit dem Streit über den historischen Weg Russlands zwischen den so genannten „Westlern“ und „Slavophilen“ und verstärkt durch das Aufkeimen nationaler Bewegungen, vor allem in den westlichen Teilen des Reiches, prägte die Frage nach dem „Charakter“ Russlands sowie nach den Kräften, die den Zusammenhalt des Vielvölkerreiches garantierten, in zunehmendem Maße die gesellschaftlichen Debatten des Landes. In ihrem Versuch, Russland in seiner geografischen und kulturellen Vielfalt zu erkunden und die eigenen Erfahrungen einem lesenden Publikum nahe zu bringen, schrieben sich die Autoren von Reiseschilderungen auch in diese gesellschaftspolitischen Diskurse ein. Besonders anschaulich lässt sich dieser Zusammenhang von moderner Reiseerfahrung und Reflexion über Russlands nationalen bzw. imperialen Charakter am Beispiel des Reiseberichts von Pavel A. Kruševan darlegen, den dieser 1896 unter dem Titel Čto takoe Rossija? (Was ist [eigentlich] Russland?) veröffentlichte.117 Pavel Kruševan (1860–1909), ein Publizist und Politiker aus einer verarmten moldauischen Adelsfamilie, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts einen Namen als Verfechter chauvinistischer und antisemitischer Positionen machen sollte, begann seine Laufbahn als Schriftsteller und war bereits in den 1890er Jahren ein glühender Nationalist und russländischer Patriot.118 Von April bis Dezember 1895 unternahm er eine ausgedehnte Reise aus dem weißrussischen Minsk nach Mosdie Begriffe „Tourist (turist)“ und „Reisender (putešestvennik)“, die sich beide als Selbstbezeichnungen in Texten russischer Reiseautoren aus dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert finden, synonym gebraucht. – Zum heuristischen Konzept „Reisen als kulturelle Praxis“: Bödeker, Bauerkämper, Struck, Einleitung. 116 Mit dem Widerstreit konkurrierender Konzepte kollektiver Identität imperialer, nationaler, regionaler und religiös-konfessioneller Art im Zarenreich im 19. Jahrhundert habe ich mich im Rahmen meiner Doktorarbeit intensiv befasst. Vgl. dazu: Schenk, Aleksandr Nevskij, S. 168–225. 117 Pavel Aleksandrovič Kruševan: Čto takoe Rossija? Moskva 1896. – Erste Überlegungen zu dieser Quelle habe ich formuliert in: Schenk, Reisen in die Vergangenheit, S. 58f. 118 In der von Kruševan herausgegebenen Tageszeitung Bessarabec (Der Bessarabier) erschienen im März 1903 mehrere Berichte über einen angeblichen jüdischen Ritualmord in der Stadt Dubašari, die die antisemitische Stimmung in Bessarabien anheizten und so zum Ausbruch des Pogroms in Kišinev im April 1903 beitrugen, bei dem 51 Menschen, davon 49 Juden, den Tod fanden. In der von Kruševan herausgegebenen rechtsextremen Zeitung Das Banner (Znamja) erschien 1903 in St. Petersburg erstmals im Druck eine gekürzte Fassung der antisemitischen Hetzschrift Protokolle der Weisen von Zion mit einem Vorwort, das vermutlich Kruševan verfasste. – Zu Leben und Werk Kruševans: A. V. Čancev: Kruševan, Pavel Aleksandrovič, in: Russkie pisateli. 1800–1917, Bd. 3, Moskva 1994, S. 172f.; Michael Hagemeister: Kruschewan, Pawel, in: Handbuch des Antisemitismus (im Druck). Ich danke dem Autor für die Einsicht in dieses Typoskript.
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kau, um von dort über Nižnij Novgorod in den Kaukasus und ans Schwarze Meer zu fahren und über Kiev und Vil’na an den Ausgangspunkt seiner Reise zurückzukehren. Kruševan legte seine rund 8.000 Werst lange Rundreise in Eisenbahnwaggons zweiter Klasse und an Bord von Fluss- und Meeresdampfern zurück. Sein Reisebericht, der über 370 Seiten umfasst und 1896 in Moskau in Buchform erschien, war als Traktat nationaler Erbauung gedacht. Kruševan stellte seinem Text ein kurzes Zitat aus der berühmten Rede Ernest Renans aus dem Jahr 1882 Qu’est-ce que c’est une nation? voran. In diesem Text wird die Nation als „geistiges Prinzip“ definiert, das auf dem Wunsch seiner Bewohner basiert, „in Gemeinschaft zu leben“.119 In einer Zeit, in der Nationalbewegungen zahlreicher Ethnien den Zusammenhalt des Russländischen Reiches zunehmend zu bedrohen schienen, wollte Kruševan mit seinen Texten den Wunsch der Untertanen des Zaren bestärken, weiter „in Gemeinschaft zu leben“. Diesem Ziel sollte zweifelsfrei auch der Bericht über seine Reise durch die Weiten Russlands dienen, „unsere große Heimat (naša velikaja rodina)“, über „die wir so wenig wissen“.120 Auf den Dampfern des Dnjepr, der Wolga und des Schwarzen Meeres und in den Bahnhöfen und Waggons der Eisenbahn erkundete er das Land, von dem er sich wünschte, es möge „immer stärker zu einem einzigen Organismus“ zusammenwachsen.121 In Kruševans Reisebericht spielt die Eisenbahn nicht nur als modernes Fortbewegungsmittel, sondern auch als Begegnungsraum der verschiedenen Ethnien bzw. „nationalen Typen“ des Reiches eine wichtige Rolle.122 Der Autor inszeniert in seinem Text die Wartesäle der Bahnhöfe und die Coupés der Züge als eine Art Bühne, auf der Repräsentanten der verschiedenen nationalen Gruppierungen in Kontakt und miteinander ins Gespräch kommen. Stark stilisiert wirkt beispielsweise die Schilderung einer Konversation zwischen einem Großrussen, einem Weißrussen, einem Ukrainer (chochol), einem Polen und einem Italiener am Bahnhof von Žlobin, die ihn zu völkerpsychologischen Überlegungen über die Ähnlichkeiten und Unterschiede der „vier slavischen Brüder“ inspirierte.123 An anderer Stelle nimmt er die „ethnografische Galerie (ėtnografičeskaja galereja)“ des Bahnhofs von Nižnij Novgorod in den Blick, in der „jeder Typ des bunten Völkergemischs besonders deutlich und charakteristisch“ heraussteche.124 Schon an der Moskauer Station der Nižnij Novgorod-Bahn hatte Kruševan in der wartenden Menge den undefinierbaren „Einschlag von fremden Elementen nicht rus119 120 121 122
Kruševan, Čto takoe Rossija?, Deckblatt und S. 372f. Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. IX. Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. IX. Kruševans Weltbild war offenbar nicht nur von Darwins Evolutionstheorie beeinflusst. Zudem greift er bei der Beschreibung der unterschiedlichen nationalen „Typen“ und „Rassen“ des Reiches und deren typischen „Physiognomien“ wiederholt auf Muster zurück, die auch in Russland in anthropologischen Diskursen der Zeit verbreitet waren. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 3.4.7. 123 Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 2–5. Kruševan bezeichnete sich selbst als „Südländer (južanin)”, als „Gemisch romanischer und slavischer Völker”, S. 2. 124 Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 80.
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sischen Typs“ bemerkt.125 Der Blick auf „dunkelhäutige, östlichen Gesichter, mit ihren breiten, markanten, orientalischen Nasen, die sich besonders deutlich von den großen, gestreckten Nasen der Russen unterschieden“ und auf die „flachen Gesichter der Kalmücken mit ihren dunklen Schlitzen anstelle der Augen“ signalisierte ihm, dass Asien an diesem Ort in Moskau bereits zum Greifen nah war.126 Kruševan war davon überzeugt, dass in der „ethnografischen Galerie“ des Russländischen Reiches den Slaven im Allgemeinen und dem Großrussen im Besonderen eine Führungsrolle zukomme. An der Mission der Russen, den Funken der Zivilisation zu den „unterentwickelten Völkern“ Sibiriens und Zentralasiens zu tragen, konnte für ihn ebenso wenig Zweifel bestehen, wie an der Aufgabe des Zarenreiches als Ganzes, (West-) Europa vor der drohenden „gelben Gefahr“ aus China zu beschützen.127 Geleitet von der Überzeugung, dass die Russen ihre Mission nur dann erfüllen können, wenn sie sich nicht mit anderen Rassen vermischten, betrachtete er die „Assimilation“ der Slaven an „fremdstämmige [asiatische] Elemente“ mit Argwohn.128 Kruševan hatte eine klare Vorstellung davon, wie der Zusammenhalt des „grenzenlosen“ Russländischen Reiches129 gesichert werden könne, das er mit dem Imperium Alexanders des Großen und jenem Karls des Großen verglich. Einerseits werde Russland, das keine „ethnografische Einheit bilde“ – so sein Wunschbild – von der „Solidarität seiner Bewohner, vom Gleichklang ihrer Interessen, von einer gemeinsamen Sprache sowie von ähnlichen Gefühlen und der Liebe aller Menschen für das Ganze und für ihr Land“ zusammengehalten.130 Andererseits garantierten aus seiner Sicht gerade die „Errungenschaften der modernen Zivilisation“ und dabei insbesondere die Netze moderner Infrastruktur „den Zusammenhalt des ‚Riesen’ Russland sowie die Vereinigung und die Integration der Nation zu einem lebendigen Organismus, ganz gleich wie groß das Territorium ist, über das sich das Land erstreckt. Die Eisenbahnen und Dampfschiffe haben Raum und Zeit vernichtet, der Telegraf durchzieht den ganzen Organismus wie ein Nervensystem, durch die Arterien der Presse läuft der Fluss der Information, in dem sich die Stimmungen und Wünsche der ganzen [Gemeinschaft] widerspiegeln. Bei der Koordination der Kräfte des Landes brauchte [die Regierung] früher Monate, um die russischen Weiten zu bezwingen. Jetzt lebt man in dem Bewusstsein, dass im Zentrum innerhalb von Stunden bekannt ist, was in den Randgebieten des Reiches passiert und dass man innerhalb weniger Tage die [Streit-] Kräfte des Landes mit durchschlagender Wirkung dorthin entsenden kann, wo sie gebraucht werden.“131
Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 75f. Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 75f. Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 373f. Äußerst abfällig äußerte er sich beispielsweise über bäuerliche Übersiedler auf dem Bahnhof von Nižnij Novgorod, in deren Gesichtern er meinte mongolische, mordvinische und čuvašische Einschläge entdecken zu können. Er bezeichnete sie als Repräsentanten des „verdorbenen (isporčennyj) großrussischen Typs“. Von diesen hob er den gleichsam „reinrassigen“ Großrussen mit seinem „offenen und gutmütigen Gesicht“ ab. Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 80. 129 Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 2. 130 Kruševan, Čto takoe Rossija?, S. 373. 131 Kruševan: Čto takoe Rossija?, S. 373.
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Kruševans Wahrnehmung des russländischen Schienennetzes als Arteriensystem, das den Organismus des Zarenreiches durchzieht sowie Raum und Zeit „vernichtet“, erinnert in verblüffender Weise an die Visionen russischer Verkehrsplaner aus den frühen Jahren des Eisenbahnzeitalters und an die Bilder auf russländischen Streckennetzkarten, die dem Betrachter das Land als eine weiße Fläche zeigten, die nur von Verkehrsadern durchzogen, strukturiert und (scheinbar) zusammengehalten wird.132 Interessanterweise beschreibt Kruševan die Verkehrsmittel von Eisenbahn, Dampfschiff und Telegrafie in dieser Passage vor allem als moderne Instrumente der Macht, die die Regierung in die Lage versetzten, schnell auf Informationen aus den imperialen Peripherien zurückzugreifen und auf mögliche Unruhen in den Randgebieten umgehend zu reagieren. Dass die Vernetzung Russlands auch für die Bevölkerung gänzlich neue Möglichkeiten geschaffen hat, das eigene Land zu bereisen und auf diese Art die emotionale Bindung an die eigene Heimat zu festigen, kam Kruševan offenbar nicht in den Sinn, obgleich er mit seiner eigenen Reise und der Veröffentlichung seines Reiseberichts genau diese Ziele verfolgte. In der Tat ist es eine offene Frage, ob die neuen Möglichkeiten, das eigene Land persönlich zu er-fahren, die sich immer mehr Russen im Eisenbahnzeitalter boten, bei diesen patriotische Gefühle bzw. die Vorstellung von Russland als „großes und unteilbares Ganzes“ gefestigt haben oder ob die persönliche Erfahrung der sozialen und kulturellen Diversität des Landes nicht eher Momente der Entfremdung von der eigenen „Heimat“ befördert hat. Anhand von zwei Fallstudien soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern. Fallstudie 1: Reisen in die Westgebiete des Reiches Die erste Fallstudie ist Reisen russländischer Untertanen in die bzw. innerhalb der westlichen Gebiete des Zarenreiches gewidmet.133 Dabei soll die Wahrnehmung eines relativ großen und kulturell sowie sozio-ökonomisch heterogenen geografischen Raums in den Blick genommen werden. Die so genannte “Westliche Region” (Zapadnyj kraj) wird hier ebenso als Teil dieses Gebiets betrachtet, wie das Königreich Polen, die linksufrige Ukraine (Gouvernements Černigov und Poltava) sowie Neurussland mit den Gouvernements Cherson und Taurien (Krim) und das Gouvernement Ekaterinoslav im Süden des Reiches.134 Ungeachtet ihres äußerst heterogenen Charakters zeichnete sich diese Großregion durch eine Reihe spezifi132 Vgl. dazu Kap. 2.3. und 3.4.3. 133 Erste Überlegenden zum folgenden Abschnitt habe ich bereits an anderer Stelle publiziert. Vgl. Frithjof Benjamin Schenk: Travel, Railroads, and Identity Formation in the Russian Empire, in: Eric Weitz; Omer Bartov (Hg.): Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Boomington 2013, S. 136-151. 134 Zum Zapadnyj Kraj gehörten die Gouvernements Kovno (Kaunas), Vitebsk, Vil’na, Grodno, Minsk, Mogilev, Volhynien, Podolien und Kiev. Das Königreich Polen war in die Provinzen Suwałki, Łomża, Płock, Kalisz, Warschau, Siedlce, Piotrków, Radom, Lublin und Kielce unterteilt.
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scher Merkmale aus.135 Erstens waren zahlreiche Provinzen und Länder dieses Raums, bevor sie im 18. und 19. Jahrhundert von Russland inkorporiert wurden, Teil des Polnisch-Litauischen Reiches. Andere standen bis ins 18. Jahrhundert unter osmanischer Herrschaft. Zweitens war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungsdichte in den Westgebieten des Zarenreiches um einiges höher als in den anderen Grenzregionen des Imperiums. Drittens war dieser geografische Raum – insbesondere das Königreich Polen – auch hinsichtlich seiner sozio-ökonomischen Entwicklung den anderen Peripherien und auch den Kerngebieten des Zarenreiches deutlich voraus. Viertens zeichnete sich die Bevölkerung in diesen Gebieten durch ein hohes Maß ethnischer und religiöser Vielfalt aus. Da die Grenzen der hier umrissenen Großregion nahezu identisch mit jenen des „Ansiedlungsrayons” waren, lebte hier auch der Großteil der jüdischen Bevölkerung des Zarenreiches.136 Schließlich wurden gegen Ende des Jahrhunderts die politischen Entwicklungen in diesem Raum in zunehmendem Maße von konkurrierenden Nationalbewegungen polnischer, litauischer, ukrainischer, jüdischer oder russischer Trägerschaft sowie von der Agitation verschiedener und zum Teil konkurrierender politischer und revolutionärer Bewegungen bestimmt. Ungeachtet der seit den 1860er Jahren im Zarenreich kontrovers geführten Debatte über die Frage, ob man die westlichen Provinzen und dabei insbesondere das Königreich Polen mit Hilfe moderner Infrastruktur weiter erschließen und vernetzen solle, entstand hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das dichteste Eisenbahnnetz des ganzen Reiches.137 Nirgendwo sonst in Russland stellte sich das Verhältnis von Länge des regionalen Schienennetzes und Größe der Provinz gegen Ende des 19. Jahrhunderts günstiger dar, als im Königreich Polen und in anderen Gebieten der hier betrachteten Großregion.138 Während im europäischen Russland im Jahr 1894 auf einer Fläche von 100 km2 im Schnitt nur 0,58 Kilometer Eisenbahnstrecke in Betrieb waren, verfügte man in Polen auf der gleichen Fläche im Schnitt über 1,71 Kilometer.139 Obwohl der Bau neuer Schienenverbindungen in den westlichen Gebieten vor allem von führenden Militärs und 135 Vgl. zum Folgenden: Michail Dolbilov, Aleksej Miller (Hg.): Zapadnye okrainy Rossijskoj Imperii, Moskva 2006, S. 13f. 136 Die zehn polnischen Provinzen waren formell nicht Teil des Ansiedlungsrayons. Hier galt bis 1864 eine autonome polnische Judengesetzgebung. Vgl. dazu Theodore Weeks: Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863– 1914, De Kalb 1996, S. 59; Kleinmann, Neue Orte, neue Menschen, S. 79. 137 Zu den Debatten über die Erschließung der westlichen Provinzen vgl. Kap. 2.4. 138 Im Jahr 1910 hatte sich allein im Königreich Polen die Länge des Streckennetzes im Vergleich zum Stand des Jahres 1870 (von 960 Kilometer auf 3.810 Kilometer) annähernd vervierfacht. Vgl. Arcadius Kahan: Kongreßpolen, in: Handbuch der europäischen Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1985, 584–600, hier S. 599. 139 Die Dichte des regionalen Schienennetzes war in den Gouvernements von Warschau (3,05 km/100km2), Piotrków (2,55), Siedlce (2,65), Grodno (2,41) und Ekaterinoslav (2,42) sogar noch größer als im Gebiet von Moskau (2,34), dem zentralen Knotenpunkt des imperialen Eisenbahnsystems. Raspredelenie seti russkich železnych dorog po gubernijam, in: S. Ju. Vitte: Sobranie sočinenij i dokumental’nych materialov, Bd. 1: Puti soobščenija i ėkonomičeskoe razvitie Rossii, Buch 2, Teil 1, Moskva 2004, S. 531–533.
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Mitarbeitern des Innenministeriums zeitweilig kritisch gesehen wurde, entwickelte sich das Eisenbahnnetz hier schneller als im übrigen Reich, was offenbar auch zu einem überproportional schnellen Wachstum geografischer Mobilität in diesem Gebiet beitrug.140 Russische Reisende, die aus dem Zentrum des Reiches ins westliche Ausland fuhren, passierten auf ihren (Zug-)Fahrten unweigerlich die westlichen Gebiete und kamen dort, d.h. noch innerhalb der eigenen Landesgrenzen, mit Menschen und deren Kultur in Berührung, die sich deutlich von jener ihrer eigenen Heimat unterschied.141 Wie, so soll mit Blick auf Reiseberichte russischer Zugpassagiere gefragt werden, wurden die Westgebiete des Reiches und ihre Bevölkerung beschrieben? Wie stellten sich ethnische und konfessionelle Vielfalt dieser Regionen dem (flüchtigen) Auge des Zugreisenden dar? Welche kulturellen, geografischen oder administrativen Grenzen wurden von den Passagieren wahrgenommen und in ihren Berichten mit Bedeutung aufgeladen? Und schließlich: Inwiefern wurden die Westgebiete des Zarenreiches als Teil eines größeren Reichszusammenhanges gesehen oder wo lassen Differenzerfahrungen Rückschlüsse auf Erschütterungen des Bildes von Russland als „großes und unteilbares Ganzes“ zu? Bei der Analyse der Beschreibungsmodi räumlicher Grenzen in Berichten russischer Zugpassagiere, die die westlichen Provinzen des Russländischen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereisten, fällt zunächst auf, dass die Wahrnehmung administrativer (z.B. Gouvernements-) Grenzen fast nirgendwo eine Rolle spielt und dass Reiseautoren Schwierigkeiten hatten, in diesen Provinzen geografische Grenzen als räumliche Strukturmerkmale zu identifizieren. Fast alle Passagiere nahmen die Fahrt durch die osteuropäische Tiefebene mit ihren ausgedehnten Wäldern, Mooren und Sümpfen als relativ eintönig und monoton 140 Das Wachstum regionaler Mobilität auf den Eisenbahnen der westlichen Gebiete lässt sich nur schwer beziffern. Ein Blick auf die Entwicklung der Passagierzahlen jener Bahnen, die in diesem Raum aktiv waren, vermittelt jedoch einen Eindruck von diesem offenbar äußerst dynamischen Prozess: Süd-West-Eisenbahnen: 1883: 3,05 Millionen; 1912: 15,23 Millionen; Warschau-Wien-Bahn: 1883: 1,87 Millionen; 1912: 11,49 Millionen; Eisenbahnen des Weichselgebiets (Privislinskaja železnaja doroga): 1883: 0,95 Millionen; 1912: 11,78 Millionen Vgl. Statističeskij vremennik Rossijskoj Imperii, serija III, vyp. 8: Sbornik svedenij po Rossii za 1883 god, hg. von Central’nyj statističeskij komitet MVD, Sankt Peterburg 1886, S. 228; Statističeskij sbornik Ministerstva Putej Soobščenija, vyp. 131, Bd. 2–3, Petrograd 1916, Tabelle VII. 141 In ihrer Studie zu den literarischen Reiseberichten von Nikolaj Leskov Aus einem Reisetagebuch (Iz odnogo dorožnogo dnevnika) und von Fedor Dostoevskij Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke (Zimnie zametki o letnich vpečatlenijach), in denen jeweils eine Fahrt der beiden Autoren Anfang der 1860er Jahre durch die westlichen Grenzländer (borderlands) des Zarenreichs verarbeitet wird, argumentiert Anne Dwyer, dass in beiden Texten zentrale Fragen russischer nationaler Identität vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem Fremden im eigenen Land thematisiert werden. Damit werde dem westlichen Grenzraum des Reiches in diesen Texten jene Funktion zugeschrieben, die in der russischen Reiseliteratur des frühen 19. Jahrhunderts Westeuropa als Kontrastfolie zukam. Vgl. Dwyer, Improvising Empire, S. 61; dies.: Of Hats and Trains. Ähnlich argumentiert, mit Blick auf russische Berichte über Reisen im eigenen Land aus dieser Zeit im Allgemeinen: Dickinson, Breaking Ground, S. 231–237.
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wahr. So zum Beispiel der bereits zitierte Aleksandr Klevanov, der 1870 eine Reise von Petersburg nach Wien unternahm und dabei die westlichen Grenzgebiete in einem Waggon erster Klasse durchquerte. Klevanov empfand die Reise aus der Hauptstadt nach Warschau als „bedrückend und langweilig“ und die „Blicke“, die sich ihm im Waggonfenster boten, als „äußerst eintönig“.142 Auch der orthodoxe Geistliche aus der Stadt Cholm/Chełm, Vasilij Ljachockij, der 1898 eine Rundreise durch die westlichen Provinzen des Reiches unternahm und dabei auch die Steppenregionen Süd- und Neurusslands besuchte, konnte der eintönigen Landschaft nur wenig abgewinnen: „Die große Rus’ erstreckt sich in der flachen Steppe, die [dem Reisenden] wenig Abwechslung zur Betrachtung oder gar zur Beschreibung bietet. Die eintönige Steppe, die sich im Raum verliert, in dem der Blick des Betrachters an nichts hängen bleibt, lässt den Wunsch, sich an der Natur zu erfreuen, fast ersterben. [...] Diese unüberschaubare Einöde – überall nichts als Leere. Nur selten und in sehr großer Entfernung voneinander trifft man auf Dörfer, oder eine Kosakensiedlung, die von Kirchenkuppeln geschmückt und von vielen Windmühlen umgeben ist. All dies macht den Abwechslungsreichtum der russischen Landschaften aus.“143
An Landschaftsbeschreibungen dieser Art, die typisch sind für Berichte über Reisen innerhalb der westlichen und südwestlichen Provinzen des Zarenreiches aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, lässt sich zweierlei ablesen. Erstens verdeutlichen sie, dass die Autoren jene ästhetischen Konventionen verinnerlicht hatten, die auch die Naturbeschreibungen in Eisenbahnreiseführern dieser Zeit prägten. Auch dort lassen sich Spuren jenes romantischen Naturverständnisses finden, demzufolge vor allem eine hügelige und kultivierte Landschaft als „schön“ zu gelten habe, wohingegen eine karge, flache und nur schwach besiedelte Gegend auf den Betrachter nur „eintönig“ und „langweilig“ wirken könne.144 Zweitens lässt sich an diesen Passagen gut zeigen, dass die hier betrachteten Autoren bei ihren Zugfahrten Probleme hatten, in den durchfahrenen Gegenden Orientierungspunkte, an denen „der Blick hängen bleibt“, wahrzunehmen. Dementsprechend wurde die physische Gestalt der hier erfahrenen Provinzen häufig als monoton oder „grenzenlos“ beschrieben. Bei ihrer Suche nach Orientierung in den „Weiten des russischen Raumes“ bedienten sich Zugpassagiere unterschiedlicher Strategien. Zum einen hatten manche Reisende Kursbücher bzw. putevoditeli im Gepäck, denen sie Informationen über den Fahrplan des Zuges, die Haltepunkte auf der Strecke sowie Informationen zu Geschichte und Geografie der durchquerten Gegend entnehmen konnten.145 Zudem wurden die Passagiere in der Regel vom Schaffner über den nächs142 Klevanov, Putevyja zametki, S. 26. 143 Valentin Kantelinenko [Vasilij Fedorovič Ljachockij]: Pervoe moe putešestvie po Rossii, Cholm 1900, S. 69f. 144 Vgl. dazu Kap. 3.4.1. Zu Strategien der Ästhetisierung der „kargen russischen Natur“ in russischen Raumdiskursen und der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts: Ely, This Meager Nature. 145 Vgl. z.B. den Hinweis auf das Kursbuch von Lancert bei Kantelinenko, Pervoe moe putešestvie, S. 8 oder auf mitgeführte Reiseführer bei Kruševan, Čto takoe Rossija, S. III, bei Vasilij Michajlovič Sidorov: Okol’noj dorogoj. Putevye zametki i vpečatlenija, Sankt Peterburg
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ten Halt ihres Zuges informiert.146 Neben den Stationen und dem Weichbild der Städte, die ein Zug passierte, waren es vor allem die Eisenbahnbrücken über die großen Flussläufe, die den Reisenden halfen, sich bei ihren Fahrten zu verorten. Wie in den oben analysierten Reiseführern für Zugpassagiere, fehlt auch in den hier betrachteten Reiseberichten selten der Hinweis auf jene Augenblicke, als der Zug, in dem der jeweilige Autor reiste, den Dnjepr, die Düna, den Bug, die Memel oder die Weichsel überquerte.147 Herausragende Bedeutung für die kognitive Kartierung der Westgebiete des Zarenreiches kommt in den hier untersuchten Quellen schließlich der Wahrnehmung der Menschen zu, die die Reisenden bei ihrer Arbeit auf dem Feld beobachteten, die auf Bahnsteigen warteten und Lebensmittel verkauften und die sich an Stationen auf der Strecke unter das fahrende Publikum im Waggon mischten. In den westlichen Provinzen war es weniger die Physiognomie der Menschen, die von den Reisenden als fremd und bemerkenswert wahrgenommen wurde, sondern vielmehr deren Tracht und vor allem deren fremde Sprache. So erschloss sich beispielsweise dem Reisenden I. Al’fonosov, der 1902 von Kazan’ nach Berlin reiste, beim Blick auf das Treiben am Bahnhof von Minsk, dass er bei seiner Fahrt gen Westen soeben eine unsichtbare kulturelle Grenze überquert hatte: „Hier eröffnete sich vor unseren Augen ein neues, schillerndes, von uns noch nirgendwo gesehenes Bild einer Menge, die zum Bahnhof gekommen war, um den ankommenden Zug zu bestaunen. Nur die Neugier kann diese barfüßigen weißrussischen Mädchen mit ihren unbedeckten Köpfen und ihren Leinenblusen hierher getrieben haben. [Auf dem Bahnsteig] waren auch noch weitere barfüßige Frauen in weißen Blusen und roten Kopftüchern, deren Enden vorne verknotet waren. Diese huschten zwischen den Passagieren hin und her, drängten an die Waggonfenster und versuchten, sich im Feilbieten ihrer Waren gegenseitig zu überschreien. Die einen boten Nüsse, die anderen Milch und wieder andere Beeren an und riefen [mit deutlichem Akzent]: ‚Kauf meine Beeren’ – ‚Herr, kauf meine Nüsse, die Nüsse sollst Du kaufen!’ – Diese Frauen in ihren weißen Kleidern und ihrer besonderen Art zu sprechen, ließen mich erkennen, dass wir uns mittlerweile in Weißrussland befanden.“148
1891, S. 1 und Valentin Kantelinenko: Vtoroe moe putešestvie po Rossii, Cholm 1903, S. 17, 37. – Hinweise auf den Gebrauch von Landkarten findet man dagegen äußerst selten, so z.B. bei: Adolf De-Bal’men: Iz Kurska v Mogilev i obratno, in: Modnyj Magazin, 1871, Nr. 21, S. 329–330; Nr. 23, S. 361–363, hier Nr. 21, S. 321. 146 Vgl. z.B. Miljukov, Letnie poezdki, S. 195. Wenn Schaffner es unterließen, die Passagiere über die nächste Station zu informieren, konnte dies bei diesen das Gefühl der Orientierungslosigkeit hervorrufen. Vgl. Klevanov, Putevyja zametki, S. 29. 147 Vgl. z.B. Klevanov, Putevyja zametki, S. 30f.; Šč–ckoj, Putevyja zametki, Nr. 12, S. 7; Grigorij Ostroumov: Iz poezdki v Kiev, in: Permskie Eparchal’nye Vedomosti. Otdel neoficial’nyj, 1886, Nr. 14, S. 270–276, Nr. 15, S. 293–302; Nr. 16, S. 318–322; Nr. 17, S. 341–350; Nr. 18, S. 363–367; Nr. 19, S. 371–375; Nr. 20, S. 380–384, hier Nr. 15, S. 294; Putevyja zametki palomnikov-studentov kazanskoj duchovnoj akademii. Ėkskursija po bližnemu Vostoku letom 1907 goda, Kazan’ 1909, S. 23; Palomničestvo vospitannic, S. 9; Ivan Vasil’evič Al’fonosov: Ot Kazani do Berlina: Iz putevych zametok i vpečatlenij, in: Pravoslavnyj sobesednik, 1910, Nr. 11, S. 648–663, Nr. 12, S. 746–768, hier Nr. 11, S. 656, 658. 148 Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina, Nr. 11, S. 656f. – Vergleichbare Schilderungen bei: Kantelinenko, Pervoe moe putešestvie, S. 12; Miljukov, Letnye poezdki, S. 23.
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Dieses Quellenzitat illustriert, dass die Wahrnehmung kultureller Binnengrenzen im Russländischen Reich für viele Zugreisende vor allem auf akustischen Erfahrungen basierte. Auch an den Schilderungen von Aleksandr Klevanov lässt sich dies beobachten. Auf seiner Zugfahrt von St. Petersburg nach Warschau passierte der Reisende die Stadt Dünaburg, wo er hörte, wie eine Gruppe Deutscher seinen Zug betrat. Je näher sich Klevanov der Landesgrenze des Zarenreiches näherte, desto deutlicher wurde ihm an der Klangkulisse, dass das russische Kernland bereits hinter ihm lag: „Die Bediensteten der Eisenbahn sind ausnahmslos Polen. Der Klang der russischen Sprache kann hier nirgendwo mehr gehört werden, von den Insassen des Zuges einmal abgesehen.”149
Auch Zugpassagiere, die in umgekehrter Richtung, also zum Beispiel aus der (süd-) westlichen Peripherie ins russische Kernland reisten, nahmen die Überschreitung kultureller Binnengrenzen des Reiches häufig als akustisches Erlebnis wahr. In dem Bericht über eine Pilgerreise nach Kiev und Moskau, die Absolventinnen der höheren Frauenschule der Eparchie von Odessa im Sommer 1909 unternahmen, heißt es beispielsweise: „Der Zug blieb oft an kleineren Stationen stehen, um weitere Reisende nach Moskau aufzunehmen. Als wir uns zum Waggonfester herausbeugten, war überall der melodische Klang der russischen Sprache zu hören. Dieser unterscheidet sich deutlich von unserem weicheren, kleinrussischen Dialekt, an den das Ohr von unserer Heimat im Gouvernement Cherson gewöhnt ist.“150
Gerade der Klang fremder Sprachen im Zug konnte bei Reisenden jedoch auch Gefühle der Orientierungslosigkeit wecken. Als beispielsweise der Geistliche Vasilij Ljachockij auf seiner Fahrt von Petersburg nach Warschau am frühen Morgen in seinem Abteil zwei Männer hörte, die „gebrochen Polnisch“ miteinander sprachen, fragte er sich, ob er das polnische Sprachgebiet schon erreicht habe: „Unterhalb von Pskov ließen sich [dann] neben mir zwei Subjekte nieder, die schwer einzuordnen waren: In der ersten halben Stunde sprachen sie miteinander Russisch, dann wechselten sie plötzlich ins Polnische... Es war schwer zu entscheiden, wer [diese Menschen] waren und welcher Nation sie angehörten.“151
Die Reisenden, die über ihre Wahrnehmung der Sprachenvielfalt in Zügen und auf Bahnhöfen berichteten, maßen akustischen Eindrücken dieser Art deshalb so große Bedeutung zu, weil sie durch die politischen Debatten ihrer Zeit für die verschiedenen „nationalen Fragen“ in Russland sensibilisiert waren. Gerade an der Frage, wie räumliche Grenzen zwischen den Siedlungsgebieten der verschiedenen ethnischen Gruppen von russischen Zugreisenden wahrgenommen und beschrieben wurden, lässt sich zeigen, wie stark Raumerfahrung und Diskurse über den Charakter Russlands als Vielvölkerreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun149 Klevanov, Putevyja zametki, S. 46. Eine ähnliche Szene beschreiben: Miljukov, Letnie poezdki, S. 221; Gleb Ivanovič Uspenskij: Pis’ma, in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 13, Moskva 1951, S. 95 (Brief an A. V. Uspenskaja vom 15.4.1872). 150 Palomničestvo vospitannic, S. 10. 151 Kantelinenko, Pervoe moe putešestvie, S. 62.
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derts miteinander verflochten und aufeinander bezogen waren. Mit dem Wissen, dass Russland „keine ethnografische Einheit“ (Kruševan) bilde, machten sich viele Reisende auf den Weg, um – bewusst oder unbewusst – die ethnografische Vielfalt ihres Landes auch persönlich zu er-fahren. Der Bau der Eisenbahn hatte die dafür nötige Infrastruktur geschaffen. Somit kann es kaum erstaunen, dass in den hier zitierten Reiseberichten immer wieder Sprachgrenzen als Anhaltspunkte für eine räumliche Binnengliederung des Reichsterritoriums beschworen werden. Während manche Autoren die sprachliche und kulturelle Vielfalt ihres Landes schlicht als Tatsache beschrieben, ließen andere ihre Beobachtungen ethnischer Differenz in längere Abhandlungen über den Zusammenhalt des Reiches und die Gefahr der „polnischen“ oder einer anderen „nationalen Frage“ münden.152 Wieder andere waren von der Idee beseelt, dass gerade der Bau der Eisenbahn zur Nivellierung der Differenzen zwischen den verschiedenen nationalen Gruppen des Landes beitragen werde.153 Keine andere „nationale Frage“ zog die russischen Reisenden, die über ihre Zugfahrten in die westliche Peripherie berichteten, so sehr in den Bann, wie die sogenannte „jüdische Frage“. Bei der Lektüre russischer Reiseberichte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist man immer wieder von der Intensität der Bilder überrascht, mit denen Autoren ihre eigene Fremdheitserfahrung bei der Begegnung mit Menschen jüdischen Glaubens im „Ansiedlungsrayon“ ausdrückten. Es waren vor allem die jüdischen Bewohner der westlichen Provinzen des Reiches, die von Reisenden aus den zentralrussischen Gebieten als Fremde im eigenen Land wahrgenommen und als solche klassifiziert wurden. Gerade die Stigmatisierung der Juden als „fremdes Element“ ließ die ganze Großregion in der Wahrnehmung vieler Reisender als ein Gebiet erscheinen, dessen Charakter sich deutlich von jenem des russischen Kernlands unterschied. In Eisenbahnwaggons und auf Bahnhöfen der westlichen Provinzen kamen viele Passagiere offenbar das erste Mal in Kontakt mit Menschen jüdischen Glaubens. Als zum Beispiel der oben bereits zitierte I. Al’fonosov im Jahr 1902 auf seiner Fahrt gen Westen Weißrussland durchquerte, nahm er mit großem Befremden zur Kenntnis, dass „die Juden“ in seinen Augen „fast alle größeren Stationen [von Minsk] bis War-
152 Vgl. z.B. Klevanov, Putevyja zametki, S. 29; Kruševan, Čto takoe Rossija, S. 355–363; Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina, S. 659–662; Miljukov, Letnie poezdki, S. 225. – Gerade der Bericht von Miljukov macht deutlich, wie präsent vielen Russen Mitte der 1870er Jahre noch die Erinnerung an den Aufstand von 1863 war. Beim Blick auf die breite Schneise, die entlang der Bahnlinie zwischen Vil’na und Warschau in die Wälder geschlagen war, rief der Autor seinen Lesern ins Gedächtnis, dass polnische Rebellen während des Januaraufstands Züge der St. Petersburg-Warschau-Bahn aus dem Hinterhalt beschossen hatten, woraufhin man weitere Bäume links und rechts der Strecke abgeholzt habe. Ebd., S. 271. – Zur Bedeutung der Bahnlinie von St. Petersburg nach Warschau während des Januaraufstands 1863 vgl. Kap. 5.2.1. 153 So prophezeitе beispielsweise der russische Schriftsteller Miljukov Mitte der 1870er Jahre, dass „angesichts des nivellierenden Einflusses der Eisenbahn die kleinrussischen Besonderheiten in naher Zukunft völlig verschwinden werden und in dem Gebiet nur jene eigenen Charakteristika bleiben, die man in jeder Provinz findet.“ Miljukov, Letnie poezdki, S. 23.
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schau in Beschlag genommen hatten.“154 Anders als die weißrussischen Mädchen und Frauen auf dem Bahnsteig von Minsk, deren Tracht und Redensart er als sympathische Variation der ihm vertrauten russischen Kultur empfunden hatte, stieß ihn der Anblick der „schwarzen jüdischen Gestalten in ihren langen schwarzen Kaftanen, ihren Schirmmützen und ihren langen Schläfenlocken“ geradezu ab. Al’fonosov machte keinen Hehl daraus, dass ihm diese Menschen, die sich auf dem Bahnsteig „wild gestikulierend“ unterhielten, mit ihren „krummen Nasen (gorbonosyj)“ und der ihnen „eigenen Physiognomie (svoja fizionomija)“ zutiefst unsympathisch waren.155 Es sei eine gute Entscheidung der Reichsregierung gewesen, so Al’fonosov abschließend, das Niederlassungsrecht der „dem Slaventum fremden Juden“ auf den Ansiedlungsrayon zu begrenzen.156 Schilderungen dieser Art, die bei der Leserschaft etablierte, antijüdische Klischees bedienten, finden sich in zahlreichen Reiseberichten russischer Passagiere, die in den westlichen Gouvernements unterwegs waren. Zur Bezeichnung der jüdischen Bewohner des Ansiedlungsrayons griffen die meisten Autoren nicht auf das neutrale Ethnonym evrej zurück, sondern benutzten die klar pejorative Bezeichnung žid.157 Die Attribute, die russische Beobachter den Untertanen jüdischen Glaubens zuschrieben, wirken dabei meist wie einem Katalog antisemitischer Vorurteile entlehnt. So findet sich in einigen Texten das Bild des Juden, der auf Bahnhöfen seinen Lebensunterhalt als Geldwechsler verdient und der versucht, Reisende in verdreckte und überteuerte jüdische Herbergen zu locken.158 Darstellungen von Juden, die aus Platzmangel in der zweiten oder dritten Klasse 154 Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina, S. 657. – Al’fonosovs Äußerungen bezogen sich vermutlich auf die große Ansammlung Menschen jüdischen Glaubens auf den Bahnhöfen des Ansiedlungsrayons. Seit 1875 war es Juden verboten, auf der Eisenbahn als Telegrafisten zu arbeiten. 1894 wurde ihnen auch untersagt, an Bahnhöfen Restaurants oder Buffets zu pachten. Vgl. Cirkuljar’ techničesko-inspektorskogo komiteta železnych dorog, Nr. 4926, vom 22.8.1875, in: Sbornik ministerskich postanovlenii, Bd. 2 (1877), S. 124; Cirkuljar po eksploatacionnomu otdelu, Nr. 21839–21845, vom 12.6.1896, in: Sistematičeskij sbornik uzakonenij, Bd. 1 (1900), S. 650. – In der ukrainischen Stadt Proskurov (heute: Chmel’nickij) wurde Juden im Sommer 1911 sogar vorübergehend verboten, das Bahnhofsgebäude zu betreten, weil sie angeblich das Bahnpersonal bei der „Ausübung dienstlicher Verpflichtungen“ behinderten. Vgl. Michail Dubrovskij: Tuzemnoe zakonodatel’stvo, in: Vseobščaja gazeta vom 22.5.1911 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 454, l. 60). 155 Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina, S. 657. 156 Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina, S. 660. 157 Vgl. z.B. Teplouchov, Čeljabinskie chroniki, S. 94, 207, 209; Kantelinenko, Pervoe moe putešestvie, S. 11; Anna Grigor’evna Dostoevskaja: Dnevnik 1867 goda, Moskva 1993, S. 6f.; Konstantin Apollonovič Skal’kovskij: Novye putevye vpečatlenija, Sankt Peterburg 1889, S. 61; Sidorov, Okol’noj dorogoj, S. 27, 31. 158 Kantelinenko, Pervoe moe putešestvie, S. 6, 9; Miljukov, Letnie poezdki, S. 202. – Zum Bild des jüdischen Schleusers, der russischen Emigranten und Revolutionären beim illigalen Grenzübertritt nach Preußen half: Antin, Promised Land, S. 172; Martyn Nikolaevič Ljadov [Mandel’štam]: Iz žizni partii, Moskva 1956, S. 70, 78; Nikolaj Aleksandrovič Morozov: Povesti moej žizni, Bd. 1, Moskva 1962, S. 307–309; Ol’ga Spiridonovna Ljubatovič: Dalekoe i nedavnoe, in: Byloe (Sankt Peterburg) 1906, Nr. 5, S. 209–245, hier S. 228–231, 244f.; Yuri Slezkine: Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 161.
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in Waggons der ersten Klasse überwechselten, bedienten das Klischee von Fremden, die immer auf den eigenen Vorteil bedacht waren und in Räume vordrangen, die nicht für sie vorgesehen waren.159 Relativ typisch ist auch die Darstellung von Juden, die in Zügen oder auf Bahnhöfen in Gruppen auftraten und somit nur als Kollektiv wahrgenommen werden konnten.160 Des Weiteren brachten viele Reisende das Bild eines „typischen Juden“ mit Armut und äußerer Verwahrlosung in Verbindung. Charakteristisch ist dabei die Assoziation von „Jude“ mit Schmutz, Unordnung und gesellschaftlichem Chaos.161 Auch das Bild des jüdischen Spielmanns, der im Zug die Reisenden mit seinen Liedern unterhält sowie des Kleinhändlers, der mit der Eisenbahn geschäftlich unterwegs ist, findet sich in russischen Reiseberichten.162 Zudem beobachteten Passagiere mit Befremden, wie jüdische Menschen an Bahnhöfen und in Zügen beteten und dabei fremd klingende hebräische Verse deklamierten.163 Schließlich zeichnen sich gerade die Beschreibungen von Juden in russischen Reiseberichten dadurch aus, dass nicht nur deren Kleidung und Sprache, sondern auch deren „Physiognomie“ als „anders“ und fremd wahrgenommen wurde.164 Formen der „positiven“ Exotisierung des „Fremden“, wie man sie zum Beispiel aus russischen Diskursen über den Orient oder den Kaukasus aus der gleichen Zeit kennt, sucht man in Schilderungen der jüdischen Bewohner des Zarenreiches indes vergeblich.165 Die kollektive Wahrnehmung „des Juden“ als fremdes soziales Element war offenbar eng mit spezifischen, russischen Raumbildern des von ihnen bewohnten Ansiedlungsrayons verbunden. In welchem Maße sich Raumwahrnehmung und 159 Vasilij Si-lo-vič: S peresadkoj, in: Novoe vremja, Nr. 12664 vom 16.6.1911 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 454, l. 44). 160 Kantelinenko, Vtoroe moe putešestvie, S. 10, 45. 161 Zum Teil wird argumentiert, Juden hätten eine „bestimmte Atmosphäre (osobaja atmosfera)“ in den Waggon gebracht, die für russische Mitreisende unerträglich gewesen sei. Miljukov, Letnye poezdki, S. 19–21, 200–202. 162 Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina, S. 658. 163 Anisimov, Palomničestvo na russkij sever, 1903, Teil 1, Nr. 1, S. 97. Anisimov beschreibt in seinem Bericht über eine Reise, die er Ende der 1890er Jahre aus Char’kov in den russischen Norden unternahm, wie ein Schaffner einem Juden untersagte, in einem Eisenbahnwaggon zu beten. Tatsächlich war Juden die öffentliche Ausübung ihrer Religion in russischen Zügen und Bahnhöfen seit 1897 offiziell untersagt. Vgl. Cirkuljar Departamenta Železnych dorog, Nr. 11592, vom 5.7.1897 zit. bei: Otton Fomič Glinka: Mery k sobljudeniju passažirami v poezdach ustanovlennych dlja nich pravil, Kiev 1901, S. 12 und: Die Welt 1 (1897), Nr. 12, S. 7. Für den Hinweis auf die zuletzt genannte Quelle danke ich Tobias Grill. Der Wortlaut der Verordnung ist abgedruckt in: Vestnik Ministerstva Putej Soobščenija, 1897, Nr. 30, S. 701f. 164 Miljukov, Letnie poezdki, S. 200; Klevanov, Putevyja zametki, S. 371. 165 Zur Ambivalenz russischer Bilder des Kaukasus im 19. Jahrhundert: Susan Layton: Nineteenth-Century Russian Mythologies of Caucasian Savagery, in: Daniel R. Brower, Edward J. Lazzerini (Hg.): Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, 1700–1917, Bloomington 2001, S. 80–99; Ram Harsha: The Imperial Sublime. A Russian Poetics of Empire, Madison, Wisc. 2003; Thomas Grob: Eroberung und Repräsentation. 'Orientalismus' in der russischen Romantik, in: Wolfgang Kissel (Hg.): Der Osten des Ostens: Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen, Frankfurt/M. 2012, S. 45–70.
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Perzeption ethnischer Differenz bedingten, lässt sich am Beispiel des Reiseberichts des jüdischen Studenten Vladimir Garkavi verdeutlichen, der 1864 mit dem Zug von St. Petersburg nach Moskau fuhr. Garkavi, Sohn einer reichen jüdischen Familie in Vil’na, war auf dem Weg nach Moskau, um dort Jura zu studieren, und wählte für seine Reise einen Waggon dritter Klasse, in dem er sich von russischen Bauern und Frauen mit Kindern umgeben sah. Jeder Passagier führte viel Gepäck mit sich, die Menschen tranken Tee, sangen Lieder und schliefen auf dem Boden. Garkavi war überrascht, dass er während der 36-stündigen Fahrt kein einziges Mal das Wort „žid“ hörte. „Ich lernte fast alle meine Mitreisenden kennen und begann – was mir aus heutiger Sicht recht naiv und lustig vorkommt – den Bauern im Zug Werke von Nekrasov und Nikitin vorzulesen. Die Bauern hörten aufmerksam zu und seufzten von Zeit zu Zeit. Ich hatte den Eindruck, als sei ich mit dem Wesenskern des bäuerlichen [russischen] Lebens in Berührung gekommen. In dem Waggon unterhielt ich mich zum ersten Mal mit einer gebildeten russischen Frau. […] Wir sprachen über Literatur, über Belinskij, Dobroljubov, Pisarev, Černyševskij und über die weiblichen Protagonisten der Romane Turgenevs. An meinem Akzent und meiner Art zu sprechen erkannte sie, dass ich kein Russe war. Als ich ihr aber erzählte, ich sei Jude, war sie mehr als erstaunt.”166
Dieser kurze Reisebericht ist eine faszinierende Quelle. An ihr lässt sich zeigen, dass die Eisenbahn im Zarenreich durchaus Kommunikationsräume für die interkulturelle Begegnung im Allgemeinen und zwischen Russen und Juden im Besonderen schuf. Dies galt jedoch allem Anschein nach für die Gebiete des russischen Kernlandes in einem höheren Maße als für die westlichen Randprovinzen des Zarenreiches. Die Tatsache, dass Züge und Bahnhöfe in den westlichen Provinzen des Landes von vielen russischen Reiseautoren als „jüdische“ und damit „fremde“ Räume wahrgenommen wurden, lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren.167 Zum einen ließe sich argumentieren, dass gerade die kollektive Beschwörung „des Juden“ als Inbegriff des „Fremden“ im eigenen Land bei russischen Reisenden zu einer Stärkung des „Wir-Gefühls“ als „Russen“, „Slaven“, „Orthodoxe“ oder „Christen“ beigetragen hat. Die Bedeutung, die Fremdbildern in Diskursen kollektiver Identität zukommt, hat die Nationalismusforschung hinlänglich beschrieben. 166 Vladimir Osipovič Garkavi: Otryvki vospominanij, in: Perežitoe. Sbornik, posvjaščennyj obščestvennoj i kul'turnoj istorii evreev v Rossii, Bd. 4 (1912), S. 270–287, Zitat S. 279f. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Yvonne Kleinmann. 167 Die Wahrnehmung von Bahnhöfen und Zügen in den westlichen Provinzen des Reiches als „jüdische Orte“ korrespondiert mit Beschreibungsmodi in den Werken jiddisch-sprachiger Literatur vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. In Romanen und Kurzgeschichten von Elyokum Zunser, Šolem Abramovič, Šolem Alejchem und David Bergelson spielen Eisenbahnen, entweder als Schauplätze der Erzählung und/oder als Signifikanten der Moderne zum Teil eine wichtige Rolle. An diesen Werken, so Leah Garret, lasse sich eine gewisse Tendenz der „Judaisierung” der Orte des russischen Eisenbahnraums beobachten. Leah Garrett: Trains and Train Travel in Modern Yiddish Literature, in: Jewish Social Studies, New Series 7 (2001), Nr. 2, S. 67–88; dies.: Journeys beyond the Pale. Yiddish Travel Writing in the Modern World, Madison (Wisconsin) 2003, S. 90–122. Vgl. dazu ausführlicher: Schenk, Travel, Railroads, and Identity Formation in the Russian Empire.
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Die Form der vorgestellten Vergemeinschaftung auf Kosten anderer, wie sie in den hier referierten Reiseberichten zu beobachten ist, barg jedoch gerade mit Blick auf deren räumliche Dimension erheblichen Zündstoff. Da Juden seit dem späten 18. Jahrhundert nur innerhalb der Grenzen des Ansiedlungsrayons leben durften, kamen russische Reisende vor allem hier in Kontakt mit Menschen, deren Kultur sie primär als fremd empfanden. In einer Zeit, in der Dank der Eisenbahn immer mehr Menschen in Berührung mit der geografischen und kulturellen Vielfalt des eigenen Landes kamen, konnte das stereotype Bild dieses Landesteils als von „Fremden“ dominierte Region auch zur Destabilisierung kollektiver räumlicher Bilder von Russland als „großes und unteilbares Ganzes“ beitragen. Wie stark diese Perzeptionsmuster die kognitiven Karten der Zugreisenden tatsächlich erschüttert haben, ist schwer zu ermessen. Mit Blick auf die Positionierung der westlichen Provinzen des Reiches auf den mental maps russischer Reisender lässt sich jedoch die abschließende These wagen, dass die neuen Möglichkeiten der kollektiven Raumerfahrung, die das Eisenbahnzeitalter eröffnete, hier Vorstellungen räumlicher Zerrissenheit und problematischer territorial-räumlicher Integration eher stabilisiert als zerstreut haben. Fallstudie 2: Reisen nach Sibirien Die zweite Fallstudie ist der Raumwahrnehmung russischer Zugpassagiere gewidmet, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem „Großen Sibirischen Weg“, d.h. auf der Transkontinentalbahn vom Ural nach Vladivostok die östliche Hälfte des Zarenreiches durchquerten.168 Zum Zeitpunkt der Weltausstellung in Paris im Jahr 1900, auf der die russländische Regierung der Weltöffentlichkeit das gewaltige Infrastrukturprojekt als Schlüssel zum „Zukunftsraum Sibirien“ und als prospektive Verkehrsader zwischen Europa und Asien präsentierte, stand das Projekt einer durchgehenden Schienenverbindung von Moskau nach Vladivostok (bzw. Port Arthur) kurz vor dem Abschluss.169 Während Zugpassagiere in diesem Jahr auf ihrer Reise aus Zentralrussland an die Pazifikküste nur noch an zwei Punkten (für die Passage über den Baikalsee und für die Fahrt von Sretensk nach Chabarovsk auf der Šilka und dem Amur) auf ein Dampfschiff umsteigen mussten, verkündete die russische Regierung im Oktober 1901 voller Stolz das Ende der Bauarbeiten auf der Ostchinesischen Eisenbahn und damit die Vollendung des ehernen Schie-
168 Während im Zarenreich um die Jahrhundertwende das transkontinentale Verkehrsprojekt meist als Velikij Sibirskij Put’ (Großer Sibirischer Weg) gepriesen wurde, setzte sich in Westeuropa bald die Bezeichnung „Transsibirische Eisenbahn“ (bzw. „trans-siberian railroad“) – abgeleitet vom Namen des Luxuszuges der CIWL „le Transsibérien“ durch. Die einzelnen Streckenabschnitte der über 5.000 Werst langen Strecke von Čeljabinsk nach Vladivostok wurden von unterschiedlichen Eisenbahngesellschaften verwaltet. Da diese administrative Trennung für Reisende in der Praxis jedoch keine größere Bedeutung hatte, soll die Große Sibirische Bahn auch hier als eine Einheit betrachtet werden. 169 Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.6.3. und 2.7.
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nenstrangs „vom Atlantik zum Pazifik“.170 Obwohl die regierungstreuen Zeitungen der Hauptstadt, wie zum Beispiel die Novoe vremja (Neue Zeit), den 21. Oktober 1901, an dem die Bahnlinie durch die Mandschurei fertiggestellt und für den (provisorischen) Zugverkehr freigegeben wurde, als Tag von großer historischer Bedeutung priesen, nahm die breitere Öffentlichkeit des Landes von diesem Ereignis kaum Notiz.171 Während patriotische Journalisten jubelten, dass Russland nun im Fernen Osten „mit festem Fuß“ auf asiatischem Boden stehe und dass das Reich jetzt als einzige Großmacht über eine durchgehende Schienenverbindung in diese strategisch so wichtige Weltregion verfüge, sahen viele russische Beobachter die Vollendung des Großen Sibirischen Weges mit großer Skepsis und Sorge.172 So beklagte der Journalist der Novoe vremja am 29. Oktober 1901 die „Zurückhaltung“, mit der die russische Öffentlichkeit die Nachricht von der „Eröffnung dieser von uns gebauten Weltverkehrsstraße“ aufgenommen habe.173 Der Autor konstatierte, dass die „russische Gesellschaft“ die Bedeutung des 21. Oktober noch nicht erkannt habe, dass der Ferne Osten, der „so weit von uns entfernt ist“, die Menschen in den Hauptstädten nicht interessiere und dass die Diskussion über die Sibirische Bahn nach wie vor von der Frage dominiert werde, wie viel das Vorhaben gekostet habe und wie viel Geld bei den Bauarbeiten veruntreut worden sei.174 Schon im Mai 1901, als in Russland an den zehnten Jahrestag der Grundsteinlegung auf dem ersten Teilstück der Transkontinentalbahn erinnert wurde, war die Diskrepanz zwischen den machtpolitischen Phantasien, die die zarische Regierung 170 Bis zum Abschluss der Bauarbeiten auf der Circum-Baikal-Bahn Anfang 1905, deren Fertigstellung während des russisch-japanischen Krieges forciert worden war, musste der Baikalsee noch mit einem der Dampfschiffe „Bajkal“ bzw. „Angara“ bzw. im Winter mit Schlitten überquert werden. Für ihre Fahrt von Moskau nach Port Arthur brauchten die ersten durchgehenden Züge im Herbst 1901 nur noch 15–18 Tage (anstatt sechs Wochen mit dem Schiff). Platon Nikolaevič Krasnov: Sibir’ pod vlijaniem rel’sovogo puti, Sankt Peterburg 1902, S. 1, 99. – Schon vor dem 21.10.1901 hatte die Reichsregierung verschiedene Teilstücke der Sibirischen Bahn für den Verkehr freigegeben, so zum Beispiel die Süd-Ussurische Bahn am 1.2.1896, die Westsibirische Bahn (von Čeljabinsk zum Fluss Ob) am 1.10.1896 oder die Mittelsibirische Bahn von Krasnojarsk nach Irkutsk am 1.1.1899. Vgl. dazu detailliert: Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem, S. 17f. 171 Na poroge novago mira, in: Novoe vremja, Nr. 9215, 29.10.1901, S. 2. Vgl. auch Glückwunsch-Telegramm von Finanzminister Vitte an Nikolaus II., zit. bei Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem, S. 16f. 172 Novoe vremja, 29.10.1901, S. 2. In der Zeitung Russkij listok wurde der 21.10.1901 als „herausragender historischer Tag für das politische, gesellschaftliche und ökonomische Leben Russlands“ und der transkontinentale Schienenstrang vom „Herzen Russlands“ zum Pazifischen Ozean als „wichtigste Bahn der Welt“ gefeiert. Russkij Listok, Nr. 289, 31.10.1901, S. 1. 173 Novoe vremja, 29.10.1901, S. 2. Auch im Russkij Listok, 31.10.1901, S. 1, wurde beklagt, dass in der „Gesellschaft“ über alles mögliche gesprochen werde, nur nicht über die Bedeutung des 21. Oktober. 174 Novoe vremja, 29.10.1901, S. 2. – Auf die ambivalente Haltung der russischen Öffentlichkeit hinsichtlich der Vollendung des Großen Sibirischen Weges wies auch der Kievljanin, Nr. 300, 30.10.1901 hin. Vgl. dazu: Železnodorožnoe delo 20 (1901), Nr. 45-46, S. 534.
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mit diesem Infrastrukturprojekt verband, und der Zurückhaltung, mit dem die russische Öffentlichkeit diesem Vorhaben begegnete, deutlich geworden. In seiner Analyse von zwanzig russischen Zeitungen, die über das Jubiliäum des ersten Spatenstichs von Carevič Nikolaj Aleksandrovič am 19. Mai 1891 in Vladivostok berichteten, kam D. Destrem 1902 zu dem Schluss, dass die russische „Presse und Öffentlichkeit“ leider mit großer „Gleichgültigkeit“ auf den Beginn und Fortgang dieses „wahrhaft nationalen Projekts (po istine narodnoe delo)“ geblickt habe.175 Diese Diagnose, so Destrem, treffe nicht für die offiziellen und regierungsnahen Zeitungen der Hauptstädte, wie zum Beispiel den Pravitel’stvennyj vestnik (Regierungsbote), die Moskovskie vedomosti (Moskauer Nachrichten) oder die Birževyja vedomosti (Börsennachrichten) zu. Diese hätten unter anderem das Tempo, mit dem Russland die längste Schienenverbindung der Welt errichtete, hinreichend gewürdigt.176 Zudem habe man in diesen Zeitungen lesen können, dass der Bau der Transkontinentalbahn schon vor deren Fertigstellung zu einer deutlichen Belebung des Handels zwischen „Russland“ und seinen östlichen Randprovinzen (okraina) beigetragen habe, dass die russische Bevölkerung in einigen Regionen des Fernen Ostens dank des Zuzugs bäuerlicher Kolonisten seit 1891 um bis zu 240 % gewachsen sei und dass man auch hinsichtlich des internationalen Transitverkehrs von Europa nach Asien von der Bahn Großes erwarten könne.177 Die Birževyja vedomosti, so Destrem, hätten den Bau der Sibirischen Bahn auch als einen „Meilenstein auf dem Weg einer russischen Weltpolitik“ gewürdigt. Der Schienenstrang, so die Zeitung, würde nicht nur „Russland“ mit „Sibirien“, sondern zugleich Europa mit dem Pazifik verbinden und so den „Eisenbahngürtel um den Erdball“ schließen. Da Russland das Bauvorhaben aus eigener Kraft gestemmt habe – eine Anspielung darauf, dass vorwiegend einheimische Ingenieure und russisches Baumaterial zum Einsatz kamen – könne man das Projekt als nationale Leistung feiern und darauf setzen, dass es das „internationale Prestige Russlands auf eine bislang ungekannte Höhe heben [werde].“178 Ungeachtet dieser bisweilen hymnischen Berichterstattung in der offiziellen Presse über den zehnten Jahrestag der Grundsteinlegung im Jahr 1891, fiel das 175 D. Destrem: Obzor otzyvov pečati po povodu desjatiletija Velikago Sibirskago rel’sovago puti, in: Železnodorožnoe delo 21 (1902), Nr. 2–3, 5–6, 7, S. 27–29, 64–67, 79–80. 176 Voller Stolz berichtete beispielsweise der Pravitel’stvennyj vestnik, dass die Sibirische Bahn von Čeljabinsk nach Vladivostok mit 5.612 Werst um einiges länger sei als die Canadian Pacific Railroad (4.380 Werst). – Der Vergleich russischer Großprojekte mit Infrastrukturvorhaben in Amerika sowie die Fixierung auf Materialmengen und das Tempo, mit dem technische Leistungen im Zarenreich vollbracht wurden, erinnert an die Rhetorik, mit der später in der UdSSR von offizieller Seite die Überlegenheit sowjetischer Ingenieure und Techniker gegenüber dem kapitalistischen Westen gefeiert wurde. Auch hinsichtlich der benutzten Terminologie, mit der die russische Presse schon 1901 Wunderwerke der Technik – z.B. als „neue Errungenschaft“ bzw. „Eroberung (zavoevanie)“ – lobte, fallen Parallelen mit sowjetischen Technik-Diskursen der 1930er Jahre auf. Vgl. Pravitel’stvennyj vestnik, 19.5.1901, zit. nach Destrem, Obzor, S. 27. 177 Destrem, Obzor, S. 27f. 178 Desjatiletie velikago načinanija, in: Birževyja Vedomosti [Ende Mai 1901], zit. nach: Destrem, Obzor, S. 28.
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Fazit der übrigen Presseanalyse Destrems relativ nüchtern aus. Im Unterschied zu den regierungsnahen Organen – und der Berichterstattung über die Transsib in der westlichen Presse – habe sich die breite russische Öffentlichkeit im Mai 1901 kaum für das Jubiläum dieses „nationalen“ Infrastrukturprojekts interessiert.179 Destrem schloss sich in diesem Punkt der Diagnose sibirischer Journalisten an, die sich über das fehlende Interesse der russischen Öffentlichkeit an der verkehrstechnischen Erschließung der östlichen Reichshälfte beklagt hatten. Wie könne es sein, so heißt es zum Beispiel im Sibirskij vestnik (Sibirischer Bote) vom 5. Juni 1901, dass man den zehnten Jahrestag der Grundsteinlegung der Sibirischen Bahn nirgendwo in Russland gebührend gefeiert habe?180 Warum, so der Journalist weiter, nähmen die meisten russischen Zeitungen nicht zur Kenntnis, dass mit dem Bau der Transkontinentalbahn eine neue Ära der Geschichte Sibiriens angebrochen sei, was sich unter anderem an der Zahl von einer Million bäuerlicher Kolonisten ablesen lasse, die seit dem Baubeginn aus ihrer „Heimat“ (rodina) in die Randregion (okraina) gekommen sind. Destrem sah die Gleichgültigkeit, mit der man in „Russland“ dem „nationalen Projekt (narodnoe delo)“ des Bahnbaus nach Sibirien begegnete, als Ausdruck jener Zurückhaltung an, die, nach seiner Meinung, typisch für die Haltung der Gesellschaft gegenüber „nationalen Errungenschaften und Objekten des Nationalstolzes“ im Allgemeinen war.181 Andere Autoren interpretierten die gleichgültige Haltung der russischen Öffentlichkeit an der Erschließung Sibiriens als Zeichen dafür, dass die mentale Aneignung der östlichen Reichshälfte bei der Gesellschaft des Mutterlandes offenbar noch nicht abgeschlossen sei.182 Sowohl in der Zeitung Novoe vremja als auch in den Moskovskie vedomosti wurde zum Beispiel die Aufgabe, den Fernen Osten (gedanklich und praktisch) in den Reichsverband zu integrieren, mit der Integration der Ostseeprovinzen unter Peter dem Großen bzw. der Krim unter Katharina II. verglichen. So, wie man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr vorstellen könne, dass Estland, Livland, Kurland oder Taurien früher außerhalb der Reichsgrenzen lagen, so werde die Fertigstellung der Sibirischen Bahn dazu beitragen, dass in naher Zukunft auch der Ferne Osten von der russischen Bevölkerung als ein fester Bestandteil des Reichsterritoriums angesehen werde.183 Implizit hoffte man dabei offenbar, dass auch der künftige Personenverkehr auf dieser Strecke einen Beitrag zur gedanklichen Vereinigung von
179 Zur Berichterstattung über die Transsibirische Bahn in der westlichen Presse in den Jahren 1900–1901 vgl. Kap. 2.6.3. und 2.7. 180 Vgl. Destrem, Obzor, S. 28. 181 Destrem, Obzor, S. 29. 182 Zur Ambivalenz und zum Wandel des Sibirienbildes in russischen Raumdiskursen seit dem 16. Jahrhundert vgl. exemplarisch: Galya Diment, Yuri Slezkine (Hg.): Between Heaven and Hell. The Myth of Siberia in Russian Culture, New York 1993; Frank, Sibirien: Peripherie und Anderes der russischen Kultur; Bassin, Imperial Visions; Weiß, Wie Sibirien „unser“ wurde. 183 Novoe vremja, 29.10.1901, S. 2; Moskovskie vedomosti, 19.5.1901, vgl. Destrem, Obzor, S. 27.
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„Russland“ und „Sibirien“ auf den kognitiven Karten der Bewohner des Zarenreiches leisten werde. Ungeachtet dessen, dass sich nach der Präsentation der Großen Sibirischen Eisenbahn auf der Weltausstellung von Paris viele westliche Ausländer auf die Reise nach Russland machten, um die neue „Weltverkehrsader“ persönlich zu bestaunen, und dass ab dem späten 19. Jahrhundert immer mehr bäuerliche Kolonisten aus den west- und zentralrussischen Gebieten die Transportdienste der Eisenbahn für ihre Fahrten in ihre neue Heimat in Sibirien und im Fernen Osten nutzten, übte die neue Schienenverbindung an den Pazifik auf russische „Touristen“ offenbar keine vergleichbare Anziehungskraft aus.184 Dass sich nur wenige russische Passagiere in den Zügen der Sibirischen Bahn auf die Reise machten, um die östliche Hälfte des Zarenreiches persönlich zu erkunden und im Anschluss die eigenen Eindrücke in einem Reisebericht zu schildern, hat mehrere Gründe. Zum einen war eine Reise aus Zentralrussland nach Sibirien – auch nach der Einführung des Differentialtarifs im Jahr 1894 – für die meisten Untertanen des Zaren eine zeitintensive und (selbst in der dritten Klasse) eine (zu) teure Unternehmung.185 Zum zweiten, das ließ sich bereits an der Presseberichterstattung des Jahres 1901 erkennen, genoss Sibirien bei vielen Menschen in den russischen Kernländern noch Anfang des 20. Jahrhunderts keinen besonders guten Ruf. Viele Menschen betrachteten Sibirien nach wie vor als eine von „Russland“ abgetrennte geografische Großregion und nahmen das Land östlich des Ural primär als „Kolonie“, als „Reich der Kälte“ oder als Ort der Verbannung und der Arbeitslager für Schwerverbrecher wahr. Zwar nahm die Zahl der russischen „Reisenden“, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ohne zwingenden Grund den Ural in östlicher Richtung überquerten, deutlich zu.186 Im Vergleich zu anderen Randgebieten im Westen und Süden des Reiches blieb die östliche Peripherie jedoch auch nach 1901 ein relativ exotisches „Reiseland“. Schließlich war auch die geografische Lage Sibiriens dafür verantwortlich, warum sich nur wenige russische Reisende hierher verirrten. Während die westliche Peripherie gleichsam „auf dem Weg“ aus Zentralrussland nach Mitteleuropa lag und der Kaukasus russische Touristen mit seinen Kurbädern im Norden sowie seinen Berglandschaften und warmen Provinzen im Süden lockte, lag Sibirien fernab von traditionellen Reiserouten und konn184 Zur Wahrnehmung der Transsibirischen Eisenbahn in westlichen Reiseberichten vgl. u.a. die Anthologien: Deborah Manley (Hg.): The Trans-Siberian Railway: A Traveller's Anthology, London 1988; Hans Engberding, Bodo Thöns (Hg.): Transsib-Lesebuch, Berlin 2002. 185 Für eine zehntägige Fahrt von Moskau nach Irkutsk musste z.B. ein Passagier im Sommer 1902 in der ersten Klasse 71,00, in der zweiten 42,60 und in der dritten Klasse 28,40 Rubel bezahlen. Im Expresszug (skoryj poezd), der knapp acht Tage benötigte, kostete ein Ticket erster Klasse 104 Rubel und ein Fahrschein zweiter Klasse 63 Rubel. Vgl. Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem, S. 94, 97. 186 Frank betont, dass die meisten Reiseberichte über Sibirien aus russischer Feder von Menschen stammten, die in die östliche Reichshälfte verbannt wurden. Die ersten russischen „Reiseberichte“ (im engeren Sinne) über Sibirien stammen aus dem späten 19. Jahrhundert. Vgl. Frank, Reisen nach Sibirien, S. 119. – Zur Entwicklung des Personenverkehrs nach Sibirien zwischen 1891 und 1901 im Allgemeinen: Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem, S. 92–108.
