Die Stadt im Raum: Vorstellungen, Entwürfe und Gestaltungen im vormodernen Europa 9783412506285, 9783412221287


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Die Stadt im Raum: Vorstellungen, Entwürfe und Gestaltungen im vormodernen Europa
 9783412506285, 9783412221287

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¨ DTEFORSCHUNG STA Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte in Mu¨nster begru¨ndet von Heinz Stoob in Verbindung mit

U. Braasch-Schwersmann, M. Kintzinger, B. Krug-Richter, A. Lampen, E. Mu¨hle, J. Oberste, M. Scheutz, G. Schwerhoff und C. Zimmermann herausgegeben von

We r n e r F r e i t a g Reihe A: Darstellungen Band 89

DIE STADT IM RAUM ¨ RFE UND VORSTELLUNGEN, ENTWU GESTALTUNGEN IM VORMODERNEN EUROPA

herausgegeben von K a r s t e n I g e l und T h o m a s L a u

2016 ¨ HLAU VERLAG KO ¨ LN WEIMAR WIEN BO

Publiziert mit Unterstu¨tzung des SNF zur Fo¨rderung der wissenschaftlichen Forschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Modell der Stadt Camerino (Italien), 1482, in den Ha¨nden des Stadtheiligen Venetianus. Ausschnitt aus der rechten Tafel eines Altartriptychons von Carlo Crivelli. Das Original befindet sich in der Pinacoteca de Brera in Mailand. Die vorliegende Form wurde im Media¨vistischen Institut der Universita¨t Fribourg erarbeitet (©).

© 2016 by Bo¨hlau Verlag GmbH & Cie, Ko¨ln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Ko¨ln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschu¨tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzula¨ssig. Redaktion: Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte, Mu¨nster http://www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln

Gesetzt aus der Linotype Stempel Garamond 10pt. Gedruckt auf chlor- und sa¨urefreiem Papier. Printed in the EU ISBN 978-3-412-22128-7

INHALT

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

Verzeichnis der Abku¨rzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Thomas Lau Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Peter Stephan Michelangelos Ju¨ngstes Gericht und die Krise der Kirche. Die Sixtinische Kapelle als ein dekonstruierter Heilsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Vera Isaiasz Unter einem Dach. Kirchenbau in Berlin zwischen 1680–1720 . . . . . . .

49

Hans-Joachim Schmidt Symbolische Aneignung des Unverfu¨gbaren. Jerusalem und das Heilige Grab in Pilgerberichten und Bildern des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Sabine Reichert „Heiliges Trier“. Die Sakralisierung des sta¨dtischen Raumes im Mittelalter .

89

Volker Reinhardt Kampf um Raum. Rom und seine hierarchische Topographie im Zeitalter des Nepotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Michael Hecht Sta¨dtisches „Patriziat“ und regionaler Adel. Beobachtungen zu Integrationsleistungen und Abgrenzungsstrategien am Beispiel mittel- und norddeutscher Sta¨dte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

Rita Binz-Wohlhauser Distinktive Ra¨ume. Grenzen und Mo¨glichkeiten der sta¨dtischen Elite Freiburgs i. Ue. im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

6

Inhalt

Eric Piltz ¨ berlegungen zu Stadtvierteln und kommunalen Die Teile und das Ganze. U Leistungen in der Fru¨hen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

Claudia Esch Was ist „Stadt“? Ra¨ume und Spielra¨ume am Beispiel des mittelalterlichen Bamberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

Silke Kurth Bild der Stadt – Bild des Territoriums. Der Miluogo oder die Verortung des Zentrums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Daniel Leis Zentrum und Peripherie. Bezu¨ge zum Gebauten des Markusplatzes in den Sta¨dten der venezianischen Terraferma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Emanuel Leugger Die Republik Freiburg, die Waadtla¨nder Stadt Romont und die eidgeno¨ssische Region Greyerz. Herrschaftspraxis und politische Sprache in Freiburger Untertanensta¨dten des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Heinrich Speich Territorialisierung durch Burgrechte? Politische Raumgestaltung im Spa¨tmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

Karsten Igel Sta¨dtische Herrschaft im Hochstift. Handlungsra¨ume des Osnabru¨cker Rates im spa¨tmittelalterlichen Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Klara Hu¨bner Kontrollierte Verbreitung oder verbreitete Kontrolle? Nachrichtenboten als mobile Zeichentra¨ger der spa¨tmittelalterlichen Stadtherrschaft . . . . . . .

281

Bastian Walter-Bogedain Informell = inoffiziell? Die Bedeutung sta¨dteu¨bergreifender Kontakte fu¨r die Außenpolitik wa¨hrend der Burgunderkriege . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

Marco Tomaszewski „Hie Basel – Hie Schweizerboden“? Konstruktionen (supra)urbaner Ra¨ume der Stadt Basel im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

Daniela Hacke Klangra¨ume. Zu den akustischen Revolten des fru¨hen 16. Jahrhunderts . . .

317

Inhalt

7

Thomas Lau Die Republik auf Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

Index der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN

Dr. Rita Binz-Wohlhauser, Brugerastr. 18, CH-3186 Du¨dingen Claudia Esch, M. A., Institut fu¨r Geschichtswissenschaften und europa¨ische Ethnologie, Otto-Friedrich-Universita¨t, Am Kranen 10, D-96045 Bamberg Univ.-Prof. Dr. Daniela Hacke (PhD), Freie Universita¨t Berlin, Fachbereich Geschichtsund Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, Raum 383, D-14195 Berlin Jun.-Prof. Dr. Michael Hecht, Historisches Seminar, Westfa¨lische Wilhelms-Universita¨t, Domplatz 20–22, D-48143 Mu¨nster Dr. Klara Hu¨bner, Bileho 19, CZ-602 00 Brno Dr. Karsten Igel, Historisches Seminar, Westfa¨lische Wilhelms-Universita¨t, Domplatz 20–22, D-48143 Mu¨nster Vera Isaiasz, M. A., Kunsthistorisches Institut, Campus Management, Ra¨mistr. 73, CH-8006 Zu¨rich Dr. Silke Kurth, Via Pietrapiana 3, I-50121 Firenze ¨ ., Abteilung fu¨r Allgemeine und Prof. tit. Dr. Thomas Lau, Universita¨t Freiburg i. U Schweizerische Geschichte der Neuzeit, Av. de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg Daniel Leis, M. A., Am Mu¨llerwa¨ldchen 20, D-55122 Mainz Emanuel Leugger, lic. phil., Bvd. de Pe´rolles 13, CH-1700 Freiburg Eric Piltz, M. A., Technische Universita¨t Dresden, Institut fu¨r Geschichte, D-01062 Dresden Dr. Sabine Reichert, Themenverbund „Urbane Zentren und europa¨ische Kultur in der Vormoderne“, Universita¨t Regensburg, Universita¨tsstr. 31, D-93053 Regensburg

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

9

¨ ., Media¨vistisches Institut, Prof. Dr. Hans-Joachim Schmidt, Universita¨t Freiburg i. U Av. de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg Dr. Heinrich Speich, IBID-Altbau AG Winterthur, Geba¨ude 1002, Zu¨rcherstr. 41, CH-8400 Winterthur Prof. Dr. Peter Stephan, Architekturtheorie und Kunstgeschichte, FB Architektur und Sta¨dtebau/Potsdam school of architecture, Fachhochschule Potsdam, Kiepenheuerallee 5, D-14469 Potsdam Dr. Marco Tomaszewski, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universita¨t Freiburg, Platz der Universita¨t – KG IV, D-79085 Freiburg Dr. Bastian Walter-Bogedain, Bergische Universita¨t Wuppertal, Fachbereich A: Geschichte, Gaußstr. 20, D-42119 Wuppertal

¨ RZUNGEN UND SIGLEN VERZEICHNIS DER ABKU

AMS ArchHVBern ArchMrhKG ArchrhKG BllDtLG BrschwJb FRB Go¨rrGes GQProvSachs HansGbll HStud HZ KurtrJb LdkdlVjbll LexMA NdsJb NLA Nu¨rnbF ObrhStud OsnGQ OsnMitt OsnUB PL PublPrStA QDNds QFGMu¨nst QFRefG QW RD RegImp RhArch RhVjbll SchweizZG SSRQ (BE) SSRQ (FR) StaatsA StadtA StF A StF C TZ VHKomNds

Archives Municipales et Communautaires de Strasbourg Archiv des historischen Vereins des Kantons Bern Archiv fu¨r mittelrheinische Kirchengeschichte Archiv fu¨r rheinische Kirchengeschichte Bla¨tter fu¨r deutsche Landesgeschichte Braunschweigisches Jahrbuch Fontes rerum Bernensium Go¨rresgesellschaft. Vero¨ffentlichungen der Sektion fu¨r Rechts- und Staatswissenschaft Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete Hansische Geschichtsbla¨tter Historische Studien Historische Zeitschrift Kurtrierisches Jahrbuch Landeskundliche Vierteljahrsbla¨tter Lexikon des Mittelalters Niedersa¨chsisches Jahrbuch fu¨r Landesgeschichte Niedersa¨chsisches Landesarchiv Nu¨rnberger Forschungen Oberrheinische Studien Osnabru¨cker Geschichtsquellen Osnabru¨cker Mitteilungen Osnabru¨cker Urkundenbuch Patrologiae Latinae tomus, accurante J.-P. Migne Publikationen aus den Preußischen Staatsarchiven Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Mu¨nster Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Quellenwerk zur Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft Receuil Diplomatique du Canton de Fribourg Regesta Imperii, Die Regesten des Kaiserreichs Rheinisches Archiv Rheinische Vierteljahrsbla¨tter Schweizer Zeitschrift fu¨r Geschichte Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, II. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Bern Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, II. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Freiburg Staatsarchiv Stadtarchiv Sta¨dteforschung, Reihe A: Darstellungen Sta¨dteforschung, Reihe C: Quellen Trierer Zeitschrift fu¨r Geschichte und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete Vero¨ffentlichungen der Historischen Kommission fu¨r Niedersachsen und Bremen

Verzeichnis der Abku¨rzungen und Siglen VHKomWestf VInstEurG VKomGLdkdBW VMPI VSWG VuF ZBayLG ZHF ZThK

Vero¨ffentlichungen der Historischen Kommission fu¨r Westfalen Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r Europa¨ische Geschichte Vero¨ffentlichungen der Kommission fu¨r geschichtliche Landeskunde in Baden-Wu¨rttemberg Vero¨ffentlichungen des Max-Planck-Instituts fu¨r Geschichte Vierteljahrschrift fu¨r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Vortra¨ge und Forschungen Zeitschrift fu¨r bayerische Landesgeschichte Zeitschrift fu¨r Historische Forschung Zeitschrift fu¨r Theologie und Kirche

11

EINLEITUNG von Thomas Lau

„Soviel ich mich (...) erinnere, hat Hythlodeus erza¨hlt, jene Bru¨cke von Amaurotum u¨ber den Fluß Anydrus sei 500 Doppelschritte lang. Mein Johannes aber meinte, man mu¨sse 200 abziehen; der Fluß sei dort nicht breiter als 300 Doppelschritte. Besinne Dich doch bitte noch einmal darauf!“1 Der Autor des Textes rang um Genauigkeit. Die Welt wollte vermessen und fu¨r Missionare wie Kaufleute erschlossen werden. Augenzeugen wurden befragt, Fakten gegeneinander abgewogen und Vergleiche vorgenommen. Der Geograph sammelte Wissen und ordnete es nach vorgegebenen Erwartungsmustern.2 In diesem Falle hieß das Eiland, dessen morphologische Beschaffenheit ebenso wie seine politischen Strukturen und kulturellen Gegebenheiten beschrieben wurden, Utopia. Schon der Name Utopia, den der Autor Thomas More wa¨hlte, ließ keinen Zweifel aufkommen: Hier handelte es sich um einen nur scheinbar authentischen Bericht.3 Voller hintergru¨ndigem Spott konfrontierte More seinen Leser mit der verschwommenen Grenze zwischen Fiktion und Realita¨t.4 Indem er ausdru¨cklich seine Landesbeschreibung den Berichten zeitgeno¨ssischer Seereisenden anglich, stellte er zugleich deren Wert in Frage.5 1 Thomas More, Ein wahrhaft kostbares und ebenso beko¨mmliches wie kurzweiliges Buch u¨ber die

beste Staatsverfassung und die neue Insel Utopia, verfasst von dem hochberu¨hmten Thomas Morus, Bu¨rger der weltbekannten Stadt London. Unter Mithilfe des Magisters Peter Aegid aus Antwerpen. Ins Deutsche u¨bersetzt von Gerhart Ritter, Frankfurt a. M. 1986. 2 Einen U ¨ berblick zu den Versuchen, ethnographisches, nautisches und geographisches Wissen zu sammeln, zu ordnen und zuga¨nglich zu machen, sowie den Widersta¨nden, auf die die spanischen Beho¨rden im 16. und 17. Jahrhundert trafen, gibt: Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Ko¨ln/Weimar/Wien 2009; Ders., Die Fragebo¨gen des spanischen Indienrates. Ein Beschreibungsstandard in der kolonialen Praxis, in: Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg, Ko¨ln/Weimar/Wien 2012, S. 155–176. 3 Das ironische Spiel mit dem Utopiabegriff thematisiert: Guido Isekenmeier, Das beste Gemeinwesen? Utopie und Ironie in Morus’ Utopia, in: Thomas Morus’ Utopia und das Genre der Utopie in der Politischen Philosophie, hg. v. Ulrich Arnswald/Hans-Peter Schu¨tt, Karlsruhe 2010 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/), S. 37–54. 4 Nina Chordas, Forms in Early Modern Utopia. The Ethnography of Perfection, Burlington 2010. 5 Die antiken Vorgaben (vor allem Plato) wurden vor allem durch den Hinweis auf Amerigo Vespucci in einen neuen Kontext gestellt. Vgl.: Tzvetan Todorov, The Morals of History, Minneapolis 1995, S. 104. Gerard B. Wegemer, Thomas More on Statesmanship, Washington D. C. 1996, S. 101. Zum Einfluss der antiken Vorgaben: Anthony Thomas Grafton, New Worlds, Ancients Texts. The Power of Tradition and the Shock of Discovery, Havard 1992, S. 55.

14

Thomas Lau

Im Grunde zweifelte er gar an der Mo¨glichkeit, einen Raum exakt in Zahlen und Begriffen zu erfassen. Die Interessen der Beschreibenden, die jede Beobachtung auf die Situation im eigenen Lande bezogen und sich untereinander im Wettlauf um die bedeutendste Entdeckung befanden, wurden von ihm genu¨sslich als ein wesentlicher Hinderungsgrund ins Spiel gebracht. Ein anderer bestand darin, dass die Beschaffenheit ferner La¨nder den Bedu¨rfnissen des Geographen entgegenstand. More demonstrierte dies, indem er Utopia als Idealfall eines zu beschreibenden Objektes konstruierte. Es handelte sich um eine – ku¨nstlich geschaffene – Insel, die damit u¨ber eine klare Grenze verfu¨gte. Innerhalb des Landes waren Land und Stadt sauber voneinander geschieden. Auch gab es keinen Zweifel daru¨ber, ob eine Agglomeration den Status der Urbanita¨t besaß oder nicht, war doch jede der 54 Sta¨dte exakt gleich groß, gleich beschaffen und befand sich im immer gleichen symmetrischen Abstand zur na¨chsten Stadt. Kannte man eine Agglomeration, so More, so kannte man jede. Selbst die Migration zwischen Stadt und Land sowie das wirtschaftliche Verha¨ltnis zwischen beiden waren klar geregelt und schienen jeder zeitlichen Entwicklung enthoben zu sein. Utopia war damit fu¨rwahr ein Nicht-Ort. Es war ein Ideal, das den Vorstellungen platonischer Philosophie entsprach und von den Realita¨ten Europas, die More in einem ersten Abschnitt a¨ußerst kritisch diskutiert hatte, denkbar weit entfernt war. Die Versuchung, so machte er deutlich, war dementsprechend groß, das, was sich hier nicht finden ließ, auf anderen Kontinenten zu entdecken: die eindeutige Grenze zwischen Stadt und Land, ebenso wie die klare Trennung eines sich selbst genu¨genden Landes von seiner Umgebung. Die mit idealisierten Zielvorstellungen vermengten Reisebeschreibungen seiner Zeitgenossen waren nach Mores Dafu¨rhalten offenbar kaum von einer Fiktion zu trennen. Seine Utopia sollte damit nicht nur eine Reflexion u¨ber das England seiner Zeit bieten. Der Autor der Schrift ging auch hart mit den Konstrukteuren von Idealen ins Gericht, die im politischen Gescha¨ft scheitern mussten, und mehr noch mit denen, die durch scheinempirische Belege meinten, Beweise fu¨r ihr Menschenbild und ihre Gesellschaftsmodelle gefunden zu haben.6 Tatsa¨chlich, so zeigte More, waren Regeln menschlichen Zusammenlebens zu kompliziert und zu wandelbar, als dass sie sich in ein koha¨rentes Modell zwingen ließen. Schlimmer noch, selbst die Begriffe und Beobachtungskategorien, derer sich die Beobachter bedienten, waren bei genauem Hinsehen kulturelle Konstrukte. Dem Raum als scheinbar eindeutige Grundlage der Beobachtung galt dabei seine besondere Aufmerksamkeit. Die Grenze, die klare Benennung ra¨umlicher Gegebenheit, selbst die Auskunft, welche Entfernung zwischen Punkten lag, erhielten bei More einen standpunktabha¨ngigen, geradezu fiktionalen Charakter.7 Dennoch ließen seine

6 Zu dem intellektuellen Umfeld der Schrift von Thomas More sowie seinem Spiel mit der Differenz

zwischen theoretischem Anspruch und praktischen Mo¨glichkeiten: Quentin Skinner, Sir Thomas More’s Utopia and the language of Renaissance humanism, in: The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, hg. v. Anthony Pagden, Cambridge 1987, S. 123–157. 7 Dazu More in seinem dem Werk vorangestellten Schreiben an Peter Giles, das das Verwirrspiel auf die Spitze treibt: „But now as he doubts whether Utopia is real or imaginary, I in turn demand his real opinion. I do not indeed deny that if I had determined to write about a commonwealth, and the

Einleitung

15

Zeitgenossen nichts unversucht, um dem Raum Grenzen zu verleihen und ihn damit zu fixieren. Dieses Bedu¨rfnis war, wie More nicht mu¨de wurde dem Leser vor Augen zu fu¨hren, sta¨rker als die Realita¨t – nach Ansicht des Autors ein ho¨chst gefa¨hrliches Pha¨nomen. Einen Staat wie Utopia zu errichten, war na¨mlich unmo¨glich. Die Dynamik sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen ließ sich nicht einfach einfrieren. London zu verkleinern und England mit einem Netzwerk von gleich großen Sta¨dten zu versehen, war ein ebenso illusiona¨res Unterfangen wie die von einer seiner Figuren vorgebrachte Idee, die Habsburger vor die Wahl zu stellen, welches ihrer Ko¨nigreiche sie behalten wollten. More hielt wenig von Bemu¨hungen, klare Grenzen zu fixieren, Herrschaftsrechte zu zentralisieren und rivalisierende Ma¨chte zu verdra¨ngen. Die Ra¨ume, in denen er und seine Zeitgenossen sich zu bewegen hatten, waren, wie er dem Leser vor Augen fu¨hrte, ho¨chst wandelbare Konstrukte. Die am Beginn der Neuzeit vorsichtig zum Ausdruck gebrachten Zweifel an zentralisierten, hegemonialen, klar begrenzbaren Ordnungen des Raumes, aber auch an der Brauchbarkeit eines voraussetzungslosen Raumbegriffes ist keineswegs mit dem Lordkanzler 1535 begraben worden. Die Dominanz des Nationalstaatsdenkens hat kritische Stimmen indes u¨berdeckt. Geographie und Geschichtswissenschaft wurden etwa von Johann Gustav Droysen in der Position der Analytiker des scheinbar Gegebenen gesehen. Der Politiker und Historiker sah im Verha¨ltnis zwischen Raum und Zeit als grundlegenden Untersuchungsparametern die natu¨rliche Trennlinie zwischen zwei distinkten Feldern des Wissens.8 Der Raum stand bei ihm fu¨r das Unvera¨nderliche, das zyklisch Ru¨ckgebundene der belebten wie der unbelebten Natur, wa¨hrend der Mensch und mit ihm die Gesellschaft sich dynamisch entwickelten. Der Raum sei daher die wesentliche Forschungskategorie der Naturwissenschaften, die Zeit jene der Geschichtswissenschaft. Die Bedeutung des Raumes fu¨r den Historiker lag nach dieser Vorstellung in seiner Eigenschaft als Vorbedingung des Handelns in der Zeit. Der Mensch, seine Familie, sein Staat bedurften eines Ortes zum Leben und eines Raumes zur Interaktion. Das Versta¨ndnis des Raumes als einer naturgegebenen, nur durch den Menschen entwicklungsoffen vera¨nderbaren Bu¨hne, blieb nicht unangefochten. So hat Susanne ¨ berblicksdarstellung zeigen ko¨nnen, dass gegenteiRau ju¨ngst in einer erhellenden U lige Positionen, die dem Raum keine eigene Existenz zugestanden, sondern ihn als idea of one had formed itself in my mind, I would not perhaps have thought it a sin to add fictious details so that the truth, thus coated with honey, might be more palatable to my readers. But in that case even if I had wished to abuse the ignorance of the unlearned, I should certainly not have omitted to insert indications by which scholars would easily have been able to see through my design. I had done nothing else I should at least have given such names to the prince, the river, the city, the island, as would have warned the skilful reader that the island exists nowhere, that the city is of shadows, the river without water, and the prince without people. It would not have been difficult to do and would have been much more witty. Unless truth had compelled me, I should certainly not have been so stupid as to use those outlandish, meaningless names, Utopia, Anyder, Amaurote, Ademus.“ (Thomas More, Utopia, London 1997, S. 18). 8 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig 1868 (insbesondere der Abschnitt „Natur und Geschichte“).