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te auf Erholungssuchende keinen mit Westeuropa und den südlichen Provinzen vergleichbaren Reiz ausüben. Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, dass zahlreiche Berichte über Fahrten mit der Sibirischen Eisenbahn, die Anfang des 20. Jahrhunderts in russischen Zeitschriften erschienen und die die Quellengrundlage für den folgenden Abschnitt bilden, aus der Feder von Autoren stammen, die aus beruflichen Gründen in der östlichen Reichshälfte unterwegs waren. Unter diesen schreibenden Passagieren waren hohe Militärs ebenso vertreten, wie Wissenschaftler, Ärzte oder Journalisten.187 In vielen Punkten erinnern die räumlichen Wahrnehmungsmuster der Passagiere, die auf der Sibirischen Bahn unterwegs waren, an jene, die auch die oben analysierten Schilderungen von Reisenden in den Westgebieten prägten. So versuchten sich auch die Passagiere der Transkontinentalbahn bei ihren Fahrten durch die östliche Reichshälfte an den großen Eisenbahnbrücken räumlich zu orientieren.188 Auch die Strategien, die optischen Eindrücke der am Fenster vorbeiziehenden Landschaft als „Panoramen Gemälde“ zu beschreiben, bzw. als „eintönigen (unylyj) “, „langweiligen (skučnyj) “ oder „malerischen Blick (živopis’nyj vid)“ zu klassifizieren, finden sich in den hier untersuchten Reiseberichten wieder.189 So wie Passagiere, die die westlichen Regionen mit dem Zug durchquerten, 187 Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf folgende Quellen: Metrofan Il’ič Grekov: Na Dal’nyj Vostok. Pochodnye pis’ma, Sankt Peterburg 1901; Aleksandr Vasil’evič Vereščagin: Po Mančžurii (1900–1901). Vospominanija i rasskazy, Sankt Peterburg 1903, insbes. S. 1–7; Maksim Leonidovič Leonov: Po Sibiri ot Moskvy do Sretenska. Putevye zametki, Moskva 1903; Ėduard Romanovič Cimmerman: Po velikoj Sibirskoj doroge, in: Vestnik Evropy 38 (1903), Bd. 1, S. 107–137, Bd. 2, S. 486–512; S. P. Alisov: Kraj buduščego: Iz vpečatlenij poezdki v Sibir’, in: Vestnik Znanija, 1903, N. 12, S. 9–34; 1904, N. 1, S. 96–116; Spolitak: Ot Charbina do Cholma; V. Z-skij: Koe-čto iz putešestvija moego vo Vladivostok, in: Michajlovec, 1910, Nr. 1, S. 212–219; Adol’f Kljuge: Ot Eniseja v Moskvu, in: Sibirskij nabljudatel’ 5 (1903), Nr. 1, S. 20–26, Nr. 2, S. 33–42, Nr. 3, S. 1–11, Nr. 4, S. 11–19, Nr. 5, S. 13–24, Nr. 6, S. 81–91, H. Z. Kovalevskij: Po Sibiri. Putevye vpečatlenija (ijun’–sent. 1908g.), Char’kov 1909. 188 Einen prominenten Platz nimmt in vielen Berichten die Schilderung der Passage über die „Alexanderbrücke“ ein, eine Eisenkonstruktion, die seit 1880 bei Syzran’ die Wolga überspannte (Abb. 8 und 16). Häufig wird dieser Moment als eine Art rite de passage beschrieben, der den Reisenden auf den Grenzübertritt aus „Russland“ nach „Sibirien“ vorbereitete und bei dem der Passagier mit Blick auf das „Mütterchen“ bzw. die „Schöne (krasavica) Wolga“ Abschied vom „Mütterchen Russland“ nahm, bzw. der Passagier auf der Reise in umgekehrter Richtung von „der Mutter der russischen Flüsse“ in der Heimat empfangen wurde. Vgl. z.B. Grekov, Na Dal’nyj Vostok, S: 6; Leonov, Po Sibiri, S. 7; Spolitak, Ot Charbina do Cholma, Nr. 147, S. 679. Zur Wahrnehmung dieser Brücke durch bäuerliche Kolonisten vgl. Kap. 4.3. 189 Die Erfindung der Fotografie und die Verbreitung von Fotoapparaten für den Privatgebrauch trug im frühen 20. Jahrhundert auch in Russland zur Veränderung räumlicher Sehgewohnheiten bei. Zum einen schmückten Fotografien häufig Reiseführer und weckten so bei „Touristen“ spezifische Erwartungen optischer Eindrücke. (Zum Themenfeld Reiseführer und (ethnografische) Fotografie vgl. auch Kap. 3.4.7.) Zum anderen führten russische Passagiere immer häufiger Fotoapparate mit sich und nahmen die Welt, die sie umgab, verstärkt durch den „Sucher“ ihrer Kamera wahr. Schließlich illustrierten Autoren in zunehmendem Maße ihre Reiseberichte mit privaten Fotografien, deren Motive häufig die optischen Konventionen der
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machten auch die Reisenden auf der Sibirischen Bahn die Überquerung kultureller Grenzen innerhalb des eigenen Landes an der Wahrnehmung von Menschen mit einer exotisch erscheinen Physiognomie oder Tracht auf den Bahnhöfen der Strecke fest. Auch das Weichbild von Städten und Siedlungen entlang der Bahnlinie, aus dem sich zum Beispiel in muslimisch geprägten Regionen Minarette abhoben, wurde von den Augen der Reisenden nach Erkennungszeichen des „Eigenen“ und des „Fremden“ abgesucht.190 Auch in Sibirien führten Reisende bei ihren Fahrten häufig Reiseführer und geografische Handbücher mit sich, denen sie Informationen über die durchquerten Gegenden entnahmen.191 Nicht zuletzt an der Art und Weise, wie russische Reisende das Äußere sowie Kultur und Wirtschaftsweise von Burjaten, Kalmücken oder anderer „Typen“ bzw. „Rassen“ Sibiriens beschrieben, lässt sich der Einfluss entsprechender Werke der Sekundärliteratur festmachen.192 Wie in anderen Reiseberichten, überlagern sich somit auch in den hier betrachteten Zeugnisse die Schilderungen persönlicher Erlebnisse mit Informationen und Eindrücken, die die Autoren (vor oder nach ihrer Fahrt) anderen (Reise-) Texten entnommen hatten. Eine Ausnahme stellt in dieser Beziehung ein Reisebericht dar, der 1910 in der von Studenten der Artillerie-Hochschule in St. Petersburg (Michajlovskoe artillerijskoe učilišče) herausgegebenen Zeitschrift Michajlovec erschien.193 Anders als die meisten Reiseautoren, machte sich der Verfasser dieses Textes nach seiner Rückkehr nicht die Mühe, seine eigenen Erlebnisse mit Informationen aus anderen Quellen zu einem ausführlichen Reisebericht zu kompilieren. Sein Text mit dem bescheidenen Titel Dies und das über meine Reise nach Vladivostok gibt, nach Angaben des Autors, ausschließlich jene Eindrücke wider, die er während seiner Reise in seinem Tagebuch festgehalten hat.194 Da in dem Text ergänzende Informationen – über Bevölkerungszahlen, Wirtschaftsstruktur oder Geschichte der durchfahrenen Regionen – gänzlich fehlen, lässt sich diese Quelle besonders gut nach individuellen Wahrnehmungsmustern eines Passagiers befragen, der im September 1909 in einem Waggon zweiter Klasse von St. Petersburg über Čeljabinsk nach Vladivostok reiste. Warum sich V. Z...skij, offenbar ein junger russischer Offizier, auf die lange Reise von der Ostsee an den Pazifik begab, das heisst ob er in dienstlichem Auf-
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Bilder in Reiseführern reproduzierten. Vgl. z.B. Grekov, Na Dal’nyj Vostok; Alisov, Kraj buduščego, S. 103f. (mit Fotografie eines „Burjaten“). Allerdings war das Fotografieren auf der Sibirischen Bahn verboten, ein Umstand, der Alisov bekannt war, von diesem jedoch ignoriert wurde. Zum Foto-Verbot: Marks, Road to Power, S. 199. Moscheen als räumliche „Marker“ eines fremden Kulturraums werden z.B. erwähnt in: Zskij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 214; Leonov, Po Sibiri, S. 10. Explizit beschreibt z.B. Grekov, Na Dal’nyj Vostok, S. 7f. den Gebrauch des Reiseführers für die Große Sibirische Bahn und der entsprechenden Streckenkarte auf seiner Fahrt. Vgl. z.B. ethnografische „Studie“ zur Kultur der Burjaten in: Alisov, Kraj buduščago, S. 101– 103, bzw. die Ausführungen über diese „Söhne der Steppe“bei Spolitak, Ot Charbina do Cholma, Nr. 136, S. 509. Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego. Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 212.
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trag oder aus persönlicher Neugier unterwegs war, lässt sich dem Bericht nicht entnehmen. Insgesamt schien der Autor seine Reise, die er als „weniger beschwerlich empfand, als erwartet“, jedoch nicht bereut zu haben. Eine solche Fahrt, so sein lapidares Fazit „ist wirklich ganz interessant und vermittelt viele neue Eindrücke und Impressionen, und solche können [bekanntlich] nie schaden.“195 Diese nüchterne Bemerkung am Ende des Textes deutet darauf hin, dass der Reisende der Sibirischen Bahn offenbar nicht jene große symbolische Bedeutung zumaß, die ihr Anfang des 20. Jahrhunderts von offizieller Seite zugeschrieben wurde. Zwar betrachtete auch dieser Passagier Sibirien als eine von „Russland“ getrennte räumliche Einheit. In zahlreichen Punkten deuten seine Reiseeindrücke jedoch darauf hin, dass er die Grenze zwischen den beiden Reichsteilen als nicht (mehr) so bedeutsam wahrnahm, wie noch viele russische Reisende im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zu dieser „Vereinigung“ der beiden räumlichen Einheiten auf seinen mental maps trug offensichtlich auch die Erfahrung der eigenen Zugreise durch Sibirien bei. Wie in nahezu allen Reiseberichten von russischen (und westlichen) Passagieren, die mit der Eisenbahn durch Sibirien fuhren, wird auch in diesem Text die Überquerung des Ural als Moment der Überschreitung der Grenze zwischen dem „europäischen Russland“ und dem „(asiatischen) Sibirien“ definiert.196 Auch die Erwähnung der Pyramide, die 1892 im Zuge der Bauarbeiten an der Sibirischen Bahn in der Nähe der Station Uržumka aufgestellt wurde und auf deren westlicher Seite das Wort „Europa“ und auf deren östlicher Seite „Asien“ eingemeißelt war, fehlt in diesem Reisebericht nicht.197 Dass sich der Autor jenseits des Ural in einer von Russland kulturell verschiedenen Region bewegte, machte er nicht zuletzt an der Beobachtung der Menschen an den Bahnhöfen fest, die sein Zug passierte. Ein Fremdheitsgefühl vermittelten ihm dabei sowohl die Repräsentanten ethnischer 195 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 219. 196 Zur Entstehung der imaginierten Grenze zwischen „Europa“ und „Asien“ im 18. Jahrhundert: Mark Bassin: Russia between Europe and Asia: The Ideological Construction of Geographical Space, in: Slavic Review 50 (1991), Nr. 1, S. 1–17. Zur Wahrnehmung des Ural als Grenze Europas in westlichen Reiseberichten der Zeit vgl. exemplarisch: Henry Lansdell: Through Siberia, London 51883, S. 18; De Windt, Siberia as it is, S. 114; Jefferson, Roughing it in Siberia, S. 1; Michael Myers Shoemaker: The Great Siberian Railway. From St. Petersburg to Pekin, New York, London 1903, S. 33; Zabel, Transsibirien, S. 84; Turner, Siberia, S. 42; Bates, The Russian Road to China, S. 25; Gerrare, Greater Russia, S. 74; Marcus Lorenzo Taft: Strange Siberia. Along the Trans-Siberian Railway. A journey from the Great Wall of China to the Skyscrapers of Manhattan, New York 1911, S. 18, 224. 197 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 214. Zur Erwähnung dieser Landmarke in anderen Reiseberichten vgl. z.B. Spolitak, Ot Charbina do Cholma, Nr. 145, S. 644; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge, S. 110; Leonov, Po Sibiri, S. 16. – Neben diesem Denkmal existierte bereits seit den 1830er Jahren am Scheitelpunkt der Straße („Trakt“) durch das Uralgebirge ein Monument, das bei nach Sibirien verbannten Untertanen des Zaren als „Säule der Tränen“ bekannt war. Vgl. Jaroslav Michaljak: Proščanie u „mogil’nogo kamnja nadeždy“. Ural’skaja granica v vospominanijach poljakov, soslannych v Sibir’, in: Sibir’ v istorii i kul’ture pol’skogo naroda, Moskva 2002, S. 108–113. Abb. der Pyramide in: Thöns, Die Transsibirische Eisenbahn, S. 36.
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Minderheiten als auch die Vielzahl russischer Kolonisten an den sibirischen Stationen. Unfähig einen „Kirgisen“ von einem „Baschkiren“ zu unterscheiden, fühlte sich der Reisende aus St. Petersburg von dem „wilden Äußeren“ der autochthonen Bevölkerung ebenso abgestoßen, wie von den „wie auf Bestellung dummen [russischen] Bauersfrauen“ auf dem Bahnhof von Čeljabinsk und den „tierähnlichen, hungrigen und verwahrlosten Kolonisten (poluživotnyja, golodnye, oborvannye pereselency)“.198 Dieses als „fremd“ empfundene soziale Tableau vermittelte dem Reisenden auf seinem Weg gen Osten den Eindruck, dass „Asien sich langsam, aber immer deutlicher zu erkennen gibt (Azija daet sebja znat’ ispodovol’ ponemnogu)“.199 Endgültig in „Asien“ angekommen fühlte sich der russische Offizier, als in der Nähe der russisch-mandschurischen Grenze immer mehr Chinesen die Bahnsteige bevölkerten. Entsprechend gängiger rassistischer Klischees seiner Zeit, verweist der Autor dabei ebenso auf das verwahrloste Äußere dieser Menschen, wie auf deren unangenehmen Geruch: „Es tauchten immer mehr Chinesen auf, die auf mich sogleich einen äußerst negativen Eindruck machten: Visagen mit breiten Backenknochen, Gestalten, die Affen ähnlicher waren, als Menschen, Dreck, Zöpfe und ein eigenartiger, sehr spezifischer Geruch.“200
Anders als russische Touristen, die in den Westprovinzen persönlich Erfahrungen mit der ethnischen Vielfalt des Reiches machten, beschrieben Reisende in Sibirien das Erlebnis kultureller Differenz seltener als akustische und häufiger als olfaktorische Wahrnehmung.201 Schließlich machte der reisende Z...skoj sein Gefühl, mit der Überquerung des Ural einen „fremden“ Raum betreten zu haben, auch an spezifischen Landschaftsbildern fest, die er bei seiner Fahrt gen Osten durch sein Waggonfenster wahrnahm. Insbesondere das Bild der „grenzenlosen asiatischen Steppen“ war dabei dem Katalog althergebrachter Raumstereotype entlehnt und weckte beim Leser die Erinnerung an die bekannte Dichotomie von (russischem) Wald und (asiatischer) Steppe, die seit dem Mittelalter identitätsstiftende Raumdiskurse in Russland prägte.202 Neben diesen Zeichen, die auf eine Wahrnehmung Sibiriens als von Russland verschiedener Kulturraum hindeuten, finden sich in dem Reisebericht jedoch auch Anhaltspunkte, an denen sich ablesen lässt, dass der Autor auch jenseits des Ural das Gefühl hatte, sich innerhalb der Grenzen eines integrierten politischen und kulturellen Raumes zu bewegen. Heimatliche Gefühle vermittelten ihm dabei äußerst profane Dinge, wie zum Beispiel die Tatsache, dass an vielen Stationen der über knapp 6.000 Werst langen Bahnstrecke zwischen Čeljabinsk und Vladivostok Bauersfrauen auf den Bahnsteigen Lebensmittel und kochendes Wasser zur 198 199 200 201
Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 214f. Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 214. Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 217f. Das Stereotyp des dreckigen und übel riechenden „Asiaten“ findet sich auch in anderen Reiseberichten dieser Zeit. Vgl. z.B. Spolitak, Ot Charbina do Cholma, S. 509. 202 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 216. – Das Bild der grenzenlosen asiatischen Steppe korrespondierte dabei in vielen Berichten mit dem Raumstereotyp der unermesslichen territorialen Größe Sibiriens. Vgl. z.B. Kovalevskij, Po Sibiri, S. 4.
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Zubereitung von Tee zum Verkauf anboten.203 Auch das dreimalige Läuten der Stationsglocke, das an allen Bahnhöfen die Abfahrt des Zuges signalisierte, machte dem Autor deutlich, dass er sich in einem einheitlich strukturierten Verkehrsund Machtraum befand.204 Erwähnenswert fand er auch, dass an den meisten Bahnhofsbuffets die Reisenden ein ähnliches Angebot an Speisen und Getränken erwartete und dass man fast überall russische Nationalgerichte wie die Krautsuppe Šči und die Rotebeete-Suppe Boršč bestellen konnte.205 Schließlich notierte der Autor in seinem Reisetagebuch, an welchen Bahnhöfen es welche regionalen und überregionalen Zeitungen zu kaufen gab.206 Die Tatsache, dass er sich fernab von den Hauptstädten in der eigenen Sprache über das politische Geschehen im Inund Ausland informieren konnte, machte ihm deutlich, dass er sich auch mehrere tausend Werst von Petersburg entfernt innerhalb der Grenzen eines Kommunikationsraumes bewegte.207 Von ähnlich ambivalenten Raumwahrnehmungen, die zwischen der Erfahrung des Bekannten und dem Gefühl der Fremde changieren, legen auch andere russische Reiseberichte über Sibirien aus dem frühen 20. Jahrhundert Zeugnis ab. Vertraute Gefühle vermittelten den Passagieren zum Beispiel die einheitlich gestalteten Bahnhofsgebäude entlang des transkontinentalen Schienenstrangs.208 Die Tatsache, dass auf der gesamten Strecke alle Bahnhofsuhren nach der Uhrzeit des Petersburger Observatoriums gestellt waren, wird dagegen in keinem einzigen Reisebericht erwähnt. Von der Tatsache, dass man bereits im Jahr 1900 mit der Eisenbahn über 6.000 Werst von Moskau nach Irkutsk reisen konnte, ohne ein einziges Mal umsteigen zu müssen, zeigten sich indes zahlreiche Passagiere beeindruckt.209 Wie eng „Sibirien“ mit „Russland“ verbunden war, machten gelehrte Reisende auch an entsprechenden Wirtschaftsdaten, wie zum Beispiel der Getreidemenge fest, die von einem bestimmten Bahnhof in Sibirien jährlich ins russische Kernland exportiert wurden.210 Um die gedankliche Verortung der östlichen Reichshälfte auf den kognitiven Karten globaler Wirtschafts- und Verkehrsströme 203 Ähnliche Beobachtungen findet sich auch bei Grekov, Na Dal’nyj Vostok, S. 11; Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu, Nr. 2, S. 20; Leonov, Po Sibiri, S. 12; Vereščagin, Po Mančžurii, S. 3 und Aleksandr Fedorovič Koppe: Pis’ma s Dal’nego Vostoka, in: Oficerskaja žizn’, 1910, Nr. 221, S. 1809–1810; Nr. 222/223, S. 1832–1834, hier S. 1809. 204 Dass auch in Charbin, wie in Russland, die Stationsglocke bei der Abfahrt eines Zuges dreimal geläutet wurde, fand z.B. Spolitak erwähnenswert. Ders. Ot Charbina do Cholma, S. 445. 205 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego. Ähnliche Beobachtungen bei: Koppe, Pis’ma s Dal’nego Vostoka, S. 1809. 206 Zum Zeitungsangebot an Bahnhöfen entlang der Sibirischen Bahn vgl. auch: Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu, Nr. 3, S. 3, Nr. 4, S. 11, Nr. 5, S. 13, Nr. 5, S. 15; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge, S. 494. 207 Z-skij, Koe-čto iz putešestvija moego, S. 215–219. 208 Z.B. Leonov, Po Sibiri, S. 25; Grekov, Na Dal’nyj Vostok, S. 11. 209 Z.B. Vereščagin, Po Mančžurii, S. 1, 4. 210 Z.B. Leonov, Po Sibiri, S. 25, 30; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge, S. 510f. Hier lässt sich der Einfluss entsprechender Raumdiskurse nachweisen, in denen Russland als integrierter und von Eisenbahnen vernetzter Wirtschaftsraum vorgestellt wurde. Vgl. dazu Kap. 2.2.
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waren indes nur wenige Reisende bemüht.211 Hier zeigt sich, dass das Bild von der Sibirischen Bahn als Weltverkehrsader der Zukunft, das den Besuchern der Weltausstellung von Paris vermittelt werden sollte, vor allem auf ein internationales Publikum abzielte und auf das Sibirien-Bild gewöhnlicher russischer Reisender offenbar keinen nennenswerten Einfluss hatte.212 Trotz der neuen Möglichkeiten, Sibirien im Zeitalter der Dampfmaschine vergleichsweise bequem zu bereisen und die östliche Reichshälfte als integralen Bestandteil eines einheitlichen Verkehrsraumes zu erfahren, blieb die Großregion jenseits des Ural für die meisten russischen Reisenden ein fremdes Land. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass den meisten Menschen im russischen Mutterland Sibirien auch noch zu Beginn dess 20. Jahrhunderts vor allem als Ort der Verbannung von Schwerverbrechern und politisch missliebiger Personen ein Begriff war.213 Reiseberichte, in denen auch über den Transport von Sträflingen in Waggons der Sibirischen Eisenbahn berichtet wurde, waren nicht dazu angetan, an diesem Bild der östlichen Reichshälfte etwas substantiell zu verändern.214 Andere Reisende berichteten darüber, dass sie in Sibirien auch jene Orte besucht hätten, in denen die Verantwortlichen des Dekabristen-Aufstandes von 1825 mit ihren Familien oder der Schriftsteller Fedor Dostoevskij in den 1850er Jahren in Verbannung gelebt hatten.215 Auch durch solche Hinweise wurde in den Köpfen der russischen Leserschaft das Bild Sibiriens als Ort der Verbannung konserviert. Zum anderen trugen Berichte russischer Reisender über den Transport bäuerlicher Kolonisten aus den west- und zentralrussischen Gebieten nach Sibirien nur bedingt zur Verbesserung des Bildes der östlichen Reichshälfte in der russischen Öffentlichkeit bei. Zwar konnten sich die meisten Reisenden, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Schienen der Sibirischen Eisenbahn fortbewegten, der Faszination nicht entziehen, die von der Dimension und Dynamik der Koloni-
211 Z.B. Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge, S. 511. 212 Vgl. Kap. 2.6.3. 213 Zur Geschichte der Verbannungspraxis nach Sibirien vgl. Markus Ackeret: In der Welt der Katorga. Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin), München 2007 (= Mitteilungen des Osteuropa-Instituts München, Nr. 56), S. 35–44. Das „Gesetz vom 12. Juni 1900“, das die Praxis der gerichtlichen und administrativen Verbannung für allgemeine Straftatbestände stark einschränkte, wurde von manchen Zeitgenossen als Indiz für die Geburt des „neuen Sibiriens (novyj Sibir’)“ gefeiert (z.B. A. Vinogradov: V dal’nych krajach: Putevye zametki i vpečatlenija, Moskva 1901, S. 86). Schwerverbrecher und „politische“ Delinquenten konnten jedoch nach wie vor zur „Ansetzung“ bzw. „Ansiedlung (ssylka na poselenie/vodvorenie)“ oder zur Zwangsarbeit (katorga) nach Sibirien verbannt werden. (Ackeret, Welt der Katorga, S. 37.) Auf diesem Weg überquerten zwischen 1901 und 1914 insgesamt 50.000 Menschen den Ural in östlicher Richtung. Vgl. Melville, Steffens, Binnenmigration, S. 1067. 214 Vgl. z.B. Leonov, Po Sibiri, S. 39, 43–45, 56; Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge, S. 495; Vereščagin, Po Mančžurii, S. 6. 215 Vgl. z.B. Leonov, Po Sibiri, S. 28, 46; Alisov, Kraj buduščago, S. 99f.
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sationsbewegung in die asiatischen Provinzen des Reiches ausging.216 Es gab kaum einen Reisenden, der nach seiner Rückkehr aus Sibirien nicht von einer Begegnung mit bäuerlichen Übersiedlern berichtet hätte, die sich an Sammelpunkten und den Sanitärstationen entlang der Bahnlinie konzentrierten und die jährlich zu Hunderttausenden in umgerüsteten Güterwaggons dem „Zukunftsland“ Sibirien entgegen fuhren.217 Anders als in der offiziösen und optimistischen Darstellung der Kolonisation Sibiriens, die auf der Weltausstellung von Paris verbreitet wurde und die auch Eingang in die Reiseführer für die Große Sibirische Bahn fand, zeichneten viele Autoren, die nach ihrer Fahrt durch Sibirien von ihren persönlichen Beobachtungen berichteten, ein vergleichsweise düsteres Bild dieses Vorgangs. Während in offiziellen Darstellungen der Erschließung Sibiriens als große Erfolgsgeschichte gezeichnet wurde, in der die Sibirische Eisenbahn eine Schlüsselrolle spielte, schlugen die meisten Reiseautoren kritischere Töne an. In diesen Schilderungen liest man selten von blühenden Kolonistendörfern, die als „Inseln europäischer Kultur“ zur Festigung des „russischen Elements“ im Osten des Reiches beitrugen. Der typische russische Kolonist, von dem hier die Rede ist, gleicht nicht jenem Fackelträger der russischen mission civilizatrice, von dem Bürokraten in St. Petersburg träumten. Vielmehr tritt er dem Leser als ein verarmter und mitunter äußerst „unzivilisierter“ Bauer entgegen, der aus purer Verzweiflung den Weg mit seiner Familie nach Sibirien angetreten hatte und der in der frontierGesellschaft des Fernen Ostens keine Hemmung hatte, sich mit Vertretern fremder Völkerschaften zu „vermischen“.218 Irritiert stellten Beobachter auch fest, dass sich in den Güterwaggons der Kolonisten-Züge Zigeuner, Ukrainerinnen (chochluški), Großrussen, Moldauerinnen, Polinnen, Weißrussen und viele andere „Nationalitäten (nacional’nosti)“ dicht an dicht drängten und der Anblick Assoziationen an eine wahre Völkerwanderung weckte.219 Viele Reiseautoren fühlten sich beim Anblick des Völkergemischs auf den sibirischen Bahnhöfen an den „Menschenandrang und das Stimmengewirr [des Turmbaus] zu Babel (vavilonskoe stolpotvorenie i smeščenija jazykov)“ erinnert.220 Bilder dieser Art waren nicht dazu angetan, bei russischen Lesern die Vorstellung des Zarenreiches als „große und unteilbare Einheit“ zu festigen. Vielmehr haben die Reiseberichte jener russischer Passagiere, die sich im frühen 20. Jahrhundert mit dem Zug auf den Weg ins östliche Sibirien machten, die Wahrnehmung der östlichen Reichshälfte als eine
216 Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj železnoj doroge, S. 109–113, 122–124, 506; Alisov, Kraj buduščago, S. 106f.; Spolitak, Ot Charbina do Cholma, Nr. 145, S. 643; Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu, Nr. 2, S. 38, Nr. 3, S. 10, Nr. 5, S. 18. 217 Vereinzelt wird auch in russischen Reiseberichten Sibirien „Zukunftsland“ genannt. Z.B. Alisov, Kraj buduščego; Vinogradov, V dal’nych krajach, S. 86. Häufiger trifft man dieses Bild jedoch in westlichen Sibirienberichten, so zum Beispiel in dem berühmten Werk von Fridtjof Nansen: Sibirien. Ein Zukunftsland, Leipzig 1914. 218 Vgl. z.B. Leonov, Po Sibiri, S. 6; Grekov, Na Dal’nyj Vostok, S. 8. 219 Spolitak, Ot Charbina do Cholma, Nr. 145, S. 643; Kljuge, Ot r. Eniseja v Moskvu, Nr. 2, S. 38. 220 Alisov, Kraj buduščago, S. 105.
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„Kolonie“ mit einer eigenen, von Russland verschiedenen Entwicklungsdynamik vermutlich eher verstärkt als geschwächt.221 Raumbilder zwischen Integration und Fragmentierung Das Projekt der verkehrstechnischen Erschließung des größten Kontinentalreiches der Erde übte auf viele Untertanen des Zaren eine große Faszination aus. An zahlreichen Reiseberichten aus der zweiten Hälfte des 19. und aus dem frühen 20. Jahrhundert lässt sich ablesen, wie stark die Vernetzung des Landes beim mobilen Teil der Bevölkerung Vorstellungen von der territorialen Gestalt des Imperiums verändert hat. So trug zum Beispiel die Entwicklung der Stadt Moskau zum Verkehrsknotenpunkt des Streckennetzes im europäischen Teil des Reiches zur Festigung der Überzeugung bei, die alte Hauptstadt sei das „wahre Zentrum“ und das „Herz (serdce)“ des Landes.222 Als beispielsweise der Tourist Al’fonosov aus Kazan’ im Jahr 1902 den Turm Ivan Velikij im Moskauer Kreml’ bestieg und seinen Blick über die Häuser schweifen ließ, sah er vor seinem inneren Auge, dass zehn Eisenbahnlinien wie „Radialachsen (desjati železnodorožnych radiusov)“ diese im „Mittelpunkt gelegene Stadt (grad sredinnyj)“ „mit den Randgebieten Russlands (s okrainami Rossii)“ verbinden.223 Von seinem erhöhten Aussichtspunkt konnte der Besucher diese Verkehrsachsen nicht ausmachen. Es war das Bild von Moskaus Position auf der Streckennetzkarte des Reiches, das ihm in dieser Situation half, die alte Hauptstadt (und sich selbst) auf seinen mental maps zu verorten. Auch die kommunikativen und gedachten Verbindungen zwischen der Peripherie des Reiches und der Hauptstadt St. Petersburg konnten durch den Bau des Schienen- (und Telegrafennetzes) gestärkt werden. So rief zum Beispiel eine Inschrift am Bahnhofsgebäude von Vladivostok den Reisenden ins Bewusstsein, dass dieser Ort mit einem 9.877 Werst (ca. 10.568 Kilometer) langen Schienenstrang mit der imperialen Metropole an der Neva verbunden ist, ein Raumbild, das bei Betrachtern seine Wirkung nicht verfehlte.224 Auch an der Beschwerdepraxis von Reisenden, die auf dem weitläufigen Schienennetzes des Zarenreiches unterwegs waren, lässt sich die prominente Stellung St. Petersburgs auf den kognitiven Karten russischer Zugpassagiere ablesen. So zeugen Akten des Verkehrsministeriums aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert davon, dass sich unzufriedene Fahrgäste – deren Zug zum Beispiel in der winterlichen Steppe in einer Schneewehe steckengeblieben war oder die seit Tagen in der Provinz festsaßen, weil in allen Zügen die Waggons überfüllt waren – häufig per Eisenbahn-Telegraf 221 In diesen Prozess spielte auch die Berichterstattung über die außenpolitischen Entwicklungen im Fernen Osten zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Stichworte: „Boxer“-Aufstand, russischjapanischer Krieg) mit hinein. 222 Zu diesem Raumbild vgl. auch Kap. 2.3. 223 Al’fonosov, Ot Kazani do Berlina, S. 655. 224 Vgl. z.B. Anton Teofilovič Snarskij: Na Dal’nyj Vostok i obratno: Putevye očerki, in: ders.: Moi dosugi. Putevye očerki i rasskazy, Sankt Peterburg 1907, S. 90–113, hier S. 100; Cimmerman, Po Velikoj Sibirskoj doroge, S. 109.
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direkt an den Verkehrsminister im fernen St. Petersburg wandten.225 Einem solchen Schritt lag stets die (räumliche) Vorstellung zugrunde, dass die Probleme des alltäglichen Schienenverkehrs in der Provinz nicht dezentral, d.h. von der Leitung der entsprechenden Bahngesellschaft zu lösen waren, sondern dass für die Beseitigung solcher Missstände die zentrale Reichsbehörde in St. Petersburg Verantwortung trage. Interessant an dieser Kommunikationspraxis ist nicht nur, dass die Beamten des MPS in der Regel tatsächlich auf die Klagen der Zugreisenden reagierten und den Leitungen der Bahngesellschaften vor Ort per Telegramm die Beseitigung der angesprochenen Missstände befahlen. Aufschlussreich ist zudem, dass die Beschwerdeführer selbst durch den von ihnen gewählten Kommunikationsweg die hierarchische Struktur der politisch-räumlichen Ordnung des Zarenreiches reproduzierten und dabei die vorgestellte Position der Reichshauptstadt als Zentrum aller gesellschaftlich und politisch relevanten Entscheidungen festigten. Die Analyse der Berichte russischer Passagiere, die in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die westlichen Provinzen Russlands sowie Sibirien bereisten, hat auf der anderen Seite jedoch deutlich gemacht, dass die persönliche Erfahrung der geografischen und kulturellen Vielfalt des Landes bei vielen Zeitgenossen das Bild des Zarenreiches als „großes und unteilbares Ganzes“ eher erschüttert als konsolidiert hat. Das kollektive Erlebnis (kultureller) Differenz, das in dieser Dimension erst durch den erhöhten Grad geografischer Mobilität des Eisenbahnzeitalters möglich wurde, gehörte in Russland zu einer Schlüsselerfahrung des modernen Zeitalters. Die Eisenbahnreise revolutionierte im Zarenreich somit nicht nur Vorstellungen von Zeit und (geografischem) Raum in einem allgemeinen und abstrakten Sinn. Die persönliche Begegnung einer wachsenden Anzahl von Untertanen des Zaren mit dem Phänomen kultureller Differenz im eigenen Land trug darüber hinaus dazu bei, dass sich immer mehr Menschen sowohl mit den kohäsiven Kräften als auch mit den zentrifugalen Strömungen innerhalb des Landes auseinandersetzen. So waren die kollektive Erfahrung kultureller Differenz und die Genese nationaler Diskurse und entsprechender politischer Bewegungen zwei eng miteinander verbundene Prozesse. Reisende auf dem Schienennetz des Russländischen Reiches, die sich mit der ethnischen und sozialen Vielfalt ihres Reiches konfrontiert sahen, waren so nicht nur Beobachter der kulturellen und politischen Umbrüche ihrer Zeit, sondern selbst Akteure in einem komplizierten und zum Teil widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess mit offenem Ausgang.
225 Vgl. z.B. RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 267, 352, 413, 498, 554 (Beschwerden an die Upravlenie železnych dorog des MPS aus den Jahren 1909–1913).
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4.3. MOBILITÄT DES „VOLKES (NAROD)“ Bei der Lektüre von Reiseberichten russischer Eisenbahnpassagiere ist stets zu berücksichtigen, dass die Autoren dieser Texte in mehrfacher Hinsicht eine Minderheit der mobilen Bevölkerung des Landes repräsentierten. Die meisten Schilderungen dieser Art stammen von relativ gebildeten, männlichen Untertanen aus den städtischen Zentren im europäischen Russland, die sich eine Fahrt mit der Eisenbahn – oft sogar in der ersten oder zweiten Klasse – leisten konnten. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Zeugnisse kaum als Quellen für die Untersuchung von Reisepraktiken und Strukturen der Raumwahrnehmung jener Passagiere eignen, die die Waggons dritter und vierter Klasse oder die Güterwaggons der KolonistenZüge nach Asien bevölkerten und die seit den 1850er Jahren in Russland die überwältigende Mehrheit der Fahrgäste der Eisenbahn bildeten. Leider ist vergleichbares Quellenmaterial, das Aufschluss über den Wandel sozialer Räume im Eisenbahnzeitalter aus der Perspektive der ärmeren, mehrheitlich illiteraten und unterprivilegierten sozialen Schichten geben würde, nicht in vergleichbarer Quantität überliefert. Die schwierige Quellenlage sollte jedoch nicht davon abschrecken, die Frage nach dem Wandel von Mobilitätspraktiken und von Strukturen der Raumwahrnehmung auch für jene Fahrgäste der russischen Eisenbahnen zu diskutieren, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg fast 90 % aller Zugpassagiere im Zarenreich stellten. Als Untersuchungsgegenstand bietet sich hier exemplarisch die wachsende Zahl bäuerlicher Kolonisten an, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jährlich zu Hunderttausenden ihren angestammten Wohnort im europäischen Russland verließen, um ihr Glück in Sibirien bzw. Zentralasien zu suchen. Im Unterschied zum sogenannten otchodničestvo, d.h. der Saisonmigration der ländlichen Bevölkerung zwischen ihrem Wohn- und einem entfernt gelegenen Arbeitsort, erfolgte die Wanderung bäuerlicher Kolonisten in die transurale Peripherie des Reiches gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich über die Schienenstränge der Eisenbahn. Während bäuerliche Wanderarbeiter auch noch im frühen 20. Jahrhundert in großer Zahl die Distanz zwischen ihrem Dorf und ihrem saisonalen Einsatzort zu Fuß zurücklegten, nahmen die Übersiedler (pereselency) für ihre oft mehrere tausend Werst lange Reise nach Sibirien mehrheitlich die Transportdienste des dampfgetriebenen Verkehrsmittels in Anspruch.226 Tatsächlich lässt sich die Entwicklungsdynamik der bäuerlichen Migration aus den europäischen in die asiatischen Provinzen des Zarenreiches seit den 1890er Jahren nur mit Blick auf die verkehrstechnische Anbindung der transuralischen Gebiete an das russische Mutterland verstehen. Zwar hatten sich russische Bauern auch schon vor dem Baubeginn der Sibirischen Bahn auf den Weg gen Osten gemacht, ihre Anzahl war jedoch noch vergleichsweise gering. So wa226 Zum otchodničestvo vgl. u.a. Melville, Bevölkerungsentwicklung, S. 1059–1063 (mit weiterführender Literatur). Zur Zurückhaltung bäuerlicher Wanderarbeiter, die Dienste der Eisenbahn in Anspruch zu nehmen, vgl. Kap. 3.3. und Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung, S. 290.
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ren zwischen 1861 und 1885 insgesamt rund 300.000 Siedler nach Sibirien (einschließlich der fernöstlichen Region und dem Gebiet von Akmolinsk) gezogen, was einem migrationsbedingten Bevölkerungszuwachs in der Region von jährlich 12.000 Menschen entsprach. Ihnen folgten in den Jahren 1886 bis 1895 jährlich weitere 61.000 Kolonisten. Einen sprunghaften Anstieg erlebte die Siedlungswelle über den Ural nach der Eröffnung der ersten Teilstücke der Sibirischen Bahn im Jahr 1896. Zwischen 1896 und 1900 registrierten die zarischen Behörden bereits einen jährlichen Zustrom von 134.000 Kolonisten, in den Jahren 1906 bis 1914 wuchs auf diesem Weg die Bevölkerung in der östlichen Reichshälfte sogar um rund zwei Millionen Menschen (220.000 pro Jahr). Insgesamt fanden zwischen 1861 und 1914 rund 3,8 Millionen Untertanen des Zaren in Sibirien eine neue, dauerhafte Heimat.227 Der sprunghafte Anstieg der Anzahl bäuerlicher Kolonisten, die in Sibirien ihr Glück suchten, spiegelte nicht nur die verbesserte verkehrstechnische Erschließung der östlichen Provinzen, sondern auch eine gewandelte Haltung der zarischen Regierung gegenüber dem Phänomen der russischen Binnenkolonisation.228 Während die Petersburger Behörden noch in den 1860er und 1870er Jahren mit Argwohn darauf blickten, dass Jahr für Jahr tausende Bauern ungeregelt die europäischen Provinzen des Reiches verließen, um in der Steppenregion und in Westsibirien freies Ackerland zu suchen, setzte sich Anfang der 1880er Jahre langsam die Erkenntnis durch, dass der Staat diese „wilde Kolonisation“ nicht stoppen, sondern allenfalls regulieren könne.229 Diese neue Haltung kam zum einen in der Verabschiedung des Umsiedlungsgesetzes vom 13. Juli 1889 zum Ausdruck, in dem die Kolonisation dünn besiedelter Grenzgebiete und die Abwanderung von Menschen aus Regionen mit Überbevölkerung und Landarmut als Ziele
227 Leonid M. Goryushkin: Migration, Settlement and the Rural Economy of Siberia, 1861–1914, in: Alan Wood (Hg.): The History of Siberia. From Russian Conquest to Revolution, London 1991, S. 140–157, hier S. 140f. – In der Literatur finden sich zum Teil auch noch größere Zahlen. So fanden laut Melville zwischen 1861 und 1914 6,5 Millionen bäuerliche Kolonisten in den Regionen östlich des Ural eine neue Bleibe, von diesen seien rund fünf Millionen zwischen 1897 und 1914 eingewandert. Allein in den Jahren 1907 bis 1909 habe der migrationsbedingte Bevölkerungszuwachs in dieser Region über zwei Millionen Siedler betragen. Vgl. ders. Bevölkerungsentwicklung, S. 1066. Auch Marks beziffert die Anzahl von russischen, ukrainischen und weißrussischen Bauern, die zwischen 1891 und 1914 in Sibirien siedelten, auf ca. fünf Millionen Menschen. Ders., Road to Power, S. 155. 228 Vgl. dazu jüngst: Alberto Masoero: Territorial Colonization in Late Imperial Russia. Stages of Development of a Concept, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 14 (2013), H. 1, S. 59–91. Zum Topos der „inneren Kolonisation” in nationalen russischen Debatten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Susi Frank: „Innere Kolonisation“ und frontierMythos. Räumliche Deutungskonzepte in Russland und den USA, in: Osteuropa 53 (2003), H. 11, S. 1658–1675. 229 Alexander Kaufmann: Das russische Übersiedlungs- und Kolonisationsgesetz vom 6./19. Juni 1904 und die Aussichten der inneren Kolonisation in Rußland, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, N.F. 22 (1906), S. 371–423, hier S. 371f. Sunderland, ‘Colonization Question’, S. 214.
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staatlicher Politik definiert wurden.230 Auch die Einrichtung des interministeriellen Komitees der Sibirischen Eisenbahn im Jahr 1892, dessen Aufgabe es war, nicht nur den Bau der Transkontinentalbahn zu koordinieren, sondern daneben auch die Infrastruktur für eine geordnete Kolonisation der östlichen Reichshälfte zu schaffen, deutete in diese Richtung.231 Schließlich machte die Reichsregierung mit der Einrichtung einer dem Innenministerium unterstellten Verwaltungsbehörde für Binnenkolonisation (Pereselenčeskoe upravlenie) im Jahr 1896 deutlich, dass sie den Prozess der „wilden Migration“ in die asiatische Peripherie nun mit allen verfügbaren Mitteln steuern wolle.232 Ein wichtiges Instrument, das den Behörden im späten 19. Jahrhundert bei der Realisierung ihrer Vision einer „korrekten“, d.h. für den Staat möglichst „nützlichen“ Binnenkolonisation helfen sollte, war – neben einer auf statistischen Daten beruhenden staatlichen „Planung“ – das Verkehrsmittel der Eisenbahn.233 Wie oben bereits dargelegt, plädierte insbesondere Finanzminister Vitte dafür, den Bau der transkontinentalen Eisenbahn durch Sibirien auch für die systematische Besiedelung der östlichen Peripherie des Zarenreiches zu nutzen. Dadurch sollte zum einen dem Problem der Überbevölkerung in den europäischen Provinzen des Landes entgegengewirkt und zum anderen das „russische Element“ in den strategisch wichtigen und außenpolitisch sensiblen asiatischen Randgebieten gestärkt werden.234 Die Eisenbahn stellte sich staatlichen Planern auch in Russland als ein ideales Mittel dar, bäuerliche Kolonisten in großer Zahl relativ punktgenau in geografisch weit entfernte Regionen des Reiches zu lenken und dabei den Migrati-
230 Vgl. zu diesem Gesetz u.a.: Sunderland, Taming the Wild Field, S. 179. Wortlaut des Zakon 13 ijulja 1889 g. O pereselenii na kazennye zemli, in: Sibirskie pereselenija, Bd. 2, S. 61–68. Zur Reform des Kolonisationsgesetzes von 1889 und zu den Bestimmungen des neuen Gesetzes vom 6.6.1904: Kaufmann, Das russische Übersiedlungs- und Kolonisationsgesetz; Judge, Peasant Resettlement. 231 Sunderland, Taming the Wild Field, S. 179; Marks, Road to Power, S. 162; Treadgold, Great Siberian Migration, S. 108–112; Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 254; Il’in, Sozdanie velikogo sibirskogo puti, Bd. 1, S. 15–18; Michail Konstantinovič Čurkin: Pereselenija krestjan černozemnogo centra Evropejskoj Rossii v Zapadnuju Sibir’ vo vtoroj polovine XIX – načale XX vv. Determinirujuščie faktory migracionnoj mobil’nosti i adaptacii, Omsk 2006, S. 171–177; Anatolij Remnev: Rossijskaja vlast’ v Sibiri i na Dal’nem vostoke: Kolonializm bez Ministerstva kolonij – russkij „Sonderweg“?, in: Martin Aust, Ricarda Vulpius, Aleksej Miller (Hg.): Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917), Moskva 2010, S. 150–181, hier S. 167–173; Statut des KSŽD (vom Zar bestätigt am 21.2.1893), in: Sibirskie pereselenija, Bd. 2, S. 72–74. 232 Čurkin, Pereselenija, S. 177. Villard Sanderlend [W. Sunderland]: Ministerstvo Aziatskoj Rossii: Nikogda ne suščestvovavšee, no imevšee dlja ėtogo vse šansy kolonial’noe vedomstvo, in: Aleksej Miller, Martin Aust, Ricarda Vulpius (Hg.): Imperium inter pares. Rol' transferov v obraze i funkcionirovanii Rossijskoj imperii, Moskva 2010, S. 105–149, hier S. 129 (mit weiterführenden Literaturangaben). Die Pereselenčeskoe upravlenie wurde 1905 dem Landwirtschaftsministerium unterstellt. Vysšie i central’nye gosudarstvennye učreždenija Rossii, Bd. 2, S. 55, Bd. 3, S. 91f. 233 Sunderland, Taming the Wild Field, S. 185. 234 Vgl. dazu ausführlich: Kap. 2.6.3. und Sunderland, ‘Colonization Question’, S. 224.
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onsprozess an bestimmten neuralgischen Punkten des Verkehrsnetzes zu kontrollieren, statistisch zu erfassen und medizinisch zu überwachen.235 Um die Ströme bäuerlicher Kolonisten von der Straße und dem Fluss auf die Schiene zu lenken, unternahm die zarische Bürokratie unterschiedliche Maßnahmen. Zum einen setzten die Leitungen der staatlichen Bahngesellschaften, die für den Verkehr auf den einzelnen Teilstrecken der Sibirischen Eisenbahn verantwortlich zeichneten, jährlich im Frühjahr und Sommer spezielle „Kolonisten-Züge (pereselenčeskie poezda)“ ein, mit denen Siedler in umgebauten Güterwaggons (tepluški) gemeinsam mit ihren Familien und ihrem Hausrat den Weg gen Osten antreten konnten.236 Zum zweiten sorgte die Einrichtung eines ermäßigten „Kolonisten-Tarifs (pereselenčeskij tarif)“ im Jahr 1893 dafür, dass sich eine arme bäuerliche Familie die zum Teil mehrere tausend Werst lange Fahrt aus dem europäischen ins asiatische Russland überhaupt leisten konnte.237 Die Ausgabe eines solchen Fahrscheins war an bestimmte Auflagen gekoppelt. So musste ein Siedler zum Beispiel nachweisen, dass ihn seine Heimatgemeinde (obščina) aus der Solidargemeinschaft entlassen und dass die verantwortlichen ländlichen Behörden 235 Zur Bedeutung ausländischer Vorbilder (inbesondere der USA und Kanadas) in diesem Kontext: Pereselenija i poselenija v svjazi s postrojkoju Sibirskoj železnoj dorogi, Sankt Peterburg 1891, S. 1, 36. Vgl. ausführlicher: Frithjof Benjamin Schenk: Imperial Inter-Rail: Vlijanie mežnacional’nogo i mežimperskogo vosprijatija i soperničestva na politiku železnodorožnogo stroitel’stva v carskoj Rossii, in: Aleksej Miller, Martin Aust, Ricarda Vulpius (Hg.): Imperium inter pares. Rol' transferov v obraze i funkcionirovanii Rossijskoj imperii, Moskva 2010, S. 354–380, hier S. 368–370. Zur „Eisenbahnkolonisierung“ als besondere Form der Grenzkolonisation vgl. Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 32003, S. 11. 236 Als Vorbild dienten hier umgerüstete Güter- bzw. Viehwaggons, die von der zarischen Armee für den Transport von Rekruten genutzt wurden. Diese mit primitiven Bänken ausgerüsteten Waggons durften mit max. dreißig (im Sommer mit 25) Personen besetzt werden und waren in der kalten Jahreszeit mit einem Kanonen-Ofen (daher die Bezeichnung „tepluška“) auszustatten. Richtlinien für den Umbau von Güterwaggons für den Transport von Menschen finden sich bereits in der Verordnung für den Transport von Truppen (Položenie o perevozke vojsk) vom 13.12.1862, abgedruckt in: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 526–612 und Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1 (1874), S. 219–278. Zur Ausstattung einer tepluška zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Ljubimov, Tepluški; Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem, S. 82f.; CGIA SPb f. 1374, op. 1, ed. chr. 524, l. 8ob. Zum Einsatz von tepluški für den Transport von Kolonisten nach 1906: Tjukavkin, Velikorusskoe krest’janstvo, S. 242–249. 237 Kolonisten zahlten bis 1898 pro Person/Werst: 0,3 Kop., für Gepäck pro Pud/Werst: 1/75 Kop. und für mitgeführtes Vieh pro Kopf/Werst: 0,5 Kop. Vgl. Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem, S. 82. 1898 wurde der Kolonistentarif erneut gesenkt. Nun kostete z.B. eine Fahrt über 5.000 Werst pro Person nur noch 6,20 Rub. Ebd., S. 83. Vgl. auch: M. V. Šilovskij: Sistema l’got dlja pereseljajuščichsja v Sibir’ (konec XIX – načalo XX vv., in: A. Lamin (Hg.): Ėtnokul’turnye vzaimodejstvija v Sibiri (XVII–XX vv.) Tezisy dokladov i soobščenij meždunarodnoj naučnoj konferencii, Novosibirsk 2003, S. 81–85, hier S. 82. Eine Entfernungs- und Preistabelle für Fahrten bäuerlicher Kolonisten im Jahr 1909 aus dem europäischen ins asiatische Russland findet sich in: Spravočnaja knižka dlja chodokov i pereselencev na 1909 god s putevoj kartoj Aziatskoj Rossii, hg. von Pereselenčeskoe upravlenie, Sankt Peterburg 1909, S. 89–94.
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(zemskij načal’nik) seinen Abzug genehmigt hatten. Zudem musste ein Kolonist beim Kauf seines verbilligten Billets eine Bescheinigung vorlegen, aus der hervorging, dass für ihn und seine Familie in der Zielregion eine entsprechende Landparzelle zur Verfügung stand.238 Mit dieser Regelung wollte die Regierung dem Problem der zahlenmäßig bedeutsamen Rückwanderung enttäuschter Kolonisten aus Sibirien entgegenwirken, deren Übersiedlung in die östliche Reichshälfte häufig daran scheiterte, dass sie kein Land zur Gründung einer bäuerlichen Wirtschaft fanden. Um hier Abhilfe zu schaffen, unterstützte die Reichsregierung die Entsendung von Kundschaftern (chodoki), die im Auftrag von übersiedlungswilligen Bauern aus dem europäischen Russland versuchten, in Sibirien freie Landparzellen zu identifizieren und diese für Ihre Auftraggeber zu reservieren. Auch diese chodoki hatten das Recht, auf der Eisenbahn zum günstigen Kolonisten-Tarif zu reisen.239 Zum dritten waren die Verwaltungen der Teilstrecken der Sibirischen Eisenbahn angewiesen, bäuerlichen Kolonisten an allen Stationen heißes Wasser zur Zubereitung von Tee und warmen Speisen kostenlos zur Verfügung zu stellen.240 Zudem unterhielt das Komitee der Sibirischen Eisenbahn an bestimmten Bahnhöfen sogenannte Sanitäts-Stationen, an denen bedürftige Siedler medizinische Hilfe in Anspruch nehmen konnten und Kinder kostenlos mit Milch und Brot versorgt wurden.241 Schließlich hatte das KSŽD auch den Auftrag, an wichtigen Kreuzungspunkten der Bahnlinie mit schiffbaren Flüssen oder größeren Straßen Versorgungsstationen einzurichten, an denen bäuerliche Kolonisten landwirtschaftliche Geräte erwerben konnten. – Dieses weit gefächerte Spektrum illustriert, in welchem Umfang die Reichsregierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bemüht war, das Instrument der Sibirischen Eisenbahn zur systematischen und „wohl geordneten“ Besiedelung der östlichen Reichshälfte zu nutzen. Das schienengebundene Verkehrsmittel bot sich dem Staat darüber hinaus zu einer effektiven Überwachung dieses umfassenden Migrationsprozesses an. Noch in den 1870er und 1880er Jahren war die Fortbewegung bäuerlicher Kolonisten auf dem Land-, Fluss- oder Seeweg von staatlichen Stellen nur äußerst schwer zu kontrollieren und erfassen. Die Umlenkung der Siedlerströme auf das Gleis einer einzigen Transkontinentalbahn eröffnete der Verwaltung nun die Möglichkeit, die an diesen Wanderungen beteiligten Menschen systematisch zu registrieren, medi238 Kaufmann, Das russische Übersiedlungs- und Kolonisationsgesetz, S. 375. Seit 1897 war es Kolonisten verboten, sich auf die Reise nach Sibirien zu begeben, wenn sie nicht vorher einen Kundschafter zu Identifizierung einer geeigneten Landparzelle ausgesandt hatten. Tjukavkin, Velikorusskoe krest’janstvo, S. 223; Fedorov, Spravočnaja knižka, S. 322–324. Am Problem der „wilden“ Kolonisation, d.h. der Landnahme außerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen, änderte sich dadurch jedoch nur wenig. 239 Zu den chodoki vgl. jüngst: Lewis Siegelbaum: Those Elusive Scouts. Pioneering Peasants and the Russian State, 1870s–1950s, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 14 (2013), H. 1, S. 31–58. 240 Krasnov, Sibir’ pod vlijaniem, S. 82f. 241 Aleksandr A. Kaufman: Pereselenie i kolonizacija, St. Peterburg 1905, S. 101f.; Solov’eva: Pereselenie krest’jan, S. 22.
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zinisch zu untersuchen und dann gezielt in von staatlicher Seite als „bedürftig“ identifizierte Zielregionen zu lenken. Das „Nadelöhr“, das alle Kolonisten auf ihrem Weg aus dem europäischen Russland nach Sibirien passieren mussten, und das sich daher besonders gut als Ort für die Einrichtung eines zentralen Kontrollpunktes anbot, war die Stadt Čeljabinsk an der östlichen Seite des Ural-Gebirges. Durch den Bau der Sibirischen Eisenbahn und die Einrichtung eines zentralen Sammellagers für Kolonisten in der Nähe des Bahnhofs entwickelte sich Čeljabinsk nach 1893 zur „Hauptstadt der Kolonisationsbewegung (stolica pereselenčeskogo dviženija)“ nach Sibirien.242 Der pereselenčeskij punkt in Čeljabinsk, zunächst eine einfache Barackensiedlung auf einer Fläche von 350 Quadratmetern verfügte ab 1898 über einen eigenen Gleisanschluss und Bahnsteige für die Abfertigung von Kolonisten-Zügen und wuchs bis 1914 zu einer „Stadt in der Stadt“, die sich über zehn Desjatinen (ca. 11 ha.) erstreckte und über hundert Gebäude und Einrichtungen zählte.243 Neben den Kontoren der Verwaltungsbehörde für Binnenkolonisation gab es hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts einfache Unterkünfte für bäuerliche Siedler, Kantinen, Krankenhäuser, eine Apotheke, Wäschereien, Badehäuser und Stallungen sowie eine Kirche und eine Grundschule. In der Hochzeit der Kolonisation nach Sibirien hielten sich hier bis zu 30.000 Menschen gleichzeitig auf. Allein in den Jahren zwischen 1894 und 1909 passierten ca. vier Millionen bäuerliche Siedler den pereselenčeskij punkt in Čeljabinsk.244 Die Kolonisten konnten sich hier vor dem Beginn ihrer langen Reise gen Osten nochmals mit einer warmen Mahlzeit stärken und bei Bedarf ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Vor ihrer Weiterfahrt mussten sich alle Kolonisten von den staatlichen Behörden registrieren und medizinisch untersuchen lassen.245 Die „Vorboten“ (chodoki) konnten sich bereits in Čeljabinsk erkundigen, in welchen sibirischen Regionen noch Aufnahmekapazitäten für bäuerliche Kolonisten zur Verfügung standen. Das Ausmaß und die Dynamik der Eisenbahnkolonisation nach Sibirien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lässt sich auch an der Zahl der verkauften Fahrkarten zum Kolonisten-Tarif ablesen, die in den Verkehrsstatistiken des Reiches seit 1893 separat ausgewiesen wurden. Zunächst war die Nachfrage nach den verbilligten Billets relativ gering. Nach der Eröffnung der ersten Teilstrecken der 242 Vladimir Platonovič Voščinin: Na Sibirskom prostore. Kartiny pereselenija, Sankt Peterburg 1912, S. 7. Zur Geschichte des Durchgangslagers in Čeljabinsk: S. S. Smirnov, V. E. Smirnova: Pereselenčeskij punkt v Čeljabinske, in: Ėnciklopedija Čeljabinsk, URL: http://www.book-chel.ru/ind.php?what=card&id=2135 [aufgerufen am 31.7.2013]. 243 Zur Erweiterung des Bahnhofs Čeljabinsk 1897-1901: RGIA f. 265, op. 4, ed. chr. 1103. 244 Smirnov, Smirnova, Pereselenčeskij punkt v Čeljabinske. Eine (idealisierte) zeitgenössische Beschreibung des Lagers findet sich bei: Voščinin: Na Sibirskom prostore, S. 7–11. Die Missstände in den Durchgangslagern für sibirische Kolonisten betont: Solov’eva, Pereselenie krest’jan, S. 22. 245 Cimmerman, Po velikoj Sibirskoj doroge, S. 109; Voščinin, Na Sibirskom prostore, S. 7; Spravočnaja knižka o pereselenii za Ural v 1906 god. Svedenija neobchodimye každomu chozjainu, zadumavšemu pereselenie v Sibir’ i každomu chodoku, hg. von Pereselenčeskoe upravlenie, Sankt Peterburg 1907, S. 79f.
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Sibirischen Eisenbahn im Jahr 1896 verzeichneten die Statistiker jedoch einen schnell wachsenden Absatz dieser Fahrscheine. In diesem Jahr wurden bereits über eine halbe Million Tickets an bäuerliche Kolonisten ausgegeben und vier Jahre später die vorläufige Rekordmarke von 1,4 Millionen Fahrscheinen zum verbilligten Tarif erreicht. Nach einem zeitweiligen Rückgang der Nachfrage in den Jahren 1901 bis 1903 und der kriegsbedingten Unterbrechung der Siedlungsbewegung in den Jahren 1904 und 1905 erlebte die Kolonisationswelle zwischen 1907 und 1909 ihren Höhepunkt. Allein im Jahr 1907 wurden an den Bahnschaltern des Reiches 3,56 Millionen Fahrkarten zum Kolonisten-Tarif verkauft. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg flaute die Nachfrage wieder etwas ab. Aber auch 1912 lösten noch 1,6 Millionen bäuerliche Kolonisten einen entsprechenden Fahrschein.246 Der Vergleich dieser Daten mit dem oben referierten Saldo der Kolonisationsbewegung nach Sibirien macht deutlich, dass nicht alle Siedler, die sich in einem umgerüsteten Güterwaggon auf die Reise gen Osten machten, in Sibirien dauerhaft Fuß fassen konnten. Doch selbst wenn man von den Zahlen verkaufter Kolonisten-Tickets die Anzahl jener Fahrscheine abzieht, die „Rückkehrer“ für ihre Fahrt ins europäische Russland nutzten, bleibt die Bilanz dieser jährlichen Bevölkerungsbewegung auf der Schiene beachtlich.247 Wie oben bereits angedeutet, haben nur wenige bäuerliche Kolonisten schriftliche Zeugnisse hinterlassen, die Aufschluss über ihre Erfahrungen und ihre Raumwahrnehmung auf der Fahrt aus dem europäischen ins asiatische Russland geben. Dies liegt zum einen daran, dass viele Menschen dieser Gruppe Analphabeten waren und dass jene Selbstzeugnisse, die Bauern hinterließen, oft nicht den Weg in das behördlich organisierte Archivsystem des Zarenreiches fanden.248 Zum anderen maßen viele Zeitzeugen in ihren Schilderungen dem Moment des Aufbruchs aus der alten und der Ankunft in der neuen Heimat größere Bedeutung zu, als dem Erlebnis der eigentlichen Fahrt. Somit schweigen viele Quellen leider
246 Zahlen nach: Statističeskij sbornik Ministerstva Putej Soobščenija, vyp. 57 (1899), 61 (1900), 61 (1900), 65 (1901), 81 (1905), 89 (1907), 109 (1911), 113 (1912), Bde. 1–2, 131 (1915), Bde. 2–3. Zur Diskussion über mögliche Gründe der abflauenden Binnenkolonisation seit 1910: Melville, Bevölkerungsentwicklung, S. 1068–1071. Ministerpräsident Stolypin betrachtete den Rückgang der Kolonistenzahlen seit 1910 mit Sorge. Vgl. dazu ausführlich: Charles Steinwedel: Resettling People, Unsettling the Empire. Migration and the Challenge of Governance, 1861–1917, in: Nicholas B. Breyfolge (u.a.) (Hg.): Peopling the Russian Periphery. Borderland Colonization in Eurasian History, London, New York 2007, S. 128–147. Zur Inspektionsreise Stolypins nach Sibirien im Jahr 1910: I. Tchorževskij: Poslednij Peterburg. Iz vospominanij kamergera, in: Neva, 1991, Nr. 9, S. 189–191. 247 1906–1914 lag der Anteil der Rückkehrer bei ca. 25 % aller bäuerlichen Migranten. Diese Zahl relativiert sich jedoch, stellt man in Rechnung, dass 48 % dieser Rückkehrer sog. „Vorboten“ (chodoki) waren. Unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs beziffert Melville den Anteil der Migranten, die tatsächlich im Familienverband in ihre alte Heimat zurückkehrten, auf 16 %. Melville, Bevölkerungsentwicklung, S. 1069. 248 Für den Hinweis auf die problematische Überlieferungssituation bäuerlicher Selbstzeugnisse danke ich Julia Herzberg.
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zu den Fragen, die in unserem Kontext von besonderem Interesse sind.249 – Die wenigen historischen Zeugnisse bäuerlicher Kolonisten, die Auskunft über die Wahrnehmung des Ortswechsels und über räumliche Perzeptionsmuster der Autoren geben, lassen sich drei verschiedenen Genres zuordnen. Die erste Gruppe bilden Berichte bäuerlicher Kolonisten, die in Zeitschriften oder als eigenständige Publikationen erschienen.250 Von diesen Texten, die sich an eine breitere Leserschaft wandten, lassen sich Briefe unterscheiden, die Kolonisten an ihre Familienmitglieder im europäischen Russland schrieben. Diese Texte wurden nur im privaten Rahmen rezipiert und erreichten, auch wenn sie im Heimatdorf vorgelesen wurden, nur eine beschränkte Öffentlichkeit.251 Eine dritte Quellengruppe bilden Fragebögen, die bäuerliche Siedler im Rahmen von Erhebungen ausfüllten, wie sie zum Beispiel ländliche Selbstverwaltungen (zemstva) aus dem europäischen Russland durchführten, um mehr über die Bedingungen des Migrationsprozesses zu erfahren. Dabei wurden die Befragten mitunter auch um Auskunft über ihre Erfahrungen bei der Fahrt in die trans-uralischen Gebiete des Reiches gebeten.252 Wie die räumlichen Wahrnehmungsmodi anderer Menschen, die sich auf dem Schienennetz des Zarenreiches fortbewegten, waren auch die Perzeptionsmuster bäuerlicher Kolonisten von mehr oder weniger konkreten Erwartungen und einem bestimmten räumlichen „Wissen“ vorstrukturiert. Die große Mehrheit der Übersiedler trat die entbehrungsreiche Reise in die trans-uralischen Gebiete mit der Hoffnung an, in Sibirien bessere Lebensumstände und vor allem mehr Land zur Ernährung der eigenen Familie vorzufinden. Vorstellungen von Sibirien als von „Russland“ abgetrennter geografischer Region, in der fruchtbares Ackerland in nahezu unbegrenztem Ausmaß zur Verfügung stehe und ein Leben in Wohlstand und Freiheit locke, speisten sich zum einen aus Bildern eines mythischen, heilbringenden „Ostens“, wie sie in Sagen, Legenden und Liedern der russischen Folklore, z.B. über das sagenumwobene „Land der weißen Wasser“ (Belovod’e), tradiert worden waren.253 Zum zweiten gründeten positive Sibirien-Bilder dieser 249 Zu diesem Ergebnis kommt Willard Sunderland: Peasant Pioneering: Russian Peasant Settlers Describe Colonization and the Eastern Frontier, 1880s–1910s, in: Journal of Social History 34 (2001), Nr. 4, S. 895–922, hier S. 904. 250 Insbes. Ivan Efimovič Beljakov: Pereselenec o Sibiri, in: Russkoe bogatstvo (1899), Nr. 3, S. 1–14 (wieder abgedruckt in: Sibirskie pereselenija, Bd. 1: Dokumenty i materialy, Novosibirsk 2003, S. 156–166); M. Sumkin, Sibir’ za zemleju: Iz Kalužskoj gubernii v Semipalatinskuju oblast’. Zapiski chodoka, Moskva 1908. Vgl. auch die erst nach 1991 veröffentlichten Erinnerungen von Domina Žuntova-Černjaeva: Vperedi – volja i belyj chleb. Stolypinskoe pereselenie glazami Smolenskoj krest’janki, in: Rodina, 1994, Nr. 6, S. 44-49. Für den Hinweis auf die zuletzt genannte Quelle danke ich Julia Herzberg. 251 Z.B. Pis’ma pereselencev, dostavlennyja g.g. korrespondentam, in: Pereselenija iz Poltavskoj gubernii s 1861 po 1 ijulja 1900 goda. Sost. po poručeniju Poltavskoj gubernsko-zemskoj upravy, Bd. 1: 1861–1893, Poltava 1900 [sic!]; Sibirskie pereselenija, Bd. 1, Dokumente Nr. 48–55. 252 Z.B. Pereselenie krest’jan Char’kovskoj gubernii. Bd. 1: 1898–1907, hg. von Char’kovskaja gubernskaja Zemskaja uprava, Char’kov 1908. 253 Sunderland, Peasant Pioneering, S. 900.
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Art oft auf Berichten anderer bäuerlicher Siedler, die ihre erfolgreiche Landnahme jenseits des Ural in Briefen an Familienmitglieder schilderten.254 In welchem Ausmaß Bauern, die unter Landarmut und Überbevölkerung in ihrer alten Heimat litten, positive Sibirien-Bilder rezipierten, die in Diskursen der (gebildeten) „Gesellschaft“ kursierten, ist eine offene Frage.255 Gleiches gilt für Schriftgut der zarischen Behörden, mit dem diese versuchten, innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung Aufklärungsarbeit über die Praxis der Umsiedlung und über die tatsächlichen Lebensbedingungen in Sibirien zu leisten.256 An dem Duktus von Informations-Broschüren für chodoki und Publikationen mit Titeln wie Gute Ratschläge für Kolonisten (Dobrye sovety pereselencam), die von den Behörden für Binnenkolonisation Anfang des 20. Jahrhunderts in Umlauf gebracht wurden, lässt sich ablesen, wie zwiespältig die Haltung der Regierung auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts gegenüber der Migrationsbereitschaft der bäuerlichen Massen und deren Sibirien-Begeisterung war. Östlich des Ural, so wurden die Behörden nicht müde zu betonen, warte auf die Bauern kein Land, wo „Milch und Honig fließen“. Vielmehr sei das Leben in Sibirien hart und entbehrungsreich und gutes Ackerland dort nicht in ausreichendem Maß für alle Auswanderungswilligen vorhanden.257 Die Regierung unterstrich in ihren Broschüren, dass sie „niemanden zur Landnahme [jenseits des Urals]“ auffordere.258 Zudem betonte sie, dass sich nur solche Familien auf die Reise machen sollten, die über eine ausreichende Anzahl gesunder und junger Arbeitskräfte sowie über finanzielle Mittel zur Gründung einer neuen Landwirtschaft in Sibirien verfügten. Andererseits fanden interessierte Bauern in den Schriften der pereselenčeskoe upravlenie auch Raumbilder wieder, in denen die mythische „sibirische Weite (sibirskaja dal’)“ beschworen und die östliche Reichshälfte als „ein Sechstel der Erdoberfläche“ vorgestellt wurden.259 Bilder dieser Art fügten sich nahtlos in verbreitete Vorstellungen von 254 François-Xavier Coquin: La Sibérie. Peuplement et immigration paysanne aux XIXe siècle, Paris 1969, S. 411–420. 255 Zur Tradition der Stilisierung Sibiriens als Region der „Freiheit“ in Diskursen der russischen „Gesellschaft“: Bassin, Imperialer Raum/Nationaler Raum; Frank, Sibirien: Peripherie und Anderes. Zur Kommunikationsbarriere zwischen obščestvo („Gesellschaft“) und narod („Volk“) in Russland im 19. Jahrhundert: vgl. u.a. Sunderland, Peasant Pioneering, S. 899f. 256 Spravočnaja knižka o pereselenii za Ural v 1906 god; Sibirskoe pereselenie. Čto nužno znat’ každomu chodoku. Prilagaetsja dorožnaja karta Sibiri, hg. von Pereselenčeskoe upravlenie MVD, Sankt Peterburg 1899; Pereselenie v stepnoj kraj v 1907 godu. Spravočnaja knižka o pereselenii v oblasti Turgajskuju, Ural'skuju, Akmolinskuju i Semipalatinskuju, hg. von Pereselenčeskoe upravlenie, Sankt Peterburg 1907; Spravočnaja knižka dlja chodokov (1909); V. M. Skvorcov: Dobrye sovety pereselencu, Sankt Peterburg 1911. – Zur Frage der Rezeption dieses Schrifttums: Sunderland, Peasant Pioneering, S. 897–900. 257 Sibirskoe pereselenie, S. 23; Spravočnaja knižka dlja chodokov (1909), S. 5. 258 Spravočnaja knižka dlja chodokov (1909), S. 3; Skvorcov, Dobrye sovety, S. 3. Allerdings zogen die verschiedenen Ministerien hier nicht an einem Strang. Während Finanzminister Vitte die Landnahme russischer Bauern in Sibirien begrüßte, betrachtete Innenminister Vjačeslav v. Plehve (1902–1903) diesen Prozess mit Zurückhaltung. Vgl. dazu Judge, Peasant Resettlement, S. 80 und Sunderland, ‘Colonization Question’, S. 211, 214, 232. 259 Skvorcov, Dobrye sovety, S. 10, 15.
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Sibirien als eine Region ein, in der fruchtbares Land bäuerlichen Siedlern im Überfluss zur Verfügung stand. Auf die deutliche Abgrenzung der geografischen Räume „altes Russland (staraja Rossija)“ und „neues“ Sibirien (novye zemli)260 auf den kognitiven Karten bäuerlicher Kolonisten deuten verschiedene Elemente in den Erlebnisberichten dieser Migranten hin. Zum einen ist hier das Erlebnis des Grenzübertritts von einem Teil des Reiches in den anderen zu nennen. Wie andere Sibirienreisende, deren Berichte oben diskutiert wurden, nahmen auch bäuerliche Migranten die Passage über die Wolga und die Überquerung des Ural-Gebirges als jenen Moment wahr, in dem es hieß, von der „alten Heimat“ Abschied zu nehmen. Welche Rolle dabei dem mythenumwobenen Fluss Wolga und der „Alexanderbrücke“ bei Syzran’ zukam, lässt sich an den Erinnerungen des Kolonisten Ivan E. Beljakov ablesen. Beljakovs Bericht über die Landnahme von 34 bäuerlichen Haushalten aus dem Gouvernement Penza in Westsibirien erschien im Jahr 1899 in der Zeitschrift Russkoe bogatstvo (Russischer Reichtum). In seinen Ausführungen betonte er, dass es über die Fahrt seines Kollektivs mit der Eisenbahn eigentlich „fast nichts zu berichten“ gäbe.261 Dennoch prägte sich ihm seine Fahrt über die „größte gusseiserne Brücke Russlands“, die die Wolga überspannte, ins Gedächtnis ein: „Schade, dass wir die Brücke genau zu Sonnenaufgang überquerten und ich die Menschen in meinem Waggon extra wecken musste, um sich dieses große Wunder anzusehen. Was mich erstaunte, war zum einen, dass wir bei der Auffahrt auf die Brücke auf der rechten Seite [...] eine Ikone des Erlösers sahen, am Ausgang der Brücke uns [jedoch] ein Heiligenbild des Wundertäters Nikolaj verabschiedete.“262
Interessant an dieser Beschreibung ist, dass Beljakov die Stahlkonstruktion der Wolgabrücke, die in anderen Kontexten als Indiz für die Leistungsfähigkeit des russischen Ingenieurwesens gefeiert wurde, in der Terminologie seiner religiös geprägten Lebenswelt als „großes Wunder (velikoe čudo)“ bezeichnete.263 Zudem verdient Beachtung, dass der Kolonist der Dekoration der Brücke mit Ikonen offenbar größere Bedeutung zumaß, als dem gewaltigen Reichswappen, das über dem Einfahrtstor des Bauwerks prangte oder dem Namen der Brücke, der an den Reformzaren Alexander II. erinnerte (Abb. 8 und 16). Die Wolga, das legen diese Beobachtungen nahe, war für Beljakov in erster Linie ein religiös konnotierter Fluss und die Passage des Stroms ein symbolisch besonders aufgeladener Moment.264 Das Gefühl, „Mütterchen Russland (matuška Rossija)“ endgültig verlassen und das „unbekannte Land Sibirien (neznakomaja strana - Sibir’)“ betreten zu haben, stellte sich bei dem Siedler jedoch erst bei der Überquerung des Ural260 261 262 263
Voščinin, Na Sibirskom prostore, S. 5f. Beljakov, Pereselenec o Sibiri, S. 6. Beljakov, Pereselenec o Sibiri, S. 6. Ein Modell der Brücke, die zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung im Jahr 1880 als die längste Konstruktion dieser Art in Europa galt, präsentierte die Reichsregierung auf der Weltausstellung von Paris 1900. Fotografien des Bauwerks u.a. in: Thöns, Die Transsibirische Eisenbahn, S. 32. 264 Zum russischen Wolga-Mythos vgl. ausführlich: Hausmann, Mütterchen Wolga. An einer umfassenden historischen Darstellung der Wolga arbeitet derzeit Karl Schlögel.