16

Thomas Lau

Produkt der Relation zwischen Gegensta¨nden und Akteuren sahen, in der Forschung stets pra¨sent blieben. Dies schlug sich etwa in den Arbeiten Braudels, vor allem aber in jenen Henri Lefebvres nieder, die den Raum als ein Produkt menschlichen Handelns und weniger als dessen Voraussetzung ansahen. So gesehen, ist der „spatial turn“, der 1989 ausgerufen wurde, nichts Neues. Kritik am absoluten Raumversta¨ndnis – der gern mit dem Schlagwort vom Containerraum belegt wird – ist nicht neu, sie ist allenfalls (vor allem vor dem Hintergrund der Krise des Nationalstaates) lauter geworden. Die Idee, der Raum sei etwas Geschaffenes, ist das eine, die Vorstellung, dass die Grenze zwischen Scho¨pfer und Scho¨pfung fließend ist, wie dies die neuere Raumsoziologie erla¨utert, indes etwas anderes.9 Ist der Raum weder materiell existent noch Voraussetzung fu¨r die Existenz des Materiellen, so ist er allenfalls eine Wahrnehmungskategorie. Realita¨t erha¨lt er durch die Konstruktions-, vor allem aber durch die Kommunikationsleistung des Individuums.10 Diese Perspektive hat nicht die Negierung materieller Gegebenheit, die dieses Handeln ermo¨glichen und begrenzen, zur Vorrausetzung.11 Vielmehr kann das Materielle genutzt werden, um die eigene Wahrnehmung zu materialisieren und zu kommunizieren. Die Wahrnehmung wird zur Grundlage der Ordnung der Materie genommen und umgekehrt. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn nicht der Raum als naturgegebene Grundlage des Seins konstruiert wird, sondern die Ordnung der Dinge die Grenzen eines Raumes gegenu¨ber einem anderen gleichfo¨rmig gedachten festlegt. Diese gedanklichen Basteleien auf der Basis physischer Anknu¨pfungspunkte sind vor allem kommunizierte Orientierungsraster des Individuums fu¨r andere Individuen und damit eine Einladung zum gemeinsamen Spiel im und mit dem entwickelten Konstrukt. Die Strategie der Akteure ist dabei durch ihr Handlungsziel gepra¨gt, eigene Raumbilder zur Grundlage des Denkens anderer zu machen und damit das Risiko eigenen Handelns zu begrenzen. Gelingen kann dies nur, wenn die Erwartungen der Umwelt im individuellen Konstruktionsprozess des Raumes beru¨cksichtigt werden. Dies hat, wie Giddens feststellt, Folgen: Individuen erdenken den distinkten Raum nicht nur, sie sind auch in ihm gefangen.12 Die Interaktion la¨sst ein Repertoire von Elementen und Verknu¨pfungsmo¨glichkeiten entstehen, die die Freiheit der Akteure einschra¨nken. Innerhalb dieses Rahmens ist vieles mo¨glich. Der Raum von gestern kann morgen bereits neu geordnet worden sein. Orientierungsmuster ko¨nnen u¨berschrieben, Gegensta¨nde mit neuen 9 Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. v. Jo¨rg Do ¨ ring/Tris-

tan Thielmann, Bielefeld 2008.

10 Erstmals tauchte der Begriff offenbar in einer Zwischenu¨berschrift auf: Edward Soja, Post Modern

Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, Verso 1989, S. 39. Als wichtiger Vorla¨ufer der Raumdiskussion sei genannt: Henri Lefebvre, La prodution de l’espace, Paris 1974. 11 Vgl. dazu die sich in Deutungskonkurrenz befindlichen Theorien von Werlen und Lo¨w: Benno Werlen, Gesellschaft, Handlung und Raum, Grundlagen handlungstheoretischer Sozialgeographie, Stuttgart (3) 1997; Martina Lo¨w, Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2007; Martina Lo¨w/Silke Steets/Sergej Stoetzer, Einfu¨hrung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen 2008. 12 Anthony Giddens, The Constitution of Society, Cambridge 1984.

Einleitung

17

Bedeutungen aufgeladen, Grenzen verschoben werden. Ra¨ume sind zwar nicht beliebig vera¨nderbar, aber dennoch ho¨chst verwandlungsfa¨hig. 13 Sta¨dte bilden fu¨r jene, die den Raum neu zu beschreiben, zu begrenzen und mit Bedeutung zu versehen versuchen, ein ideales Beta¨tigungsfeld.14 Wird die gleichma¨ßige Verteilung von Menschen, Geba¨uden und Gu¨tern als maximaler Zustand der Ordnung begriffen, so sind Sta¨dte der Inbegriff der Unordnung. Sie sind – dies wird gerade im Kontrast zu Thomas Mores Utopia deutlich – Sto¨rungen im gleichfo¨rmig gedachten Raum. Ihr von Geographen, Historikern oder Soziologen immer wieder genanntes Hauptkennzeichen ist die Asymmetrie. Die Stadt ist dichter bebaut als das Land, sie verbraucht mehr Prima¨rgu¨ter, als sie erzeugt, sie stellt ein Mehr an Dienstleistungen zur Verfu¨gung, als ihre Bewohner brauchen, sie ist aufgrund der permanenten Konfrontation mit Fremden und der Interaktion zwischen zahlreichen Kleinstgemeinschaften durch ein komplexeres Sozialverhalten gekennzeichnet und besitzt eine ho¨here Kommunikationsdichte. All dies ist unbestritten, doch bleibt die Frage offen, welches die Grenzlinie zwischen Stadt und Nichtstadt ist.15 Wann ist die Asymmetrie so groß und hinreichend permanent, dass aus einem großen Dorf eine kleine Stadt wird?16 In der Praxis ist die Kla¨rung dieser Frage nur schwer mo¨glich. Eine Option besteht darin, spezifisch sta¨dtische Verhaltensweisen, Kommunikationsstrukturen oder bauliche Merkmale als Kriterium zu verwenden. Diese Methode beruht auf der Vorannahme, dass aus der stabilen Verdichtung von Interaktionen etwas spezifisch Urbanes hervorgeht. Die Stadt wa¨re damit mehr als die Summe der sie konstituierenden Handlungen. Ein Vorteil dieser Definition liegt darin, dass sie die Stadt rein operationell betrachtet. Nicht was sie ist, sondern was sie bewirkt, steht im Vordergrund der Betrachtungen.17 Die Suche nach den Spezifika urbaner Kommunikation gestaltet sich indes nicht weniger schwierig als die Fahndung nach unwiderlegbaren morphologisch-statistischen Charakteristika: Keine Stadt gleicht der anderen. Ihre Gro¨ße, die wirtschaftliche Potenz ihrer Einwohner, die Gu¨terverteilung innerhalb der Stadt, ihre Lage an Verkehrslinien, die politische Interessenbildung und Macht ihrer Nachbarn – all dies weist erhebliche Unterschiede auf. Hinzu kommen die mannigfaltigen unterschiedlichen Entscheidungen, die die Akteure treffen und die jedes einzelne Gemeinwesen 13 Markus Schroer, Ra¨ume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt

a. M. 2007, S. 227ff.

14 Karl Schlo ¨ ber Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frank¨ gel, Im Raume lesen wir die Zeit. U

¨ berblick zu den Unterschieden zwischen Raumtheorie, topografurt a. M. 2006. Einen wichtigen U phischem und topologischem Ansatz gibt: Stephan Gu¨nzel, Spatial Turn – Topographical Turn – ¨ ber die Unterschiede zwischen Raumparadigmen, in: Spatial Turn (wie Anm. 9), Topological Turn. U S. 219–237. 15 Dietrich Denecke, Der geographische Stadtbegriff und die ra¨umlich funktionale Betrachtungsweise bei Siedlungstypen mit zentraler Bedeutung in Anwendung auf historische Siedlungsepochen, in: ders., Wege der historischen Geographie und Kulturlandschaftsforschung. Ausgewa¨hlte Beitra¨ge, hg. v. Klaus Fehn/Anngret Simms, Stuttgart 2005, S. 111–131. 16 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Ma¨chte; Nachlaß; Teilbd. 5, Die Stadt, hg. v. Wilfried Nippel, Tu¨bingen 1999. 17 Jo¨rg Oberste, Einfu¨hrung: Verdichtete Kommunikation und sta¨dtische Kultur, in: Kommunikation in mittelalterlichen Sta¨dten, hg. v. Dems., Regensburg 2007, S. 7–10.

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Thomas Lau

mit spezifischen strukturellen (vor allem verfassungsrechtlichen) Eigenheiten versehen. Angesichts der mo¨glichen und auch tatsa¨chlichen Vielgestaltigkeit des Pha¨nomens Stadt erscheint es nicht nur zweifelhaft, morphologische oder soziologische Kategorien vorlegen zu ko¨nnen, die Sta¨dte kennzeichnen. Auch spezifisch urbane Formen, Entscheidungen zu treffen, Rituale zu vollziehen oder generell in Kommunikation miteinander zu treten, sind wohl kaum eruierbar. Die Stadt als unverwechselbare Zustandsform menschlichen Zusammenlebens existiert offenbar so wenig als etwas Gegebenes wie jeder andere Raum. Sie ist entweder Konstrukt eines Fremdbeobachters, der die Agglomeration aus zeitlicher, ra¨umlicher oder kultureller Distanz betrachtet und ihr die Bezeichnung zuordnet, um Vergleichbarkeit zu gewa¨hrleisten, oder sie ist eine Selbstbeschreibung ihrer Einwohner. Beansprucht die Gemeinde einer Siedlung den Status einer Stadt oder la¨sst sie sich dieses Pra¨dikat verleihen, so tritt sie aus dem Geflecht von Beziehungen, das sie als Lebensraum konstituiert, heraus. Sie wird in einen neuen Kontext gestellt und von der Nichtstadt unterschieden. Die Stadt wird zu einer Stadt neben anderen, die Erwartungen ra¨umlicher „Mo¨blierung“ zu entsprechen hat, die nicht oder zumindest nicht nur von ihr selbst gesetzt sind. Dabei wird sie zwangsla¨ufig zu einem Bestandteil sie u¨berwo¨lbender oder mit ihr in Interaktion tretender Ra¨ume. Die in einem komplexen Prozess von Fremd- und Selbstzuschreibung als Stadt gesetzte Siedlung wird deshalb geradezu zwangsla¨ufig zu einem Raumgenerator.18 Ihre Bewohner bewegen sich nicht nur zwischen den verschiedenen Raumebenen des Hauses, der Gasse, der Nachbarschaft und der Stadt als Ganzer, sie changieren zwischen einander rivalisierenden Raumvorstellungen von der Stadt und ihrer Bedeutung. Die Stadt als Einheit ist in diesem Sinne ein flu¨chtiger Synthesebegriff, den ihre Scho¨pfer durch gedruckte Stadtansichten oder bauliche Zeichen im Kopf des Betrachters zu verankern suchen. Selbst wenn dies gelingt, so bleibt das jeweilige Bild der Stadt nur eine Denk- und Definitionsmo¨glichkeit neben anderen, die situationsabha¨ngig von den Akteuren genutzt werden kann. Es ist diese Multioptionalita¨t, die Sta¨dte fu¨r die Definition von Ra¨umen so interessant macht. Dieselbe Stadt kann gleichzeitig Ankerpunkt, wenn nicht Zentrum, ho¨chst unterschiedlich imaginierter Regionen, Reiche und Einflusszonen sein. Es kann sich dabei um rein virtuelle Konstrukte handeln, aber auch um Versuche, Interaktionszonen zu beschreiben und zu festigen. Als Knotenpunkt der schriftlichen Kommunikation und Treffpunkt permanent und zeitweilig Anwesender bilden viele Sta¨dte immer wieder wechselnde Anla¨sse und Anknu¨pfungspunkte fu¨r derartige Konstruktionsleistungen. Als Sto¨rung des gleichfo¨rmigen Raumes verfu¨gt die Stadt u¨ber ein reichhaltiges Repertoire von vielfa¨ltig verknu¨pfbaren baulichen Zeichen. So bietet sie die Mo¨glichkeit, vorgestellten Gemeinschaften einen greifbaren Realita¨tsbezug zu geben und sie fu¨r das Individuum erfahrbar zu machen.

18 Jo¨rg Oberste/Susanna Ehrich, Einfu¨hrung: Stadt, Stadtraum, Sta¨dtelandschaft – Ra¨ume als Analy-

sekategorie der media¨vistischen Sta¨dteforschung, in: Sta¨dtische Ra¨ume im Mittelalter, hg. v. Dens., Regensburg 2009, S. 7–13.

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Dass der moderne Beobachter Schwierigkeiten hat, diese Vielgesichtigkeit kategorial zu erfassen, ist bezeichnend. Die Suche nach klaren Zuordnungen und damit das Denken in hegemonialen Ra¨umen, die allenfalls eine vertikale Pluralita¨t, keineswegs aber eine Pluralita¨t der Optionen zula¨sst, scheinen Kennzeichen der Moderne zu sein. Die Vorstellung, eine Region oder gar ein Herrschaftsraum (ein Staat) ko¨nnte als handlungsleitende Vorstellung von Akteuren nur in bestimmten Situationen, oder besser: unter bestimmten Konstellationen, realisiert werden, um kurz darauf von anderen Modellen abgelo¨st zu werden, ist offenbar nur schwer zu akzeptieren. Die Mo¨glichkeiten, Sta¨dte in ein Vorstellungsmuster einzuordnen, u¨ber sie zu reden und ihnen zugleich eine u¨ber sie hinausweisende Bedeutung zu geben, vera¨ndern sich, wie diese Erfahrung der Unzuga¨nglichkeit des Vergangenen verdeutlicht, im Zeitverlauf. Sie weisen aber auch je nach kulturellem Kontext Differenzen auf. Da die Stadt ein gedankliches Konstrukt ist, das eine Siedlung in einen u¨bergeordneten Kontext stellt, ist die Erforschung ihrer Geschichte zugleich ein Versuch, die Mo¨glichkeiten, u¨ber sie zu sprechen sowie die Folgen, die diese Denklimitation und Denkoptionen auf das Handeln von Akteuren haben, zu rekonstruieren. Der vorliegende Sammelband soll dazu einen Beitrag leisten. Neuzeithistoriker, Media¨visten und Kunsthistoriker haben in ihm u¨ber Ra¨ume innerhalb eidgeno¨ssischer, deutscher und italienischer Sta¨dte geschrieben und u¨ber deren Bedeutung fu¨r die Konstruktion von supraurbanen Ra¨umen. Von Artikel zu Artikel wird dabei der Schwerpunkt langsam von der urbanen auf die supraurbane Ebene verlagert, wobei beides – wie erwa¨hnt – untrennbar miteinander verwoben ist. Kirchen bilden in der Gestaltung des Stadtraumes eine besondere Bedeutung. Sta¨rker noch als das Rathaus, der Kornspeicher oder das Zeughaus geben ihre weit aufragenden Tu¨rme und weiten Hallen dem Gewirr der Gassen und Geba¨ude optische, der Schall ihrer zur Versammlung rufenden Glocken akustische Bezugspunkte. Sie stellen Zentralita¨t her, sie garantieren die Wiedererkennbarkeit eines Quartiers oder einer ganzen Stadt, indem sie ihnen ein distinktes sozial-sakrales Profil geben. Zugleich markiert die Gestaltung ihres Innenraums die Teilhabe an einer universalen, u¨ber das Sichtbare hinausreichenden Gemeinschaft. Die sta¨dtische und die himmlische Patria werden hier zusammengefu¨hrt. Bilddarstellungen ko¨nnen dabei, wie Peter Stephan in seiner Analyse der Darstellung des Ju¨ngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle zeigt, wie Tore zum Jenseitigen wirken. In Michelangelos grandiosem Gema¨lde lo¨sen sich Raum und Zeit geradezu auf. Das zuku¨nftige Geschehen wird fu¨r den Betrachter schon jetzt gegenwa¨rtig, das Jenseits ist schon jetzt fu¨r ihn fassbar und fordert ihn zu unmittelbarem Handeln auf. Der Ort dieser Offenbarung ist nicht irgendeiner. Michelangelo wa¨hlt fu¨r sein Meisterwerk einen prominenten Kirchenraum innerhalb der Stadt Rom und unterstreicht damit zugleich dessen Bedeutung. Von hier aus – so die Botschaft des Ku¨nstlers (und des kurialen Auftraggebers) – wird die Stadt und mit ihr die Christenheit, als deren Mittelpunkt sie verstanden wird, gepra¨gt. Rom wird hier nicht als eine wirtschaftlich soziale Einheit, sondern als eine Gemeinschaft verstanden, die sich aus innerer Teilhabe ihrer Glieder speist, und die potentiell weit u¨ber die Mauern der Stadt hinausreicht. Der Handlungsauftrag, den der Maler dem Betrachter gibt, ist durchaus brisant. Der Gestalter des Kirchenraums klagt an und ergreift Partei.

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Kirchen sind damit nicht nur urbane Sinngeber, sie ko¨nnen auch zu Schaupla¨tzen des Streites, ja, des Kampfes um die sakrale Orientierung der Stadtgemeinde werden. Dies gilt vor allem dann, wenn sakrale Gemeinschaftsvorstellungen miteinander rivalisieren, die einander ausschließen und die Gemeinde sich entscheiden muss, in welche hegemoniale Sakralgemeinschaft sie sich einordnen soll. Mit der Konfessionsbildung wird dieses Problem virulent, werden doch die Mo¨glichkeiten, die Stadt als Teil eines Supraraumes zu denken, nunmehr eingeschra¨nkt. Die Konstrukteure der Sakralgemeinschaft „Konfession“ dra¨ngen auf eine klare Wahl – die Stadt muss sich positionieren. Was aber geschieht, wenn sie – meist aufgrund a¨ußerer Einwirkung – an einer solchen Entscheidung gehindert wird oder die Bu¨rgerschaft in zwei oder mehr Konfessionen zerfa¨llt? Vera Isaiasz stellt die Auswirkungen dieses Dilemmas am Beispiel der Kirchenneubauten in Berlin zwischen 1680 und 1720 dar. Sie kann aufzeigen, wie Multikonfessionalita¨t eine repressive Haltung der Obrigkeit gegenu¨ber orientierungsstiftenden Binnengestaltungen des Kirchenraums erzwingt. Die neuen Berliner Kirchen werden ihrer Funktion, eine Klammer zwischen himmlischer und sta¨dtischer Patria zu bilden, entkleidet. Sie erhalten den Charakter von geistlichen Versammlungsorten, die neben gleichgearteten Ra¨umen ihren Platz finden. In ihnen wird zwar einzelnen Bu¨rgern ein Platz in einer universalen Gemeinschaft, einem globalen Sakralraum zugewiesen, nicht aber der Bu¨rgergemeinde als Ganzer. Nicht mehr das Ensemble der aufeinander verweisenden Kirchen gibt der Stadt Zusammenhalt und Sinn, sondern Profangeba¨ude, die eine Gemeinschaft repra¨sentieren, die das Trennende u¨berwo¨lbt. So wichtig die Gestaltung des Innenraumes eines o¨ffentlichen Geba¨udes ist, so wichtig ist also auch der Kontext, in dem er steht. Er begrenzt und erweitert zugleich die Mo¨glichkeiten, die Ballung von Behausungen, aus denen die Stadt besteht, mit Bedeutung aufzuladen. Beansprucht eine Siedlung, nicht nur als Stadt anerkannt zu werden, sondern mehr noch innerhalb eines u¨berwo¨lbenden Raumes eine prominente Position einzunehmen, so muss sie an vorhandene Bilder des Urbanen anknu¨pfen, sie adaptieren und variieren. Rom und Jerusalem sind hier die ga¨ngigen Bezugspunkte. Dabei ist nicht das reale, steinerne Jerusalem der jeweiligen Gegenwart die Quelle, aus der die Zeitgenossen scho¨pften, sondern – wie Joachim Schmidt ausfu¨hrt – das Bild, das von diesem als Mittelpunkt des Universums gedachten Ort vermittelt wurde. Es galt, die eigene Stadt nach dem Muster Jerusalems zu gestalten, nicht im Sinne eine Plagiats, sondern einer Aneignung des Vorbildes. Jerusalem sollte in den eigenen Mauern neu erstehen. Das Bild von der Heiligen Stadt und die Gestalt der mitteleuropa¨ischen Agglomeration wurden auf diesem Wege aneinander angena¨hert. Dieser flexible Umgang mit dem permanent neu ausgestalteten kulturellen Geda¨chtnis ermo¨glichte es, das Zeichensystem Stadt polyvalent zu halten. Es war nicht notwendig, nur einem urbanen Leitbild nachzustreben. Neben Jerusalem konnte auch Rom bei Bedarf an neuem Orte erschaffen werden. Sabine Reichert zeigt am Beispiel Triers, dass auch in diesem Fall die Kopie der Sakraltopographie keineswegs Voraussetzung fu¨r die Formulierung eines solchen Anspruches war. Im Bedarfsfall wurden bei Prozessionen die Stadttore durchschritten, um Fehlendes durch die Integration des Umlandes zu erga¨nzen. Die Gemeinschaft der sich bewegenden Gemeinde erschuf auf diesem Wege eine unsichtbare neue Stadtmauer, die es