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Gebirges ein. Die Tatsache, dass er und seine Mitreisenden das Land in der östlichen Reichshälfte früher „gefürchtet hatten (bojalis’)“ und nun „aus freien Stücken dorthin fuhren“, wird von dem Kolonisten dabei klar reflektiert.265 Als sein Blick an der „Grenze Russlands (na granice ešče Rossii)“ auf das Bahnhofsthermometer von Zlatoust fiel, das im Juni nur vier Grad zeigte, fragte er sich, ob die Umdeutung Sibiriens auf seinen kognitiven Karten vom „Reich der Kälte“ zum Raum der Hoffnung und der Zukunft tatsächlich gerechtfertigt gewesen sei. Seinen Mitreisenden teilte er diese Zweifel jedoch nicht mit, um diese „nicht [unnötig] zu ängstigen“.266 In Čeljabinsk, dem Durchgangslager für sibirische Kolonisten angekommen, fühlte sich Beljakov zunächst wie auf einem fremden Planeten. Zunächst irritierte ihn die Erfahrung mit den großen Temperaturschwankungen zwischen vier Grad am Morgen und 36 Grad Hitze am Mittag, die ihn sehnsüchtig an das gemäßigte Klima seiner Heimat im europäischen Russland zurück denken ließ. Wie Beljakov die Registrierung und die Verladung seines Kolonistentrecks in Čeljabinsk erlebte, verrät sein Bericht leider nicht. Dass das Durchgangslager östlich des Ural-Gebirges von vielen bäuerlichen Siedlern als letzte wichtige Station vor dem Eintritt in einen neuen geografischen Raum wahrgenommen wurde, legen jedoch andere Erlebnisberichte, wie zum Beispiel jener des Kundschafters (chodok) M. Sumkin nahe, der sich im Mai 1907 auf die Reise aus dem Gouvernement Kaluga in die Kolonisationsgebiete in den Steppen von Semipalatinsk machte.267 An der Erzählung Sumkins lässt sich auch noch ein weiteres Moment der Stilisierung Sibiriens als ein von „Russland“ verschiedener geografischer Raum in Berichten bäuerlicher Kolonisten beobachten. Nachdem Sumkin das Ural-Gebirge passiert hatte, studierte er mit großem Interesse aus dem fahrenden Zug, in welchem Zustand sich die Dörfer entlang der Strecke befanden, ob die Bauern in der entsprechenden Region Vieh hielten oder Ackerbau betrieben und wie der Boden beschaffen war, der Kolonisten zur Bearbeitung zur Verfügung stand.268 Das Bild, das sich ihm beim Blick durch das Waggonfenster bot, wurde dabei stets mit seinem Wissen über die Lebensbedingungen der Bauern in seiner alten Heimat abgeglichen. Der ständige Vergleich zwischen der Situation „hier“ und den Lebensumständen „dort“, der die Trennung von „Russland“ und „Sibirien“ auf seinen mental maps weiter verfestigte, resultierte letztlich aus seinem Auftrag, für sein Dorf jenseits des Ural-Gebirges einen Ort für ein besseres Leben zu finden. Da Sumkin am Ende seiner Fahrt mit leeren Händen in die alte Heimat zurückkehren sollte, blieb seine Wahrnehmung Sibiriens durchaus ambivalent. Zwar zeigte er 265 Beljakov, Pereselenec o Sibiri, S. 7. Diese Umkodierung Sibiriens auf den mental maps bäuerlicher Kolonisten beschreibt auch Sumkin, Sibir’ za zemleju, S. 9. – Zur Bedeutung des Ural-Gebirges als Grenze auf den mental maps bäuerlicher Kolonisten vgl. auch V. Daškevič: Pereselenie v Sibir', Sankt Peterburg 1912, S. 63. 266 Beljakov, Pereselenec o Sibiri, S. 7. 267 Sumkin, Sibir’ za zemleju, S. 11. Vgl. auch Voščinin, Na Sibirskom prostore, S. 7f. Zur Registrierung der Kolonisten in Čeljabinsk: Spravočnaja knižka o pereselenii za Ural (1906), S. 79f.; Spravočnaja knižka dlja chodokov (1909), S. 82. 268 Sumkin, Sibir’ za zemleju, S. 8f.
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sich von der Fruchtbarkeit des Bodens und den landwirtschaftlichen Erträgen der Bauern in Westsibirien beeindruckt.269 Je weiter er mit dem Zug jedoch nach Osten reiste, desto trüber gestaltete sich das Bild, das sich ihm bei der Betrachtung der Lebensbedingungen bäuerlicher Kolonisten in Russlands asiatischer Peripherie bot. Je weiter man in die unwirtlichen Gegenden des östlichen Sibirien und der kirgisischen Steppen vorstoße, so Sumkin, desto häufiger treffe man auf enttäuschte Siedler, die in die alte Heimat zurückkehren wollten, sowie auf verlassene, traurige Kolonistendörfer. Sibirien, so Sumkins lapidares Fazit, habe nur wenig mit jenem reichen Land gemein, von dem in den Broschüren der Kolonisationsbehörden die Rede sei.270 Während Sumkins Botschaft an seine Leser lautete, dass sich Bauern die Abwanderung aus „Russland“ nach „Sibirien“ stets gut überlegen sollten, verbreitete sich über Briefe von Kolonisten, deren Übersiedlung jenseits des Ural erfolgreich war, auch noch ein anderes Sibirienbild unter der bäuerlichen Bevölkerung im europäischen Russland.271 Selbst Schreiben, in denen die Schwierigkeiten der Übersiedlung und das Fremdheitsgefühl der Autoren in der neuen Heimat nicht verschwiegen wurden, endeten häufig mit der positiven Schlussfolgerung, dass man in Sibirien – anders als in „Russland“ – leben könne (zdes’ žit’ možno).272 – Beide „Lesarten“ des Landes jenseits des Ural, jene, die die Widrigkeit dieser Region betonte und jene, die die Provinz als Land der Hoffnung pries, funktionierten letztlich nur in der gedachten räumlichen Dichotomie von „Russland“ auf der einen und „Sibirien“ auf der anderen Seite. Die Tatsache, dass jährlich hunderttausende russische, ukrainische und weißrussische Siedler – dank der Eisenbahn – die imaginierte Grenze zwischen beiden Reichshälften überschritten und so, aus der Perspektive der Behörden in St. Petersburg, zur Konsolidierung des Reiches als ein zusammenhängender nationaler Raum beitrugen, änderte an der vorgestellten Teilung des Imperiums auf den kognitiven Karten der bäuerlichen Bevölkerung in eine westliche und eine östliche Hälfte offensichtlich wenig.273 Wie bereits die kurze Analyse des Erfahrungsberichtes Sumkins deutlich macht, orientierten sich bäuerliche Kolonisten bei ihren Fahrten durch Sibirien an anderen Landmarken und Grenzen als „gewöhnliche“ Touristen. Während zum Beispiel die Bodenqualität oder die Wirtschaftsweise der Bauern in den unter269 Wie andere Zeitgenossen war Sumkin vom Erfolg der Milchwirtschaft in Westsibirien fasziniert. Staunend nahm er zum Beispiel zur Kenntnis, dass sibirische Molkereien jährlich in großem Umfang Butter nach Russland und Westeuropa exportierten. Sumkin, Sibir’ za zemleju, S. 10. 270 Sumkin, Sibir’ za zemleju, S. 3. 271 Sunderland zufolge zeichneten Verfasser von Briefen, die an Familienmitglieder im europäischen Russland gerichtet waren, in der Regel ein positiveres Bild vom Leben in Sibirien als die Autoren von veröffentlichten Berichten. Ders., Peasant Pioneering, S. 902. 272 Pereselenija iz Poltavskoj gubernii, S. 393; Sunderland, Peasant Pioneering, S. 906. 273 Sunderland betont, dass für die meisten Kolonisten auch in Sibirien Konzepte kollektiver Identität regionaler Ausrichtung maßgeblich blieben. In ihren Berichten fänden sich „no suggestions that what the settlers were doing was connected in any way to a larger national process with national meaning.“ Ders., Peasant Pioneering, S. 910.
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schiedlichen Regionen Sibiriens in Reiseberichten von Autoren nicht bäuerlicher Herkunft selten als Raum strukturierende Merkmale genannt werden, spielten sie in Texten von Menschen, die in Sibirien auf der Suche nach einer neuen Heimat waren, häufig eine wichtige Rolle. An Sumkins Bericht lässt sich auch beobachten, dass Kundschafter wie er die Grenzen der Verwaltungseinheiten des Reiches häufig besser kannten, als so mancher „gebildete“ Zeitgenosse. Die häufige Nennung von Gouvernements-Grenzen in seinem Bericht deutet darauf hin, dass er sich mit Hilfe von Informationsmaterial der Kolonisationsbehörden, dem er Daten über Bodenqualität, Siedlungs- und Infrastruktur sowie Bevölkerungsdichte der einzelnen Verwaltungsbezirke entnehmen konnte, umfassend auf seine Erkundungsreise vorbereitet hatte.274 Interessierte und des Lesens mächtige Kolonisten wurden in diesen Publikationen zudem darüber informiert, an welchen Stationen der Sibirischen Eisenbahn Sanitätsstationen zur Verfügung standen und an welchen Bahnhöfen sie ein warmes Essen oder landwirtschaftliche Geräte kaufen konnten.275 Auch beim Blick auf die Meldungen bäuerlicher Kolonisten, die Korrespondenten der ländlichen Selbstverwaltungsorgane (zemstva) bei ihren Erhebungen über den Stand der Siedlungsbewegung erreichten, verdichtet sich der Eindruck, dass diese Fahrgäste der Sibirischen Eisenbahn in den von ihnen durchquerten Regionen vor allem jene Dinge wahrnahmen, die für ihr eigenes Fortkommen und Überleben praktische Bedeutung hatten. So deuten beispielsweise die Klagen zahlreicher Siedler über die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln und ärztlicher Hilfe entlang der Bahnlinie darauf hin, dass gerade jene Bahnhöfe, an denen man sich physisch stärken und von medizinischem Personal behandeln lassen konnte, von Kolonisten als Haltepunkte von besonderer Bedeutung wahrgenommen wurden.276 Andere räumliche „Marker“, wie zum Beispiel die Präsenz von Menschen anderer ethnischer Herkunft an den Bahnhöfen der Transkontinentalbahn – ein raumstrukturierendes Element, das in kaum einem „klassischen“ Reisebericht über Sibirien fehlt – spielten in der Wahrnehmung der bäuerlichen Kolonisten dagegen offenbar keine größere Rolle.277 – In seiner Analyse von Selbstzeugnissen bäuerlicher Kolonisten kommt Willard Sunderland zu dem Schluss, dass sich die russischen, weißrussischen und ukrainischen Siedler, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert den Ural überquerten, kaum jener zivilisa274 Sumkin, Sibir’ za zemleju, S. 8f. Informationsbroschüren für chodoki lagen meist auch detaillierte Karten bei, in die neben den Gouvernementsgrenzen und dem Verlauf der Eisenbahnlinien auch Versorgungspunkte für Kolonisten (pereselenčeskie punkty) eingezeichnet waren. Vgl. z.B. Sibirskoe pereselenie; Spravočnaja knižka dlja chodokov (1909). 275 Spravočnaja knižka o pereselenii za Ural v 1906 god; Spravočnaja knižka dlja chodokov (1909). 276 Pereselenija krest’jan Char’kovskoj gubernii, Bd. 1, S. 147; Beljakov, Pereselenec o Sibiri, S. 6f. Eine idealisierte Schilderung der Versorgungspunkte findet sich bei Voščinin, Na Sibirskom prostore, S. 17. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Eisenbahngesellschaften dazu verpflichtet, in Güterwaggons, in denen Kolonisten transportiert wurden, Listen mit Bahnhöfen auszuhängen, in denen es warme Speisen zu kaufen gab. Vgl. z.B. CGIA SPb f. 1374, op. 1, ed. chr. 524, l. 8ob. 277 Diesen Punkt betont, mit Blick auf ein breites Spektrum von Selbstzeugnissen bäuerlicher Kolonisten: Sunderland, Peasant Pioneering, S. 907f.
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torischen Aufgabe bewusst waren, die ihnen Theoretiker der Kolonisationsbewegung im fernen St. Petersburg zugedacht hatten. Während in den Ministerien die Siedlungsbewegung als „nationales Projekt“ und Teil der russischen mission civilizatrice in Asien verhandelt wurde, verstanden sich die meisten bäuerlichen Kolonisten kaum als russische „Kulturträger“, sondern eher als Bauern mit einer starken regionalen Identität, die schlicht auf der Suche nach einem besseren Leben waren, als es ihnen in „Russland“ jenseits des Ural-Gebirges vergönnt war.278 Raumerfahrung auf der Eisenbahn bedeutete für die meisten Siedler, die mit dem dampfgetriebenen Verkehrsmittel nach Sibirien fuhren, jedoch vor allem das Erlebnis von Enge, Dreck und Kälte in notdürftig für den Personenverkehr umgerüsteten Güterwaggons sowie das Erdulden langer Wartezeiten an den Knotenpunkten des Schienennetzes, die sich in den Sommermonaten bisweilen in übervölkerte Sammellager gestrandeter oder auf die Weiterfahrt wartender Kolonisten verwandelten.279 Aus dem Blickwinkel romantisch gesinnter Vertreter der russischen intelligencija konnte ein Kolonisten-Waggon auf der Sibirischen Eisenbahn an eine russische Bauernhütte (izba) erinnern: „Hier riecht es wie in einer izba, hier herrschen die gleichen Regeln. Auf der zweiten und dritten Pritsche [des Stockbetts] schlafen, wie auf dem Hängeboden [der Bauernhäuser], die Alten, Kinder und Frauen mit dem Gepäck. Unten ist der Platz der Familienoberhäupter. [Im Waggon] reißt das Gespräch nicht ab, es dreht sich die ganze Zeit um das, was einen in Sibirien wohl erwartet. [...] Überall hört man schallendes Gelächter und Gesang. Natürlich findet sich [auch hier] ein Virtuose mit der Ziehharmonika, es fehlen nur noch die Volkstänze.“280
Aus der Perspektive eines bäuerlichen Kolonisten, der mehrere Tage in einem Zug verbringen musste, der vierzig bis fünfzig Güterwaggons führte, die alle „bis oben mit Menschen vollgestopft waren“281, stellten sich diese Transportbedingungen jedoch kaum in einem so idyllischen Licht dar.282 Für sie waren die grauen Waggons ohne Fenster, deren Außenwände die Aufschrift „für acht Pferde oder 40 Menschen“ trugen, die bescheidenen Früchte des Fortschritts, den ihnen das Zeit-
278 Sunderland, Peasant Pioneering, S. 909f.; ders.: Empire without Imperialism? Ambiguities of Colonization in Tsarist Russia, in: Ab Imperio 2/2003, S. 101–114, hier S. 107. 279 Vgl. z.B. Pereselenija krest’jan Char’kovskoj gubernii, Bd. 1, S. 146–149. 280 Voščinin, Na Sibirskom prostore, S. 11f., 18. – Kritikern dieser Transportbedingungen hielt Anfang des 20. Jahrhunderts der hochrangige Agrarpolitiker A. Krivošein entgegen, dass die meisten Bauern weder in ihrer alten, noch in ihrer neuen Heimat so komfortable Wohnbedingungen vorfinden würden, wie in einer tepluška. Vgl. Tjukavkin, Velikorusskoe krest'janstvo, S. 242. 281 Sumkin, Sibir’ na zemleju, S. 12; Ju. O. Gorbatovskij: Kak Rossijanka pereselilas' v Sibir', in: Sibirskij nabljudatel' 3 (1901), Nr. 12, S. 56–60, hier S. 56. 282 In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde, unter Berufung auf eine Schrift Lenins mit dem Titel Die Bedeutung der Binnenkolonisation (Značenie pereselenčeskogo dela) aus dem Jahr 1913 (Pravda, Nr. 96, 99 vom 27.4. u. 1.5.1913), auf die große Zahl von Kolonisten hingewiesen, die bei dem Transport nach Sibirien erkrankten und an Epidemien starben. Dieses Bild wurde in den letzten Jahren deutlich relativiert. Vgl. Tjukavkin, Velikorusskoe krest’janstvo, S. 243–246.
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alter der Dampfmaschine gebracht hatte.283 In diesen Waggons fuhren sie voller Hoffnung und Zweifel einer unbekannten Zukunft entgegen, nicht wissend, dass diese Gefährte wenige Jahrzehnte später zu einer der wichtigsten Chiffren der technischen Moderne und des „Zeitalters der Extreme“ werden sollten.284
283 Die Kolonistin Žuntova-Černjaeva aus dem Gouvernement Smolensk verglich ihre zweiwöchige Fahrt nach Omsk im Jahr 1907 in einer tepluška mit einem Viehtransport: „echali, kak skot”. Da man etwas besseres jedoch nicht kannte, habe man sich auch mit dem Viehwaggon zufrieden gegeben: „No my lučše ne vidali, tak nam I ėto chorošo”. Dies., Vperedi – volja, S. 46. 284 Bereits im 19. Jahrhundert nahmen russische Künstler das Bild von Bauern, die in Güterwaggons nach Asien transportiert wurden, als Sinnbild für die Not der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten wahr. Der Maler Sergej Vasil’evič Ivanov machte in den späten 1880er Jahren mit Bildern wie Bäuerliche Kolonistin im Waggon (Pereselenka v vagone) (1886) (Abb. 17) oder Im Waggon vierter Klasse (V vagone 4-go klassa) (1888–89) auf die Lage von Übersiedlern nach Sibirien aufmerksam. Vgl. dazu (mit Abb. dieser Bilder): Il’ja Granovskij: Sergej Vasil’evič Ivanov. Žizn’ i tvorčestvo, Moskva 1962, Tf. 65; Sergej Vasil’evič Ivanov, Moskva 1964, Tf. 13.
5. SCHIENEN DER MACHT Seit dem Ende des Krimkrieges betrachtete die Regierung des Zarenreiches die Eisenbahn in zunehmendem Maße als wichtiges Herrschaftsinstrument. Die Bereitschaft der Behörden, in den Ausbau des russländischen Schienennetzes zu investieren, nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beständig zu. Als zum Beispiel Russland im Jahr 1867 Alaska an die USA verkaufte, floss der Erlös in einen Eisenbahnfonds, aus dem der Bau des Streckennetzes im europäischen Teil des Reiches mit finanziert wurde.1 Kurz nach der Jahrhundertwende verfügte das russische Verkehrsministerium bereits über ein größeres Budget als das Kriegsoder das Finanzministerium.2 In dieser Zeit existierte in Russland bereits das zweitlängste Eisenbahnnetz der Welt, ein Großes Technisches System, auf dem mehrere hunderttausend Arbeiter und Angestellte dafür sorgten, dass der Warenund Personenverkehr nicht zum Stillstand kam. Durch die Vernetzung der einzelnen Provinzen trug die Eisenbahn maßgeblich zur wirtschafts-räumlichen Integration des Imperiums und zur Konsolidierung des Landes als politischer Herrschaftsraum bei. Das dampfgetriebene Verkehrsmittel entwickelte sich auch in Russland zu einem wichtigen Instrument moderner Kriegsführung und ermöglichte der Reichsregierung, schnell auf politische Unruhen im eigenen Land zu reagieren. Das Projekt der Industrialisierung des Zarenreiches war seit den 1890er Jahren ebenso eng mit dem Eisenbahnbau verbunden, wie die staatlich gelenkte Kolonisation der asiatischen Provinzen mit Bauern aus dem europäischen Russland. Auf den ersten Blick scheinen so um die Jahrhundertwende die Hoffnungen und Raumvisionen in Erfüllung gegangen zu sein, die optimistische Planer seit den 1830er Jahren mit der Einführung des neuen Verkehrsmittels in Russland verknüpft hatten. Tatsächlich, das hat die Analyse der Raumwahrnehmung russischer Eisenbahnpassagiere im vorangegangenen Kapitel gezeigt, ist der Wandel sozialräumlicher Strukturen im Zeitalter der Dampfmaschine in Russland jedoch als ein komplizierterer und bisweilen ambivalenter Prozess zu beschreiben, der von territorial-räumlicher Integration ebenso geprägt war, wie von der Verfestigung alter und der Festschreibung neuer sozial-räumlicher Grenzen. Im nachfolgenden Kapitel soll an diese These angeknüpft und der Fokus von den Alltagsroutinen des Personenverkehrs auf jene Momente gelenkt werden, in denen sich das Schienennetz zu einem umkämpften Ort zwischen Vertretern konkurrierender sozial-räumlicher Ordnungsentwürfe entwickelte. Auf der einen Seite wird gefragt, in welcher Hinsicht die Reichsregierung die Eisenbahn zur Aus1 2
Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 98. Barnett, The Revolutionary Russian Economy, S. 237. Das Budget des MPS betrug 1902 435,55 Mio. Rubel, das des Kriegsministeriums 325,6 Mio. bzw. des Finanzministeriums 335,2 Mio. Rubel.
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übung und Aufrechterhaltung politischer Herrschaft zu nutzen verstand und in welchem Maße das Verkehrsmittel zur Konsolidierung des autokratischen und imperialen Machtsystems beigetragen hat. In diesem Kontext verdient unter anderem die Herrscherreise im Eisenbahnzeitalter als moderne, raumorientierte Form der Machtausübung eine besondere Berücksichtigung. Auf der anderen Seite sind jene gesellschaftlichen und politischen Kräften zu benennen, die ihrerseits versuchten, die Eisenbahn zu nutzen, um die Strukturen der herrschenden sozialräumlichen Ordnung kurzfristig zu stören bzw. langfristig zu verändern. „Gewöhnliche“ Kriminalität in Zügen gerät dabei ebenso in den Blick, wie die Ausbreitung ethnischer Gewalt über das Schienennetz sowie die Aktivität nationaler Bewegungen, terroristischer Organisationen und Arbeitervereinigungen. Sabotageakte gegen Truppentransporte, Attentate auf Herrscherzüge sowie Arbeitsniederlegungen rebellischer Eisenbahner machten der Reichsregierung in zunehmendem Maße die eigene Abhängigkeit von dem neuen Verkehrsmittel und die Macht jener Menschen bewusst, die für das Funktionieren des Verkehrssystems verantwortlich waren. Zudem mussten die Behörden bald erkennen, dass auch ihre politischen Gegner die Orte des Eisenbahnsystems als Bühne für den Kampf gegen die autokratische Ordnung zu nutzen verstanden. Untergrundorganisationen verbreiteten über das Schienennetz verbotene Literatur und bauten mit Hilfe moderner Infrastruktur landesweit ein Netz illegaler politischer Zirkel auf. Dadurch schlugen auch sie Kapital aus der verkehrstechnischen Erschließung des Landes und wirkten mit ihren Aktivitäten auf einen Wandel der sozial-räumlichen Strukturen des Zarenreiches hin. Auch in dieser Hinsicht wurde die Eisenbahn zum Sinnbild für die Ankunft des Zarenreiches im Zeitalter der Moderne. Das dampfgetriebene Verkehrsmittel, von loyalen Verkehrsplanern als Instrument zur Stärkung der Macht der Regierung im größten Kontinentalreich der Erde konzipiert und gepriesen, trug auf der anderen Seite zur Mobilisierung und Stärkung jener gesellschaftlichen und politischen Kräfte bei, die das autokratische System letztendlich mit zu Fall bringen sollten. 5.1. DER REISENDE ZAR UND DAS REICH Als der österreichische Unternehmer Franz Anton von Gerstner am 6. Januar 1835 bei Nikolaus I. um die Konzession für den Bau eines Eisenbahnnetzes im europäischen Teil Russlands ersuchte, unterstrich er in seinem Memorandum, dass sich das neue Verkehrsmittel im Zarenreich als Mittel politischer Machtausübung besonders anbiete. Gerstner prophezeite, dass die Befehle des russländischen Kaisers nach dem Bau der Eisenbahn in sehr viel kürzerer Zeit die Städte an der Peripherie des Landes erreichen würden. Auf diese Weise werde das Reich zu einem integrierten und in der Wahrnehmung verkleinerten Herrschaftsraum zusammenwachsen.3 In der Tat veränderte der Aufbau eines landesweiten Eisenbahn- (und Telegrafen-) Netzes seit den 1850er Jahren die Strukturen politischer Kommuni3
Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.1.
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kation zwischen der Reichsregierung in St. Petersburg und den Repräsentanten imperialer Macht in der Provinz bzw. an der Peripherie des Reiches nachhaltig. Die Netze moderner Infrastruktur ermöglichten nicht nur die schnellere Übermittlung von Befehlen aus der Hauptstadt an die lokalen Machthaber (bzw. von Berichten in umgekehrter Richtung). Der Bau der Eisenbahn eröffnete zudem den Herrschern neue Spielräume, sich relativ schnell von einem Punkt des Landes zu einem anderen zu bewegen und so in verstärktem Maße an unterschiedlichen Orten des imperialen Raums „Herrschaft durch Anwesenheit“ auszuüben.4 Es erscheint bezeichnend, dass gerade Alexander II., in dessen Regierungszeit der Aufbau des ersten Eisenbahnnetzes im Russländischen Reich fiel, ausgedehntes Reisen im eigenen Land zu einem wichtigen Bestandteil der eigenen symbolischen Herrschaftspraxis (scenario of power) machte. Es war jedoch auch Alexander II., auf dessen Herrscherzug im November 1879 das erste terroristische Bombenattentat der Eisenbahngeschichte verübt wurde, dem der Zar jedoch unverletzt entkam. Spätestens die Erfahrung des katastrophalen Zugunglücks bei Borki im Oktober 1888, das Alexander III. und die ganze kaiserliche Familie um ein Haar das Leben gekostet hätte, schärfte in Regierungskreisen das Bewusstsein, dass sich die Frage der Sicherheit und der körperlichen Unversehrtheit des reisenden Zaren im Eisenbahnzeitalter völlig neu stellte. Die Veränderungen der Strukturen sozialer Räume, die für die Mitglieder der Dynastie der Romanovs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkungsmächtig wurden, lassen sich am besten durch dieses Spannungsverhältnis zwischen neuen Spielräumen der Herrschermobilität auf der einen und der neuen Qualität der Gefahren für Leib und Leben der reisenden Regenten auf der anderen Seite beschreiben. Tatsächlich machte bereits Alexander III. – im Unterschied zu seinem Vater – nur noch in begrenztem Maße vom Instrument der symbolischen bzw. repräsentativen Herrscherreise Gebrauch. Auch Nikolaus II. nutzte – ungeachtet ausgedehnter Reisetätigkeit im In- und Ausland – die Eisenbahn mehr zur Flucht in seine historischen Traumwelten als zur Kontaktaufnahme mit den Menschen im eigenen Reich. Obgleich die Eisenbahn den letzten drei Regenten des Russländischen Reiches völlig neue Möglichkeiten eröffnete, durch die eigene Präsenz das Territorium symbolisch als Herrschaftsraum zu markieren, trug die infrastrukturelle Vernetzung paradoxerweise in erheblichem Maße auch zur Vergrößerung der Distanz (in politischer und räumlicher Hinsicht) zwischen dem russländischen Selbstherrscher und seinen Untertanen bei.
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Zu dieser Interpretationsfigur: Jörg Baberowski: Vertrauen durch Anwesenheit. Vormoderne Herrschaft im späten Zarenreich, in: ders., David Feest, Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentation politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt 2008, S. 17–37.
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5.1.1. Reisen als Herrschaftspraxis Zar Nikolaus I., der den Bau der ersten beiden Eisenbahnstrecken des Zarenreiches – jener von St. Petersburg nach Carskoe Selo und Pavlovsk bzw. der Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau – gegen den Rat seiner Minister bewilligt hatte, zählte erwartungsgemäß zu den ersten Passagieren, die die Dienste des dampfgetriebenen Verkehrsmittels in Anspruch nahmen.5 Da jedoch bis zu seinem Tod im Jahr 1855 keine weitere Bahnlinie im Zarenreich fertig gestellt wurde, konnte der Eisenbahnbau die Herrschaftspraxis dieses Regenten nicht mehr nachhaltig beeinflussen. Seinem Nachfolger auf dem russischen Thron, der den Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur des Reiches nach Kräften förderte, kamen die neuen Möglichkeiten geografischer Mobilität jedoch bereits sehr entgegen. Im Unterschied zu seinem Vater pflegte Alexander II. einen Politikstil, der den Ausgleich der Interessen zwischen den konkurrierenden sozialen Gruppen seines Reiches und das Bild von der unauflöslichen Einheit zwischen dem Zaren und seinem Volk betonte. In diesem öffentlichkeitswirksamen „Szenarium der Macht“ kam den zahlreichen und zum Teil ausgedehnten Reisen, die Alexander II. in seiner Regierungszeit im eigenen Land unternahm, eine konstitutive Bedeutung zu.6 Der Reformzar reiste während seiner Regentschaft mehrfach nach Moskau, besuchte 1855 Neurussland sowie den Kriegsschauplatz auf der Krim und machte sich im folgenden Jahr auf den Weg nach Finnland und Polen. 1858 warb er auf ausgedehnten Reisen nach Nord- und Zentralrussland beim russischen Adel um Unterstützung für die geplante Abschaffung der Leibeigenschaft und bemühte sich 1862 in den Ostseeprovinzen sowie in Tver’ und Novgorod um die Festigung der Beziehungen mit der lokalen Führungsschicht.7 Alexander nutzte diese Reisen bewusst als Werbetouren in eigener Sache und trug dafür Sorge, dass die Zeitungen in der Hauptstadt und in der Provinz ausführlich über seine Begegnungen mit den Vertretern der verschiedenen sozialen Gruppen berichteten. In seinem Bemühen, von der eigenen Bevölkerung als nahbarer, humaner und um das Wohlergehen aller Menschen besorgter Monarch wahrgenommen zu werden, folgte der Zar offenbar dem Vorbild des französischen Staatspräsidenten und (ab 1852) Kaisers Napoléon III., der das altbekannte Ritual der Herrscherreise zu einer neuen und eigenständigen Form der politischen Propaganda im Zeitalter der Eisenbahn und
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Zur ersten Fahrt Nikolaus’ I. auf der Carskoe-Selo-Bahn am 3.11.1836: Frolov, Vokzaly Sankt-Peterburga, S. 24. Zur Jungfernfahrt des Kaisers auf der Bahnlinie Petersburg-Moskau im August 1850: Štukenberg, Iz istorii železno-dorožnago dela v Rossii, Bd. 49, 17 (1886), S. 115–121; Haywood, Beginnings, S. 390; Blackwell, Beginnings, S. 315f. Wortman, Rule by Sentiment; ders.: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. From Peter the Great to the Abdication of Nicholas II. Abridged one-volume paperback version, Princeton 2006, S. 180–212, 230–232. Zur Reise Alexanders II. nach Novgorod im Jahr 1862 vgl.: Ol’ga Majorova: Bessmertnyj Rjurik. Prazdnovanie Tysjačeletija Rossii v 1862 g., in: Novoe Literaturnoe Obozrenie 43 (2000), S. 137–165.
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der beginnenden Massenkommunikation weiterentwickelt hatte.8 Das Neue und Originelle an der Form der Herrscherreise, wie sie Louis-Napoleon Bonaparte maßgeblich prägte, war ihr (augenscheinlich) „demokratischer“ Charakter: Im Unterschied zu pompösen Herrscherreisen früherer Zeiten, die meist auf die Inszenierung der Union von Herrscher und Adel abzielten, suchte der Regent nun den Kontakt zu allen Gruppen der Bevölkerung und rückte sich als ein um das Wohl aller Untertanen besorgter Herrscher und „neutraler“ Mittler konkurrierender Interessen ins Licht.9 Von diesen Merkmalen waren auch die zeremoniellen Reisen geprägt, die Alexander II. in seinem Reich unternahm. Auch wenn der Reformzar seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen neuen Stil der zeremoniellen Herrscherreise in Russland pflegte, sollte nicht übersehen werden, dass bereits seine Vorgänger auf dem Kaiserthron äußerst „mobile“ Regenten waren. Seit der Regierungszeit Peters des Großen, der als erster russischer Herrscher eine Reise ins westliche Europa unternahm, und der sich aufgrund der zahlreichen von ihm geführten Kriege nur selten in der neuen Residenzstadt an der Neva aufhielt, war das Amt des russländischen Monarchen mit zum Teil intensiver Reisetätigkeit verbunden. In der Tradition der Moskauer Zaren unternahmen die Regenten des 18. und 19. Jahrhunderts zum Beispiel wiederholt Pilgerfahrten zu den orthodoxen Heiligtümern im eigenen Land.10 Auch regelmäßige Besuche der alten „Thronstadt“ (pervoprestol’naja stolica) Moskau, wo nach wie vor die Krönungen 8
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Zur Herrscherreise als “propaganda technique” Napoléns III.: David Kulstein: Napoleon III and the Working Class. A Study of Government Propaganda Under the Second Empire, Los Angeles 1969, S. 69–76; Bernard Ménager: Les Napoléon du people, Paris 1988, S. 145–150; Matthew Truesdell: Spectacular Politics. Louis-Napoleon Bonaparte and the Fête Impériale, 1849–1870, New York 1997, S. 163–172. Zum Einfluss des Politikstils Napoléons III. auf Alexander II.: Wortman, Rule by Sentiment, S. 747. Wortman betont, dass auch schon die Vorgänger Alexanders II. (wie Katharina II., Alexander I. und Nikolaus I.) ausgedehnte Reisen durch das eigene Reich unternommen hatten. Diese Reisen, so Wortman, zielten jedoch nicht in erster Linie auf die Verbreitung eines bestimmten Herrscherbildes ab. Ders., Rule by Sentiment, S. 745. – Dessen ungeachtet nennt Wortman Katharina II. an anderer Stelle „the first Russian ruler to exploit the ceremonial possibilities of travel to show the monarch’s care for her subjects and their demonstrative appreciation for her concern.” Ders., Scenarios of Power (2006), S. 58. – Die Geschichte der Herrscherreise unter Katharina II. ist relativ gut erforscht. Zur legendären Fahrt der Zarin auf die Krim im Jahr 1787 vgl. u.a. David M. Griffiths: Catherine II Discovers the Crimea, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), H. 3, S. 339–348; Guzel Ibneyeva: Catherine Discovers the Volga Region, in: ebd. S. 349–357. Zur Pilgerreise russischer Herrscher im 16. Jahrhundert vgl. Nancy S. Kollmann: Pilgrimage, Procession and Symbolic Space in Sixteenth-Century Russian Politics In: Michael S. Flier, Daniel Rowland (Hg.): Medieval Russian Culture, Berkeley 1994, S. 163–181. – An das Ritual der herrscherlichen Pilgerreise knüpfte beispielsweise Katharina II. mit ihrer Fahrt zur Troice-Sergieva Lavra bei Moskau im Jahr 1762 bzw. ihrem Fußmarsch nach Rostov am Don im folgenden Jahr an. Vgl. dazu: Wortman, Scenarios of Power, Bd. 1, S. 120–122. Zur Bedeutung der Pilgerreise im Scenario of Power Nikolaus’ II.: Wortman, Scenarios of Power, Bd. 2, S. 379–391; Gregory Freeze: Subversive Piety. Religion and the Political Crisis in Late Imperial Russia. In: The Journal of Modern History 68 (1996), S. 308–350, insbes. S. 312– 329.
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der Kaiser und Kaiserinnen stattfanden, zählten noch im 19. Jahrhundert zum obligatorischen Reiseprogramm der russischen Monarchen.11 Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurde von den jeweiligen Thronfolgern erwartet, dass sie vor der Übernahme der Regierungsverantwortung einen grand tour durch das westliche Europa und durch die verschiedenen Provinzen des Russländischen Reiches unternahmen.12 Diese Fahrten führten die Careviči zum Teil bis an die Grenzen des imperialen Territoriums. So besuchte zum Beispiel Nikolaj Pavlovič (ab 1825: Nikolaus I.) im Jahr 1816 auf seiner über dreimonatigen Reise durch das eigene Reich die zentralrussischen Gouvernements, die Ukraine, Neurussland und die Krim.13 Sein Sohn Alexander war im Jahr 1837 sogar sieben Monate und über 13.000 Meilen bis nach Westsibirien unterwegs.14 Auf diesen, bis ins Detail geplanten Lehrfahrten sollten sich die Thronfolger mit den regionalen Gegebenheiten des Landes vertraut machen und sich der Bevölkerung sowie den regionalen Eliten als zukünftiger Regent präsentieren. Die Careviči sollten auf diesen Reisen „sehen und gesehen werden.“15 Die Fahrten zu den kulturellen Stätten Italiens, Frankreichs, England und der deutschen Länder sowie an die Höfe der westlichen Herrscherhäuser dienten dazu, der Bildung der Thronfolger den letzten „Schliff“ zu geben und die Beziehungen zu den europäischen Höfen zu pflegen. Allein die verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen den Romanovs und den westlichen Adelshäusern – schließlich nahmen alle russischen Thronfolger seit Paul I. eine Tochter aus einem deutschen bzw. dänischen Adelsgeschlecht zur Frau – begründeten im 19. Jahrhundert eine äußerst lebhafte Reisetätigkeit der Mitglieder der russischen Herrscherdynastie gen Westen. Hinzu kamen die Auslandsreisen russischer Monarchen zu Herrscherbegegnungen oder Friedenskonferenzen bzw. in 11
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Zum Wandel der symbolischen Funktion der Herrscherreise nach Moskau im 19. Jahrhundert: Richard Wortman: Moscow and Petersburg. The Problem of Political Center in Tsarist Russia. 1881–1914, in: Sean Wilentz (Hg.): Rites of Power. Symbolism, and Politics Since the Middle Ages, Philadelphia 1985, S. 244–271. Die Idee, Reisen in das Erziehungsprogramm eines jungen Regenten zu integrieren, hatte unter anderem der Dichter Ernst Moritz Arndt formuliert, dessen Lehrbuch Entwurf der Erziehung und Unterweisung eines Fürsten aus dem Jahre 1813 am Petersburger Hof bekannt war. Vgl. dazu Wortman, Scenarios of Power (2006), S. 125. Vgl. dazu: Wortman, Scenarios of Power, Bd. 1, S. 257f. Wortman, Rule by Sentiment, S. 747–753. Der einzige russische Thronfolger, der im 19. Jahrhundert keinen grand tour im herkömmlichen Sinne unternahm, war Nikolaj Aleksandrovič, der spätere Nikolaus II. Als Gründe für die Entscheidung des Carevič mit dieser Tradition zu brechen, führt Wortman die Angst der Romanovs um das Leben des Thronfolgers (nach dem Zugunglück von Borki im Jahr 1888) an. Ebd., S. 324. Diese Erklärung erscheint vor dem Hintergrund weniger überzeugend, dass Nikolaj bereits im November 1888 zu einem Jubiläum seines Großvaters nach Dänemark reiste und 1890 zu einer, nicht weniger gefährlichen, zehnmonatigen Weltreise aufbrach, die ihn über Ägypten, Indien, Siam, China und Japan nach Vladivostok und von dort quer durch Sibirien zurück nach St. Petersburg führte. Im Kontext dieser Reise legte Nikolaj am 19. Mai 1891 den Grundstein für den Bau der Großen Sibirischen Eisenbahn. Vgl. dazu Kap. 2.6.3. The Letters of Tsar Nicholas and Empress Marie. Being the Confidential Correspondence Between Nicholas II, Last of the Tsars, and his Mother, Dowager Empress Maria Feodorovna, hg. von Edward J. Bing, London 1937, S. 57.
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Kriegszeiten an die Schauplätze militärischer Konflikte.16 In Friedenszeiten boten die jährlichen Truppenmanöver, die Einweihung von Denkmälern sowie die kaiserliche Jagd regelmäßig wiederkehrende Anlässe für den Aufbruch des Selbstherrschers und seiner Familie aus St. Petersburg.17 Schließlich verließ die kaiserliche Familie seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Sommer regelmäßig für mehrere Wochen die Hauptstadt, um sich zum Beispiel auf Auslandsreisen oder in der Zarenresidenz in Livadija auf der Krim vom Hofleben und Alltag in St. Petersburg zu erholen.18 Theoretisch ließe sich das Reiseverhalten bzw. die Mobilitätsmuster eines jeden russländischen Kaisers des 19. Jahrhunderts Tag für Tag, Jahr für Jahr bis ins kleinste Detail rekonstruieren. Die Fülle an Informationen über die Motive, Ziele und den Ablauf der zahlreichen Reisen der Zaren, die sich überliefert haben, verdeutlicht, dass jede Fahrt eines russischen Regenten an einen Ort im In- oder Ausland ein Ereignis öffentlichen Interesses darstellte. Dies galt in besonderer Weise für die Lehr- und Präsentationsfahrten der Careviči sowie für die zeremoniellen Herrscherreisen der Zaren innerhalb des eigenen Landes.19 Bei diesen Reisen handelte es sich um detailliert geplante Inszenierungen, deren Fahrplan genau mit den Repräsentanten der Zarenmacht vor Ort abgestimmt war. Die Gouvernementsund Provinzbehörden trugen dafür Rechnung, dass die Lokalitäten, die der Monarch bzw. die kaiserliche Familie durchquerten, festlich geschmückt waren und dass die hohen Gäste bei ihrer Ankunft von einer militärischen Ehrenformation sowie einer Schar würdiger und loyaler Repräsentanten der Bevölkerung begrüßt wurden. Zum festen Empfangsritual zählten nach russischer Tradition die Übergabe von Brot und Salz auf einem meist aufwändig verzierten silbernen Teller. Den reisenden Damen wurden in der Regel am Bahnhof Blumengebinde überreicht. Seit den 1830er Jahren intonierten die lokalen Empfangskomitees bei der Ankunft der Monarchen die offizielle Zarenhymne Bože Carja chrani (Gott schütze den Zaren) und begrüßten den Regenten mit lauten und wiederholten „Hurrah“Rufen. Die Momente der Begegnung des Monarchen mit der lokalen Bevölkerung bzw. das persönliche Erscheinen des Herrschers oder Thronfolgers in der Provinz hatte eine elementare Bedeutung für die kognitive Kartierung (mental mapping) und Wahrnehmung Russlands als integrierter Herrschaftsraum. Mit Blick auf die 16 17
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Zur Herrscherbegegnung im 19. Jahrhundert: Johannes Paulmann: Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000. Zur Geschichte der kaiserlichen Jagd in Russland vgl.: Nikolaj I. Kutepov: Velikoknjažeskaja i carskaja ochota na Rusi, 3 Bde, Sankt Peterburg 1896–1902. Für das 19. Jahrhundert: Andrej Efimovič Zarin: Carskie razvlečenija i zabavy za 300 let, Leningrad 1991 (Repr. v. 1913), S. 34–41; Georgij P. Karcov: Belovežskaja pušča. 1382–1902, Minsk 2002. Zum Sommerpalast Livadija auf der Krim: Andrej Efimovič Zarin: Ljubimyja mestoprebyvanija Russkich Gosudarej, Moskva 1913, S. 126f.; Vospominanija general-fel’dmaršala grafa Dmitrija Alekseeviča Miljutina, 1860–1862, hg. von L. G. Zacharova, Moskva 1999, S. 144f. So konnten sich beispielsweise die Leser der hauptstädtischen Zeitungen täglich darüber informieren, wann der Kaiser bzw. ein Mitglied der kaiserlichen Familie plant, die Hauptstadt zu verlassen, bzw. an welchem Ort sich ein reisendes Mitglied der Dynastie gerade aufhält.
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symbolische Bedeutung von Königsreisen im Mittelalter hat bereits Clifford Geertz überzeugend argumentiert: “When kings journey around the countryside, making appearances, attending fêtes, conferring honours, exchanging gifts, or defying rivals, they mark it […] as almost physically part of them.”20 Auch im 19. Jahrhundert ließ sich ein beliebiger Ort des Russländischen Reiches durch die Anwesenheit des Zaren als Bestandteil des eigenen Herrschaftsraumes markieren und nach außen darstellen. Die physische Präsenz des Regenten oder Thronfolgers und die Berichterstattung über dieses Ereignis in der lokalen und hauptstädtischen Presse rückten Provinzstädte über Nacht ins Zentrum der Aufmerksamkeit imperialer Politik. Als beispielsweise Großfürst Alexander Nikolaevič im Jahre 1837 die Berge des Urals überquerte, notierte ein loyaler Untertan in seinem Erlebnisbericht: „Vor dem Besuch [des Thronfolgers] lebten wir noch in Sibirien; durch seinen Besuch wurde die Gegend [jedoch ein Teil von] Russland.“21 Auf ihren Reisen „reproduzierten und variierten“ die Mitglieder der Dynastie nicht nur die räumliche Ordnung des Reiches. Zugleich entwarfen (und bestätigten) sie auch die Ordnung der imperialen Gesellschaft vor Ort.22 Über die Frage, wer in ein Empfangskomitee aufgenommen werden sollte, das den reisenden Monarchen bei seiner Ankunft begrüßt, bzw. wer in die Nähe des hohen Gastes vorgelassen oder von der Zeremonie ausgeschlossen werden würde, ließen sich sozialen Hierarchien innerhalb der lokalen Gesellschaft neu ordnen und dabei Treue durch „Nähe“ zum Herrscher belohnen und Illoyalität durch „Ferne“ (bzw. Entfernung) bestrafen.23 Mit dem voranschreitenden Eisenbahnbau und der zunehmenden Nutzung des neuen Verkehrsmittels durch die Mitglieder der Herrscherdynastie verlagerten sich die Begrüßungs- und Abschiedszeremonien für reisende Regenten im Zarenreich in zunehmendem Maße auf die Orte des imperialen Schienennetzes. Im Lau20
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Clifford Geertz: Centers, Kings, and Charisma. Reflections on the Symbolics of Power, in: ders.: Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology, New York 1983, S. 121–146, Zitat S. 125. In eine ähnliche Richtung argumentierte bereits Georg Simmel, Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft [1908], S. 757–760. V. A. Šompulev, Poseščenie Saratova Naslednikom Cesarevičem Aleksandrom Nikolaevičem v 30-ch godach XIX stoletija, in: Russkaia starina 7 (1909), S. 45. Zit. nach: Wortman, Rule by Sentiment, S. 751. Sperling, Der Aufbruch in die Provinz, S. 159. Gerade an der Peripherie des Reiches stellte sich die Frage, welche soziale, konfessionelle und ethnische Gruppe Repräsentanten für das Empfangskomitee des Zaren stellen durfte, bzw. wie die Rangordnung zwischen den verschiedenen Vertretern zu gestalten sei, in besonderer Schärfe. So gewährte zum Beispiel Alexander II. im Jahr 1864 auf seiner Reise durch Dünaburg einer Deputation altgläubiger Bauern eine Audienz, während er in Vil’na auf seinem Rückweg den Wunsch einer Gesandtschaft des polnischen Adels, empfangen zu werden, ablehnte. Diese Entscheidung zielte darauf ab, das loyale Verhalten der Bauern während des Januaraufstands 1863 zu belohnen und den „Verrat“ des polnischen Adels zu „bestrafen“. Vgl. Sergej S. Tatiščev: Imperator Aleksandr Vtoroj. Ego žizn’ i carstvovanie, Bd. 1, Moskva 1996, S. 568f.; Vospominanija general-fel’dmaršala grafa Dmitrija Alekseeviča Miljutina, 1863–1864, Moskva 2003, S. 445; [Michail N. Murav’ev]: „Gotov soboju žertvovat’...“ Zapiski Grafa Michaila Nikolaeviča Murav’eva ob upravlenii Severo-Zapadnym kraem i ob usmirenii v nem mjateža. 1863–1866, hg. von Konstantin V. Petrov, Moskva, 2008, S. 178f.
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fe der Jahre entwickelten sich die Bahnsteige und Bahnhofshallen des Landes somit zu wichtigen Bühnen der Selbstdarstellung des autokratischen Regimes.24 Anlässlich der zahlreichen Fahrten der russischen Monarchen durch das eigene Land nahmen die Menschen in der Provinz regelmäßig ihre „Zuschauerplätze“ entlang der entsprechenden Eisenbahnstrecke ein und drängten zu den Bahnhöfen, um einen Blick auf „Väterchen Zar“ zu werfen, wenn der Herrscher zu einem Besuch in der entsprechenden Stadt eintraf oder die Lokomotive seines Zuges bei der Durchreise neuen Brennstoff und Wasser tankte.25 In der Regierungszeit Alexanders II. konnte die einfache Bevölkerung auf dem Bahnsteig ihrer Bahnstation mit etwas Glück den wartenden Zaren sogar in eine kleine Unterhaltung verwickeln.26 Für die meisten Menschen blieb der reisende Regent jedoch auch während seiner Fahrten durch die Provinz nur eine ferne Erscheinung. Selbst auf den General Hans Lothar von Schweinitz, Mitte der 1860er Jahre Militärbevollmächtigter Preußens in St. Petersburg, machte der „kaiserliche Bahnzug [Alexanders II.] einen ganz eigentümlichen Eindruck, wenn er, von Lichtern strahlend, mit jedem erstaunlichen Luxus ausgestattet, durch die erstarrte, unbebaute, von wenigen und zerlumpten Menschen bewohnte Ödnis glitt.“27
In der Wahrnehmung des westlichen Diplomaten brachte der russische Herrscherzug den Zaren nicht näher zu seinen Untertanen. Im Gegenteil: Er war vielmehr ein ausdruckskräftiges Symbol für jene Welten, die den Monarchen in Wirklichkeit von „seinem“ Volk trennten. Beim Anblick des Zaren hätten die „ärmlichen Bewohner“ der „hölzernen Hütten“ das Kreuz geschlagen und dann dem „rollenden Palast“ nachgeschaut, „dessen Pracht für einen Augenblick den Schein von hundert Kerzen auf ihr Elend warf.“28 Je mehr Regionen des Zarenreiches seit den 1860er Jahren Anschluss an das langsam wachsende Eisenbahnnetz fanden, desto häufiger wurde das neue Verkehrsmittel von Alexander II. und den anderen Mitgliedern der Herrscherfamilie für die Fortbewegung im eigenen Land genutzt. Schon früh unterhielten die mehrheitlich privat betriebenen Eisenbahngesellschaften in ihren Fuhrparks luxuriös 24
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Vgl. z.B. Bericht der Dritten Abteilung über den begeisterten Empfang des Carevič Alexander am 6. Februar 1878 auf einem Bahnhof in St. Petersburg: GARF f. 109, op. 3a, ed. chr. 860, ll. 1–1ob. Zum Empfang Alexanders II. am Abend des 17. Mai 1861 durch eine Menschenansammlung am Bahnhof der Nikolaj-Bahn in Moskau vgl.: Vospominanija general-fel’dmaršala grafa Miljutina. 1860–1862, S. 102. Zur Schilderung einer Begegnung mit Nikolaus II. am Bahnhof [von Malaja Višera?] im März 1912 durch den Eisenbahnarbeiter Ivan V. Volynkin: Goehrke, Russischer Alltag, Bd. 2, S. 288. Dort zit. nach: [I. V. Volynkin:] „Sobytija idut svoim čeredom“. Dnevnik prostogo čeloveka, in: Istočnik. Dokumenty russkoj istorii, Moskva 1993, S. 45–54. Eine Szene dieser Art beobachtete der narodnik Michail Frolenko im Gouvernement Orel in den 1870er Jahren. Vgl. ders.: Načalo narodovol’čestva, in: Katorga i ssylka, 3 (24), Moskva 1926, S. 17–26, hier S. 21. [Hans-Lothar von Schweinitz]: Denkwürdigkeiten des Botschafters General v. Schweinitz, Bd. 1, Berlin 1927, S. 187. von Schweinitz]: Denkwürdigkeiten, Bd. 1, S. 187.
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ausgestattete Salonwagen, die den hochwohlgeborenen Passagieren bei Bedarf gegen entsprechendes Entgelt zur Verfügung gestellt wurden.29 Die Standardisierung der Abläufe einer Herrscherreise auf den russländischen Eisenbahnen erfolgte jedoch erst in den 1870er Jahren.30 So klappte zum Beispiel 1874 die Kommunikation zwischen den Eisenbahn- und den lokalen Gouvernement-Verwaltungen bei geplanten Fahrten eines Mitglieds der kaiserlichen Familie noch nicht reibungslos: Im Oktober dieses Jahres wies das Verkehrsministerium die Leitungen der einzelnen Bahngesellschaften darauf hin, dass die Gouverneure stets von der bevorstehenden Durchreise einer „Höchsten Persönlichkeit“ bzw. eines hohen Würdenträgers zu informieren seien.31 Dieser Hinweis macht deutlich, dass das Instrument der „Herrschaft durch Anwesenheit“ in Zeiten beschleunigter Zarenmobilität nur dann seine Wirkung entfalten konnte, wenn die lokalen Machthaber im Vorfeld auch über eine bevorstehende Reise eines Regenten oder hohen Beamten informiert waren. Nur so konnten sie entsprechende Vorbereitungen treffen und eine Delegation zum Empfang der jeweiligen Person entsenden. Auch bei der einheitlichen Markierung des ausgedehnten Territoriums als homogener Herrschaftsraum steckte der Teufel im Detail. So wies beispielsweise das Verkehrsministerium im Juli 1876 alle Eisenbahngesellschaften darauf hin, dass die meisten Bahnhöfe des Landes bei der Durchfahrt eines Hofzuges noch mit Fahnen geschmückt seien, „deren Farben bzw. Farbanordnung nichts mit den [offiziellen] russischen Flaggen“ zu tun hätten.32 Die Leitungen der Betreibergesellschaften wurden angewiesen, anlässlich der Reise einer „Höchsten Persönlichkeit des Herrscherhauses“ nur solche Fahnen zu hissen, die einem beigefügten Musterbogen entsprachen. Auch die einfachen Bediensteten der Bahnhöfe, die bei der Durchfahrt eines Mitglieds der Dynastie oder eines anderen Würdenträgers auf dem Bahnsteig Aufstellung zu nehmen hatten, mussten erst auf einheitliche Standards für die korrekte Begrüßung hoher Gäste verpflichtet werden. So nahm Verkehrsminister Pos’et im September 1879 bei einer Inspektionsfahrt daran Anstoß, 29 30
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Vgl. Muro, Karmannyj al’bom podvižnago sostava. Pravila o poezdach, upotrebljaemych dlja proezda Vysočajšich Osob po železnym dorogam (vom Kaiser bestätigt am 10.10.1878), in: Sistematičeskij sbornik dejstvujuščich na russkich železnych dorogach uzakonenij, Bd. 1, S. 342–345 und Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 3 (1888), S. 364–367. Ob uvedomlenii načal’nikov gubernij o proezde po železnym dorogam Vysočajšich Osob i vysšich sanovnikov, Cirkular’ techničesko-inspektorskogo komiteta železnych dorog Nr. 6087 vom 18.10.1874 bzw. 7460 vom 31.12.1874, zit. nach: Sistematičeskij sbornik dejstvujuščich na russkich železnych dorogach uzakonenij, Bd. 1, S. 341f. Vgl. auch: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 2 (1877), S. 133. – Der „ungeregelte Ablauf (bezporjadki)” der Herrscherreise auf den russischen Eisenbahnen bot in dieser Zeit wiederholt Anlass für Beschwerden von höchster Stelle beim Verkehrsminister. Vgl. z.B. O merach dlja obezpečenija porjadka pri poezdach Vysočajšich Osob po železnym dorogam, Cirkular’ techničesko-inspektorskogo komiteta železnych dorog Nr. 1200 vom 28.2.1874, in: ebd., S. 99. O flagach koimi predostavljaetsja ukrašat’ stancii železnych dorog pri proezde Vysočajšich Osob, Cirkular’ techničesko-inspektorskogo komiteta železnych dorog Nr. 4001 vom 29.7.1876, zit. nach: Sistematičeskij sbornik dejstvujuščich na russkich železnych dorogach uzakonenij, Bd. 1, S. 342.
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dass bei seiner Ankunft an einem (nicht genannten) Bahnhof einige Bedienstete ihre Uniformmütze abgenommen, andere jedoch die Hand zum Gruß an den Schirm ihrer Kappe geführt hätten.33 Der Minister, offensichtlich bestrebt, alle Betriebsabläufe auf den Eisenbahnen nach militärischem Vorbild zu vereinheitlichen, sorgte umgehend für die Formulierung einer entsprechenden Verordnung, die die korrekte Begrüßung eines Würdenträgers an einem Ort des russischen Eisenbahnraumes regeln sollte. Laut dieser Verfügung vom 9. Januar 1880 konnte ein Mitglied der kaiserlichen Familie von nun an damit rechnen, bei seiner bzw. ihrer Reise an jedem Bahnhof von uniformierten Bahnbediensteten empfangen zu werden, die zur Begrüßung drei Schritte nach vorne traten und ihre rechte Hand zum Schirm ihrer Mütze führten.34 Von diesen inszenierten Begegnungen zwischen Zar und Untertanen gingen Botschaften an unterschiedliche Personengruppen aus. Bewohner der Hauptstädte, bzw. ausländische Beobachter, die den Verlauf der Veranstaltung in der Presse bzw. im Anschluss in offiziösen Erlebnisberichten nachvollzogen, konnten sich auf diese Art die Topografie des Zarenreiches neu vergegenwärtigen und die durch den Besuch einer Person aus dem Herrscherhaus aufgewerteten Orte auf ihren kognitiven Karten „markieren“. Für Mitglieder der lokalen Gesellschaft stand eher die Bestätigung oder Neuordnung der sozialen Hierarchie, wie sie sich in der Zusammensetzung der Empfangskomitees an einem bestimmten Ort widerspiegelte, im Vordergrund. Schließlich war jedoch auch der Kaiser bzw. der Thronfolger selbst ein wichtiger Rezipient von Begegnungen dieser Art. Aus der privaten Korrespondenz der letzten drei Herrscher auf dem russländischen Thron wissen wir, dass die Zusammenkunft mit Vertretern des „einfachen Volkes“ von den Petersburger Monarchen wiederholt als Bestätigung einer tiefen Verbindung zwischen Herrscher und Untertanen empfunden wurde. So teilte beispielsweise Alexander II. am 16. August 1858 in einem Brief aus Kostroma seinem Bruder, Großfürst Konstantin Nikolaevič mit: „Wir sind mit unserer Reise sehr zufrieden. Wir werden überall mit unaussprechlich großer Freude empfangen, die manchmal sogar fast in Hysterie umschlägt. Besonders in Jaroslavl’ war es fast schon gefährlich, sich auf der Straße zu zeigen.“35
Für den Adressaten dieses Schreibens, der Alexander am 19. August aus Strel’na antwortete, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass man diesen Empfang durch
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Cirkular’ techničesko-inspektorskogo komiteta železnych dorog, Nr. 313 vom 9.1.1880, zit. nach: Timofeev, Objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii, S. 1049. Prikaz MPS, Nr. 86, 12.7.1911, in: Timofeev, Objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii, S. 1049f. Perepiska Imperatora Aleksandra II s Velikim Knjazem Konstantinom Nikolaevičem: Dnevnik Konstantina Nikolaeviča, hg. von L. G. Zacharova und L. I. Tjutjunnik, Moskva 1994, S. 65. – Zum Besuch Alexanders in Kostroma vgl. auch: Materialy dlja istorii uprazdnenija krepostnogo sostojanija pomeščičkich krest’ja v Rossii v carstvovanie imperatora Aleksandra II, Berlin 1860, Bd. 1, S. 370f.; Tatiščev, Imperator Aleksandr Vtoroj, Bd. 1, S. 275; Wortman, Scenarios of Power (2006), S. 208f.
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das „gute rechtgläubige Volk“ nur als Ausdruck der ungebrochenen Liebe „unseres Volkes“ zu seinem „Weißen Zaren“ interpretieren könne.36 Auch in der offiziellen Berichterstattung über die symbolischen Reisen des Kaisers bzw. Thronfolgers wurde wiederholt das Bild der innigen Verbindung zwischen „Zar und Volk“, wie es sich angeblich in den Begegnungen zwischen Herrscher und Untertanen zeigte, beschworen. Exemplarisch lässt sich dies am Bericht über die Repräsentationsreise von Aleksander Aleksandrovič und seiner Frau Marija Fedorovna im Jahr 1869 verdeutlichen. Die erste Etappe ihrer Fahrt von Moskau nach Nižnij Novgorod legte das Thronfolgerpaar mit dem Zug zurück. Dementsprechend dienten auf dieser Strecke die Bahnhöfe, an denen der kaiserliche Zug Station machte, bzw. die Plattform des Waggons, in dem der Carevič und die Cezarevna reisten, als Bühne imperialer Selbstrepräsentation. Auf seiner Fahrt nach Nižnij hielt der Hofzug fast an jeder Station und wurde überall von der Bevölkerung euphorisch begrüßt. Der Hofberichterstatter gab zu Protokoll, dass seine Hoheiten bei jedem Halt auf die Plattform ihres Waggons traten „um dem Volk den freien Blick auf SIE zu ermöglichen. Es war eine Freude dieses Publikum zu betrachten, in die Vielzahl gesunder und zufriedener Gesichter zu blicken, die vor Glück strahlten und den donnernden Begrüßungsruf für den Zaren und seine Familie zu hören, der einem jeden russischen Herz vertraut ist. Wenn es auf der ganzen Welt einen Chor ohne falsche Töne gibt – hier kann man ihn hören. Die russische Seele, die nationale Seele jubelt. Sie erkennt sich selbst im lebendigen Gesicht des Zaren und im Gesicht seines Sohnes und lauscht der eigenen Geschichte und Bestimmung.“37
Die Begegnungen des Thronfolgerpaares mit den Repräsentanten des „Volkes“ vollzogen sich an den jeweiligen Bahnstationen immer nach dem gleichen Schema. Wie in Pavlovskij Posad traten auch in Kovrov, Vjazniki und an der Station Novskaja Repräsentanten „aller Stände“ den hohen Besuchern entgegen und überreichten ihnen Brot und Salz. Stadtoberhäupter oder Vorsitzende der zemstvoVerwaltungen begrüßten die Gäste mit „einfachen Reden“, die jedoch „ausdrucksstark und mit einer lauten und klingenden Stimme vorgetragen wurden und die Herzen aller erreichten, die zuhörten.“38 Selbst an der Station Kalačevskaja, an der kurzen Verbindungsbahn zwischen Wolga und Don im Süden des Landes, die die Reisenden zwei Wochen später erreichten, intonierte das lokale Empfangskomitee
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Brief von Konstantin Nikolaevič an Alexander II. vom 19.8.1858, in: Perepiska Imperatora Aleksandra II s Velikim Knjazem Konstantinom Nikolaevičem, S. 66. Putešestvie Gosudarja Naslednika Cezareviča i Gosudaryni Cezarevny v 1869 godu, Moskva 1869, S. 3–4. – Vgl. auch den Bericht über die Reise des (1865 verstorbenen) Carevič Nikolaj Aleksandrovič im Jahr 1861: Putešestvie Gosudarja Naslednika Cezareviča v 1861 godu, Sankt Peterburg 1861 [= Wiederabdruck aus der Zeitschrift Severnaja pčela] bzw. I. K. Babst, K. P. Pobedonoscev: Pis'ma o putešestvii Gosudarja Naslednika Cezareviča po Rossii ot Peterburga do Kryma, Sankt Peterburg 2010. Putešestvie Gosudarja Naslednika (1869), S. 4.
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die „Nationalhymne“ und begrüßte den Thronfolger und seine Gattin mit einem vielstimmigen „Hurrah!“39 5.1.2. Strukturen der Raumwahrnehmung Anfang der 1880er Jahre hatten sich die Begrüßungsrituale, die beim Empfang oder der Durchfahrt einer kaiserlichen Hoheit auf den Bahnhöfen des russländischen Eisenbahnraumes abliefen, weitgehend eingespielt. Offensichtlich maßen die Mitglieder der kaiserlichen Familie diesen nach dem gleichen Schema ablaufenden Begegnungen jedoch immer weniger Bedeutung zu. Etwas enerviert berichtete beispielsweise Kaiserin Marija Fedorovna, die im Mai 1894 mit dem Zug von St. Petersburg in den Kaukasus reiste, in einem Brief an ihren Mann, dass man sie an „irgendeiner Station (očerednaja stancija)“ mit „Hurrah!-Rufen“ und der Hymne Bože Carja Chrani aus dem Schlaf gerissen habe. Dies sei zwar einerseits „rührend“, andererseits jedoch auch „ärgerlich“ gewesen, schließlich musste sie „aufstehen und den Gouverneur von Rjazan’ empfangen, der [ihr] einen Blumenstrauß überreichte. Zudem kamen [die Delegationen] eines Gymnasiums sowie eines Waisenhauses und noch eine Masse [anderen] Volks.“40 Einen Tag später, als sich ihr Zug bereits in der Anfahrt auf die Stadt Novočerkassk befand, hielt die Kaiserin die bevorstehende Begrüßungszeremonie davon ab, in ihrem Salonwagen in Ruhe den Brief an ihren Gatten zu Ende zu schreiben: „In Novočerkassk kommen [bestimmt] wieder viele Menschen. Ich ende [daher] hier und bringe mein Äußeres noch etwas in Ordnung, damit ich beim Empfang einen respektablen Anblick biete.“41 Die Regentin empfand die zeremoniellen Begrüßungen, die sie an jedem Bahnhof erwarteten, offenbar nur als eine lästige Pflicht, als ein Ritual, das von der physischen Erscheinung des Mitglieds des Herrscherhauses und dessen Betrachtung durch die versammelten Untertanen lebte.42 39
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Putešestvie Gosudarja Naslednika (1869), S. 47. – Mit Argwohn blickten die Behörden darauf, wenn außer den Mitgliedern der Dynastie auch anderen Personen des öffentlichen Interesses an Bahnhöfen ein großer Empfang bereitet wurde. Als sich Lev Tolstoj, der kurz zuvor wegen seiner kirchenkritischen Schriften aus der Russisch-Orthodoxen Kirche ausgeschlossen worden war, 1901 wegen einer Krankheit auf die Reise in den Süden des Reiches begab, wurde er am Bahnhof von Char’kov von 7.000 Anhängern begeistert begrüßt. Weitere Begegnungen dieser Art versuchte die Reichsregierung dadurch zu vereiteln, dass sie die Reiseroute des Schriftstellers fortan unter Geheimhaltung stellte. Vgl. Nickell, The Death of Tolstoy, S. 63 und 123. Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija . Perepiska 1884–1894 gody, hg. von Aleksandr Bochanov u. Julija Kudrina, Moskva 2001, S. 222 (Brief vom 10. Mai 1894). (Bei diesem und den folgenden Zitaten handelt es sich um Übersetzungen aus dem Französischen durch die Herausgeber des Briefwechsels.) Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 224 (Brief vom 11. Mai 1894). Zur Funktion des Blicks in der Adels- und Hofkultur Russlands im 18. und frühen 19. Jahrhundert: Georg Witte: Der Blick auf sich selbst. Russische Autobiographien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Christa Ebert (Hg.): Individualitätskonzepte in der russischen Kultur, Berlin 2002, S. 34–64, hier S. 35f.
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Ein ähnlich abgeklärtes Verhältnis zu den Empfangsritualen, die sich bei der Ankunft eines Mitglieds der Herrscherfamilie an den Bahnhöfen des Zarenreiches abspielten, hatte auch Nikolaus II., der aufgrund seiner zehnmonatigen Asienreise in den Jahren 1890–1891 international als „Globetrotter auf dem Zarenthron“ belächelt wurde.43 Schon auf dem Weg zu seiner Krönung in Moskau notierte er am 6. Mai 1896 in sein Tagebuch: „Zum ersten Mal müssen wir [gemeint sind er und seine Frau Alexandra Fedorovna, F.B.S.] [im Zug] getrennt schlafen. Das ist langweilig! Bin um neun Uhr aufgestanden. Nach dem Kaffee antwortete ich auf Telegramme – nicht mal in der Eisenbahn lassen sie einen in Ruhe. In Tver’ kamen einige Delegationen und 60 Damen mit Blumen.“44
Als Nikolaus II. einige Wochen später nach St. Petersburg zurückkehrte, schien er vom „unumgänglich großen Empfang mit Familie, Hofstaat und Ehrenwache“, der ihn am 22. Juni 1896 an der Station der Nikolaj-Bahn erwartete, nicht sonderlich begeistert gewesen zu sein.45 Auch bei seinen folgenden Reisen maß er den sich wiederholenden Begrüßungszeremonien an den Bahnhöfen offensichtlich keine größere Bedeutung zu. In seinem Tagebuch nahm er insbesondere von den militärischen Einheiten Notiz, die ihn an den jeweiligen Zwischenstopps empfingen. Als er beispielsweise am 17. Juli 1896 mit der Eisenbahn in Nižnij Novgorod eintraf, vermerkte er in seinem Journal, dass ihn dort ein „gewöhnlicher Empfang (obyčnaja vstreča)“ und eine Ehrenwache des 11. Fonagorijskij-GrenadierRegiments erwartet hätten.46 Auch der Empfang am Bahnhof in Kiev am 19. August 1896 war aus der Sicht des Kaisers nichts besonderes, d.h. er verlief „wie immer“. Bemerkenswert erschien Nikolaus dort lediglich, dass die Soldaten der Ehrenformation die Uniformen des 129. Bessarabischen Regiments trugen.47 Diese Wahrnehmungsmuster prägen die meisten Eintragungen in seinem Tagebuch, in denen von Begegnungen mit Delegationen auf den Bahnhöfen der verschiedenen Regionen seines Reiches die Rede ist.48 Dem letzten Regenten auf dem russ43 44
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Zur Asienreise Nikolaus’ II.: Wortman, Scenarios of Power (2006), S. 324–327; Utz, Die Orientreise Nikolaus II., S. 127–135. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., hg. von K. F. Šacillo, Moskva 1991, S. 143 (Eintrag vom 6.5.1896). Die Tagebücher Nikolaus’ II. für die Jahre 1894–96, 1904–07, 1913–1916 sind auch im Internet abrufbar. URL: http://rus-sky.com/history/library/diaris/1894.htm [zuletzt aufgerufen am 1.8.2013]. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 153 (Eintrag vom 22.6.1896). Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 157 (Eintrag vom 17.7.1896). Ziel dieser Reise des Kaiserpaars war der Besuch der Messe in Nižnyj Novgorod. Vgl. Otčet inspekcii imperatorskich poezdov za 1896 g., hg. von Ministerstvo Putej Soobščenija, S. 113–123. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 163 (Eintrag vom 19.8.1896). Nikolaus II. und Aleksandra Fedorovna waren am 13. August zu einer mehrmonatigen Auslandsreise aufgebrochen. Auf ihrer Fahrt gen Westen machten sie u.a. in Warschau und Kiev Station. Zu dieser Reise vgl. Otčet inspekcii imperatorskich poezdov za 1896 g., S. 122–171; Putešestvie po Rossii i za granicej ich Imperatorskich Veličestv Gosudarja Imperatora Nikolaja Aleksandroviča i Gosudaryni Imperatricy Aleksandry Fedorovny 13 avgusta – 19 oktjabra 1896 g., Sankt Peterburg 1896; zum Empfang in Kiev, ebd., S. 19. Vgl. z.B. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 44 (28.10.1894): „Überall die gleichen Treffen – Ehrengarden, die ganze [lokale] Führungsriege, [Delegationen von] Bildungseinrichtungen
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ländischen Thron präsentierte sich das Zarenreich als ein Herrschaftsraum, in dem zentrale symbolische Praktiken, wie zum Beispiel die feierliche Begrüßung des Herrschers in der Provinz, nach einem einheitlichen Muster abliefen. Die soziale, ethnische und kulturelle Vielfalt seines Landes fand in den Eintragungen des Tagebuches dagegen keinen Niederschlag. Allein die Vielfalt der Uniformen der Zarenarmee erinnerte den Herrscher auf seinen Reisen offenbar daran, über was für ein heterogenes politisches Gebilde er in Wirklichkeit regierte. Zweifelsohne stabilisierte die infrastrukturelle Vernetzung des Zarenreiches die Vorstellung der reisenden Selbstherrscher von ihrem Land als einheitlicher Herrschaftsraum.49 Den mobilen Regenten und ihrem Gefolge blieb auf ihren Reisen das Umsteigen innerhalb des russländischen Streckennetzes selbstverständlich erspart, die Bewegungen des Hofzuges über die Teilnetze der unterschiedlichen Bahngesellschaften verliefen meist reibungslos und für sie unbemerkt. Auf ihren Fahrten nutzten die Kaiser die Salonwagen ihres Zuges als Arbeitskabinett und Empfangsräume und kommunizierten auf Zwischenhalten via Eisenbahntelegraf mit den Reichsbehörden in St. Petersburg.50 Von den geografischen, kulturellen oder administrativen Binnengrenzen ihres Landes nahmen die Regenten dabei offenbar kaum Notiz.51 Anders verhielt es sich mit der Wahrnehmung der Außengrenze des Zarenreiches, welche die Monarchen auf ihren Fahrten in die westlichen Nachbarländer – wegen der geringen Anzahl grenzüberschreitender Eisenbahnlinien – immer an den gleichen Orten überquerten. Auf den mental maps der Regenten (und anderer Reisender aus dem Zarenreich) hatten die Grenzbahnhöfe Granica (auf der Bahnlinie Warschau-Wien) sowie Veržbolovo52 auf der Strecke von Kovno (Kaunas)
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etc.)“ und S. 158 (20.7.1896), S. 162 (14.8.1896), S. 164 (23.8.1896), S. 208 (5. u. 8.5.1904), S. 216 (29.6.1904), S. 224 (16.8.1904), S. 229 (18.9.1904), S. 235f. (26.–30.10.1904), S. 242 (22.12.1904), S. 399 (16. u. 17.5.1913), S. 402 (24.5.1913), S. 438 (18.12.1913). Der Bewegungsradius der russländischen Kaiser blieb jedoch auch im Eisenbahnzeitalter eingeschränkt. So reiste beispielsweise keiner der Zaren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Turkestan. Auch Zentral- und Ostsibirien wurden von Nikolaus II. nach seiner Asienreise in den Jahren 1890/91 nicht nochmals besucht. Zur Nutzung des Hofzuges als kaiserliches Empfangsgemach unter Alexander II. und Alexander III: von Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Bd. 1, S. 401; Bd. 2, S. 89, 103, 267. Informationen über die geplanten Aufenthaltsorte sowie die Ankunfts- und Abfahrtszeiten des Zuges (in Petersburger- und Ortszeit) konnten die Regenten einem „Schmuck-Fahrplan (paradnoe rospisanie)“ entnehmen, der eigens für jede Herrscherreise erstellt wurde. Diese Broschüren enthielten auch Angaben über die befahrenen Teilnetze der jeweiligen Bahngesellschaften und die durchquerten Gouvernements und Bezirke (uezdy). Položenie ob imperatorskich poezdach, 24.4.1892, hg. von Ministerstvo putej soobščenija, Sankt Peterburg 1892, § 45, S. 35. Zur Erwähnung von Wirballen/Veržbolovo in (russischen und westlichen) Reiseberichten und Memoiren vgl.: Aleksandr N. Ostrovskij: Poezdka za granicu v aprele 1862 g., in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 13, Moskva 1952, S. 238–261, hier S. 240; K. T. Pugovin: Vospominanija iz putešestvija po Rossii i za graniceju v pis’mach, Sankt Peterburg 1863, S. 73; Anna Grigorjewna Dostojewskaja: Tagebücher. Die Reise in den Westen. Aus dem Russischen von Barbara Conrad, Königstein 1985, S. 5f. (Grenzübertritt im April 1867); Klevanov, Putevyja zametki, S. 373; de Windt, Siberia as it is, S. 11; Michail E. Saltykov-
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nach Königsberg daher bald einen festen Platz.53 Nicht zuletzt wegen seiner geografischen Nähe zu St. Petersburg entwickelte sich die kleine und bislang unbedeutende Ortschaft Veržbolovo im Gouvernement Suwałki nach dem Bau der Schienenverbindung Anfang der 1860er Jahre zu einem der wichtigsten Transitpunkte für den Personen- und Güterverkehr an der Westgrenze des Zarenreiches.54 Gleichzeitig wurde der Name des Ortes im russischen Sprachgebrauch bald zu einer Chiffre für die Kontaktzone zwischen „Russland“ und „Europa“ im weiteren Sinne.55 Wegen der unterschiedlichen Spurbreiten des russischen und des preußi-
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Ščedrin: Za rubežom (1880–1881), in: ders.: Sočinenija, Bd. 4, Moskva, Leningrad 1927, S. 137–358, hier S. 143; Vasilij V. Rozanov: Pograničnye zapachi, in: ders.: Inaja zemlja, inoe nebo… Polnoe sobranie putevych očerkov, 1899–1913, Moskva 1994, S. 447–449; Alfons Paquet: Im zaristischen Russland [1910], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3: Reisen, Stuttgart 1970, S. 29–59, hier S. 29; Mary Antin: The Promised Land, Boston 1912, S. 169f.; Barbara Doukhovskoy [Varvara Duchovskaja]: The Diary of a Russian Lady, London 1917, S. 312; Nicolas Nabokov: Zwei rechte Schuhe im Gepäck. Erinnerungen eines russischen Weltbürgers, München 1975, S. 10. Seit den 1860er Jahren war eine Eisenbahnreise von Russland ins Deutsche Reich auch über die Grenze bei Alexandrovo (Strecke von Skiernewice nach Bromberg) möglich. Anfang des 20. Jahrhunderts passierten ca. 80 % der russischen Zugreisenden auf ihrem Weg nach Westeuropa Veržbolovo oder Alexandrovo. Vgl. Elena Razvozjaeva: L’Historie du tourisme russe en France, in: Bulletin de l’Institut Pierre Renouvin, Nr. 25, 2007, URL : http://www.univparis1.fr/autres-structures-de-recherche/ipr/les-revues/bulletin/tous-les-bulletins/bulletin-n25/lhistoire-du-tourisme-russe-en-france/ [aufgerufen am 1.8.2013]. Zur Bedeutung von Veržbolovo als Transitpunkt des russländischen Außenhandels gegen Ende des 19. Jahrhunderts: A. V.: Veržbolovo, in: Ėnciklopedičeskij slovar’, hg. von F. A. Brokgauz u. I. A. Efron, Bd. 6, Sankt Peterburg 1892, S. 31f. Zur Bedeutung Veržbolovos als Ausgangspunkt der Spionage gegen Russland bzw. als Ort der russischen Spionageabwehr: William C. Fuller: The Foe Within. Fantasies of Treason and the End of Imperial Russia, Ithaca 2006, S. 15. – Lohnend erscheint eine eigene Abhandlung über den Grenzbahnhof Veržbolovo und die Versuche der Zarenregierung, an diesem Ort den Import von Waffen und verbotenem Schrifttum aus West- und Mitteleuropa bzw. die Einreise politisch missliebiger Personen in das Zarenreich zu unterbinden. Vgl. dazu der umfangreiche Aktenbestand im GARF f. 127, op. 1, ed. chr. 43–959. Dem Ort Wirballen/Veržbolovo setzten unter anderem die Dichter Aleksandr Blok, Il’ja Ėrenburg, Vladimir Majakovskij und Vladimir Nabokov in ihren Erinnerungen ein literarisches Denkmal. Zur „toponymischen Bedeutung (toponimičeskij smysl)“ von Veržbolovo in der russischen Poesie: Leving, Vokzal – Garaž – Angar, S. 168. – Zur symbolischen Bedeutung des Grenzbahnhofes und seiner Geschichte als verschwundener Erinnerungsort auf der Landkarte Europas: Marius Ivaškevičius: Die Zivilisation Wershbolowo. Virbalis/Litauen, in: Katharina Raabe, Monika Sznajderman (Hg.): Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas, Frankfurt 2006, S. 44–61. (Für diesen Literaturhinweis danke ich Mateusz Hartwich). – Zur Geschichte und Bedeutung des Grenzbahnhofes Eydtkunen, dem „Gegenüber“ von Veržbolovo auf der preußischen Seite: Karl Schlögel: Eydtkuhnen oder die Genese des Eisernen Vorhangs, in: ders., Berlin. Ostbahnhof Europas, S. 39–57, hier 51 u. 56. – In seinem literarischen „Reisebericht” über seine erste Fahrt nach Westeuropa 1862 erwähnt Fedor Dostoevskij zwar die Grenzstation Eydtkunen, verzichtet jedoch auf eine Beschreibung der Grenzpassage: Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke [Zimnie zametki o letnich vpečatlenijach], Reinbek 1962, S. 5–67, hier S. 27. Vgl. dazu: Dwyer, Improvising Empire, S. 65.
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schen Eisenbahnnetzes mussten auch reisende Monarchen bei ihrer Fahrt über die Grenze von einem Zug in einen anderen umsteigen.56 Da das Verladen des Gepäcks meist einige Zeit in Anspruch nahm, hatten die reisenden Herrschaften Gelegenheit, sich in den Zarengemächern des Bahnhofsgebäudes etwas auszuruhen, Telegramme zu versenden oder sich von den Bediensteten über die aktuellen politischen Entwicklungen im In- und Ausland informieren zu lassen. Der Übertritt der Grenze des eigenen Herrschaftsbereiches wurde von den Kaisern als so bedeutsam wahrgenommen, dass sie davon in Briefen und Tagebüchern wiederholt berichteten.57 In der Argumentation Wolfgang Schivelbuschs wurde der Blick des Reisenden im Eisenbahnzeitalter von der durchquerten Landschaft auf den Innenraum des Zuges gelenkt, auf ein mitgeführtes Buch oder auf andere Menschen im Waggon. Die Topografie der durchfahrenen Gegend habe sich dem Eisenbahnreisenden nur noch als zweidimensionales Panorama(gemälde) dargeboten, das am Zug vorüber glitt und das durch die äußeren Begrenzungen des Waggonfensters gerahmt wurde. Gleichzeitig habe das Waggonfenster den/die Reisende/n von der Außenwelt abgekoppelt und auf eine neue Form der Introspektion im Zug zurückgeworfen.58 Wenngleich die schmale Quellenbasis nur vorsichtige Schlüsse bezüglich der Raumwahrnehmung der reisenden Mitglieder der russischen Herrscherfamilie zulässt, scheinen sich die Annahmen Schivelbuschs beim Blick auf die Reisebeschreibungen in den Briefen Marija Fedorovnas und den Tagebucheinträgen ihres Sohnes Nikolaus II. zu bestätigen. Die luxuriöse Ausstattung der Hofzüge ermöglichte es den reisenden Kaisern, sich während der vergleichsweise ruhigen Fahrten der Lektüre, dem Aktenstudium, dem Verfassen von Briefen oder der Konversation mit anderen Mitgliedern der Reisegesellschaft zu widmen. Von der durchfahrenen Landschaft nahmen sie dabei oft nur oberflächlich Notiz. So schilderte beispielsweise Kaiserin Marija Fedorovna rückblickend ihrem Mann in einem Brief die Eindrücke von ihrer Fahrt von Gatčina nach Offenbach im Mai 1884: „Das Wetter war herrlich, zum Glück. Es war so schön zu sehen, wie wir langsam aber sicher in den Sommer fuhren. Am Anfang sahen wir ausschlagende Bäume, dann blühende Obst56
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In Granica mussten Reisende aus Russland dagegen nur dann in einen Zug mit einem schmaleren Fahrwerk umsteigen, wenn sie aus Richtung Kiev kamen. Die Strecke aus Warschau hatte dagegen die gleiche Spurweite wie das Schienennetz im Habsburgerreich. Reiste der Zar mit dem Zug aus St. Petersburg über Warschau nach Wien, wechselte er bereits an der Weichsel von einem Hofzug der russischen „Breitspur“ auf einen „Auslandszug“ mit entsprechend schmalerem Fahrwerk. Zum „Bruch“ im russländischen Schienennetz und die Diskussion über eine Vereinheitlichung der Spurweite im Zarenreich vgl. Kap. 3.1. Vgl. Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 175 (Brief Marija Fedorovnas vom 11./23. Mai 1884); Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 162 (Einträge vom 15. u. 16.8.1896), S. 164 (23.8.1896), S. 175 (18.10.1896), S. 397 (8.5.1913), S. 398 (12.5.1913). – Die Notwendigkeit, die Uhren an der Grenze auf die jeweils gültige Orts- bzw. Eisenbahnzeit umzustellen, wurde in den untersuchten Selbstzeugnissen allerdings nie erwähnt. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 51–65. Zur Bedeutung des Waggonfensters als begrenzendes Element von Innen- und Außenraum im Zug vgl. auch: De Certeau, Die Kunst des Handelns, S. 210f., 214.
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Schienen der Macht bäume, dann blühenden Flieder, und als wir ankamen, war dieser [dort] schon fast verblüht.“59
In einem Brief, den sie sechs Jahre später auf ihrer Reise in den Kaukasus verfasste, findet sich eine ähnliche Landschaftsbeschreibung. Am 12. April 1892 eröffnete ihr der Blick durch das Waggonfenster kurz vor Vladikavkaz folgendes Bild: „Die Felder sind bereits grün und man sieht jede Menge Blumen, aber die Bäume tragen noch kein Laub. Das ist ungewöhnlich und bitter.“60 Einen Monat später schilderte sie die Natur Südrusslands vor ihrem Zugfenster wie folgt: „Die Vegetation rundherum ist großartig. Entlang der Strecke sieht man sogar Maiglöckchen, ich kann aber leider nicht aussteigen, um sie zu pflücken.“61 Einen Tag später fand sie für die Landschaft des Steppengebietes nördlich des Don diese Worte: „Sascha, ich bin so traurig ohne Dich! Und diese Steppen – kein einziges Bäumchen! Ich kann nicht verstehen, wie die Menschen hier leben können, ohne Pflanzen und ohne Bäume in dieser Hitze! Schrecklich!“62 – Es ist ein äußerst selektiver Blick auf die am Zug vorüber ziehende Landschaft, der die Naturbeschreibungen dieser Briefe auszeichnet. In den Schilderungen Marija Fedorovnas findet sich kein Hinweis auf Menschen, die in den von ihr durchfahrenen Gegenden leben, kein Hinweis auf die Vielfalt der Ethnien, Religionen und sozialen Schichten des Zarenreiches. Das Landschaftsbild, das am Waggonfenster vorüber glitt, wurde von der Reisenden lediglich nach Informationen über den Stand der Vegetation und die Jahreszeit der jeweiligen Gegend „befragt“. Aus der Wahrnehmung der Diversität der verschiedenen geografischen Zonen, die das Zarenreich umfasste, erwuchs keine Begeisterung ob der Größe des eigenen Landes, sondern nur Befremden, wie man in der Kargheit der Steppenregion überhaupt leben könne. Ohnehin finden sich nur wenige Landschaftsbeschreibungen in den Briefen der äußerst „mobilen“ Kaiserin Marija Fedorovna. Offensichtlich zählte die Betrachtung der durchreisten Gegenden durch das Waggonfenster nicht zu ihren bevorzugten Tätigkeiten während einer Eisenbahnreise. So fand sie es durchaus bemerkenswert, dass eine westliche Hofdame in ihrem Gefolge – offensichtlich die Erzieherin ihrer Tochter Ksenija – auf der Reise in den Kaukasus im Frühjahr 1892 ein äußerst „lebendiges Interesse“ an der durchfahrenen Gegend zeigte und „ständig wie gebannt am Fenster saß.“63 Weit größeren Raum als die Beschreibungen der Landschaft vor ihrem Waggonfenster nehmen in den Briefen der Zarin die Schilderungen des Innenraums des Hofzuges ein. Ein immer wieder auftauchendes Thema – auch in den Telegrammen und Briefen ihres Mannes – ist dabei die Frage der Temperatur und Luftqualität im Zug. Wiederholt klagte Marija Fedorovna beispielsweise über 59
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Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 175 (Brief vom 11./23. Mai 1884). – Das Ziel dieser Reise war das Schloss Rumpenheim in Offenbach bei Frankfurt/Main, in dem Marijas Mutter, eine Prinzessin aus dem Hause von Hessen-Kassel, aufgewachsen war. Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 207 (Brief vom 12. April 1892). Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 222 (Brief vom 10. Mai 1892). Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 224 (Brief vom 11. Mai 1892). Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 207 (Brief vom 12. April 1892).
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Hitze, Schwüle oder staubige Luft in ihrem Waggon.64 Auch die rhythmischen Erschütterungen, die charakteristisch für das Reisen mit der Eisenbahn im 19. Jahrhundert waren, erwähnte die Kaiserin immer wieder in ihren Briefen.65 Schließlich war sie sehr um die Ausschmückung ihres rollenden Palastes sowie um das Wohlergehen der Mitglieder ihrer Reisegesellschaft (einschließlich ihres Hundes) besorgt.66 Allein die Tatsache, dass zahlreiche der hier besprochenen Briefe in einem Waggon des Herrscherzuges verfasst wurden, illustriert, welcher Stellenwert der privaten Korrespondenz bzw. der persönlichen „Innenschau“ auf den Reisen der Kaiserin zukam. Ein häufig wiederkehrendes Motiv in ihren Briefen ist dabei die Einsamkeit (im Zug), ein Topos, der sich auch in anderen Reiseberichten aus dem späten Zarenreich wiederfindet.67 Die Lektüre der Tagebücher Nikolaus’ II. legen den Schluss nahe, dass auch sein Blick während seiner zahlreichen Eisenbahnreisen durch Russland meistens auf das gerichtet war, was sich im Inneren seines Zuges ereignete. Wie andere Eisenbahnreisende nutzte der Regent den Blick durch das Fenster vor allem zur eigenen Orientierung in Raum. So finden sich in seinem Tagebuch Einträge, die auf seine Bemühungen hindeuten, den Zeitpunkt von Handlungen seines Tagesablaufs mit dem Ort, den sein Zug gerade passierte, zu verknüpfen. So heißt es zum Beispiel am 23. August 1896: „Ich schlief hervorragend und wachte in Kovel’ auf. Das Wetter war schön, nicht zu heiß. Wir fuhren durch Ivangorod, mit dem ich so viele Erinnerungen verbinde.“68 64
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Vgl. z.B. Telegramme von Alexander III. an seine Frau: vom 14.8.1888, aufgegeben in Peterhof; vom 10.6.1891, aufgegeben in Petersburg; Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 139, 140 sowie die Telegramme und Briefe der Zarin, aus dem Jahr 1888 (ohne Datum), ebd. S. 277; vom 27. August 1888, ebd. S. 279; vom 12. April 1892, ebd. S. 207 und vom 11. Mai 1894, ebd. S. 223f. Vgl. Briefe von Marija Fedorovna vom 11./23. Mai 1884 aus Rumpenheim (bei Frankfurt) sowie vom 12. April 1892 aus dem Kubangebiet. Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 175, 207. In diesen Schreiben betonte die Kaiserin, wie stark ihr Körper auf der Zugfahrt „durchgeschüttelt“ worden sei. Auch ihre Schwiegertochter Aleksandra Fedorovna, die Frau Nikolaus’ II., litt offenbar unter den körperlichen Erschütterungen während Eisenbahnreisen. Vgl. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 175 (18.10.1888). Die Belastung bzw. „Ermüdung“ der Nerven bei Zugreisenden war ein wichtiger Topos medizinischer Diskurse im 19. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa. Vgl. dazu Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 108–112. Ihre Sorge um das Wohlergehen ihres „armen“ Hundes „Mumu“ brachte sie zum Beispiel in ihrem Brief vom 10. Mai 1894 zum Ausdruck. Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 221f. Zur Ausschmückung und zum Blumenduft in ihrem Waggon: Brief vom 11. Mai 1894 (ebd., S. 224). Imperator Aleksandr III i Imperatrica Marija, S. 222 (Brief vom 10. Mai 1894). Vgl. auch Briefe, in denen die Zarin die Sehnsucht nach ihrem Mann ausdrückt: ebd., S. 206 (Brief vom 12. April 1892); Telegramm vom 10. Mai 1894, ebd., S. 280. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 164 (Eintrag vom 23.8.1896). An Nikolaus’ Tagebuch lässt sich zudem ablesen, wie stark das Zeitempfinden des Kaiser bereits von modernen Zeitkonzepten geprägt war, die sich nicht zuletzt durch den Einfluss von Fahrplänen der Eisenbahn herausgebildet hatten. So versah er die kurzen Schilderungen der Ereignisse eines Tages oft mit präzisen Angaben über Beginn, Dauer und Ende einer be-
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Nur vereinzelt findet man Bemerkungen, in denen Nikolaus von der bewussten Betrachtung der Landschaft durch das Fenster seines Waggons berichtet.69 In einem Fall zog die Fahrt durch das Uralgebirge und die Markierung der Grenze zwischen „Europa“ und „Asien“ auf einem Obelisk bei Zlatoust die Aufmerksamkeit des Kaisers auf sich, bei einer anderen Gelegenheit notierte er in seinem Tagebuch, wie er sich gemeinsam mit seinem Sohn Aleksej im August 1913 an der Szenerie der Krim entlang der Strecke nach Sevastopol’ erfreute.70 Die meisten Reisenotizen auch seines Tagebuches beziehen sich indes auf das Leben, das er im Inneren seines Hofzuges führte bzw. auf die Temperatur in seinem Waggon.71 Zudem wird aus den Aufzeichnungen deutlich, dass sich Nikolaus auf seinen Reisen die Zeit zwischen den immer gleich ablaufenden Empfängen an den Bahnhöfen der Provinz meist mit der Lektüre von Akten und Büchern, mit Brettspielen und gelegentlich auch mit Musizieren vertrieb.72 Wie das oben angeführte Zitat vom 6. Mai 1896 verdeutlicht, betrachtete der Kaiser seinen rollenden Palast dabei vor allem als einen privaten Raum, den er am liebsten mit seiner Gattin teilte. Nachrichten, die ihn hier an sein Amt als russländischer Kaiser erinnerten, empfand er dagegen als lästige Störung.73 So notierte er am 31. März 1900 nach einem anstrengenden Moskaubesuch: „Es ist so angenehm, in einem Eisenbahnwaggon zu sitzen, außerhalb der Reichweite von all diesen Ministern.“74 An einer anderen Stelle nennt Nikolaus seinen Waggon „Kajüte“, ein Bild, das den Wunsch nach Abgeschiedenheit und räumlichen Trennung
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stimmten Tätigkeit. Am 21.7.1896 notierte er z.B.: „Wir kamen in Peterhof um Viertel nach sechs an. [...] Um acht Uhr fand ein Abendessen im Familienkreis auf der eigenen dača statt.“ Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 158. Am 13.8.1896 hielt er fest: „Um zehn Uhr verabschiedeten wir uns von unserer lieben Tochter und fuhren zum Gottesdienst, von dort weiter zum Bahnhof. Um halb elf ging es los.“ Ebd. S. 162. Am 22. August 1896 hielt er fest: „Um 7 Uhr setzten wir uns in Bewegung. Wir aßen um halb acht zu Mittag, in Fastov steig Graf Ignat’ev aus.“ Ebd. S. 164. – Das Bemerkenswerte an diesen Zitaten, deren Liste noch verlängert werden könnte, ist weniger, dass der Tagesablauf des Kaisers mitunter wie der Fahrplan eines Zuges getaktet war, sondern vielmehr dass Nikolaus auch rückblickend der genauen Bestimmung der Uhrzeit einer bestimmten Tätigkeit eine so große Bedeutung zumaß, dass er diese in seinem Tagebuch festhielt. Wie Marija Fedorovna, studierte auch Nikolaus II. die Vegetation vor seinem Zugfenster, um zu eruieren, in welcher klimatischen Zone bzw. welcher „Jahreszeit“ er sich gerade befand. Vgl. ebd. S. 45 (29.10.1894), S. 224 (15.8.1904), S. 454 (27.3.1914). Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 217 (30.6.1904), S. 416 (9.8.1913). Vgl. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 157 (16.7.1896), S. 158 (20. u. 21.7.1896), S. 218 (3.7.1904), S. 224 (16.8.1904), S. 229 (18.9.1904), S. 242 (17.12.1904), S. 402 (24.5.1913), S. 416 (7.8.1913), S. 454 (26.3.1914), S. 467 (3.6.1914). Häufig findet sich die Formulierung „habe selbstverständlich [im Zug] so viel wie möglich gelesen“, Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 162 (13.8.1896), S. 175 (18.10.1888), S. 217 (2.7.1904), S. 224 (14.8.1904), S. 235 (26.u. 27.10.1904), S. 242f. (17. u. 22.12.1904), S. 399 (15.5.1913), S. 438f. (18. u. 19.12.1913), S. 454 (25.3.1914), S. 467 (3.6.1914). Vgl. z.B. auch der Eintrag vom 29.10.1894: „Für mich ist die Anwesenheit meiner teuersten Alix im Zug ein gewaltiger Trost und Stütze.“ Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 45. GARF f. 601, op. 1, ed. chr. 241, ll. 92f., zit. nach: Wortman, Scenarios (2006), S. 348.
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seines Salonzuges von der Außenwelt und dem öffentlichen Raum sinnfällig zum Ausdruck bringt.75 5.1.3. Die Sicherheit des Zaren im technischen Zeitalter Die Erkenntnis, dass der Bau der Eisenbahn dem russländischen Kaiser nicht nur neue Möglichkeiten der Herrschaftsausübung und -repräsentation in seinem weitläufigen Reich eröffnete, sondern die Nutzung des Verkehrsmittels auch neuartige Gefahren für Leib und Leben des Selbstherrschers mit sich brachte, war das Ergebnis eines längeren Lernprozesses, den sowohl die Reichsbürokratie als auch der Monarch zu durchlaufen hatten. Wie der Personenverkehr auf dem Schienennetz des Zarenreiches insgesamt, wurden auch die technischen und administrativen Abläufe der Zugreisen des Kaisers und seiner Familie erst in den 1870er Jahren standardisiert.76 In der entsprechenden Verordnung aus dem Jahr 1878 legte die Reichsregierung Mindest- und Höchstgeschwindigkeiten sowie die maximale Länge von Hofzügen fest und definierte die Zuständigkeiten für die Wartung der Waggons sowie für die Modalitäten der Kostenabrechnung einer Herrscherreise.77 Der Frage der Sicherheit des Kaisers auf Bahnfahrten war in dieser Verordnung noch kein eigener Paragraf gewidmet. Die Bahngesellschaften wurden lediglich in allgemeiner Form dazu verpflichtet, auf ihren Streckennetzen für einen „geregelten, ruhigen und sicheren Verkehr“ der hochgestellten Persönlichkeiten zu sorgen (§ 1). Bei der praktischen Umsetzung dieser Aufgabe arbeiteten die Verwaltungen der Eisenbahnkompanien eng mit den lokalen Polizeibehörden sowie der Eisenbahn-Gendarmerie zusammen. Die Kontrolle der Strecke auf mögliche Beschädigungen bzw. die Aufstellung von Wachposten entlang des Bahnkörpers oblag den Leitungen der – häufig privat geführten – Verkehrsunternehmen. So wies beispielsweise der Chefingenieur der von der Hauptgesellschaft der Russländischen Eisenbahnen betriebenen Nikolaj-Bahn Zubov in einem Rundschreiben vom 12. November 1879 die Leiter der einzelnen Streckenabschnitte zwischen Moskau und St. Petersburg an, für die bevorstehende Reise Alexanders II. in der Nacht vom 21. auf den 22. November die Weichen und Kreuzungspunkte zu warten sowie sperrige Gegenstände aus der Umgebung des Gleiskörpers zu entfernen.78 75
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Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 454 (Eintrag vom 26.3.1914). Vgl. auch Brief von Nikolaus II. an seine Mutter Marija Fedorovna vom 10.9.1911, in dem er beschreibt, wie er sich in einem Eisenbahnwaggon auf dem Weg von Kiev ans Schwarze Meer von dem Stress der Tage erholte. Kurz zuvor war Ministerpräsident Stolypin annähernd vor den Augen des Kaisers erschossen worden. Vgl. The Letters of Tsar Nicholas and Empress Marie, S. 264–268, hier S. 267. Zur Pravila dviženija po železnym dorogam otkrytym dlja obščestvennago pol’zovanija aus dem Jahr 1874 vgl. Kap. 3.1. Pravila o poezdach, upotrebljaemych dlja proezda Vysočajšich Osob po železnym dorogam, §§ 3, 7–17. Zirkular Nr. 4670 vom 12.11.1879; CGIA SPb f. 1480, op. 17, ed. chr. 1, ll. 171f.
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Damit sollte verhindert werden, dass „Übeltäter (zloumyšlenniki)“ zum Beispiel Schwellen auf die Gleise werfen und dadurch die Strecke blockieren könnten.79 Die Leiter der Gleisabschnitte waren zudem angewiesen, für die lückenlose Bewachung der Strecke bei der Durchfahrt des Zuges zu sorgen und den Herrscher bis zur Grenze des nächsten Etappenpostens persönlich zu begleiten. Bei Helligkeit waren „vertrauenswürdige Personen“ in einem Abstand von 100 sažen (ca. 213 Meter) entlang der Bahnlinie zu postieren. In der Nacht sollte diese Distanz auf 50 sažen reduziert und jeder Wachposten verpflichtet werden, an seinem Einsatzort ein Signalfeuer zu entzünden.80 Dank dieser Vorkehrungen müssen die Bahnstrecken, die ein russländischer Herrscher auf seinen Reisen nutzte, insbesondere des Nachts für außen stehende Betrachter ein imposanter Anblick gewesen sein. Die Instruktionen aus dem Jahr 1879 zeigen, dass die Bahngesellschaften den Auftrag, für einen reibungslosen und sicheren Ablauf der Reise des Monarchen zu sorgen, durchaus ernst nahmen und dabei weder personellen noch finanziellen Aufwand scheuten. So wurden beispielsweise für die Bewachung des Abschnitts zwischen dem 51. und dem 118. Streckenwerst der Nikolaj-Bahn am 22. November 545 Personen abgestellt, die aus den Reihen des Bahnpersonals bzw. aus der lokalen Bevölkerung zu rekrutieren waren und deren Vertrauenswürdigkeit mit Hilfe der lokalen Polizeibehörden überprüft werden musste.81 Rechnet man die Anzahl des Wachpersonals auf diesem Abschnitt (ca. 8 Personen/Werst) auf die gesamte Länge der Bahnlinie zwischen Moskau und St. Petersburg hoch, so waren allein in dieser Nacht mindestens 4.856 Menschen mit der Bewachung der Zugfahrt Alexanders II. von der einen Hauptstadt in die andere beschäftigt. Die Reise Alexanders II. im November 1879 von seiner Sommerresidenz in Livadija auf der Krim nach St. Petersburg sollte jedoch aus einem anderen Grund in die Geschichte eingehen. Noch bevor der Zar die Strecke der Nikolaj-Bahn erreichte, detonierte am 19. November auf der Bahnlinie von Kursk nach Moskau ein Sprengsatz. Mitglieder des Exekutivkomitees der Terror-Organisation Narodnaja volja (Wille bzw. Freiheit des Volkes) hatten eine Bombe unter dem Bahnkörper deponiert, um den Herrscherzug zum Entgleisen zu bringen und so den Kaiser zu töten.82 Zum Zeitpunkt der Explosion hatte Alexander II. jedoch bereits unversehrt die Stadt Moskau erreicht. Die Attentäter hatten damit gerechnet, der Zar würde in dem zweiten der beiden Hofzüge reisen, die im Abstand von einer halben Stunde hintereinander fuhren. Tatsächlich befand sich der Herrscher jedoch im ersten Zug, der die präparierte Stelle ungehindert passierte. Als die Bombe gezündet wurde, entgleiste der Zug des kaiserlichen Gefolges, dessen Insassen mit leichteren Verletzungen und dem Schrecken davon kamen. Die ersten Reaktionen der Bürokratie und der Presse auf dieses Attentat machen deutlich, dass ein Anschlag dieser Art offenbar noch außerhalb der Vorstel79 80 81 82
CGIA SPb f. 1480, op. 17, ed. chr. 1, l. 172. CGIA SPb f. 1480, op. 17, ed. chr. 1, l. 171. CGIA SPb f. 1480, op. 17, ed. chr. 1, l. 13–21. Zu diesem Attentat vgl. ausführlich Kap. 5.2.2.
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lungsmöglichkeit jener Menschen gelegen hatte, die für die Sicherheit des Zaren verantwortlich waren.83 Als Fürst Dmitrij Obolenskij, der den Anschlag als einer der Passagiere im Zug des Gefolges überlebte, unmittelbar nach dem Unglück nach Moskau eilte, um dem Minister des kaiserlichen Hofes Graf Adlerberg, dem Chef der Dritten Abteilung der Eigenen Kanzlei seiner Kaiserlichen Majestät General-Adjutant Drentel’n und dem General-Gouverneur von Moskau Fürst Dolgorukov Bericht zu erstatten, wollte keiner der Männer glauben, dass das Zugunglück durch ein Bombenattentat ausgelöst worden sein könnte. Graf Adlerberg soll der Hiobsbotschaft Obolenskijs entgegnet haben: „Wissen Sie, es kommt vor, dass die Nerven nach einem [Zug]Unglück blank liegen. Ruhen Sie sich erst einmal aus; wenn Sie ausgeschlafen sind, sieht die Sache schon ganz anders aus.“84 Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Verantwortlichen erkennen mussten, dass Obolenskijs Bericht der Wahrheit entsprach und die Attentäter auch noch an zwei anderen Stellen der Zugstrecke Vorbereitungen für Anschläge getroffen hatten. Die Tatsache, dass es Terroristen gewagt hatten, innerhalb der Stadtgrenzen von Moskau einen Bombenanschlag auf den Hofzug Alexanders II. zu unternehmen, wirkte auf die zarische Elite wie ein Schock. Nach dem Anschlagsversuch vom 19. November ließ sich eine Veränderung des Sicherheitsbewusstseins innerhalb der Bürokratie und eine Verschärfung der Schutzmaßnahmen anlässlich kaiserlicher Eisenbahnreisen beobachten. Detaillierte Instruktionen für die Bewachung des Kaiserlichen Zuges während der Reisen hochgestellter Persönlichkeiten wurden allerdings erst Anfang der 1890er Jahre – offenbar unter dem Eindruck des Zugunglücks von Borki im Jahr 1888 – erlassen.85 Anders als in der Verordnung von 1878 wurde in den Richtlinien aus dem Jahr 1891 die Gefahr terroristischer Anschläge explizit thematisiert. Die Instruktionen verpflichteten die Sicherheitskräfte konkret, einen außerplanmäßigen Halt oder Unfall des Hofzuges zu verhindern und bei ihren Kontrollen insbesondere auf mutwillige Beschädigungen von Brücken und Gleisen, die Untertunnelung des Bahnkörpers oder vergrabene Sprengsätze zu achten.86 Zudem waren die Wachhabenden angewiesen, 83
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Zu den folgenden Überlegungen vgl. ausführlicher: Carola Dietze, Frithjof Benjamin Schenk: Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr. Soldatisch-aristokratische Tugendhaftigkeit und das Konzept der Sicherheit im späten 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), H. 3, S. 368–401. Nabroski vospominanij knjazja D. D. Obolenskogo, in: Russkij Archiv, 1894, Nr. 10, S. 251– 286, insbes. S. 270–279, Zitat, S. 272. Instrukcija po ochrane imperatorskich železnodorožnych poezdov pri vysočajšich putešestvijach, Sankt Peterburg 1891 (= CGIA SPB f. 1374, op. 1, ed. chr. 344, ll. 17–30). Zwischen 1879 und 1891 wurden die zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen bei Herrscherreisen den zuständigen Sicherheitsorganen jeweils in entsprechenden Instruktionen übermittelt. Vgl. dazu: Igor’ Zimin: Carskaja rabota XIX – načalo XX veka. Povsednevnaja žizn’ Rossijskogo imperatorskogo dvora, Moskva 2011, S. 235–237. – Zum Zugunglück von 1888 vgl. unten Kap. 5.1.4. Instrukcija po ochrane imperatorskich železnodorožnych poezdov §§ 18f. – Die Kontrolle laufender Erdarbeiten an der Bahnlinie wurde den Sicherheitsbehörden bereits Anfang der 1880er Jahre vor einer Reise des Kaisers angeordnet. Vgl. Zimin, Carskaja rabota, S. 235. Zu entsprechenden Anweisungen aus dem frühen 20. Jahrhundert: Leonid Aleksandrovič Timo-
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ein kritisches Auge auf Personen zu werfen, die in der Nähe von Bahnanlagen wohnten oder die gerade erst dorthin gezogen waren (§ 14). Unmittelbar vor der Durchfahrt des Herrscherzuges waren die Weichen zu verschrauben, und Außenstehende mussten einen Sicherheitsabstand von mindestens 100 sažen (ca. 213 Meter) zur Bahnlinie einhalten.87 Im Bewegungsmoment des Herrschers sollten alle Untertanen, die sich in der Nähe aufhielten, für einen Augenblick in Bewegungslosigkeit verharren: Der Schiffverkehr unter den Eisenbahnbrücken kam zum Stillstand, und auch alle Güter- und Personenzüge, die auf der Linie unterwegs waren, mussten ihre Weiterfahrt unterbrechen.88 In Zügen, die an einem Bahnhof warteten, waren bei der Durchfahrt des Hofzuges die Türen und Fenster zu verriegeln. Schaulustige wurden nur dann in die Nähe der Gleisanlagen gelassen, wenn sie den lokalen Sicherheitskräften persönlich bekannt waren.89 Während sich Ende der 1870er Jahre noch die Bahngesellschaften um die Rekrutierung des Wachpersonals kümmerten, oblag die Überwachung der Zugstrecken Anfang der 1890er Jahre der Eisenbahngendarmerie, was auf eine zunehmende Verstaatlichung der Sicherheitsmaßnahmen hindeutet. Auch die Personalstärke der Wachtrupps wurde signifikant erhöht. So war die Bahnlinie, die der Herrscherzug passierte, nun am Tage in einem Abstand von 50 sažen und des nachts von 25 sažen mit Wachen zu besetzen.90 Dies bedeutete konkret, dass man zu Beginn der 1890er Jahre doppelt so viel Personal für die Bewachung der Strecken einer kaiserlichen Zugfahrt benötigte, wie noch Ende der 1870er Jahre.91 Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen trugen auch dazu bei, dass sich die russländischen Kaiser, deren Mobilitätsradius durch die Modernisierung der Infrastruktur des Landes theoretisch immer weiter zunahm, in Wirklichkeit immer stärker von ihrer eigenen Bevölkerung entfernten. Im Gegensatz zu seinem Vater bereiste Alexander III. sein eigenes Land zum Beispiel nur noch äußerst selten und verschanzte sich in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen zunehmend in seinem festungsartigen Schloss im Petersburger Vorort Gatčina.92 Sein Sohn Ni-
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feev: Spravočnaja kniga dlja činov žandarmskich policejskich upravlenij železnych dorog po žandarmsko-policejskoj časti. Obščija objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii, Sankt Peterburg 1908, S. 13. Instrukcija po ochrane imperatorskich železnodorožnych poezdov § 29; Položenie ob imperatorskich poezdach (1892) § 54. Instrukcija po ochrane imperatorskich železnodorožnych poezdov § 29; Položenie ob imperatorskich poezdach (1892) §§ 24, 61. Instrukcija načal’nikam stancij i ich zamestitel’jam pri sledovanii imperatorskich poezdov, hg. von Glavnoe obščestvo Rossijskich železnych dorog. Linija S.-Peterburgo-Varšavskaja, Sankt Peterburg 1892 (= CGIA SPb f. 1374, op. 1, ed. chr. 346, ll. 6–20). Diese Instruktion basierte auf der Položenie ob imperatorskich poezdach vom 24. April 1892. Vgl. dazu auch Leonid Aleksandrovič Timofeev: Spravočnaja kniga dlja činov žandarmsko-policejskich upravlenij železnych dorog. Ochrana imperatorskich poezdov, Sankt Peterburg 1908, S. IV. Instrukcija po ochrane imperatorskich železnodorožnych poezdov § 25. Bereits 1882 wurden anlässlich einer Reise Alexanders III. von Petersburg nach Moskau für die Bewachung der Nikolaj-Bahn 30.000 Soldaten abgestellt. Vgl. Zimin, Carskaja rabota, S. 235. Wortman, Scenarios of Power (2006), S. 263.
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kolaus II. nutzte zwar die Eisenbahn wieder in stärkerem Maße zur Fortbewegung im eigenen Land. Die veränderte Sicherheitslage veranlasste die Behörden jedoch, die Bewegungen seines Zuges auf dem russländischen Schienennetz möglichst gut zu tarnen. So wurden zum Beispiel die Mitarbeiter der Warschau-Petersburg-Bahn in einem Rundschreiben vom 1. September 1897 darauf hingewiesen, dass der Zug des Zaren in Telegrammen nicht mehr „kaiserlicher Zug“, sondern nur noch „Sonderzug“ (ėkstrennyj poezd) genannt werden dürfe.93 So sollte offenbar erreicht werden, dass nur noch jene Menschen von der Fortbewegung des Herrschers in dessen eigenem Land erfuhren, die die Behörden als vertrauenswürdig einstuften.94 Als sich Nikolaus II. 1912 auf die Reise nach Borodino machte, um dort der Hundertjahrfeier der Schlacht gegen Napoleon beizuwohnen, wurden nicht nur die Bahnlinie sowie Brücken und andere strategische Punkte der Bahnstrecke streng bewacht.95 Außerdem mussten sich alle Menschen, die entlang des Gleiskörpers wohnten, im Vorfeld polizeilich registrieren lassen. So sollte verhindert werden, dass sich verdächtige bzw. unbekannte Personen der Reiseroute des Kaisers näherten.96 Aufmerksamen Zeitgenossen war jedoch bewusst, dass die immer umfassenderen Sicherheitsvorkehrungen, die die Behörden zum Schutz des Monarchen trafen, im Grunde genommen nur symbolische Bedeutung hatten. Der im Herbst 1888 mit der Kontrolle eines Streckenabschnitts der Bahnlinie von St. Petersburg nach Pskov betraute Gardeoberst Richard von Pfeil und Klein Ellguth bezeichnete den Nutzen der Bewachung der Eisenbahngleise rückblickend als „zweifelhaft“. „Wollte wirklich ein entschlossener Übeltäter versuchen, den Zug zum Entgleisen zu bringen, so konnten ihn, namentlich in finsteren Nächten, die Posten kaum entdecken.“97 5.1.4. Das „Wunder von Borki“ Die Sicherheitskräfte mussten zudem bald erkennen, dass dem Zaren während seiner Eisenbahnreisen nicht nur Gefahr von Seiten terroristischer Attentäter drohte. Zum Schlüsselerlebnis der neuen Gefährdung von Leib und Leben des mobilen Kaisers im Eisenbahnzeitalter wurde nicht der Anschlagsversuch auf Alexander 93
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CGIA SPB f. 1374, op. 1, ed. chr. 344, l. 11. Zu dieser Reise Nikolaus’ II. nach Warschau vgl. Malte Rolf, Der Zar an der Weichsel: Repräsentation von Herrschaft und Imperium im fin de siècle, in: Jörg Baberowski, David Feest, Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentation politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt 2008, S. 145–171 und Otčet inspekcii imperatorskich poezdov, Bd. 4 (1898), S. 13–18. Ins Bild passt dabei auch, dass die Verordnung über die Hofzüge aus dem Jahr 1892 die Planer einer Herrscherreise dazu verpflichtete, Dienstfahrpläne des Zuges nur in einer minimalen Anzahl zu drucken, um so den Personenkreis, die über Details der Reise informiert waren, möglichst klein zu halten. Vgl. Položenie ob imperatorskich poezdach (1892) § 42. GARF f. 77, op. 1, ed. chr. 95, ll. 261–263. GARF f. 77, op. 1, ed. chr. 95, l. 170. Richard von Pfeil und Klein-Ellguth: Neun Jahre in russischen Diensten unter Kaiser Alexander III., Leipzig 1907, S. 249.
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II. am 19. November 1879, sondern das legendäre Zugunglück vom 17. Oktober 1888 bei Borki, bei dem der Hofzug Alexanders III. völlig zerstört wurde, das der Zar und seine Familie jedoch wie durch ein Wunder unverletzt überlebten.98 Der Unfall auf der Bahnlinie von Sevastopol’ nach Char’kov, bei dem dreiundzwanzig Menschen ums Leben kamen und über dreißig verwundet wurden, markierte das vorläufige Ende einer mehrmonatigen Reise Alexanders III., die ihn erst zu Truppenmanövern in die Ukraine, dann zu einem Jagdaufenthalt nach Polen und schließlich in das Gebiet der Donkosaken sowie weiter südwärts in den Kaukasus bis nach Georgien geführt hatte.99 Der Hofzug, in dem das Kaiserpaar, der Thronfolger Nikolaj Aleksandrovič und seine fünf Geschwister sowie die Dienerschaft und das Gefolge des Zaren reisten, befand sich auf der Rückreise nach St. Petersburg, als auf dem Streckenabschnitt zwischen Lozovaja nach Char’kov um 12.14 Uhr bei der Ortschaft Borki eine der beiden Lokomotiven bei hoher Geschwindigkeit aus den Schienen sprang und dabei den Zug jäh zum Stillstand brachte. Bei dem Aufprall wurde der vordere Zugteil, darunter der Waggon des Verkehrsministers und die Hofküche des Zaren völlig zerstört und fast alle Insassen getötet. Der Zar und seine Familie befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Speisewagen beim Frühstück. Doch obwohl auch dieser Wagen, der im zweiten Drittel des Zuges geführt wurde, vollständig zu Bruch ging, kam keiner der Menschen, die sich darin befanden, ums Leben. Wie Alexander III. und Marija Fedorovna wurden auch die anderen Mitglieder der kaiserlichen Familie bei dem Zugunglück nur leicht verletzt. Der Unfall von Borki hatte weitreichende Folgen für die Organisation des russländischen Eisenbahnwesens im Allgemeinen und für den Ablauf zukünftiger Herrscherreisen im Besonderen. Zudem verstand es die Reichsregierung, die Rettung der kaiserlichen Familie aus dem Inferno des 17. Oktober geschickt für die Stabilisierung des Mythos’ vom Gott gesalbten Zaren und des von der Vorsehung auserwählten russischen Volkes zu nutzen. Dies deutet darauf hin, dass das Zugunglück von Borki Eingang in zwei unterschiedliche Narrative fand, die im Folgenden getrennt zu analysieren sind. Während eine an rationalen Aspekten orientierte Erzählung über das Ereignis darauf abzielte, die Gründe für den Unfall offen zu legen, Schuldige zu benennen und Konsequenzen aus der Katastrophe zu ziehen, zielte die Geschichte vom „Wunder von Borki“ auf die Vertuschung der Ursachen des Unglücks und die Verfestigung bestehender politischer Strukturen ab. 98
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Zum Zugunglück von Borki vgl. u.a. RGIA f. 1224, op. 1, ed. chr. 1; Anatolij Fedorovič Koni: Krušenie carskogo poezda v 1888 godu (Borki-Taranovka). in: ders., Sobranie sočinenij v 8-mi tomach, Bd. 1, Moskva 1966, S. 420–495; Pfeil und Klein-Ellguth, Neun Jahre in russischen Diensten, S. 240-246; Sergej Ju. Vitte: Izbrannye vospominanija. 1849– 1911, Moskva 1991, S. 126–133; Iz Archiva S. Ju. Vitte. Vospominanija, Bd. 1, Buch 1, S. 167–169; Denkwürdigkeiten des Botschafters Generals von Schweinitz, Bd. 2., S. 371f., 386; Wortman, Scenarios (2006), S. 310f. Zur Reise Alexanders III. nach Vladikavkaz und Georgien vgl. Wortman, Scenarios (2006), S. 309, Austin Jersild: Orientalism and Empire. North Caucasus Mountain Peoples and the Georgian Frontier, 1845–1917, Montreal 2002, S. 150f.; Nedelja. Eženedel’naja gazeta, Nr. 43, 23.10.1888, S. 1359f.
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Letztendlich sollte sich in der politischen und öffentlichen Debatte das zweite der beiden Narrative als nachhaltiger und wirkungsmächtiger erweisen als das erste. Die Rekonstruktion des Ereignisses Unmittelbar nach dem 17. Oktober setzte in der russischen Presse die Debatte über mögliche Ursachen des Zugunglücks von Borki ein. Während die einen Autoren das Gerücht von einem terroristischen Anschlag streuten, schoben andere die Schuld auf die Ingenieure der Kursko-Char’kovo-Azovskaja Eisenbahngesellschaft bzw. auf die Mitarbeiter des Verkehrsministeriums.100 Mit der Klärung der wahren Gründe des Unglücks wurde kurz nach dem Ereignis eine Expertenkommission betraut, die der Oberstaatsanwalt der straf- und kassationsgerichtlichen Abteilung des Regierenden Senats Anatolij Fedorovič Koni leitete.101 Begleitet von Eisenbahningenieuren traf Koni am 20. Oktober am Unglücksort ein. Die Analyse der Unfallstelle und die Befragung von Zeugen und Experten dauerten bis Anfang November.102 Nach Ansicht der Kommission wurde das Zugunglück vom 17. Oktober nicht durch ein Attentat oder einen anderen mutwilligen Eingriff in den Betriebsablauf der Bahn hervorgerufen. Die Experten betrachteten die Katastrophe vielmehr als einen Unfall, der durch mehrere Faktoren verursacht wor100 Zur Berichterstattung über das Zugunglück in der russischen Presse vgl. u.a. Niva. Illjustrirovannyj žurnal literatury i sovremennoj žizni, 1888, Nr. 44 vom 29.10.1888, S. 1104f.; Nr. 45 vom 5.11.1888, S. 1130f. (Darin Auswertung der Nachrichten in den Zeitungen Novoe vremja, Graždanin, Pravitel’stvennyj vestnik und Novosti); Nedelja, 1888, Nr. 43 vom 23.10., Nr. 44 vom 30.10., Nr. 45 vom 6.11.; Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 42, S. 342–344. – An der Verbreitung des Gerüchts, das Zugunglück vom 17.10.1888 sei auf einen Terroranschlag zurückzuführen, hatten insbesondere Mitarbeiter des Verkehrsministeriums Interesse, da sie damit von der eigenen Verantwortung ablenken konnten. Bereits unmittelbar nach dem Unglück versuchte Verkehrsminister Pos’et Alexander III. von dieser Version der Geschichte zu überzeugen. Vgl. Koni, Krušenie, S. 451, 493. Die Erzählung vom Bombenattentat, das der Gehilfe des Hofkochs im Auftrag einer terroristischen Organisation verübt haben soll, wird auch in Memoiren verschiedener Zeitgenossen kolportiert. Vgl. z.B.: Vladimir Aleksandrovič Suchomlinov: Vospominanija. Memuary, Minsk 2005, S. 121f.; Michail A. Taube: Zarnicy. Vospominanija o tragičeskoj sud’be predrevoljucionnoj Rossii (1900–1917), Moskva 2006, S. 25–28. 101 Der Jurist Anatolij F. Koni (1844–1927) leitete im Jahr 1878 als Vorsitzender des St. Petersburger Kreisgerichts den Prozess gegen Vera Zasulič, die sich für ihr Attentat auf den Petersburger Gouverneur Trepov verantworten musste und die nach einem spektakulären Verfahren von den Geschworenen frei gesprochen wurde. Aufgrund seiner liberalen Ansichten war Koni in politisch konservativen Kreisen äußerst umstritten und galt in den 1880er Jahren als Gegenspieler des Oberprokurors des Heiligsten Synods, Konstantin P. Pobedonoscev. Zur Biografie Konis vgl. A. F. Koni, Sobranie sočinenij, Bd. 1, S. 5–36. – Zur Arbeit der von Koni geleiteten Kommission zur Untersuchung des Zugunglücks von Borki: Koni, Krušenie. 102 Die Dokumentation der (geheimen) Untersuchungsergebnisse umfasst vier Bände: Materialy izvlečennye iz sledstvennogo proizvodstva po delu o krušenii imperatorskogo poezda 17 oktjabrja 1888 g. meždu stancijami Borki i Taranovka na linii Kievo-Char’kovo-Azovskoj železnoj dorogi (Char’kovskij okružnoj sud), o.O. [1888].
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den sei. Erstens sei der verunglückte Zug, der fünfzehn Waggons führte und von einer Güter- und einer Personenlok gezogen wurde, viel zu lang und zu schwer für die befahrene Strecke gewesen.103 Zweitens habe er den fraglichen Streckenabschnitt mit 67 Werst/Stunde (ca. 72 km/h) passiert und damit die im Fahrplan vorgesehene Geschwindigkeit von 37 W/h (ca. 40 km/h) und das zulässige Höchsttempo der angespannten Güterlokomotive (40,5 Werst/Stunde) deutlich überschritten. Die beschleunigte Fahrt, die vermutlich zur Beschädigung der Strecke durch die fragliche Lok führte, hatte allem Anschein nach der Inspektor der Hofzüge Baron Aleksandr F. von Taube angeordnet, um so die eineinhalbstündige Verspätung des Zuges einzuholen und den Kaiser fahrplanmäßig an das Ziel seiner Reise zu bringen.104 Drittens sei auch der Streckenabschnitt, auf dem der Zug verunglückte, reperaturbedürftig gewesen, worauf beispielsweise vermoderte Bahnschwellen in der Nähe des Unglücksortes hindeuteten.105 Die Kommission kam also zum Schluss, dass der Unfall nicht durch mutwilliges Handeln hervorgerufen worden sei.106 Die Gutachter machten jedoch deutlich, dass die Verantwortlichen im Verkehrsministerium bzw. in der Leitung der KurskoChar’kovo-Azovskaja Eisenbahngesellschaft bei der Durchführung der Zarenreise ihre Pflichten vernachlässigt und Sicherheitsbestimmungen ignoriert hatten. Zudem habe das Zugunglück von Borki Mängel der Organisation des russländischen
103 Während § 8 der Pravila o poezdach vysočajšich osob eine Höchstgrenze von 42 Achsen pro Zug festlegte, führte der verunglückte Zug 64 Achsen. Damit war der Hofzug (ohne Lokomotiven) fast doppelt so schwer wie ein regulärer Personenzug bzw. hatte das Gewicht eines Güterzugs mit 28 voll beladenen Waggons. Koni, Krušenie, S. 431. – Nach Angaben des Eisenbahningenieurs L. N. Ljubimov wog der Herrscherzug insgesamt 34.000 Pud (ca. 557 t). Vgl. Lev Nikolaevič Ljubimov: Iz žizni inženera putej soobščenija, in: Russkaja Starina 155 (1913), Nr. 7, S. 16. 104 Aleksandr Ferdinandovič von Taube wurde in diesem Punkt insbesondere von Verkehrsminister Pos’et belastet. Koni, Krušenie, S. 432, 474. – Unter Zeitgenossen kursierte auch das Gerücht, Alexander III. habe dem Chef der kaiserlichen Garde Petr A. Čerevin persönlich den Befehl gegeben, die Fahrt des Zuges zu beschleunigen. Auf Rückfrage erklärte der Kaiser jedoch Staatsanwalt Koni am 23.11.1888, dass er nie eine solche Anweisung erteilt habe. Vgl. ebd. S. 456. Dessen ungeachtet hielt sich nach dem Ereignis das Gerücht, Alexander III. habe die beschleunigte Fahrt persönlich angewiesen. Vgl. Pfeil und Klein-Ellguth, Neun Jahre in russischen Diensten, S. 244. Auch der Ingenieur der Verkehrswege N. N. Iznar gibt in seinen Erinnerungen Zar Alexander eine Mitschuld an dem Unglück. Vgl. ders.: Zapiski inženera, in: Voprosy istorii, 2004, Nr. 5, S. 64–91, hier S. 80f. 105 Die Frage, ob bauliche Mängel an der Bahnstrecke zum Unfall des Hofzuges beigetragen haben, war unter den Eisenbahnexperten umstritten. Während die einen monierten, die Leitung der Bahngesellschaft habe bei der Wartung der Anlagen gespart, wiesen andere, so zum Beispiel der damalige Generaldirektor der Süd-West-Bahnen Sergej Vitte diesen Vorwurf zurück. Vgl. Vitte, Izbrannye vospominanija, S. 131f. Auch im Protokoll der Sitzung des Staatsrates am 24.4.1889 wurde vermerkt, dass die baulichen Mängel auf der Strecke nicht als hinreichender Grund für den Unfall vom 17. Oktober zu betrachten seien. Vgl. RGIA f. 1224, op. 1, ed. chr. 1, l. 135 ob. 106 RGIA f. 1224, op. 1, ed. chr. 1, l. 129 ob.
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Eisenbahnwesens im Allgemeinen und der Zugreisen der Herrscherfamilie im Besonderen offen gelegt.107 Bei der Frage, welche Konsequenzen aus dem Unglück von Borki zu ziehen seien, gingen die Meinungen innerhalb der Reichsregierung deutlich auseinander. Ein wichtiger Streitpunkt war, ob man Verkehrsminister Konstantin N. Pos’et, der, neben anderen Verantwortlichen, nach dem Unfall von seinem Amt zurückgetreten war, auch gerichtlich für den Unfall zur Verantwortung ziehen sollte. In seiner Sitzung vom 6. Februar 1889 sprach sich die Mehrheit des Ministerrates dafür aus, Pos’et anzuklagen. Gegen diesen Schritt hatte sich jedoch unter anderem Innenminister Graf Dmitrij A. Tolstoj ausgesprochen. Er warnte davor, dass ein Prozess das Ansehen der gesamten Regierung beschädigen und der Bevölkerung den Eindruck vermitteln könnte, der Zar sei von schlechten Beratern umgeben.108 Anders als der Ministerrat empfahl die Abteilung für zivile und geistliche Angelegenheiten des Staatsrates am 13. Februar 1889, Minister Pos’et und seinen Gehilfen Baron K. I. Šernval’ nicht vor Gericht zu stellen. Alexander III. folgte diesem Rat und ließ verkünden, dass gegen keinen der Verantwortlichen Anklage zu erheben sei.109 Ein zweiter Punkt, an dem sich die Geister in der Administration schieden, war die Frage, in welchem Ausmaß die Öffentlichkeit über die genauen Ursachen des Zugunglücks zu informieren sei. Das Interesse der Journalisten an dem Fall 107 RGIA f. 1224, op. 1, ed. chr. 1, l. 130. 108 Koni, Krušenie, S. 478f. 109 Als verantwortlicher Staatsanwalt missbilligte Koni diese Entscheidung. Koni war der Ansicht, Alexander III. hätte die Verantwortlichen des Zugunglücks vom 17. Oktober gerne vor Gericht gesehen, habe sich jedoch nicht gegen die Macht des Apparats durchsetzen können. Vgl. Koni, Krušenie, S. 485. – Die Tatsache, dass keiner der Verantwortlichen des Zugunglücks zur Rechenschaft gezogen wurde, nährte in der Bevölkerung Gerüchte, habgierige jüdische Eisenbahnmagnaten trügen die Schuld an dem Unfall. Entsprechende Anspielungen auf den (im April 1888 verstorbenen) „Eisenbahnbaron“ Samuil (Šmuėl) Solomonovič Poljakov (1837–1888), der es aus Profitsucht unterlassen habe, die Bahnlinie, auf der der Herrscherzug entgleiste, zu warten, finden sich beispielsweise in den Erinnerungen des konservativen Publizisten Vladimir P. Meščerskij: Moi vospominanija, Bd. 3 (1881–1894 gg.), Sankt Peterburg 1912, S. 302. Auch Alexander III. war davon überzeugt, dass Eisenbahnlinien, die von einer „jüdisch“ geführten Gesellschaft betrieben wurden, in einem schlechteren Zustand waren als andere. Die Süd-West-Bahnen, die von dem jüdischen Unternehmer Ivan Stanislavovič Bljoch (1836-1901) geleitet wurden, diffamierte der Zar im Herbst 1888 gegenüber Sergej Vitte zum Beispiel als „židovskaja doroga (Juden-Bahn)“. Vgl. Vitte, Izbrannye vospominanija, S. 129. Zur Verhärtung antisemitischer Vorurteile Alexanders III. nach dem 17. Oktober 1888: Manfred Hildermeier: Die jüdische Frage im Zarenreich. Zum Problem der unterbliebenen Emanzipation, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 32 (1984), S. 321– 357, hier: S. 347. Anfeindungen gegen russisch-jüdische Eisenbahnmagnaten hatten Tradition im Zarenreich. So lässt sich beispielsweise die negative Schilderung des Eisenbahnunternehmers und Juden (žid) Bolgarinov in Tolstojs Anna Karenina (1878) als klare Anspielung auf Samuil Poljakov lesen. Vgl. Al’tman, „Železnaja doroga“ v tvorčestve L. N. Tolstogo, S. 255f. Insgesamt betrachtete Tolstoj die Eisenbahn des Zarenreiches in zunehmendem Maße als „jüdischen Raum“. Dies legt zumindest seine Charakterisierung eines typischen russischen Bahnhofsbuffets und Waggons dritter Klasse in der Novelle Die Kreutzersonate (1891), S. 107f., nahe.
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war auch noch Anfang 1889 groß. So verlautbarte die konservative Zeitung Graždanin (Der Bürger) am 14. Januar beispielsweise, dass „jeder Russe (russkij čelovek)“ etwas Genaueres über diese „russische Sache (russkoe delo)“ zu erfahren wünsche.110 In seiner Sitzung vom 24. April 1889 sprach sich der Staatsrat auch mehrheitlich dafür aus, die Öffentlichkeit im Regierungsboten (Pravitel’stvennyj vestnik) über die Gründe des Zugunglücks zu informieren.111 Staatsanwalt Koni erhielt den Auftrag, den Entwurf einer Erklärung zu verfassen, auf deren Inhalt jedoch alsbald auch der neue Verkehrsminister Adol’f Gjubbenet und der Oberprokuror des Heiligsten Synods Konstantin Pobedonoscev Einfluss zu nehmen versuchten. Während dem Verkehrsminister offenbar an der Vertuschung der Ursachen des Zugunglücks gelegen war, wollte Pobedonoscev die Regierungserklärung ganz auf den Aspekt der wundersame Rettung der kaiserlichen Familie ausrichten.112 Der Leiter der obersten Kirchenbehörde setzte durch, dass der Textentwurf Konis deutlich gekürzt und mit einem „lyrischen Ende“ (Koni) versehen wurde. Trotz dieser Änderungen wurde die Erklärung jedoch nie veröffentlicht, wofür Staatsanwalt Koni die zarische „Bürokratie“ verantwortlich machte, der die Interessen der „Öffentlichkeit (obščee mnenie)“ letztendlich gleichgültig gewesen seien.113 Im kaiserlichen Reskript, das am 15. Mai 1889 im Pravitel’stvennyj vestnik erschien, erklärte Alexander III. die gerichtliche Untersuchung des Zugunglücks für abgeschlossen. Als Grund des Unfalls wird in dem Text ganz allgemein die „Unvorsichtigkeit der verantwortlichen Personen“ genannt. Ohne den Verkehrsminister als Schuldigen darzustellen, wird sein Nachfolger aufgerufen, für die „Beseitigung der Unordnung, Desorganisation und Mängel der Betriebsführung“ zu sorgen, die sich „negativ auf die Sicherheit des Verkehrs“ auswirkten und dem „ordnungsgemäßen Ablauf des Eisenbahnsystems“ zuwiderliefen.114 Anstatt die Leser über die Ergebnisse der Untersuchung des Unfalls zu informieren, brachte der Zar in diesem Dokument seine Dankbarkeit für die „göttliche Vorsehung“ zum Ausdruck, die ihn, die Kaiserin und ihre Kinder auf „wundersame Weise (čudesno)“ am 17. Oktober 1888 vor dem „unabwendbaren Tod“ gerettet habe. „An uns“, so der Kaiser, habe sich eine „wundervolle Erscheinung der Gnade 110 Zit. nach Koni, Krušenie, S. 459. – Die restriktive Informationspolitik der Zarenregierung heizte Spekulationen über die wahren Ursachen des Zugunglücks in der russischen Presse weiter an. Indem der Presse gezielt vertrauliches Material zugespielt wurde, das bestimmte Personen belastete, versuchten einzelne Verantwortliche offenbar auch, die öffentlichen Meinung für die eigenen Interessen zu manipulieren. Zur Rufmordkampagne gegen den Leiter der Kursko-Char’kovo-Azovskaja Eisenbahngesellschaft O. F. Gan in der Zeitung Južnyj kraj (Das südliche Land) vgl. Koni, Krušenie, S. 464f. 111 Koni, Krušenie, S. 488; RGIA f. 1224, op. 1, ed. chr. 1, l. 136 ob. 112 Koni, Krušenie, S. 489. 113 Koni, Krušenie, S. 490f. Ein detaillierter Bericht über den Hergang des Unfalls erschien im Sommer 1889 in der Zeitschrift des Verkehrsministeriums, der, so Koni, von der Öffentlichkeit jedoch kaum wahrgenommen worden sei. Vgl. ebd. S. 491. Vgl. auch: N. Antošin: K voprosu o katastrofe 17 oktjabrja pod Borkami, in: Železnodorožnoe delo 8 (1889), Nr. 2, S. 10f. 114 RGIA f. 1224, op. 1, ed. chr. 1, l. 150.
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Gottes vollzogen“, die als eine „dräuende Mahnung von oben“ an „jede Führungsperson“ zu verstehen sei, in Zukunft „geflissentlich die Pflichten des eigenen Amtes zu erfüllen“.115 Ungeachtet der Weigerung der Zarenregierung, die Öffentlichkeit über die genauen Ursachen des Zugunglücks zu informieren, unternahm die Administration nach Abschluss der Untersuchungen konkrete Schritte, um einen Unfall dieser Art in Zukunft zu vermeiden. Bereits am 28. Oktober 1888 betraute Alexander III. den designierten Verkehrsminister German (Herrmann) E. Pauker mit der Aufgabe, Ersatz für den bei Borki zerstörten Hofzug der Nikolaj-Bahn zu schaffen und bei der Konstruktion des neuen Zuges auch die Erfahrungen westeuropäischer Länder zu berücksichtigen.116 Zweitens wurde die Verkehrsbehörde verpflichtet, eine Verordnung zu entwerfen, die Planung, Organisation und Abwicklung der Eisenbahnreisen des russländischen Kaisers neu regelte und dabei der Frage der Sicherheit des Monarchen größere Aufmerksamkeit schenkte. Mit der Verordnung über die kaiserlichen Züge (Položenie ob imperatorskich poezdach) vom 15. Juli 1890 und den 1891 erlassenen Instruktionen zur Bewachung der Hofzüge (Instrukcija po ochrane imperatorskich železnodorožnych poezdov), deren Inhalt oben bereits besprochen wurde, war dieser Reformschritt abgeschlossen.117 Drittens wurde nach dem 17. Oktober 1888 auch die mit der Inspektion der kaiserlichen Züge betraute Behörde neu organisiert. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise der Leiter dieser Kontrollinstanz mit der Aufgabe betraut, jedes Jahr Berichte zu veröffentlichen, in denen jede Bewegung des kaiserlichen Fuhrparks im In- und Ausland detailliert zu dokumentieren war. Mit Hilfe dieser Reporte lassen sich heute alle Zugreisen der russländischen Monarchen nach 1894 genau rekonstruieren.118
115 RGIA f. 1224, op. 1, ed. chr. 1, l. 150. 116 Der neue Hofzug des Zaren wurde 1891 in Betrieb genommen. Bei der Planung hatten sich die russischen Ingenieure an den Fuhrparks des deutschen und des österreichischen Kaisers sowie des französischen Staatspräsidenten orientiert. Vgl. Imperatorskij poezd zagraničnoj i rossijskoj kolei postrojki Aleksandrovskogo mechaničeskogo zavoda Nikolaevskoj železnoj dorogi. 1891–1894 gg. (Al’bom čertežej), pod red. N. L. Ščukina, 2 Bde., Sankt Peterburg 1907, hier Bd. 1, S. 1–175, insbes. S. 5–7, 81–87. 117 Zur neuen Položenie ob imperatorskich poezdach vgl. Železnodorožnoe delo 9 (1890), Nr. 45–46, S. 437. 118 Otčet inspekcii imperatorskich poezdov, Bde. 1–25. – Nach dem Zugunglück von Borki wurden in Russland auch weitreichende Schritte zur Neuorganisation der staatlichen Eisenbahnverwaltung eingeleitet. Finanzminister Ivan A. Vyšnegradskij nutzte die zeitweilige Schwäche der Leitung des Verkehrsministeriums, um die Abteilung für Tariffragen des Eisenbahnwesens vom MPS in sein Ministerium zu verlagern. Die Leitung des 1889 geschaffenen Departements für Eisenbahnfragen (Departament železnodorožnych del) in der Finanzverwaltung wurde dem ehemaligen Generaldirektor der Süd-West-Bahnen Sergej Vitte anvertraut, der mit diesem Schritt seine steile Karriere in der Reichsregierung begann. Vgl. dazu u.a. Harcave, Count Sergei Witte, S. 31–33.
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Die Konstruktion des „Wunders“ Von all diesen Maßnahmen nahm die Öffentlichkeit des Landes vermutlich wenig Notiz, da der Fokus der offiziellen Berichterstattung über das Ereignis vom 17. Oktober von Anbeginn auf die wundersame Rettung der kaiserlichen Familie aus den Trümmern des Zarenzuges gerichtet war. Die Erzählung vom „Wunder von Borki“ setzte sich aus verschiedenen Elementen zusammen, die in unterschiedlicher Kombination zahlreiche Erlebnisberichte, Darstellungen und Erinnerungen an das Ereignis prägten: Erstens wiesen die meisten Beobachter auf das Ausmaß der Zerstörung und die Anzahl der Opfer des Zugunglücks hin, um so die spektakuläre Rettung des Zaren und seiner Familie herauszustreichen. Schon im Telegramm des Ministers des kaiserlichen Hofes vom 18. Oktober, das viele Zeitungen abdruckten, hieß es, dass der Waggon, in dem sich der Kaiser und seine Familie im Augenblick des Unglücks befanden, bei dem Unfall völlig zerstört worden sei: „alle Aufbauten wurden vom Fahrgestell gerissen, die Wände waren eingestürzt und nur das Dach, das sich auf die Seite gedreht hatte, bedeckte die Insassen des Waggons. Es war unmöglich, sich vorzustellen, dass irgend jemand eine solche Zerstörung überlebt haben könnte. Doch Gott der Herr beschützte den Zaren und seine Familie: Aus den Trümmern des Waggons entstiegen sie unverletzt.“119
Die öffentliche Wirkung von Schilderungen dieser Art wurde dadurch verstärkt, dass die Zensur unmittelbar nach dem Ereignis Zeichnungen und Fotografien von der Unglücksstelle zur Veröffentlichung freigab. So erschienen beispielsweise Anfang und Mitte November in der illustrierten Zeitschrift Niva Augenzeugenberichte über die „Katastrophe vom 17. Oktober 1888“, die mit großformatigen Lithografien und Reproduktionen von Fotografien des verunglückten Zarenzuges illustriert waren.120 Die Bilder zeigen bis ins Detail das Ausmaß der Zerstörung, so zum Beispiel den Waggon der kaiserlichen Kinder als aufgerissenen Kubus, der ohne Boden und mit zersprungenen Fenstern den Abgrund des Bahndammes herunter zu stürzen drohte oder das Fahrgestell des Speisewagens, in dem sich der Kaiser befand, das sich ohne Aufbau und in andere Trümmer verkeilt dem Betrachter als ein Chaos aus Brettern, Balken und Metallteilen darstellte (Abb. 12 u. 13). Für einen gewöhnlichen Zeitungsleser, der wenig von der Konstruktion von Eisenbahnwaggons verstand, hatten diese Bilder keinen größeren Informations119 Zit. nach Nedelja. Eženedel’naja gazeta, Nr. 43, 23.10.1888, S. 1351–1354. 120 Niva, 1888, Nr. 45 (5.11.), S. 1125 (Zeichnung von N. Tronin); Nr. 46 (12.11.), S. 1153, 1156, 1157, 1160 ; Nr. 47 (19.11.), S. 1185, 1188, 1189, 1192, 1193. Zur Verbreitung der Fotografien dieses Ereignisses im Zarenreich: Vasilij Silovič Krivenko: Očerki Kavkaza, Bd. 1: Poezdka na Kavkaz osen’ju 1888 g., Sankt Peterburg 1893, S. 240. Daneben kursierten in der russischen Fachpresse auch detaillierte Lagepläne der Unglücksstelle, mit deren Hilfe man das Ausmaß der Zerstörung und die Verteilung der Trümmer des Zuges nach dem Unglück rekonstruieren konnte. Vgl. Plan častej rel’sovago puti i podvižnago sostava na meste krušenija poezda črezvyčajnoj važnosti 17-go oktjabrja 1888 g., in: Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 42 (Beilage). – Zeitgenössische Fotografien des Zugunglücks von A. Ivanickij finden sich in: Groys, Weibel (Hg.), Bilder eines Reiches, S. 97/98.
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wert und dienten allein der Untermalung der schier unglaublichen Erzählung von der Rettung der Zarenfamilie aus diesem Inferno. Für die Kommentatoren der zarentreuen Presse lag auf der Hand, dass es sich bei diesem Ereignis nur um ein „Wunder des Allerhöchsten (čudo Vsevyšnjago)“ gehandelt haben konnte: „Es schien, als sei unter diesen Trümmern die kaiserliche Familie begraben worden. Aber Gott ließ ein solches Unglück für Russland nicht geschehen: Der Zar, die Zarin und die kaiserlichen Kinder wurden für das Vaterland gerettet“.121
In der offiziellen Darstellung des Ereignisses wurde die Verschonung der kaiserlichen Familie als Beweis für die besondere Gnade gelesen, die Gott Russland hier zuteil werden ließ. In seinem Manifest vom 23. Oktober ließ Alexander verkünden, dass man sein Überleben als Antwort Gottes auf die täglichen Gebete der „abertausend gläubigen Söhne Russlands“ für das Leben des Zaren verstehen müsse, das dieser ganz dem „Wohl des geliebten Vaterlandes“ gewidmet habe.122 Für konservative Zeitgenossen konnte nach dem „Wunder von Borki“ kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sie in einem „heiligen Land (svjataja zemlja)“ lebten und dass Gott seine schützende Hand über die mythische Einheit von Autokratie, Orthodoxie und Volkstum hielt.123 Der Publizist und Herausgeber des zarentreuen Graždanin Vladimir Meščerskij meinte sogar nach dem „Wunder von Borki“ eine Renaissance der Religiosität innerhalb der russischen Gesellschaft beobachten zu können.124 Ein zweites wichtiges Element der Darstellung des „Wunders von Borki“ war die Schilderung des Verhaltens der Mitglieder der kaiserlichen Familie während des Unfalls bzw. im direkten Anschluss an die Tragödie. Bereits im Telegramm des Hofministers vom 18. Oktober wurde hervorgehoben, dass Alexander III. persönlich bei der Bergung der Unfallopfer geholfen habe. Der Zar sei erst dann in den Zug gestiegen, der ihn zurück zur Station Lozovaja brachte, als alle Toten und Verwundeten in einem Lazarettzug untergebracht worden waren. In Lozovaja habe der Kaiser mit der Geistlichkeit des Dorfes einen Dankgottesdienst für die „göttliche Erlösung von dieser gewaltigen Gefahr“ gefeiert und im Bahnhof alle Überlebenden, ungeachtet ihres Standes, zu einem gemeinsamen Abendessen im
121 Zitat aus dem Graždanin (Der Bürger), abgedruckt in: Podrobnosti krušenija 17-go oktjabrja, in: Niva, Nr. 45, 5.11.1888, S. 1130. 122 Manifest Alexanders III. vom 23.10.1888, zit. nach: 17-oe Oktjabra 1888 g., o.O., o.J. [1888], S. 11. Zu dieser Quelle vgl. auch: Wortman, Scenarios of Power, Bd. 2, S. 290. 123 E. Poseljanin [Evgenij Nikolaevič Pogožev]: Jasnye dni. 17 oktjabrja. 29 aprelja. 28 oktjabrja, Moskva 1892, S. 3, 9, 13. Die Tatsache, dass die Ikone im Speisewagen des Zuges beim Unglück ebenfalls unversehrt blieb, wurde von Poseljanin als weiteres Indiz für die Wundertätigkeit Gottes am 17.10.1888 interpretiert. Vgl. ebd. S. 11. – Zur Geschichte der Trias „Autokratie, Orthodoxie, Volkstum“ und ihre Bedeutung als Herrschaftsideologie im Zarenreich im 19. Jahrhundert vgl. u.a. Andrej Zorin: Ideologija „pravoslavija – samoderžavija – narodnosti“: opyt rekonstrukcii, in: Novoe literaturnoe obozrenie 26 (1997), S. 71–104; ders.: Kormja dvuglavnogo orla. Literatura i gosudartvennaja ideologija v Rossii v poslednej treti XVIII – pervoj treti XIX veka, Moskva 2001. 124 Meščerskij, Moi vospominanija, Bd. 3, S. 297.