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ihr erleichterte, den Anspruch der Stadt auf imperiale Tradition und zentrale Positionierung in der ro¨mischen Welt zu unterstreichen. Das Zeichensystem Stadt konnte damit zwar nicht beliebig neu geformt und u¨berformt werden, der vorhandene Spielraum war jedoch betra¨chtlich und wurde von Einzel- und Gruppenakteuren immer wieder genutzt, um ihr Bild der Stadt im kollektiven Geda¨chtnis zu fixieren. Volker Reinhardt demonstriert dies am Beispiel Roms, dessen Tru¨mmer- und Kirchenlandschaft von den Papstfamilien genutzt wurde, um immer neue Versuche zu unternehmen, die ewige Stadt zum Ort gentila¨rer Verherrlichung zu machen. Wenngleich die Nachfolgenden die Erinnerung an die jeweiligen Vorga¨ngerfamilien in den Hintergrund zu dra¨ngen suchten, wurde auf intensive Reinigungsaktionen verzichtet. Die Mo¨glichkeit, den Raum gleichzeitig auf verschiedene Arten denken und interpretieren zu ko¨nnen, wurde akzeptiert. Dem wandelbaren, vielfach deutbaren Raum, der nur situativ stabilisiert und fixiert wurde, entsprach die Vielgesichtigkeit ihrer Gestalter. Auch sie scheuten sich vor Festlegungen, die ihre Bewegungsfreiheit einengten. Michael Hechts Untersuchung zu den fu¨hrenden Familien mittel- und norddeutscher Sta¨dte zeigt uns gentila¨re Verba¨nde, die die Kategorie des Patriziats nutzten, um sich im Bedarfsfall urban oder landadelig zu geben. Eine Fixierung des Status wird so lange vermieden, bis sie von anderen Akteuren nach langwierigen Konflikten erzwungen wird. Die mit fließenden Grenzen sich in verschiedene Ra¨ume zugleich positionierende Stadt wurde von Akteuren gepra¨gt, die aus der Polyvalens Nutzen zogen, da sie ihr die Mo¨glichkeit gab, an verschiedenen Raumkonstrukten Teil zu haben, ohne das Eindringen a¨ußeren Einflusses fu¨rchten zu mu¨ssen. Die sta¨dtischen Eliten Freiburgs etwa schufen sich, so Rita Binz, ein eigenes eidgeno¨ssisch urbanes Soziotop, das sich jeder juristischen und sozialen Einordnung letztlich entzog. Ihr Freiburg war Tor zur Welt und Refugium in einem. Die Stadt war indes mehr als ein Geschlechterverband, dessen einzelne Teile immer neue, auf den eigenen Bedarf zugeschnittene Interpretationen des Urbanen und des Transurbanen zu entwickeln versuchten. Sie war auch eine Agglomeration von Gemeinschaften, wie die von Eric Piltz untersuchten Nachbarschaften. Sie bildeten Foren, auf denen Handwerker und Kleinha¨ndler ihre Interessen und ihre Erwartungen an die Stadt formulierten. Wer auch immer Deutungsangebote des Sta¨dtischen entwickelte und seine Rolle in einem u¨bergeordneten Rahmen zu erkla¨ren suchte, hatte auf diesen Bu¨hnen zu bestehen. Was dem bonum commune der Stadt entsprach, wurde letztlich in dieser Vielzahl von Kleinstgemeinschaften ausgehandelt, die um gemeinsame Bezugspunkte rangen. Was vor allem in den ab dem 16. Jahrhundert entstehenden Stadtveduten als natu¨rliche Siedlungseinheit erschien, war tatsa¨chlich eine unu¨berschaubare Vielzahl von abgeschlossenen Einheiten, die durchaus – zumindest situativ – als getrennte Ko¨rperschaften bestehen konnten. Die Frage etwa, ob Bamberg zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert als Stadt zu bezeichnen war, oder ob es sich nicht eher um eine Ansammlung voneinander unabha¨ngiger Sta¨dte handelte – wie Claudia Esch erla¨utert – konnte schon Zeitgenossen irre machen. Die Trennung zwischen der Bischofsstadt und den Immunita¨ten ließ sich nur angesichts der Gerichtsbezirke als klare Grenzziehung nachvollziehen. In Fragen der Verteidigung der Stadt (insbesondere der Errichtung von Mauern), der Marktrechte und des Bu¨rgerrechts ließen sich keine klaren Trennungen feststellen. Selbst in Zeitabschnit-

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ten, in denen die beiden Teilsta¨dte miteinander im Konflikt lagen – wie dem sogenannten Immunita¨tenstreit des 15. Jahrhunderts – blieb die Mo¨glichkeit zur Kooperation erhalten. Wer oder was zu Bamberg geho¨rte, blieb daher bis ins 18. Jahrhundert hinein eine Frage, die von den Beteiligten immer wieder aufs Neue entschieden werden musste. Die Stadt und der Raum, in den sie positioniert wurde, durchdrangen einander, waren untrennbar miteinander verwoben. Stadtansichten von Florenz, die zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert entstanden, verdeutlichen, wie Silke Kurth ausfu¨hrt, nicht nur wie unscharf die Grenzlinie der Stadt gezogen wurde, sondern auch, dass die jeweilige Definition der Beziehung zwischen Stadt und Umland ein brisantes Politikum darstellte. Ob die Stadt dem Betrachter als eine geschlossene statische Entita¨t gegenu¨bertrat, ausgerichtet auf den Palazzo Vecchio und geradezu isoliert im Raum schwebend, oder ob sie u¨ber Straßen – als Ra¨umen der Bewegung – mit dem Umland vernetzt war, stellte einen erheblichen Unterschied dar. Es ist jener zwischen einer auf sich selbst bezogenen Stadtrepublik und einem auf das Umland ausgreifenden Fu¨rstentum. Durch die behauptete Pra¨gung des Umlandes ero¨ffneten sich fu¨r das Zentrum neue Mo¨glichkeiten der Selbstinszenierung. Leitbilder des Urbanen (wie das Jerusalem- oder Rommotiv) ließen sich mit singula¨ren, aus dem neu generierten Umland gewonnenen Spezifika anreichern. Die an den Markusplatz angelehnte Neugestaltung der Piazzi auf der Terraferma demonstriert eindrucksvoll, wie die Republik Venedig ihre Dominanz nutzt, um ein unterscheidbares Profil des Imperialen herauszubilden. Nicht verordnete Uniformita¨t, so Daniel Leis, sondern die zivilisatorische Kraft der sanften Regentschaft der Lagunenrepublik wurde hier zur Schau gestellt. So durften regionale Heiligensa¨ulen neben dem Markuslo¨wen platziert werden, um die Sta¨dte der Terraferma dem großen Vorbild a¨hnlich, aber nicht gleich zu machen. Der Raum, der auf diese Weise im Halbkreis um Venedig herum entstand, war daher nicht als vermessbare, homogene Fla¨che zu denken. Er entstand vielmehr aus der Verknu¨pfung einzelner Sta¨dte, die ihr Haupt unter das sanfte Joch Venedigs beugten. Wie der sta¨dtische Raum selbst, so war auch das von der Stadt dominierte Territorium und insbesondere das Verha¨ltnis zu unterworfenen Sta¨dten, wie das Beispiel Venedig andeutet, einem laufenden Wandel unterworfen. Ba¨uerliche Gemeinden, landsta¨dtische Notabeln und deren Bu¨rgerschaften hatten sich zwischen dem Ordnungsversprechen des sta¨dtischen Landesherrn, regionalen Bindungskra¨ften und wirtschaftlichen Interessen oft auf europa¨ischer Ebene situationsabha¨ngig zu positionieren. Freiburgs Verha¨ltnis zu seinen Landsta¨dten im 18. Jahrhundert zeigt, wie widerspru¨chlich das Bild war, das sich daraus ergab. Wa¨hrend die Ratselite der kleinen Stadt Romont, wie Emanuel Leugger ausfu¨hrt, durch geschlossenes Auftreten, geschickte Krisenpra¨vention und symbolische Unterordnung ein bemerkenswert geschlossenes lokales Kleinsystem etablierte, eskalierte der Konflikt zwischen der Stadt Greyerz und ihren Freiburger Herren zusehends. Verantwortlich fu¨r diese vo¨llig andere Entwicklung war sicher die komplexere Position von Greyerz im eidgeno¨ssischen Raum. Als Ka¨seproduzent von europa¨ischem Rang mit starken regionalen Bindungen und Traditionen, die die ganze ehemalige Grafschaft umfassten, war die Stellung der Greyerzer von Anfang an sta¨rker, sie war aber auch von zahlreichen

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Anspru¨chen verschiedener Akteursgruppen und einer Multioptionalita¨t von Selbstverortungen gepra¨gt. Mo¨glichkeiten und Risiken des Handelns waren daher fu¨r die Greyerzer gro¨ßer als fu¨r ihre Nachbarn in Romont. Dass ihr Verha¨ltnis zum Rat der Stadt Freiburg jedoch vo¨llig außer Kontrolle geriet, hatte noch einen anderen Grund. Dieser hatte von Greyerz die Einordnung unter seine souvera¨ne Macht gefordert. Freiburg hatte – wie in Romont – eine symbolische Unterordnung verlangt, die zugleich die Zugeho¨rigkeit der Stadt zu einem hegemonialen Raum manifestieren sollte. Rivalisierende Raumvorstellungen (wie die Idee eines Waadtla¨nder Rechtsraumes) sollten allenfalls als untergeordnete Ordnungsmuster akzeptiert werden – eine Vorstellung, die fu¨r die Greyerzer nicht akzeptabel war. Der Siegeszug des hegemonialen Raumes, der die Akteure zu Entscheidungen zwang und die Mo¨glichkeit der situationsabha¨ngigen Raumsynthese begrenzte, war zugleich ein Akt der Enteignung. Er verlangte nach Ausgleichsmaßnahmen, wenn er nicht in einen Dauerkonflikt mu¨nden sollte. Ihre Genese war damit ebenso aufwa¨ndig wie konfliktgeladen. Alternativen zu einer solchen Entwicklung waren schon aus diesen Gru¨nden in den Augen der Akteure u¨beraus attraktiv. Ein nonhegemoniales Instrument der Bildung von transurbanen Ra¨umen war in der Eidgenossenschaft bereits seit dem 13. Jahrhundert entwickelt worden: die Verburgrechtung. Burgrechte waren, so Heinrich Speich, keineswegs sta¨dtischen Obrigkeiten vorbehalten. Sie waren a¨ußerst flexible Verbindungen zwischen einer Stadt und einem Vertragspartner – dies konnte eine andere Stadt, aber auch eine Sakralgemeinschaft oder ein Adliger sein. Sie konnten eine intensive Bindung zwischen gleichberechtigten Partnern oder ein Schutzversprechen gegenu¨ber einem Schwa¨cheren begru¨nden. Wirtschafts-, Kommunikations- und politische Ra¨ume wurden durch sie gleichermaßen geschaffen. Ein wichtiger Vorteil des Burgrechtes gegenu¨ber anderen Formen der Verbindung zwischen Kollektivakteuren lag damit in seiner Offenheit. Burgrechte ließen sich ho¨chst unterschiedlich interpretieren, mit Leben fu¨llen und weiterentwickeln. Da es keine dauerhaften, unrevidierbaren Abha¨ngigkeiten fundierte, waren u¨berlappende Verpflichtungen die Regel. Karsten Igels Ausfu¨hrungen zum Verha¨ltnis zwischen der Stadt Osnabru¨ck und ihrem bischo¨flichen Landesherrn erhellen eben diesen Tatbestand aus einer anderen nur scheinbar eindeutigen Perspektive. Das Verha¨ltnis zwischen beiden Seiten war indes keineswegs durch eine klare Asymmetrie der Machtverha¨ltnisse, sondern im Gegenteil durch ein kunstvolles Chaos von Privilegien und Herrschaftsanspru¨chen gekennzeichnet. Es war ein Geflecht von Vereinbarungen, Rechtsabtretungen und informellen Absprachen, die Raum fu¨r Interpretationen ließen. Die offene Verfasstheit zwischen Stadt und Landesherr sicherte dabei beiden Seiten Spielra¨ume, erzwang einen engen Kontakt zwischen ihnen und ermo¨glichte eine flexible Reaktion auf vera¨nderte Machtressourcen. Die Offenheit und Intransparenz all dieser Beziehungen waren zweifellos konflikttra¨chtig. Sie wirkten aber keineswegs zwangsla¨ufig destabilisierend. Sie waren auch der Motor fu¨r die Bildung von Informationsnetzwerken, die sich in wechselseitiger Abha¨ngigkeit zueinander befanden. Wer Einfluss ausu¨ben wollte, musste nicht nur die Grenzen und Mo¨glichkeiten kennen, die ihm vertragliche Bindungen auferlegten bzw. erschlossen. Er musste auch u¨ber mo¨gliche Reaktionen seiner Partner

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Informationen sammeln. Die rasche Nachrichtenu¨bermittlung wurde, so Klara Hu¨bner, zu einer unverzichtbaren Stu¨tze effizienten politischen Handelns. Dabei galt es, Schwerpunkte zu setzen. Die knappen finanziellen und personellen Ressourcen der Ra¨te mussten auf jene Nachrichtenra¨ume konzentriert werden, die nach Meinung des Ratskollektivs den ho¨chsten Ertrag versprachen. Da die Beziehungen innerhalb dieses Raumes der sta¨ndigen Neudefinition bedurften, versuchten die Ra¨te des 14. und 15. Jahrhunderts ein mo¨glichst vollsta¨ndiges Bild von ihrem Aktionsraum zu gewinnen. Der Bote der Stadt war daher zugleich meist auch politischer Entscheidungstra¨ger. Sta¨dtischer Innen- und Außenraum durchdrangen einander damit geradezu. Sobald sich die Beziehungen Ende des 15. Jahrhunderts stabilisierten, wuchs die Nachrichtendichte. Zugleich wurde aber auch das Nachrichteninteresse fokussiert. Statt durch herausgehobene Entscheidungstra¨ger vollzog sich der unmittelbare Nachrichtenverkehr durch gu¨nstigere Sendboten. An die Stelle von Elitenangeho¨rigen, die nach vollsta¨ndiger Information strebten, traten subalterne Funktionstra¨ger, die mu¨ndliche und schriftliche Botschaften u¨bermittelten. Die personalisierte Informationsspeicherung und -vermittlung wurde durch eine verschriftlichte, kollektivierte ersetzt. Dies fu¨hrte zu einer besseren Zuga¨nglichkeit von Nachrichten. Ein fokussierter Blick drohte jedoch zugleich blinde Flecken zu erzeugen. Zudem stellte sich die Frage, wie nunmehr in gro¨ßerer Zahl abgerufene Informationen zu ordnen und handlungsleitend zu nutzen waren. Nur wenn neben die formalisierte Nachrichtenu¨bermittlung der informelle Kontakt, die unmittelbare Kommunikation zwischen Angeho¨rigen des Rates trat, – u¨ber Handelskontakte, gemeinsame Festivita¨ten oder Standestreffen – konnte vermieden werden, dass diese Entwicklung fatale Fehleinscha¨tzungen nach sich zog. Je sta¨rker die Nachrichtenu¨bermittlung verstetigt und der Informationsaustausch zwischen den Sta¨nden standardisiert wurde, umso wichtiger wurden diese Kontakte, die sich außerhalb dieser Wahrnehmungsraster befanden. Sie waren vor allem Personen zuga¨nglich, die u¨ber einen deutlichen wirtschaftlichen und sozialen Ressourcenvorsprung verfu¨gten. Nur sie konnten die Reise- und Bildungskosten aufbringen, die notwendig waren, um die entsprechenden inoffiziellen Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Bastian Walters Ausfu¨hrungen zur Bedeutung dieser Netzwerke im Vorfeld der „Burgunderkriege“ zeigen, wie stark offizielle und inoffizielle Kommunikation dabei einander durchdrangen, wie die Schreiber mit unterschwelligen, teilweise auch mu¨ndlichen (den Sendboten mitgeteilten) Botschaften, die auf Papier gebannten Zeilen relativierten, kontextualisierten oder erweiterten. Die Stabilisierung und Verdichtung von regionalen und transregionalen Kommunikationsra¨umen fo¨rderte damit weniger die Entwicklung transparenter politischer Verfahren und Informationswege als vielmehr die Macht jener, die ihre informellen Kontakte und Einflussmo¨glichkeiten auszubauen verstanden. Kennzeichen dieser Eliten war also ihre Fa¨higkeit, die Stadt in supraurbane Ra¨ume zu verorten und die Kommunikation innerhalb dieser Ra¨ume in einem Wechselspiel zwischen formalisierten Kontakten und informellen Treffen zu stabilisieren. Wie die Stadt indes mehr als ein Gesicht hatte, ihre Grenzen und ihr Profil sich situativ wandelte, so auch der supraurbane Raum. Die Stadt konnte je nach Bedarf in verschiedene Ra¨ume eingeordnet werden, um unterschiedlichen Bedu¨rfnissen gerecht zu

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werden, aber auch, um Anspru¨chen anderer Teilhaber an diesen Ra¨umen zu entgehen. Marco Tomaszewsiki nennt, bezogen auf Basel im 16. Jahrhundert, die Eidgenossenschaft, das eigene Herrschaftsgebiet und das Rauracherland als bevorzugte Mo¨glichkeiten der Selbsteinordnung. Die durch kommunikative Handlungen erzeugten Objektivierungen wurden im Bedarfsfalle aktiviert und variiert. Hegemoniale Raumvorstellungen, die andere Ra¨ume nur als Subsysteme akzeptierten und auf Permanenz ausgerichtet waren, versprachen angesichts dieser Konstellation kaum Vorteile. Sie verringerten die Mo¨glichkeit der Akteure, auf vera¨nderte Anspru¨che flexibel zu reagieren. Stabile Ra¨ume, die die einzelnen Entita¨ten zur Verhaltenskonformita¨t zwangen, drohten die einzelnen Sta¨dte in Konflikte hineinzuziehen, die nicht die ihren waren. Der Bund mit den Eidgenossen war von Basel abgeschlossen worden, um der Stadt Handelskontakte zu ero¨ffnen und ihre milita¨rische Sicherheit zu garantieren. Wurden Anspru¨che an die Stadt gestellt, so standen der sta¨dtischen Elite indes alternative Raumimaginationen zur Verfu¨gung. Was die Eidgenossenschaft war und welche Verhaltenserwartungen an ihre Mitglieder gestellt werden konnten, musste daher situativ neu ausgehandelt werden. Dies erho¨hte die Handlungschancen der Einzelakteure und beschra¨nkte die Risiken der Einordnung in einen Supraraum. Die Grenze zwischen Stadt und Land hebt Daniela Hacke auf. Der Klang von Glocken, Trommeln und Pfeifen konstituierte mit unterschiedlicher Ho¨rweite ganz eigene Ra¨ume. Die Kontrolle u¨ber Klangko¨rper dokumentierte Herrschaft oder ihren Anspruch. Glocken als weitho¨rbare und in ihrer Zeichensprache differenzierte Signalgeber za¨hlten zu den ersten Zielen von Aufsta¨nden, um die Ho¨rbarkeit in die eigenen Ha¨nde zu nehmen. Ihre Reichweite dokumentierte die Weite des herrschaftlichen Anspruchs – Klangra¨ume waren so auch Herrschaftsra¨ume. Trommler und Pfeiffer als Teil der Heerhaufen generierten einen enger begrenzten aber beweglichen Klangraum als akustisches Zeichen der obrigkeitlichen Milita¨rmacht. Den Bauernkrieg sieht Daniela Hacke so auch als akustische Revolution, in der sich nun auch die Aufsta¨ndischen auf ein ausdifferenziertes Klangsystem stu¨tzten und einen akustischen Widerstandsraum schufen. Angewiesen waren die Bauern jedoch auf sta¨dtische Trommler und Pfeiffer, die dieses beherrschten. Auch wenn sta¨dtische und la¨ndliche Interessen nicht die gleichen waren, konnten sie Ausdruck beide Ra¨ume umfassender Allianzen sein. Die Frage, warum hegemoniale Raumkonstruktionen, denen der eingangs erwa¨hnte Thomas More so kritisch gegenu¨berstand, im Verlaufe des 17. Jahrhunderts dennoch an Bedeutung gewannen, geht abschließend Thomas Lau in seinem Beitrag u¨ber die Gesandtschaft der Vertreter von vier eidgeno¨ssischen Sta¨dten nach Frankreich im Jahre 1650 nach. Die Eidgenossenschaft der dreizehn Orte ist fu¨r ihre diplomatischen Vertreter, wie sich hier zeigt, offenbar nur eine von vielen Raumkonstruktionen, in die sich die Sta¨dte, die sie auf die Reise schickten, einordnen lassen. Der Grund der Gesandtschaft lag in einer Krise dieser multioptionalen Verortung in Suprara¨ume. Milita¨rische und finanzielle Konflikte ließen sich auf bisherige Weise nicht mehr einfach umgehen, da sie ganz Europa erfasst hatten. Der mo¨gliche Zusammenbruch der franzo¨sischen Staatsfinanzen drohte die Eidgenossen in einen Strudel von Konflikten hineinzuziehen, die den ganzen Kontinent erfasst hatten. Als

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einzige Alternative blieb den Akteuren das Bekenntnis zum hegemonialen Raumversta¨ndnis des souvera¨nen Staates. Das Versprechen, Grenzen zu fixieren und zu verteidigen, aber auch die Angeho¨rigen des Raumes dessen Regeln zu unterwerfen, sollte die Mo¨glichkeiten des Krisentransfers einschra¨nken. Was als situative Syntheseleistung, als eine Schauveranstaltung, die die Ma¨rkte beruhigen sollte, gedacht war, entwickelte eine bemerkenswerte Eigendynamik. Jene, die auf das Versprechen der fixierten Grenzziehung hin politischen und o¨konomischen Kredit gewa¨hrt hatten, forderten nun die Einhaltung der Handlungszusagen ein. Jede Reaktion auf diese Anfragen, jedes neu gegebene Versprechen erzeugte dabei weitere Gegenforderungen. Anfragen und Darstellungen, die die Idee des hegemonialen Raumes Eidgenossenschaft zur Voraussetzung hatten, nahmen zahlenma¨ßig zu und zwangen die Akteure, ihm und seinen „Interessen“ vermehrt Beachtung zu schenken. Der Staat entsteht und wa¨chst in diesem Sinne als Reaktion auf Anforderungen und Krisen, die er selbst perpetuiert.