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Wartesaal dritter Klasse geladen.125 Diese Erzählung zeichnet ein Bild Alexanders als das eines starken, gläubigen und unverwundbaren Kaisers, der um das Wohl seiner Diener und Untertanen besorgt war und der die Idee von der mythischen Einheit von „Zar und Volk“ durch praktisches Handeln mit Leben füllte. In der Folge wurde diese Erzählung um immer weitere Details ergänzt, wobei die Grenzen zwischen verbürgtem Tatsachenbericht, persönlicher Spekulation und mythischer Überhöhung zunehmend verschwammen. So wollten die einen Berichterstatter aus verlässlicher Quelle erfahren haben, dass der Zar nach dem Unfall beim Anblick der vielen Toten geweint habe.126 Andere wussten zu berichten, dass die kaiserliche Familie den Unfall nur deshalb überlebte, weil Alexander das herunterfallende Dach des Speisewagens mit seinen starken Armen aufgefangen und so dessen Insassen gerettet habe.127 Während sich Zar Alexander in dieser Erzählung vor allem durch „männliche“ Tugenden wie Kraft und Führungsstärke auszeichnete, entsprach das Handeln von Marija Fedorovna am Unglücksort in der Wahrnehmung der meisten Berichterstatter ganz dem Rollenbild der fürsorglichen und mitfühlenden Landesmutter. Die Kaiserin, so zum Beispiel der Bericht in der Zeitschrift Niva, habe persönlich die Verletzten beruhigt und ihnen Trost gespendet. Dabei habe sie keinen Unterschied zwischen Menschen niederen oder höheren Standes gemacht. Die Fürsorge habe eine „magische Wirkung auf die Verunglückten“ gezeigt.128 Schilderungen dieser Art mussten bei Zeitgenossen Assoziationen mit Erzählungen aus dem Neuen Testament wecken. Die Tatsache, dass der Kaiser und seine Familie der Macht des Todes getrotzt und sich bei Borki in der Nachfolge Christi selbst erniedrigt und in Regen und Schlamm Verwundeten aus den unteren sozialen Schichten Trost gespendet und deren Heilung befördert hatten, ließen die Herrscher als Gesalbte des Herren und von der Vorsehung begnadete Personen erscheinen. Zweifelsohne haben Interpretationen dieser Art zu einer Stabilisierung des Zarenmythos in der Herrschaftszeit Alexanders III. beigetragen. Zeitgenossen berichteten übereinstimmend über den euphorischen Empfang, den die Bewohner von Char’kov, Moskau und St. Petersburg der kaiserlichen Familie nach dem Zugunglück von Borki bereiteten. So soll das Stadtoberhaupt von St. Petersburg Petr Apollonovič Gresser gesagt haben, dass er den Ausbruch solcher „Elemen125 Telegramm vom 18.10.1888 vgl. Nedelja, Nr. 43, 23.10.1888. Zur Verbreitung dieser Erzählung vgl. u.a. Podrobnosti krušenija 17-go oktjabrja, in: Niva, Nr. 45, 5.11.1888, S. 1130f.; Vil’gel’m Fedorovič Grube: Vračebnaja pomošč’ pri krušenii imperatorskago poezda 17-go oktjabra 1888 goda bliz stancii Borki Kursko-Char’kovo-Azovskoj železnoj dorogi, Char’kov 1889; Krivenko, Očerki Kavkaza, Bd. 1, S. 244; Pfeil und Klein-Ellguth, Neun Jahre in russischen Diensten, S. 243–245; Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 371. 126 Podrobnosti krušenija 17-go oktjabrja, in: Niva, Nr. 45, 5.11.1888, S. 1130; Meščerskij, Moi vospominanija, Bd. 3, S. 299. 127 Vgl. Vitte, Izbrannye vospominanija, S. 131 ; Vospominanija V. F. Džunkovskogo, in: Velikaja knjaginja Elizaveta Feodorovna i Imperator Nikolaj II. Dokumenty i materialy (1884– 1909 gg.), hg. Von A. B. Efimov, E. Ju. Koval’skaja, Sankt Peterburg 2009, S. 112.; Velikij knjaz’ Aleksandr Michajlovič: Vospominanija, Moskva 22001 (erste Aufl.: 1932 (USA)), S. 163f. 128 Podrobnosti krušenija 17-go oktjabrja, in: Niva, Nr. 45, 5.11.1888, S. 1131.
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tarkräfte, Elementarkräfte der Begeisterung“, wie sie bei der Begrüßung des Kaisers in St. Petersburg am 23. Oktober zu beobachten waren, noch nie erlebt hatte.129 „Seit dem ‚Wunder von Borki’“, so der deutsche Botschafter in St. Petersburg, von Schweinitz, „glaubte man [in der Hauptstadt], dass niemand mehr wagen würde, das so sichtbar von der Vorsehung geschützte Leben des Zaren zu bedrohen.“130 Als drittes wichtiges Element der Erzählung über das „Wunder von Borki“ ist das Sprechen über die Verletzungen zu betrachten, die Alexander III. durch das Zugunglück von 1888 erlitten hatte. Auch wenn die offizielle Wahrnehmung des Unfalls vom 17. Oktober vom Bild des unverwundeten Kaisers geprägt war, der dem Eisenbahninferno ohne körperlichen Schaden entkommen war, so fanden sich doch bereits in der aktuellen Berichterstattung Hinweise, dass auch der Zar bei dem Unglück körperliche Blessuren davongetragen hatte. Schon Anfang November 1888 gelangte die Diagnose des Leibarztes der kaiserlichen Familie Griš an die Presse, der von einer „starken Quetschung der Muskeln des rechten Oberschenkels“ des Kaisers und zwei kleinen, aber stark blutenden Wunden an der Hand der Kaiserin berichtete. Die Hand Marija Fedorovnas sei durch einen Schlag stark angeschwollen und habe sich nach der Verletzung dunkel verfärbt.131 Berichte über die Wunden am Körper des Kaisers waren durchaus kompatibel mit der Erzählung vom Christus-ähnlichen Verhalten des Zaren und seiner Frau am Unglücksort Borki. Andererseits nährten sie jedoch Spekulationen und Ängste, dass das Zugunglück vom 17. Oktober dem Herrscher womöglich doch größeren Schaden zugefügt haben könnte, als in der offiziellen Berichterstattung dargestellt. Dabei hatten besorgte Zeitgenossen offenbar nicht nur körperliche, sondern auch psychische Wunden im Blick.132 So notierte der deutsche Botschafter von Schweinitz am 23. Oktober 1888 [= 4.11. N.S.] in sein Tagebuch: „Hier und da hört man die Frage aufwerfen, wie wohl die furchtbare physische und psychische Erschütterung der Katastrophe auf den Zaren wirken werde, welcher den Eindruck, den der Anblick des zerfleischten Vaters [nach dessen Ermordung am
129 Zit. nach: Vospominanija V. F. Džunkovskogo, S. 112. – Zur Reaktion der Bevölkerung in Char’kov am 19. Oktober: Ljubimov, Iz žizni inženera putej soobščenija, S. 19; Krivenko, Očerki Kavkaza, Bd. 1, S. 245; zur Begrüßung in Moskau (20.10.): Poseljanin, Jasnye dni, S. 5–7; zum Empfang der kaiserlichen Familie in St. Petersburg vgl. auch: 17-oe Oktjabra 1888 g., S. 10–16; Pfeil und Klein-Ellguth, Neun Jahre in russischen Diensten, S. 245. 130 Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 386. 131 Vnutrennyja izvestija, in: Nedelja, Nr. 45, 6.11.1888, S. 1420f. Zur Verbreitung dieser Kenntnisse vgl. z.B. Pfeil und Klein-Ellguth, Neun Jahre in russischen Diensten, S. 243; Meščerskij, Moi vospominanija, Bd. 3, S. 300. 132 Auch im Zarenreich wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Medizinerkreisen über die psychischen Folgen von Zugunglücken debattiert. In seinem Bericht über die medizinische Versorgung der Unfallopfer von Borki ging der Leiter der chirurgischen Klinik von Char’kov Vil’gel’m (Wilhelm) Grube beispielsweise auf die psychischen Langzeitfolgen dieses Ereignisses ein. Vgl. Grube, Vračebnaja pomošč’, S. 31–33. Der Zar und seine Familie werden in diesem Kontext jedoch nicht explizit als Opfer entsprechender Verletzungen thematisiert.
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1. März 1881, F.B.S.] auf ihn machte, noch nicht verwunden hat.“133 Als im Herbst 1894 Alexanders III. überraschend schwer erkrankte, mehrten sich in der Öffentlichkeit Spekulationen, der Zar leide unter den Spätfolgen des Zugunglücks von 1888. Alexander III. starb am 20. Oktober 1894 im Alter von 49 Jahren auf der Krim an einem Nierenleiden. Das Gerücht, die Krankheit des ehemals körperlich robusten Zaren lasse sich auf innere Verletzungen durch das Zugunglück von Borki zurückführen, stammte allem Anschein nach vom Leibarzt Alexanders III., dem Moskauer Medizinprofessor Zacharin.134 Die Tatsache, dass sich diese Erklärung des frühzeitigen Todes Alexanders in den Memoiren zahlreicher Zeitgenossen wiederfindet, deutet darauf hin, dass die Wirkung der Erzählung vom „Wunder von Borki“ Anfang der 1890er Jahre bereits verblasst war.135 Auch loyale Untertanen des Zaren konnten zu dieser Zeit nicht mehr unkritisch an die „Unverwundbarkeit“ des Herrschers glauben. Selbst in konservativen Kreisen hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die Frage der Verwundbarkeit des Körpers des Kaisers im Eisenbahnzeitalter völlig neu stellte. Wie wurde der Unfall des 17. Oktober von den Mitgliedern der kaiserlichen Familie persönlich erlebt und in Selbstzeugnissen beschrieben? Die wenigen Äußerungen, die sich von Alexander III., seiner Frau Marija Fedorovna und dem Carevič Nikolaj überliefert haben, deuten darauf hin, dass die Erfahrung des eigenen Überlebens bei Borki auch bei den Mitgliedern der Dynastie die Überzeugung gefestigt hat, sie seien von Gott auserwählt, über das größte Kontinentalreich der Erde zu herrschen. Einen Monat nach dem Unfall schrieb Zar Alexander an seinen Bruder Sergej: „Was wir erlebt, was wir erfahren und wie wir Gott gedankt haben, kannst Du Dir vorstellen. Die Erinnerung an diesen Tag wird immer in unserem Gedächtnis bleiben. [Dieser Tag] war zu schrecklich und zu wundersam, denn Christus wollte Russland beweisen, dass er noch Wunder wirken wird und dass er jene, die an IHN und SEINE große Gnade glauben, vor dem sicheren Verderben rettet.“136
Ob der Kaiser seine Rettung sofort als Zeichen göttlicher Gnade empfunden hat oder ob diese Interpretation durch das offizielle Narrativ vom „Wunder von Borki“ nachträglich geformt wurde, wissen wir nicht. Diese Frage ist für das Verständnis der sinnstiftenden Erinnerung der Überlebenden an das Zugunglück aber auch nicht von zentraler Bedeutung. Dass die eigene Rettung aus den Trümmern des Zarenzuges als göttlicher Ratschluss aufzufassen war, stand auch für Marija 133 Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 272. 134 Meščerskij, Moi vospominanija, Bd. 3, S. 300. 135 Vgl. neben den Memoiren von Vladimir Meščerskij, die Erinnerungen des späteren Gouverneurs von Moskau Vladimir Fedorovič Džunkovskij: Vospominanija V. F. Džunkovskogo, S. 112 und des Kriegsministers (1909–1915) Vladimir Suchomlinov: ders., Vospominanija, S. 121f. 136 Zit. nach: Aleksandr Bochanov: Imperatrica Marija. Istoričeskoe žizneopisanie, Moskva 2007, S. 204. – Der Publizist Vladimir Meščerskij berichtet in seinen Erinnerungen, Alexander III. habe ihm nach dem Unfall erzählt, dass die Minute des Aufpralls in Worten nicht beschrieben werden könne: „Tag und Nacht“ kämen die Gedanken an diesen Moment wieder und ergriffen seine Seele. Meščerskij, Moi vospominanija, Bd. 3, S. 299.
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Fedorovna außer Frage. Sieben Jahre nach dem Ereignis erinnerte sich die Zarenwitwe in einem Brief an ihren Sohn Sergej an den „zauberhaften Tag, nach dem ich mein Glück doppelt zu schätzen wusste und an dem ich dank Gottes [Gnade], der das Leben all meiner Liebsten auf Erden rettete, das unvergessliche Glück empfinden durfte, unter den Trümmern den geliebten Papa [d.h. ihren Mann Alexander, F.B.S.] und alle meine teuren Kinder ganz und unversehrt wieder zu finden.“137
Auch der zweiundzwanzigjährige Thronfolger Nikolaj Aleksandrovič brachte sein eigenes Überleben am 17. Oktober mit dem Wirken Gottes auf Erden in Verbindung. Allerdings betrachtete er die Ereignisse von Borki offenbar erst einige Tage später, d.h. nach der Veröffentlichung des Telegramms des Hofministers vom 18. Oktober, als „Wunder“. Am Abend des Unfalltages notierte der Thronfolger in sein Tagebuch: „17. Oktober. Waggon. Die arme [Hündin] Kamčatka wurde erschlagen. Ein verhängnisvoller Tag für uns alle, wir alle hätten umkommen können, doch durch Gottes Wille ist dies nicht geschehen. Während des Frühstücks entgleiste unser Zug, der Speisewagen und sechs Waggons wurden zerstört, [doch] wir entstiegen [den Trümmern] unverletzt. Allerdings kamen zwanzig Menschen ums Leben und sechzehn wurden verwundet. Wir stiegen in den Kursker Zug um und fuhren zurück. Am Bahnhof Lozovaja wurden ein Dankgottesdienst und eine Totenmesse gefeiert. Dort haben wir auch zu Abend gegessen. Wir alle sind mit nur kleinen Schürf- und Schnittwunden davongekommen.“138
Schon eine Woche später fanden die Interpretationsfiguren aus der offiziellen Darstellung der Zugkatastrophe jedoch Eingang in die Selbstzeugnisse des Carevič. Am 25. Oktober bezeichnete Nikolaj in einem Brief an seinen Onkel Sergej die Ereignisse vom 17. Oktober bereits als „wahrhaftiges Wunder Gottes“.139 Wie stark Nikolaj die göttliche Kraft an diesem Tag empfunden haben muss, wird bei der Schilderung der Ängste deutlich, die der Thronfolger im Moment der Zugkatastrophe durchlebte. In dem Brief an seinen Onkel beschrieb er diese eindrücklich: „Diesen schrecklichen Lärm, der vom Bersten der Gegenstände, der Fensterscheiben und Stühle und vom Klang [zerbrechender] Teller und Gläser herrührte, werde ich Zeit meines Lebens nicht vergessen. Unfreiwillig schloss ich meine Augen und erwartete liegend jeden Moment einen Schlag auf den Kopf, der mich töten würde; ich war mir sicher, dass meine letzte Stunde geschlagen hatte und dass vermutlich bereits viele von uns, wenn nicht alle, tot waren. Nach dem dritten Stoß kam alles zum Stillstand. Ich lag relativ bequem auf irgendetwas Weichem auf der rechten Seite. Als ich von oben einen kalten Luftzug spürte, öffnete ich
137 Zit. nach Bochanov, Imperatrica Marija, S. 204, (Hervorhebung im Original). 138 Dnevnik cezareviča Nikolaja Aleksandroviča, zit. nach: Velikaja knjaginja Elizaveta Feodorovna, S. 111f. – Die Tatsache, dass Nikolaj in seinem Tagebuch zuerst den Tod der Hündin seines Vaters und erst danach jenen der Menschen aus dem kaiserlichen Gefolge beklagte, konterkariert den Mythos vom um das Wohl seiner Untertanen besorgten Zaren. Für die Stilisierung des Herrscherbildes in der offiziellen Darstellung des Unfalls von Borki ließ sich dieses Detail nicht verwenden. Über den Tod der Hündin wurde in der Presse jedoch berichtet. Vgl. Podrobnosti krušenija 17-go oktjabrja, in: Niva, Nr. 45, 5.11.1888, S. 1130. 139 Brief Nikolaj Aleksandrovičs an Großfürst Sergej Aleksandrovič vom 25.10.1888, zit. nach: Velikaja knjaginja Elizaveta Feodorovna, S. 113.
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Schienen der Macht die Augen und es schien mir, als läge ich in einem dunklen, niedrigen Keller; über mir erblickte ich einen Lichtspalt und begann aufzustehen; ohne größere Schwierigkeit kroch ich an das Licht Gottes und zog Ksenija [Nikolajs kleinere Schwester] [aus den Trümmern] heraus. Alles erschien mir wie ein Traum, da alles so schnell passierte. Noch als ich mich befreite, dachte ich mit eisigem Grausen an meinen geliebten Papa und meine Mama, und ich werde nie meine göttliche Freude vergessen, als ich sie, wenige Schritte von mir entfernt, stehend auf dem Dach des zerstörten Speisewagens erblickte. Ich versichere Dir, wir hatten das Gefühl, als seien wir von den Toten auferstanden und wir alle dankten im Innersten und beteten zu Gott, wie es nur selten oder nie im Leben vorkommt. Als ich sah, dass alle, die [eben noch] beim Frühstück gesessen hatten, einer nach dem anderen aus den Trümmern stieg, begriff ich das Wunder, dass Gott an uns vollzogen hatte.“140
Das Zugunglück von Borki hat den jungen Thronfolger tief berührt. Die Rettung aus den Trümmern des Hofzuges festigte in Nikolaj, der drei Jahre später in Japan auch noch einen Mordanschlag überleben sollte, die Überzeugung, selbst ein Werkzeug Gottes auf Erden zu sein. Einträge in seinem Tagebuch deuten darauf hin, dass er sich in den Folgejahren regelmäßig am 17. Oktober an das traumatische Ereignis in Borki und an das Glück des eigenen Überlebens erinnerte.141 Als er am 17. Oktober 1905 nach den turbulenten Ereignissen des Generalstreiks und den revolutionären Unruhen in seinem Land das sogenannte „Oktobermanifest“ unterzeichnete, in dem er seinen Untertanen die Gewährung von Grundrechten sowie demokratische Wahlen zu einer Volksvertretung versprach, beschwor er Gott, seinem Land an diesem Tag ein zweites Mal beizustehen. Am Abend dieses Schicksalstages notierte er in sein Journal: „17. Oktober. Montag. Der Jahrestag des Unfalls. [...] Wir saßen zusammen, unterhielten uns und warteten auf die Ankunft Vittes. Ich unterschrieb das Manifest um fünf Uhr. Nach einem solchen Tag hat man einen schweren Kopf und die Gedanken beginnen sich zu drehen. Gott, Hilf uns, Russland zu retten und zu befrieden.“142
Der 17. Oktober wurde nicht nur für Nikolaus II. und für die anderen Mitglieder der kaiserlichen Familie zu einem wichtigen Gedenktag. Auch die Gläubigen der orthodoxen Kirche erinnerten sich an diesem Tag regelmäßig an die wundersame Rettung ihres Herrschers aus den Trümmern des Hofzuges. Unmittelbar nach dem Ereignis wurden im ganzen Land Dankgottesdienste für die Rettung der kaiserlichen Familie gefeiert143 und „für alle Zeit“ [...] am Erinnerungstage Dankgottes-
140 Zit. nach: Velikaja knjaginja Elizaveta Feodorovna, S. 113. 141 Vgl. z.B. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 42 (1894), S. 175 (1896), S. 234 (1904), S. 285 (1905), S. 338 (1906), S. 416 (1913), S. 492 (1914). – Nikolaj reiste kurz nach dem Zugunglück (erneut mit der Eisenbahn) zu einer Familienfeier anlässlich eines runden Geburtstags seines Großvaters nach Kopenhagen. In den Briefen an seine Mutter erwähnt er, dass er bei schnellen Fahrten der Eisenbahn immer an den 17. Oktober denken und dass er seinen dänischen Verwandten immer wieder von dem Unfall erzählen musste. Vgl. The Letters of Tsar Nicholas and Empress Marie, S. 35f. Bei dieser Geglegenheit überreichte der Thronfolger seinem Großvater vermutlich auch jenes Fotoalbum mit Aufnahmen des Zugunglücks von Borki, das heute im dänischen Eisenbahnmuseum in Odense zu sehen ist. 142 Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 285. 143 Krušenie carskogo poezda, in: Nedelja, Nr. 43, 23.10.1888, S. 1351–1354.
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dienste in Russland festgesetzt.144 Am Ort des Unglücks entstand mit Hilfe von Spendengeldern eine gewaltige Gedächtniskirche, die an das „Wunder von Borki“ erinnern sollte.145 Die Kirche „Spasov Skit“ wurde im neo-russischen Stil errichtet und am 14. Juni 1894, vier Monate vor seinem Tod, von Alexander III. und seiner Frau eingeweiht.146 (Abb. 14) In Char’kov erinnerte bald eine Gedenkglocke, die über Spenden der lokalen Priesterschaft finanziert wurde, und die alljährlich am 17. Oktober um ein Uhr geläutet wurde, an das „Wunder von Borki“.147 In der nordrussischen Stadt Vologda, die, so die Gläubigen, am 17. Oktober 1655 durch das Wirken einer wundertätigen Ikone von der Pest befreit worden war, erfolgte 1888 ebenfalls eine Kollekte, mit der eine silberne Gedenklampe finanziert wurde.148 Auch die Anzahl der orthodoxen Kapellen und Kirchen, die Alexander Nevskij, dem Schutzheiligen des Zaren, geweiht waren, nahm nach der Zugkatastrophe von Borki deutlich zu.149 Der orthodoxe Priester N. Nikolaev aus Saratov, der im Sommer 1912 auf seiner Reise nach Char’kov die Kathedrale Spasov Skit besuchte, konnte sich vor Ort noch an das Gedicht erinnern, das er als Kind auswendig lernen musste: 144 von Pfeil und Klein-Ellguth, Neun Jahre in russischen Diensten, S. 241. 145 Zur Gedächtniskirche Spasov Skit bei Borki vgl. u.a. Vnutrennyja izvestija, in: Nedelja, Nr. 44, 30.10.1888, S. 1390f.; Niva 24 (1894), S. 569; Vospominanija preosvjaščennogo Amvrosija, archiepiskopa Char’kovskogo. O postroenii Spasova skita, in: Vera i razum, 1899, Nr. 23, S. 693–711; Vid Svjatogorskago Spasova Skita i chrama na meste krušenija Imperatorskago poezda 17 oktjabrja 1888 goda, Lubok, Chromolitografie von E. I. Fesenko, von der Zensur genehmigt am 20.7.1904, Odessa 1904, Russische Nationalbibliothek, St. Petersburg, Signatur: Ė lt 63 m / s 259; Ė 134654; N. Nikolaev: Na otdyche. Putevye vspominanija svjaščennika, in: Strannik, 1914, Nr. 8/9, S. 18–20; Koni, Krušenie, S. 430; Larissa Yermilova: The Last Tsar, Bournemouth 1996, S. 92f.; Richard Wortman: The “Russian Style” in Church Architecture as Imperial Symbol after 1881, in: James Craraft u. Daniel Rowland (Hg.): Architectures of Russian Identity. 1500 to the Present, Ithaca, London 2003, S. 101– 116, insbes. S. 108–110; ders., Scenarios of Power, Bd. 2, S. 249–251. Die Kirche wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört. 146 Der Entwurf zur Gedächtniskirche bei Borki stammte von dem Architekten Robert R. Marfel’d. Zur Reise des Monarchen und seiner Frau im Jahr 1894 nach Spasov Skit: Otčet inspekcii imperatorskich poezdov, Bd. 1 (1894), Sankt Peterburg 1895, S. 53–62. 147 Koni, Krušenie, S. 467f. Staatsanwalt Koni stand Gedenkpraktiken dieser Art äußerst skeptisch gegenüber. In seinen Erinnerungen stellt er die rhetorische Frage, ob mit dieser Glocke an die „allgemeine und kriminelle Vernachlässigung der Pflichten“ durch die Verantwortlichen der Zarenreise erinnert werden sollte. Vgl. ebd., S. 468. 148 Archimandrit Ignatii (= Ivan Vasil’evič Malyšev): 17 oktjabrja: Dva čuda. Pervoe v Vologde, 1655 goda, vtoroe pod Char’kovom, 1888 g., Sankt Peterburg 1890. Die Geistlichen aus Vologda zogen auch deshalb eine Verbindung zwischen den Ereignissen im Jahr 1655 und 1888, weil Alexander III. bei seiner Zugfahrt eine Kopie eben jener Christus-Ikone (Spas Nerukotvornyj) bei sich geführt haben soll, die im 17. Jahrhundert die Stadt Vologda vor größerem Unheil bewahrt hatte. 149 Pfeil und Klein-Ellguth, Neun Jahre in russischen Diensten, S. 246. Zum Kirchenbau in Folge des Ereignisses am 17.10.1888 vgl. Tat’jana Ponomareva: „Ėtot den’ byl sliškom strašen i sliškom čudesen“, in: http://www.pravoslavie.ru/arhiv/28077.htm [aufgerufen am 1.8.2013]. Zum Nevskij-Patrozinium in Russland im 19. Jahrhundert: Schenk, Aleksandr Nevskij, S. 212–215.
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«Ехал Цар с своей семьею, Поезд вдруг сошел с пути, Было многим тут могилу Суждено, дитя, найти... Кровь лилась, стонали люди, Смерть была со всех сторон, Государь с Своей Семьею Только Богом был спасен...»150
„Es reiste der Zar mit seiner Familie, plötzlich entgleiste sein Zug, Viele sollten dort ihr Grab finden, mein Kind... Es floss das Blut, es stöhnten Menschen, Der Tod kam von allen Seiten, Der Herrscher und seine Familie Wurde allein von Gott gerettet...“
All dies trug dazu bei, dass sich die Erinnerung an die Ereignisse des 17. Oktober 1888 fest in das Gedächtnis der gläubigen russischen Bevölkerung einprägte.151 Am 16. November 1888 genehmigte die Zensur den Druck eines Volksbilderbogens (lubok), auf dem die „Rettung des Kaisers und seiner Familie durch die göttliche Vorsehung (Providenie Božie spasaet Gosudarja i Ego Semejstvo)“ farbenprächtig abgebildet wurde.152 Im Hintergrund der Darstellung sieht man den kaiserlichen Zug mit zwei geschmückten Lokomotiven. Im Vordergrund stehen Marija Fedorovna mit zwei kleinen Kindern, Thronfolger Nikolaj sowie Zar Alexander III. mit einer Tochter. Die Mitglieder der kaiserlichen Familie sind unversehrt und ihre Kleidung ist makellos. Sie stehen auf den Trümmern eines Eisenbahnwaggons, in dem Soldaten mit Bergungsarbeiten beschäftigt sind. Die Szenerie wird von einem bewölkten Himmel überspannt, in dem ein Engel seine Hände schützend über den Trümmern des kaiserlichen Speisewagens ausbreitet und einen Lichtkegel aus der Höhe auf die Überreste des Zarenzuges lenkt (Abb. 15). In diesem Bild finden sich alle Topoi der Erzählung vom „Wunder von Borki“ wie in einem Brennspiegel gebündelt: der zerstörte Zarenzug, das Trümmerfeld nach dem Unfall, die unverletzten Mitglieder der kaiserlichen Familie und schließlich die Engel des Herrn, die die Romanovs und Russland vor den Gefahren des technischen Zeitalters bewahrten. Die Aussage dieses Bildes war durchaus ambivalent. Einerseits erinnerte es seine Betrachter daran, dass sich Gott am 17. Oktober 1888 gnädig gegenüber Russland und den Herrschern auf dem Zarenthron gezeigt hatte. Andererseits rief es den Zeitgenossen ins Gedächtnis, dass Leib und Leben des Zaren im Zeitalter von Dampfmaschine und Eisenbahn Gefahren ganz neuer Art ausgesetzt waren. Nicht nur den Ingenieuren des Verkehrsministeriums wird bewusst gewesen sein, dass man sich in Zukunft in Situationen dieser Art besser nicht noch einmal auf ein göttliches Wunder verlassen sollte.153 150 Nikolaev, Na otdych, in: Strannik, 1914, Nr. 8/9, S. 20. 151 Vera Figner berichtet beispielsweise in ihren Memoiren über die festliche Beflaggung der Stadt Archangel’sk zum Jahrestag des Zugunglücks am 17. Oktober 1903. Vgl. dies.: Nacht über Russland. Lebenserinnerungen, Berlin 1985, S. 322f. 152 Bože Carja Chrani! Providenie Božie Spasaet Gosudarja i Ego Semejstvo, Chromolitografie von M. S. Solov’ev, genehmigt von der Zensur am 16.11.1888, Moskva 1888. Russische Nationalbibliothek, St. Petersburg, Signatur: Ė l-ir-485,1 / 7-3. 153 In ihrem Telegramm an Zar Alexander III., in dem sie ihre Freude über die „wundersame Rettung“ der kaiserlichen Familie am 17.10.1888 zum Ausdruck brachten, hoben die Mitglie-
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5.2. DER KAMPF GEGEN INNERE UNRUHEN Als Franz Anton von Gerstner Zar Nikolaus I. im Jahr 1835 seinen Vorschlag für die Errichtung eines Schienennetzes im europäischen Russland unterbreitete, hob er hervor, dass die Eisenbahn bereits der britischen Regierung wertvolle Dienste bei der Niederschlagung einer Revolte in Irland geleistet habe. Gleichzeitig betonte er, dass die zarische Regierung die nationale Erhebung in Polen im November 1830 hätte schneller und effektiver bezwingen können, wäre das Zarenreich bereits zu dieser Zeit mit einem Schienensystem vernetzt gewesen.154 Als Nikolaus I. im Februar 1851 den Bau einer Bahn von Petersburg nach Warschau befahl, ließ er sich auch von Überlegungen leiten, die bereits Gerstners Argumentation zugrunde gelegen hatten. Während führende Verkehrspolitiker den Bau der Linie nach Warschau ablehnten, weil sie sich ökonomisch nicht lohnen werde, beabsichtigte der Zar mit dem Bau dieser Bahn das politisch unruhige Polen stärker an das russische Mutterland anzubinden. Nicht zuletzt sollte die Verbindung die Regierung in die Lage versetzen, im Falle einer erneuten Revolte im Westen des Reiches schnell Truppen aus dem russischen Kernland entsenden zu können. Ein Vorbild war ihm dabei auch die Bahnstrecke von Warschau nach Wien, die der russischen Regierung 1849 gute Dienste geleistet hatte, als sie auf diesem Weg eine Division zur Niederschlagung der Revolution in Ungarn verlegte.155 5.2.1. Eisenbahnen im Januaraufstand von 1863 Bereits kurz nach der Fertigstellung der Bahnstrecke von Petersburg nach Warschau im September 1862 sollte auch diese Verbindung ihre Tauglichkeit für den Transport zarischer Regimenter unter Beweis stellen. Als am 11. (22. N.S.) Januar 1863 im Königreich Polen und im Zapadnyj kraj der Januaraufstand ausbrach, schickte die Regierung per Bahn militärische Verstärkung in die Unruheregion. der der Kaiserlichen Russischen Technischen Gesellschaft (IRTO) hervor, dass sie sich ihrer besonderen Verantwortung durchaus bewusst seien: „Dem russischen Techniker“, so heißt es in dem Schreiben, „kommt in diesen Minuten mit ganzer Kraft zu Bewusstsein, welche Pflicht und welche Verantwortung er trägt, wenn er die Kräfte der Natur lenkt, die unter bestimmten Umständen eine gewaltige Gefahr darstellen können.“ Zit. nach: Železnodorožnoe delo 7 (1888), Nr. 42, S. 341. 154 Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.1. 155 1849 entsandte die Reichsregierung die Division Panjutin nach Mähren, die dort die Armee der Donaumonarchie bei der Bekämpfung der Revolte unterstützte. Die Strecke von Krakau nach Hradisch legten die ca. 14.500 Soldaten auf der Eisenbahn zurück. Der Transfer der Streitkräfte und ihrer Ausrüstung über eine Distanz von 300 Kilometer dauerte insgesamt fünf Tage. Michail N. Annenkov: Voennaja služba železnych dorog (s kartami), in: Voennyj Sbornik 19 (1876), Bd. 108, Nr. 3, S. 112–143, hier S. 115f.; [Regierungsrat] Wernekke: Die Mitwirkung der Eisenbahnen an den Kriegen in Mitteleuropa, in: Archiv für das Eisenbahnwesen 1912, H. 4, S. 930–958, hier S. 930; Winfried Baumgart: Eisenbahn und Kriegsführung in der Geschichte, in: Technikgeschichte 38 (1971), S. 191–219, hier S. 202; Kipp, Strategic Railroads, S. 82.
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Die Operation wurde jedoch dadurch erschwert, dass Aufständische schon in den ersten Tagen der Revolte hölzerne Eisenbahnbrücken verbrannt und Leitungen des Eisenbahn-Telegrafen durchtrennt hatten.156 Den Rebellen gelang es, Gleisanlagen auf einer Länge von fast fünfzig Werst zu zerstören und so den Schienenverkehr zwischen Petersburg und Vil’na zeitweilig ganz zum Erliegen zu bringen. Mit Sorge betrachtete die Reichsregierung, dass sich Angestellte der privaten Bahngesellschaft sowie Mitarbeiter des Eisenbahn-Telegrafen den Aufständischen angeschlossen hatten. Das Personal der St. Petersburg-Warschau-Bahn bestand in den rebellischen Provinzen fast vollständig aus Untertanen polnischer Nationalität, von denen viele mit den politischen Zielen der nationalen Erhebung sympathisierten.157 Mitarbeiter der Bahnverwaltung versorgten Aufständische mit Informationen über die Fahrpläne geplanter Truppentransporte und stellten den Rebellen Züge zum Transport zur Verfügung.158 Die Beschädigung der Bahnstrecke und der Widerstand der polnischen Bahnbediensteten erschwerte den Transport zarischer Truppen in die westlichen Gebiete in erheblichem Maße. Bereits am 19. Januar 1863 konnte jedoch der Verkehr auf den beschädigten Abschnitten wieder aufgenommen werden, wobei zerstörte Brücken noch länger das Umsteigen an unterbrochenen Streckenteilen erzwangen. Allerdings eröffneten nun Aufständische wiederholt aus dem Schutz der Wälder das Feuer auf Züge, die Truppen transportierten. Aus diesem Grund gingen Militärs dazu über, vor der Durchfahrt eines Verbandes – wie in Feindesland – eine Lokomotive zur Erkundung des Terrains vorauszuschicken.159 Das autokratische Regime reagierte auf diese Angriffe mit drakonischen Maßnahmen.160 Zum einen verschärfte die Militärführung in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden die Bewachung von Bahnhöfen, Brücken und anderen neuralgischen Punkten der Linie.161 Zum zweiten gab man Anweisung, entlang des Bahndamms breite Schneisen in die Wälder zu schlagen, um dadurch Angriffe auf Züge aus dem Hinterhalt zu verhindern.162 Drittens verpflichtete man die Einwohner von Dörfern entlang der Strecke unter Androhung hoher Strafen zur Zusammenarbeit beim Schutz von Gleisen und Telegrafenlei156 Vospominanija general-fel’dmaršala grafa Dmitrija Alekseeviča Miljutina, 1863–1864, Moskva 2003, S. 46; Leitartikel in den Moskovskie vedomosti vom 16.1.1863, zit. nach: Michail N. Katkov: 1863 god. Sobranie statej po pol’skomu voprosu pomešavšichsja v Moskovskich Vedomostjach, Russkom Vestnike i Sovremennoj Letopisi, Bd. 1, Moskva 1887, S. 10. – Neben Eisenbahnanlagen wurden von den Rebellen in den ersten Tagen auch Posten der russischen Grenztruppen sowie Postämter und Telegrafenbüros angegriffen. 157 Vospominanija Miljutina, 1863–1864, S. 46, 57. 158 Vgl. Rieber, Železnye dorogi i ėkonomičeskoe razvitie, S. 155; ders., The Debate Over the Southern Line, S. 377. 159 Vospominanija Miljutina, 1863–1864, S. 57. 160 Zur Reaktion der Reichsregierung auf den Januaraufstand im Allgemeinen: Weeks, Nation and State, S. 96–109. 161 Vospominanija Miljutina, 1863–1864, S. 57. 162 Diese gerodeten Schneisen tauchen später als Erinnerungsort des Januaraufstandes von 1893 in russischen Reiseberichten sowie Reiseführern für westliche Touristen auf. Vgl. z.B. Miljukov, Letnye poezdki po Rossii (1874), S. 217; Baedeker, West- und Mittelrussland (1883), S. 2.
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tungen.163 Schließlich kannten die Behörden keine Gnade bei der Bestrafung polnischer Rebellen und ihrer Unterstützer in den Verwaltungen von Eisenbahn und Telegraf.164 Auch wenn die Regierung bald wieder Herr der Lage auf den Gleisanlagen in Polen und dem Westgebiet werden sollte, hatten ihr die Ereignisse des Jahres 1863 deutlich vor Augen geführt, dass sich die Eisenbahn in Krisensituationen leicht vom Instrument imperialer Herrschaft zu einer Art Achillesferse des Regimes wandeln konnte.165 Wie in anderen Politikfeldern, markierte der Januaraufstand auch in den russischen Debatten über die Regulierung des Eisenbahnverkehrs eine wichtige Zäsur. Hardliner in Fragen der Nationalitätenpolitik, wie zum Beispiel Iosif V. Gurko (Hurko), General-Gouverneur von Warschau in den Jahren 1883–84, setzten sich zum Beispiel mit Blick auf das Jahr 1863 dafür ein, Untertanen polnischer Nationalität den Dienst auf der Eisenbahn ganz zu verbieten. Aber selbst der Beschluss, das polnische Personal auf strategisch wichtigen Strecken in den westlichen Provinzen durch russisch-orthodoxe Arbeiter und Angestellte zu ersetzen, ließ sich nur schwer in die Praxis umsetzen. Qualifizierte russische Fachkräfte standen dafür schlicht nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung.166 Aber nicht nur die Tatsache, dass polnische Eisenbahner der Zarenmacht während des Januaraufstandes in den Rücken gefallen waren, prägte sich in das kollektive Gedächtnis der Reichselite ein. Hochrangige Regierungsvertreter problematisierten nach den Ereignissen des Jahres 1863 auch, dass die Bahn von Petersburg nach Warschau von Bediensteten einer privaten Aktiengesellschaft und nicht von staatlichen Beamten betrieben und kontrolliert worden sei. Als in den frühen 1880er Jahren in der Baranov-Kommission167 darüber diskutiert wurde, ob man Angestellte von (staatlichen und privaten) Bahngesellschaften mit beschränkten polizeilichen Befugnissen ausstatten könne, erinnerte Innenminister Graf Dmitrij A. Tolstoj (1882–89) seine Kollegen an die Erfahrungen des Jahres 1863.168 Da163 Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 613–617; Vospominanija Miljutina, 1863–1864, S. 57; [Petr Aleksandrovič Valuev:] Dnevnik P. A. Valueva. Ministra vnutrennich del v dvuch tomach, Bd. 1, 1861–1864, Moskva 1961, S. 202. 164 Zahlreiche Bahnbedienstete des Streckenabschnitts Vil’na-Warschau wurden nach dem Aufstand entweder aus dem Dienst entlassen oder an eine andere Strecke in Russland versetzt. Vgl. GARF f. 109, op. 2a, ed. chr. 775. Hinweise auf weitere Quellen zu dieser Frage in: V. A. Djakov, V. D. Korljuk, I. S. Miller (Hg.): Russko-pol’skie revoljucionnye svjazi 60-ch godov i vosstanie 1863 goda. Sbornik statej i materialov, Moskva 1962, S. 253. 165 Zur Geschichte der Metapher der „Achillesferse” in diesem Kontext: Heywood, “The most catastrophic question”, S. 63, FN 2. 166 Andzej Chwalba: Polacy w służbie Moskali, Warszawa 1999, S. 214. – Bereits im Dezember 1861 hatte der Militärgouverneur von Vil’na (1855–1863), Vladimir I. Nazimov vor der zweifelhaften Loyalität des Personals in der Verwaltung der Bahnlinie von Petersburg nach Warschau gewarnt, da dieses fast ausschließlich aus Polen und Ausländern bestehe. Vgl. Rieber, The Debate Over the Southern Line, S. 377. 167 Zu Einsetzung und Aufgaben dieses interministeriellen Gremiums vgl. Kap. 3.2. 168 Obščij ustav Rossijskich železnych dorog, o.O. [Sankt Peterburg], o.J., in: Rossija. Gosudarstvennyj Sovet. Materialy, Bd. 158.1885 [= RNB 135/286.158], S. 525.
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mals, so der Minister, habe sich das Personal der St. Petersburg-Warschau-Bahn als unfähig erwiesen, auf der Strecke für Recht und Ordnung zu sorgen. Tolstoj rief seinen Gesprächspartnern ins Gedächtnis, dass die Aufständischen von Bediensteten der Bahnlinie unterstützt worden seien. Vor diesem Hintergrund, so der Innenminister, komme es nicht in Frage, Angestellten von Bahngesellschaften polizeiliche Aufgaben zu übertragen oder ihnen gar das Recht zu gewähren, im Dienst eine Waffe zu tragen.169 Damit stellte Tolstoj klar, dass der Schutz von Recht und Ordnung auf den Eisenbahnen des Zarenreiches allein und ausschließlich die Aufgabe des Staates, bzw. der staatlichen Eisenbahn-Gendarmerie sei, die seit 1867 dem Chef der Gendarmerie (Šef žendarmov) und ab 1882 dem Innenministerium unterstand.170 Auch hinsichtlich der Organisation der EisenbahnGendarmerie hatten die Behörden ihre Lehren aus den Ereignissen des Januaraufstandes gezogen.171 Kurze Geschichte der Eisenbahn-Gendarmerie Die Anfänge einer eigenständigen Polizei-Organisation für das Eisenbahnwesen im Zarenreich reichen bis in die 1840er und 1850er Jahre zurück.172 Im Zuge der Konzessionierung einer neuen Bahnlinie bzw. Eisenbahn-Gesellschaft veranlasste die Reichsregierung stets auch die Gründung einer entsprechenden GendarmerieEinheit (žandarmsko-policejskaja komanda). Diese Sicherheitskräfte unterstanden zunächst der Kontrolle der Verkehrsbehörde, aus der 1865 das Verkehrsministerium (MPS) hervorging. Anfang der 1860er Jahre waren die EisenbahnGendarmerien für drei verschiedene, zum Teil konkurrierende Aufgabenfelder zuständig.173 Erstens sollten sie überwachen, ob Arbeiter und Auftragsnehmer der 169 Den Vorschlag, Bahnbedienstete mit polizeilichen Vollmachten auszustatten, hatten Vertreter von Eisenbahngesellschaften in die Debatten der Baranov-Kommission eingebracht. Als Vorbild dienten hier offensichtlich die Eisenbahnen im Deutschen Reich, die im Gegensatz zu den russischen Bahnen jedoch bereits mehrheitlich in staatlichem Besitz waren. – Zu dieser Diskussion vgl. auch: O policejskoj železno-dorožnoj službe v novom železno-dorožnom ustave, in: Železnodorožnoe delo 2 (1883), Nr. 34, S. 287. 170 Obščij ustav Rossijskich železnych dorog, o.O. [Sankt Peterburg], o.J., in: Rossija. Gosudarstvennyj Sovet. Materialy, Bd. 158.1885, S. 525f. 171 Erste Überlegungen zu diesem Punkt finden sich bereits in: Frithjof Benjamin Schenk: Im Kampf um Recht und Ordnung: Zivilisatorische Mission und Chaos auf den Eisenbahnen im Zarenreich, in: Ralf Roth, Karl Schlögel (Hg.): Neue Wege in ein neues Europa. Verkehr und die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2009, S. 197–221, hier S. 210–212. 172 Zur Geschichte der Eisenbahn-Gendarmerie im Zarenreich vgl. u.a. Timofeev, Obščija objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii (1908), S. 1–3; Zinaida I. Peregudova: Političeskij sysk Rossii (1880–1917 gg.), Moskva 2000, S. 115f.; Jurij A. Reent: Obščaja i političeskaja policija Rossii (1900–1917), Rjazan’ 2001, S. 176–197. Zur Geschichte der Polizei im allgemeinen: Felix Schnell: Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau, 1905–1914, Wiesbaden 2006 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 67), S. 23–49. 173 1861 wurden die Polizei-Organisationen der Nikolaj-Bahn und der Nižnij Novgorod-Bahn zu einer Verwaltungseinheit (upravlenie) zusammengefasst und deren Aufgaben gesondert in der
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Bahngesellschaften – z.B. beim Bau neuer Strecken – ihren Aufgaben pflichtgemäß nachkamen. Zweitens hatten sie für Recht und Ordnung auf Bahnhöfen zu sorgen und bei Konflikten zwischen Passagieren, Bediensteten und Anwohnern schlichtend einzugreifen. Schließlich war es ihre Pflicht, Beschwerden von Passagieren und Arbeitern zu sammeln und diese an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten. – Der Umstand, dass die Gendarmen einerseits Weisungen von den jeweiligen Eisenbahn-Gesellschaften erhalten konnten und gleichzeitig deren Personal überwachen sollten, wurde von den Behörden spätestens 1863 als ein Problem identifiziert. In seinen Ausführungen vor den Mitgliedern der BaranovKommission betonte Innenminister Graf Tolstoj, dass während des Januaraufstandes nicht nur die Mitarbeiter der St. Petersburg-Warschau-Bahn, sondern auch die Bediensteten der Eisenbahn-Gendarmerie versagt hatten, für einen reibungslosen Verkehr auf der Bahnlinie zu sorgen. Die Polizei habe sogar die Augen vor der Beteiligung von Bahnbediensteten an der Erhebung verschlossen und Informationen nicht an die Sicherheitsbehörden in St. Petersburg weitergeleitet.174 Die Nähe der Gendarmerie zur Bahngesellschaft bzw. zu deren Belegschaft hatte sich hier, so Tolstoj, als sicherheitspolitisches Risiko entpuppt. Als die Regierung im Jahr 1867 dem Verkehrsministerium die Verantwortung für die Eisenbahn-Gendarmerie entzog und diese der Aufsicht des Šef žandarmov unterstellte, zog sie letztlich damit auch die Konsequenz aus den Ereignissen des Jahres 1863.175 Aus der Sicht des Innenministers konnten die GendarmerieEinheiten durch die neue Unabhängigkeit von den Bahn-Compagnien nun „ohne Befangenheit“ ihren Pflichten nachkommen.176 Ab 1867 erhielten die Gendarmerien ihre finanziellen Mittel auch nicht mehr vom Verkehrs-, sondern vom Kriegsministerium.177 Zudem wurde ihr Aufgabenspektrum an jenes der anderen im Gendarmeriekorps (Otdel’nyj korpus žandarmov) organisierten Polizeikräfte angepasst.178 1895 gab es im Zarenreich bereits 21 Verwaltungen der Eisenbahn-
174 175 176 177 178
Položenie o Žandarmskich Policejskich Upravlenijach S.Peterburgo-Varšavskoj i Moskovsko-Nižegorodskoj železnych dorog festgelegt. Timofeev, Obščija objazanosti žandarmskoj železnodorožnoj policii (1908), S. 1; Položenie o policejskich upravlenijach S. PeterburgoVaršavskoj i Moskovsko-Nižegorodskoj železnych dorog, 27.7.1861, in: Sbornik svedenij o železnych dorogach v Rossii, 1867, otdel III, S. 406–413. Obščij ustav Rossijskich železnych dorog, o.O. [Sankt Peterburg], o.J., in: Rossija. Gosudarstvennyj Sovet. Materialy, Bd. 158.1885, S. 525. Timofeev, Obščija objazanosti žandarmskoj železnodorožnoj policii (1908), S. 2. Obščij ustav Rossijskich železnych dorog, o.O. [Sankt Peterburg], o.J., in: Rossija. Gosudarstvennyj Sovet. Materialy, Bd. 158.1885, S. 525. Obščij ustav Rossijskich železnych dorog, o.O. [Sankt Peterburg], o.J., in: Rossija. Gosudarstvennyj Sovet. Materialy, Bd. 158.1885, S. 523. Mit dem Gesetz vom 19.5.1871 wurden alle Gendarmerie-Einheiten des Zarenreiches mit den gleichen polizeilichen Aufgaben betraut. Reent, Obščaja i političeskaja policija, S. 176; Petrov: Praktičeskoe rukovodstvo dlja unter-oficerov žandarmskich policejskich upravlenij železnych dorog pri ispolnenii služebnych objazannostej po zakonu 19 maja 1871 goda, Sankt Peterburg 1878, S. 5; Sistematičeskij sbornik dejstvujuščich na russkich železnych dorogach uzakonenij, S. 231. Aufgaben und Zuständigkeitsbereich der Eisenbahngendarmerie wurden
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Gendarmerie (Žandarmsko-policejskie upravlenija (ŽPU) železnych dorog,), von denen jede für ein Streckennetz von bis zu 2.000 Werst Länge verantwortlich war. Da an jedem Bahnhof des Imperiums mindestens ein Gendarm stationiert werden musste, verfügte keine Gendarmerie-Organisation in Russland um 1900 über so viel Personal, wie die Sicherheitskräfte der Eisenbahnen.179 5.2.2. Revolutionäre Propaganda und Terrorismus Der Januaraufstand in Polen und im Zapadnyj kraj im Jahr 1863 hatte der Zarenregierung vor Augen geführt, dass das Schienennetz des Reiches auch von ihren politischen Gegnern als Kommunikationsmittel und taktische Waffe genutzt werden konnte. Bald musste sie erkennen, dass sich das Ringen um die Schienen der Macht auch auf das russische Kernland ausgedehnt hatte. So unterrichtete im Juli 1875 ein Mitarbeiter der „Dritten Abteilung“ (d.h. der politischen Geheimpolizei) die Kollegen der Eisenbahngendarmerie, dass man in der Nähe des Bahndammes der Nikolaj-Bahn ein Bündel mit „Schriften beunruhigenden Inhalts (vozmutitel’nych sočinenii)“ gefunden habe. Ein vergleichbarer Zwischenfall, so heißt es in dem Schreiben weiter, habe sich kürzlich an der Bahnstrecke zwischen Moršansk und Syzran’ an der Wolga ereignet. „Diese Vorkommnisse“, so der Autor des geheimen Zirkulars, „deuten darauf hin, dass politische Agitatoren versuchen, neue Methoden anzuwenden, um ihre regierungsfeindliche Propaganda in der Bevölkerung zu verbreiten.“ Die Kollegen der Eisenbahngendarmerie wurden angewiesen, in Zukunft aufmerksam auf Zwischenfälle dieser Art zu achten. Eine Instruktion sollte an alle Bahnbediensteten versandt werden, in der auf die Notwendigkeit hinzuweisen sei, verdächtiges Schriftgut jeder Art, das man in Zügen oder entlang der Bahnanlagen finde, sofort der Polizei zu übergeben.180 Im Dezember 1881 informierte der Direktor des Polizeidepartements Vjačeslav Plehve die Kollegen der Eisenbahngendarmerie darüber, dass Mitglieder „sozial-revolutionärer Organisationen“ in naher Zukunft planten, Bahnhofsrestaurants unter ihre Kontrolle zu bekommen und diese für ihre revolutionären Ziele zu nutzen. Wie in Rumänien, wo emigrierte Revolutionäre bereits mit „Erfolg“ eine ähnliche Strategie angewandt hätten, würden politisch suspekte Personen nun auch in Russland versuchen, Gastronomiebetriebe in Bahnhöfen für die Finanzierung der eigenen Aktivitäten und für die Agitation unter den Bahnangestellten und -arbeitern zu nutzen. Von Informanten habe die Polizei vertrauliche Nachrichten über entsprechende Pläne erhalten. Plehve wies die Kollegen nun an, besonders wachsam zu sein.181 insbesondere im Obščij ustav Rossijskich železnych dorog aus dem Jahr 1885 (Art. 183–187) geregelt. Vgl. dazu: Kvačevskij, Obščij ustav, S. 312–325. 179 Reent, Policija, S. 176. 180 GARF f. 126, op. 1, ed. chr. 23, ll. 6–6ob. Vgl. auch: Cirkuljar’ techničesko-inspektorskogo komiteta železnych dorog Nr. 4009, 16.7.1875, in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1 (1874), S. 165. 181 GARF f. 126, op. 1, ed. chr. 23, l. 12.
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Oppositionelle Gruppen versuchten nicht nur Bahnhofsbuffets als Basis für ihre illegale Tätigkeit zu nutzen. Gleichzeitig entdeckten die Regierungskritiker Passagierstationen als geeignete Bühnen für politische Demonstrationen.182 Anlässe boten unter anderem die Ankunft oder Abfahrt politischer Gefangener. Im April 1878 wurde beispielsweise ein Zug mit inhaftierten Studenten aus Kiev am Kursker Bahnhof in Moskau von 150 Sympathisanten enthusiastisch begrüßt. Die Mitglieder des revolutionären Empfangskomitees riefen „Hurrah!“ sowie „Für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!“ und versorgten die politischen Häftlinge mit Geld, Tee und warmer Kleidung.183 In den kommenden Jahren setzte die Reichsregierung alles daran, um Zwischenfälle dieser Art zu unterbinden. Im März 1901 unterrichtete zum Beispiel der Oberpolizeimeister von Moskau die Kollegen der Eisenbahngendarmerie über die geplante Verlegung einer Gruppe gefangener Studentinnen aus einem Moskauer Gefängnis. Um einen reibungslosen Ablauf der Verladung der Häftlinge in den Zug zu gewährleisten, wurde die Polizei auf dem Nikolaj-Bahnhof angewiesen, die Gefangenen zunächst in einen separaten Gebäudeteil der Station zu bringen und sie erst unmittelbar vor der Abfahrt des Zuges auf den Bahnsteig zu führen. Auf diese Weise wollte man Pläne für politische Demonstrationen auf dem Bahnhof vereiteln.184 182 Das Versammlungsrecht an russischen Bahnhöfen war seit den 1870er Jahren genau geregelt. Eine ministerielle Verordnung vom 31.5.1873 untersagte beispielsweise die Organisation von „Bällen, Picknicks und anderen Festivitäten“ an Bahnhöfen sowie den Aufenthalt von Menschen, die nicht auf einen Zug warten. Vgl. Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1 (1874), S. 80–82; Sistematičeskij sbornik dejstvujušich na russkich železnych dorogach uzakonenij, S. 172f. Die Pravila pol’zovanija passažirskimi pomeščenijami železnodorožnych stancij vom 8.1.1891 erlaubte Bediensteten der Eisenbahn in bestimmten Fällen die Passagierstationen für „Gruppengebete (obščestvennye molitva)“ und „Feiern aus besonderem Anlass (toržestvennye prazdnestva)“ zu nutzen. O pravilach pol’zovanija passažirskimi pomeščenijami železnodorožnych stancij, § 12. 183 GARF f. 109, op. 1a, ed. chr. 1606, l. 1–2ob. Vgl zu diesem Vorfall auch: Golos, Nr. 97, 7.4.1878, S. 2. – Wiederholt versuchten Sympathisanten auch politische Gefangene aus Transporten mit der Eisenbahn zu befreien. Vgl. z.B. (für das Jahr 1879): GARF, f. 126, op. 1, ed. chr. 23, l. 9. - Der Transport von Häftlingen auf der Eisenbahn war seit 1878 einheitlich geregelt. Vgl. Položenie o perevozke arestantov, in: Sistematičeskij sbornik dejstvujuščich na russkich železnych dorogach uzakonenij, S. 683–715. Die Eisenbahn-„Reise“ von Häftlingen und Strafgefangenen im Zarenreich wäre ein eigener Untersuchungsgegenstand. Zur Raumerfahrung von Gefangenen auf ihrem Weg in Straflager jenseits des Ural: Ackeret, In der Welt der Katorga, S. 44–54. Als Quellen zu diesem Thema vgl. exemplarisch: Petr Filipovič Jakubovič: Im Lande der Verworfenen. Tagebuchblätter eines sibirischen Sträflings, Bd. 1, Leipzig 1884 (Repr. München 1987), S. 10–12; Na Sachalin. Otryvki iz vospominanij ssyl’nogo, in: Vladivostok, 1886, Nr. 13, 14, 15, 17 (für diesen Hinweis danke ich Sharyl Corrado); Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Erinnerungen eines russischen Revolutionärs, Stuttgart 1913, S. 46f., 72, 102–104, 133–135. 184 GARF f. 126, op. 1, ed. chr. 31, l. 17–17ob. Vgl. auch ebd. ll. 21–21ob, 26–26ob., 34–34ob., 42, 43. Auch in den Folgejahren kam es anlässlich von Transporten politischer Häftlinge an Bahnstrecken immer wieder zu politischen Demonstrationen. So versammelten sich zum Beispiel im August 1903 kurz vor Odessa an einem Bahndamm ca. 150 Arbeiter aus Eisenbahnwerkstätten mit roten Fahnen und Transparenten mit Losungen wie „Nieder mit der Autokratie“ und „Hoch leben die Kämpfer für die Freiheit“, um einen Gefangenentransport aus dem
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Ungeachtet der Anstrengungen der Polizeikräfte blieb die Eisenbahn jedoch eine wichtige Bühne regierungskritischer Propaganda im Zarenreich. Dies wurde nicht zuletzt während der Revolution von 1905/07 deutlich.185 In den Akten der Eisenbahngendarmerie lassen sich zahlreiche Berichte über politische Aktivisten finden, die während der ersten russischen Revolution in Personenwaggons regierungskritische Flugblätter verteilten und versuchten, mitreisende Passagiere durch hitzige Reden für die revolutionäre Sache zu begeistern.186 Exemplarisch kann hier auf den Fall von Vladimir Mejsner hingewiesen werden, ein Student adliger Herkunft aus Novgorod, der auf seiner Heimreise von St. Petersburg am 21. Dezember 1906 vor Mitreisenden in einem Waggon dritter Klasse anarchistischrevolutionäre Proklamationen verlas. Mejsner wurde von einem regierungstreuen Passagier angezeigt und noch während der Fahrt von der Eisenbahngendarmerie festgenommen. In einem St. Petersburger Gefängnis verbüßte der junge Agitator später eine Haftstrafe von drei Monaten.187 Die Entstehung des Eisenbahnterrorismus’ im Zarenreich Auch für die Entwicklung des modernen Terrorismus im Zarenreich spielte der Bau und die Nutzung des Eisenbahnnetzes eine zentrale Rolle.188 Radikale politische Aktivisten erkannten relativ früh, dass sich durch Anschläge auf Eisenbahnanlagen das Regime empfindlich schwächen ließ. Bereits in den 1860er Jahren erhielten die zarischen Sicherheitsbehörden Nachricht, dass radikale Gruppen den Hofzug des Kaisers als ein Objekt politischer Anschläge ins Visier genommen hatten. Im Mai 1865 wurde der Dritten Abteilung aus den westlichen Provinzen berichtet, dass polnische Untertanen im Haus eines Streckenwärters geplant hatten, vor der Durchfahrt des Hofzuges Alexanders II. die Gleise der Bahn von Warschau nach Moskau zu präparieren und so ein Zugunglück mit unabsehbaren Folgen zu provozieren.189 Im Sommer 1869 wurde den Polizeibehörden der südrussischen Stadt Elizavetgrad ein anonymer Brief zugespielt, demzufolge eine Gruppe militanter Männer versucht hatte, den Herrscherzug des Zaren bei der Durchfahrt durch die
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Gefängnis von Odessa bei der Durchfahrt zu begrüßen. Die Demonstranten sangen revolutionäre Lieder, zerstreuten sich jedoch, nachdem der Zug die Stelle passiert hatte. Vgl. Revoljucija 1906–07 gg. Na Ukraine, Kiev 1955, Bd. 1, S. 413. Zu ähnlichen Zwischenfällen in Riga (August/September 1903): GARF, f. 77, op. 1, ed. chr. 12, ll. 8–8ob., 13–13ob. Zur Bedeutung der Eisenbahn in der Revolution von 1905/07 vgl. unten, Kap. 5.2.3. GARF f. 126, op. 1, ed. chr. 37, ll. 118–120; f. 77, op. 1, ed. chr. 35, ll. 7, 19, 20f., 68f.; ed. chr. 36, ll. 7–7ob, 20–20ob, 31–31ob. – Die Propaganda-Tätigkeit politischer Aktivisten in russischen Zügen inspirierte bereits 1885 den Maler Sergej Ivanov zu seinem Bild: Agitator v vagone (Agitator im Zugwaggon). Vgl. Sergej Vasil’evič Ivanov, Moskva 1964, Tafel 2. GARF f. 126, op. 1, ed. chr. 129, ll. 22–36. Vgl. hierzu bereits: Dietze, Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, S. 384–398 und Frithjof Benjamin Schenk: Attacking the Empire’s Achilles Heels: Railroads and Terrorism in Tsarist Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 232–253. GARF f. 109, op. 2a, ed. Chr. 788, l. 1–3ob.
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Stadt anzugreifen. Diesem Schreiben zufolge waren zwei junge Männer nach Elizavetgrad gekommen, um das Gleisbett der Bahnlinie zu unterminieren und den Zarenzug in die Luft zu sprengen. Da jedoch der Kaiser kurzfristig die Route seiner Reise geändert habe, sei es nicht zu dem Anschlag gekommen. Daraufhin hätten die Männer von einem Unbekannten aus Odessa den Rat erhalten, den Sprengstoff für einen Überfall auf einen Postzug zu verwenden und so eine größere Menge Geldes zu erbeuten.190 Kurz nach dem Erhalt dieses Briefes nahm die Polizei drei verdächtige Männer in Elizavetgrad fest. Bis heute rätseln Historiker darüber, was diese Gruppe im Schilde führte. Philip Pomper geht davon aus, dass Fofan A. Borisov, Michail P. Troickij und Vasilij I. Kuntušev etwas anderes planten, als illegale Literatur aus der Schweiz nach Russland zu schmuggeln. Dies hatten sie bei ihrer Vernehmung durch die Polizei zu Protokoll gegeben.191 Dass die drei Männer im Sommer 1869 in Elizavetgrad in Wirklichkeit weit radikalere Ziele verfolgten, leitet Pomper von drei verdächtigen Momenten ab. Erstens sei Borisov Mitglied der von Nikolaj A. Išutin gegründeten Untergrundgruppe Organizacija gewesen, in deren Geheimzirkel Hölle (Ad) auch die Ermordung des Zaren diskutiert worden war.192 Auch Troickij, der zweite Verdächtige, habe sich später der Terrororganisation Narodnaja volja (Freiheit bzw. Wille des Volkes) angeschlossen. Zweitens habe die Polizei später herausgefunden, dass sich Sergej Nečaev, der Autor des Revolutionären Katechismus (1869) und Begründer der Gruppe Narodnaja rasprava (Volksrache) zum Zeitpunkt der Festnahme der drei Verdächtigen ebenfalls in der Region aufgehalten hatte. Nečaev war auf der Suche nach einer Anstellung bei der Eisenbahn und hatte sich in Odessa als Maschinist aus Serbien vorgestellt. Drittens habe Nečaev im September 1869 Kontakt mit der Gruppe um Borisov, Troickij und Kuntušev aufgenommen. – Diese Indizien, so Pomper, deuten darauf hin, dass Alexander II. im Herbst 1869 mit Glück einem Bombenanschlag entkommen sei, den eine Gruppe revolutionärer Sozialisten auf seinen Herrscherzug geplant hatte. 190 Philipp Pomper: Nechaev and Tsaricide: The Conspiracy within the Conspiracy, in: Russian Review 33 (1974), S. 123–138, hier insbes. S. 125. Ich danke Martin Miller für den Hinweis auf die „Elizavetgrad-Affair“ im Jahr 1869. – Bewaffnete Zugüberfälle, wie sie in dem anonymen Schreiben erwähnt werden, wurden vor allem um die Jahrhundertwende von militanten Gruppen für „Expropriationen“ durchgeführt. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist vermutlich der Überfall auf die Bahnstation Bezdany (litauisch: Bezdonys), 25 km vor Vil’na am 26.9.1908, der von der Revolutionären Fraktion der Polnischen Sozialistischen Partei unter der Führung von Josef Piłsudski durchgeführt wurde. Bei dieser Aktion, bei der ein russischer Soldat getötet und fünf schwer verletzt wurden, erbeuteten neunzehn Kämpfer mehr als 200.000 Rubel aus einem Postzug. Vgl. Andrzej Garlicki: Jozef Piłsudski, 1867–1935, Warszawa 1990, S. 128–130; Wladyslaw Pobog-Malinowski: Akcja bojowa pod Bezdanami 26.9.1908, Warszawa 1933; P. P. Zavarzin: Rabota tajnoj policii, in: Ochranka. Vospominanija rukovoditelej političeskogo syska, Bd. 1, Moskva 2004, S. 409–508, hier S. 459–462. 191 Philip Pomper: Sergei Nechaev, New Brunswick 1979, S. 98; ders.: Nechaev and Tsaricide, S. 123–138. 192 Emilija S. Vilenskaja: Revoljucionnoe podpol’e v Rossii, 60-e gody XIX v., Moskva 1965, S. 413. Über Išutins Organisation „Hölle”: Franco Venturi: Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in 19th Century Russia, London 2001, S. 336f.
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Die Gleisanlagen der Eisenbahn mussten Terroristen aus drei Gründen als geradezu „idealer“ Ort für Herrscherattentate erscheinen. Erstens war das weitläufige Schienensystem trotz intensiver Bewachung, insbesondere bei Dunkelheit, schwer zu kontrollieren. Dadurch konnten militante Aktivisten an Bahndämmen Anschläge durchführen, die lange und komplizierte Vorbereitungen erforderten. Zweitens wurde die Planung von Herrscherattentaten auf Bahnanlagen dadurch erleichtert, dass auch die Hofzüge nach Fahrplänen verkehrten. Gelang es Terroristen, an entsprechende Informationen zu kommen, so ließ sich ein Anschlag fast auf die Minute genau planen und ein Sprengsatz zeitnah vor der Durchfahrt eines Herrscherzuges zünden. Schließlich rechneten Eisenbahnterroristen in ihre Pläne jene physikalischen Kräfte mit ein, die sich entfalten, wenn ein Zug bei voller Geschwindigkeit entgleist. Durch die Manipulation am Gleisbett ließ sich gezielt eine Situation wie bei einem „normalen“ Zugunglück herbeiführen. Die mitunter verheerenden Folgen von Eisenbahnunfällen waren in den 1860er und 70er Jahren in Russland hinlänglich bekannt. Russische Terroristen der 1870er Jahre, die als erste geheime Organisationsstrukturen aufgebaut und den Nutzen von Dynamit für ihren Kampf erkannt hatten, können auch als „Erfinder“ des modernen Eisenbahnterrorismus betrachtet werden.193 Die geplanten Anschläge von Narodnaja volja auf den Hofzug Alexanders II. am 18./19. November 1879 stellten nicht nur die ersten Versuche der Terrororganisation dar, ihr in diesem Jahr gegen den Zaren verhängtes „Todesurteil“ zu vollstrecken.194 Die Serie von Attentaten auf den Herrscherzug war auch die erste in die Tat umgesetzte Aktion dieser Art in der Geschichte des modernen Terrorismus überhaupt.195 Mitglieder des Exekutivkomitees von Narodnaja volja trafen im November 1879 an drei Punkten der Bahnlinien von Simferopol’ nach Moskau Vorbereitungen für Sprengstoffanschläge auf den Hofzug Alexanders II., der auf diesem Weg von seiner Sommerresidenz in Livadija zurück nach St. Petersburg reisen sollte.196 Nachdem die Aktivisten im August 1879 Alexander II. 193 Narodnaja volja gilt aufgrund dieser „innovativen“ Kampfmethoden als die erste „moderne“ Terrororganisation der Geschichte. Vgl. Marks, How Russia Shaped the Modern World, S. 16; Anna Geifman: Terrorism, in: Encyclopedia of Russian History, hg. von James R. Millar, Bd. 4, New York 2004, S. 1534f.; Schenk, Attacking the Empire’s Achilles Heels. 194 Zur Geschichte des Herrscherattentats in Russland im 19. Jahrhundert und zur Vorgeschichte des Anschlags von 1879: Astrid von Borcke: Gewalt und Terror im revolutionären Narodničestvo: Die Partei „Narodnaja Volja“ (1879–1883), in: Wolfgang Mommsen, Gerhard Hirschfeld (Hg.): Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 64–79; Norman Naimark: Terrorism and the Fall of Imperial Russia, in: Terrorism and Political Violence 2 (1990), S. 171–192. 195 Zum internationalen Vergleich: Schenk, Attacking the Empire’s Achilles Heels. 196 Zur Geschichte dieser Anschlagserie vgl. u.a.: Delo 1-go marta 1881 g. K 25-ti letiju 1881– 1906 gg. Process Željabova, Perovskoj i dr. Pravitel’stvennyj otčet, so statej i primečanijami L’va Dejča, Sankt Peterburg 1906, S. 57–86, 97–99, 273–285, 367–372; Ludwig Kulczycki: Geschichte der russischen Revolution, Bd. 2, Gotha 1911, S. 291–293; Stepan Stepanovič Volk: Narodnaja volja. 1879–1882, Moskva, Leningrad 1966, S. 100–102; Venturi, Roots of Revolution, S. 681–684; Vera Figner: Memoirs of a Revolutionist, DeKalb 1991, S. 77;
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zum Tode „verurteilt“ hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass sich der Zar besonders wirksam auf seiner Zugfahrt vom Schwarzen Meer nach Moskau angreifen lasse.197 Wochen vor der geplanten Reise des Kaisers gelang es der Organisation, eines ihrer Mitglieder in eine Eisenbahngesellschaft einzuschleusen und ihm eine Beschäftigung als „Streckenwärter“ in der Nähe von Odessa zu verschaffen. Zudem wurden bei Aleksandrovsk im Gouvernement Ekaterinoslav und am Stadtrand von Moskau Häuser in der Nähe von Bahnanlagen angemietet.198 Ohne bei Nachbarn Verdacht zu erregen, gruben Aktivisten in nächtlichen Aktionen Tunnels von ihren Verstecken zum Gleiskörper, verlegten Zündkabel und installierten galvanische Batterien sowie unterirdische Sprengsätze. Ungeachtet der sorgfältigen Planung waren die Anschlagversuche an keinem der drei Orte „erfolgreich“. An der ersten Stelle, in der Nähe von Odessa, brachen die Aktivisten vorzeitig ihre Vorbereitungen ab, nachdem die Reiseroute des Zaren geändert worden war. Bei Aleksandrovsk, auf dem Weg von der Krim nach Char’kov, unterblieb die Explosion, weil Andrej Željabov die Zündungskabel offenbar falsch verbunden hatte. So konnte der Hofzug am 18. November die präparierte Stelle unbeschadet passieren.199 Am dritten Schauplatz, an der Bahnlinie aus Kursk nach Moskau, gelang es Stepan Širjaev zwar am 19. November den Sprengsatz im Gleisbett zu zünden, jedoch erst, nachdem der erste der beiden Hofzüge die präparierte Stelle passiert hatte.200 Die Attentäter gingen davon aus, dass sich Alexander II. im zweiten Zug befinde. Tatsächlich reiste der Kaiser im ersten Zug und hatte Moskau bereits unbeschadet erreicht, als der Sprengsatz explodierte und den Zug seines Gefolges zum Entgleisen brachte. Allerdings wurde auch in diesem kein Passagier ernsthaft verletzt. Obwohl Alexander II. die Anschlagsversuche vom 18./19. November überlebte, waren die Führer der Narodnaja volja stolz auf diese Aktion. In ihrem „Hausjournal“ hoben die Terroristen den modernen Charakter des Attentatsversuchs hervor: Frühere Versuche den Zaren zu ermorden, so heißt es in der UntergrundZeitung Narodnaja volja vom 1. Januar 1880, seien vergleichsweise primitiv gewesen: „Immer stellte sich ein Mann mit einer Pistole dem Herrscher über Millio-
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Adam Bruno Ulam: In the Name of the People. Prophets and Conspirators in PreRevolutionary Russia with a New Introduction by the Author (1977), New Brunswick 1998, 336ff. Die Entscheidung, Alexanders Hofzug zu attackieren, wurde vermutlich auf dem geheimen Treffen der Untergrundorganisation in Lipeck getroffen: Iz spravki [Odesskogo Gubernskogo Žandarmskogo Upravlenija] načal’niku verchovnoj rasporjaditel’noj komissii M. T. LorisMelikovu o pokazanijach terrorista G. Gol’denberga (29 marta 1880 g.), in: Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii. Vtoraja polovina XIX – načalo XX vv., Sbornik dokumentov, hg. von Ekaterina I. Ščerbakova, Moskva 2001, S. 84–96, hier S. 90f. Vgl. auch: Delo 1-go marta 1881 g., S. 246, 285, 342, 367; Venturi, Roots of Revolution, S. 681. Vera Figner, Mitglied der Terrorzelle in Odessa, nutzte ihre Kontakte zur städtischen Gesellschaft, um ihrem Mitstreiter Michail Frolenko (alias Semen Aleksandrov) eine Stelle als Streckenwärter zu verschaffen. Figner, Memoirs, S. 79; Venturi, Roots of Revolution, S. 682. Delo 1-go marta 1881 g., S. 99, 367; Figner, Memoirs, S. 80; Venturi, Roots of Revolution, S. 682. Figner, Memoirs, S. 80.