¨ NGSTES GERICHT MICHELANGELOS JU UND DIE KRISE DER KIRCHE Die Sixtinische Kapelle als ein dekonstruierter Heilsraum* von Peter Stephan

I. Das Ju¨ngste Gericht im Bann des Michelangelo-Mythos

Kaum ein Ku¨nstler hat es so gut wie Michelangelo Buonarroti verstanden, sich seinen eigenen Mythos zu schaffen. Dieser Mythos hat sich als a¨ußerst langlebig erwiesen. Er hat dem Meister den Nimbus eines gotta¨hnlichen Genies verliehen, zugleich aber auch den Zugang zu ganz wesentlichen Aussagen seines Œuvres verstellt. Die ambivalente Wirkung dieser Mythenbildung la¨sst sich besonders gut an einem Alterswerk beobachten: dem Ju¨ngsten Gericht, mit dem Michelangelo von 1536 bis 1541 im Auftrag Papst Pauls III. Alessandro Farnese die Altarwand der Sixtinischen Kapelle ausmalte (Abb. 1–2, im Farbteil). Von diesem Fresko gibt es zwei zeitgeno¨ssische Beschreibungen, deren Quellenwert auf den ersten Blick sehr hoch erscheint. Die Autoren, Ascanio Condivi1 und Giorgio Vasari2, waren wie Michelangelo Maler. Daru¨ber hinaus waren sie dem Meister eng verbunden: der eine als Schu¨ler und Mitarbeiter, der andere als Freund und Bewunderer. Doch gerade in dieser Na¨he liegt das Problem. Denn Condivi und Vasari sahen sich berufen, nach Kra¨ften an der Bildung des Michelangelo-Mythos mitzuwirken. Folgt man ihren Texten, so zeugt das gewaltige Fresko vor allem von Michelangelos erfolgreichem Bestreben, Affekte und seelische Regungen in ihrer ganzen Bandbreite darzustellen, und von seiner außerordentlichen Fa¨higkeit, den menschlichen Ko¨rper in unterschiedlichsten Stellungen anatomisch und perspektivisch kor-

* Diese Studie ist als Beitrag zu weiterfu¨hrenden U ¨ berlegungen gedacht. Angesichts der fast unu¨ber-

sehbaren historischen und kunstgeschichtlichen Forschung zu Michelangelo und Paul III. erhebt sie keinesfalls den Anspruch, zu endgu¨ltigen Ergebnissen gelangt zu sein. 1 Ascanio Condivi, Das Leben des Michelangelo Buonarroti, (Rom 1553), aus dem Ital. u¨bers. und erla¨utert von Hermann Pemsel, Mu¨nchen 1898, S. 146–152. 2 Giorgio Vasari, Le Vite de’ piu` eccelenti pittori, scultori e architettori, 9 Bde., Novara 1967, hier Bd. 7, S. 174–177.

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rekt wiederzugeben.3 Letztlich laufen Condivis und Vasaris Analysen – wie auch ihre Beschreibungen der u¨brigen capolavori – auf eine zentrale Aussage hinaus: Michelangelo hat mit seiner maniera die Natur so nachzubilden gewusst, dass er sie in ihrer Lebendigkeit u¨bertraf.4 Und da ihm als einem ‚malenden Bildhauer-Architekten‘ eine universale scho¨pferische Begabung gegeben war, stieg er zu einem artifex divinus, zu einem irdischen Interpreten des himmlischen Deus artifex auf.5 Es verwundert nicht, dass eine Rezeption, die sich derart auf die gestalterischen Fa¨higkeiten eines Ku¨nstlers konzentriert, kaum am gedanklichen Aussagegehalt seiner Werke interessiert ist und schon gar nicht danach fragt, welche Inhalte oder Botschaften der Auftraggeber vermitteln wollte. Im Mythos von der autonomen Ku¨nstlerperso¨nlichkeit, die Gottes Scho¨pfungsakte wiederholt, hat ein selbstbewusster Dienstherr, der inhaltliche oder gar formale Vorgaben macht, eigentlich keinen Platz. Eine Ausnahme bildet der Papst. Die Auftra¨ge, die er zu vergeben hat, sind in ideeller wie in materieller Hinsicht wahre Superlative: die Schaffung eines Marmormonuments mit u¨ber 40 Figuren (Grabmal fu¨r Julius II.), die Ausmalung der pa¨pstlichen Palastkapelle (Fresken in der Cappella Sixtina) sowie die Planung und Vollendung der gro¨ßten Kirche der Welt (Petersdom). Mit Papst und Ku¨nstler stehen sich zwei Titanen gegenu¨ber, die, jeder auf seine Weise, Stellvertreter Gottes auf Erden sind. Und doch ist es die Pflicht des Papstes, dem go¨ttlichen Willen dahingehend zu willfahren, dass er den Ku¨nstler frei gewa¨hren la¨sst. Allenfalls darf er ihn durch zusa¨tzliche Geldzahlungen oder va¨terliche Ermahnungen zu noch leidenschaftlicherem Arbeiten anspornen. Innerhalb dieser Konstellation nehmen Michelangelos bedeutendste Auftraggeber gegensa¨tzliche Rollen ein. Julius II. Giulio della Rovere, der den Ku¨nstler sta¨ndig mit Vorschriften bedra¨ngte, erscheint als tyrannischer Widersacher. Paul III. hingegen, der sich allein schon deshalb glu¨cklich scha¨tzte, Papst geworden zu sein, weil er nun endlich den bedeutendsten Ku¨nstler seiner Zeit fu¨r sich arbeiten lassen konnte, und der dem Ku¨nstler „so viel Liebe und Verehrung entgegenbrachte“6, gilt als ein versta¨ndiger Ma¨zen.7 Aus kulturgeschichtlicher Sicht erkla¨rt sich diese Rollenverteilung aus dem Bemu¨hen des Ku¨nstlers, sich von seinen Auftraggebern zu emanzipieren und eine eigensta¨ndige, von programmatischen Vorgaben unabha¨ngige Formsprache zu entwickeln. In diesem Sinne arbeitete Michelangelo zielstrebig an seinem Mythos: um

3 Condivi, Leben (wie Anm. 1), S. 146; Vasari, Le Vite (wie Anm. 2), S. 176. 4 Vgl. Vasari, Le Vite (wie Anm. 2), S. 176: E questo nell’arte nostra e` quello essempio e quella gran pit-

tura mandata da Dio agli uomini in terra, accioche´ veggano come il fato fa uqando gli intlelletti dal supremo grado in terra descendono et hanno in essi infusa la grazia e la divinita` del sapere. 5 Vgl. ders., Le Vite (wie Anm. 2), S. 176f. Den Prozess der ‚Divinisierung‘ Michelangelos hat Gerd Blum am Beispiel des Mose sehr u¨berzeugend herausgearbeitet: Gerd Blum, Michelangelo als neuer Mose. Zur Rezeptionsgeschichte von Michelangelos „Moses“. Vasari, Nietzsche, Freud, Thomas ¨ sthetik und Allgemeine KunstMann, in: Josef Fru¨chtl, Scho¨ner Neuer Mensch II (Zeitschrift fu¨r A wissenschaft), 53/1 (2008), S. 73–106. 6 Condivi, Leben (wie Anm. 1), S. 138 und 146. 7 Vasari, Le Vite (wie Anm. 2), S. 177 spricht vom beatissmo e fortunatissimo Paolo terzo.

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seinen von der klassischen Norm abweichenden Stil zu legitimieren und sich selbst zu vermarkten. Weitaus problematischer war, dass dieser Mythos sich mit der Zeit zu einem Geniekult steigerte, der vor allem im sa¨kularen Bildungsbu¨rgertum des 19. Jahrhunderts Zu¨ge einer Ersatzreligion annahm.8 Die von Condivi und Vasari propagierte maniera wurde nun zur absoluten Norm erhoben. In der Folge sank Michelangelos Ju¨ngstes Gericht zu einem Tribunal u¨ber den guten Geschmack herab. Wer in diesem Gema¨lde einen nie wieder zu erreichenden Ho¨hepunkt der Malerei erblickte, fand sich im Kreis der Seligen wieder. Die Vertreter anderer Stile und Kunstauffassungen traf hingegen der Bannstrahl erzu¨rnter Rezensenten und indignierter Professoren. Vor allem jene Zeitgenossen Michelangelos, die am Ju¨ngsten Gericht Anstoß genommen hatten, weil sie es fu¨r eine frivole und kompositorisch missglu¨ckte Anha¨ufung nackter, grobschla¨chtiger Leiber hielten, wurden als pru¨de Ignoranten oder missgu¨nstige Intriganten enttarnt. Was die Pa¨pste betraf, so erfuhr ihre Rolle als Kirchenfu¨hrer eine zunehmend kritische Beurteilung, doch wurde ihnen ihre großzu¨gige Kunstfo¨rderung gna¨dig angerechnet, selbst von protestantischer Seite.9 Die sonst so heftig kritisierte Geldverschwendung der Kurie erschien auf einmal in milderem Lichte. Diese Sichtweise hat sich mehr oder weniger bis heute gehalten. Noch immer wird Michelangelos Virtuosentum als das eigentliche Thema des Ju¨ngsten Gerichts wahrgenommen, wird Paul III. reine Kunstliebhaberei unterstellt.10 Zweifelsohne spricht viel dafu¨r, dass Alessandro Farnese lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, um Michelangelo zu verpflichten, sei es, weil er dessen Kunst scha¨tzte, sei es, weil er sich als Ma¨zen profilieren wollte. Und doch ist es vo¨llig undenkbar, dass er mit einem Großprojekt wie dem Ju¨ngsten Gericht keine theologischen oder kirchenpolitischen Absichten verfolgt ha¨tte. Wer will ernsthaft glauben, ein strategisch so weitblickender Papst wie er ha¨tte ohne konkrete inhaltliche Vorgaben den prominentesten Malgrund der katholischen Kirche einem Ku¨nstler u¨berlassen, der auf fast schon egomanische Weise den eigenen Geniekult pflegte? Daru¨ber hinaus birgt ein solches Geschichtsversta¨ndnis eine große Gefahr: In einer zunehmend sa¨kularen Gesellschaft zerbricht mit dem Glauben an den Deus artifex auch der Mythos vom artifex divinus. Und auf

8 Bezeichnend hierfu¨r ist die extreme Wertscha¨tzung, die Herman Grimm in seiner 1860–63 verfassten

Michelangelo-Biographie dem Ju¨ngsten Gericht entgegenbrachte. Dieses weiche „nicht nur von den fru¨heren Darstellungen des ju¨ngsten Gerichtes“ ab, sondern es sei auch, „was die ku¨nstlerische Arbeit anlangt, ein so erstaunliches Werk (...), daß nichts, was vorher oder nachher von einem Maler geschaffen worden ist, damit verglichen werden kann.“ Herman Grimm, Leben Michelangelo’s, Hannover 21864, S. 498. 9 Siehe etwa Grimms Ausfu¨hrungen u¨ber Paul III.: „Paul der Dritte steht in einer gewissen Reinheit vor uns. Er besaß die schlechtesten Eigenschaften Borgia’s, (...) und doch, wie dies bei den romanischen Vo¨lkern mo¨glich ist, daß in ein und demselben Manne ungeheure Verworfenheit in Moral und Politik verbunden sein kann mit Geschmack (...), so bei ihm, der gegenu¨ber den edelsten geistigen Bestrebungen seiner Zeit als ein ru¨cksichtsvoller freundlicher Herr, und besonders im Verkehr mit Michelangelo im besten Lichte erscheint.“; Grimm, Michelangelo (wie Anm. 8), S. 495. 10 Siehe hierzu Pierluigi de Vecchi, Michelangelo. Der Maler, Stuttgart 1984, S. 127, und Frank Zo ¨ llner/Christof Thoenes, Michelangelo. Leben und Werk, Ko¨ln 2010, S. 246.

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einmal scheint ein Bild wie das Ju¨ngste Gericht nicht mehr zu sein als ein einfu¨hlsames Psychogramm und imposantes Aktstudium oder als ein pa¨pstliches Liebhaberstu¨ck. Doch ist dieses Gema¨lde weit mehr. Es ist, so die These dieses Beitrags, eines der durchdachtesten Werke der abendla¨ndischen Kunst – nicht zuletzt dank seinem Auftraggeber.

II. Michelangelos Ju¨ngstes Gericht im Verha¨ltnis zum Raum

Eine neue Sichtweise auf Michelangelos Ju¨ngstes Gericht und das Verha¨ltnis von Ku¨nstler und Auftraggeber erschließt sich, wenn man dieses Werke im buchsta¨blichen Sinne ‚freistellt‘. Wenn man es aus den Banden des Mythos lo¨st und noch sta¨rker, als dies bislang geschehen ist, auf seine historische und ra¨umliche Situierung hin befragt. Innerhalb dieses Ansatzes dra¨ngen sich folgende Fragen auf: In welchem Verha¨ltnis steht das Gema¨lde zum Innenraum der Sixtinischen Kapelle? Welche Stellung nahm es nach seiner Vollendung innerhalb des Stadtraums ein? Ergab sich daru¨ber hinaus ein imagina¨rer Bezug zum Erdkreis und zum Himmelsraum? Wenn ja, wie dachte Michelangelo sich das Verha¨ltnis dieser Ra¨ume zueinander? Es ist offensichtlich, dass das Ju¨ngste Gericht das gesamte Innere der Sixtinischen Kapelle optisch und ikonographisch auf sich bezieht. Die Sixtina bildete ihrerseits in ihrer Funktion als pa¨pstliche Palastkapelle das zeremonielle und liturgische Zentrum des pa¨pstlichen Hofes. Nach dem (Teil-)Abriss von Alt-Sankt-Peter war sie sogar zum liturgischen Zentrum der Stadt geworden.11 Diese verstand sich wiederum seit der Antike als das caput mundi und seit dem Mittelalter als Abbild des himmlischen Jerusalems. Eben dieses himmlische Jerusalem wurde in der Sixtinischen Kapelle durch die Liturgie, die am Hochaltar gefeiert wurde, vergegenwa¨rtigt. Die Altarwand der Sixtina war also Ziel- und Ausgangspunkt eines Zyklus ineinandergreifender Heilsra¨ume, die fu¨r die Identita¨t des Papsttums konstitutiv war. Allerdings war diese Symbolik zur Zeit Pauls III. grundlegend in Frage gestellt worden. Roms Anspruch, das Zentrum der Welt und Abbild der Civitas Dei zu sein, ließ sich nach dem Ausbruch der Reformation und dem Sacco di Roma kaum mehr aufrechterhalten. Viele der deutschen Landsknechte, die im Jahre 1527 die Ewige Stadt brandschatzten, waren sogar u¨berzeugt, ein zweites Babylon und den Sitz des Antichristen heimzusuchen.12 Selbst die Ro¨mer glaubten an ein go¨ttliches Strafgericht. Pauls Vorga¨nger Clemens VII. Giulio de’ Medici, der sich nur mit knapper Not in die Engelsburg retten konnte, hatte zumindest zeitweilig die Herrschaft u¨ber

11 Vgl. Zo ¨ llner/Thoenes, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 70. 12 Zur Identifizierung Roms mit Babylon im Kontext des Sacco die Roma siehe: Andre´ Chastel, Le

Sac de Rome, 1527. Du premier Manie´risme a` la Contre-Re´forme, Paris 1984, S. 75–120; zur Deutung Roms als Sitz des Antichristen siehe: Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation (Cambridge Studies in Oral and Literate Culture 2), Cambridge 1981, S. 148–189.

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die Stadt verloren. Zwar war Rom noch immer eine kosmopolis, eine Metropole mit heilsgeschichtlicher Bedeutung, doch war diese ins Negative gekehrt worden. Als Welthauptstadt des Bo¨sen war die Urbs Schauplatz einer apokalyptischen Katastrophe, in der sich das Ende der Welt anku¨ndigte. Nicht von ungefa¨hr glu¨ht die Ewige Stadt in einigen zeitgeno¨ssischen Darstellungen des Sacco die Roma im Schwefelregen Sodoms und im Feuersturm des Ju¨ngsten Tages.13 In dieser Situation war es umso mehr geboten, dass Paul III. an der Altarwand der Sixtina ein theologisch-programmatisches Zeichen setzte, das u¨ber die Mauern des Apostolischen Palastes hinaus in die Stadt und den Erdkreis hineinwirkte. Ein Zeichen das, so sollte man meinen, Erneuerung und Aufbruch signalisierte und vor allem den Zyklus der Heilsra¨ume reaktivierte. Stattdessen bewirkte Michelangelos Ju¨ngstes Gericht das Gegenteil. Nicht nur, dass es zu einem dauerhaften Memento des Sacco di Roma wurde. Noch gravierender war, dass es im Zusammenspiel von Liturgie und Architektur die Verbindung von Kirchenraum, Stadtraum und Himmelsraum zersto¨rte. Michelangelo hatte an der Altarwand der Sixtina einen geistigen Sprengsatz angebracht, der jedoch wenig mit den provozierend nackten Ko¨rpern der Heiligen zu tun hat, wie meist behauptet wird.14 Das Dynamit war die theologische Botschaft.

III. Michelangelos Ju¨ngste Gericht – eine Inszenierung von ra¨umlicher und zeitlicher Diskontinuita¨t

Wie schon angedeutet, vergegenwa¨rtigt der katholische Kultus in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen das himmlische Jerusalem, also den Zustand einer unumschra¨nkten Gottesherrschaft, die, solange die Welt existiert, nur außerhalb von Zeit und Raum fassbar ist. Das Geschehen am Altar nimmt im Hier und Heute vorweg, was fu¨r den Menschen erst nach der Wiederkunft Christi Wirklichkeit sein wird: Wenn Gott die alte Welt gerichtet und eine neue Welt, in der er in allem alles ist, geschaffen haben wird. Der Tag des Ju¨ngsten Gerichts liegt zeitlich und ra¨umlich also noch vor jenem Neuzustand, den der Kultus vergegenwa¨rtigt. Daher ist er in Kirchen (Seitenkapel¨ bergang len bilden eine Ausnahme15) meist dort dargestellt, wo sich gedanklich ein U 16 vom Diesseits zum Jenseits vollzieht: an den Portalen der Fassade , an der Eingangs13 Am aussagekra¨ftigsten ist das Gema¨lde eines unbekannten Meisters aus dem 16. oder 17. Jahrhundert,

das sich ohne na¨here Angaben auf portal.picture-alliance.com unter der Inventarnummer 30518129 findet. 14 Zur Kritik an Michelangelos Fresko siehe Zo ¨ llner/Thoenes, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 248–250. 15 Zu denken wa¨re etwa an die Cappella Strozzi in Santa Maria Novella zu Florenz mit den Fresken Nardo di Ciones und Orcagnas oder an die Cappella San Brizio im Dom zu Orvieto mit den Fresken Luca Signorellis. 16 Als wenige Beispiele von vielen seien genannt: die Westfassaden von Autun, Vezelay, Notre Dame in Paris, Amiens, Bern.

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innenwand (Abb. 9, im Farbteil)17 oder am Triumphbogen, der das Langhaus zur Vierung oder zum Hochchor hin abschließt.18 Diese Stellen wirken wie Schranken, die den heiligen Bezirk, in dem das regnum Dei schon Wirklichkeit geworden ist, vom allta¨glichen Bereich weltlichen Lebens, weltlicher Macht und weltlicher Gerichtsbarkeit trennen. Wer sie passiert, la¨sst die Welt gleichsam hinter sich, um sich der Herrschaft Christi zu unterstellen. Was aber geschieht, wenn die Darstellung des Ju¨ngsten Gerichts nach hinten an die Altarwand versetzt wird (Abb. 1, im Farbteil)? Unter rein ikonographischen Gesichtspunkten wird der Kirchenraum aus dem unmittelbaren Herrschaftsbereich Christi ausgegliedert. Er sinkt zum ‚Profan-Raum‘ herab, zu einem „Bereich vor dem Heiligtum“, in dem Christus seine Herrschaft erst noch durchsetzen muss. In einem solchen innerweltlichen Raum, der nicht mehr Abbild des himmlischen Jerusalem ist, erscheint die Feier der regula¨ren Messe buchsta¨blich ‚deplatziert‘. Sie ist heimatlos geworden. Nur ein einziger liturgischer Text ergibt jetzt noch Sinn: das Dies Irae, die Sequenz der Totenmesse, die den Verlauf des Ju¨ngsten Gerichts schildert. Nun kann man einwenden, dass das Ju¨ngste Gericht schon im 15. Jahrhundert am hinteren Ende eines Kirchenraums dargestellt wurde, und zwar an liturgisch durchaus prominenter Stelle: am Retabel.19 Und letztlich, so ko¨nnte man weiter argumentieren, ist auch Michelangelos Fresko nichts anderes als ein u¨berdimensioniertes Altarbild (Abb. 2, im Farbteil). Dem ist entgegenzuhalten, dass ein einzelnes Ausstattungsstu¨ck den Kirchenraum, in dem es als Solita¨r steht, nicht in demselben Maße definiert wie ein großfla¨chiges Fresko, das ein integraler Bestandteil der Raumschale ist. Ein solches Fresko dominiert den Gesamtraum optisch und dramaturgisch weit mehr als ein gerahmtes Altarblatt – so sehr, dass der Betrachter Teil des dargestellten Geschehens wird. Wa¨hrend der Priester, der vor einem Retabel steht, das Ju¨ngste Gericht lediglich als ein Bild vor Augen hat, begibt sich der Papst, der in der Sixtinischen Kapelle die Altarstufen hinaufsteigt, gleichsam selbst vor den Weltenrichter. Wie sehr Michelangelos Ju¨ngstes Gericht den Gesamtraum und die darin befindlichen Akteure auf sich bezieht, erkennt man auch, wenn man den heutigen Zustand mit dem urspru¨nglichen Erscheinungsbild vergleicht, das die Kapelle unter Sixtus IV. della Rovere besaß (Abb. 5, im Farbteil). Damals war der Raum an allen vier Seiten von drei Bildzyklen eingefasst. Diese existieren heute noch an den Seitenwa¨nden und an der Eingangsinnenwand: Oberhalb einer Zone mit gemalten Tapisserien schildern sie, typologisch aufeinander bezogen, das Leben des Mose und das Wirken Jesu. Daru¨ber, in der Fensterzone, verla¨uft eine Papstgalerie, in der vor allem jener Bischo¨fe Roms gedacht wird, die das Martyrium erlitten oder unter denen die Kirche großen

17 Vgl. das byzantinische Mosaik in S. Maria Assunta in Torcello, das romanische Fresko in Formis sowie

die Fresken Giottos in der Arenakapelle zu Padua, Pietro Cavallinis in S. Maria in Trastevere zu Rom, Martin Schongauers im Breisacher Mu¨nster und Ferrau` Fenzonis in der Kathedrale zu Todi oder das ¨ lbild Dirck Barendsz’ in Farfia, das die gesamte Eingangsinnenwand bedeckt. O 18 So im Straßburger oder im Ulmer Mu¨nster. 19 Zu denken wa¨re etwa an die Triptychen Rogier van der Weydens in Beaune oder an Hans Memlings in Danzig.

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Verfolgungen ausgesetzt war. Diese Reihe, die mit Sixtus IV. endet, wurde einst von einem das Gewo¨lbe bedeckenden Sternenhimmel u¨berfangen. Der Raum transzendierte also von unten nach oben, wobei die Heilsgeschichten des Alten Bundes und ¨ bergangsstationen bildeten. Innerdes Neuen Bundes sowie die Kirchengeschichte U halb dieses Arrangements vergegenwa¨rtigte die Liturgie nicht nur die kommende himmlische Herrlichkeit; in ihr setzte sich auch die Heils- und Kirchengeschichte bis in die Gegenwart hinein fort. Diese zweifache repraesentatio des Vergangenen und des Ku¨nftigen konkretisierte sich in der Person des lebenden Papstes, wenn dieser der Liturgie vorstand. Die zuru¨ckliegende Heils- und Kirchengeschichte verko¨rperte der Pontifex als ein neuer Mose, als Nachfolger Jesu und als Bischof von Rom; auf das ku¨nftige Gottesreich verwies er als Statthalter des auferstandenen Christus auf Erden. Dieses Konzept wurde bereits 1512 unterlaufen, als Michelangelo im Auftrag von Sixtus’ Neffen Julius II. in die Fensterlu¨netten die Vorfahren Christi malte und den Sternenhimmel durch eine Schilderung der Scho¨pfungsgeschichte ersetzte. Zwei Jahre spa¨ter kam eine Teppichserie mit Szenen der Apostelgeschichte hinzu, die Raffael fu¨r Leo X. Giovanni de’ Medici geschaffen hatte. An hohen Feiertagen wurden die Gobelins unterhalb des Mose- und des Jesus-Zyklus u¨ber die gemalten Tapisserien geha¨ngt. Eine chronologisch stimmige Lesart von unten nach oben war fortan nicht mehr gegeben, noch weniger ein vertikales Transzendieren. Nun lo¨sen sich Zeit und Raum nicht mehr in der Ewigkeit und Unendlichkeit des Jenseits auf; vielmehr kulminieren sie in jenem go¨ttlichen Scho¨pfungsakt, dem sie ihre Existenz verdanken. Aufgrund dieser Paradoxie ergeben die einzelnen Bildzyklen nur noch fu¨r sich genommen, also in ihrem horizontalen Verlauf, Sinn. In Anbetracht der neuen Leserichtung hatte sich schon Clemens VII. zu einer Neuausrichtung des gesamten Bildprogramms entschlossen. Als neuen Zielpunkt bestimmte er die Altarwand, die folglich sowohl optisch als auch thematisch zum Bezugspunkt des ganzen Raumes aufgewertet werden musste. Nachdem Clemens bereits 1534 gestorben war, geschah dies unter Paul III. durch eine Ausmalung mit dem Ju¨ngsten Gericht. Implizit war die Wiederkehr Christi im Weltgericht schon von den Sibyllen und Propheten im Scho¨pfungsfresko angeku¨ndigt worden.20 Nun wurde sie auch ikonographisch zum Ziel der Scho¨pfungs-, Heils- und Kirchengeschichte. Bei dieser Neukonzeption konnte Michelangelo durchweg an ikonographische Traditionen anknu¨pfen. Auch im Skulpturenschmuck gotischer Portale und in den Kuppelmosaiken des Florentiner Baptisteriums (letzteres kannte Michelangelo besonders gut) mu¨nden Szenen der Scho¨pfungsgeschichte, des Alten Testaments und des Lebens Jesu in eine Darstellung des Ju¨ngsten Gerichts. Jedoch gibt es zwei entscheidende Abweichungen. Erstens folgt bei den a¨lteren Vorbildern auf das Ju¨ngste Gericht ein weiterer Raum, der die himmlische Herrlichkeit vergegenwa¨rtigt; das Kirchenschiff gotischer 20 Vgl. Hab 3, 1–19; Ez 7, 1–27; Dan 7, 10; Eusebius von Ca¨sarea, Des Kaisers Konstantin Rede an die Ver-

sammlung der Heiligen (Oratio ad coetum sanctorum), Kap. 19 und 20, in: Ausgewa¨hlte Schriften. Aus dem Griechischen u¨bers. von P. Johannes Maria Pfa¨ttisch/Dr. Andreas Bigelmair (Bibliothek der Kirchenva¨ter, 1. Reihe, Bd. 9), Mu¨nchen 1913, S. 246–253.

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Kathedralen ist Abbild der Gottesstadt, die Kuppellaterne des Florentiner Baptisterium hypostasiert das Empyreum. In der Sixtinischen Kapelle hingegen fehlt ein solcher Himmelsraum. Hier erscheint das Ju¨ngste Gericht als Endstation. Zweitens inszenierte Michelangelo den Ju¨ngsten Tag im Unterschied zu den Mosaizisten der Romanik und den Bildhauern der Gotik nicht als eine Vollendung oder Transformation der Scho¨pfung, sondern als einen Bruch. Um sein Fresko anbringen zu ko¨nnen, ließ er an der Altarwand zwei Fenster vermauern, die Dekoration aus dem spa¨ten 15. Jahrhundert abschlagen und davor eine 25 Zentimeter dicke Backsteinwand hochziehen (vgl. Abb. 5 mit Abb. 1). Diesem rigorosen Eingriff fiel die architektonische Gliederung aus Stuck, die aus zwei u¨bereinanderstehenden Pilasterordnungen bestand, ebenso zum Opfer wie mehrere Fresken: je ein Bild aus den beiden großen Zyklen (Auffindung des Mose und Christi Geburt) sowie vier Papstfiguren und zwei Lu¨nettenbilder. In gewisser Weise nahm Michelangelo mit diesem zersto¨rerischen Akt vorweg, was am Ju¨ngsten Tag geschehen wird: Alles zerfa¨llt zu Staub, Zeit und Raum lo¨sen sich auf. Sein Fresko vermittelt den Eindruck, u¨ber dem Altar klaffe ein riesiges Loch, durch das der Betrachter in die Ewigkeit blickt (Abb. 1 und 2, im Farbteil). Die Heilsund die Kirchengeschichte, die an den Seitenwa¨nden dargestellt sind, reißen ja¨h ab. Und schon gar nicht mehr setzt sich die Reihe der Pa¨pste in den lebenden Pontifices fort. Stattdessen fu¨hrt sie – gleichsam u¨ber deren Ko¨pfe hinweg – zu Petrus zuru¨ck, der seinerseits – auf gleicher Ho¨he – mit den Schlu¨sseln seiner pontifikalen Amtsgewalt vor dem go¨ttlichen Richter steht (Abb. 3 und 4, im Farbteil). Es sind dieselben Schlu¨ssel, die der Apostelfu¨rst innerhalb des Jesus-Zyklus (in einem Fresko Peruginos) von Christus empfangen hat (Abb. 11, im Farbteil). Michelangelo la¨sst die Geschichte der Kirche so enden, wie sie begonnen hat – bei Christus, der Alpha und Omega, Anfang und Ende, ist.

IV. Das Ju¨ngste Gericht als geistiger Sprengsatz

Doch welche gedankliche Aussage verband sich mit der Dekonstruktion des Heilsraums? Wollten Michelangelo und Paul III. andeuten, dass die Kirche als Ganzes, anstatt die Welt zu vera¨ndern, sich der Welt zu sehr geo¨ffnet und dabei von Christus entfernt hatte? Dass sie durch Renaissancepapsttum und humanistisches Neuheidentum buchsta¨blich profaniert worden war? Eine solche Aussage war a¨ußerst gefa¨hrlich, da sie sich schnell zuspitzen und radikalisieren ließ. Nur zu rasch konnte sich ein negativer Raumzyklus herausbilden. Es bestand die Gefahr, dass die Sixtina, die immerhin nach den Proportionen des Salomonischen Tempels errichtet worden war21, ebenso von Gott verlassen schien wie

21 Eugenio Battisti, Roma apocalittica e re Salomone, in: ders., Rinascimento e Barocco, Turin 1960,

S. 72–95, und de Vecchi, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 36.

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der Jerusalemer Tempel zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft (vgl. Jer 7, 1–15 u. 26, 1–24); dass sie als Mittelpunkt einer Stadt wahrgenommen wurde, an der sich 1527 dasselbe Schicksal erfu¨llt hatte wie an Jerusalem, dessen Plu¨nderung und Zersto¨rung Jesus im Angesicht des entweihten Tempels vorhergesagt hatte (vgl. Lk 19, 41–47); dass ihre Ikonographie zum Sinnbild einer Kirchenfu¨hrung wurde, die nicht mehr Christus und die Apostel repra¨sentierte; dass die in ihr abgehaltene Liturgie nicht mehr als die Vergegenwa¨rtigung des himmlischen Jerusalem verstanden wurde, sondern als ein bigottes Spektakel – bei dem der pa¨pstliche Antichrist sich mit dem Schein der Heiligkeit umgab und das Messopfer in einer Art und Weise missbrauchte, dass man nicht nur in moralischer, sondern auch in sakramentaler Hinsicht von einer captivitas Babylonicae Ecclesiae ha¨tte sprechen mu¨ssen.22 Um die Bildung einer derart negativen Raumsymbolik zu verhindern, bedurfte es einer theologischen Sicherung. Doch wie konnte eine solche funktionieren? Hatte Paul III. sie u¨berhaupt erwogen? Wie die na¨chsten Kapitel zeigen sollen, gibt es diese Sicherung wirklich. Sie ist in Michelangelos Bild deutlich sichtbar eingebaut. Dank ihrer ließ sich der geistige Sprengsatz des Freskos kontrolliert zu¨nden.

V. Das eigentliche Skandalon des Ju¨ngsten Gerichts: die zerbrochenen Schlu¨ssel des Petrus

Wie die Forschung immer wieder betont, legte Michelangelo seinem Fresko als Textgrundlage die Endzeitverheißungen des Propheten Hesekiel (37, 2–14), die Gerichtsreden Jesu im Mattha¨us-Evangelium (25, 31–46) und die Go¨ttliche Komo¨die Dantes (Inf. 3, 109–111) zugrunde.23 Die wichtigste Textgrundlage bildet jedoch das schon erwa¨hnte Dies Irae, das den Gla¨ubigen die Schrecken des Ju¨ngsten Gerichts besonders drastisch vor Augen fu¨hrt. Liturgie und Architektur bildeten also nach wie vor eine gewisse Einheit, doch bezog diese sich nun auf ein singula¨res Ereignis. Wann immer Papst und Kardina¨le in der Cappella Sixtina ein Requiem zelebrieren, wird das Gema¨lde zu einer lebendigen Vision. Wie von den Propheten und den Sibyllen verheißen (teste David cum Sibylla), bricht der „Tag des Zorns“ vo¨llig unvermittelt herein und lo¨st Zeit und Raum in Asche auf (Dies irae, dies illa solvet saeclum in favilla). Die Anwesenden werden unmittelbar Zeugen, wie Christus, der rex tremendae majestatis, erscheint, umringt von den Aposteln und Ma¨rtyrern; wie die Toten beim Klang der Posaunen aus ihren Gra¨bern gerufen werden, um vor dem Weltenrichter „Rechenschaft zu geben“; wie die „Kreatur“ beim Anblick jenes Buches, in dem „alle Schuld aus Erdentagen“ eingetragen ist, „Graus und Zagen“ u¨berkommt; wie die Misseta¨ter den „beißenden Flammen“ der Ho¨lle u¨bergeben werden.

22 Vgl. Luthers gleichnamige Schrift aus dem Jahre 1520: D. Martin Luthers Werke. 120 Ba¨nde, Weimar

1883–2009, Bd. 6 (Schriften 1519/20), S. 508ff.

23 Zo ¨ llner/Thoenes, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 245.

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In Anbetracht dieses Schreckensszenarios sind weite Teile der Forschung geneigt, die ho¨chst emotionale Erregung, mit der die Apostel und Heiligen Christus umstehen, als Bestu¨rzung, Verwirrung oder gar furchtsame Erwartung des go¨ttlichen Richterspruchs zu deuten.24 Doch was ha¨tten die Apostel zu befu¨rchten? Sind sie nicht durch ihr Glaubenszeugnis und ihre enge Verbundenheit mit Christus gerechtfertigt (was sie nicht zuletzt durch ihre Marterwerkzeuge beweisen)? Daru¨ber hinaus hat Michelangelo sie – ihn ihrer Nacktheit wie in ihrer Ko¨rperkraft – als wahre athleti Christi dargestellt. Sie sind nicht Angeklagte, sondern Beisitzer des Gerichts, wobei die Apostel den Kreis der zwo¨lf Geschworenen bilden. Freilich verla¨uft die Verhandlung alles andere als geordnet. In den traditionellen Darstellungen des Ju¨ngsten Gerichts knien Maria und Johannes der Ta¨ufer als Fu¨rbitter der Menschheit zu Seiten des go¨ttlichen Throns (Abb. 9 und 10, im Farbteil). Neben ihnen sitzen die Apostel wu¨rdevoll auf ihren Scho¨ffenstu¨hlen. Bei Michelangelo aber herrscht Aufruhr! Johannes (von Vasari fa¨lschlich als Adam identifiziert25) und die Apostel haben sich zusammen mit weiteren Heiligen zornig und erregt um Christus geschart, wobei der Ta¨ufer und Petrus, die im Vordergrund stehen, als ihre Wortfu¨hrer erscheinen. Johannes kann sich kaum noch beherrschen. Petrus ist mit grimmiger Miene vor Christus getreten (Abb. 4, im Farbteil). Allgemein wird diese Szene so gedeutet, dass Petrus dem Herrn die Insignien des Papsttums wieder zuru¨ckgibt26 oder sie ihm gar „als Zeichen der ihm zugesicherten go¨ttlichen Gnade“27 vorweist. Doch gibt es ein Problem, das bislang niemandem im Himmel (und, soweit ich sehe, auch niemandem in der Forschung) aufgefallen ist: Die Schlu¨ssel sind gar nicht mehr zu gebrauchen. Beide Griffe sind abgebrochen, vermutlich infolge unsachgema¨ßer Verwendung. Petrus und Johannes treten also als Ankla¨ger auf, wobei sie die Schlu¨ssel als Corpus Delicti vorlegen. Doch wen beschuldigen sie? Die zentrale Frage des Freskos ist buchsta¨blich eine Schlu¨sselfrage. Die Antwort liegt gleichfalls in den Schlu¨sseln. Der Zeigefinger der Hand, mit der Petrus den Stumpf des goldenen Schlu¨ssels ha¨lt, weist auf eine verschleierte Gestalt. Ihr verdunkeltes Gesicht wirkt wenig edel. Auch ist sie so unscheinbar, dass man sie zuna¨chst gar nicht wahrnimmt. Dementsprechend wurde ihr bislang auch keinerlei Beachtung geschenkt, weder von Condivi und Vasari, noch von der Wissenschaft. Und wahrscheinlich lag es auch in der Absicht der Frau, nicht aufzufallen. Doch Petrus hat sie entdeckt und u¨berfu¨hrt. ¨ ber diese eine Frau – und nicht u¨ber die Menschheit – fa¨llt Christus in diesem U Augenblick sein Urteil. Mit großem Ernst sieht er auf sie herab. Schuldbewusst ist sie vor ihm auf die Knie gesunken. In angstvoll geduckter Haltung, mit schamvoll gesenkten Augen und flehentlich erhobenen Ha¨nden erwartet sie den Richterspruch.

24 Ludwig Freiherr von Pastor, Geschichte der Pa¨pste seit dem Ausgang des Mittelalters, 16 Bde., Frei-

burg 8–101928–1938, hier Bd. 5, S. 107; De Vecchi, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 162.

25 Vasari, Le Vite (wie Anm. 2), S. 174. 26 Pierluigi de Vecchi/Gianluigi Colalucci, Die Wiedergeburt der wahren Farben in der Sixtinischen

Kapelle, 3 Bde., Augsburg o. J., hier Bd. III, S. 105.

27 Hans Mackowsky, Michelangelo, Stuttgart 1947, S. 251.

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Hat man erst einmal erkannt, dass das, was sich zwischen Christus, Petrus, Johannes dem Ta¨ufer und dieser Elendsgestalt abspielt, das eigentliche Thema des Ju¨ngsten Gerichts ist, so versteht man auch die Bezu¨ge zum u¨brigen Bildgeschehen. Einige Heilige reden auf den Herrn ein, wobei ihr erzu¨rnter Gesichtsausdruck verra¨t, dass sie es mit der Angeklagten nicht gut meinen. Paulus, der unmittelbar hinter der Frau steht, fu¨hlt sich von ihr sogar regelrecht abgestoßen. Entsetzt zieht er seine Hand wie von einer Aussa¨tzigen zuru¨ck. Die einzige Person, die gelassen bleibt, ist Maria, die zur Rechten Christi sitzt. Sie schmiegt sich nicht versto¨rt oder schutzsuchend an ihren Sohn, wie Condivi und Vasari meinten.28 Ihrer Ko¨rperhaltung nach zu schließen, hat sie urspru¨nglich zur Angeklagten hinu¨bergesehen, sich dann aber unangenehm beru¨hrt von ihr abgewandt. Nun betrachtet sie leicht melancholisch und in sich gekehrt das Kreuz des Andreas, das in ihr schmerzvolle Erinnerungen an den Tod ihres Sohnes zu wecken scheint.

VI. Die Hauptangeklagte des Ju¨ngsten Gerichts: die ro¨mische Kirche als die Große Su¨nderin

Alle diese Beobachtungen werfen mehrere Frage auf: Wer ist die Angeklagte, dass ¨ ußeren – einen solchen Tumult auslo¨st? Wie sie – trotz ihrem unscheinbaren A gelangte sie in den Kreis der Heiligen? Und wie kam sie u¨berhaupt an die Schlu¨ssel Petri heran? Die einzig mo¨gliche Antwort ist, dass es sich nicht um eine Person im eigentlichen Sinne, sondern um eine allegorische Figur handelt. Zwar besitzt die Frau keine Attribute, doch geben die Schlu¨ssel, die sie zerbrochen hat, u¨ber ihre Identita¨t hinreichend Auskunft. Sieht man von Petrus ab, so ist die einzige Figur innerhalb der christlichen Bildkunst, die mit diesen Schlu¨sseln dargestellt wird, die Ro¨mische Kirche (Abb. 6, im Farbteil).29

28 Condivi, Leben (wie Anm. 1), S. 151: „Aber getrennt davon und dem Sohne zuna¨chst sieht man seine

Mutter, das Antlitz voll Bangigkeit, wie wenn sie des go¨ttlichen Zornes und Geheimnisses nicht recht sicher wa¨re, an den sich anschmiegen, so nahe sie kann.“ Vasari, Le Vite (wie Anm. 2), S. 174: Non senza gran timore della Nostra Donna che ristrettasi nel manto ode e vede tanta ruina. Offenbar interessierte sich Vasari so gut wie gar nicht fu¨r den theologischen, sondern u¨berwiegend fu¨r den ku¨nstlerischen Gehalt in Michelangelos Werk, wodurch er, wie Gerd Blum sehr scho¨n herausgearbeitet hat, dem schon zu Lebzeiten einsetzenden Geniekult (und einer entsprechend einseitigen Wahrnehmung durch die a¨ltere Kunstgeschichte) Vorschub leistete, Gerd Blum, Vasari. Der Erfinder der Renaissance, Mu¨nchen 2011, S. 129–133. Der Eindruck, Maria reagiere furchtsam, findet sich auch bei de Vecchi, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 127, und Volker Reinhardt, Der Go¨ttliche. Das Leben des Michelangelo, Mu¨nchen 2010, S. 250. Auch die Kirchengeschichtsschreibung hat sie u¨bernommen: Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), Bd. 5, S. 789. 29 Vgl. z. B. Hans Burckmairs Frontispiz in Johann Stamler, Dyalogus de diversarum gencium sectis et mundi religionibus, Augsburg 1508, in: Chastel, Le Sac (wie Anm. 12), S. 25.