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nen von Angesicht zu Angesicht gegenüber. [Der Attentäter] hatte keine Chance zu entkommen und [mit seiner Tat] nur geringe Aussichten auf Erfolg.“ Wie sehr unterschied sich davon der Anschlag vom 19. November: „Das Attentat, war gründlich geplant und vorbereitet – eine beträchtliche Geldsumme, Arbeitskraft und fundierter technischer Sachverstand waren zum Einsatz gekommen.“201 Selbstsicher prahlte die Organisation: „Die zunehmende Perfektionierung der Kampfmethoden erfüllt uns mit überaus großer Befriedigung. [...] Die ‚Autodidakten‛ (nedoučki) haben sich die besten Waffensysteme angeeignet und bringen die letzten und neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Technik zum Einsatz. In allen Phasen des Kampfes erinnern die Revolutionäre unwillkürlich an die höchste kulturelle Rasse [vysšaja kul’turnaja rasa], die ihre Kräfte mit den zahlreichen, aber wilden Horden der Regierung misst. Das Wissen und die Erfindungsgabe sind zweifelsohne auf Seiten der ‚Halbgebildeten‛.“202
Zwar war es den „Autodidakten“ nicht geglückt, mit ihrer ausgefeilten Taktik den Kaiser zu ermorden. Mit dem Herrscherzug hatten sie jedoch ein prominentes (und modernes) Herrschaftssymbol der Zarenmacht attackiert und dadurch dem Regime eindrücklich und öffentlichkeitswirksam auf dem Eisenbahnnetz des Reiches den Krieg erklärt. „Mit Chemie und Elektrizität als Gehilfen hatte der Revolutionär den Zarenzug gesprengt“, berauschte sich Vera Figner später in ihren Memoiren an den Kampfmethoden ihrer Terrororganisation. Zwar, so räumt sie ein, sei der Anschlag ein „Misserfolg“ gewesen, er habe jedoch einen „ungeheuren Eindruck in Russland hervor [gerufen] und Widerhall in ganz Europa [geweckt].“203 Während sich die Führer von Narodnaja volja mit dem modernen Charakter des Anschlagsversuchs vom 18./19. November brüsteten, zeigte sich die konservative Presse des Zarenreiches von den neuen Kampfmethoden des „unsichtbaren“ politischen Gegners schockiert. In der Zeitung Russkie vedomosti (Russische Nachrichten) hieß es beispielsweise am 20. November: „Die angewandten Kampfmethoden zeigen, dass [die subversiven Elemente] einen wagemutigen und schrecklichen Schritt nach vorne getan haben. Die Waffen, die sie in der Vergangenheit benutzten, scheinen ihnen nicht mehr auszureichen. Dolche und Pistolen, die für einen Augenblick einer fanatischen Hand bedürfen, wurden weggeworfen, weil sie nicht zu dem erhofften Ergebnis geführt haben. Sie wurden durch langsame Aktionen ersetzt, die sowohl eine dauerhafte Anspannung als auch bösartige Handlungen erfordern. [Die subversiven Elemente] sind von der Erdoberfläche in den Untergrund verschwunden, von wo sie ihre unheilbringenden Aktivitäten ausführen.”204
Die Ereignisse des November 1879 konfrontierten die Behörden mit der Tatsache, dass sich die kramola, wie der militante politische Gegner offiziell genannt wurde, mit Dynamit und der Eisenbahn neueste technische Entwicklungen zu Nutze 201 Narodnaja volja. Social’no-revoljucionnoe obozrenie, 2. Jahr, Nr. 3, 1.1.1880, S. 4, zit. nach: Literatura partii “Narodnaja volja”, Moskva 1930, S. 48. 202 Narodnaja volja, 1.1.1880, zit. nach: Literatura partii “Narodnaja volja”, S. 49. 203 Wera Figner: Nacht über Russland, Berlin 1928, S. 127, 124; dies., Memoirs, S. 80. 204 Russkie vedomosti, Nr. 294, 20.11.1879, S. 1.
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gemacht und damit ein neues Kapitel des bewaffneten Kampfes gegen das herrschende Regime aufgeschlagen hatte. Durch diesen Schritt hatte sich auch die räumliche Konstellation des Kampfes zwischen Opposition und Regime signifikant verändert. Während früher die Auseinandersetzung gleichsam auf „offener Bühne“ und in einem persönlichen Gegenüber der politischen Gegner stattfand, agierten die Terroristen nun mit Hilfe moderner Technik aus der Distanz und zogen sich in den „Untergrund“ zurück. Auf die Technisierung der Kampfmethoden seiner politischen Gegner reagierte das Zarenregime mit einer Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen, die bei der Durchführung von Herrscherreisen einzuhalten waren.205 Wie wir wissen, stand Alexander II. diesen Maßnahmen, die auch seinen Bewegungsradius empfindlich einschränkten, relativ distanziert gegenüber. Ein Umstand, der es den Attentätern von Narodnaja volja am 1. März 1881 erleichtern sollte, den Reformzaren in seiner Kutsche auf den Straßen St. Petersburgs zu töten.206 Während die Attentäter von Narodnaja volja in ihrer Darstellung der Ereignisse des 19. Novembers auf den modernen Charakter ihrer Kampftaktik hinwiesen, bedienten sich die Reichsbehörden in ihrer Erzählung vom göttlichen Schutz des Zaren explizit traditionaler, d.h. vor-moderner Erklärungsmuster. Die Tatsache, dass Alexander II. am 19. November 1879 nur knapp einem Attentat entkommen war, wurde am kaiserlichen Hof und in der zarentreuen Presse als Ausdruck der Gnade Gottes interpretiert, der „erneut das teure Leben unseres Herrschers gerettet hatte.“207 In der offiziellen Darstellung des Ereignisses wurde betont, dass Alexander in dem Moment, als die Bombe explodierte, in Moskau vor einer Ikone der Gottesmutter gebetet hatte.208 Der Öffentlichkeit präsentierte man diese Koinzidenz als Ausdruck eines göttlichen „Wunders (čudo)“ und als Beweis dafür, dass der Kaiser unter dem Schutz der göttlichen Vorsehung stehe.209 Als Alexander selbst am 20. November vor Würdenträger im Moskauer Kreml’ trat, unterstrich er, dass „Gott erneut Mich und alle Menschen, die Mich begleiteten,
205 Vgl. dazu ausführlich Kap. 5.1.3. 206 Zum Wandel des Sicherheitsbewusstseins von Staatsoberhäuptern im 19. Jahrhundert vgl. Dietze, Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr. 207 Sankt Peterburgskie vedomosti, Nr. 321, 22.11.1879, S. 1; Rasskaz očevidca o vzryve na Moskovsko-Kurskoj železnoj doroge, in: Saratovskie eparchal’nye vedomosti, 1879, Nr. 44, S. 376–378, hier S. 377. Vgl. auch: Vladimir P. Meščerskij: Moi vospominanija. Bd. 2 (1865–1881), Sankt Peterburg 1898, S. 438; Schweinitz, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 83. 208 Moskovskie vedomosti, Nr. 297, 21.11.1879, S. 2; Sankt Peterburgskie vedomosti, 22.11.1879, S. 1; Richard von Pfeil und Klein-Ellguth: Das Ende Kaisers Alexander II. Meine Erlebnisse in russischen Diensten 1878–1881, Berlin 1901, S. 54. 209 Moskovskie vedomosti, 21.11.1879, 2; Vestnik Evropy 14 (1879), Bd. 12, S. 857. – Auch Kriegsminister Miljutin spricht in seinem Tagebuch von einer „wundersamen Rettung des Herrschers“ (čudesnoe spasenie gosudarja), [Miljutin, Dmitrij A.]: Dnevnik D. A. Miljutina 1878–1880, Bd. 3, Moskva 1950, S. 180. – Auffallend ist hier die Ähnlichkeit mit der späteren offiziellen Darstellung des „Wunders von Borki” (nach dem Zugunglück vom 17.10.1888). Vgl. dazu ausfürlich Kap. 5.1.4.
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vor Unheil bewahrt [habe].“210 Nach der Rettung des Kaisers war in St. Petersburg die Reproduktion eines Gemäldes „massenhaft“ im Umlauf, das die „göttliche Beschirmung des Zaren bei diesem Mordversuch“ zeigte: „Man sieht den Verbrecher hinter der Wand eines einsamen Hauses stehend, den herannahenden ersten Zug aufmerksam beobachten. Über dem mittleren Wagen dieses Zuges schwebt ein Engel, welcher seine Hände wie beschützend über demselben ausbreitet. Der Vorgang ist bei Abendlicht dargestellt und der helle Schein der Lokomotivlaternen beleuchtet den Engel mit glänzenden Strahlen.“211
Nach dem Attentatsversuch kursierten in St. Petersburg auch Gerüchte, denen zufolge Alexander ursprünglich geplant hatte, in jenem Zug zu reisen, den die Aktivisten von Narodnaja volja zum Entgleisen brachten. Dieser Geschichte zufolge war der Zar früher als geplant in Simferopol’, dem Ausgangspunkt der Reise, angekommen, was zu einem Wechsel der Fahrpläne seines Zuges mit dem seines Gefolges geführt habe.212 Dieses Narrativ ließ sich gut in die Erzählung von der Rettung des Zaren am 19. November 1879 durch die göttliche Vorsehung einfügen: Der Schöpfer griff durch seinen frommen Diener in die irdische Ordnung mit ihren technischen Regularien und Fahrplänen ein, sorgte für den Tausch der Fahrpläne und vereitelte so die technizistischen Visionen und Anschlagspläne der Terroristen. Aus den Memoiren Vera Figners und denen anderer Zeitgenossen wissen wir jedoch, dass die wundersame Rettung des Zaren am 19. November 1879 vermutlich profanere Gründe hatte. Tatsächlich reiste der Zar in Simferopol’ wie geplant mit dem zweiten Zug ab, was die lokalen Verbindungsleute von Narodnaja volja mit der verschlüsselten Botschaft nach Moskau telegrafierten: „Wir haben Großmutter in der Früh zum Zug gebracht. Holt sie ab. Der Weizen kostet zwei Rubel, unser Preis: 4 Rubel“ [sprich: der Zar reist im vierten Waggon des zweiten Zuges].213 Während der Fahrt tauschten die beiden Züge jedoch Positionen, was bei Reisen dieser Art nichts Außergewöhnliches war, von den Terroristen jedoch nicht antizipiert werden konnte.214 Während das Exekutivkomitee von Narodnaja volja davon überzeugt war, im Namen bzw. „Willen“ des einfachen russischen „Volkes (narod)“ zu kämpfen, stigmatisierten die Reichsbehörden die Terroristen als fremdes Element im russi210 Moskovskie vedomosti, 21.11.1879, S. 2; Sankt Peterburgskie vedomosti, 22.11.1879, S. 1; Vestnik Evropy 14 (1879), Bd. 12, S. 858. 211 Pfeil und Klein-Ellguth, Das Ende Kaisers Alexander II., S. 54. – Leider konnte dieses Bild (lubok?) trotz intensiver Recherche in keiner russischen Bibliothek bzw. keinem Archiv gefunden werden. 212 Sankt Peterburgskie vedomosti, Nr. 322, 23.11.1879, S. 1; Rasskaz očevidca o vzryve na Moskovsko-Kurskoj železnoj doroge; Nabroski vospominanij knjazja D. D. Obolenskogo, S. 270; Dnevnik D. A. Miljutina. 1878–1880, Bd. 3, S. 179. 213 Nabroski vospominanij knjazja D. D. Obolenskogo, S. 271. 214 Vgl. S. M. Serpokryl: Podvig pered kazny, Leningrad 1971, S. 101. Vera Figner zufolge gab die Terroristin Sofija Perovskaja bereits beim Herannahen des ersten Zuges ein entsprechendes Zeichen, auf das Stepan Širjaev, der den Zündmechanismus aktivieren sollte, aus ungenannten Gründen jedoch nicht reagierte. Vgl. Dies.: Polnoe sobranie sočinenij v 6 tomach, Bd. 1, Moskva 1928, S. 188.
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schen „Volkskörper“ und wiesen auf den Graben hin, der die kramola von der frommen und zarentreuen Bevölkerung trennte. Am 22. November hieß es beispielsweise in den Sankt Peterburgskie vedomosti: „Kriminelle Handlungen dieser Art übersteigen die Vorstellungsmöglichkeiten der unverdorbenen und jungfräulichen Phantasien des einfachen Volkes. [Ein Vorfall dieser Art] wäre nie passiert, wenn die Bevölkerung eine solche Tat für möglich gehalten hätte. Wenn man den Bewohnern Moskaus gesagt hätte, dass jemand möglicherweise Eisenbahngleise untertunnelt habe, um dort eine Bombe zu zünden, wenn der Hofzug des Kaisers vorbeifährt, wäre jeder Russe losgezogen, um alle Häuser und Hütten in der Nähe von Eisenbahnanlagen zu untersuchen und um sich persönlich zu vergewissern, dass nichts [und niemand] die Ruhe des Monarchen bedroht.“215
In ihren Berichten über die Hintergründe des Terroranschlags betonten konservative Journalisten, dass die Attentäter aus einem Hinterhalt agiert und damit die Regeln eines offenen und ehrenhaften Kräftemessens mit der Regierung verletzt hätten. So habe man bei der Untersuchung des Hauses, in dem Stepan Širjaev und Sofija Perovskaja auf die Ankunft des Herrscherzuges gewartet hatten, festgestellt, dass jedes Teil der zerstörerischen Apparatur sorgfältig getarnt worden war.216 Detailliert berichtete die Presse über das kaltblütige Vorgehen der Terroristen, die einen vierzig Meter langen Tunnel von ihrem Unterschlupf zum Bahndamm gegraben, Zündkabel verlegt und einen Sprengsatz unter dem Gleiskörper platziert hatten.217 Die regierungstreue Zeitung Novoe vremja (Neue Zeit) hob in ihrem Bericht hervor, dass Širjaev und Perovskaja ihre Nachbarn dadurch von ihren nächtlichen Aktivitäten abgelenkt hatten, dass sie tagsüber ein augenscheinlich religiöses Leben führten.218 Sie hatten ihr Haus mit Ikonen dekoriert und so getan, als seien sie Teil jener frommen Nachbarschaft, in der sie sich niedergelassen hatten. Durch dieses verräterische Handeln, so die offizielle Lesart, hatten sich die Vorkämpfer des „Volkswillens“ in Wirklichkeit von der einfachen orthodoxen Bevölkerung entfremdet. Mit einer gewissen Genugtuung berichtete die konservative Presse, dass sich nach dem Abschluss der Untersuchungen ein aufgebrachter Mob von rund 4.000 Menschen am Haus versammelte, das Širjaev und Perovskaja als Unterschlupf gedient hatte und dort mit Hurrah-Rufen Fenster und Möbel kurz und klein schlug, als wollten die Menschen auf diese Art Rache an den Verrätern nehmen, die in dem „verhassten Haus (nenavistnyj dom)“ ihre kriminellen Machenschaften geplant hatten.219 215 Sankt Peterburgskie vedomosti, 22.11.1879, S. 1. Narodnaja volja hob dagegen hervor, dass die Nachricht von dem Attentatsversuch von der Moskauer Bevölkerung in Moskau mit Gleichgültigkeit aufgenommen worden sei. Vgl. Venturi, Roots of Revolution, S. 683. 216 Moskovskie vedomosti, Nr. 300, 25.11.1879, S. 3; Podrobnosti pokušenija 19-go nojabrja, in: Novoe vremia, Nr. 1347, 27.11.1879 (= GARF f. 109, op. 1a, ed. Chr. 984, ll.1–2), S. 2; Rasskaz očevidca o vzryve na Moskovsko-Kurskoj železnoj doroge, S. 378. 217 Über die Vorbereitung des Anschlags: Venturi, Roots of Revolution, S. 683; A. P. PribylevaKorba, Vera N. Figner: Narodovolec Aleksandr Dmitrievič Michailov, Leningrad, Moskva 1925, S. 142. 218 Podrobnosti pokušenija 19-go nojabrja, l. 2; Moskovskie vedomosti, 25.11.1879, S. 2. 219 Moskovskie vedomosti, 25.11.1879, S. 3.
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Züge und Gleisanlagen wurden von terroristischen Gruppen des Zarenreiches nicht nur als Ziele für politisch motivierte Anschläge identifiziert. Gleichzeitig leistete ihnen die Eisenbahn als Kommunikations- und Transportnetz unverzichtbare Dienste. Das dampfgetriebene Verkehrsmittel ermöglichte Aktivisten der Opposition, sich schnell innerhalb der Grenzen des Zarenreiches fortzubewegen und bei Verfolgung ins Ausland abzusetzen.220 Das Eisenbahnsystem erleichterte auch den Aufbau eines Netzes geheimer Terrorzellen im ganzen Land und die Kommunikation innerhalb dieser Organisationsstruktur des politischen Untergrunds.221 Die Behörden waren sich der Bedeutung der Eisenbahn als Transportmittel von Terroristen, Waffen, Sprengstoff und verbotener Literatur bewusst. Sicherheitskräfte der Bahnpolizei hatten den Auftrag, an Bahnhöfen ein besonders wachsames Auge auf verdächtig wirkende Passagiere bzw. auffällig schwere Gepäckstücke zu werfen.222 Grigorij Gol’denberg, der im November 1879 an der Vorbereitung des Anschlags der Narodnaja volja in der Nähe von Odessa beteiligt war, machte sich Mitte des Monats mit dem Zug auf den Weg nach Moskau, nachdem die Planung des Attentats in der Hafenstadt abgebrochen worden war. In seinem Gepäck befanden sich rund 16 kg Nitro-Glycerin, die offenbar zu Širjaev und Perovskaja nach Moskau gebracht werden sollten. Der schwere Koffer weckte jedoch am 14. November am Bahnhof von Elizavetgrad den Verdacht eines Gepäckträgers. Gold’denberg wurde aufgehalten, er versuchte zu flüchten, verteidigte sich mit einem Revolver, konnte von der Polizei jedoch überwältigt und festgenommen werden.223 Was für ein großer Fang den Gendarmen hier ins Netz gegangen war, 220 Vgl. exemplarisch: Ljadov [Mandel’štam], Iz žizni partii, S. 70, 78; Morozov, Povesti moej žizni, Bd. 1, S. 307–309; Ljubatovič, Dalekoe i nedavnoe, S. 228–231, 244f. – In einem Brief an Strachov aus dem Jahr 1879 spielte Lev Tolstoj auf die Bedeutung der Eisenbahn für die Kommunikation russischer Terroristen an. In dem Schreiben raisonnierte er, dass es in Russland in Wirklichkeit nur einen einzigen Nihilisten gebe, der jedoch mit Hilfe der Eisenbahn ständig an einem anderen Ort auftauche. So habe man den Eindruck, dass es sich in Wirklichkeit um eine Vielzahl von Nihilisten handele, die im Zarenreich ihr Unwesen trieben. Vgl. Baehr, The Troika and the Train, S. 100 (FN 28), dort nach: Boris Ėjchenbaum: Lev Tolstoj. Semidesjatye gody, Leningrad 1974, S. 138. 221 Zur Bedeutung der Eisenbahn- bzw. Netz-Metapher in Dostoevskijs Roman Dämonen, der sich mit der Entstehung der terroristischen Bewegung im Zarenreich befasst: Lounsbery, Dostoevskii’s Geography. – Zur Auseinandersetzung mit Sergej Nečaev in Dostoevskijs Dämonen vgl. auch: Gudrun Braunsperger: Sergej Nečaev und Dostoevskijs Dämonen. Die Geburt eines Romans aus dem Geist des Terrorismus, Frankfurt/M. 2002; Marina Rumjanzewa: Die Verschlechterung der Welt. Über die russischen Wurzeln des Terrorismus als Nihilismus, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.11.2001 [http://www.nzz.ch/2001/11/26/fe/article7SEVE.html, aufgerufen am 2.8.2013]. 222 R. M. Kantor: Ispoved Grigorija Gol’denberga, in: Krasnyj Archiv, 1928, Nr. 5, S. 117–174, hier S. 121; Richard Pipes: The Degaev Affair. Terror and Treason in Tsarist Russia, New Haven 2003, S. 43; Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii, S. 84. 223 Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii, S. 48–53, 84–93; Lee B. Croft: Nikolai Ivanovich Kibalchich: Terrorist Rocket Pioneer, Tempe 2006, S. 67; Venturi, Roots of Revolution, S. 681; Figner, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 1, S. 187; Meščerskij, Vospominanija, Bd. 2, S. 440; Ernst R. Rutkowski: Die revolutionäre Bewegung und die inneren Verhältnisse
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stellten die Behörden erst später fest, als sie Gol’denberg unter falschen Versprechungen zum Reden brachten und auf diese Art umfangreiche Informationen über die Strukturen, Mitglieder und Aktivitäten der Narodnaja volja bekamen. Gol’denbergs Festnahme konnte zwar den Anschlag vom 19. November 1879 nicht verhindern, seine Aussagen trugen jedoch später zur Aufklärung dieses Terroraktes und zur Formulierung der Anklageschriften gegen die Verschwörer des 1. März 1881 bei.224 Als der Šef žandarmov und Leiter der Dritten Abteilung, General-Adjutant Aleksandr Drentel’n von der Verhaftung eines gewissen Stepan Efremov (alias Grigorij Gol’denberg) und der Konfiszierung des Sprengstoffs bei dem Verdächtigen erfuhr, vermerkte er auf einer Depeche: “Vielleicht plante er einen Anschlag gegen den kaiserlichen Hofzug? (Ne k proezdu li imperatorskogo poezda on gotovil?)”225 Der Direktor (upravljajuščij) der Dritten Abteilung, Šmidt, sandte daraufhin Telegramme nach Simferopol’’, Ekaterinoslav, Char’kov, Orel, Tula, Kaluga, Moskau, Tver’ and Novgorod, in denen er die Polizeibehörden vor einem „möglichen Anschlag auf den Zug des Kaisers auf dessen Reise von Livadija nach St. Petersburg bzw. auf den Zug des Carevič auf dessen Fahrt von Petersburg nach Moskau” warnte.226 Allem Anschein nach alarmierte diese Nachricht die Sicherheitskräfte jedoch nicht in ausreichendem Maße. Offensichtlich klang die Vorstellung, dass Kriminelle wirklich einen Bombenanschlag auf den Hofzug des Kaisers planen könnten, für viele Zeitgenossen noch zu phantastisch, um wirklich ernst genommen zu werden.227 Die Bahnhöfe des Zarenreiches, das macht die Geschichte Grigorij Gol’denbergs deutlich, konnten sich für Aktivisten der politischen Opposition aufgrund der hohen Polizeipräsenz zu riskanten „Fallen“ im öffentlichen Raum entwickeln. Gleiches lässt sich jedoch – aus anderer Warte betrachtet – auch für hochrangige Regierungsvertreter sagen, die im frühen 20. Jahrhundert ins Fadenkreuz der Terrorgruppen der russischen Sozialrevolutionäre (Partija SocialistovRevoljucionerov, PSR) gerieten. 1904, während der „zweiten Welle des Terroris-
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des Zarenreiches von 1877 bis 1884 im Urteil österreichisch-ungarischer Diplomaten, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 9 (1956), S. 348–483, hier S. 395. Nikolai A. Troickij: Narodnaja volja pered carskim sudom, 1880–1881 gg., Saratov 1971, S. 89–91. Kantor, Ispoved/ Grigorija Gol’denberga, S. 123. Kantor, Ispoved/ Grigorija Gol’denberga, S. 124. Der Sympathisant der Narodnaja volja Sergej Stepnjak-Kravčinskij behauptete später in seiner Abhandlung über den terroristischen „Untergrund“ im Zarenreich, dass Gerüchte über einen geplanten Anschlag auf Alexander II. bereits vor dem 19. November “quickly spread throughout all Russia” (bukval’no po vsei Rossii). “Every student, every barrister, every writer not in the pay of the police, knew that the ‘Imperial train would be blown up during the journey from the Crimea to St. Petersburg’. It was talked about ‘everywhere’, as the phrase runs. […] Yet the police knew nothing.” Sergej Stepnjak-Kravčinskij: Podpol’naja Rossija, Moskva 1960, S. 182f. Englische Übersetzung: ders.: Underground Russia. Revolutionary Profiles and Sketches from Life, London 1883, S. 276. Diese Version war jedoch stark dem Wunschdenken geschuldet, dass das „Volk” einhellig die militante Mission der Aktivisten aus der Intelligencija billigte und unterstützte.
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mus“ im vorrevolutionären Russland, identifizierten Mitglieder der „Kampforganisation“ (Boevaja organizacija) der PSR den Bahnhofsvorplatz der Petersburger Passagierstation der St. Petersburg-Warschau Bahn als Ort für einen Anschlagsversuch auf den verhassten Innenminister Vjačeslav von Plehve. Am 15. Juli begab sich von Plehve in einer gepanzerten Kutsche von seiner dača auf der Apothekerinsel zum Baltischen Bahnhof, von wo er mit dem Zug nach Peterhof zu einem Treffen mit Kaiser Nikolaus II. fahren wollte. Der Innenminister, der bereits einige Attentate auf seine Person überlebt hatte, wurde durch eine Bombe getötet, die der Sozialrevolutionär Egor Sazonov vor dem Warschauer Bahnhof unter seine fahrende Kutsche warf.228 Aus den Erinnerungen des Mitverschwörers Boris Savinkov sind wir relativ gut über die Planungen dieses Anschlags und über die Bedeutung der Eisenbahn im Kalkül der Attentäter informiert. Die Sozialrevolutionäre wussten, dass der Innenminister jede Woche in den Winterpalast, bzw. nach Peterhof oder Carskoe Selo fuhr, um dort dem Zaren Bericht zu erstatten. Da es unmöglich erschien, von Plehve in seiner Wohnung zu ermorden, fassten die Terroristen den Plan, den Minister auf einer seiner Fahrten zum Zaren zu töten.229 Nachdem man den Innenminister observiert und seine regelmäßigen Fahrten protokolliert hatte, entschieden die Attentäter, von Plehve an einem Donnerstag zu attackieren, an dem er gewöhnlich den Morgenzug nahm, um zum Rapport nach Peterhof zu fahren.230 Auch am 15. Juli 1904 konnten Savinkov und seine Mitverschwörer davon ausgehen, dass von Plehve pünktlich seine dača verließ, um den Zug um zehn Uhr am Baltischen Bahnhof zu erreichen. Die Tatsache, dass Plehve seinen Lebensrhythmus in diesem Punkt an die Fahrpläne der Eisenbahnen anpasste, half den Attentätern, den Anschlag zeitlich genau zu planen und ein Szenario ihrer Tat zu entwerfen, das „auf die Minute genau berechnet war (rassčitana po minutam)“. Zwischen acht und neun Uhr früh kamen zwei Verschwörer am Nikolaj-Bahnhof und zwei weitere am Bahnhof der Baltischen Eisenbahn in St. Petersburg an, wo sie von Savinkov erwartet wurden. In der Hauptstadt wurde jeder der vier Attentäter mit einer Bombe und genauen Instruktionen ausgestattet, wann und wo er Plehve auf dessen Weg zum Baltischen Bahnhof angreifen sollte. Sazonov sollte als erster seinen Sprengsatz auf dem Bahnhofsvorplatz der Warschauer Station werfen, die direkt neben dem Baltischen Bahnhof liegt. Sazonov hatte sich als Eisenbahner „verkleidet“, um in der
228 Zur Ermordung von Plehves: Boris Savinkov: Vospominanija terrorista, Moskva 2006, S. 21– 72; Geifman, Thou Shalt Kill, S. 54f., 279, FN 52; Edward H. Judge: Plehve. Repression and Reform in Imperial Russia 1902–1904, Syracuse, NY 1983, S. 234–7. – Der Anschlag vom 15.7.1904 inspirierte Andrej Bely beim Schreiben seines Romans St. Petersburg (Peterburg). Vgl. Alexis Peri, Christine Evans: Visions of Terror. The Death of Plehve Through the Eyes of Savinkov, http://stpetersburg.berkeley.edu/alexis/alexis_front.html [angesehen am 1.08.2013]. – Vgl. auch die (illustrierte) zeitgenössische Berichterstattung über das Attentat in: Niva, 1904, Nr. 30, S. 598–600 und Iskry. Chudožestvenno-literaturnyj i jumorističeskij žurnal s karikaturami, 1904, Nr. 29, 25.7., S. 225–229. 229 Vgl. Savinkov, Vospominanija terrorista, S. 23. 230 Vgl. Savinkov, Vospominanija terrorista, S. 51.
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Nähe des Bahnhofs nicht aufzufallen.231 Im Gedränge des belebten städtischen Platzes konnte sich Sazonov unbemerkt der Kutsche von Plehves nähern und seinen Sprengsatz auf den Innenminister schleudern. Die Bombe riss das gepanzerte Fahrzeug in Stücke und tötete von Plehve sofort. Sazonov überlebte das Attentat schwer verletzt und wurde von der Polizei an Ort und Stelle festgenommen. Seine Mitverschwörer konnten sich dank der Eisenbahn schnell vom Schauplatz des Anschlages entfernen: Nachdem klar war, dass bereits Sazonov mit seinem Sprengsatz das Ziel der Aktion erreicht hatte, entledigten sich Kaljaev und Borošanskij ihrer Bomben und verließen die Hauptstadt mit dem Zug. Auch Savinkov, der vom Tod Plehves aus einer Extra-Ausgabe einer Zeitung erfuhr, löste am Abend des gleichen Tages ein Zugticket nach Warschau, um dort Evno Azef, dem Kopf der Verschwörung (und Doppelagenten) Bericht von der „erfolgreichen“ Mission der SR-Kampforganisation zu erstatten.232 Die Eisenbahn erlaubte es den Attentätern “to step on and off the staging ground for the murder and to retreat into the wings when necessary”.233 Die Tatsache, dass der Terminkalender des Innenministers an die Fahrpläne der Züge von Petersburg nach Peterhof angepasst war, half den Verschwörern, ihren Anschlag zeitlich präzise zu planen. Im Gedränge der Menschen auf dem Vorplatz des Warschauer Bahnhofs fand der als Eisenbahner maskierte Sazonov ausreichend Deckung, um aus dem Schutz der Menge eine Bombe auf sein Opfer zu werfen. – Von dieser Warte aus betrachtet, wäre das von Azef geplante Attentat auf den Minister ohne das moderne Verkehrsmittel der Eisenbahn schlicht nicht möglich gewesen.234 An dem Attentat auf Vjačeslav von Plehve am 15. Juli 1904 lässt sich auch gut der Wandel der Taktik des politischen „Untergrunds“ von der ersten Entwicklungsphase des modernen Terrorismus im Zarenreich in den 1870er Jahren zur zweiten Etappe zu Beginn des 20. Jahrhunderts illustrieren. Während sich die Aktivisten der Narodnaja volja bei ihren Anschlägen auf die Person des Zaren und die höchsten Würdenträger des Reiches konzentrierten, machte die PSRKampforganisation auch „Jagd“ auf „mittlere und kleinere“ Repräsentanten des Regimes. In diesem Zusammenhang verlor der Herrscherzug des Zaren als Ziel politisch motivierter Anschläge an Bedeutung, während bevölkerte Orte des öffentlichen Raums, wie Cafés oder Bahnhöfe als Schauplätze terroristischer Gewalt zunehmend wichtiger wurden. Neben dem Anschlag auf Innenminister Plehve fügt sich auch die versuchte Ermordung des Regionalrats Gavrila Luženkovskij durch die Sozialrevolutionärin Marija Spiridonova am 16. Januar 1906 auf dem Bahnhof der Stadt Borisoglebsk
231 Savinkov, Vospominanija terrorista, S. 59. In einem Brief an seine Kameraden schrieb Sazonov später aus der Haft, dass ihn in „dieser Kostümierung niemand inmitten der zahlreichen Eisenbahnbediensteten“ wahrgenommen habe. Egor Sergeevič Sazonov. Materialy dlja biografii, Moskva 1919, S. 9. 232 Savinkov, Vospominanija terrorista, S. 67, 73. 233 Peri, Evans: Visions of Terror, http://stpetersburg.berkeley.edu/alexis/al_2_4.html [2.8.2013]. 234 Vgl. Peri, Evans: Visions of Terror, http://stpetersburg.berkeley.edu/alexis/al_2_1.html [2.8.2013].
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im Gouvernement Tambov in dieses Bild.235 An diesem “most famous terrorist act committed by a woman in the era of the first revolution”236 lässt sich aufzeigen, dass sich die Eisenbahn auch noch aus einem anderen Grund zu einem wichtigen Ort politisch motivierter Anschläge im Zeitalter der Moderne entwickelt hatte. Die Eisenbahn war zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zarenreich für Terroristen und Regierungsvertreter gleichermaßen ein wichtiges Verkehrsmittel. Wie von Technikvisionären der frühen Jahre prophezeit, konnten sich die Beamten des Zaren um die Jahrhundertwende dank der Eisenbahn relativ schnell zwischen den verschiedenen Regionen des Reiches fortbewegen und dadurch dem Anspruch des Regimes von „Herrschaft durch Anwesenheit“ an vielen Orten des Landes Ausdruck verleihen. Aber bereits die Ermordung von Innenminister Plehve verdeutlicht, dass sich die Züge und Bahnhöfe des Schienensystems für Regierungsvertreter schnell zu äußerst gefährlichen Orten des öffentlichen Raumes verwandeln konnten. Auch in Russland galten Bahnhöfe de jure als Teil des „öffentlichen Raums (publičnye mesta)“.237 Diese Orte waren jedermann zugänglich, sie wurden von Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Gruppen und Klassen bevölkert und blieben für die Sicherheitsbehörden schwer zu überwachen und zu kontrollieren. Bahnhöfe können dabei als „geschlossene Orte“ des öffentlichen Raums beschrieben werden: im Unterschied zu Plätzen, Straßen oder Parks waren (und sind) sie durch Zäune und Mauern von der „Außenwelt“ abgetrennt. Dadurch sind Menschen an diesen Orten einerseits vor Einflüssen von „außen“ geschützt, andererseits von der Außenwelt isoliert. Diese doppelte „Natur“ von Bahnhöfen, ihr Charakter als „offener“ und zugleich „abgeschirmter“ Ort des öffentlichen Raums, spielte beim Attentat Spiridonovas auf Luženkovskij am 16. Januar 1906 eine zentrale Rolle. In einem Brief aus dem Gefängnis von Tambov, den die liberale Zeitung Rus’ am 12. Februar 1906 in Auszügen publizierte, beschrieb die Terroristin genau, wie sie den Anschlag auf den Regionalrat geplant und durchführt hatte.238 Luženkovskij war in oppositionellen Kreisen aufgrund seines harten Durchgreifens bei Bauernunruhen im Gouvernement Tambov in den Jahren 1905/06 verhasst. Im Januar 1906 war der Beamte für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der immer noch unruhigen Provinz Borisoglebsk zuständig und in dieser Funktion viel mit der Eisenbahn unterwegs. Anfang Januar 1906 verfolgte Spiridonova ihr reisendes Opfer über mehrere Tage. Um herauszufinden, in welchem Zug sich Luženkovskij fortbewegte, verbrachte sie oft mehrere Stunden an einem Bahnhof und beobachtete die Ankunft und Abfahrt der Züge. Als unauffäl235 Zu diesem Ereignis ausführlich: Sally A. Boniece: The Spiridonova Case, 1906: Terror, Myth, and Martyrdom, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003), S. 571–606. 236 Boniece, Spiridonova Case, S. 605. 237 Petrov, Praktičeskoe rukovodstvo, S. 49. In dieser Definition des „öffentlichen Raums“ folgt Petrov dem Ustav o nakazanijach nalagaemych mirovymi sud’jami, Art. 131. Vgl. Ausgabe von 1885, hg. von N. S. Tagancev, Sankt Peterburg 211913, S. 324–326. 238 Pis’mo M. A. Spiridonovoj, in: Oleg V. Budnickij (Hg.): Istorija terrorizma v Rossii v dokumentach, biografijach, issledovanijach, Rostov 21996, S. 224–228.
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lig gekleidete junge Frau erregte sie bei den Sicherheitskräften der Passagierstationen nicht den geringsten Verdacht. An einem Tag beobachtete Spiridonova an einem Bahnhof, dass sich Kosaken auf die Ankunft eines Zuges vorbereiteten. Dies las sie als Zeichen, Luženkovskij könnte sich unter den Passagieren befinden. Sie löste eine Fahrkarte zweiter Klasse und begab sich in den Waggon, der jenem benachbart war, in dem ihr designiertes Opfer reiste. An der Station von Borisoglebsk wurde Luženkovskij erneut von Kosaken erwartet. Bei der Einfahrt des Zuges verließ Spiridonova ihren Waggon, betrat das benachbarte Gefährt und schoss dem Beamten fünf Mal in den Rücken, als dieser gerade die Stufen zur Plattform hinunter stieg.239 Der Beamte überlebte das Attentat schwer verletzt. Später berichtete die Terroristin voller Stolz, dass Luženkovskij an diesem Tag zum „letzten Mal mit einem Zug gefahren [sei]“.240 Ungeachtet der Tatsache, dass der Beamte in Borisoglebsk von Sicherheitskräften empfangen wurde, konnte er an den Orten des Eisenbahnsystems nicht ausreichend geschützt werden. In seinem Fall erwiesen sich Züge und Bahnhöfe als äußerst tückische, „geschlossene“ Orte des öffentlichen Raums, die einerseits der Attentäterin die nötige „Deckung“ boten und gleichzeitig den Bewegungsspielraum des Opfers und seiner Bewacher empfindlich einschränkten. Spiridonovas Attentat auf den Regionalbeamten Luženkovskij ist vermutlich der bekannteste Mordanschlag dieser Art, jedoch nicht der einzige, dem ein Regierungsvertreter an einem russischen Bahnhof zum Opfer fiel. Am 13. August 1906 erschoss die 27-jährige Sozialrevolutionärin Zinaida V. Konopljannikova auf dem Bahnhof von Peterhof den General und Kommandeur des SemenovskijRegiments Georgij A. Min.241 Konopljannikova hatte in der Nähe der dača des Generals ein Zimmer gemietet, von wo sie den Tagesrhythmus ihres Opfers genau beobachtete. Am Abend des 13. August machten sich Min und seine Frau auf den Weg zum Bahnhof, um dort den Abendzug nach Petersburg zu nehmen. Konopljannikova folgte den beiden, ausgestattet mit einem Fahrplan der Baltischen Eisenbahn, einem Buch und einem Revolver.242 Als sich das Ehepaar Min auf einer Bank auf dem Bahnsteig niederließ, trat die Terroristin von hinten an sie heran und schoss dem General mehrmals in den Rücken. Min, der sich ohne persönlichen Begleitschutz befand, erlag wenig später seinen schweren Verwundungen. Zum Zeitpunkt des Anschlags war der Peterhofer Bahnhof von vielen Menschen bevölkert. Wie Spiridonova sechs Monate früher, hatte auch Konopljannikova an diesem Ort des öffentlichen Raums keinerlei Verdacht auf sich gezogen. Auch in diesem Fall wurde der Bahnhof als ein Ort genutzt, an dem die Attentäterin aus 239 Boniece, Spiridonova Case, S. 586. 240 Rus’, Nr. 27, 12.2.1906, zit. Nach: Boniece, Spiridonova Case, S. 586. 241 Vgl. Amy Knight: Female Terrorists in the Russian Socialist Revolutionary Party, in: Russian Review 38 (1979), S. 139–159, hier S. 145f.; K Delu Z. Konopljannikovoj, in: Byloe (Pariž), Nr. 11–12, Ijul’–avgust 1909, S. 168–172; Delo Zinaidy Konopljannikovoj, in: Byloe (Sankt Peterburg), Nr. 1 (23), Ijul’ 1917, S. 258–275. Für diese Hinweise danke ich Oleg Budnickij. – Zur Reaktion der Kaiserin-Witwe Marija Fedorovna sowie des Zaren Nikolaus II. auf dieses Ereignis: The Letters of Tsar Nicholas and Empress Marie, S. 216f. 242 Delo Zinaidy Konopljannikovoj, S. 265.
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dem Schutz der Menge agieren konnte und an dem ihr Opfer nicht die geringste Chance hatte, dem tödlichen Anschlag zu entkommen.243 Im Mai 1883 feierte die Dynastie der Romanovs mit viel Pomp die Krönung Alexanders III. Unter den hochrangigen Gästen war auch der Botschafter des Deutschen Reiches, General Hans-Lothar von Schweinitz. In seinen Memoiren erinnert sich der Diplomat mit den folgenden Worten an die Feierlichkeiten: „Die Moskauer Feier nimmt Dimensionen an, für welche man die Analogien in den Zeiten der römischen Imperatoren und des Byzantinischen Reiches suchen muss; in der Vergangenheit findet sich nichts Ähnliches, und ihre Zukunft wird uns hoffentlich keine Nachahmung zeigen. Kaiserfeste, wie Friedrich Barbarossa sie in der Rheinebene abhielt, sind herrlich, wenn Ritter den Fürsten umgeben, aber sie sind monströs in der Zeit der Eisenbahnen und Nihilisten.“244
Der deutsche Botschafter nahm erstaunt zur Kenntnis, in welchem Ausmaß am Zarenhof noch mittelalterlich anmutende Herrschaftsrituale gepflegt wurden. Diese standen in seinen Augen in deutlichem Kontrast zum Prozess der gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Modernisierung, den das Land in den 1880er Jahren durchlief. Schweinitz bediente sich in seinen Beobachtungen nicht des Begriffes der „Moderne“ um jene Epoche zu benennen, deren Anbruch er und seine Zeitgenossen am Ende des 19. Jahrhunderts erlebten. Vielmehr verwies er auf zwei Signifikanten, die die neue Ära aus seiner Sicht besonders treffend charakterisierten: Die Eisenbahn und den Nihilismus. Als „Nihilisten“ betrachtete von Schweinitz nicht zuletzt jene Vertreter des militanten politischen Untergrunds, die im März 1881 Alexander II. ermordet hatten und die im heutigen Sprachgebrauch als erste „moderne“ Terroristen angesehen werden.245 Die Eisenbahn und der Terrorismus repräsentierten für den preußischen Diplomaten zwei Seiten der gleichen Medaille, sie standen für jenes Phänomen, das wir heute mitunter als „Ambivalenz der Moderne“ beschreiben.246 243 Noch im gleichen Monat wurde Konopljannikova zum Tode verurteilt und hingerichtet. Sie war die erste Frau, die – seit der Exekution von Sofija Perovskaja – aufgrund eines terroristischen Verbrechens in Russland hingerichtet wurde. Ich danke Sally Boniece für diesen Hinweis. 244 Denkwürdigkeiten des Botschafters Generals von Schweinitz, Bd. 2, S. 230. Zur Bewertung der terroristischen Bewegung der 1870er Jahre und die Ermordung Alexanders II. durch den Botschafter: Jörg Kastl: Am straffen Zügel. Bismarcks Botschafter in Russland, 1871–1892, München 1994, S. 102–105, 113. 245 Zur Bedeutung der Begriffe „Nihilismus“ und „Nihilist“ in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Braunsperger, Sergej Nečaev und Dostoevskijs Dämonen, S. 17–20. 246 Das Bild des 19. Jahrhunders als „Ära des Nihilismus und der Eisenbahn“ findet sich in ähnlicher Form auch in russischen Texten dieser Zeit. So legte beispielsweise Dostoevskij dem betrunkenen Lebedev in seinem Roman Idiot (1868) den bedeutungsvollen Versprecher in den Mund, man lebe im „Zeitalter der Laster und der Eisenbahn (vek porokov i železnych dorog)“ – anstatt im „Zeitalter der Dampfer und der Eisenbahn (vek parochodov i železnych dorog)“. Stephen Baehr zufolge sollte man diese Formulierung jedoch nicht als Bild oppositioneller, sondern sinnverwandter Pole interpretieren. Wie viele andere russische Schriftsteller seiner Zeit habe Dostoevskij die Eisenbahn als Sinnbild und nicht als (positives) Gegenbild des lasterhaften Lebens der Moderne angesehen. Vgl. ders., The Troika and the Train, S. 88.
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5.2.3. Eisenbahnen in der Revolution von 1905/07 Vor der Revolution von 1905/07 waren die Beamten der Eisenbahngendarmerie vor allem damit betraut, auf Bahnhöfen und in Zügen sowie auf dem Landstreifen entlang des Gleiskörpers für Recht und Ordnung zu sorgen.247 Die Verhinderung von Streiks oder die Überwachung der politischen Gesinnung von Eisenbahnern gehörte bis dahin nicht zu ihren Kernaufgaben.248 Dies änderte sich, als die Reichsregierung erstmals mit der Macht der organisierten Eisenbahner des Zarenreiches konfrontiert wurde.249 Die Beteiligung von rund 700.000 Arbeitern und Angestellten der russischen Bahngesellschaften am Generalstreik im Oktober 1905 hatte eine kaum zu überschätzende Bedeutung für den zeitweiligen Erfolg der ersten Revolution im Zarenreich.250 Die Eisenbahner wiesen nicht nur die größte Streikbereitschaft unter allen industriellen Gruppen des Landes auf, sie verfügten auch über die Mittel, den Aufstand in eine nationale Revolution zu transformieren.251 Eine zentrale Rolle spielte dabei der Allrussländische Eisenbahnerverband (Vserossijskij železnodorožnyj sojuz), dessen Führung seit April 1905 auf einen umfassenden Ausstand hinarbeitete.252 Vor allem soziale Missstände und die bisweilen unzumutbaren Arbeitsbedingungen trieben die Eisenbahner auf die Barrikaden. Neben einer Verbesserung ihrer sozialen Situation nahmen sie jedoch auch politische Ziele in ihren Forderungskatalog auf, so zum Beispiel die Einberufung einer konstituierenden Versammlung, die aus allgemei-
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Dass auch der deutsche Botschafters von Schweinitz die Eisenbahn in solch kritischem Licht gesehen hat, ist allerdings unwahrscheinlich. Aufgaben und Zuständigkeitsbereich der Eisenbahngendarmerie wurden im Allgemeinen Gesetz der russländischen Eisenbahnen (Obščij ustav Rossijskich železnych dorog) aus dem Jahr 1885 (Art. 183–187) geregelt. Vgl. dazu: Aleksandr A. Kvačevskij: Obščij ustav rossijskich železnych dorog 12 ijunja 1885 goda, Sankt Peterburg 1886, S. 312–325 und Kap. 5.2.1. Reent, Policija, S. 176. – Einen guten Einblick in das Aufgabenfeld eines Mitarbeiters der Eisenbahngendarmerie sowie in das Spektrum der alltäglichen Vorkommnisse auf Bahnhöfen und in Zügen im Zarenreich bieten die Protokollbücher, in denen Unteroffiziere Woche für Woche sämtliche Ereignisse von Bedeutung einzutragen hatten. Vgl. z.B. für die ŽPU der Nordwest-Bahnen (Abteilung Vil’na, 1909–1914): GARF f. 127, op. 1, ed. chr. 530–687. Erste Überlegungen zum Folgenden habe ich formuliert in: Schenk, Kommunikation und Raum im Jahr 1905, S. 61–67. Roger Pethybridge: The Spread of the Russian Revolution. Essays on 1917, London 1972, S. 17–22; Puškareva, Železnodorožniki Rossii, S. 154; Boris Gusarov, Železnodorožniki Rossii v revoljucii 1905 – 1907 godov, Moskva 1994; Avenir P. Korelin (Hg.): Pervaja revoljucija v Rossii. Vzgljad čerez stoletie, Moskva 2005, S. 302; Dittmar Dahlmann: Die gescheiterte Revolution – Russland 1905 bis 1907, in: Josef Kreiner (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg (1904/05), Göttingen 2005, S. 117–135, hier S. 128f. Henry F. Reichman: Railwaymen and Revolution. Russia 1905, Berkeley 1987, S. 5. Reichman, Railwaymen and Revolution, S. 159–223; Puškareva, Železnodorožniki, S. 109– 142; Teodor Shanin: Russia, 1905–1907. Revolution as a Moment of Truth, Houndmills 1986, S. 40f.; Heinz-Dietrich Löwe: Die Arbeiter und die revolutionäre Bewegung in den Städten, in: Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 3/1, hg. von Gottfried Schramm, Stuttgart 1983, S. 351–364, hier S. 358f.
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nen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgehen sollte.253 Der entscheidende Aufruf zur landesweiten Niederlegung der Arbeit wurde von der Führung des Eisenbahnerverbandes am 5. Oktober erlassen.254 Über den Telegrafen verbreitete sich der Appell schnell im ganzen Land.255 Bereits am 7. Oktober kam der Verkehr auf den ersten Bahnstrecken zum Stillstand.256 Zunächst traten die Telegrafisten der Moskauer Linien in den Ausstand. Am 10. Oktober brach der Verkehr auf allen Strecken von und nach Moskau zusammen. Dem Streik schlossen sich kurz darauf die Beschäftigten der Bahnen im Süden des Landes an.257 Am 12. Oktober solidarisierten sich auch die Petersburger Eisenbahner mit der Protestbewegung.258 Am selben Tag kam der Verkehr zwischen der Hauptstadt und Moskau zum Erliegen, und bald darauf standen die Züge in fast allen Landesteilen still. Der Streik auf der Eisenbahn bildete den Auftakt zu einem landesweiten Generalstreik.259 Am 14. Oktober schlossen in Moskau die Geschäfte. Am gleichen Tag brachen in der Stadt die Wasser- und Stromversorgung zusammen. In St. Petersburg stellten alle höheren Lehranstalten, die Apotheken, Postämter, Geschäfte und sogar die Staatsbank ihre Arbeit ein. In der Hauptstadt verstummten die Telefonleitungen und es erlosch die elektrische Beleuchtung. Durch den Streik der Drucker kam auch die Produktion der Zeitungen zum Erliegen. Am 15. Oktober erschienen von allen Petersburger Blättern nur noch der Regierungsbote (Pravitel’stvennyj vestnik) und die Nachrichten der Petersburger Stadtregierung (Vedomosti Peterburgskogo Gradonačal’stva).260
253 Vgl. Katalog der Forderungen, die dem Vorsitzenden des Ministerkomitees Sergej Vitte im Oktober 1905 von Delegierten des Ersten Allrussländischen Kongresses der Abgesandten der Bediensteten der Eisenbahnen unterbreitet wurden: Vserossijskaja političeskaja stačka v oktjabre 1905 goda, Teil 1, hg. von L. M. Ivanov, Moskva, Leningrad 1955, S. 203–206. 254 Schon früher war es im Jahr 1905 auf einzelnen Bahnlinien zu zeitlich befristeten Streiks gekommen. Vgl. dazu Reichman, Railwaymen, S. 183f.; Robert Thomas Argenbright: The Russian Railroad System and the Founding of the Communist State, 1917–1922, Ph.D. Dissertation, University of California, Berkeley 1990, S. 45f. Zum Eisenbahnerstreik in Taschkent im Frühjahr 1905: Sahadeo, Russian Colonial Society, S. 124–126; zum Streik auf der Vladikavkaz-Bahn im Sommer 1905: Železnodorožnoe delo 24 (1905), Nr. 46–47, S. 527– 529. 255 Korelin, Pervaja revoljucija v Rossii, S. 197; Puškareva, Železnodorožniki, S. 152. 256 In der Forschung ist umstritten, ob der Streik auf den russischen Eisenbahnen im Oktober 1905 als eine gezielte und koordinierte Protestbewegung, oder als das Ergebnis unverbundener Aktionen auf regionaler Ebene zu betrachten sei. Vgl. dazu Reichman, Railwaymen, S. 310. 257 Korelin, Pervaja revoljucija v Rossii, S. 294, 299. 258 Gerald D. Surh: 1905 in St. Petersburg. Labor, Society, and Revolution, Stanford 1989, S. 321; Puškareva, Železnodorožniki, S. 153. 259 Löwe, Die Arbeiter, S. 359. – Die Beteiligung der Eisenbahnarbeiter an der Erhebung von 1905–07 zählte in der sowjetischen Geschichtsschreibung zu den wichtigen identitätsstiftenden Mythen der Erzählung über die erste russische Revolution. Die Grundlagen legte dafür u.a. Iosif V. Stalin in seinem Werk Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) – Kurzer Lehrgang, (Kap. 3, Teil 4) aus dem Jahr 1938 (dt. Stuttgart 1978). 260 Korelin, Pervaja revoljucija v Rossii, S. 298.
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Die Mobilisierung von über 1,6 Millionen Arbeitern und Angestellten sowie die Geschlossenheit der Protestfront gegen die Regierung, der sich auch liberale Kräfte aus den zemstva sowie private Arbeitgeber und städtische Selbstverwaltungen angeschlossen hatten, waren eindrucksvolle Merkmale der Protestbewegung im Oktober 1905. Für kurze Zeit schien es, als habe die Opposition mit dem Generalstreik die Regierung in die Knie gezwungen. Unter dem Eindruck des landesweiten Ausstands unterschrieb Nikolaus II. am 17. Oktober 1905 das sogenannte Oktobermanifest, in dem er seinem Volk Grundrechte, die Einberufung einer Volksvertretung und das allgemeine Wahlrecht versprach.261 Damit besiegelte der Zar das Ende seiner uneingeschränkten Selbstherrschaft und läutete das Zeitalter des (Schein-)Konstitutionalismus in Russland ein.262 Zu dem vorübergehenden Erfolg der Protestbewegung hatten insbesondere die Drucker und die Bahnbediensteten beigetragen, schließlich waren sie sich dessen bewusst, dass sie eine „große Macht“263 in ihren Händen hielten und dass sie durch die Niederlegung ihrer Arbeit die „Nervenstränge einer modernen Gesellschaft“ blockieren konnten.264 Auch die Zarenregierung konnte die Augen vor der Macht der Eisenbahner nicht verschließen. Der Vorsitzende des Ministerkomitees Sergej Vitte, bekanntlich selbst ein ausgewiesener Experte in Eisenbahnfragen, bezeichnete in seinem Bericht an Nikolaus II. vom 12. Oktober den Ausstand der Arbeiter und Angestellten der Eisenbahn als den „furchterregenden Teil [groznaja čast‘] der umfassenden revolutionären Bewegung in Russland.“265 261 Zur Vorgeschichte der Verkündung des Oktobermanifestes vgl. Anan’ič, Ganelin, Sergej Jul’evič Vitte i ego vremja, S. 204–228. Interessante Einblicke in die Bedeutung des Eisenbahnerstreiks für die Entstehung des Oktobermanifestes bieten auch die Tagebücher Nikolaus’ II.: Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 283f. – Seiner Mutter schilderte Nikolaus am 19.10. seine Eindrücke vom Generalstreik und der Beteiligung der Eisenbahner mit den folgenden Worten: „Petersburg and Moscow were entirely cut off from the interior. For exactly a week today the Baltic railway has not been functioning. The only way to get to town [von der Zarenresidenz in Carskoe Selo] is by sea. How convenient at this time of year! From the railways the strike spread to the factories and workshops, and then even to the municipal organisations and services, and lastly to the Railway Department of the Ministry of Ways and Communications. What a shame, just think of it!“ The Letters of Tsar Nicholas and Empress Marie, S. 186. 262 Nikolaus war sich bewusst, dass dieser Schicksalstag erneut auf den 17. Oktober, und damit auf den Jahrestag der Zugkatastrophe von Borki im Jahr 1888 fiel. Vgl. Dnevniki Imperatora Nikolaja II., S. 285. – Die Bezeichnung „Schein-Konstitutionalismus“ für das politische System des Zarenreiches, das sich nach dem „Oktobermanifest“ herausbildete, stammt von Max Weber. Vgl. ders.: Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, in: ders.: Zur russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1905–1912, Studienausgabe der MaxWeber-Gesamtausgabe, Bd. 10, hg. von Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1996, S. 105–328. 263 Flugblatt des Moskauer Komitees des Allrussländischen Eisenbahnerverbands, Anfang Oktober 1905, zit. nach: Vserossijskaja političeskaja stačka v oktjabre 1905 goda, Teil 1, S. 201. 264 Löwe, Die Arbeiter, S. 359. Zur Rolle der Drucker während des Generalstreiks: McReynolds, The News Under Russia's Old Regime, S. 207f. 265 Doklad predsedatelja Komiteta ministrov S. Ju. Vitte Nikolaju II o merach dlja prekraščenija železnodorožnoj zabastovki, vom 12.10.1905, in: Vserossijskaja političeskaja stačka v oktjabre 1905 goda, Teil 1, S. 213, hier S. 213.
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Die Eisenbahnen waren während des Generalstreiks nicht nur ein wirksames Instrument zur Blockade des Güter- und Personenverkehrs, sondern zudem ein wichtiges Kommunikationsmedium des Aufstandes selbst. Über die Leitungen des Telegrafen schickte der Eisenbahnerverband seine Appelle in die Provinzen des Reiches. Während des Streiks waren auf dem Schienennetz Agitatoren der Eisenbahnervereinigung unterwegs, um die Kampfbereitschaft der Kollegen in einzelnen Regionen zu stärken.266 Schließlich verbreiteten sich entlang der Schienenstränge Gerüchte und Informationen wie ein Lauffeuer. Der Stillstand des Bahnverkehrs im Oktober 1905 elektrisierte in vielen Regionen des Landes die ländliche Bevölkerung. Bauern versammelten sich in großer Zahl an Bahnhöfen, hörten dort den kämpferischen Reden der Eisenbahner zu und versorgten sich mit Flugblättern sowie aktuellen Zeitungen.267 So sorgte das Schienennetz für eine Anbindung der ländlichen Peripherie an die revolutionären Entwicklungen in den städtischen Zentren.268 Schließlich war das Schienensystem des Zarenreiches, wie schon bei früheren Aufständen, auch während der Revolution von 1905/07 ein prominentes Angriffsziel militanter Gruppen, deren Aktionen darauf abzielten, die Zarenmacht an deren kommunikationstechnischer Achillesferse zu verletzen. Am 15. Dezember 1905 warnte beispielsweise Nikolaus II. seine Mutter in einem Brief, vor der Fahrt mit der Eisenbahn auf der Strecke von Warschau nach St. Petersburg: „The Warsaw railway is not safe. A few days ago two squadrons of your cuirassiers were on their way to Livland. A few minutes after the train had started it had to stop in a field, because it was discovered that the engine was towing a dynamite charge on a rope underneath the middle of the train. [...] In Kovno and round Wilna things are by no means quiet; and that is just the part of the country you have to come through. It is impossible to travel without a military escort, and this cannot be supplied [...] as there are very few troops available.“269
Wie diese Zeilen verdeutlichen, fand die erste russische Revolution im temporären Erfolg der Verkündung des Oktobermanifestes nicht ihr Ende.270 Auf das Versprechen des Kaisers, dem Volk Grundrechte zu garantieren und eine Volksvertretung wählen zu lassen, folgten die Moskauer Unruhen im Dezember, die Wieder-
266 Vgl. Telegramm des Genossen (tovarišč) des Innenministers D. F. Trepov vom 17.10.1905, zit. nach: Vserossijskaja političeskaja stačka v oktjabre 1905 goda, Teil 1, S. 217. 267 Shanin, Russia, 1905–1907, S. 92. Shanin bezieht sich hier vor allem auf die Arbeit von A. Studencov: Saratovskoe krest’janskoe vosstanie 1905 goda, Penza 1926, S. 3–8. 268 Vgl. dazu auch: Sperling, Aufbruch in die Provinz, S. 387ff. Auch hinsichtlich der Verbreitung der Revolution vom imperialen Zentrum in die Peripherien des Reiches spielte das Eisenbahnnetz eine zentrale Rolle. Zu den revolutionären Ereignissen in Turkestan 1905/06 und zur Bedeutung der Eisenbahn in diesem Zusammenhang: Sahadeo, Russian Colonial Society, S. 130–135. 269 The Letters of Tsar Nicholas and Empress Marie, S. 202f. Auch in Livland und Kurland hatten Aufständische im Dezember Eisenbahnanlagen und Brücken zerstört, um die Mobilität der zarischen Truppen zu behindern. Vgl. ebd. S. 206. 270 Anfang November 1905 funktionierte der Schienenverkehr – mit Ausnahme weniger Linien – wieder fahrplanmäßig. Vgl. Bericht der Upravlenie železnych dorog vom 1.11.1905, zit. nach: Vserossijskaja političeskaja stačka v oktjabre 1905 goda, Teil 1, S. 236f.
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herstellung von „Recht und Ordnung“ Anfang 1906 und die ernüchternden Jahre der ersten konstitutionellen Ära der Geschichte Russlands. Auch bei der Niederschlagung der Revolution durch reaktionäre Kräfte spielte die Eisenbahn eine wichtige Rolle. Diesmal jedoch nicht mehr als Faustpfand in den Händen der Aufständischen, sondern als Machtinstrument der Regierung, die das Verkehrsmittel – wie im Jahr 1863 – zum Transport von loyalen Truppen in die aufständischen Regionen nutzte. Die Bedeutung der Eisenbahn als imperiales Herrschaftsmittel kam besonders wirksam in der östlichen Reichshälfte zum Tragen, wo Ende 1905 die Macht des autokratischen Regimes zum Teil komplett zusammengebrochen war.271 Auch auf den Strecken der Sibirischen Eisenbahn war der Verkehr im Oktober 1905 zum Stillstand gekommen. Am 17. Oktober besetzten aufständische Eisenbahner den Telegrafen in Krasnojarsk. Gut einen Monat später waren alle Kommunikationsmittel östlich der Stadt in den Händen der Streikkomitees. Die Situation in Sibirien unterschied sich dabei in mehrerer Hinsicht von jener im europäischen Russland. Der Bau der Sibirischen Eisenbahn hatte in den 1890er Jahren zu einem massiven Zuzug von bäuerlichen Arbeitern in die östlichen Landesteile geführt, die zu Zigtausenden in den Depots und Werkstätten der einzelnen Bahngesellschaften beschäftigt waren.272 Die hohe Konzentration von Arbeitern an wenigen Orten, die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen in Sibirien, die schwache Präsenz von Ordnungskräften in den Betrieben; all dies schuf einen idealen Nährboden für revolutionäre Kräfte in der Region.273 Hinzu kam, dass im Sommer 1905 nach dem Friedensschluss von Portsmouth ca. eine Million russische Soldaten im Fernen Osten auf die Demobilisierung und ihre Heimkehr in das europäische Russland warteten.274 Die Unzufriedenheit der Arbeiter und die Demoralisierung der Soldaten nach der Niederlage im russischjapanischen Krieg führten Ende 1905 bzw. Anfang 1906 erstmals in der Geschichte Russlands zu Solidarisierungen und Verbrüderungen beider Gruppen, ein Moment, das später in den revolutionären Ereignissen des Jahres 1917 erneut zum Tragen kommen sollte. Zu Hochburgen der Revolution entwickelten sich im Jahre 1905 die sibirischen Städte Čita und Krasnojarsk, wo lokale Sowjets und Streikkomitees Anfang Dezember sogar revolutionäre Republiken ausriefen. Der Gegenschlag der Regierung ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Zwischen dem 23. Dezember 1905 und 3. Januar 1906 stellten zwei regierungstreue Regimenter in Krasnojarsk die alte Ordnung wieder her. Die restlichen Aufständischen fielen den Strafexpeditionen unter den Generälen Baron Aleksandr Meller-Zakomel’skij und Pavel von Rennenkampf zum Opfer. Diese eroberten in der ersten Januarhälf-
271 Henry Reichman: The 1905 Revolution on the Siberian Railroad, in: Russian Review 47 (1988), S. 25–48, hier S. 25. 272 Arbeiterschaft 1905: Strecke Čeljabinsk-Irkutsk: 57.881 Arbeiter; Transbaikal-Linie (Baikalsee-Grenze Mandschurei): 35.667 Arbeiter. Vgl. Reichman, The 1905 Revolution, S. 27. 273 Reichman, The 1905 Revolution, S. 31. 274 John Norton Westwood: Russia Against Japan, 1904–05. A New Look at the Russo-Japanese War, New York 1986, S. 162.
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te ausgehend von Moskau im Westen und Charbin im Osten die Sibirische Bahn zurück und stellten sie unter Kriegsrecht.275 Die Erfahrung des Generalstreiks im Oktober 1905 sowie die Berichte über die brutale Niederschlagung der Protestbewegung durch die Regierung Anfang 1906 trugen zur weiteren Polarisierung der politischen Lager in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei. Als Anfang Oktober die Bediensteten der Eisenbahnen ihre Arbeit niederlegten und sich mit der Protestbewegung in den Hauptstädten solidarisierten, zeigten sich Regierungsvertreter und konservative Journalisten entsetzt. In einem Interview mit der liberalen Zeitung Birževyja vedomosti (Börsennachrichten) hob der Hauptinspekteur der Russländischen Eisenbahnen A. N. Gorčakov am 12. Oktober 1905 hervor, dass die Eisenbahner des Zarenreiches mit ihrem Streik einen Präzedenzfall in der Geschichte geschaffen hätten. Einen Eisenbahnerstreik in diesem Umfang habe es bis dahin noch in keinem anderen Land gegeben. Es sei damit zu rechnen, so Gorčakov weiter, dass das russische Beispiel Schule machen werde und sich die Regierungen Russlands und anderer Staaten nun Gedanken machen müssten, wie man in Zukunft eine Paralysierung eines nationalen Verkehrsnetzes in diesem Umfang verhindern könne.276 Insgesamt reagierte die konservative Presse mit Empörung auf den Ausstand der Eisenbahner. Am 12. Oktober 1905 bemühte zum Beispiel der Journalist M. Men’šikov in der Zeitung Novoe vremja (Die neue Zeit) das altbekannte Bild von Moskau als das „Herz des großen Imperiums (serdce velikoj imperii)“, das durch die „Blockierung seiner Arterien und Nerven“ nun von „Russland“ abgetrennt sei und durch den Streik bedrohliche „Zuckungen (spasmy)“ erleide.277 Moskau, so Men’šikov, befinde sich heute im Belagerungszustand. Allerdings hätten nicht die historischen (Erb-)Feinde, d.h. „Tataren, Polen, Schweden oder Franzosen“ ihre Blockaden um das „alte Herz Russlands“ errichtet, sondern das „orthodoxe Moskauer Volk selbst“. Für die Maßnahmen, die die Eisenbahner ergriffen hatten, um ihren ökonomischen und politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen, hatte Men’šikov nicht das geringste Verständnis. Die Aktivisten der Streikbewegung werden von ihm entweder als „Arbeiterhorden (tolpa rabočich)“ oder als „Räuber (razbojniki)“ diffamiert. Besonders interessant ist dabei, dass er die Bediensteten
275 Die Bahnlinie blieb bis ins Jahr 1908 unter strenger militärischer Kontrolle. Reichman, The 1905 Revolution, S. 46f.; Argenbright, Russian Railroad System, S. 48. Zu den Strafbattalionen und deren „innovativen“ Charakter für eine Gewaltgeschichte der Moderne: Peter Holquist: Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003), H. 3, S. 627–652, hier S. 632. 276 Birževyja vedomosti, Nr. 9071 vom 12.10.1905, zit. nach: Železnodorožnoe delo 24 (1905), Nr. 43–44, S. 491. 277 M. Men’šikov: Spasmy serdca, in: Novoe vremja vom 12.10.1905, S. 3. – Diese Körpermetapher wurde auch in anderen Artikeln über den Generalstreik bemüht. Auch in der Zeitung Slovo (Das Wort) wurde die Wirkung des Ausstands der Eisenbahner mit der „Blockade einer oder mehrerer Arterien in einem lebendigen Organismus“ verglichen. Slovo vom 12.10.1905, zit. nach Železnodorožnoe delo 24 (1905), Nr. 43–44, S. 490. Vgl. auch Ob obščej železnodorožnej zabastovke, in: ebd., S. 485–487, hier S. 485.
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der Eisenbahnen bezichtigte, sich bei ihrem Streik primitiver Kampfmethoden aus vormodernen Zeiten zu bedienen: „Was sind diese stählernen Schienen und Telegrafenleitungen? Es handelt sich hier um [Kommunikationsmittel], die sich durch einfachste, bäuerliche Art zerstören lassen. [...] Faktisch ist der Eisenbahnerstreik, der zu einem Stillstand des Verkehrs im [ganzen] Land geführt hat, in seiner Wirkung das Gleiche, wie [Überfälle von] Wegelagerern, die in der alten Zeit die großen Straßen in ihre Gewalt brachten. [Die Losung] ‚Keine Durchfahrt!’ ist die allerprimitivste Form des Überfalls auf eine Gesellschaft, die Gefangennahme des ganzen Landes, der Entzug der Freiheit von allen. Wie man auch immer diese Gewalttaten nennen möchte, sie sind von ihrer Natur aus eine Revolte, ein Aufruf zum Bürgerkrieg.“278
Es erscheint bezeichnend, dass Regierungsvertreter wie A. Gorčakov erkannten, dass die Eisenbahner des Zarenreiches mit ihrer landesweiten Arbeitsniederlegung ein neues Kapitel in der Geschichte sozialer Protestbewegungen aufgeschlagen hatten und konservative Beobachter wie der Journalist Men’šikov den Aktivisten gleichzeitig vorwarfen, sich „primitiver Mittel“ des politischen Kampfes aus der „alten Zeit“ zu bedienen. Diese Diskrepanz in der offiziellen Deutung der Ereignisse des Oktober 1905 legt offen, dass sich die Reichselite nur schwer mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass sie sich die Macht über das moderne Herrschaftsinstrument der Eisenbahn in Zukunft evtl. mit „Arbeiterhorden“ aus dem „orthodoxen russischen Volk“ teilen muss. Als Ende November der fahrplanmäßige Verkehr auf dem Schienennetz des Zarenreiches wieder weitgehend hergestellt war, gab man sich in der regierungsnahen Fachzeitschrift Das Eisenbahnwesen (Železnodorožnoe delo) noch hoffnungsvoll, dass man nun „die Bedeutung von Eisenbahnerstreiks erkannt“ habe und hoffe, dass sich Ähnliches in der Zukunft nicht noch einmal wiederholen möge.279 Der Appell an die „Herren Bediensteten der Eisenbahnen“, sie mögen sich doch nun wieder „beherzt jenen Aufgaben widmen, auf die sie vereidigt worden waren“ und der „geliebten und ermatteten Heimat dienen“280, wirkte dabei selbst wie eine Stimme aus der beschworenen (guten) „alten Zeit“. Es darf bezweifelt werden, dass Aufrufe dieser Art bei den Aktivisten des Generalstreiks von 1905 zu einer Stärkung patriotischer Gefühle beitragen konnten. Tatsächlich wurden die widerständigen Eisenbahner weniger durch milde Worte, sondern durch staatliche Gewalt und eine massive Verschärfung der entsprechenden Gesetzgebung zur Raison gebracht. Nachdem die Regierung mit der Verkündung des Oktobermanifests die innenpolitische Lage zeitweilig entspannen konnte, startete sie Ende des Jahres eine militärische Offensive, um die Macht in den aufständischen Provinzen des Reiches zurückzuerobern. Während die Öffentlichkeit des Landes im Oktober 1905 in den Zeitungen ausgiebig über das „Chaos (bezprojadki)“ auf den Eisenbahnen informiert worden war, erfuhr sie in der Presse wenig über das harte Durchgreifen der Strafbataillone, die Anfang 1906 auf der Sibirischen Eisenbahn von Westen und Osten in die asiatischen Reichsgebiete 278 Men’šikov, Spasmy serdca. (Hervorhebungen F.B.S.) 279 Ob obščej železnodorožnoj zabastovke, S. 486. 280 Ob obščej železnodorožnoj zabastovke, S. 487.