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Fu¨r die Deutung der Frau als Repra¨sentantin der Ecclesia Romana spricht auch, dass Michelangelo sie zu den in Rom begrabenen Apostelfu¨rsten gesellt hat. Außerdem erinnert die Szene an die Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin. Im JohannesEvangelium (8, 3–11) begnadigt Christus die „große Su¨nderin“, die Magna Peccatrix, sehr zum Missfallen der anwesenden Pharisa¨er und Schriftgelehrten. Schon bei einigen Kirchenva¨tern und bei den Katharern, vor allem aber bei Luther, stand die große Su¨nderin fu¨r die christliche Kirche: Non est tam magna peccatrix ut Christiana ecclesia.30 Daru¨ber hinaus sahen die Reformatoren speziell in der Papstkirche die Hure Babylon.31 Und gerade in den lutherischen Flugschriften sind die zerbrochenen Schlu¨ssel des Petrus eine ga¨ngige Metapher fu¨r das vom Papsttum missbrauchte Petrusamt (Abb. 7 und 8, im Farbteil).32 Auch bei Michelangelo ist die Ro¨mische Kirche deshalb die Große Su¨nderin, weil sie das Verma¨chtnis der Apostel veruntreut hat. Dieser Vorwurf wird dadurch pra¨zisiert, dass Johannes der Ta¨ufer und Petrus als Ankla¨ger auftreten. Wie keine andere biblische Gestalt warnte der Ta¨ufer vor dem go¨ttlichen Zorn am Ju¨ngsten Tag, rief zu Umkehr und Buße auf und lebte diese Buße durch strenge Askese vor. Des Weiteren geißelte er den Machtmissbrauch und die Unzucht des Ko¨nigs Herodes Antipas, wofu¨r dieser ihn einkerkern und hinrichten ließ. Doch gerade durch sein Martyrium besiegte Johannes den Gewaltherrscher und die durch ihn verko¨rperten Laster. Um diesen Triumph darzustellen, legte Michelangelo den tyrannischen Ko¨nig dem Ta¨ufer buchsta¨blich zu Fu¨ßen – in Gestalt eines bo¨sartig blickenden ba¨rtigen Greises. In Entsprechung dazu muss es sich bei dem Mann, der mit nicht minder bo¨sem Gesichtsausdruck hinter Petrus am Boden kriecht, um einen unterlegenen Gegner des ¨ berlieferung vor allem Simon Magus, Apostelfu¨rsten handeln. Als solchen nennt die U einen Gu¨nstling Kaiser Neros, der Petrus und Johannes die Gaben des Heiligen Geistes abkaufen und sich von Da¨monen in den Himmel tragen lassen wollte. Durch sein Gebet bewirkte Petrus den Sturz des Zauberers33, der fortan fu¨r die Todsu¨nde des Hochmuts, fu¨r angemaßte Heiligkeit und fu¨r die nach ihm benannte Simonie (also ¨ mterschacher) stand. den A Geht man davon aus, dass Johannes und Petrus mit den von ihnen gelebten Tugenden ebenso wie mit den von ihnen u¨berwundenen Lastern der Ro¨mischen Kirche einen Spiegel vorhalten, so lautet ihre Anklage auf Machtmissbrauch, Ausschweifung, Scheinheiligkeit, Hochmut und Simonie. Hinzukommt, dass die Kirche im Rahmen des Ablasshandels die Vergebung der Su¨nden nicht von Buße und Umkehr, sondern von Geldzahlungen abha¨ngig gemacht hat.

30 Luther, Werke (wie Anm. 22), Bd. 34/1 (Predigten, 1531), S. 267, 7 und Bd. 40/2 (Galatervorlesung,

cap. 5–6, 1531; Vorlesungen u¨ber Psalm 2, 45 und 51, 1532), S. 560, 10.

31 Scribner, For the Sake (wie Anm. 12), S. 148–189. 32 Harry Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugbla¨tter (Arbei-

ten zur Kirchengeschichte 57), Berlin/New York 1992, Abb. 23 und 32.

33 Apg 8, 9–25 und Jacobus a Voragine, Legenda Aurea. Vulgo historia langobardica dicta. Ad optimorum

librorum fidem, hg. v. Th. Graesse, Dresden 31890, Kap. 89.2, S. 373.

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Damit nicht genug, hat die Kirche offenbar auch wenig Anstrengungen unternommen, sich zu bessern. Um dies zu verdeutlichen, mo¨chte Andreas sie mit einer gru¨ngewandeten Frau konfrontieren, bei der es sich ho¨chstwahrscheinlich um Maria Magdalena handelt. Viele Kirchenva¨ter – und auch der Verfasser des Dies Irae – setzten Maria Magdalena mit der Ehebrecherin, der Jesus verziehen hat, gleich (Qui latronem exaudisti et Mariam absolvisti, mihi quoque spem dedisti). Sie galt als ein Musterbeispiel dafu¨r, wie die von Johannes dem Ta¨ufer gepredigte Buße zu neuer Heiligkeit fu¨hrt. Identifiziert man Michelangelos Su¨nderin als Repra¨sentantin der Ecclesia Romana, so erkla¨rt dies auch, weshalb es derselben gelungen ist, sich unter die Heiligen zu mischen: Sie hat sich als die von Christus gegru¨ndete „eine heilige und apostolische“ Kirche ausgegeben. Doch nun, am Ju¨ngsten Tag, an dem sich, wie es im Dies Irae heißt, „alles Verborgene lichtet“, offenbart sich, wie wenig sie noch der Heiligkeit der Apostel entspricht. Dass mit Petrus der Hauptpatron der Ro¨mischen Kirche zu deren Ankla¨ger geworden ist, gibt zu denken. Aber auch die u¨brigen Apostel belasten die Kirche. Andreas und Philippus und Bartholoma¨us pra¨sentieren die Zeichen ihrer Martyrien (Kreuz und abgezogene Haut) nicht nur, um u¨ber ihre Identita¨t Aufschluss zu geben. Sie demonstrieren auch, was Heiligkeit wirklich bedeutet. Noch preka¨rer wird die Situation der Angeklagten durch Maria: weniger deshalb, weil die heilige Jungfrau nicht als Fu¨rbitterin in Erscheinung tritt, sondern vielmehr, weil sie als das vollkommene Urbild der Kirche die ganze Su¨ndhaftigkeit der Ecclesia Romana offenbar werden la¨sst. Nicht von ungefa¨hr hat Michelangelo die beiden Protagonistinnen in ein antithetisches Verha¨ltnis zueinander gesetzt. Maria, die ihrem himmlischen Gemahl in stetem Gehorsam die Treue gewahrt hat, sitzt als reine Magd sittsam zur Rechten Christi. Ihr weißes Antlitz, das in jugendlicher Anmut erstrahlt, erinnert an die Beschreibung der Braut ihm Hohen Lied. Von solch „makelloser Scho¨nheit“ sollte nach den Worten des heiligen Paulus auch die Kirche sein: „ohne Flecken und Falten oder einen anderen Fehler, heilig und vollkommen“ (Eph 5, 27). Stattdessen ist die zur Linken Christi stehende Ecclesia Romana eine ha¨ssliche Alte mit zerfurchtem und schmutzigem Gesicht. Kein Wunder, dass Paulus von ihr zuru¨ckweicht! Zu den Schrecken des Ju¨ngsten Tages za¨hlt auch das entstellte Antlitz der Kirche. Maria aber ist durch ihre bloße Anwesenheit zur Zeugin der Anklage geworden. Letztlich la¨uft Michelangelos Gerichtsdrama auf die alles entscheidende Frage hinaus: Welches Urteil wird der Richter sprechen? Wie auch schon im griechischen Theater bildet die so genannte krisis den Mittelpunkt des Geschehens. Krisis bedeutet Entscheidung und Urteil, aber auch den Augenblick, in dem die gesamte Handlung des Stu¨cks – und damit das Schicksal der Protagonisten – auf des Messers Schneide steht; in dem sich entscheidet, ob das Drama glu¨cklich ausgeht oder nicht. Diesen spannungsgeladenen Ho¨hepunkt kostet Michelangelo regelrecht aus, ja er steigert die Spannung durch zusa¨tzliche Elemente, etwa durch die Engel, die im obersten Teil des Freskos ho¨chst eilig und unter Aufbietung aller Kra¨fte die Passionswerkzeuge von Golgatha herbeischaffen. Die Erinnerung daran, dass Er einst – wie das Dies Irae sagt – fu¨r das Heil der Menschen „am Kreuz gehangen“ hat, soll den

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Weltenrichter milde stimmen.34 Zweifellos wird das Zeugnis der arma Christi mehr Gewicht haben als die Waffen der Ma¨rtyrer. Doch werden die Engel das Entlastungsmaterial u¨berhaupt noch rechtzeitig beibringen ko¨nnen? Dessen ungeachtet hat die Angeklagte doch noch einen Fu¨rsprecher gefunden. Der Evangelist Johannes, Jesu Lieblingsju¨nger, kniet vor seinem Herrn nieder. Wa¨hrend er die rechte Hand schu¨tzend vor das Haupt der Kirche ha¨lt, redet er mit der Linken beruhigend auf den Weltenrichter ein. Vielleicht erinnert er auch an die Begegnung mit der Ehebrecherin, die in dem nach ihm benannten Evangelium (Joh. 8, 3–11) u¨berliefert ist. Die durch Johannes verko¨rperte Liebe ist zweifellos gro¨ßer als der durch Paulus personifizierte Glaube und die durch Petrus repra¨sentierte Hoffnung (vgl. 1 Kor 13). Doch vermag sie in diesem Fall wirklich alles? Einerseits hat Christus die Rechte drohend erhoben. Andererseits zo¨gert Er, den Fluch auszusprechen. Zugleich beginnen die Finger der Linken, sich zu einem Segensgestus zu formen. Die Haltung der Ha¨nde erinnert an Fra Bartolomeos Ju¨ngstes Gericht in S. Marco zu Florenz (1499/1500, Abb. 10). Jedoch hat Michelangelo ihr eine ganz neue Dramatik verliehen. Bei Fra Angelico ha¨lt Christus die Finger seiner Linken vor die Seitenwunde, als wolle er an seinen Opfertod erinnern. Bei Michelangelo ist der Zeigefinger noch immer auf die Seitenwunde gerichtet. Doch deutet er im Zusammenspiel mit den anderen Fingern auch einen Gestus des Verzeihens an. Freilich ist noch unklar, mit welcher der beiden Ha¨nde Christus der Su¨nderin antworten wird. Wird er mit der Linken dieselben Worte sprechen, die er damals an die Ehebrecherin richtete: „Dir ist Deine Schuld vergeben.“? Oder wird er mit der Rechten sagen: „Weiche zuru¨ck, ich kenne Dich nicht!“? Einige der Umstehenden halten angstvoll den Atem an, mahnen zur Stille oder legen die Hand ans Ohr. Ein Ju¨ngling ha¨lt Johannes den Ta¨ufer am Arm zuru¨ck, damit dieser dem Weltenrichter nicht ins Wort falle. Von den zahlreichen Ho¨hepunkten in Michelangelos Dramaturgie ist der genialste der, dass die Handlung aussetzt, bevor das Stu¨ck zu Ende ist. Im Gleichnis mit der Ehebrecherin knu¨pft Jesus sein Verzeihen an eine Bedingung: „Gehe und su¨ndige fortan nicht mehr!“ Diese Bedingung hat Maria Magdalena erfu¨llt. Fu¨r die Kirche ka¨me eine solche Umkehr am Ju¨ngsten Tag jedoch zu spa¨t. Am Ende von Zeit und Raum gibt es nichts mehr, wohin die Kirche gehen ko¨nnte. Und ein „fortan“ gibt es auch nicht mehr. So muss die Kirche bereits vor ihrer Begegnung mit dem Weltenrichter bereut haben. Nachdenklich und keinesfalls „mit furchtbarem Zorn im Angesicht“, wie Vasari behauptete35, sieht Michelangelos Christus der Angeklagten ins Herz. Ist dieses wirklich vor Reue „gleichsam zu Asche zerrieben“, wie das Dies Irae es ausdru¨ckt? Das ¨ ußere der Kirche legt dies nahe. Der aschfarbene, sackartige Mantel erinnert an A

34 Den theologischen Gehalt dieses Motivs verkennt Mackowsky, Michelangelo (wie Anm. 27), S. 252

vollkommen, wenn er meint, die Leidenswerkzeuge sollten in Christus „mit der Erinnerung an die Schuld der Menschheit jede mildere Regung ersticken“. 35 Vasari, Le Vite (wie Anm. 2), S. 174: Evvi Cristo il quale sedendo con faccia orribile e fiera a i dannati si volge maladicendogli.

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ein Bußgewand. Das von einer Kapuze verhu¨llte zerfurchte und braune Gesicht entspricht allegorischen Darstellungen der Poenitentia, wie Michelangelo sie beispielsweise von Botticellis bekanntem Gema¨lde Die Verleumdung des Apelles her kannte.36 Die Kirche bereut, und darum gibt es fu¨r sie Hoffnung. Nun spielt auch das altkirchliche Theologoumenon der Casta Meretrix hinein: die Kirche ist eine Hure, aber in der bußfertigen Begegnung mit Christus wird sie immer wieder rein gewaschendurch das Blut, das aus seiner Seitenwunde geflossen ist. Dieser Seitenwunde ist auch die Kirche entsprungen.37 Insofern ist es schlu¨ssig, dass der Verzeihensgestus Christi zwischen seiner Seitenwunde und seiner Kirche eine gedankliche Verbindung herstellt. Dieser Gestus ist gewissermaßen die theologische Sicherung, die Michelangelo in sein Drama eingebaut hat.

VII. Das Ju¨ngste Gericht als eine gemalte Reformbulle

Im Fresko des Ju¨ngsten Gerichts hat die Geschichte der Kirche ihre letzte Konsequenz gefunden. Im Gegenzug wirkt die Vision des Ju¨ngsten Gerichts in den Kirchenraum und in die konkrete historische Situation der Kirche hinein; der Betrachter wird aus dem Bild ins Hier und Heute zuru¨ckverwiesen. In diesem Sinne erweist sich das Bild als Buß- und Trostpredigt in einem. Sie ermahnt Papst und Kurie mit den Worten Johannes des Ta¨ufers, angesichts des nahen Gottesreichs umzukehren, um dem go¨ttlichen Zorn und dem Ho¨llenfeuer zu entgehen (Mt 3, 1–12), gibt aber auch Hoffnung auf go¨ttliche Vergebung. Dieser Befund erha¨rtet die eingangs formulierte These, dass nur Paul III. – zusammen mit einigen ihm nahestehenden Theologen – als Urheber des Bildkonzepts in Frage kommt. Trotz seiner Bildung ha¨tte Michelangelo ein so komplexes Programm kaum allein ersinnen ko¨nnen. Und schon gar nicht ha¨tte er ein kirchenpolitisch so brisantes Konzept eigenma¨chtig realisieren du¨rfen. Dies schließt jedoch keineswegs aus, dass Michelangelo in die Konzeption des Freskos einbezogen wurde. Die formale Ausgestaltung der Einzelheiten geht natu¨rlich auf ihn zuru¨ck und vermutlich auch die dramatische Inszenierung der Krisis kurz vor dem Richterspruch. Vielleicht hat der Ku¨nstler auch einige theologische

36 Das Gema¨lde ist gewissermaßen die Nachscho¨pfung eines Bildes des hellenistischen Malers Apelles,

das bei Lukian (Gegen die Verleumdung/Diabole, Kap. 5) ausfu¨hrlich beschrieben ist. Dessen Ekphrasis zitierte – leicht vereinfacht – Alberti in seinem Traktat u¨ber die Malerei, wodurch sie allgemein bekannt wurde (Leon Battista Alberti, Delle Pittura. Edizione critica a cura di Luigi Malle, Florenz 1950, 3. Buch, S. 104f.). Vgl. David Jessie Dale Cast, Lucianic and Pseudo-Lucianic themes in the Renaissance. A Study in Renaissance Humanism, New York 1970; Ders., The Calumny of Apelles. A Study in the Humanist Tradition, New Haven/London 1981; David Rosand, Ekphrasis and the Genereation of Images, in: Arion 1 (1990), S. 61–65; Jean Michel Massing, Du texte a` l’image. La Calomnie d’Apelle et son iconographie, Strasbourg 1990. 37 Hierzu ausfu¨hrlich: Hans-Urs von Balthasar, Casta Meretrix, in: ders., Sponsa Verbi (Skizzen zur Theologie 2), Einsiedeln 1961, S. 203–305.

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Gedanken beigesteuert. Schließlich war er mit der Rechtfertigungslehre des spanischen Humanisten Juan de Valde´s ebenso vertraut38 wie mit den Ideen katholischer Reformkreise.39 Und natu¨rlich wird er sich an die Bußpredigten Savonarolas erinnert haben. Michelangelo hatte den Mo¨nch in seiner Florentiner Jugendzeit erlebt und in ihm einen zweiten Johannes den Ta¨ufer gesehen.40 Auf jeden Fall wird es Michelangelo dank seinen theologischen Kenntnissen und ¨ berzeugungen nicht schwer gefallen sein, die gedanklichen Vorgaben seinen eigenen U seines Auftraggebers umzusetzen. In weiten Teilen du¨rften sich Ku¨nstler und Auftraggeber sogar einig gewesen sein. Zumindest lassen sich zwischen den Bildmotiven Michelangelos und den programmatischen Aussagen Pauls III. und seiner Berater ¨ bereinstimmungen feststellen. etliche U ¨ bereinstimmung entha¨lt das Bild von der Kirche als der Braut Eine solche U Christi, die wieder von allem Makel gereinigt werden mu¨sse. Paul gebrauchte diese Metapher, als er in einer vom 23. August 1535 datierten Bulle die Ziele seiner Kirchenreform umriss.41 Wie es scheint, nahm der Papst die Wendung ecclesiam reformare sogar ganz wo¨rtlich: Es ging ihm darum, die Kirche in ihrer eigentlichen Gestalt (= forma) wiederherzustellen; sie von der Su¨nde zu reinigen und ihr ihre urspru¨ngliche Scho¨nheit (formositas) zuru¨ckzugeben. In diesem Zusammenhang wa¨re zu u¨berlegen, ob die drei weiblichen Hauptfiguren in Michelangelos Fresko fu¨r die Stadien einer innerkirchlichen La¨uterung bzw. fu¨r drei Erscheinungsformen der Kirche stehen. Wa¨hrend die Magna Peccatrix/Casta Meretrix die von der Su¨nde entstellte Kirche darstellt, verko¨rpert Maria Magdalena die Kirche, die gegen ihre Su¨nden anka¨mpft. Die Gottesmutter schließlich repra¨sentiert (zusammen mit den Heiligen) die Kirche, die ihre Su¨nden bezwungen hat. Folgt man dieser Deutung, so ha¨tte Michelangelo das traditionelle Bild von der leidenden, streitenden und triumphierenden Kirche einem Perspektivenwechsel unterzogen: Die Kirche leidet weniger unter ihren a¨ußeren Feinden, als vielmehr unter dem eigenen Klerus. Ehe sie sich zum Kampf gegen ihre a¨ußeren Gegner ru¨stet, muss sie den Feind im Innern u¨berwinden. Davon war auch Paul III. u¨berzeugt. In der schon erwa¨hnten Bulle bezeichnete er den Kampf gegen die inneren Feinde der Kirche als eine der vordringlichsten Aufgaben seines Pontifikats. Zu diesen rechnete er die Irrlehrer, aber auch die Reformgegner in Kurie und Beamtenschaft.42 Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Pauls Reformdiktion und Michelangelos Bildrhetorik ko¨nnte das Motiv des heiligen Petrus sein, der vor dem go¨ttlichen Thron Anklage erhebt. Im Juni 1536, wenige Wochen, nachdem Michelangelo mit seinen Arbeiten begonnen hatte, berief Paul eine neunko¨pfige Kommission ein. Mit ihrer Leitung beauftragte er den Venezianer Humanisten Gaspare Contarini, dem er kurz zuvor den Purpur verliehen hatte.43 Nachdru¨cklich ermahnte er die Mitglieder, alle 38 De Vecchi, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 162. 39 Romeo de Maio, Michelangelo e la Controriformo, Bari 1978. 40 Zu Savonarolas Einfluss auf Michelangelo siehe: Reinhardt, Der Go¨ttliche (wie Anm. 28), S. 46–48. 41 Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), Bd. 5, S. 107. 42 Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), Bd. 5, S. 107. 43 Hierzu ausfu¨hrlich: Elisabeth G. Gleason, Gasparo Contarini. Venice Rome, and Reform, Berkley/

Los Angelos/Oxford 1993, S. 157–176.

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Misssta¨nde innerhalb der Kirche aufzuzeichnen. Wenn nicht, werde er von ihnen vor dem go¨ttlichen Richterstuhl Rechenschaft einfordern.44 Assoziiert man diese Androhung mit Michelangelos Fresko, so scheint es, als habe der Papst in der Rolle des erzu¨rnten Petrus sich selbst gesehen. Des Weiteren lassen sich die Motive des go¨ttlichen Zorns und der zerbroche¨ ußerungen des Papstes und seines Umfelds zuordnen nen Schlu¨ssel verschiedenen A und auf diese Weise in ihrer Bedeutung pra¨zisieren. Als besonders aufschlussreich erweist sich die Grundsatzrede, mit der Kardinal Jacopo Sadoleto die erste Sitzung der Reformkommission ero¨ffnete. Zuna¨chst deutete Sadoleto den Sacco di Roma, unter dessen Folgen die Stadt noch immer leide, als ein go¨ttliches Strafgericht, das nicht infolge einer unglu¨cklichen Fu¨gung des Schicksals u¨ber die Stadt gekommen sei, wie manche meinten, sondern wegen der Su¨nden und Ha¨resien in der Kirche, der Uneinigkeit unter den Christen, und wegen der schweren Verfehlungen der fru¨heren Pa¨pste. Dann wurde er deutlicher: Von den Inhabern des ro¨mischen Stuhls, von dem die Welt einst das Heil empfangen habe, sei sogar das gro¨ßte Unheil gekommen. Sie ha¨tten den Weg der Heiligkeit verlassen, nichts zur Besserung einer entarteten Geistlichkeit unternommen und seien der Versuchung erlegen, aus der Religion Gewinn zu ziehen.45 Da Sadoleto einige Monate nach seiner Rede eine hohe Auszeichnung erhielt, muss seine Kritik ganz im Sinne des Papstes ausgefallen sein46 – zumal dieser sich ganz a¨hnlich a¨ußerte. In der Bulle, mit der er am 22. Mai 1542 das Konzil nach Trient einberief, fu¨hrte Paul das Leid, das infolge innerer Zwistigkeiten, kriegerischer Feindseligkeiten und tu¨rkischer Eroberungen u¨ber die Christenheit gekommen sei, auf den Zorn Gottes zuru¨ck, fu¨r den er wie Sadoleto die Irrungen und Schuld der Kirche und des Heiligen Stuhls verantwortlich machte.47 Zwar konnte Paul seine Vorga¨nger aus Gru¨nden der Kirchenraison nicht unmittelbar beim Namen nennen, doch ließ er andere fu¨r sich sprechen: Sadoleto, die Reformkommission – und Michelangelo. Tatsa¨chlich werden Sadoletos und Pauls Vorwu¨rfe in Michelangelos Ju¨ngstem Gericht aufgegriffen und um die u¨brigen gravamina der Reformer erweitert. Daher spricht viel dafu¨r, dass die zerbrochenen Schlu¨ssel des Petrus und das beschmutzte Gesicht der Su¨nderin nicht nur auf den allgemeinen Niedergang der Kirche anspielen, sondern auch auf den konkreten Schaden, den der Heilige Stuhl – und das Patrimonium Petri – unter den Medici-Pa¨psten Leo X. und Clemens VII. erlitten hatten. Desgleichen du¨rften Sadoleto und Michelangelo ihre Kritik gegen die Della-RoverePontifikate Sixtus IV. und Julius II. gerichtet haben.

44 Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), Bd. 5, S. 111. 45 Ders., Bd. 5, S. 112. 46 Vgl. Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), Bd. 5, S. 113, Anm. 1. 47 Bulle des Papstes Paul III. zur Einberufung des heiligen allgemeinen Konzils nach Trient; u¨ber. von

Eduard Stakemeier, in: Das Weltkonzil von Trient. Sein Werden und Wirken, hg. v. Georg Schreiber, 2 Bde., Freiburg 1951, Bd. I, S. 1–10, hier S. 1.

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VIII. Das Ju¨ngste Gericht als Dekonstruktion gentilizischer Memoria

Eine konkrete Mo¨glichkeit, die Folgen der Medici-Pontifikate zu mildern, sah Paul in der Erweiterung des Kardinalskollegiums. Durch sie verloren die unter Leo und Clemens ernannten Kardina¨le ihre Mehrheit. Außerdem hatte Paul schon 1535 den Tod des Kardinals Ippolito de’ Medici genutzt, um das Vizekanzleramt seinem Enkel Alessandro zu u¨bertragen.48 Zwei Jahre spa¨ter kam es mit Herzog Cosimo de’ Medici von Florenz sogar zu milita¨rischen Konflikten.49 Ganz anders verlief die Auseinandersetzung mit den Della Rovere, deren Einfluss in Politik und Kardinalskollegium weitaus geringer war. Wie mir scheint, setzte Paul hier gezielt auf eine Dekonstruktion des gentilizischen Prestiges, wobei er mit der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle eine dreifache Wirkung erzielte. Zuna¨chst wurde Michelangelo davon abgehalten, das Grabmal fu¨r Julius II., das fu¨r den Kommemorialkult der Familie von gro¨ßter Bedeutung war, zu vollenden. Sodann fiel aufgrund dieser Verzo¨gerung das Grabmal viel bescheidener aus als urspru¨nglich geplant. Und schließlich konterkarierte das Ju¨ngste Gericht innerhalb der Sixtinischen Kapelle ein Bildprogramm, das urspru¨nglich auch die Pontifikate Sixtus IV. und Julius II. verherrlichen sollte: Bevor die Papstgalerie durch den Auftritt von Michelangelos Petrus unterbrochen wurde, hatte sie im Pontifikat Sixtus’ IV. ihren Ho¨hepunkt gefunden. Und bevor die Scho¨pfung im Weltgericht endete, hatte sie unter Julius II. ein Goldenes Zeitalter erlebt. Letzteres legten jedenfalls die dicken Festons aus Eichenlaub nahe, die im Deckengewo¨lbe von den sog. ignudi, den sich in idealer Scho¨nheit pra¨sentierenden nackten Ju¨nglingen, gehalten werden. Zweifellos spielen sie auf das Wappen und den Namen der Della Rovere (rovere = Eiche) an.50 In eben dieses dynastische Ruhmesmonument hinein rief Paul III. den Weltenrichter. In seinem Namen ist Petrus aus der Reihe der Pa¨pste herausgetreten, um mit den beiden zerbrochenen Schlu¨sseln zwei Familien anzuklagen, die das Papstamt missbraucht haben. Der erste Bischof von Rom, der durch sein Martyrium das Papsttum begru¨ndet hat, macht deutlich, wie fragwu¨rdig die Anwesenheit seines Nachfolgers Sixtus’ IV. in der Galerie der Ma¨rtyrerpa¨pste ist. Kam die Bedra¨ngnis der Kirche zur Zeit der Ma¨rtyrerpa¨pste von außen, so entstand sie unter den Della Rovere und den Medici von innen. Am „Tag des Zorns“ zergeht der Ruhm beider Familien in Asche – unter ta¨tiger Mithilfe Michelangelos, der diesen beiden Familien ebenso wenig wohlgesonnen war wie sein Auftraggeber.51 Statt mit einer damnatio memoriae, wie sie im antiken Rom u¨blich gewesen wa¨re, zersto¨rte Paul III. die gloria seiner Vorga¨nger durch ein reformtheologisches 48 Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), Bd. 5, S. 221. 49 Ders., S. 222–227. 50 Zo ¨ llner/Thoenes, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 71. 51 Wie kritisch Michelangelos Verha¨ltnis zu den Medici war, hat Volker Reinhardt am Beispiel der Grab-

legen fu¨r Lorenzo und Giulio in S. Lorenzo zu Florenz herausgearbeitet: Reinhardt, Der Go¨ttliche (wie Anm. 28), S. 184–192. Desgleichen deutet Reinhardt das Juliusgrabmal als eine deutliche Kritik am Della-Rovere-Pontifikat (S. 288–290). Mackowsky, Michelangelo (wie Anm. 27), S. 159f. spricht sogar von einem „Hass gegen die Medici“, der sich „bis zur Unu¨berwindlichkeit na¨hrte“.

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Memento. Unter rein formalen Gesichtspunkten hatte er das Ruhmesmonument der Della Rovere sogar vollendet – und zugleich ein von Clemens VII. begonnenes Projekt fortgefu¨hrt. Ho¨chst subtil vollzog sich seine Dekonstruktion von memoria im Gewande der Pietas! ¨ ber die private Abrechnung hinaus ist Michelangelos Gema¨lde freilich auch ein U kirchenpolitisches Manifest – ungeachtet einzelner theologischer ‚Inkorrektheiten‘52. Es ist eine gemalte Reformbulle, die auf die baldige Einberufung eines Konzils dra¨ngt und – wie die wenig spa¨ter entstandenen Fresken in der Cappella Paolina53 – eine innere Neuorientierung des Papsttums verspricht.

IX. Das Ju¨ngste Gericht als Kritik an Reformatoren und weltlichen Fu¨rsten

Freilich du¨rften die zerbrochenen Schlu¨ssel des Petrus nicht nur auf den Amtsmissbrauch kirchlicher Wu¨rdentra¨ger anspielen. Bei den Kirchenva¨tern stehen die Schlu¨ssel auch fu¨r die Einheit der Kirche und den diese Einheit garantierenden Primat des ro¨mischen Bischofs.54 Durch den Ausbruch der Reformation ging diese Einheit verloren. Zugleich wurde der pa¨pstliche Primat in Frage gestellt. Das Motiv der zerbrochenen Schlu¨ssel, das auf den protestantischen Flugbla¨ttern eine rein papstkritische Bedeutung besessen hatte (Abb. 7 und 8, im Farbteil), erlangte bei Michelangelo auch eine antireformatorische Konnotation. Des Weiteren ko¨nnten sich die Vorwu¨rfe des Petrus gegen jene Fu¨rsten gerichtet haben, die im Ungehorsam gegenu¨ber dem Heiligen Stuhl auf verschiedenste Weise den inneren Zwistigkeiten Vorschub geleistet hatten: indem sie die Reformation unterstu¨tzten oder einander bekriegten. Zu diesen Kriegen za¨hlten auch die Auseinandersetzungen zwischen Franz I. von Frankreich und Karl V., die nicht zuletzt zum Sacco di Roma fu¨hrten. Damals hatten die Fu¨rsten die Gra¨ber der Apostelfu¨rsten schutzlos den marodierenden Truppen u¨berlassen. In diesem Zusammenhang ko¨nnten die zerbrochenen Petrusschlu¨ssel auch auf das gewaltsame Eindringen in das Patrimonium Petri und auf die Usurpation der Stadtherrschaft anspielen. Die Ausdehnung der Anklage auf die Reformatoren und Fu¨rsten steht nicht in Widerspruch zu der Tatsache, dass die Ecclesia Romana innerhalb des Freskos als die einzige Angeklagte erscheint. 1535, als das Bild konzipiert wurde, hielt die Kurie 52 Diese Inkorrektheiten hat Reinhardt, Der Go¨ttliche (wie Anm. 28), S. 254f. anschaulich herausgear-

beitet. Von versteckten Ha¨resien oder ketzerischen Gedanken, wie sie zum Beispiel Steinberg unterstellte, kann jedoch keine Rede sein, Leo Steinberg, Michelangelos „Last Judgement“ as merciful heresy, in: Art in America 63 (1975), S. 49–63. 53 Reinhardt, Der Go¨ttliche (wie Anm. 28), S. 290f. 54 Aurelius Augustinus, Vortra¨ge u¨ber das Johannesevangelium, 118. Vortrag (u¨ber Joh 19, 23. 24), und 124. Vortrag (u¨ber Joh 21, 19–25), in: Ausgewa¨hlte Schriften. Aus dem Lateinischen u¨bers. von Dr. Thomas Specht (Bibliothek der Kirchenva¨ter, 1. Reihe, Bd. 19), Mu¨nchen 1914, S. 340 und 386; Ders., Brief an Generosus, in: Ausgewa¨hlte Schriften. Aus dem Lateinischen von Dr. Alfred Hofmann (Bibliothek der Kirchenva¨ter, 1. Reihe, Bd. 29), Mu¨nchen 1917, S. 203.

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Peter Stephan

noch an der Idee eines Corpus Christianorum fest. Wie die Bulle, mit der Paul die Reformkommission einberief55, zeigt, betrachtete man die konfessionellen und politischen Zerwu¨rfnisse nach wie vor als innerkirchliche Vorga¨nge (noch 1541 bemu¨hte sich Contarini auf dem Reichstag in Regensburg um eine Einigung mit den Reformatoren und den protestantischen Fu¨rsten). Davon abgesehen ließ man keinen Zweifel daran, dass das Papsttum fu¨r diese Fehlentwicklungen gleichfalls Verantwortung trug. In der schon zitierten Rede wies Kardinal Sadoleto ausdru¨cklich darauf hin, dass durch die Schuld der fru¨heren Pa¨pste die Autorita¨t des Heiligen Stuhls bei den Fu¨rsten und Vo¨lkern gesunken, ja dem allgemeinen Hass anheimgefallen sei. Und so ko¨nne man nicht auszuschließen, dass Rom auch im Falle eines tu¨rkischen Angriffs ohne den Schutz der Vo¨lker dastehe werde und dieses neuerliche Strafgericht noch gro¨ßer ausfalle als das zuru¨ckliegende (gemeint ist der Sacco di Roma).56 Desgleichen hatte Paul III. in seiner Bulle zur Einberufung des Konzils nach Trient die zahlreichen Kriege, die Europa bedrohten, auf das Versagen des Heiligen Stuhls zuru¨ckgefu¨hrt (s. o.).57 Aus dieser Einsicht leitete Paul die Verpflichtung ab, die Fu¨rsten wieder miteinander zu verso¨hnen und auf einen allgemeinen Frieden hinzuwirken, so dass dem Zustandekommen eines o¨kumenischen Konzils nichts mehr im Wege stand. Vor dem Hintergrund dieser Bemu¨hungen liest sich seine Einberufungsbulle in weiten Teilen wie ein Tatenbericht. Zum einen konnte sich Paul mit einem solchen Tatenbericht erneut von der Politik der Della-Rovere- und der Medici-Pa¨pste abgrenzen: von den Kriegen, die Julius II. gefu¨hrt hatte und die ihm in Teilen Europas den Ruf eines Blutsa¨ufers eingebracht hatten, und von dem missglu¨ckten Versuch Clemens VII., Karl V. durch die Liga von Cognac milita¨risch in die Schranken zu weisen (was u. a. den Sacco di Roma zur Folge hatte). Zum anderen ist zu vermuten, dass Paul sich mit seinen Friedensbemu¨hungen vor der Welto¨ffentlichkeit, vor allem aber vor dem Weltenrichter rechtfertigen wollte. Nicht von ungefa¨hr erlangt der Text am Schluss eine eindeutig eschatologische Dimension. Jedem, der es wagen sollte, die Umsetzung der Bulle zu behindern, droht der Papst an, „dass er dadurch den Zorn des allma¨chtigen Gottes und seiner heiligen Apostel Petrus und Paulus auf sich ziehen wird“.58 Als Michelangelo sein Fresko ein Jahr nach Ausfertigung der Bulle enthu¨llte, hatte diese Drohung Gestalt angenommen. Bild und Text verhalten sich komplementa¨r: Wa¨hrend Paul u¨ber Michelangelo seine Amtsvorga¨nger unter Anklage stellen ließ, betrieb er u¨ber die pa¨pstliche Kanzlei seine eigene Rechenschaftslegung.

55 Wie Anm. 42. 56 Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), S. 112. 57 Wie Anm. 47. 58 Bulle des Papstes Paul (wie Anm. 47), S. 10.

Michelangelos Ju¨ngstes Gericht und die Krise der Kirche

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X. Das Ju¨ngste Gericht – Initialzu¨ndung zur Neugestaltung des Stadtraums?

In den Prophezeiungen des Alten Testaments, aber auch in den Weherufen Jesu bewirkt der Zorn, den Gott ob der Treulosigkeit seines Volkes empfindet, die Eroberung und Zersto¨rung Jerusalems. Im Gegenzug manifestieren sich Gottes Vergebung und der Beginn seiner neuen Herrschaft innerhalb des Alten Testaments im Wiederaufbau Jerusalems und innerhalb des Neuen Testaments in der Vision der himmli¨ berlieferung lag es nahe, dass die von Paul schen Gottesstadt. Angesichts dieser U geforderte Erneuerung der Kirche, die mit der Reinigung des eigenen Hauses und einer Reform der Stadt Rom zu beginnen habe,59 auch sta¨dtebauliche Konsequenzen zeitigte. Neben dem Antlitz der Kirche galt es, das Gesicht der Ewigen Stadt, die forma Urbis Romae, wiederherzustellen. Die renovatio Urbis wurde zu einem sichtbaren Ausdruck der reformatio Ecclesiae. Zumindest indirekt war Michelangelos Ju¨ngstes Gericht also auch die Initialzu¨ndung fu¨r die Neugestaltung Roms. Insofern war es nur folgerichtig, dass Paul bereits 1535 Weisung erteilte, die Arbeiten an St. Peter, die unter Clemens VII. ins Stocken geratenen waren, wieder aufzunehmen, und die Bauleitung 1547, nach Antonio da Sangallos Tod, Michelangelo u¨bertrug. Nicht la¨nger sollte die Bauruine an das Schicksal des babylonischen Turms erinnern. Daru¨ber hinaus ließt Paul von Michelangelo seinen Familienpalast vollenden und das Kapitol umgestalten. Vor allem aber ließ er zahlreiche Straßen begradigen, verbreitern oder neu anlegen, darunter die Via Lata (den heutigen Corso), die Via Paolina, die Via Pancio und die Via Paola.60 Die eigentliche Erneuerung Roms erfolgte jedoch erst nach dem Konzil von Trient, wa¨hrend des Reformpontifikats Sixtus V. Felice Peretti (1585–90). Nachdem die Kirche von Christus gleichsam begnadigt worden war, durfte sie sich fu¨r das Jubeljahr 1600 ru¨sten, um ihre Verma¨hlung mit dem himmlischen Bra¨utigam zu feiern. Dabei sollte sie auch sta¨dtebaulich als makellose Braut in Erscheinung treten. Folglich setzte Sixtus alles daran, den ro¨mischen Stadtraum im Zusammenspiel von Liturgie, Architektur und Ikonographie zu resakralisieren. Dabei gelang ihm jene apologetische Volte, die Paul III. mit Michelangelos Hilfe vorbereitet hatte: Rom, so lautete die neue Botschaft, war nie ein zweites Sodom oder Babylon gewesen; nach dem Sacco di Roma hatte es lediglich jenem Jerusalem geglichen, das wa¨hrend der babylonischen Gefangenschaft von den Feinden zersto¨rt lag. Doch nun war die Urbs wieder zu einem Abbild des himmlischen Jerusalem geworden, an dem sich die Verheißungen der Propheten endgu¨ltig erfu¨llten. Die Zeichen fru¨herer Heimsuchungen waren beseitigt, die Ruinen wieder aufgebaut. Die Menschen wandelten, von ihrem Oberhirten angefu¨hrt, wieder auf Gottes heiligen Wegen. Sie fanden auf den von Johannes dem Ta¨ufer gewiesenen Pfaden der Buße und Umkehr zu Christus zuru¨ck. Gott hatte inmitten der Stadt seinen Tempel wiedererrichtet, um unter den Menschen Wohnung zu nehmen. Der Stadtraum war zum

59 Pastor, Pa¨pste (wie Anm. 24), Bd. 5, S. 107. 60 Eine U ¨ bersicht findet sich bei Pastor (wie Anm. 24), S. 751–753.

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Herrschaftsbereich Christi geworden, der die Welt durch seinen Knecht, den servus servorum Dei, regierte. Nun pilgerten die Ko¨nige und Vo¨lker der Welt in Eintracht zur heiligen Sta¨tte, deren Schutz sie sich fortan angelegen sein ließen.61 Die terrestrischen Heilsra¨ume (Kapelle, Stadt und Erdkreis) waren wieder hergestellt und auch wieder miteinander sowie mit dem Himmel verbunden.

XI. Das Ju¨ngste Gericht – Memento statt Menetekel

Bekanntlich wurden bereits unmittelbar nach der Vollendung von Michelangelos Ju¨ngstem Gericht Forderungen laut, das Gema¨lde wieder zu entfernen.62 Dabei wurden vor allem a¨sthetische und moralische Gru¨nde angefu¨hrt: In dem Bild, so hieß es, dra¨ngten sich zu viele Personen in vo¨llig u¨bertriebenen Ko¨rperhaltungen und in einer geradezu ansto¨ßigen Nacktheit.63 Dass sich kein Papst dazu entschließen mochte, das Fresko durch eine gefa¨lligere Darstellung zu ersetzen, ha¨ngt vielleicht auch mit dessen Botschaft zusammen. Wahrscheinlich wa¨re eine Zersto¨rung als ein Akt der Verdra¨ngung wahrgenommen worden. Es wa¨re der Eindruck entstanden, Papst und Kurie ha¨tten die gemalte Bußpredigt als la¨stig empfunden, ha¨tten den im Bild festgehaltenen Skandal der Kirche nicht wahrhaben wollen. Im Gegenzug la¨sst sich der Erhalt des Freskos als ein Bekenntnis zur Reform deuten. Gerade weil die Pa¨pste das Bild als ein fortwa¨hrendes Memento beließen, wurde es ihnen nicht zum Menetekel.