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vordrangen und die Macht des Gesetzes in den aufständischen Provinzen wieder etablierten. Die Kunde über die Brutalität der Kosakenverbände in den sibirischen Provinzen verbreitete sich jedoch über die inoffizielle Presse bis nach St. Petersburg. In diesen Darstellungen spielte das Motiv der Eisenbahn erneut eine symbolträchtige Rolle, was sich exemplarisch an zwei Zeichnungen aus dem Jahr 1906 zeigen lässt. Sowohl die Zeitschrift Ovod (Bremse) aus Krasnojarsk als auch das Blatt Lešij (Waldgeist) aus St. Petersburg veröffentlichten in diesem Jahr Illustrationen, die Gleisanlagen der Sibirischen Bahn als Straßen des Todes zeigen (Abb. 18 u. 19).281 Auf der Grafik Sibirskij motiv (Motiv aus Sibrien), die in der Zeitschrift Ovod erschien, sieht man einen Mann, der an einen Masten des Eisenbahntelegrafen gefesselt ist und auf dessen Tod drei Krähen auf dem Bahndamm warten. Auch auf der Radierung Alptraum (Košmar) von Petr S. Dobrynin, die sich in der ersten Ausgabe des Petersburger Blattes Lešij aus dem gleichen Jahr fand, sind Telegrafenmasten an einem Bahndamm zu sehen, an denen fünf tote Männer hängen. Allem Anschein nach handelt es sich um Mitglieder der sibirischen Arbeiterrevolte, die Kosaken zur Strafe bzw. Abschreckung entlang der Bahnlinie gehängt hatten. Auch wenn die Verbreitung von Bildern dieser Art nur schwer rekonstruiert werden kann, so lässt sich an diesen Zeichnungen doch ablesen, dass sich die kritische Öffentlichkeit bewusst war, wie labil jene Macht der Eisenbahner war, die sie in den ersten Monaten der Revolution von 1905/07 erobert hatten. Wirkten die ehernen Stränge der Eisenbahnen im Oktober 1905 noch als „mächtige Waffen“ in den Händen der streikenden Arbeiter, zeigten sie auf diesen Bildern wieder ihr Gesicht als Schienen der autokratischen Macht. Aus der Sicht der Regierung sollte sich ein Streik im Verkehrswesen, wie ihn das Land im Oktober 1905 erlebt hatte, nicht noch einmal wiederholen. Am 29. November wurden die Generalgouverneure, Gouverneure und Stadtoberhäupter per Ukaz dazu ermächtigt, im Fall eines (regionalen) Streiks im Post-, Telegrafie- oder Eisenbahnwesen ohne Rücksprache mit der Reichsregierung in ihrer Provinz den Ausnahmezustand (položenie usilennoj ili črezvyčajnoj ochrany) zu verhängen.282 Am 2. Dezember verbot Nikolaus II. nochmals ausdrücklich Arbeitsniederlegungen auf den Eisenbahnen seines Landes.283 Die Erfahrungen des 281 Unbekannter Künstler: Sibirskij motiv, in: Ovod (Krasnojarsk), Nr. 5, 1906, abgedruckt in: Revoljucija 1905–07 godov i izobrazitel’noe iskusstvo. Serija al’bomov pod obščej naučnoj redakciej V. V. Šleeva, Moskva 1978, Bd. 2: Moskva i Rossijskaja provincija, Abb. 88; Petr Semenovič Dobrynin: Košmar, in: Lešij, Nr. 1, 1906, abgedruckt in: ebd., Bd. 1: Peterburg, Abb. 106. 282 Imennoj vysočajšij ukaz Pravitel’stvujuščemu senatu, 29.11.1905, in: Zakonodatel’nye akty perechodnogo vremeni. 1904–1908. Sbornik zakonov, manifestov, ukazov pravitel’stvujuščemu senatu, reskriptov i položenij komiteta ministrov, otnosjaščichsja k preobrazovaniju gosudarstvennogo stroja Rossii, hg. von N. I. Lazarevskij, Moskva 2010, S. 176f. 283 Reent, Policija, S. 180. Wortlaut des Erlasses vom 2.12.1905 in: Zakonodatel’nye akty perechodnogo vremeni, S. 178–183. Dieses Verbot fand Eingang in die Pravila črezvyčajnoj ochrany na železnych dorogach (Regeln für die außerordentliche Bewachung auf den Eisenbahnen) vom 14.12.1905, abgedruckt in: ebd., S. 186–191. – De facto waren Streiks auf den
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Jahres 1905 führten auch dazu, dass die Reichsregierung nun verstärkt die Eisenbahngendarmerie für die Überwachung der politischen Gesinnung der Bahnbediensteten einsetzte. Während die Sicherheitskräfte des Schienensystems noch um die Jahrhundertwende bei Verdacht die Kollegen der Gouvernement-Gendarmerie (Gubernskie žandarmskie upravlenija) alarmieren mussten284, wurde ihr Aufgaben- und Verantwortungsbereich Ende 1905 deutlich ausgeweitet. In einem Rundschreiben des Gendarmeriekorps vom 8. November 1905 hieß es, dass der Eisenbahnpolizei in Zukunft eine Schlüsselrolle bei der Unterbindung von Streiks im Schienenverkehr zukomme.285 Damit sich ein Ausstand auf dem russischen Schienennetz nicht noch einmal wiederhole, sollten sich die Sicherheitskräfte stets über die Stimmung unter den Arbeitern und Angestellten der Bahnen informieren und verhindern, dass „Agitatoren (agitatory)“ Kollegen gegen den Arbeitgeber oder die Staatsmacht aufwiegeln. Im Falle eines Streiks gelte es, zusammen mit den Kollegen der allgemeinen Gendarmerie eine Beschädigung von Bahnanlagen durch protestierende Arbeiter zu unterbinden.286 Im Sommer 1906 erhielten schließlich die Eisenbahngendarmerien den Auftrag, auch eigenständig, d.h. ohne Einbeziehung der Kollegen der Gouvernementpolizei, Berichte über politisch verdächtige Personen in ihrem Zuständigkeitsbereich zu verfassen und diese ggf. festzunehmen.287 In der Folge entwickelte sich die Fahndung nach politischen Straftätern (političeskij rozysk) zu einer der wichtigsten Aufgaben der Eisenbahnpolizei.288 Um diesen Auftrag besser erfüllen zu können, erhielt sie im August 1906 auch die Erlaubnis, verdeckte Überwachungsstrukturen aufzubauen und dafür „geheime Mitarbeiter (sekretnye sotrudniki)“ in die Mannschaften der Bahnbeschäftigten einzuschleusen. Als Begründung für diese Maßnahme führte das Polizeidepartement an, dass die „bewegten Ereignisse der letzten Zeit“ einen „besonders harten Kampf“ gegen revolutionäre Propaganda unter Eisenbahnern und Bewohnern entlang der Bahnanlagen des Zarenreiches erforderten.289 Als Leonid Timofeev 1908 sein über 1.200 Seiten umfassendes Handbuch für Offiziere der Eisenbahngendarmerie veröffentlichte, zählte der Kampf gegen politisch motivierte Streiks auf dem Verkehrssystem bereits zu den Kernaufgaben der
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Eisenbahnen in Russland schon vor der Verabschiedung dieser Regelungen verboten. Ein Zirkular des MVD vom 28.3.1905 wies bereits darauf hin, dass Rädelsführern eines Eisenbahnerstreiks eine Gefängnisstrafe von vier bis acht Monaten drohe. Vgl. Reent, Policija, S. 180. Verordnung des MVD vom 26.1.1881, bestätigt durch ein Zirkular des Otdel’nyj korpus žandarmov, Nr. 569 (1904). Vgl. Reent, Policija, S. 178; Fedorov, Spravočnaja knižka, S. 127–130. Cirkuljar MVD Nr. 30, 8.11.1905, in: Timofeev, Obščija objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii (1908), S. 932f. Cirkuljar MVD Nr. 30, 8.11.1905. Prikaz Nr. 145 des OKŽ (1906), vgl. Reent, Policija, S. 179, 184 ; Timofeev, Obščija objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii (1908), S. 941. Vgl. Reent, Policija, S. 179. Anweisung des Polizeidepartements an die Leiter der ŽPU ŽD vom 7.8.1906, zit. nach: Agenturnaja rabota političeskoj policii Rossijskoj imperii. Sbornik dokumentov, 1880–1917, hg. von E. I. Ščerbakova, Moskva, Sankt Peterburg 2006, S. 73f.
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Sicherheitskräfte.290 Dem Nachschlagewerk war zu entnehmen, wie sich ein Mitarbeiter der Gendarmerie im Falle einer Arbeitsniederlegung zu verhalten habe. Resultiere der Arbeitskampf lediglich aus einem Konflikt zwischen den Bediensteten und einem örtlichen Arbeitgeber, so sollten die Beamten versuchen, schlichtend in den Streit einzugreifen. Handele es sich jedoch um einen „allgemeinen Streik“, so gelte es, „entschieden und schnell“ zu handeln, d.h. die Anführer der Revolte zu verhaften, Streikbrecher zu schützen und vor allem zu verhindern, dass die Aufständischen die Infrastruktur des Telegrafen sowie Lokomotiven in ihre Gewalt bekommen.291 Aus Formulierungen dieser Art sprechen sowohl die Erkenntnis als auch die Angst der Behörden, dass sich innenpolitische Konflikte in der Zukunft in verstärktem Maße auf den modernen Infrastrukturnetzen des Landes entscheiden würden. Die Ereignisse des Oktoberumsturzes der Bol’ševiki im Jahr 1917, in denen die Kämpfe um das zentrale Telegrafenamt in Petrograd sowie um die Bahnhöfe und Eisenbahnstrecken in die Hauptstadt eine Schlüsselrolle spielten, sollten bald zeigen, dass Befürchtungen dieser Art alles andere als unbegründet waren.292 5.3. KRIMINALITÄT UND GEWALT „Recht und Ordnung“ wurden auf den Eisenbahnen des Zarenreiches nicht nur durch nationale Rebellen, terroristische Attentate oder streikende Arbeiter in Frage gestellt. An russischen Bahnhöfen und in Eisenbahnwaggons kreuzten sich die Wege von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Diese hoch frequentierten und von der Polizei nur schwer zu kontrollierenden Orte des öffentlichen Raums boten auch in Russland Dieben, Betrügern und anderen Kleinkriminellen ein geradezu ideales Betätigungsfeld. Obwohl sich die Berichte der russischen Eisenbahngendarmerien nicht umfassend in Archiven überliefert haben, deuten schon die verbliebenen Akten darauf hin, dass sich Bahnhöfe und Züge im Zarenreich, wie in anderen europäischen Ländern, schnell zu Orten mit einer erhöhten Kriminalitätsrate entwickelten.293 Allem Anschein nach wurden jedoch Fälle schwerer Kriminalität, wie z.B. Raubüberfälle oder Morde, erst gegen Ende des 19. Jahrhundert zu einem ernsten Problem auf den russischen Eisenbahnen. Als im Jahr 1895 ein Unbekannter in einem Waggon zweiter Klasse einen Fahrgast 290 Timofeev, Obščija objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii (1908), S. 931–945. Vgl. auch: ders.: Objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii po žandarmskopolicejskoj časti (21912), S. 595–623. 291 Timofeev, Obščija objazannosti žandarmskoj železnodorožnoj policii (1908), S. 942f. Diese Anweisungen basierten a) auf dem ukaz des Senats vom 29.11.1905 (Cirkuljar des OKŽ Nr. 168 aus dem Jahr 1905) und b) auf Art. 12 der Položenie o merach k ochraneniju gosudarstvennogo porjadka (= Ausnahmegesetze von 1881). 292 Zum Kampf um die Bahnhöfe Petrograds im Jahr 1917: Schenk, Bahnhöfe, S. 155f. 293 Zur Kriminalität auf der Eisenbahn in anderen Ländern: Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 76; Beaumont, Railway Mania, S. 132ff.; Ian Carter: Railways and Culture in Britain. The Epitome of Modernity, Manchester 2001, S. 202–239.
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betäubte und ausraubte, wurde gleich das Verkehrsministerium in St. Petersburg aktiv und sandte Rundschreiben an alle Eisenbahngesellschaften. In diesem wurde darauf hingewiesen, dass die Schaffner der Sicherheit der Passagiere größere Aufmerksamkeit schenken sollten.294 Abgesehen von diesem Schreiben wurden jedoch offenbar keine weiteren Schritte unternommen, die Sicherheit der Passagiere auf ihren zum Teil langen Fahrten im Russländischen Reich zu verbessern. So blieb das Reisen auf den Bahnen im Zarenreich, insbesondere bei Nacht und in Waggons der ersten Klasse, ein relativ gefährliches Unterfangen. Im Sommer 1900 versetzte der Serienmörder P. Malyšev, der sich auf Raub und Mord von Frauen in Abteilen der ersten Klasse spezialisiert hatte, die russische Öffentlichkeit in Angst und Schrecken. Der Übeltäter stammte aus der Familie eines Auftragnehmers der Eisenbahn (železnodorožnyj podrjadčik) und hatte sich des nachts mit Hilfe eines speziellen Schlüssels Zugang zu verriegelten Abteilen in Zügen der Süd-West-Bahn bzw. der Moskau-Nižnij Novgorod-Bahn verschafft. Er drang in die Abteile alleinreisender Damen ein, betäubte diese mit einer chemischen Substanz und raubte sie anschließend aus. In zwei Fällen fand man die weiblichen Passagiere am kommenden Tag tot in ihren Coupés auf. Malyšev wurde im Juni 1901 von der Polizei gefasst, in Odessa vor Gericht gestellt und dort zum Entzug sämtlicher Personenrechte sowie zu lebenslänglicher Strafarbeit verurteilt. – Die erste Reaktion des Verkehrsministeriums auf die Nachricht vom Furcht einflößenden Eisenbahnräuber illustriert die Ratlosigkeit der Petersburger Beamten, wie dieser neuartigen Gefährdung auf den Eisenbahnen zu begegnen sei. In einem Memorandum vom 11. Dezember 1900 rief die Zentrale Eisenbahnverwaltung im Verkehrsministerium die Bahngesellschaften des Landes auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit ihrer Passagiere zu erhöhen. Die Behörde empfahl erstens, vor der Abfahrt eines Zuges zu kontrollieren, ob sich eine verdächtige Person im Waggon oder auf dem Dach des Zuges verstecke. Zweitens wurde vorgeschlagen, bei nächtlichen Zwischenhalten des Zuges Schaffner mit der Bewachung der Türen an beiden Seiten der Waggons zu beauftragen. Drittens sollten die Bahngesellschaften, die Anzahl der Kondukteure in den Zügen erhöhen und dafür sorgen, dass ein Zugbegleiter nicht mehr als zwei Waggons unter seiner Aufsicht habe. Schließlich wurde der Rat erteilt, alle Abteile (der oberen Klassen) mit Alarmknöpfen auszustatten, damit Passagiere bei Gefahr Hilfe rufen können. All diese Maßnahmen waren jedoch nur als Empfehlungen formuliert. Jede Bahngesellschaft sollte individuell prüfen, welches Instrument ihr für die Verbesserung der Sicherheit ihrer Fahrgäste sinnvoll und umsetzbar erschien.295 Es darf bezweifelt werden, dass sich dadurch an der Sicherheit in
294 Sistematičeskij sbornik uzakonenij i obščich rasporjaženij, Bd. 1 (1900), S. 690. 295 O merach k obezpečeniju bezopasnosti passažirov i ich imuščestva v poezdach. Cirkuljar upravlenij železnych dorog (po ekspl. otd.) Nr. 56825, 11.12.1900, in: Sistematičeskij sbornik uzakonenij i obščich rasporjaženij, otnosjaščichsja do postrojki i ėkspluatacii železnych dorog kaznoju i posledovavšich v period vremeni, Bd. 3: s 1 ijulja 1899 g. po 31 dekabrja 1902 g. vključitel’no, Sankt Peterburg 1904, S. 870f. Vgl. dazu auch: Železnodorožnoe delo 20 (1901), Nr. 9, S. 84 und Revel’skie izvestija, Nr. 172, 1.8.1901, S. 3. – In den Kostromskie
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russischen Zügen zu Beginn des 20. Jahrhunderts substantiell etwas zum Besseren änderte. Die Frage der Sicherheit der Fahrgäste auf den Eisenbahnen beschäftigte um die Jahrhundertwende die russische Öffentlichkeit in zunehmendem Maße. Am „Fall Malyšev“ entzündete sich 1900–1901 in russischen Zeitungen und Zeitschriften eine intensive Debatte darüber, wie man Passagieren in Zügen besser vor Gewalttaten schützen könnte.296 Die Boulevardpresse zeichnete dabei sensationslüstern ein Bild von Malyšev als das eines „tierähnlichen Ungeheuers (čelovekzver’)“, das in den prunkvollen Karossen der russischen Eisenbahn sein Unwesen trieb.297 Voller Empörung stellte beispielsweise ein Journalist der konservativen Zeitung Novoe vremja (Die neue Zeit) fest, dass Passagiere der ersten Klasse in Russland zwar in großem Luxus reisen würden, sie dabei jedoch völlig ungeschützt vor Gewaltverbrechen seien.298 Im Fachblatt Das Eisenbahnwesen (Železnodorožnoe delo) wurde die Situation von Fahrgästen der oberen Klassen sogar mit der eines Menschen in einer „völlig verlassenen Gegend (soveršenno pustynnoj mestnosti)“ verglichen.299 Es gleiche einem Wunder, so der Eisenbahnexperte in seinem Text aus dem Jahr 1901, dass in russischen Fernzügen nicht häufiger schwere Straftaten verübt würden, schließlich böten sich die nur schwach besetzten Waggons der oberen Klassen für Überfälle geradezu an. Übelgesinnte Personen könnten sich durch den Kauf einer Fahrkarte (zweiter Klasse) leicht Zugang zu einem Zug verschaffen, der auch Waggons der ersten Klasse führt. Im Schutz der Dunkelheit könne sich ein Räuber auf die Suche nach einem Coupé mit einem alleinreisenden Passagier machen und in dessen Abteil eindringen. Bei den lauten Fahrgeräuschen eines Zuges sei nicht zu befürchten, dass ein Schaffner, selbst wenn er sich im benachbarten Abteil befindet, Hilferufe eines Überfallopfers hört. Nach der Tat könne ein Räuber relativ leicht seine Spuren verwischen und am nächsten Bahnhof den Zug unbemerkt verlassen. Da in Zügen relativ leicht „große Beute“ zu machen sei, stehe zu befürchten, dass sich Straftaten wie jene Malyševs in Zukunft in Russland noch häufen werden.300 Intensiv wurde in der Presse auch darüber diskutiert, wer die Verantwortung für die problematische Sicherheitslage auf den russischen Eisenbahnen trage und was getan werden könne, um die Passagiere in Zukunft besser vor Gewalttaten zu
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vedomosti, Nr. 56 vom 25.7.1901 wurde auf die Nutzlosigkeit der Verordnung vom 11.12.1900 hingewiesen. Vgl. Železnodorožnoe delo 20 (1901), S. 422. Novoe vremja, Nr. 8728, 16.6.1900, Nr. 9068, 4.6.1901, S. 3; Nr. 9072, 8.6.1901, S. 4; Nr. 9083, 19.6.1901, S. 4; Nr. 9125, 31.7.1901, S. 4; Novosti, Nr. 174, 25.6.1900; Peterburgskij listok, Nr. 146, 31.5.1901, S. 2; Moskovskie vedomosti, Nr. 179, 2.7.1901, S. 4; Revel’skie izvestija, Nr. 172, 1.8.1901, S. 3; Pridneprovskij kraj, Nr. 1229, 25.6.1901, S. 3; Saratovskij listok, Nr. 134, 24.6.1901, S. 3; Vitebskija gubernskija vedomosti, Nr. 147, 29.6.1901, S. 4. Vgl. ergänzend: A. Č.: K voprosu o bezopasnosti putešestvij po železnym dorogam, in: Železnodorožnoe delo 20 (1901), Nr. 33, S. 373f., Nr. 35, S. 421–425. Peterburgskij listok, Nr. 146, 31.5.1901, S. 2. Novoe vremja, Nr. 9072, 8.6.1901, S. 4. Železnodorožnoe delo 20 (1901), Nr. 33, S. 373. Železnodorožnoe delo 20 (1901), Nr. 33, S. 373f.
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schützen. Eine der ersten längeren Abhandlungen zu diesem Thema stammt aus der Feder von Otto Fomič Glinka, der seine Gedanken 1901 in der Zeitschrift Inžener veröffentlichte.301 Glinka, offenbar selbst Eisenbahningenieur, wies in seinem Artikel darauf hin, dass man die Bediensteten der Bahngesellschaften nicht für die Verbrechen der vergangenen Monate verantwortlich machen könne. Unter Hinweis auf das Allgemeine Gesetz der russländischen Eisenbahnen (Obščij ustav rossijskich železnych dorog) führte er aus, dass der Schutz der Sicherheit der Fahrgäste allein die Aufgabe der staatlichen Eisenbahngendarmerie sei.302 Er erinnerte seine Leser an die Diskussion in Regierungskreisen Anfang der 1880er Jahre über die Frage, ob man das Begleitpersonal der Züge nicht mit begrenzten Polizeivollmachten ausstatten sollte. Diesen Vorschlag hatte der damalige Innenminister Graf Dmitrij A. Tolstoj vehement zurückgewiesen.303 Für Glinka war es keine Frage, wer die Verantwortung für die Gewaltverbrechen auf den russischen Eisenbahnen trage: „Ist es nicht merkwürdig [so der Autor], dass jede Form der Versammlung am Tage in Städten, Kirchen oder auf Messen die Anwesenheit von Polizeikräften erfordere, um über die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Menschen zu wachen. Ähnliche Ansammlungen von Menschen auf der Eisenbahn, die manchmal die Zahl von 1.000 Passagieren in einem Zug übersteigt, bleiben dagegen ohne jede Form von [staatlichem] Schutz.“304
Genauso wie Besitzer von Hotels oder Mietshäusern keine Verantwortung für Leben und Gesundheit ihrer Gäste trügen, wären auch die Eisenbahngesellschaften nicht für den Schutz ihrer Fahrgäste zuständig. Dies sei einzig und allein die Aufgabe des Staates, d.h. der Eisenbahngendarmerie.305 Da die Mannschaften der Eisenbahnpolizei jedoch augenscheinlich damit überfordert waren, mit den immer größer werdenden Gefährdungen von Recht und Ordnung in ihrem Tätigkeitsbereich fertig zu werden, wurden die Passagiere vielfach selbst aktiv, um für die eigene Sicherheit in Zügen und Bahnhöfen zu sorgen. So berichtete zum Beispiel die Zeitung Moskovskie vedomosti im Juli 1901: „Die Raubmorde [der vergangenen Monate] [...] und zahlreiche Fälle von schwerem Diebstahl in Eisenwaggons haben die Passagiere in große Panik versetzt. Mittlerweile errichten Fahrgäste, die alleine in Coupés erster Klasse reisen, in den Zügen nicht nur Barrikaden aus Regenschirmen, Stöcken und Gepäckriemen, sondern binden sich immer häufiger mit Seilen
301 Otton Fomič Glinka: K voprosu ob ochrane bezopasnosti passažirov v poezdach, Kiev 1900, (urspr. veröff. In: „Inžener“ 1900). Die Zeitschrift Inžener wurde von der Kiever Abteilung der Russischen Technischen Gesellschaft herausgegeben. 302 Glinka, K voprosu, S. 6. 303 Zu dieser Debatte vgl. Kap. 5.2.1. 304 Glinka, K voprosu, S. 16. Die Einrichtung einer bewaffneten Zug-Gendarmerie (poezdnye žandarmy) regte ein Rezensent von Glinkas Schrift in der Zeitung Moskovskie vedomosti an. Vgl. ebd., Nr. 179, 2.7.1901, S. 4. 305 Glinka, K voprosu, S. 10.
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Schienen der Macht an die Türen des Abteils, um aufzuwachen, wenn ein ungebetener Gast versucht, einzutreten.“306
Die Aufgabe, Bahnreisende vor kriminellen Übergriffen wirksam zu schützen, war nicht nur deshalb schwer zu bewerkstelligen, weil der Aktionsradius der Einheiten der Eisenbahngendarmerie zum Teil bis zu 2.000 Werst umfasste. Gleichzeitig wirkten technische Instruktionen und Regeln des Personenverkehrs auf der Eisenbahn hier zum Teil eher kontraproduktiv. Da das Innere von Eisenbahnwaggons sowohl Charakterzüge von Orten des privaten, als auch des öffentlichen Raums trug, wäre es dysfunktional gewesen, Abteile der ersten Klasse mit von innen zu verriegelnden Türen zu versehen. Dies hätte den rechtmäßigen Zugang des Eisenbahnpersonals und den anderer Fahrgäste unterbunden.307 Dieses Beispiel macht deutlich, dass sich das Ziel, auf den Eisenbahnen für die Sicherheit der Fahrgäste zu sorgen, in der Praxis nicht immer leicht realisieren ließ. Das moderne Verkehrsmittel der Eisenbahn hatte nicht nur neue Sicherheitsprobleme geschaffen, sondern zugleich durch seine technisch bedingten Betriebsverordnungen die Grenzen für die Bekämpfung dieser neuen Gefahren eng gesteckt. Das Bild von der wohlgeordneten Eisenbahngesellschaft wurde in Russland auch in zunehmendem Maße von kriminellen Machenschaften der Diensthabenden des Verkehrsmittels selbst erschüttert. Eisenbahnarbeiter und -angestellte galten der Regierung nicht nur deshalb als eine verdächtige Klientel, weil Vertreter dieser Gruppe regierungsfeindliche Aktivitäten unterstützten.308 Eisenbahnarbeiter hatten sich auch in erheblichem Maße an den „Unruhen (bezporjadki)“ und antijüdischen Pogromen im Jahr 1881 im Süden und Südwesten des Reiches beteiligt. Über die Schienen der Eisenbahn konnte sich die Welle der antijüdischen Gewalt in diesem Jahr wie ein Lauffeuer verbreiten.309 Ungeachtet dessen, dass die Regierung später vor allem ukrainische Bauern für den Ausbruch der Gewaltexzesse verantwortlich machte, stammten die meisten Schläger aus der städtischen Bevölkerung bzw. der Arbeiterschaft. Mit Blick auf die traurige Rolle, die Eisenbahnarbeiter bei den Pogromen von 1881 Jahre spielten, kam Michael Aronson zu dem Schluss, dass die Gewalttaten weniger aus jahrhundertealten religiösen oder nationalen Antagonismen, sondern eher aus den gesellschaftlichen Verwerfungen der Modernisierung und Industrialisierung des 19. Jahrhunderts resultierten. Schon die jüdischen Bewohner der Shtetl, die sich in den 1880er Jahren vor dem Ausbruch neuer Pogrome fürchteten, waren sich der Bedeutung des Eisenbahnnetzes 306 Moskovskie vedomosti, Nr. 179, 2.7.1901, S. 4. Ähnliche Strategien beschreibt die Zeitung Novoe vremja, Nr. 9068, 4.6.1901, S. 3. Vgl. auch Železnodorožnoe delo 20 (1901), Nr. 33, S. 373. 307 Vgl. Železnodorožnoe delo 20 (1901), S. 424. 308 Vgl. dazu Kap. 5.2. 309 Michael Aronson: Geographical and Socioeconomic Factors in the 1881 Anti-Jewish Pogroms in Russia, in: The Russian Review 39 (1980), S. 18–31; ders.: Troubled Waters. The Origins of the 1881 Anti-Jewish Pogroms in Russia. Pittsburgh 1990, S. 108–124; Omeljan Pritsak: Pogroms of 1881, in: Harvard Ukrainian Studies 11 (1987), S. 8–41; John D. Klier: What Exactly Was a Shtetl?, in: Gennady Estraikh, Mikhail Krutikov (Hg.): The Shtetl: Image and Reality, Oxford 2000, S. 23–35, hier S. 31f.
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für die Verbreitung ethnischer Gewalt bewusst. So organisierte die Bevölkerung einiger jüdischer Siedlungen in der westlichen Peripherie des Zarenreiches in den Jahren 1881 und 1882 bewaffnete Selbstschutz-Einheiten, die in der Nacht durch die Straßen zogen und potentielle Angreifer an den Bahnhöfen am Aussteigen aus Zügen hinderten.310 Die russische Öffentlichkeit wurde zudem von Berichten über kriminelle Schaffner und andere Bahnbedienstete verängstigt, die in Zügen ihr Unwesen trieben. In der Debatte um den Serienmörder Malyšev, der selbst Sohn eines Auftragnehmers der Eisenbahn und daher mit dem Bau und den technischen Details von Zugwaggons vertraut war, wies ein Journalist darauf hin, dass die Beteiligung von Eisenbahnern an Verbrechen jeder Art legendär sei. Besonders häufig seien Diebstahlsdelikte von Gepäck durch Bahnbedienstete, aber auch ernstere Verbrechen seien keine Seltenheit.311 Als russische Zeitungen in den Jahren 1907–10 immer wieder von gewalttätigen Schaffnern berichteten, die allein reisende Mädchen und Frauen in Zügen vergewaltigt hatten, war der gute Ruf der adrett gekleideten Beamten, die vormals als Agenten des Zivilisationsprojektes der Eisenbahnmoderne gesehen worden waren, definitiv dahin.312 Berichte über gewaltsame Eisenbahner widersprachen deutlich den hoffnungsvollen Visionen, die ihnen von den Fürsprechern des neuen Verkehrsmittels im utopischen Eisenbahndiskurs der frühen Jahre zugeschrieben worden waren.313 5.4. EISENBAHNEN UND MODERNE KRIEGSFÜHRUNG Wie in anderen Ländern wurde die Eisenbahn im Zarenreich von ihren Anhängern bereits früh als ein Verkehrsmittel gepriesen, das den militärischen Interessen des Imperiums gute Dienste leisten werde.314 Schon kurz nach der Eröffnung der Schienenverbindung von Petersburg nach Moskau erließ die Reichsregierung erste Verordnungen, die den Transport von Truppen auf der Bahnlinie regelten.315 Seit 310 Klier, What Exactly Was a Shtetl? S. 31. Über Formen jüdischer Selbstverteidigung in der Stadt Berdičev: Semen M. Dubnow: History of the Jews in Russia and Poland: From the Earliest Times until the Present Day, Bd. 2: From the Death of Alexander I. until the Death of Alexander III. (1825–1894), Philadelphia 1918, S. 256f. – Mit der Rolle der Eisenbahn bei der Ausbreitung der antijüdischen Gewalt im Zarenreich in den 1880er Jahren befasste sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits mit viel schwarzem Humor der jiddisch-sprachige Schriftsteller Šolem Alejchem. Vgl. seine Erzählung Eine Hochzeit ohne Musikanten, in: ders.: Eisenbahngeschichten, Frankfurt/M. 21996, S. 108–115. Vgl. dazu ausführlicher: Schenk, Travel, Railroads, and Identity Formation in the Russian Empire. 311 Novoe vremja, Nr. 9083, 19.6.1901, S. 4. 312 Russkoe slovo, 15.7.1907; Peterburgskaja gazeta kopejka, 8.8.1908; ebd., 1.11.1908; Russkoe slovo, 2.10.1910. Für den Hinweis auf diese Quellen danke ich Alexandra Oberländer. 313 Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.5.1. 314 Z.B. V. Verevkin: O primenenii železnych dorog k perevozke vojsk, in: Russkij invalid, Nr. 171, 2.8.1847, S. 693–694. Zu diesem Thema ausführlich: Kap. 2.1. und 2.4. 315 Vgl. z.B. Položenie o perevozke baškirskich 4-go i 3-go polkov. Vgl. dazu: Kraskovskij (Hg.), Istorija, S. 88f.
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den 1860er Jahren setzten sich die russischen Militärbehörden verstärkt mit der Frage auseinander, wie sich der Bau von Eisenbahnlinien auf Strategien der Kriegsführung in der Zukunft auswirken werde.316 Aufmerksam registrierte man dabei, welche Rolle das Verkehrsmittel in bewaffneten Konflikten im Ausland, so zum Beispiel im amerikanischen Bürgerkrieg, im deutsch-deutschen Krieg von 1866 sowie im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 gespielt hatte.317 Vor allem Preußen-Deutschland, das seinen Sieg gegen Frankreich nicht zuletzt der systematischen Nutzung strategischer Bahnlinien verdankte, avancierte in dieser Hinsicht in Russland zu einem (gefürchteten) Vorbild.318 Seit den 1860er Jahren begann man im Zarenreich mit dem Aufbau militärischer Verbände, die bei Bedarf Eisenbahnanlagen bauen und steuern bzw. feindliche Systeme zerstören konnten.319 In den 1860er und 1870er Jahren gingen wichtige Impulse zur Standardisierung des Eisenbahnsystems vom Kriegsministerium aus.320 Gleichzeitig mischten sich militärische Strategen immer stärker in Debatten über die Entwicklung des imperialen Streckennetzes ein.321 5.4.1. Die Eisenbahn in den Kriegen gegen das Osmanische Reich und Japan Im Krieg gegen das Osmanische Reich in den Jahren 1877/78 erlebte das noch junge Schienennetz des Zarenreiches seine erste militärische Bewährungsprobe.322 Zwar zeigte sich bereits während der Mobilisierungsphase im Winter 1876/77, dass Russland in verkehrstechnischer Hinsicht besser auf den Krieg vorbereitet 316 Vgl. z.B. Buturlin, O voennom značenii železnych dorog (1865); Kvist, Železnyja dorogi v voennom otnošenii (1868); M. Ch.: O perevozke vojsk po železnym dorogam, in: Voennyj sbornik 15 (1872), Nr. 4, S. 339–350; Alfred A. v. Wendrich [fon Vendrich]: Ėksploatacija železnych dorog v voennom otnošenii, Sankt Peterburg 1886; Menning, Bayonets, S. 116– 120. 317 Vgl. z.B. Annenkov, Voennaja služba železnych dorog (1876). 318 Zur Bedeutung ausländischer Vorbilder für den Bau strategischer Bahnlinien und die militärische Nutzung der Eisenbahnen in Russland vgl. Martner, Emploi des chemins de fer pendant la Guerre D’Orient, S. 13; Alfred A. v. Wendrich [fon Vendrich]: Obzor sistem voennoželeznodorožnych organizacij v Germanii, Avstro-Vengrii i Francii, Sankt Peterburg 1887; ders.: Strategičeskoe i političeskoe značenie železnych dorog, in: Železnodorožnoe delo 18 (1899), Nr. 40, S. 404; ders.: Militarizacija putej soobščenija, Sankt Peterburg 1901; Ušakov, Podgotovka voennych soobščenij, S. 15f.; Kipp, Strategic Railroads, S. 92f. sowie Kap. 2.4. 319 Zur Geschichte der Eisenbahntruppen des Zarenreiches vgl. D. P. Ivkov: Istoričeskij očerk sformirovanija i dal’nejšego razvitija železnodorožnych vojsk, in: Inženernyj žurnal, 1912, S. 827–862; G. N. Karaev: Vozniknovenie služby voennych soobščenij na železnych dorogach Rossii (1851–1878 gg.), Moskva 1949; Kraskovskij (Hg.), Istorija, S. 87–90. John Westwood attestiert der Zarenarmee internationalen Pionier-Status beim Aufbau von Eisenbahntruppen. Ders. Railways at War, London 1980, S. 108. 320 Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.1. 321 Zum wachsenden Einfluss des Kriegsministeriums auf die Eisenbahnpolitik Russlands vgl. Heywood, The Most Catastrophic Question und Kap. 2.4. bis 2.7. 322 Vgl. dazu: Martner, Emploi des chemins de fer pendant la Guerre D’Orient; Ušakov, Podgotovka, S. 18f.; Westwood, Railways at War, S. 88f.
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war, als sein Gegner. Tatsächlich funktionierte die erste massenhafte Truppenverlegung per Bahn in der Geschichte des Zarenreiches jedoch alles andere als reibungslos. Sowohl die Leitungen der (mehrheitlich privaten) Eisenbahngesellschaften als auch der Generalstab waren mit der Umsetzung der Mobilisierungspläne oft überfordert, sodass die „Eisenbahnen die ihnen zugedachten Aufgaben nur mit großer Mühe erfüllen konnten“.323 Spätestens seit dem 24. Dezember 1875, als auf der Bahnlinie von Balta nach Odessa im Süden des Landes ein Militärzug an einer ungesicherten Baustelle entgleiste und an die siebzig Soldaten mit in den Tod riss, war den russischen Militärbehörden bewusst, dass auf die Bahnen des Zarenreiches im Kriegsfall nur unzureichend Verlass war. Das Zugunglück von Tiligul’, aufgrund dessen Sergej Vitte als verantwortlicher Betriebsleiter der Odessa-Bahn mehrere Wochen in St. Petersburg in Untersuchungshaft verbringen musste, war ein entscheidender Impuls für die Einrichtung der interministeriellen Kommission zur umfassenden Untersuchung des russländischen Eisenbahnwesens unter der Leitung von Graf Ėduard T. Baranov (Baranov-Kommission).324 Dieses Gremium, das unter anderem ein Allgemeines Gesetz der russländischen Eisenbahnen (Obščij ustav Rossijskich železnych dorog) erarbeiten sollte, musste seine Arbeit jedoch während des Krieges gegen das Osmanische Reich unterbrechen. So kamen seine Vorschläge zur besseren Regulierung des Schienenverkehrs, die sich auch auf den Einsatz des Verkehrsmittels in Kriegszeiten bezogen, erst in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre zum Tragen. Eine noch größere Rolle als während des russisch-osmanischen Krieges sollte das russländische Eisenbahnsystem im militärischen Konflikt mit Japan spielen, der in der Nacht auf den 27. Januar 1904 (9. Februar N.S.) mit dem japanischen Beschuss der russischen Flotte in Port Arthur begann. Auch mit Blick auf den Einsatz der Eisenbahn für die Mobilisierung der Truppen und die strategische Planung in diesem Konflikt, gilt der russisch-japanische Krieg heute als „the first modern, technological conflict, and a precursor of the First World War“.325 Auf russischer Seite spielte vor allem die Sibirische Bahn als Transportader zwischen dem europäischen Russland und dem Kriegsschauplatz in der Mandschurei eine zentrale Rolle.326 Es waren vor allem militärisch-strategische Gründe, die Alexan323 Ušakov, Podgotovka, S. 18. Laut Sergej Vitte, der während des Krieges Betriebsleiter der Odessa-Bahn war, boten die „Bahnen und der gesamte Verkehr“ im Zarenreich zu diesem Zeitpunkt ein Bild „katastrophaler Unordnung (byli v strašnom bezporjadke)“. Vitte, Vospominanija (Ausg. 2003), Bd. 1, Buch 1, S. 99. 324 Zum Zugunglück von Tiligul’ und seine Folgen: Vitte, Vospominanija (Ausg. 2003), Bd. 1, Buch 1, S. 95–99; Harcave, Count Sergei Witte, S. 17f.; Vul’fov, Povsednevnaja žizn’, S. 149; Propper, Was nicht in die Zeitung kam, S. 152. – Ein wichtiger Impuls zur Einrichtung der Baranov-Kommission ging von Kriegsminister Dmitrij A. Miljutin aus, der im April 1876 Alexander II. auf den „kritischen Zustand (krizisnoe sostojanie)“ des russländischen Eisenbahnnetzes hinwies. Zit. nach Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 154. Vgl. auch Eljutin, „Zolotoj vek“ železnodorožnogo stroitel’stva v Rossii, S. 51. Zur Arbeit der BaranovKommission vgl. Solov’eva, Železnodorožnyj transport, S. 153–163 und Kap. 3.2. 325 Patrikeeff, Shukman, Railways and the Russo-Japanese War, Umschlagtext. 326 N. K. Struk: Železnye dorogi vostočnoj Sibiri v Russko-japonskuju vojnu 1904–1905, in: Sibirskij istoričeskij sbornik 1973, vyp. 1, S. 21–41, hier S. 26.
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der III. 1891 dazu bewogen hatten, den Bau der Transkontinentalbahn nach Vladivostok in Auftrag zu geben. Nun musste die Bahnlinie durch Sibirien erstmals ihren militärischen Nutzen unter Beweis stellen. In diesem Kontext sollte nicht vergessen werden, dass sich die russisch-japanischen Beziehungen um die Jahrhundertwende auch wegen des Baus der Sibirischen bzw. der Ostchinesischen Eisenbahn in der Mandschurei (1897–1903) deutlich verschlechtert hatten.327 Das heißt, dass die Bahnlinie an den Pazifik nun gebraucht wurde, um Russlands Herrschaftsansprüche in einer Region zu verteidigen, deren Destabilisierung sich nicht zuletzt auf den Eisenbahn-Imperialismus des Zarenreiches im Fernen Osten zurückführen ließ.328 Der Überfall Japans auf Port Arthur traf das Zarenreich relativ unvorbereitet.329 Zu Beginn des Krieges war der Bau der durchgehenden Schienenverbindung zum Pazifik noch nicht abgeschlossen. Noch fehlte das Teilstück entlang des Südufers des Baikalsees (Cirkum-Baikalbahn), dessen Bau wegen des schwierigen Terrains zunächst verschoben worden war. Zwar existierte eine Schiffsverbindung zwischen dem westlichen und dem östlichen Seeufer, mit deren Hilfe ganze Züge über den Baikalsee transferiert werden konnten. Da im Februar 1904 der See jedoch noch fest zugefroren war, konnten die dampfgetriebenen Eisbrecher noch nicht eingesetzt werden. Als Ausweg aus dieser Zwangslage entwickelte das Verkehrsministerium eine doppelte Strategie. Zum einen wurden die Bauarbeiten auf der Gürtelbahn um den Baikal-See massiv beschleunigt. So konnte das fehlende Teilstück am südlichen Seeufer im September 1904 in Betrieb genommen werden. Zum anderen entschloss man sich unmittelbar nach Kriegsbeginn zum Bau einer temporären Eisenbahn über den zugefrorenen Baikalsee.330 Bereits Ende Februar konnte diese ungewöhnliche Schienenverbindung in Betrieb genommen werden.331 Pro Tag wurden so täglich bis zu 16.000 Personen und 327 David Schimmelpenninck van der Oye: The Immediate Origins of the War, in: John W. Steinberg u.a. (Hg.): The Russo-Japanese War in Global Perspective, Leiden 2005, S. 23– 44 und Kap. 2.7. – Die Überlegungen des folgenden Abschnitts basieren in Teilen auf Überlegungen, die ich bereits an anderer Stelle formuliert habe. Vgl. Schenk, Kommunikation und Raum im Jahr 1905, S. 58–61. 328 Westwood, Railways at War, S. 112 kommt sogar zu dem Schluss: “indeed, the building of the Trans-Siberian Railway to the Pacific may be regarded as the fundamental cause of hostilities.” 329 McReynolds betont, dass „The Russian autocracy, however, not only had been waiting the war but welcomed it.“ Dies., The News Under Russia's Old Regime, S. 185. 330 Westwood, Railways at War, S. 113; Patrikeeff, Shukman, Railways and the Russo-Japanese War, S. 50–58. 331 Vgl. die zeitgenössische Berichterstattung über dieses Bauwerk: Niva, 1904, Nr. 11, 13.3., S. 218; Nr. 12, 20.3., S. 234f.; Illjustrirovannaja chronika vojny „Novago Mira“ i „Živopisnoj Rossii“, 1904, Nr. 5, S. 2; Nr. 7, S. 2; Iskry. Chudožestvenno-literaturnyj i jumorističeskij žurnal s karikaturami, 1904, Nr. 8, S. 62; K voprosu o puti i perevozke po l’du Bajkala, in: Železnodorožnoe delo 23 (1904), Nr. 22–23, S. 239; Put’ i perevozka po ozeru Bajkal. Izvlečenie iz vsepoddannejšago doklada Ministra putej soobščenija ot 26-marta 1904 goda, in: ebd., Nr. 22–23, S. 249–251. Vgl. auch die Presseschau zu diesem Thema in: ebd., S. 252– 254. – Edwin A. Pratt betont, dass diese, auf dem Eis verlegte Militärbahn „holds a unique
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500.000 pud (ca. 8,2 Tonnen) Fracht vom westlichen zum östlichen Seeufer transportiert.332 Als sich Ende März wärmeres Wetter ankündigte, demontierte man die Bahnanlagen wieder, und zwei Tage später bahnten sich die Eisbrecher wieder ihren Weg über den See. Verkehrsminister Michail I. Chilkov, der die Baumaßnahmen vor Ort persönlich leitete, wurde in der konservativen Presse für seine Leistungen als „geradezu Wunder wirkender Fürst“ gepriesen.333 Nicht nur das „Nadelöhr“ des Baikalsees, auch die geringe Transportkapazität der Sibirischen Eisenbahn stellten die russische Kriegsführung vor große logistische Probleme.334 Beim Bau der Bahnlinie hatte die Maxime gegolten: „So schnell und so billig wie möglich!“335 Aus diesem Grund war die Streckenführung in den meisten Abschnitten eingleisig und der Unterbau der Gleise nur als Provisorium angelegt. Zu Beginn des Krieges betrug die Transportkapazität der Sibirischen Bahn (insbes. der Ostchinesischen Eisenbahn) nur vier Zugpaare pro Tag, jene der Süd-Mandschurischen Bahn (von Charbin nach Port Arthur bzw. Dal’nij) sogar nur drei mal zwei Züge pro Tag.336 Um die Transportkapazität der Bahn zu erhöhen, trieb das Verkehrsministerium in den Jahren 1904/05 den Ausbau der gesamten Strecke voran. Dadurch konnte die Leistungsfähigkeit der Strecke erheblich verbessert werden.337 Während des russisch-japanischen Krieges beförderte die Sibirische Eisenbahn letztendlich rund 1,3 Millionen Soldaten und Offiziere in den Fernen Osten.338 Diese große Zahl kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Anstrengungen, die Verkehrswege in den Fernen Osten auszubauen, zu spät kamen. Bereits im November 1904 machte Kriegsminister Aleksej Kuropatkin in einem Bericht an Nikolaus II. die geringe Transportleistung der Sibirischen Bahn für den schleppenden Verlauf der militärischen Aktion verantwortlich.339 Auch nach dem Ende des Krieges versuchte die Militärverwaltung, dem Verkehrsministerium die Schuld für die Niederlage im Fernen Osten in die
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position in the history of warfare.“ Ders.: The Rise of Rail-Power in War and Conquest, 1833–1914, London 1915, S. 267. Marks, Road to Power, S. 203. Vgl. auch: Poulsen, Die Transsibirische Eisenbahn, S. 57; Struk, Železnye dorogi vostočnoj Sibiri, S. 26f. Graždanin Nr. 26, 28.3.1904, zit. nach: Železnodorožnoe delo 23 (1904), Nr. 22–23, S. 254. A. Černjavskij: K voprosu ob usilenii mobilizacionnych sredstv železnych dorog v voennoe vremja, in: Železnodorožnoe delo 24 (1905), Nr. 6–7, S. 67–70. Marks, Road to Power, S. 176. Marks, Road to Power, S. 202; Struk, Železnye dorogi vostočnoj Sibiri, S. 25; Ablova, Rossija i russkie v Man’čžurii, S. 207; Ušakov, Podgotovka, S. 19. Für den Transport eines ArmeeKorps zum asiatischen Kriegsschauplatz waren jedoch 90–92 Züge erforderlich. Vgl. Bruce W. Menning: Neither Mahan nor Moltke: Strategy in the Russo-Japanese War, in: John W. Steinberg u.a. (Hg.): The Russo-Japanese War in Global Perspective, Leiden 2005, S. 128– 156, hier S. 145f. Menning, Neither Mahan nor Moltke, S. 152. Hinzu kamen 244.000 Pferde und 63 Millionen pud (1,15 Milliarden Tonnen) Kriegsgerät Struk, Železnye dorogi vostočnoj Sibiri, S. 31. Marks, Road to Power, S. 204; Lamin, The „Moving Frontier”, S. 116; Struk: Železnye dorogi vostočnoj Sibiri, S. 23; Menning, Neither Mahan nor Moltke, S. 145–146.
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Schuhe zu schieben. Dies kann jedoch auch als Versuch gewertet werden, von den eigenen Versäumnissen und Fehlern während des Krieges abzulenken. Die Sibirische Bahn diente in den Kriegsmonaten als Kommunikationsader, die das europäische Russland mit den Schlachtfeldern in der Mandschurei verband. Die Bahn transportierte Rekruten, Pferde und Kriegsgerät. Daneben brachte sie ausländische Kriegskorrespondenten und andere Zivilisten von West nach Ost. Die Züge der Sibirischen Bahn waren auch wichtige Transmissionsriemen aktueller Informationen von einer Region in die andere. Diese kommunikationsgeschichtliche Bedeutung der Eisenbahn wird z.B. bei der Lektüre des Reiseberichtes von Maurice Baring deutlich, der für die britische Morning Post von den Schauplätzen des russisch-japanischen Krieges berichtete und in diesem Zusammenhang zwei Mal in die Mandschurei reiste. Baring schildert in seinen Reisenotizen, wie sich die Züge der Sibirischen Bahn im Sommer 1905 in politische Debattierclubs verwandelten. Die langen Bahnfahrten animierten Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft zu ausgiebigen politischen Diskussionen. Der Zugbegleiter und der Ingenieur „talked without ceasing of the meetings of the zemstva all over the country; of the discontent of the public servants and of the imminence of a strike.“340 Im Zug wurden Meinungen und Informationen ausgetauscht. Soldaten auf den Bahnhöfen fragten die Reisenden begierig nach aktuellen Zeitungen.341 Ein mitreisender Student aus Odessa berichtete dem britischen Korrespondenten „many interesting things“342, so z.B. über die Meuterei der Schwarzmeerflotte und über die sich abzeichnenden politischen Umwälzungen im Land.343 Entlang der Bahn verbreiteten sich in den Kriegsmonaten nicht nur Informationen und Gerüchte. Das Verkehrsmittel spielte auch eine traurige Rolle bei der Ausbreitung von gewaltsamen Unruhen und Pogromen im Kontext der Mobilisierungen im Herbst 1904.344 Wie bereits im Jahre 1881, als sich eine anti-jüdische Pogromwelle wie ein Lauffeuer entlang der Eisenbahnlinien der Ukraine ausgebreitet hatte,345 waren auch von den Gewalttaten des Jahres 1904 vor allem Orte mit Gleisanschluss in den Provinzen Mogilev und Vitebsk betroffen.346 Anders als im Jahre 1881, als sich vor allem Arbeiter der Eisenbahnen an Hetzjagden auf Juden beteiligten, ging die Gewalt im Jahre 1904 von unzufriedenen Reservisten der russischen Armee aus. Ihr Unmut richtete sich gegen Ungerechtigkeiten und Maurice Baring: A Year in Russia, New York, Westport 1917 (Reprint 1981), S. 5. Baring, A Year in Russia, S. 2–3. Baring, A Year in Russia, S. 5. Baring, A Year in Russia, S. 6. Zu den Pogromen der Jahre 1903–1906 vgl. Shlomo Lambroza: The Pogroms of 1903–1906, in: John D. Klier, Shlomo Lambroza (Hg.): Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 195–247, zu den Pogromen bei der Mobilisierung des russisch-japanischen Krieges vgl. insbes. S. 214–219. Vgl. auch: Heinz-Dietrich Löwe: Der Russisch-Japanische Krieg und die russische Innenpolitik: Vom „kleinen erfolgreichen Krieg“ in die erste Revolution von 1905, in: Maik H. Sprotte (u.a.) (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit?, Wiesbaden 2007, S. 147–171, hier S. 154f. 345 Vgl. dazu ausführlich Kap. 5.3. 346 Bushnell, Specter of Mutinous Reserves, S. 336–340. 340 341 342 343 344
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chaotische Zustände bei Musterung und Mobilisierung, insbesondere jedoch gegen das Verbot der Regierung, Alkohol an die Soldaten zu verkaufen. Jüdische Kaufleute, die die Prohibition ignorierten und Wodka zu überhöhten Preisen an die Rekruten ausschenkten, bekamen daraufhin den Hass und die Unzufriedenheit der Soldaten auf brutale Art und Weise zu spüren. Die Juden waren somit – wie so oft – „a target, not a reason for riot“.347 Entlang der Bahnlinien wiederholten sich immer wieder die gleichen Szenen: Überfälle auf Spirituosen-Geschäfte, Treibjagd auf Juden, Vandalismus gegen Bahnhöfe und andere Anlagen der Eisenbahn. Auch diese dunkle Seite gehört zur Beschreibung der Kommunikationsfunktion der Eisenbahn in den Jahren des Krieges. 5.4.2. Der Bahnhof und der Abschied in den Krieg Bereits in Friedenszeiten war das Kriegsministerium ein wichtiger Kunde der Eisenbahnen des Zarenreiches. Im Jahr 1875 lösten die Militärbehörden ca. 1,7 Millionen Fahrkarten für den Transport von Soldaten innerhalb Russlands.348 1912 registrierten die Statistiker des Verkehrsministeriums bereits 8,6 Mio. Fahrten russischer Rekruten. In Kriegszeiten schnellten diese Zahlen deutlich in die Höhe. 1878, während des russisch-osmanischen Krieges, stellten die Bahnen dem Kriegsministerium 7,5 Mio. Fahrkarten zum Militärtarif in Rechnung. 1905, im zweiten Jahr des russisch-japanischen Krieges, waren es bereits 11,8 Mio.349 Wie die große Zahl bäuerlicher Kolonisten, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in sogenannten tepluški die Reise nach Sibirien antraten, wurden die niederen Dienstränge der Zarenarmee seit den 1860er Jahren auf der Schiene meist in umgerüsteten Güterwaggons befördert (Abb. 20).350 Viele Männer aus den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten kamen auf solchen Transporten das erste Mal in den „Genuss“ einer Fahrt mit der čugunka.351 Eine wachsende Anzahl von Männern, die im Eisenbahnzeitalter in den Krieg geschickt wurden, erlebten den Abschied von Familie und Freunden an den Eisenbahnstationen ihrer Heimat. Bereits während des russisch-osmanischen Krie347 Bushnell, Specter of Mutinous Reserves, S. 339. 348 Statističeskij sbornik MPS, vyp. 15 (1887), Tabl. VI. Für das Jahr 1875 weist das statistische Jahrbuch nur die Summe aller mit der Bahn transportierten Soldaten und Gefangenen aus (1,89 Mio.). Aus der Annahme, dass in diesem Jahr ungefähr die gleiche Anzahl Gefangener mit der Eisenbahn befördert wurde, wie im Jahr 1879 (231.000 Menschen), lässt sich ableiten, dass 1875 ca. 1.66 Mio. Soldaten in Waggons der russischen Bahnen „reisten“. 349 Statističeskij sbornik MPS, vyp. 131, Teilbände 2–3, (1915); vyp. 15 (1887), vyp. 89 (1907). 350 Vgl. Verordnung für den Transport von Truppen (Položenie o perevozke vojsk) vom 16.12.1862, abgedruckt in: Sbornik ministerskich postanovlenij, Bd. 1 (1874), S. 219–278; Kvist, Železnyja dorogi v voennom otnošenii, S. 46–53. – Schilderungen des „Waggonlebens“ in einer tepluška finden sich z.B. (aus der Perspektive eines Offiziers) bei: Koppe, Pis’ma s Dal’nego Vostoka, S. 1832–1834; aus der Sicht eines Unteroffiziers und späteren Duma-Abgeordneten: Grigorij Fedorovič Fedorov: Razskaz deputata Fedorova, Sankt Peterburg 1907, S. 4. 351 Koppe, Pis’ma s Dal’nego Vostoka, S. 1832.
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ges von 1877/78 nutzte die Zarenregierung die Verabschiedung von Rekruten auf Bahnhöfen häufig für patriotische Kundgebungen und die Inszenierung der nationalen Gemeinschaft, die sich aufopferungsvoll einem gemeinsamen Feind entgegenstellt.352 Auch im russisch-japanischen Krieg dienten Wartesäle und Bahnsteige wiederholt als Bühnen für die Inszenierung von Patriotismus, Zarentreue und nationaler Kampfbereitschaft. Schon kurz nach dem japanischen Überfall auf die russische Flotte in Port Arthur berichteten Zeitungen in St. Petersburg und Moskau über die feierliche Verabschiedung von Truppen, die an den Personen- und Güterbahnhöfen der Hauptstädte Züge in den Fernen Osten bestiegen.353 Wie schon während des russisch-osmanischen Krieges, wurden in Wartesälen und auf Bahnsteigen Bankette für Soldaten veranstaltet, patriotische Reden gehalten, Gottesdienste gefeiert und Spendensammlungen durchgeführt. Zivilisten gaben den abfahrenden Rekruten Blumen, Ikonen sowie „Brot und Salz“ mit auf den Weg, Militärorchester intonierten Märsche und die Hymne Bože Carja Chrani (Gott schütze den Kaiser). Leser erfuhren aus der Zeitung von „berührenden Szenen“, als das Signal zur Abfahrt gegeben wurde und ein Militärtransport „leise den Bahnhof verließ, begleitet vom feierlichen Klang der Hymne [...] und den ‚Hurrah!’-Rufen [der Menschen am Bahnhof].“354 In der Berichterstattung über die russische Mobilisierung für den Krieg gegen Japan spielten auch Bildmedien in zunehmendem Maße eine Rolle.355 Insbesondere bei der persönlichen Verabschiedung von Truppeneinheiten an Bahnhöfen durch Zar Nikolaus II. durften Kameras nicht fehlen. Zwischen Mai und Dezember 1904 unternahm der Kaiser mehrere, zum Teil ausgedehnte Fahrten in verschiedene Provinzen des Reiches, aus denen Rekruten auf die Schlachtfelder der Mandschurei entsandt wurden.356 Durch die persönliche Präsenz an den Startpunkten der Militärtransporte versuchte Nikolaus, die patriotische Stimmung unter den Soldaten zu stärken und zur Festigung des Kampfgeistes in der Truppe beizutragen. Die fotografische Dokumentation der Begegnungen des Kaisers mit seinen Soldaten und die Verbreitung dieser Bilder in den Printmedien des Landes zielten darauf ab, in der gesamten Bevölkerung den traditionellen Mythos von der 352 Besonders eindrücklich schildert Lev Tolstoj den Abschied von russischen Kriegsfreiwilligen, die 1877/78 in den Krieg nach Serbien ziehen, im letzten Teil seines Romans Anna Karenina. 353 Vgl. exemplarisch Otpravka vojsk na Dal’nyj vostok, in: Russkij listok (Moskau) Nr. 32, 2.2.1904, S. 3; Otpravka vojsk na Dal’nyj vostok, in: ebd. Nr. 33, 3.2.1904, S. 3; Novoe vremja (St. Petersburg), Nr. 10024, 30.1.1904, S. 4; Nr. 10028, 3.2.1904, S. 3. 354 Russkij listok Nr. 33, 3.2.1904. 355 Zur russischen Presseberichterstattung über den Krieg gegen Japan: Frank Grüner: Der Russisch-Japanische Krieg in der zeitgenössischen Presse Russlands, in: Maik H. Sprotte (u.a.) (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit?, Wiesbaden 2007, S. 173–201; McReynolds, The News Under Russia's Old Regime, S. 185–197. Zur Rolle von Bildern/Fotos in der russischen Presse: ebd., S. 186ff. – Die Analyse der Berichterstattung über den russisch-japanischen Krieg in illustrierten russischen Zeitschriften ist noch ein Desiderat der Forschung. 356 Zu den einzelnen Reisen Nikolaus II. (und des Thronfolgers Aleksej Nikolaevič) im Jahr 1904 vgl. detailliert: Otčet inspekcii imperatorskich poezdov, Bd. 11 (1904), S. 18–88.
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Einheit von „Zar und Volk“ zu stabilisieren.357 Die Bahnsteige der Passagierstationen und die Waggons der russischen Militärzüge boten dabei eine moderne Kulisse für ein bekanntes Schauspiel der Macht (Abb. 21). Die Abschiedsszenen, die sich 1904 an russischen Bahnhöfen anlässlich der Abfahrt von Truppentransporten abspielten, zogen Journalisten und Künstler gleichermaßen in ihren Bann. Bildliche Darstellungen dieser Ereignisse, wie sie sich zum Beispiel in der illustrierten Zeitschrift Niva aus dem Jahr 1904 finden, lassen sich dabei zwei konträren Typen zuordnen. Auf der einen Seite stehen Bilder, wie die Zeichnung Verabschiedung von Absolventen des MarineKadettenkorps am Bahnhof der Nikolaj-Bahn, die am 21. Februar 1904 erschien (Abb. 22). Auf dem Bild sieht man eine Abschiedsszene auf dem Bahnsteig kurz vor der Abfahrt des Zuges in Richtung Moskau. Die Plattform ist bevölkert von jungen Männern in Uniform sowie Zivilisten, deren Kleidung sie als Mitglieder der privilegierten Gesellschaftsschichten ausweist. Abgesehen von einer weinenden Frau in der rechten Bildhälfte wird die Darstellung von fröhlichen Gesichtern sowie winkenden Menschen dominiert. Die Szene erinnert eher an den Aufbruch einer Gruppe junger Männer in ein Ferienlager als an die Entsendung eines Militärtransportes an die Front. Diese Bildquelle aus der Anfangsphase des Krieges vermittelt den Eindruck einer optimistischen, ja euphorischen Stimmung, mit der die russischen Truppen in die Mandschurei verabschiedet wurden. Die Kulisse des Bahnhofgebäudes sowie die von Rauch umwölkten Waggons, vor dem sich die fröhlichen Abschiedszenen abspielen, verstärken den Eindruck der Bewegung, der Lebensfreude und des Aufbruchs, den das Bild insgesamt ausstrahlt.358 Neben diesen Bildern der Kriegsbegeisterung finden sich in der Zeitschrift Niva jedoch schon früh Darstellungen, die den Abschied von Soldaten an den Bahnhöfen des Zarenreiches in einem gänzlich anderen Licht zeigen. Bilder, wie die Zeichnung Abfahrt eines sibirischen Militärtransports in die Mandschurei, die ebenfalls am 21. Februar 1904 abgedruckt wurde, widmeten sich dem Schmerz und der Angst von Frauen, Kindern und alten Menschen, die sich am Bahnhof von einem Sohn, Ehemann, Vater oder Bruder verabschieden mussten (Abb. 23). Die Zeichnung, die nach der Vorlage einer Fotografie aus Omsk entstand, zeigt einen Güterzug der Sibirischen Bahn, in den einfache Rekruten auf offenem Feld verladen werden. Im Vordergrund sieht man einen Soldaten, der ein Gewehr geschul357 Vgl. z.B. Niva, 1904, Nr. 23, 5.6., S. 449; Nr. 43, 23.10., S. 844; Nr. 47, 20.11., S. 933. Iskry. Chudožestvenno-literaturnyj i jumorističeskij žurnal s karikaturami, Nr. 31, 8.8.1904, S. 242; Nr. 39, 3.10.1904; S. 306. Die Reproduktion einer entsprechenden Fotografie (ohne Angabe von Datum und Ort (Poltava?) der Aufnahme) in: Steinberg (Hg.), The Russo-Japanese War in Global Perspective, Bd. 1, Fig. 23. 358 Andere Illustrationen aus der Niva, die sich dem gleichen Bildtypus zuordnen lassen, finden sich in Nr. 9, 28.2., S. 161 und Nr. 13, 27.3., S. 252. – Grüner betont, dass „man sicher nicht von einer Kriegseuphorie unter der [russischen] Bevölkerung sprechen“ [könne. Dennoch] löste der Krieg anfangs in der Presse nicht wenige Sympathie- und Solidaritätsbekundungen aus.“ Ders., Der Russisch-Japanische Krieg, S. 197. Zum Widerstand der Bevölkerung in den westlichen Provinzen des Zarenreiches (insbes. in Polen) gegen die Mobilisierung im Jahr 1904: Löwe, Der Russisch-Japanische Krieg und die russische Innenpolitik, S. 154f.
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tert hat und der sich vor dem Besteigen des Zuges von seiner weinenden Frau und seinem Kind verabschiedet. Das Bild wird dominiert von einfach gekleideten Menschen mit traurigen, erstarrten Gesichtern. Von der Fröhlichkeit, die das oben analysierte Bild vom Abschied der Marine-Kadetten auszeichnet, findet sich hier keine Spur. Die Eisenbahn wirkt auf dieser Zeichnung nicht als ein Symbol des Aufbruchs, sondern wie ein Unheil bringendes Vehikel, das seine Insassen einem ungewissen, düsteren Schicksal entgegenführt. Darstellungen dieser Art waren im russischen kulturellen Bildgedächtnis nichts Neues. Die bekannteste Darstellung einer ähnlichen Abschiedszene auf einem russischen Bahnhof ist vermutlich das Gemälde Auf in den Krieg (Na vojnu) von Konstantin A. Savickij (1844–1905), das dieser 1888 in Erinnerung an die Mobilisierung der Zarenarmee für den russisch-osmanischen Krieg malte (Abb. 24) und das heute im Russischen Museum in St. Petersburg hängt. Auch in diesem Bild wird der Betrachter Zeuge des Schmerzes und der Verzweiflung von Menschen, die sich auf einem Bahnsteig vor der Abfahrt eines Militärtransportes voneinander trennen müssen. Auch hier steht das Leid der einfachen bäuerlichen Bevölkerung im Zentrum, die Savickij mit deutlicher Empathie in folkloristischem Kolorit zeigt.359 Den Gegenpol des „Volkes“ bildet dabei die Staatsmacht, deren Vertreter europäische Uniformen tragen und die Verladung der Rekruten in den Zug überwachen. Die Eisenbahn wird auf diesem Gemälde als ein unbarmherziges Machtinstrument der Regierung vorgestellt. Die schwarze, blankgeputzte Lokomotive mit ihrem gewaltigen Schornstein, dessen Spitze den linken oberen Bildrand durchbricht, wirkt dabei wie ein unheilvoller Magnet, der bäuerliche Paare und Familien auseinanderreißt. Bei der Lektüre der Erinnerungen von Veteranen des russisch-japanischen Krieges, die nach 1905 in Zeiten gelockerter Zensur im Zarenreich in großer Zahl erschienen, trifft man häufig auf Schilderungen, die an das Bild Savickijs bzw. an die oben analysierte Bahnhofsszene in Omsk 1904 erinnern. In seinen Memoiren, die zufällig den gleichen Titel Auf in den Krieg (Na vojnu) tragen, wie das Gemälde Savickijs aus den 1880er Jahren, berichtet beispielsweise ein Reservist, der seinen Namen nicht preisgibt, über seinen Abschied an die Front im Frühjahr 1904: „Als der Zug bereitgestellt wurde und die Soldaten begannen, ihre Plätze in den Waggons einzunehmen, verloren die Menschen in der Menge die Fassung und begannen ohne Unterlass zu schluchzen. Es weinten auch Zivilisten, die gekommen waren, um Zeugen dieses interessanten Schauspiels menschlichen Leids zu werden und die angesichts dieser zum Tod und zu langer Pein verdammten und gequälten Menschen Gott weiß wie viele Tränen vergossen. Die 359 Konstantin Savickij gehörte in den 1870er Jahren der Malervereinigung der peredvižniki (Wanderer) an, die mit ihren Bildern auf der Suche nach einem „russischen Stil“ waren und die mit Wanderaustellungen versuchten, in der russischen Provinz das öffentliche Bewusstsein für Kunst zu fördern. In ihren Werken wandten sich die „Wanderer“ bewusst vom ästhetischen Programm der St. Petersburger Kunstakademie ab und Motiven aus dem einfachen bäuerlichen Leben Russlands zu. Zu den peredvižniki: David Jackson: The Wanderers and Critical Realism in Nineteenth Century Russian Painting, Manchester 2006; Zu Savickij: Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. 22, Moskva 1975, S. 483f.
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Soldaten streckten ihre Arme aus den Waggons und die Frauen reichten ihnen ihre Kinder, damit sie sie ein letztes Mal liebevoll betrachten und ihnen ein zärtliches Wort sagen konnten. [...] Es gab noch einige standfeste Soldaten, die wie von Sinnen ‚Hurrah!’ brüllten und irgendwelche Lieder sangen. Als jedoch das erste Abfahrtszeichen gegeben wurde, verstummten alle mit einem Schlag, man hörte nur noch das Stöhnen und Weinen [der Männer], die Klagerufe und das Geschrei der Frauen. In diesem Moment verschwand von den Soldaten jede Verstellung, die ihnen vom militärischen Drill, der soldatischen Wissenschaft und allen militärischen Merkblättern eingeimpft worden war. Jetzt gewann die Seele und der eigene Schmerz die Oberhand und der Schrecken der eigenen Situation blickte [den Soldaten] unmittelbar ins Gesicht. Keiner konnte sich in diesem Moment dem Gedanken entziehen, dass es das Licht des Tages gibt, dass sie selbst existieren, dass sie leben, dass sie Familie und eine Heimat haben und dass man ihnen unbarmherzig all dies wegnehmen möchte für einen Krieg, dessen Ziele niemand kennt und niemand versteht.“360
Soldaten, wie der Autor dieser Zeilen, die auf einem Militärtransport das erste Mal in Berührung mit der Eisenbahn kamen, nahmen Militärzüge nicht als ein Verkehrsmittel wahr, das ihren Bewegungsradius erweiterte und ihnen ungekannte geografische Räume erschloss. Für sie war die čugunka ein Herrschaftsinstrument in den Händen einer unbarmherzigen Staatsmacht, die für militärische Ziele, welche sich der einfachen Bevölkerung nicht vermittelten, Männer der unteren sozialen Schichten aus ihren Familien, ihrer Heimat und ihren traditionellen sozialen Räumen riss und eine große Zahl von ihnen einem sicheren Tod zuführte. Vor diesem Hintergrund erscheint es bezeichnend, dass sich nach der Niederlage Russlands im Krieg gegen Japan Ende 1905 demobilisierte russische Soldaten in Sibirien mit revoltierenden Eisenbahnern solidarisierten und mit diesen versuchten, die Gewalt über das Schienensystem des Imperiums zu erlangen.
360 M. N.: Na vojnu. Iz zapisnoj knižki zapasnogo soldata. Moskva 1906, S. 30f. – Ähnliche Schilderungen finden sich bei: I. I. Žučin: Iz zapisnoj knižki vachmistera (Russko-japonskaja vojna 1904–05), Orel 1909, S. 1f.; Mitrofan V. Srebrjanskij: Dnevnik iz vremen russkojaponskoj vojny, Moskva 21912, S. 1f. – In helleren Farben schildert seine Abfahrt an die Front: Fedorov, Razskaz deputata, S. 4.
6. SCHLUSSBETRACHTUNG: RUSSLANDS ANKUNFT IN DER MODERNE Ende des 19. Jahrhunderts wurden die fünf großen Kopfbahnhöfe St. Petersburgs bereits von neun Millionen Menschen pro Jahr frequentiert.1 In den Bahnstationen der Hauptstadt kreuzten sich die Wege von Arbeitern, Touristen und Beamten. Hier trafen adelige Offiziere auf orthodoxe Pilger und Geschäftsleute auf Bauern aus der russischen Provinz. Auch in Moskau und anderen Städten des Zarenreiches hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bahnhöfe als wichtige Relais zwischen Stadt und Land sowie zwischen Zentrum und Peripherie etabliert. An kaum einem anderen Ort ließ sich die gesellschaftliche Dynamik, die das Zarenreich in der Hochphase der Industrialisierung und Urbanisierung erlebte, so anschaulich studieren wie in den Wartesälen und auf den Perrons der großen Personenbahnhöfe. Zeitgenössische Berichterstatter entwarfen mitunter ein äußerst düsteres Bild vom Alltag an diesen „Orten der Moderne“. Die „goldenen Zeiten“ des frühen Eisenbahnzeitalters seien eindeutig vorbei, konstatierte zum Beispiel im Oktober 1909 ein Autor in der konservativen Tageszeitung Novoe vremja (Die Neue Zeit). Früher, so der Journalist, hätten die Wartesäle und Bahnhofsbüffets mit ihrem Schmuck und ihrem Prunk zur Läuterung und Besserung jener Menschen beigetragen, die hier verkehrten. Stück für Stück habe dann jedoch der Verfall eingesetzt. Die gläsernen Spiegel seien mittlerweile stumpf, die Bronzeleuchter matt geworden. Heute präsentiere sich etwa der Rjazaner Bahnhof in Moskau nur noch als schmutziger und überfüllter Ort: „Auf den nackten und dreckigen Böden der Bahnsteige schläft lang gestreckt das graue Volk. Die Wartesäle bieten einen unansehnlichen und traurigen Anblick. Sie sind bar jeder Schönheit und jedes Komforts – ein Ort der Trostlosigkeit. Von hier möchte man nur noch flüchten, fortlaufen, ohne sich umzusehen.“
Von den Menschen, die sich am Bahnhof drängten, wandte sich der Beobachter angewidert ab: „Hier stoßen die Passagiere auf schlaftrunkene, ungewaschene Gestalten mit zerzaustem Haar und staubigem Gewand, die rote Stiefel tragen sowie einen Wust von Bündeln, Körben und Gläsern mit Eingemachtem mit sich führen.“2 Das Bild, das sich Chronisten an anderen russischen Bahnhöfen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bot, unterschied sich kaum von dieser Darstellung. Auch die einstige Vorzeigestation der Nikolaj-Bahn in St. Petersburg glich um die Jahrhundertwende eher einem bäuerlichen Marktplatz: 1
2
Im Jahr 1896 betrug die Summe aller ankommenden und abfahrenden Passagiere an den Bahnhöfen der Hauptstadt 8,95 Mio. Menschen. Vgl. Plan Sankt Peterburga (za 1901 god). Reprintnoe izdanie, Sankt Peterburg 1991 (urspr. Beilage zum Adressbuch Ves’ Peterburg). Spinoj ot komforta, in: Novoe vremja, Nr. 12054 vom 2.10.1909 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 312, l. 382).
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Schlussbetrachtung „Angesichts fehlender Gebäude kauert das Publikum mit Kind und Kegel auf seinen Bündeln auf dem ganzen Bahnhofsgelände. Hier werden – mit Genehmigung des Ministeriums – auf unbeschreiblich dreckigen Bahnsteigen das aus der Provinz schnell herbeigeschaffte Schlachtfleisch und Nutzvieh umgeladen. Tier-Blut fließt in Bächen über die Fliesen und wird von den Passagieren im ganzen Gebäude verteilt.“3
Bei russischen Journalisten weckte die Betrachtung des Lebens an den städtischen Bahnhöfen des Zarenreiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder Assoziationen mit dem „Turmbau zu Babel (Vavilonskoe stolpotvorenie)“. Andere fühlten sich angesichts des Gedränges, Schmutzes und Lärms an diesen urbanen Orten in die „Hölle“ aus Dantes Göttlicher Komödie versetzt.4 Mit der wohlgeordneten Welt neuzeitlicher Verkehrspaläste, die in den frühen Jahren des Eisenbahnzeitalters voller Fortschrittsglaube von russischen Architekten und Ingenieuren entworfen worden war, hatte das alltägliche Chaos auf den Bahnhöfen um 1900 nur noch wenig gemein. Die Eisenbahn, mit der die verwestlichte Elite des Zarenreiches die „rückständige“ russische Gesellschaft zivilisieren wollte, hatte nicht „Ordnung“ in die Provinz, sondern Chaos ins Zentrum gebracht. Beobachter zeigten sich irritiert, dass die Eisenbahn neben kultivierten Passagieren auch Arbeiter, Bauern („graues Volk“) und Schlachtfleisch aus der russischen Provinz in die Metropole transportierte und dass in Bahnhöfen und Zügen traditionelle sozialräumliche Grenzen zunehmend erodierten. Nostalgisch erinnerten sie sich an die Anfänge des Eisenbahnzeitalters zurück und riefen Bahnverwaltungen und Behörden dazu auf, auf dem Schienensystem endlich wieder für Ordnung zu sorgen. Die Geschichte der Modernisierung der Verkehrswege im Zarenreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich in zwei verschiedenen Versionen erzählen. Die eine folgt dem bekannten Paradigma der „Rückständigkeit“ Russlands. Maßgeblich für diese Interpretationsfigur ist der Vergleich der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklung des Zarenreiches mit jener in den Staaten West- und Mitteleuropas bzw. in den USA. Seit der Regierungszeit Peters I. (des „Großen“) diente ein idealtypisches „Europa“ (bzw. ein idealtypischer „Westen“) russischen Eliten als Referenzgröße bei der Beschreibung und Bewertung der historischen Entwicklung des eigenen Landes. Diese WestOrientierung prägte von Anbeginn auch die Geschichte des russischen Eisenbahnwesens. So wurde die erste Generation russischer Verkehrsingenieure in St. Petersburg von französischen Gelehrten ausgebildet. Der Ingenieur Pavel Mel’nikov, der an der Planung der Bahnlinie von St. Petersburg nach Moskau maßgeblich beteiligt war und 1865 erster Verkehrsminister des Zarenreiches wur3
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Novoe vremja, Nr. 12012 vom 21.8.1909 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 312, l. 220 u. 240). Vgl. auch die Schilderung der Zustände auf dem Kursko-Nižegorodskij vokzal in Moskau im gleichen Jahr: V dorogu, in: Moskovskij listok Nr. 132 vom 11.6.1909 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 312, l. 121). Vgl. u.a. Kassij: V istome, in: Novoe vremja, Nr. 12295 vom 5.6.1910 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 393, l. 80); Železnodorožnaja žizn’. Na vokzale, in: Stoličnaja molva, Nr. 183 vom 20.5.1911 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 454, l. 50); Malen’kaja chronika. Stolpotvorenie vavilonskoe, in: Novoe vremja vom 9.6.1913 (= RGIA f. 273, op. 10, ed. chr. 597, l. 137).
Schlussbetrachtung
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de, erwarb sich seine Fachkompetenz unter anderem auf Studienreisen durch die USA und Westeuropa. Technisches know how, Maschinen und Waggons, selbst Kohle zum Befeuern der Lokomotiven wurden in den ersten Jahren des russischen Eisenbahnzeitalters aus dem Ausland importiert. Die Architekten der ersten russischen Bahnhöfe orientierten sich bei ihrer Arbeit an Vorbildern in England, Frankreich oder den deutschen Teilstaaten. Die russische Militärführung beobachtete mit Interesse, wie die Eisenbahn in den USA und in Westeuropa Strategien moderner Kriegsführung veränderte. Betriebsordnungen für den Güter- und Personenverkehr westlicher Staaten dienten russischen Juristen bei der Formulierung der Eisenbahngesetze des Zarenreiches als Blaupause. Angesichts dieser vielfältigen Verflechtungen kann es nicht überraschen, dass russische Verkehrsplaner, Journalisten und auch Reisende die Entwicklung des Eisenbahnwesens im Zarenreich seit den 1830er Jahren immer wieder mit jener im westlichen Europa und in den USA verglichen. Spätestens seit der Niederlage im Krimkrieg, die viele Zeitgenossen auch auf das primitive Wegesystem Russlands zurückführten, berührte die Frage nach dem Stand der infrastrukturellen Entwicklung in erhöhtem Maße auch militär-strategische Interessen des Landes. Seit den 1860er Jahren wiesen russische Militärs regelmäßig auf die Rückständigkeit ihres Landes im strategischen Eisenbahnbau bzw. auf die komparativen Vorteile Preußens (bzw. des Deutschen Reiches) und der Habsburgermonarchie auf diesem Gebiet hin. Auch aus ökonomischer Sicht erschien es wichtig, dass Russland im Eisenbahnbau mit den Ländern West- und Mitteleuropas gleichzog, denn als Agrarland war das Zarenreich auf den Export landwirtschaftlicher Güter angewiesen. Im Zuge der Globalisierung der internationalen Verkehrs- und Handelsströme in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah sich Russland auf den europäischen Getreidemärkten mit der wachsenden Konkurrenz Österreich-Ungarns, der Donaufürstentümer und der USA konfrontiert. Die Wettbewerbsfähigkeit russischer Agrarprodukte auf den internationalen Märkten hing nicht zuletzt von der Höhe der Transportkosten innerhalb des Zarenreiches ab. Um diese zu senken, plädierten Verkehrsplaner seit den 1850er Jahren mit Nachdruck für den Bau von Eisenbahnen aus den Kornkammern zu den Exporthäfen des Reiches. Mit Blick auf das Tempo im Eisenbahnbau in der westlichen Welt äußerten sich russische Verkehrsexperten immer wieder besorgt über den schleppenden Fortschritt im eigenen Land. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wiesen sie darauf hin, dass Russland im internationalen Vergleich nur über ein relativ weitmaschiges Schienennetz verfüge, dass zu wenige strategische Bahnlinien an die Grenzen des Landes heranreichten und dass sich russische Züge verhältnismäßig langsam durch die Weiten des Kontinentalreiches bewegten. Auch die Passagierzahlen und der Mobilitätsgrad der Bevölkerung hielten dem Vergleich mit entsprechenden Daten aus dem westlichen Europa und den USA bei weitem nicht stand. Aus diesem Blickwinkel stellte sich die Entwicklung des Eisenbahnwesens im Zarenreich schon Zeitgenossen als eine „Defizitgeschichte“ dar. Auch das „Chaos“ auf russischen Bahnhöfen, das Petersburger und Moskauer Zeitungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts so eindrucksvoll schilderten, interpretierten Beobachter als Sinnbild für die allgemeine „Unordnung“ im eigenen Land und als Zeichen für die
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Schlussbetrachtung
„Rückständigkeit“ des Reiches im Vergleich zu einem imaginären „(West)Europa“.5 Dieses Interpretationsmuster findet sich bis heute in der westlichen Historiografie, in der immer wieder betont wird, dass Russland – ungeachtet der Errungenschaften im Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert – letztendlich den „Zug in die Moderne“ verpasst und das Land vor dem Ersten Weltkrieg im Verkehrswesen nicht jenes Maß an Rationalität, Effizienz und Schnelligkeit erreicht habe, durch das sich die mobilen und „modernen“ Gesellschaften des „Westens“ in dieser Zeit angeblich auszeichneten.6 Die Geschichte der verkehrstechnischen Erschließung des Zarenreiches im 19. Jahrhundert lässt sich jedoch auch noch aus einer anderen Perspektive erzählen. Hier steht zunächst nicht der Vergleich der russischen Entwicklung mit jener anderer europäischer Staaten im Mittelpunkt. Vielmehr richtet sich der Fokus auf die Zeichen jenes gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels, den die Einführung des maschinengetriebenen Verkehrsmittels im Zarenreich bewirkte. Bei einer solchen Betrachtung rücken nicht die (vermeintlichen) „Mängel“ und „Defizite“ einer „unvollständigen“ Modernisierung Russlands in den Blick, sondern jene (ambivalenten) sozialen und kulturellen Dynamiken, die durch den Bau und die Nutzung der Eisenbahn im Zarenreich angestoßen wurden. Die vorliegende Arbeit, die sich mit der Frage des sozialräumlichen Wandels in Russland im Zeitalter der Dampfmaschine befasst, hat sich ihrem Gegenstand aus dieser Richtung genähert. Die Nachricht von der Inbetriebnahme der ersten öffentlichen Eisenbahnlinie in England im Jahr 1825 wurde von der russischen Fachöffentlichkeit mit Interesse aufgenommen. Trotz Vorbehalten aus der konservativen Ministerialbürokratie konnte in Russland im Jahr 1837 eine erste kurze Eisenbahnlinie in Betrieb genommen werden. In den 1840er Jahren erfolgte der Bau der ersten Schienenverbindungen von landesweiter Bedeutung. Seit den 1830er Jahren diskutierte man in russischen Zeitungen, Behörden, Salons und wissenschaftlichen Vereinigungen auch über den Aufbau eines Eisenbahnnetzes in Russland. Entsprechende Überlegungen konzentrierten sich zunächst auf den europäischen Teil des Landes. Ab den 1850er Jahren hielten Visionäre jedoch auch die Anbindung der asiatischen Peripherie für realisierbar. Spätestens nach dem Krimkrieg hatte sich die Frage des Eisenbahnbaus in Russland als Thema der politischen Debatten des Zarenreiches fest etabliert. An den Diskussionen beteiligten sich Interessensvertreter und Politiker aus der russischen Provinz ebenso wie Ingenieure, Bürokraten und Wissenschaftler aus St. Petersburg und Moskau. In der Debatte über die verkehrstechnische Erschließung des Reiches trafen nicht nur unterschiedliche politische Interessen, sondern auch divergierende Vorstellungen von den sozialräumlichen Strukturen des Landes aufeinander. Während frühe Visionäre des Eisenbahnbaus Russland vor allem als politischen Raum beschrieben, der durch die Beschleuni5 6
Vgl. z.B. Spinoj ot komforta, in: Novoe vremja vom 2.10.1909. Vgl. exemplarisch: Westwood, Geschichte der russischen Eisenbahnen, S. 9; Marks, Road to Power, S. 220–222 und in Ansätzen auch bei Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung, S. 313–321.
Schlussbetrachtung
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gung des Verkehrs „verkleinert“ werden könne, wurde die Planungsdebatte bald von der Vorstellung des Reichsterritoriums als ökonomischer Raum dominiert. Ingenieure wie Pavel Mel’nikov betrachteten Russland vorrangig als unzureichend integrierten Wirtschaftsraum, dessen (landwirtschaftliche) Produktionszentren mit Hilfe der Eisenbahn besser an die Exporthäfen des Landes angebunden werden sollten. Vorstellungen wie diese wurden insbesondere von Vertretern des Kriegsministeriums angegriffen. Führende Militärstrategen plädierten dafür, das Reich eher als ein von innen wie außen bedrohtes Herrschaftsgebiet zu betrachten und die Planung eines landesweiten Eisenbahnnetzes nicht an den ökonomischen, sondern den militär-strategischen Bedürfnissen des Landes auszurichten. Kritik an ökonomisch orientierten Raumbildern kam auch von slavophilen Denkern, die dafür eintraten, Russland als kulturellen bzw. nationalen Raum zu begreifen und bei der Planung eines Eisenbahnnetzes die historisch gewachsenen Strukturen des Landes zu respektieren. Ungeachtet dieser Divergenzen ähnelten sich die konkurrierenden Raumbilder aus dem frühen Eisenbahnzeitalter in einem wichtigen Punkt: In allen wurde Russland als Territorium mit relativ statischen sozialräumlichen Strukturen vorgestellt, die es galt, mit Hilfe eines Eisenbahnnetzes zu stabilisieren. Mit dem Aufbau moderner Infrastrukturnetze sollte weder die autokratisch-imperiale Herrschaftsordnung noch der Charakter Russlands als Agrarstaat in Frage gestellt werden. In den 1870er Jahren, nach dem Ende des ersten Eisenbahnbooms im Zarenreich, lässt sich eine deutliche Dynamisierung der Raumvorstellungen innerhalb des russischen Eisenbahndiskurses beobachten. War das Verkehrsmittel früher vor allem als Instrument zur Bewahrung bestehender sozialräumlicher Strukturen betrachtet worden, sahen Verkehrsplaner die Eisenbahn nun immer häufiger als Werkzeug, um einen Wandel dieser Strukturen herbeizuführen. Ab den späten 1870er Jahren traten führende Wirtschaftspolitiker, wie zum Beispiel Finanzminister von Reutern, für die Industrialisierung des Zarenreiches, d.h. für die Transformation des Landes in einen industrialisierten Raum ein. Mit diesem Schritt hoffte man, der ökonomischen Abhängigkeit vom „Westen“ entgegenwirken und die internationale Machtposition des Reiches weiter festigen zu können. Insbesondere Finanzminister Vitte trieb in den 1890er Jahren die Umwandlung Russlands von einem Agrar- in ein Industrieland voran. Dabei setzte er auf die Expansion des imperialen Schienennetzes (auch über die Grenzen des Zarenreiches hinaus), die Neuregulierung und Standardisierung der Eisenbahntarife sowie die Verstaatlichung privater Bahngesellschaften. Mit dem Bau transkontinentaler Eisenbahnlinien wollten russische Verkehrsplaner nicht zuletzt auch in der asiatischen Peripherie des Reiches einen Wandel sozialräumlicher Strukturen bewirken. Verkehrsprojekte wie der Bau der Transkaspischen Eisenbahn oder des Großen Sibirischen Weges wurden von Vertretern der verwestlichten Elite als Instrumente einer russischen mission civilizatrice in Asien beschworen. Durch den Bau eines imperialen Schienennetzes schien es möglich, das Vielvölkerreich als politischen und kulturellen Raum fester zusammenzuschmieden und Russland als Transitregion des Handels zwischen Europa und Asien auf den Karten des Weltverkehrs neu zu positionieren.
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Schlussbetrachtung
Nach einer schleppenden Anfangsphase in den 1850er Jahren nahm der Aufbau eines Eisenbahnnetzes im europäischen Russland in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren langsam konkrete Gestalt an. Ab den 1880er Jahren erfolgte sukzessive die Erschließung der asiatischen Peripherie. Eine zweite Hochphase erlebte der Eisenbahnbau in Russland in den 1890er Jahren. Um 1900 betrug die Länge des russländischen Schienennetzes bereits rund 52.000 Kilometer. Auch wenn die Reichsregierung, insbesondere während des ersten Eisenbahnbooms der 1860er und 1870er Jahre, auf das Engagement privater Investoren aus dem Inund Ausland angewiesen war, gab sie die Planungshoheit über den Bau neuer Strecken nie aus der Hand. Seit den 1850er Jahren bemühte sich die Administration auch um die Festlegung technischer Standards für den Bau und Betrieb des sich formierenden Eisenbahnnetzes. Auf diese Art entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland ein Großes Technisches System, das von Warschau im Westen bis Vladivostok im Osten und von St. Petersburg im Norden bis Baku im Süden reichte, nach weitgehend einheitlichen Regeln funktionierte und einer wachsenden Anzahl von Menschen neue Möglichkeiten eröffnete, geografische Distanz vergleichsweise schnell und bequem zu überwinden. Wenngleich das Reisen mit der Eisenbahn auch in Russland zunächst relativ teuer war, konnte das Verkehrsmittel im Prinzip von allen Menschen ungeachtet ihres Standes und Geschlechts sowie ihrer Konfession oder ethnischen Herkunft genutzt werden. Hatten russische Verkehrsplaner der Frage des Personenverkehrs anfangs noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt, bemühte sich die Reichsregierung seit den 1880er Jahren zunehmend um die Steigerung der Passagierzahlen der Eisenbahn. Während in den 1840er Jahren Finanzminister von Kankrin noch vor den politischen und gesellschaftlichen Gefahren erhöhter Mobilität gewarnt hatte, betrachtete Sergej Vitte fünfzig Jahre später die Möglichkeit der schnellen und günstigen Fortbewegung als eine wichtige Voraussetzung für die ökonomische Entwicklung seines Landes. Mit der Einführung eines ermäßigten Beförderungstarifs für bäuerliche Kolonisten 1893 und der Verbilligung von Fahrten über längere Distanzen sowie der Einführung eines so genannten „Arbeitertarifs“ im Jahr darauf sollte insbesondere Menschen aus den unterprivilegierten sozialen Schichten die Nutzung der Eisenbahn erleichtert werden. Mit der voranschreitenden verkehrstechnischen Erschließung ging eine Neuvermessung des Zarenreiches auf den kognitiven Karten jener Menschen einher, die in Berührung mit dem Eisenbahnsystem kamen. Autoren von Kursbüchern, Reiseführern und Streckennetzkarten stellten Russland als einheitlich strukturierten Verkehrsraum dar, in dem geografische und administrative Binnengrenzen keine Rolle mehr spielten. Die Repräsentationen des Raums in diesen Medien der Moderne waren auf die Gegenwart und Zukunft ausgerichtet. Sie versprachen ihren Betrachtern, dass sich die Lücken im imperialen Schienennetz weiter schließen und die Eisenbahn auch in abgelegenen Provinzen für ökonomischen Aufschwung sorgen werde. Reiseführer für die großen Transkontinentalbahnen sahen in der asiatischen Peripherie den Traum von der Vereinigung Russlands zu einem „großen unteilbaren Ganzen“ Wirklichkeit werden. Fotografien der Eisenbahnbrücken, die die großen Flüsse Sibiriens und Zentralasiens überspannten, künde-
Schlussbetrachtung
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ten vom Stolz auf die russische Ingenieurskunst und vom Glauben an die zivilisierende Macht des technischen Fortschritts. Eisenbahningenieure und bäuerliche Kolonisten wurden in diesen Raumbildern als Agenten einer russischen mission civilizatrice vorgestellt, die darauf abzielte, die „rückständigen“ Bewohner in der asiatischen Peripherie auf ein höheres Kulturniveau zu heben. Aber nicht nur in Asien, sondern auch im europäischen Russland sollte die Eisenbahn bei der Zivilisierung „rückständiger Elemente“ der eigenen Bevölkerung helfen. Diese Hoffnung von Verkehrsplanern und Ingenieuren manifestierte sich nicht zuletzt in der Architektur der großen städtischen Passagierstationen, die sich Beobachtern weniger als nüchterne Zweckbauten, sondern als Verkehrspaläste der Moderne präsentierten. Vertreter der technischen Intelligenz träumten davon, dass sich an diesen Orten soziale Räume nach neuen, rationalen Gesichtspunkten strukturieren ließen und dass sich diese Ordnung positiv auf das kulturelle Niveau der hier verkehrenden Menschen auswirken werde. In den Stationen mit ihrer herrschaftlichen Architektur, ihren luxuriösen Restaurants erster Klasse und ihrem uniformierten Personal sollte das soziale Leben ebenso geordnet ablaufen wie der Betrieb des gesamten technischen Ensembles der Eisenbahn. Die gebaute Utopie des städtischen Bahnhofs kündete auch in Russland von dem Traum, eine Gesellschaft ließe sich mit Hilfe des technischen Fortschritts gleichsam in lauter „zivilisierte“ Passagiere erster Klasse verwandeln. Dabei spiegelte die Unterteilung russischer Zugpassagiere in „Klassen“ nur bedingt die hierarchische Gesellschaftsordnung des Landes wider. Die sozialräumlichen Barrieren an den Orten des Eisenbahnsystems waren – zumindest formell – um einiges durchlässiger als die Standesgrenzen der russischen soslovie-Ordnung. Nicht der Stand, sondern allein die ökonomischen Möglichkeiten eines Passagiers entschieden über den Zugang zu der einen oder anderen „Klasse“. Auch die Angleichung der Reisebedingungen von Passagieren der verschiedenen Kategorien wurde von Wissenschaftlern und Ingenieuren bereits in den späten 1870er Jahren als Ziel der technischen Entwicklung formuliert. Allerdings blieben diese Visionen von der „zivilisierenden“ Kraft des technischen Fortschritts in Russland weitgehend Utopie. Dies lag zum einen daran, dass die Planer der Eisenbahn offensichtlich unterschätzt hatten, in welchem Maße der Bau eines Schienennetzes zu einer Dynamisierung geografischer Mobilität im Zarenreich beitragen werde. Zum anderen hatten sie klar die eigenen Möglichkeiten überschätzt, diesen Prozess mit Hilfe technischer Mittel und der Rationalität des modernen Verkehrssystems steuern und in „geordnete“ Bahnen lenken zu können. Nachdem die Passagierzahlen der russischen Bahngesellschaften seit den 1870er Jahren eher in moderatem Tempo gestiegen waren, beschleunigte sich diese Entwicklung seit Mitte der 1890er Jahre deutlich. Die wachsende Nachfrage nach Zugfahrkarten spiegelte zum einen das Bevölkerungswachstum und den forcierten Netzausbau gegen Ende des 19. Jahrhunderts wider. Zum anderen wirkten sich die Senkung der Fahrpreise, die Einführung eines „Arbeitertarifs“ und die Liberalisierung der Passgesetze positiv auf die Entwicklung der Fahrgastzahlen aus. Seit Mitte der 1890er Jahre wuchs vor allem die Nachfrage nach Tickets dritter und vierter Klasse. 1912 wurden in Russland bereits 230 Mio. Fahrkarten ver-
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Schlussbetrachtung
kauft, 90 % zu den billigen Tarifen. Wie die eingangs zitierten Berichte aus der russischen Tagespresse zeigen, waren die Bahngesellschaften auf den sprunghaften Anstieg der Passagierzahlen nur unzureichend vorbereitet. Die Inbesitznahme der Züge und Bahnhofspaläste durch das „graue Volk“ ließ nicht nur die Bronzeleuchter und Spiegel in den Wartesälen erster Klasse, sondern auch den Glauben der technischen Intelligenz an die zivilisierende Kraft des Fortschritts verblassen. Auch die Hoffnungen der Verkehrsplaner, der Eisenbahnbau könne zu einer sozialräumlichen Integration im Zarenreich beitragen, erfüllten sich nur partiell. So blieben in den Wartesälen und Waggons erster Klasse in der Regel die Mitglieder der privilegierten gesellschaftlichen Schichten ebenso unter sich wie die einfachen Arbeiter und Bauern in den Räumlichkeiten der vierten. Es waren die Waggons der zweiten und dritten Klasse, wo sich die Wege von Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft offenbar häufiger kreuzten. In welchem Umfang dies geschah und ob Szenen, wie wir sie aus Dostoevskijs Roman Idiot oder aus Tolstojs Kreutzersonate kennen, eher die Ausnahme oder die Regel im Eisenbahn-Alltag des Zarenreiches darstellten, bleibt dabei eine offene Frage. Relativ genau beziffern lässt sich, dass Passagiere der höheren Klassen im Durchschnitt längere Fahrten mit der Eisenbahn zurücklegten als Fahrgäste mit billigeren Tickets. So dehnte sich der Bewegungsradius der Menschen aus den privilegierten gesellschaftlichen Schichten durch den Bau der Eisenbahn in einem größeren Maße aus als jener von Bauern, Arbeitern und kleinen Angestellten. Allerdings veränderte die Eisenbahn auch bei Menschen aus diesen sozialen Schichten Mobilitätsmuster und Strukturen der Raumwahrnehmung nachhaltig. In besonderem Maße profitierten die Mitglieder der regierenden Dynastie von der verkehrstechnischen Erschließung des Zarenreiches. Zar Alexander II. trieb nicht nur den Bau des Schienennetzes in seinem Herrschaftsgebiet mit Nachdruck voran. Er nutzte das neue Verkehrsmittel auch als erster russländischer Kaiser systematisch für symbolische Reisen innerhalb des eigenen Landes. Alexander adelte Züge und Bahnhöfe zu Bühnen moderner Herrschaftsinszenierung. Das Verkehrssystem als Ganzes entwickelte sich unter seiner Regierung zum Sinnbild seines umfassenden innenpolitischen Reformprogramms. Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders symbolträchtig, dass die Terrororganisation Narodnaja volja ihren ersten Anschlagsversuch gegen den „Reformzaren“ im November 1879 unternahm, als Alexander in seinem Hofzug von der Krim nach St. Petersburg reiste. Das misslungene Attentat auf den Herrscherzug machte der Reichsregierung deutlich, dass sich die Frage der Sicherheit des Kaisers im Zeitalter der Dampfmaschine und des Dynamits in völlig neuer Weise stellte. Auch das verheerende Zugunglück bei Borki im Oktober 1888, das Alexander III. und seine Familie nur durch ein „Wunder“ überlebten, führten den Behörden die Verletzbarkeit des Zaren in der technischen Moderne eindrucksvoll vor Augen. In der Folge dieser Ereignisse wurden die Sicherheitsbestimmungen für Reisen des Hofzuges sukzessive verschärft. Das neue Gefährdungspotential der Regenten trug auch dazu bei, dass Alexander III. und Nikolaus II. die Eisenbahn weit weniger für die Inszenierung der eigenen Macht nutzten, als es noch Alexander II. getan hatte. So führte die Expansion des imperialen Schienennetzes in der Regierungszeit der
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beiden letzten Zaren paradoxerweise dazu, dass die räumliche Distanz zwischen den Herrschern und ihren Untertanen in diesen Jahren eher zu- als abnahm. Jenseits der sozialen Räume, in denen sich die Mitglieder der regierenden Dynastie bewegten, bewirkte der Bau der Eisenbahn eine sukzessive Demokratisierung der Reisekultur im Zarenreich. War die schnelle Überwindung geografischer Distanz im Zeitalter der Postkutsche noch ein Privileg von Adel, Beamten und reichen Kaufleuten gewesen, so erschloss das dampfgetriebene Verkehrsmittel nun auch breiteren sozialen Schichten neue geografische Horizonte. Wenngleich die wenigsten Zugpassagiere im Zarenreich als „Touristen“ unterwegs waren, machten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen aus freien Stücken auf die Reise, um Russland in seiner geografischen und kulturellen Vielfalt zu erkunden. Während russische Autoren in früherer Zeit vor allem über ihre Reiseerlebnisse im Ausland berichteten, wuchs im Zeitalter der Dampfmaschine auch die Nachfrage nach Schilderungen von Reisen in die verschiedenen Regionen des eigenen Landes. Die infrastrukturelle Erschließung Russlands eröffnete zum einen die Möglichkeit, das große Kontinentalreich als einen integrierten politischen und ökonomischen Raum zu erfahren. Entsprechende Wahrnehmungsmuster vermittelten sich Passagieren sowohl durch das einheitliche Erscheinungsbild des „Großen Technischen Systems“ der Eisenbahn als auch durch entsprechende Raumbilder in Kursbüchern, Reiseführern und Streckennetzkarten. Zum anderen führte die zunehmende geografische Mobilität jedoch auch dazu, dass immer mehr Menschen persönlich in Kontakt mit der kulturellen Vielfalt des Zarenreiches kamen. Sensibilisiert durch die politischen Diskussionen über die diversen „nationalen Fragen“ des Landes gaben sich die einen Reisenden fasziniert, die anderen irritiert ob der Vielzahl kultureller und ethnografischer Grenzen, die das Vielvölkerreich durchzogen. Während die einen Passagiere von der Integration des polyethnischen Reiches durch imperiale Infrastrukturnetze und der „Zivilisierung“ der rückständigen Elemente der eigenen Bevölkerung durch die Eisenbahn träumten, fühlten sich andere beim Anblick der ethnografischen Vielfalt an russischen Bahnhöfen an den „Turmbau zu Babel“ bzw. die „Völkerwanderung“ des frühen Mittelalters erinnert. Bilder dieser Art verwiesen eher auf die Fragilität als auf die Stabilität sozialräumlicher Strukturen innerhalb des Imperiums. Inwieweit diese ambivalenten Muster auch die Raumwahrnehmung von Menschen aus den unterprivilegierten sozialen Schichten prägten, lässt sich nicht abschließend beantworten. Die Erfahrungen von Bauern und Arbeitern, die schon bald die überwältigende Mehrheit der Zugpassagiere des Zarenreiches stellten, haben sich nicht in vergleichbarer Form in den Quellen niedergeschlagen wie jene der Mitglieder aus den gebildeten gesellschaftlichen Schichten. Die überschaubare Anzahl von Selbstzeugnissen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die auf räumliche Perzeptionsmuster bäuerlicher Kolonisten bei deren Fahrt aus dem europäischen Russland nach Sibirien befragt werden können, deuten jedoch in eine ähnliche Richtung. Auch jene Menschen, die aus wirtschaftlicher Not um die Jahrhundertwende in großer Zahl ihre alte Heimat verließen und in Sibirien voller Hoffnung nach Neuland suchten, nahmen ihre Reise in die Gebiete jenseits des
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Schlussbetrachtung
Urals häufig als Fahrt aus einem vertrauten „Russland“ in eine fremde „Ferne“ wahr. Die Vorstellung vom Zarenreich als „großes und unteilbares Ganzes“ deckte sich offenbar ebenso wenig mit der tatsächlichen Raumerfahrung vieler Kolonisten wie das Bild von Sibirien als mythischer „Zukunftsraum“, das diese Menschen in die östliche Reichshälfte gelockt hatte. Nicht nur auf der Ebene der Raumwahrnehmung reisender Menschen gestaltete sich die sozialräumliche Integration des Russländischen Reiches im Eisenbahnzeitalter komplizierter, als von manchen Verkehrsplanern prophezeit. Zwar erwies sich das moderne Verkehrssystem schon in den 1860er und 70er Jahren als ein äußerst wirksames Herrschaftsinstrument in den Händen der autokratischen Macht. Die Erfahrungen des polnischen Januaraufstandes im Jahr 1863 und der terroristischen Anschläge auf den Hofzug Alexanders II. hatten der Regierung jedoch zugleich die eigene Verletzbarkeit an dieser modernen „Achillesferse“ des Regimes offenbart. Während des russisch-japanischen Krieges, der sich nicht zuletzt an der Konkurrenz der beiden Mächte auf dem Gebiet des Eisenbahnimperialismus im Fernen Osten entzündet hatte, erfuhr die Reichsregierung einmal mehr die eigene Abhängigkeit von der Funktionstüchtigkeit des imperialen Verkehrssystems. Dies wurde auch während des Generalstreiks im Oktober 1905 deutlich, als es Druckern und Eisenbahnern gelang, die modernen Kommunikations- und Verkehrswege des Reiches vorübergehend lahm zu legen und dem autokratischen Regime grundlegende politische Reformen abzuringen. Russland, darauf deuteten nicht zuletzt die Ereignisse der Revolution von 1905/07 hin, war Anfang des 20. Jahrhunderts in der Moderne angekommen, und zu dieser Entwicklung hatte der Bau des imperialen Schienennetzes maßgeblich beigetragen. Allerdings unterschied sich diese Moderne deutlich von jenen Zukunftsbildern, die technikgläubige Verkehrsplaner und Ingenieure in den Anfangsjahren des Maschinenzeitalters voller Fortschrittsoptimismus entworfen hatten. Russlands Ankunft in der Moderne zeigte sich nicht nur an der voranschreitenden Erschließung und Integration des Reichsterritoriums durch moderne Infrastrukturnetze, an steigenden Passagierzahlen und dem Glauben des autokratischen Regimes, mit der Eisenbahn über ein besonders effektives und schlagkräftiges Herrschaftsinstrument zu verfügen. Auch die hoffnungslos überfüllten Wartesäle der hauptstädtischen Passagierstationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, terroristische Attentate auf Herrscherzüge, die Ausbreitung antijüdischer Pogrome über das imperiale Schienennetz und Eisenbahnerstreiks, die das Zarenregime in Bedrängnis bringen konnten, kündeten in Russland vom Anbruch einer neuen Zeit. Dass nur ein Teil der Bevölkerung von der ökonomischen Dynamik profitierte, die aus dem Bau des Eisenbahnnetzes in Russland resultierte, kennzeichnete den Weg des Landes in die Moderne ebenso wie die Tatsache, dass für viele Regionen die ausbleibende Netzanbindung einer Verbannung in die „ewige Provinz“ gleichkam. Die Erfahrung der schnellen Fahrt über ein gerades und ebenes Schienenband prägte die Muster moderner Raumwahrnehmung in Russland ebenso wie der Kontakt mit Menschen aus einer anderen sozialen Schicht im Eisenbahnwaggon oder die Angst und Schutzlosigkeit alleinreisender Frauen in Coupés erster Klasse. Auf den kognitiven Karten der Zeitgenossen wuchs das Vielvölkerreich
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im Eisenbahnzeitalter zweifelsohne als „großes und unteilbares Ganzes“ zusammen. Die neuen Möglichkeiten, das Land in seiner Größe und kulturellen bzw. sozialen Vielfalt persönlich zu erfahren, schürten andererseits bei vielen Menschen Ängste vor dem „Fremden“ im eigenen Land. Die Autoren der eingangs zitierten Schilderungen der Zustände auf den hauptstädtischen Bahnhöfen des Zarenreiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten den Glauben an die Versprechungen der Moderne noch nicht aufgegeben. Für sie war das alltägliche Chaos auf den großen Passagierstationen ein Zeichen der noch unvollständigen Zivilisierung und Modernisierung des Zarenreiches. Im Ruf der konservativen Journalisten nach mehr „Ordnung“ auf dem russländischen Schienensystem kam die Furcht vor der Erosion sozialräumlicher Grenzen und vor der Erfahrung sozialer wie kultureller Differenz an diesen „Orten der Moderne“ zum Ausdruck. Gleichzeitig gaben sich diese Beobachter überzeugt, dass sich das Stimmengewirr des modernen „Turmbaus zu Babel“ mit Hilfe des technischen Fortschritts entwirren lasse und dass das Projekt der Moderne letztlich in einen Zustand wohlgeordneter sozialräumlicher Verhältnisse münden werde. Diesen Chronisten war nicht an der Beschreibung, sondern der Auflösung der Ambivalenzen des modernen Zeitalters gelegen. Der Glauben der verwestlichten Elite, dass sich dieses Ziel durch eine noch schnellere Fahrt auf dem Pfad des „Fortschritts“ erreichen ließe, trug letztlich zur Perpetuierung des Projektes der Moderne in Russland bei, weit über die Epochenschwelle von 1917 hinaus.
7. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 7.1. QUELLEN 7.1.1. Archivquellen Central’nyj Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv Sankt Peterburga (CGIA SPb) f. 513 (Petrogradskaja gorodskaja uprava), op. 146, ed. chr. 551. f. 569 (Kancelarija Petrogradskogo gradonačal’nika), op. 11, ed. chr. 1233a. f. 1374 (Upravlenie Severo-Zapadnych železnych dorog), op.1 (1862–1925), ed. chr. 343, 344, 346, 407, 495, 524. f. 1480 (Upravlenie Nikolaevskoj železnoj dorogi), op. 16 (1874–1920), ed. chr. 8 (1903), op. 17 (1843–1917), ed. chr. 1 (1878–1879).
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7.3. NACHSCHLAGEWERKE, BIBLIOGRAFIEN Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. 34, 21955. Dejateli revoljucionnogo dviženija v Rossii: Biobibliografičeskij slovar’. Ot predšestvennikov dekabristov do padenija carizma, 5 Bde., Moskva 1927–1934, URL: http://slovari.yandex.ru/dict/revoluc [zuletzt aufgerufen am 2.8.2013]. Ėnciklopedičeskij slovar’, hg. von F. A. Brokgauz, I. A. Efron, Bde. 6, 11, 12, 22, Sankt Peterburg 1892–97. Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel’ knig i publikacij v žurnalach, hg. von Petr A. Zajončkovskij, Bde. 2–4, Moskva, Leningrad 1977– 1986. Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bde. 4, 7, 9, Berlin, Wien 1913–1921. Russkie oficial’nye i vedomstvennye izdanija XIX–nač. XX v, hg. von Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv. Naučno-spravočnaja biblioteka. Katalog, Bde. 1–4, St. Peterburg 1996. Russkie pisateli. 1800–1917, Bd. 3, Moskva 1994. Šilov, D. N.: Gosudarstvennye dejateli Rossijskoj Imperii. Glavy vysšich i central’nych učreždenij. 1802–1917. Biobibliografičeskij spravočnik, Sankt Peterburg 2001. Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, in 5 Bänden, hg. von der Görres-Gesellschaft, 7. Auflage, Bd. 3, Freiburg 1987. Upravlenčeskaja ėlita Rossijskoj Imperii. Istorija ministerstv. 1802–1917, Sankt Peterburg 2008. Vysšie i central’nye gosudarstvennye učreždenija Rossii. 1801–1917 gg., Bde. 1–4, hg. von D. I. Raskin, Sankt Peterburg 1998–2004. Wörterburch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke, hg. von Erich Bayer, Stuttgart 1960.
8. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS A.S. CGIA SPb CIWL ed. chr. f. GARF IOLEAĖ
IRGO IRTO IVĖO l./ll. KSŽD MPS MVD N.S. NTB PGUPS
ob. OKŽ op. PSZRI RGIA RNB ŽD ŽPU ŽD
Alter Stil (Datumsangabe nach dem Julianischen Kalender) Central’nyj Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv Sankt Peterburga (Zentrales Historisches Staatsarchiv der Stadt St. Petersburg) Compagnie International des Wagons-Lits edinica chranenija / Aufbewahrungseinheit (Archivierungskategorie) (Archiv-)Fonds / (Akten-/Archiv-)Bestand Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (Staatliches Archiv der Russländischen Föderation, Moskau) Imperatorskoe Obščestvo Ljubitelej Estestvoznanija, Antroplogii i Ėtnografii (Kaiserliche Gesellschaft der Liebhaber der Naturwissenschaften, Anthropologie und Ethnografie) Imperatorskoe Rossijskoe Geografičeskoe Obščestvo (Kaiserliche Russländische Geografische Gesellschaft) Imperatorskoe Rossijskoe Techničeskoe Obščestvo (Kaiserliche Russländische Technische Gesellschaft) Imperatorskoe Volnoe Ėkonomičeskoe Obščestvo (Kaiserliche Freie Ökonomische Gesellschaft) list / Blatt, Blätter (bei Aktenangaben) Komitet Sibirskoj Železnoj Dorogi (Komitee der Sibirischen Eisenbahn) Ministerstvo Putej Soobščenija (Ministerium für Verkehrswege) Ministerstvo Vnutrennych Del (Innenministerium) Neuer Stil (Datumsangabe nach dem Gregorianischen Kalender) Naučno-Techničeskaja Biblioteka Peterburgskogo Gosudarstvennogo Universiteta Putej Soobščenija (Wissenschaftliche Bibliothek der Staatlichen Universität der Verkehrswege, St. Petersburg) oborotnyj (verso) (bei Aktenangaben) Otdel’nyj korpus žandarmov (Gendarmeriekorps) opis’ / Verzeichnis, Inventar (Archivierungskategorie) Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russländischen Reiches) Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv (Russländisches Historisches Staatsarchiv, St. Petersburg) Rossijskaja Nacional’naja Biblioteka (Russländische Nationalbibliothek, St. Petersburg) Železnodorožnoe delo (Zeitschrift) (Das Eisenbahnwesen) Žandarmsko-policejskoe upravlenie železnych dorog (Verwaltungseinheit der Eisenbahn-Gendarmerie)
9. RUSSISCHE MAßE UND GEWICHTE Längenmaße: Djujm Veršok Fuß (fut) Aršin Sažen Werst (versta)
1 djujm = 2,54 cm 1 veršok = 4,44 cm 1 fut = 30,48 cm 1 aršin = 0,71 m 1 sažen = 2,13 m 1 versta = 1,07 km
Flächenmaße: Djujm2 Fuß2 Aršin2 Sažen2 Desjatine Werst2
1 djujm2 = 6,45 cm2 1 fut 2 = 929,03 cm2 = 0,09 m2 1 aršin2 = 5058,05 cm2 1 sažen2 ≈ 4,55 m2 1 desjatina = 10925 m2 ≈ 1,1 ha 1 versta2 ≈ 1,14 km2
Volumenmaße: Fuß3
1 fut 3 = 28.316,84 cm3 ≈ 28 Liter ≈ 0,03 m3
Gewichtmaße: Pud
1 pud = 16,38 kg
10. ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Die Große Sibirische Eisenbahn. Pariser Weltausstellung des Jahres 1900, hg. von der Kanzlei des Ministerkomitees, St. Petersburg 1900. Abb. 2: Gradostroitel’stvo Rossii serediny XIX – načala XX veka, Bd. 2: Goroda i novye tipy poselenij, hg. von Evgenija I. Kiričenko, Moskva 2003, S. 472. Abb. 3: Bodo Thöns: Die Transsibirische Eisenbahn. Die frühen Jahre 1900 bis 1916, Erfurt 2004, S. 26. Abb. 4: Putevoditel’ po rossijskim železnym dorogam, s priloženiem karty železnodorožnych soobščenij, Moskva 1872. Abb. 5: Putevoditel’ po Rossii, č. I. Železnyja dorogi, Sankt Peterburg 21868. Abb. 6: Werbeplakat für die Biermarke „Kalinkin“, Chromolithografie (1903), (Reprint) Sammlung des Autors. Abb. 7 und 8: Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge, hg. vom Ministerstvo putej soobščenija, zusammengestellt von A. I. Dmitriev-Mamonov und A. F. Zdzjarskij, Sankt Peterburg 1900, S. 50, 91. Abb. 9: Sputnik po Moskovsko-Vindavskoj železnoj doroge. Istoričeskoe, geografičeskoe i ėkonomičeskoe svedenija, Moskva 1909, S. 272. Abb. 10: Novaja stancija Kazatin’. Al’bom, hg. von Jugo-Zapadnye železnye dorogi, o.O., o.J.. Abb. 11: Sergej D. Karejša: Železnodorožnye stancii nadležaščee ich ustrojstvo, oborudovanie, obsluživanie i proektirovanie, Bd. 1, Petrograd 1917, Tafel 208. Abb. 12: Stich (nach einer Fotografie) von Raševskij, in: Niva, Nr. 46 vom 12.11.1888, S. 1157. Abb. 13: Stich (nach einer Fotografie) von Šjubler, in: Niva, Nr. 46 vom 12.11.1888, S. 1156. Abb. 14: Chromolitographie von E. I. Fesenko „Vid Svjatogorskago Spasova Skita i chrama na meste krušenija Imperatorskago poezda 17 oktjabrja 1888 goda“, von der Zensur genehmigt am 20.7.1904, Odessa 1904, RNB, Ė lt 63 m / s 259. Ė 134654. Abb. 15: Chromolitographie von M. S. Solov’ev „Bože Carja Chrani! Providenie Božie Spasaet Gosudarja i Ego Semejstvo“, genehmigt von der Zensur am 16.11.1888, Moskva 1888. RNB, Ė l-ir-485,1 / 7-3. Abb. 16: Gradostroitel’stvo Rossii serediny XIX – načala XX veka, Bd. 2, S. 486. Abb. 17: http://dic.academic.ru/pictures/enc_pictures/587-7.jpg. Abb. 18: Revoljucija 1905–07 godov i izobrazitel’noe iskusstvo. Serija al’bomov pod obščej naučnoj redakcij V. V. Šleeva, Moskva 1978, Bd. 2: Moskva i Rossijskaja provincija, Tf. 88. Abb. 19: Revoljucija 1905–07 godov i izobrazitel’noe iskusstvo, Bd. 1: Peterburg, Tafel 106. Abb. 20: Niva, Nr. 17 vom 24.4.1904, S. 336. Abb. 21: „Gosudar’ Imperator v mestach raspoloženija vojsk, vstupajuščich na Dal’nyj Vostok. Pribytie Ego Imperatorskago Veličestva v Suvalki. Priem deputacij“, Fotografie von K. Gan’ & Co., aus: Niva, Nr. 47 vom 20.11.1904, S. 933. Abb. 22: „Otpravka na Dal’nyj Vostok mičmanov, novoproizvedennych ranee sroka v morskom kadetskom korpuse. Na vokzale Nikolaevskoj železnoj dorogi v Peterburge“, Zeichnung von V. A. Taburin, aus: Niva, Nr. 8 vom 21.2.1904, S. 153. Abb. 23: Otbytie voinskago sibirskago poezda v Mančžuriju, Niva, Nr. 8 vom 21.2.1904, S. 157. Abb. 24: http://www.artsait.ru/. Abb. 25 (in Einstecktasche): Karte der russischen Eisenbahnen, aus: Freiherr von Röll: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 8, Berlin, Wien 1917, S. 256–278, Tafel VIII, reproduziert nach: http://www.zeno.org/Roell-1912/A/Russische+Eisenbahnen.
11. NAMENS- UND ORTSREGISTER 11.1. PERSONEN Abaza, Aggej V., 46–47 Adlerberg, Nikolai V., 309 Al’fonosov, I., 252, 254–255, 270 Aleksandra Fedorovna, 300, 305 Aleksej Nikolaevič, 306 Alexander II., 27, 50–51, 59, 69, 72, 81–82, 86, 217, 281, 289–291, 294–295, 297, 307–309, 312, 334–337, 339–340, 343, 348, 365, 382, 384 Alexander III., 93, 96, 99, 103–104, 151, 289, 298, 310, 312–317, 319–322, 325– 326, 348, 366, 382 Aronson, Michael, 362 Azef, Evno, 345 Baedeker, Karl, 156 Bailly, Alexandre, 106 Baranov, Ėduard T., 365 Baranovskij, Stepan. I., 85 Baring, Maurice, 368 Barjatinskij, Aleksandr I., 82–83 Bassin, Mark, 31 Bauman, Zygmunt, 35 Baumann, Oscar, 90 Beaumont, Matthew, 29 Belinskij, Vissarion, 45 Beljakov, Ivan E., 281–282 Bethea, David, 58 Bismarck-Schönhausen, Otto Eduard Leopold von, 79, 94 Bljoch, Ivan S., 315 Bobrinskoj, V. A., 74 Bobrinskoj, Vladimir. A., 72 Bogdanovič, Evgenij V., 102 Borisov, Fofan A., 335 Borošanskij, 345 Bourdieu, Pierre, 19 Bunin, Ivan, 16, 126, 236 Buturlin, Sergej, 66–69 Čaplin, K. A., 142 Carter, Ian, 29 Čechov, Anton, 16, 36, 162 Čerevin, Petr A., 314
Čevkin, Konstantin V., 51 Ch. Cotard, 85 Chevalier, Michel, 45, 53–54 Chilkov, Michail I., 88, 367 Chomjakov, Aleksej, 59–60 Čižov, Fedor V., 59 Clapeyron, Benoit, 56 Collins, Perry M., 97 Colquhoun, Archibald R., 114 Curzon, George, 85 Cvetkovski, Roland, 28 Delvig, Andrej I., 59 Destrem, D., 260–261 Destrem, Moris Gugonovič, 41 Divall, Colin, 29 Dobrynin, Petr S., 356 Dostoevskij, Fedor, 15–16, 36, 58, 89, 238, 268, 302, 348, 382 Drentel’n, Alexander R., 309, 343 Duchovskaja, Varvara F., 105, 241 Duchovskoj, Sergej M., 88 Eisenstadt, Shmuel, 35 Ely, Christopher, 31 Figner, Vera, 326, 337–338, 340 Fleming, Sandford, 137–139 Freeman, Michael, 29 Frolenko, Michail, 295, 337 Garkavi, Vladimir, 257 Geertz, Clifford, 294 Gerstner, Franz Anton von, 41–46, 49, 52, 54, 145, 216, 288, 327 Giddens, Anthony, 19 Gincburg, B., 201 Gjubbenet, Adol’f, 316 Glinka, Otto F., 361 Gol’denberg, Grigorij, 342–343 Gorčakov, Andrej N., 354–355 Greč, Nikolaj, 230–232 Gurko (Hurko), Iosif V., 329 Gylden, Hugo, 138 Haywood, Richard, 49 Herzen, Alexander, 59, 219
Namens- und Ortsregister Heyfelder, Oscar, 90 Hobsbawm, Eric, 212 Ignat’ev, Aleksej P., 99 Išutin, Nikolaj A., 335 Jadrincev, Nikolaj M., 100–101 Jambon, Marcel, 106 Kaljaev, Ivan P., 345 Kankrin, Georg von (Kankrin, Egor F.), 41, 44–45, 121, 153, 162, 380 Kappeler, Andreas, 30 Katharina II., 261 Katkov, Michail, 64, 71, 94 Kaufmann, Konstantin von, 83, 85, 87, 188 Kazakov, N., 124 Kennan, George, 219 Kiselev, Pavel D., 56, 121 Klejnmichel’, Petr A., 49, 51, 54, 125 Klevanov, Aleksandr, 204, 242, 251, 253 Kokorev, Vasilij A., 120 Koni, Anatolij F., 313–316, 325 Konopljannikova, Zinaida V., 347–348 Konstantin Nikolaevič, 71, 96, 297 Korff, Andrej von, 99 Košelev, Aleksandr, 57–60 Kotzebue, Paul D. (Kocebu, Pavel E.), 71 Krivošein, Aleksandr V., 285 Kruševan, Pavel A., 245–248, 254 Ksenija Aleksandrovna, 304 Kuntušev, Vasilij I., 335 Kurdjumov, V., 194 Kuropatkin, Aleksej, 87–88, 96, 117, 367 Kursel’, A., 63–66, 68–69 Lamé, Gabriel, 39 Läpple, Dieter, 19, 21–23 Lefèbvre, Henri, 19–20, 24, 38 Leroy-Beaulieu, Pierre, 112 Leskov, Nikolaj, 16 Lesseps, Ferdinand de, 84–86 Levestam, Matvei J., 201 List, Friedrich, 42, 78, 94, 170 Ljachockij, Vasilij, 251, 253 Ljubanskij, Heinrich (Genrich) I., 89 Lovcov, Sergej P., 209 Löw, Martina, 19–21, 23 Luženkovskij, Gavrila, 345–347 Malyšev, P., 359–360, 363 Marija Fedorovna, 298–299, 303–307, 312, 320, 322–323, 326, 347 Marx, Karl, 35 Mejsner, Vladimir, 334
435
Mel’nikov, Pavel P., 44, 46–48, 50–58, 60– 63, 66, 71–72, 74, 94, 121–123, 127, 376, 379 Meller-Zakomel’skij, Aleksandr, 353 Men’šikov, Michail, 354–355 Meščerskij, Vladimir P., 315, 319 Michail Aleksandrovič, 92 Michail Nikolaevič, 81–82 Miljukov, Aleksandr P., 254 Miljutin, Dmitrij, 68–72, 85–86, 365 Min, Georgij A., 347 Mogil’ner, Marina, 188 Mordvinov, Nikolaj S., 40 Murav’ev, Michail, 88 Murav’ev, Nikolaj N., 96–97 Murray, John, 156 Napoléon III. (Louis-Napoleon Bonaparte), 290–291, 311 Nečaev, Sergej, 335 Nevskij, Alexander, 325 Nikolaus I., 40–41, 43–44, 46, 48–51, 53, 121, 123, 145, 216, 288, 290, 292, 327 Nikolaus II., 77, 87–88, 116–117, 260, 289, 300–301, 303, 305–307, 311–312, 322– 324, 326, 344, 351–352, 356, 367, 370, 382 Obolenskij, Dmitrij, 309 Obručev, Nikolaj N., 68–69, 71 Pauker, German (Herrmann) E., 317 Paul I., 292 Perott, Gillarij, 62 Perovskaja, Sofija, 340–342, 348 Perovskij, Lev A., 48, 121 Peter I., 46, 195, 261, 291, 376 Petri, Ėduard Ju., 101 Petzold, Avgust V., 108 Pfeil und Klein Ellguth, Richard von, 311 Piłsudski, Josef, 335 Pjaseckij, Pavel Ja., 106 Plehve, Vjačeslav von, 280, 332, 344–346 Pobedonoscev, Konstantin P., 101, 313, 316 Podosenov, N., 242 Pogodin, Michail, 89 Poljakov, Samuil (Šmuėl) S., 315 Pomper, Philip, 335 Poraj-Košic, Vladimir I., 207–210 Pos’et, Konstantin N., 98, 296, 313–315 Potanin, Grigorij N., 100–101 Pravdin, Avror, 54 Proskurjakov, Lavr D., 107 Prževal’skij, Nikolaj, 87 Renan, Ernest, 246
436
Namens- und Ortsregister
Rennenkampf, Pavel von, 353 Reutern, Michael von (Rejtern, Michail), 71–77, 379 Rieber, Alfred, 53 Rosenthal, Leon, 59 Rotkirch, Vasilij A., 234–236 Ruchlov, S. V., 143 Ryl’ke, S.D., 137–138 Safonov, Aleksandr, 46 Savickij, Konstantin A., 372 Savinkov, Boris, 344–345 Sazonov, Egor, 344–345 Šč–ckoj, M., 240 Ščeglov, Nikolaj P., 39–40, 42, 45 Schivelbusch, Wolfgang, 29, 119–121, 144, 231, 303 Schultz, Hans-Dietrich, 19 Schweinitz, Hans Lothar von, 295, 321, 348–349 Šechtel’, Fedor O., 124 Semenov, Petr P., 189 Šernval’, K. I., 315 Simmel, Georg, 19 Širjaev, Stepan, 337, 340–342 Skobelev, Michail D., 90 Slezkine, Yuri, 31 Solov’eva, Aida, 49 Sperling, Walter, 28–29 Spiridonova, Marija, 345–347 Spolitak, M. A., 238 Stebnickij, Ieronim I., 137, 140 Stolypin, Pëtr A., 218 Storoženko, A. P., 67 Struve, Karl V., 138, 140 Struve, Otto V., 137, 140 Sturm, Gabriele, 19, 21 Sumkin, M., 282–284
Sunderland, Willard, 284 Sytenko, N. A., 102 Tatiščev, S. S., 112 Taube, Aleksandr F. von, 314 Tichmenev, N., 156 Timofeev, Leonid, 357 Toll, Karl F. (Tol', Karl F.), 41, 44–45 Tolstoj, Dmitrij A., 315, 329–331, 361 Tolstoj, Lev N., 13–17, 36, 133, 162, 225, 238, 241, 299, 315, 342, 370, 382 Ton, Konstantin A., 123, 191 Troickij, Michail P., 335 Turgenev, Ivan, 13 Uchtomskij, Ėsper, 189 Valuev, Petr A., 71 Vambéry, Arminius (Hermann), 91 Verchovskij, N., 141–143 Vereščagin, Aleksandr V., 235–236 Vereščagin, Vasilij, 235–236 Vitte, Sergej J., 77–80, 88, 92–96, 98, 102– 104, 109–110, 115–117, 119, 151, 153, 166, 214, 218, 274, 280, 315, 351, 365, 379, 380 Volkov, Matvej S., 45 Vrevskij, A.B., 87 Vrevskij, Aleksandr B., 87 Vyšnegradskij, Ivan A., 317 Weber, Max, 35 Whistler, George W., 125 Zasulič, Vera, 313 Zelenoj, Alekseevič A., 71 Zelja, R. A. von, 141 Željabov, Andrej, 337 Željazevič, Rudolf A., 123 Zurov, Elpifidor A., 120
Namens- und Ortsregister
437
11.2. ORTE Adži Akul’, 194 Afghanistan, 85–86, 88 Afrika, 90 Ägypten, 292 Akmolinsk, 273 Alaska, 72, 287 Aleksandrov, 154 Aleksandrovsk, 337 Alexandrovo, 302 Amerika, 43, 53–54, 104, 112, 260 Nordamerika, 29, 32, 37, 43, 91, 120, 150 Andižan, 87 Apothekerinsel, 344 Archangel’sk, 124, 181, 326 Gouvernement Archangel’sk, 124 Aschabat, 86 Asien, 83, 89–91, 95, 98, 102, 104, 109– 113, 116, 247, 258, 260, 265, 272, 285– 286, 306, 379, 381 Südostasien, 109 Astapovo, 13 Baku, 82, 177, 181, 380 Balta, 62, 71, 365 Bandoran, 139 Bayern, 148 Belgien, 142, 148 Berlin, 109, 147, 166, 252 Bessarabien, 69, 71, 245 Bezdany (Bezdonys), 335 Bobrujsk, 65 Bologoe, 171 Borisoglebsk, 345 Provinz Borisoglebsk, 346 Borki, 289, 292, 309, 311–313, 315, 317– 326, 339, 351, 382 Borodino, 311 Brest-Litovsk, 70 Brjansk, 62, 68 Bromberg, 65, 127, 302 Buchara, Emirat, 86–87, 101 Budweis, 41 Calais, 85 Calcutta, 85 Čardžou, 86–87 Caricyn, 82 Carskoe Selo, 17, 41, 48, 150, 190, 193, 216, 229, 290, 344, 351
Čeljabinsk, 98–99, 109, 258–260, 264, 266, 277, 282 Černigov, 62, 68 Gouvernement Černigov, 248 Ceylon, 109 Chabarovsk, 98, 107, 258 Char’kov, 56–57, 62, 66, 71–72, 106, 197, 204, 256, 299, 312, 320, 325, 337, 343 Charbin, 134, 238, 267, 354, 367 Cherson, 253 Chicago, 104, 110 China, 37, 89, 95–96, 102, 107, 113–117, 247, 292 Chiva, 87 Chanat Chiva, 86 Chmel’nickij (Proskurov), 255 Čita, 97–98, 115, 353 Čudovo, 121 Dal’nij (Dalien), 110, 115, 367 Dänemark, 292 Darlington, 39 Deutschland, 42, 144, 161, 166, 170, 229 Deutsches Reich, 94, 127, 132, 135, 223, 302, 330, 348, 377 Preußen-Deutschland, 364 Dubašari, 245 Dünaburg, 56–57, 62, 65, 68, 134, 171, 253, 294 Ekaterinburg, 85, 98, 170 Ekaterinoslav, 62, 74, 343 Gouvernement Ekaterinoslav, 248–249, 337 Elizavetgrad, 334–335, 342 Elizavetpol’, 194 Estland, 261 Europa, 16, 18, 29, 31, 37, 45, 50–51, 63, 76, 78, 83–84, 87, 89–90, 95, 98, 100, 102, 104, 109–110, 112–113, 115, 127, 150, 156, 178, 233, 247, 258, 260, 265, 281, 302, 306, 338, 376, 379 Mitteleuropa, 29–30, 166, 205, 217, 262, 302, 305, 376–377 Osteuropa, 29 Westeuropa, 29, 46, 109, 114, 120–121, 141, 156, 166, 168–170, 191, 200, 205, 207, 217, 229, 247, 250, 258, 263, 283, 291, 302, 305, 376–378 Eydtkunen, 127, 302 Fastov, 306
438
Namens- und Ortsregister
Feodosija, 51, 57 Finnland, 69, 174, 181, 290 Großfürstentum Finnland, 134 Frankreich, 56, 112, 143–144, 229, 292, 364, 377 Gatčina, 310 Georgien, 312 Gibraltar, 109 Glasgow, 112 Granica, 301, 303 Greenwich, 132, 136–137, 139, 144 Grjazi, 234 Grodno, 65, 70 Gouvernement Grodno, 67, 183, 248– 249 Großbritannien, 62 British Empire, 178 England, 18, 39, 42, 43, 75, 88, 110, 113–114, 117, 132, 139, 144, 148, 166, 196–197, 377–378 Gruševka, 62 Halič, 63 Helsingfors, 134, 170 Hradisch, 327 Indien, 84–85, 87, 109, 142, 292 Britisch-Indien, 88 Irkutsk, 97–98, 107, 109, 146, 175, 259, 262, 267 Irland, 42, 327 Italien, 142, 292 Ivangorod, 305 Japan, 89, 95, 115, 117, 224, 292, 324, 364 Jaroslavl’, 29, 59, 124, 297 Jassy, 63 Jersey City, 150 Kalačevskaja, 298 Kalisz, 248 Kaluga, 343 Gouvernement Kaluga, 282 Kamenec Podol’skij, 68 Kanada, 32, 96 Kaukasus, 24, 56, 69, 81–83, 86, 96, 105, 137, 140, 178, 181, 194, 246, 256, 262, 299, 304, 312 Nordkaukasus, 101, 244 Transkaukasus, 81–83 Kazan’, 41, 43, 46, 98, 124, 252, 270 Kielce, 248 Kiev, 62, 65–66, 68, 70–71, 106, 142, 177, 188, 198–199, 246, 253, 300, 303, 307, 333 Gouvernement Kiev, 248
Kišinev, 245 Kizil-Arvat, 86 Köln, 109 Königsberg, 302 Kopenhagen, 324 Kovel’, 305 Kovno, 352 Kovno (Kaunas), 248, 301 Kovrov, 298 Krakau, 127, 327 Krasnojarsk, 106–107, 259, 353, 356 Kremenčug, 71 Krim, 68–69, 261, 290–292, 306, 308, 322, 337, 343, 382 Gouvernement Taurien, 248 Taurien, 261 Krjukovo, 156 Kronstadt, 47 Kurland, 261, 352 Kursk, 56–57, 61–62, 71, 308, 337 Le Havre, 109 Lemberg, 63 Liaodong, 110, 114, 117 Libau, 57, 65 Linz, 41 Lipeck, 337 Litauen, 69 Livadija, 293, 308, 336, 343 Liverpool, 39, 42 Livland, 261, 352 Ljubotin, 197 Lobkowicz, 127 Łódź, 127 Łomża, 248 London, 109, 112 Lozovaja, 312, 319, 323 Lublin, 248 Luga, 50 Mailand, 169 Manchester, 39, 42 Mandschurei, 115–117, 134, 224, 259, 365, 368, 370–371 Merv, 86 Minsk, 245, 252, 254 Gouvernement Minsk, 183, 248 Mogilev, 68 Gouvernement Mogilev, 183, 248, 368 Moldau und Walachei (Donaufürstentümer), 377 Moršansk, 332 Moskau, 13, 28, 38, 41–42, 46–49, 51, 55– 62, 65–67, 70–71, 88, 93, 98, 106–110,
Namens- und Ortsregister 120–121, 123–127, 131, 144, 146, 148, 156–159, 161–164, 167, 171–172, 174, 177–178, 186, 191, 198–200, 204, 216, 230–235, 242, 246–247, 249, 253, 257– 259, 262, 267, 270, 290–291, 298, 300, 307–310, 320, 333–334, 336–337, 339– 343, 350–351, 354, 363, 370–371, 375– 376, 378 Narva, 63 Neurussland, 71, 248, 251, 290, 292 Nikolaev, 68 Nižnij Novgorod, 41, 57, 98, 106, 135, 175, 177, 199, 233, 246–247, 298, 300 Nižnij Tagil’, 39 Nizza, 169 Norwegen, 148 Novgorod, 39–40, 57, 116, 120–122, 164, 235, 290, 334, 343 Novočerkassk, 299 Novskaja, 298 Odense, 324 Odessa, 43, 46, 56, 62, 71, 124, 177, 199, 253, 333, 335, 337, 342, 359, 365, 368 Oksoči, 121 Oloneck, 124 Omsk, 98, 286, 371–372 Orel, 55, 57–58, 61–62, 234, 343 Gouvernement Orel, 186 Orenburg, 85, 87, 171, 183 Orša, 68 Osmanisches Reich, 119, 364 Österreich, 66 Habsburgerreich, 127, 303, 377 Österreich-Ungarn, 127, 377 Ostrov, 65 Ostseeprovinzen, 69, 261, 290 Paris, 24, 102, 105–111, 169, 183, 187, 258, 262, 268–269, 281 Pavlovsk, 17, 41, 49, 190, 216, 290 Pavlovskij Posad, 298 Peking, 107, 110, 114 Penza, 177 Gouvernement Penza, 281 Perm, 171, 233, 242 Persien, 86 Peševar, 85 Peterhof, 306, 344–345, 347 Petrovsk, 82, 147, 170 Philadelphia, 150 Pinsk, 65, 68 Piotrków, 248–249 Pjatigorsk, 204
439
Płock, 248 Podolien, 248 Polen, 27, 45, 50, 63–64, 70–71, 290, 312, 327, 329, 332 Königreich Polen, 42, 49–50, 56, 65, 67–70, 81, 127, 178, 182, 248– 249, 327 Polnisch-Litauisches Reich, 249 Weichselregion, 69, 133, 250 Poltava, 65, 248 Port Arthur, 110, 114–115, 258–259, 365– 367, 370 Preußen, 127, 129, 166, 255, 295, 377 Pskov, 253, 311 Pulkovo, 132, 135, 137, 140, 144–145 Radom, 248 Reval, 63, 177 Riga, 56, 68, 106, 134 Rjazan’, 299 Rom, 136, 139 Roslavl’, 62 Rostov a. Don, 51, 81–82, 101, 291 Rumänien, 332 Rus’, 122, 251 Russland Nordrussland, 290 Südrussland, 81, 251, 304 Zentralrussland, 68–69, 127, 234, 258, 262, 290 Rybinsk, 44, 171 Sachalin, 108 Samara, 98, 109, 135, 177 Samarkand, 85–86, 90 Saratov, 29, 46, 56, 62, 85, 87, 177, 325 Schottland, 132 Semipalatinsk, 282 Serbien, 335, 370 Sergiev Posad, 59 Sevastopol’, 50–51, 56, 62, 68, 70, 306, 312 Shanghai, 109, 110 Siam, 292 Sibirien, 24–25, 28, 84, 89–90, 92–93, 95– 109, 112, 125, 153, 175, 181, 183–185, 202, 212, 228, 247, 258, 260–269, 271– 274, 276–277, 279–286, 292, 294, 353, 366, 369, 373, 380, 383 Ostsibirien, 93, 96–97, 99, 301 Westsibirien, 273, 281, 283, 292 Zentralsibirien, 301 Siedlce, 248–249 Simferopol’, 336, 340, 343 Skiernewice, 302
440
Namens- und Ortsregister
Slavjansk, 242 Smolensk, 62, 70 Gouvernement Smolensk, 286 Spanien, 148 Sretensk, 107, 258 St. Petersburg, 15–16, 26, 28, 38–50, 56–57, 61, 63–65, 71–72, 82, 85–86, 93, 97, 99, 100, 106, 108, 111, 120–121, 123– 127, 131, 134–136, 139, 143, 145–148, 150, 156–158, 161–164, 167, 169, 171– 172, 174–175, 177–179, 181, 186, 190– 191, 193, 199–200, 216, 229–233, 235, 242, 245, 251, 253, 257, 264, 266–267, 269–271, 283, 285, 289–290, 292–293, 295, 299–303, 307–308, 310–312, 320– 321, 327–329, 331, 334, 336, 339, 340, 343–345, 347, 350–352, 356, 359, 363, 365, 370, 372, 375–376, 378, 380, 382 Petrograd, 144, 358 Stockholm, 138 Stockton, 39 Suwałki, 248, 302 Syzran’, 263, 281, 332 Taganrog, 41 Tambov, 62, 346 Gouvernement Tambov, 13, 346 Taschkent, 85–87, 90, 147, 181, 183, 188 Tiflis, 135 Tiligul’, 365 Tjumen’, 98 Tomsk, 122 Transkaspien, 114 Trans-Ural-Gebiet, 178 Troick, 85 Tuckum, 134 Tula, 56–57, 177, 343 Gouvernement Tula, 186 Turkestan, 83–86, 88, 90, 105, 147, 301 Russisch-Turkestan, 81, 86, 88 Tver’, 39, 40, 231, 290, 300, 343 UdSSR, 260
Ufa, 98 Ukraine, 71–72, 81, 248, 292, 312, 368 Ungarn, 327 Ural, 101, 109, 258, 262, 265–266, 268, 273, 277, 280, 283–284 Ural’skaja oblast’, 86 Uržumka, 265 USA, 17, 29, 32, 43, 45, 51, 53–54, 61, 66, 97, 100, 132, 136, 139, 144, 190–191, 196, 214, 220, 229, 240, 287, 376–377 Vereinigte Staaten, 43, 53, 72, 140 Veržbolovo (Wirballen), 127, 130, 301–302 Vil’na, 57, 64, 67, 177, 246, 254, 257, 294, 328–329, 335, 352 Gouvernement Vil’na, 248 Vitebsk, 68, 124 Gouvernement Vitebsk, 248, 368 Vjazniki, 298 Vladikavkaz, 81–82, 101, 171, 304 Vladivostok, 98–99, 106–107, 109–110, 114–115, 117, 181, 258, 260, 264, 266, 270, 292, 366, 380 Volhynien, 69 Gouvernement Volhynien, 248 Vologda, 135, 325 Gouvernement Vologda, 124 Voronež, 66, 177 Warschau, 15, 26, 49, 50, 56–57, 61, 64–65, 67, 98, 109, 127, 135, 154, 181, 251, 253–255, 300, 303, 327, 329, 334, 345, 352, 380 Gouvernement Warschau, 249 Provinz Warschau, 248 Washington, 136, 138–139, 140 Weißrussland, 252, 254 Wien, 45, 49, 65, 127, 170, 251, 303, 327 Zentralasien, 24–25, 37, 81, 83, 85–88, 91, 96, 99, 105, 135, 153, 178, 181, 202, 212, 247, 272, 380 Žitomir, 65, 68 Žlobin, 246
Abb. 1: „Das Russländische Reich“ (und die Große Sibirische Eisenbahn) – Landkarte für Besucher der Weltausstellung von Paris 1900
12. ABBILDUNGEN
Abb. 2: Bahnhof der Sankt Petersburg-Moskau-Bahn in St. Petersburg, Aquarell von A. Petzoldt (1844-1847)
442 Abbildungen
Abbildungen
Abb. 3: Bahnhof der Nikolaj-Bahn und Jaroslavskij vokzal in Moskau, Fotografie, Anfang des 20. Jahrhunderts
Abb. 4: Streckennetzkarte des Russländischen Reiches aus dem Jahr 1872
443
444
Abbildungen
Abb. 5: Streckenprofil der Nikolaj-Bahn (Ausschnitt) aus dem Reiseführer Putevoditel’ po Rossii (1868)
Abbildungen
Abb. 6: Werbeplakat für die Biermarke „Kalinkin“ (1903)
445
446
Abbildungen
Abb. 7: „Ostjaken-Typen“ bzw. „Ostjaken-Mädchen“
Abb. 8: Alexander-Brücke über die Wolga Fotografien aus dem Reiseführer Putevoditel’ po Velikoj Sibirskoj železnoj doroge, hg. vom Verkehrsministerium des Russländischen Reiches für die Westausstellung von Paris 1900
Abbildungen
447
Abb. 9: „Kurländische Zigeuner“. Illustration aus dem Reiseführer der Moskau-Windau-Eisenbahn (Sputnik po Moskovsko-Vindavskoj železnoj doroge) von 1909
Abb. 10: Fotografie des „Büffet-Saals 1. u. 2. Klasse“ im Bahnhof von Kazatin (Süd-West-Bahnen) (errichtet 1887–91)
448
Abbildungen
Abb. 11: Grundriss des Bahnhofs von Kazatin (errichtet 1887–91) Legende: a – Büffetsaal 1. u. 2. Klasse; b – Wartesaal 1. Klasse; c – Damen-Toilette; e – Herren-Toilette; d, f – Klosett; g – Diensträume Büffet; i – Telegraf; k, z – Durchgänge; l – Kassensaal; m, n – Kassen für Gepäck u. Fahrscheine; o – Räume des Vorstehers; p – Gepäckraum; r – Postamt; s, t – Räume für medizinisches Personal; u – Wartesaal 3. Klasse; v – Büffet 3. Klasse; w – Damen-Toilette; x – Waschraum; y – Bahnhofs-Gendarm
Abbildungen
Abb. 12: Zugunglück von Borki. Trümmer des Waggons der Kaiserlichen Kinder
Abb. 13: Zugunglück von Borki. Zertrümmertes Fahrgestell des Speisewagens – Illustrationen aus der Zeitschrift Niva vom 12.11.1888
449
Abb. 14: Gedächtniskathedrale „Spasov Skit“ bei Borki, geweiht 1894, Chromolitografie aus dem Jahr 1904
450 Abbildungen
Abb. 15: „Gott schütze den Zaren. Gottes Vorhersehung rettet den Herrscher und seine Familie“ Chromolithografie von M. S. Solov’ev, November 1888
Abbildungen
451
452
Abbildungen
Abb. 16: Alexander-Brücke über die Wolga Postkarte Ende des 19. Jahrhunderts
Abbildungen
453 Abb. 17: Sergej V. Ivanov: „Bäuerliche Kolonistin im Waggon (Pereselenka v vagone)“ (1886)
Abb. 18: Unbekannter Künstler: „Sibirskij motiv (sibirisches Motiv)“, aus: Ovod, Nr. 5, 1906
454
Abbildungen
Abb. 19: Petr S. Dobrynin: „Alptraum (Košmar)“, aus: Lešij, Nr. 1, 1906
Abb. 20 „In den Fernen Osten. In einem Soldatenwaggon (Na Dal’nyj Vostok. V voinskom vagone)“, Zeichnung von V. A. Taburin, aus: Niva vom 24.4.1904
Abbildungen
455
Abb. 21: Nikolaus II. verabschiedet einen Truppentransport bei Suwałki, Fotografie aus der Zeitschrift Niva vom 24.4.1904
Abb. 22: Verabschiedung von Kadetten der Kriegsmarine am Nikolaj-Bahnhof in St. Petersburg. Zeichnung von V. A. Taburin, aus: Niva vom 21.2.1904
456
Abbildungen
Abb. 23: „Abfahrt eines sibirischen Militärtransports in die Mandschurei. Nach einer Fotografie aus Omsk“, aus: Niva vom 21.2.1904
Abb. 24: Konstantin A. Savickij: „In den Krieg (Na vojnu)“ (1888)
Die Erfindung der Eisenbahn weckte in Russland große Erwartungen in den technischen Fortschritt. Die Zarenregierung träumte von der Vereinigung des Imperiums durch ein stählernes Schienennetz. Ingenieure und Planer beschworen die zivilisierende Kraft moderner Infrastruktur. Tatsächlich brachte das neue Verkehrsmittel das Vielvölkerreich im wahrsten Sinne des Wortes in Bewegung. Die Eisenbahn erschloss vormals schwer erreichbare Regionen und ermöglichte einen sprunghaften Anstieg geografischer Mobilität. Ein Bombenanschlag auf den Zug des Zaren im Jahr 1879 verdeutlichte gleichzeitig die Ver-
ISBN 978-3-515-10736-5
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7835 1 5 1 07 365
letzbarkeit der räumlichen und politischen Ordnung im Zeitalter der technischen Moderne. Die vielfältigen und ambivalenten Folgen des Eisenbahnbaus in Russland werden hier erstmals umfassend aus einer kultur- und sozialhistorischen Perspektive beleuchtet. Aufbauend auf neueren methodischen Ansätzen der Raumsoziologie geht Benjamin Schenk der Neuordnung sozialer Räume im Zeitalter der Dampfmaschine nach. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Debatten über die Geschichte räumlicher Ordnungen in Europa und die Spezifika von Russlands Aufbruch in die Moderne.
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