61 Zur Umgestaltung Roms in eine heilige Stadtlandschaft nach dem Konzil von Trient darf der Verfas-

ser auf seine eigene Forschung verweisen: Peter Stephan, Der vergessene Raum. Die dritte Dimension in der Fassadenarchitektur der fru¨hen Neuzeit (Eikonika´ 1), Regensburg 2009, bes. S. 140–232, 237–339 und 339–384; ders., Der Griff nach den Sternen. Die gentilizische Kodierung des ro¨mischen Stadtraums durch Grabma¨ler unter Sixtus V. und Alexander VII., in: Grab – Kult – Memoria. Studien zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung, hg. v. Carolin Behrmann/Arne Karsten/Philipp Zitzlsperger, Ko¨ln/Weimar/Wien 2007, S. 75–103; Ders., Rom unter Sixtus V. Stadtplanung als Vergegenwa¨rtigung von Heilsgeschichte, in: Zeitschrift fu¨r Kunstgeschichte 72 (1/2009), S. 165–214; ders., Transformation und Transfiguration. Die bauliche und geistige Erneuerung Roms unter Sixtus V., in: Heilige Landschaft – Heilige Berge, hg. v. Werner Oechslin (Achter Internationaler Barocksommerkurs Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln), Zu¨rich 2013, S. 84–129. 62 De Vecchi/Colalucci, Die Wiedergeburt (wie Anm. 26), Bd. III, S. 27, und Reinhardt, Der Go¨ttliche (wie Anm. 28), S. 158–163. 63 Hierzu ausfu¨hrlich Reinhardt, Der Go¨ttliche (wie Anm. 28), S. 256–259, und Zo ¨ llner/Thoenes, Michelangelo (wie Anm. 10), S. 247f.

UNTER EINEM DACH Kirchenbau in Berlin zwischen 1680–1720 von Vera Isaiasz

Der im Vorwort des Sammelbandes skizzierte Untersuchungskomplex des Verha¨ltnisses von Stadt und sozial generiertem Raum soll in diesem Aufsatz anhand des Kirchenbaus in der Residenzstadt Berlin an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert betrachtet werden. Dabei gilt es, im Anschluss an die neuere Diskussion des Raumbegriffs, unter Kirche nicht nur den durch seine Architektur begrenzten Ort, sondern einen erst durch die Interaktion der Akteure und durch seine theologische Deutung bestimmten Handlungsraum sowie einen diskursiv produzierten Imaginationsraum zu verstehen.1 Zwischen 1678 und 1720 gab es in Berlin einen regelrechten Kirchenbauboom. Insgesamt wurden acht Kirchen gebaut oder umgebaut, deren Besonderheit darin bestand, dass die meisten simultan von reformierten und lutherischen Gemeinden genutzt wurden.2 Der komplexe Vorgang von Kirchenneubau, Pfarrgru¨ndung und Stadterweiterung soll hier anhand der ersten kirchlichen Neubauten Berlins seit dem Mittelalter untersucht werden. Dabei war die Phase um 1700 eine von interkonfessionellen Auseinandersetzungen und Grabenka¨mpfen gepra¨gt. In Berlin hatte die sogenannte Toleranzpolitik der Kurfu¨rsten, die Teil ihrer Peuplierungspolitik war, die Ansiedlung von franzo¨sischen und bo¨hmischen Glaubensflu¨chtlingen sowie protestantischen Salzburgern und schließlich Juden gefo¨rdert und in Berlin ein starkes Bevo¨lkerungswachstum mit bedingt.3 So wurden fu¨r den reformierten Gottesdienst,

1 Aus der Fu¨lle der zum spatial turn erschienen Literatur sei hier nur stellvertretend Martina Lo ¨ w,

Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, genannt.

2 Unter Kurfu¨rst Friedrich III. dem spa¨teren Ko¨nig Friedrich I., sollen in den brandenburgischen Ter-

ritorien rund 200 Kirchen errichtet und in Stand gesetzt worden sein. Von diesen sollen den deutschreformierten und den franzo¨sisch-reformierten Gemeinden je 30 geho¨rt haben. Diese Zahlen beziehen sich nicht nur auf Neubauten, sondern auch auf die von den Gemeinden erworbenen a¨lteren, la¨nger nicht genutzten und wieder in Stand gesetzten Kirchen. Zahlen nach: Sibylle Badstu¨bner-Gro¨ger, Der hugenottische Kirchenbau in Berlin und Potsdam, in: Hugenotten in Berlin, hg. v. Gottfried Bregulla, Berlin 1988, S. 133. 3 Wa¨hrend sich die sta¨dtische Bevo¨lkerung im Dreißigja¨hrigen Krieg halbiert hatte – von etwa 12 000 auf 6000 Einwohner –, za¨hlte diese gegen Ende des 17. Jahrhunderts ungefa¨hr 30 000. Nach 1685 hatten sich etwa 10 000 Hugenotten in der Mark Brandenburg angesiedelt, von denen sich etwa 6000 in Berlin und seinen Vorsta¨dten niederließen. Um 1700 war schließlich fast jeder fu¨nfte Bewohner fran-

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der bis zum Ende des Dreißigja¨hrigen Krieges nur in der Hofkirche gefeiert worden war,4 neue Orte im sta¨dtischen Raum geschaffen. Mit ihrer Kirchenbau- und Religionspolitik zielten die Kurfu¨rsten insgesamt darauf ab, das reformierte Element im Land zu sta¨rken und langfristig eine Einebnung der konfessionellen Gegensa¨tze zugunsten der Reformierten zu bewirken.5 Aus Sicht der lutherischen Mehrheitsbevo¨lkerung bedeutete die Aufnahme der reformierten Glaubensflu¨chtlinge jedoch eine erzwungene, durchaus ungewollte Koexistenz.6 In den alten Pfarrkirchen der Doppelstadt Berlin und Co¨lln wurde der Unmut u¨ber die landesherrliche Religionspolitik offen gea¨ußert. Die lutherischen Pfarrer polemisierten von der Kanzel gegen die andere Konfession. Hiergegen, na¨mlich gegen das sogenannte Verhetzen von der Kanzel gegen die Reformierten, erließ der reformierte Kurfu¨rst bereits 1662 das sogenannte Toleranzedikt. Das auch als „La¨steredikt“ bezeichnete Gesetz untersagte den lutherischen Pfarrern und Theologen bei Androhung der Amtsenthebung, gegen die Reformierten wa¨hrend der Predigt zu agitieren.7 Die kurfu¨rstliche Religionspolitik, die zudem von den Pfarrern verlangte, ein Toleranzedikt, das faktisch eine Einschra¨nkung der Geltung der lutherischen Bekenntnisschriften bedeutete, zu unterzeichnen, fu¨hrte schließlich dazu, dass eine Handvoll Pfarrer, darunter der bekannte Kirchenlieddichter Paul Gerhardt, im Berliner Kirchenstreit 1668 des Landes verwiesen wurde.8 An die neu gegru¨ndeten Kirchen dagegen wurden nur solche Geistliche berufen, die dem reformierten Bekenntnis nicht ablehnend gegenu¨berstanden, sondern

zo¨sisch-reformierter Konfession. Vgl. Thomas Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie, in: Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, hg. v. Gerd Heinrich, Berlin 1999, S. 295. 4 Kurfu¨rst Joachim II. hatte 1535 begonnen, die su¨dlich des Schlosses gelegene Dominikaner-Kirche zur neuen Hofkirche umzubauen. Zu der umfangreichen Ausstattung geho¨rte eine Heiltumssammlung sowie ein von Lucas Cranach gefertigter Heiligen- und Passionszyklus. Vgl. Andreas Tacke, Der ¨ ., Simon Franck und der Crakatholische Cranach. Zu zwei Großauftra¨gen von Lucas Cranach d. A nach-Werkstatt (1520–1540) (Berliner Schriften zur Kunst 2), Mainz 1992. 5 Der seit dem Großen Kurfu¨rsten gefo¨rderte Prozess, der zuna¨chst die starke Position der orthodoxlutherischen Landeskirche, zielte langfristig auf eine Union der beiden protestantischen Konfessionen ab. Vgl. Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie (wie Anm. 3), S. 294. 6 Zum Begriff der konfessionellen Koexistenz vgl. Jan-Friedrich Missfelder, Religio¨se Koexistenz im ¨ berlegungen und begriffliche Parameter, in: Kaftan, Kreuz und urbanen Raum – Konzeptionelle U Kopftuch. Religio¨se Koexistenz im urbanen Raum (15. – 20. Jahrhundert), hg. v. Andreas Schmauder/ Jan-Friedrich Missfelder (Stadt in der Geschichte 35), Ostfildern 2010, S. 7–17. 7 Corpus Constitutionum Marchicarum, Oder ... publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta, hg. v. Christian Otto Mylius, Berlin/Halle 1737, Abt. I,1, Nr. XXXI vom 16. September 1664: „Edict, daß die Evangelischen Religions-Verwandte Reformierte und Lutheraner weder mit Schma¨hen und La¨sterungs-Nahmen, noch mit denen aus der Lehre gemachten Consequentien ein ander angreiffen sollen (...).“ Vgl. auch Nr. XXXII vom 4. Mai 1665 sowie das Edikt vom 6. Mai 1669 (Nr. XXXVI), wonach sich „die Reformierte und Lutherische Priester sich aller Anzu¨glichkeiten auf der Cantzel gegen einander enthalten sollen.“ 8 Paul Gerhardt war von 1657–1669 Inhaber der zweiten Diakonatsstelle an der Berliner Nikolaikirche gewesen. Wegen maßloser Kanzelpolemik war bereits 1659 der Pfarrer der Co¨llner Petrikirche, Samuel Pomarius, entlassen worden. Zum Berliner Kirchenstreit und mit einer Neueinscha¨tzung des Verhaltens Paul Gerhardts vgl. Albrecht Beutel, Paul Gerhardt und der Große Kurfu¨rst, in: Paul Gerhardt – Dichtung, Theologie, Musik. Wissenschaftliche Beitra¨ge zum 400. Geburtstag, hg. v. Dorothea Wendebourg, Tu¨bingen 2008, S. 159–173.

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auf Ausgleich bedacht waren.9 Die inter-konfessionellen Spannungen blieben jedoch noch weiterhin latent, und die Bestimmungen des La¨steredikts mussten wiederholt publiziert werden. Noch 1675 verließ ein Prediger der Co¨llner Petrikirche das Land, nachdem ihm der Kurfu¨rst die Kanzel verboten und die Gemeinde sich vergeblich fu¨r ihren Pfarrer eingesetzt hatte.10 Angesichts des starken Bevo¨lkerungswachstums in Berlin um 1700 sowie einer Reihe von theologischen Differenzen zwischen Reformierten und Lutheranern, etwa in der Frage des Abendmahls oder des Bildschmucks der Kirchen, ist zu fragen, ob die neuen Pfarrkirchen zu Integrationsorten im gemischtkonfessionellen Berlin werden konnten.11 Welche Funktionen hatten die simultan, von zwei bzw. sogar drei, also von den deutsch-reformierten, den franzo¨sisch-reformierten sowie von den deutschlutherischen Gemeinden genutzten Kirchen fu¨r Vergesellschaftungsprozesse in der wachsenden sta¨dtischen Gesellschaft? Von der Forschungsliteratur werden die um 1700 errichteten Bauwerke oft unter dem Signum absolutistischer Kirchenbaupolitik subsumiert und als ein zentrales Instrument der Konfessionalisierungsstrategie des reformierten Landesherrn bewertet.12 Als Teil des durch die Kurfu¨rsten von Brandenburg, seit 1701 Ko¨nige in Preußen, betriebenen Ausbaus der Residenzstadt werden sie nach den Maßsta¨ben barocker Stilbaukunst analysiert.13 Um stattdessen bemessen zu ko¨nnen, inwieweit diese Kirchen dem Bedarf und den Erfordernissen der Bevo¨lkerung tatsa¨chlich entsprachen, gilt es, die Mitwirkung der Bu¨rger in den neu entstehenden Stadtteilen beim Kirchenbau zu betrachten und daher die Planungsphase und die Finanzierung der Kirchen zu skizzieren.14 Dabei wird von zwei Grundannahmen ausgegangen: zum einen, dass in Berlin um 1700 bedeutende Sakralbauten entstanden, zum anderen dass die Kirchen als o¨ffentliche Geba¨ude einen Funktionswandel durchliefen.15 Als Gru¨nde hierfu¨r ko¨nnen unter anderem die 9 Erika Schachinger, Die Dorotheenstadt 1673–1708. Eine Berliner Vorstadt, Ko¨ln/Weimar/Wien

2001, S. 59f.

10 Georg Gottfried Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin ... erster Theil, Berlin 1737, S. 569. 11 Zu den Problemen einer gemeinsamen, d. h. simultanen Nutzung von Kirchengeba¨uden durch unter-

schiedliche Konfessionen, etwa durch Reformierte und Katholiken in der Schweiz vgl. Daniela Hacke, Der Kirchenraum als politischer Handlungsraum. Konflikte um die liturgische Ausstattung von Dorfkirchen in der Eidgenossenschaft, in: Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Susanne Wegmann/Gabriele Wimbo¨ck (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters der Fru¨hen Neuzeit 3), Korb 2007, S. 137–157. Frauke Volkland, Konfession und Selbstversta¨ndnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofzell im 17. Jahrhundert (VMPI 210), Go¨ttingen 2006. Zur Nutzung von Kirchenra¨umen in den gemischtkonfessionellen Sta¨dten und Regionen Ostmitteleuropas wie Prag oder Siebenbu¨rgen vgl. die Beitra¨ge in dem Sammelband Formierung des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa, hg. v. Evelin Wetter (Forschungen zur Geschichte und Kultur des o¨stlichen Mitteleuropas 33), Stuttgart 2008. 12 Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Ra¨ume. Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengeba¨udes, Darmstadt 2008, S. 119–121. Zwischen 1687 und 1740 wurden in Berlin insgesamt 17 Kirchen gebaut. 13 Vgl. Melanie Mertens/Hellmut Lorenz, Kirchen zwischen 1648 und 1780, in: Berlin und seine Bauten, Teil VI: Sakralbauten, Berlin 1997, S. 16–38, hier v. a. S. 16–24. 14 Dazu kann auf die a¨ltere landeshistorische Forschung aufgebaut werden. Walter Wendland, Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte Berlins (Berlinische Forschungen 3), Berlin/Leipzig 1942, S. 42. 15 Ich folge hier U ¨ berlegungen von Rudolf Schlo¨gl, der einen Bedeutungsverlust o¨ffentlicher Glaubenspraktiken und Gottesverehrung im Zuge der Differenzierung von Gesellschaft und religio¨sem Feld

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Vera Isaiasz

Ausdifferenzierung des religio¨sen Feldes in Berlin um 1700 sowie die kurfu¨rstliche Politik, die versuchte, die Bedeutung von Kirchen als Orte lokaler Kommunikation einzuschra¨nken, vorausgesetzt werden. Wie sich also der Kirchenraum unter diesen Bedingungen konkretisieren ließ, ist Gegenstand dieses Aufsatzes. Im Folgenden soll zuna¨chst allgemein die Bedeutung von Kirchenbauten fu¨r die Vergesellschaftungsprozesse sta¨dtischer Kommunen skizziert werden (1.), um danach kurz die Baugeschichte der Berliner Kirchen und deren Bezug zum Stadtraum darzustellen (2.), um (3.) anhand von Konflikten um die Nutzungen der Kirchen zu fragen, in welchem Wechselverha¨ltnis diese Konflikte mit der Ordnung und der Stabilita¨t der Stadtgemeinde standen.16

I. Die Bedeutung von Kirchenbauten fu¨r Vergesellschaftungsprozesse sta¨dtischer Kommunen

Die mittelalterlichen Sta¨dte boten ein breites und differenziertes Angebot zur Ausu¨bung religio¨ser Praktiken und Mo¨glichkeiten der Vergesellschaftung. Indem die Bu¨rger immer mehr Mitsprache etwa bei der Besetzung der Pfarrstellen oder innerhalb der kirchlichen Institutionen gewannen,17 kam es im Spa¨tmittelalter zu immer sta¨rkeren Einbindung der Kirche in die Stadtgesellschaft. So wurden Kirchen zu Knotenpunkten im allta¨glichen Leben der Gemeinde, und die zahlreichen Kirchenund Klosterbauten, die das Stadtbild bestimmten, waren Ausdruck der engen Symbiose von Stadt und Religion. Dieser Zusammenhang politischer und religio¨ser Vergemeinschaftung kann als anerkanntes Faktum der Stadtgeschichtsforschung gelten.18 Dabei zeichneten sich vor allem die Pfarrkirchen dadurch aus, dass ihre Nutzung nicht allein auf eine religio¨se im heutigen engeren Sinn beschra¨nkt war, sonkonstatiert hat. Demgema¨ß soll hier davon ausgegangen werden, dass die Kirchen, die im konfessionellen Zeitalter die zentralen Orte waren, an denen nicht nur die o¨ffentliche Gottesverehrung ihren Platz hatte, sondern die konfessionelle Rechtgla¨ubigkeit und Homogenita¨t geradezu demonstriert wurden, langfristig ihre religio¨sen wie gesamtgesellschaftlichen Funktionen zunehmend einbu¨ßten. Vgl. Rudolf ¨ ffentliche Gottesverehrung und privater Glaube in der Fru¨hen Neuzeit. Beobachtungen Schlo¨gl, O zur Bedeutung von Kirchenzucht und Fro¨mmigkeit fu¨r die Abgrenzung privater Sozialra¨ume, in: Das ¨ ffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), hg. v. Gert Melville/Peter von O Moos, Ko¨ln 1998, S. 165–209. 16 Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, O ¨ ffentliche Ra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit. U ¨ berlegungen zu Leit¨ ffentbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, hg. v. dens., Zwischen Gotteshaus und Taverne. O liche Ra¨ume in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit (Norm und Struktur 21), Ko¨ln/Weimar/Wien 2004, S. 11–52, hier S. 25. 17 Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des Spa¨tmittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung (VSWG Beih. 177), Stuttgart 2005. 18 Die a¨ltere Literatur zusammenfassend: Werner Freitag, Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bu¨rgerkirche – Urbanes Zentrum, in: Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bu¨rgerkirche – Urbanes Zentrum, hg. v. dems. (StF A 82) Ko¨ln/Weimar/Wien 2011, S. XI–XVII. Von der a¨lteren Literatur sei hier nur auf die Studie von Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation, bearb. Neuausgabe, Berlin 1987, verwiesen, der die Stadt als „corpus christianum im kleinen“ bezeichnet hat.

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dern dass sie in gewisser Hinsicht Multifunktionsra¨ume und eben auch politische Ra¨ume waren. Sie konnten Treffpunkt des Magistrats sein, als tempora¨rer Marktoder Lagerplatz dienen und standen jederzeit den Gla¨ubigen offen. Unter den Orten ¨ ffentlichkeit, wie Rathaus, Gastha¨user und Marktplatz, nahmen Kirsta¨dtischer O chen und Kirchho¨fe somit eine besondere Stellung ein,19 denn keiner dieser Orte war in dieser Weise einerseits o¨ffentlich, das heißt allgemein zuga¨nglich, und andererseits durch Theologie, Architektur, Ausstattung und Verhaltensvorschriften so normiert wie die Kirchen. Die Epoche der Reformation erscheint als Ho¨hepunkt dieser Symbiose von politischer Selbststa¨ndigkeit und kommunaler Religiosita¨t,20 in der die Magistrate in vielen Sta¨dten die Religionshoheit erlangten, indem sie die Patronatsrechte der Pfarrkirchen an sich zogen.21 Dies gelang auch in den immediaten Landsta¨dten der Mark Brandenburg, wie in der Doppelstadt Berlin-Co¨lln oder Frankfurt an der Oder. Zugleich bedeutete die Reformation fu¨r die theologische und gesellschaftliche Konzeption von Kirchenra¨umen und ihre Nutzung einen tiefen Einschnitt: Die Reformatoren attackierten die mittelalterlich-katholische Konzeption der Heiligkeit des Raumes als idolatrisch und brandmarkten den teuren Bau von Kirchen als Verschwendung. Auch die sozialen Nutzungen der Kirchengeba¨ude wurden kritisiert, die zu Kaufha¨usern und Pferdesta¨llen verkommen seien. Stattdessen betonte man Gottes Allgegenwart und postulierte die freie Wahl des Gottesdienstortes.22 Auch fu¨r Martin Luther war die innere Glaubenseinstellung der Menschen entscheidend, nicht die Wahl des a¨ußeren Gottesdienstortes. Der Tempel Gottes sollte in den Gla¨ubigen selbst gegenwa¨rtig sein.23 Aber trotz dieser fundamentalen Kritik an der mittelalterlichen Konzeption von Sakralra¨umen und an ihrer gesellschaftlichen Nutzung sowie angesichts der Auflo¨sung der Klo¨ster, blieben die Sta¨dte auch nach der Reformation kirchliche Zentren.

19 In der vormodernen Anwesenheitsgesellschaft war O ¨ ffentlichkeit sta¨rker als heute an konkrete, archi-

tektonisch strukturierte Ra¨ume gebunden, weshalb vormoderne Sta¨dte dadurch gekennzeichnet sind, dass sie in einem ho¨heren Maße eine – wenn auch hierarchisierte – Mo¨glichkeit der Kommunikation boten. Diese Orte standen zueinander in einem komplementa¨ren und zugleich konkurrierenden Verha¨ltnis, deren jeweilige Funktionen fu¨r die Stadtgemeinde von der Forschung meiner Meinung nach noch weitergehend vergleichend zu bestimmen wa¨ren. 20 Heinz Schilling hat ein Phasenmodell der Beziehungsgeschichte von Stadt und Kirche entworfen, das vor allem fu¨r die Sta¨dte im Reich Gu¨ltigkeit hat. Vgl. Heinz Schilling, Urban Architecture and Ritual in Confessional Europe, in: Religious Ceremonials and Images: Power and social meaning (1400–1750), hg. v. Jose Paiva (Cultural Exchange in Europe 2), Coimbra 2002, S. 9–11. 21 Vgl. zum Folgenden Vera Isaiasz/Matthias Pohlig, Soziale Ordnungen und ihre Repra¨sentationen: Perspektiven der Forschungsrichtung ‚Stadt und Reformation‘, in: Stadt und Religion in der fru¨hen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repra¨sentationen, hg. v. dens./Ute Lotz-Heumann/Monika Mommertz (Eigene und fremde Welten. Repra¨sentationen sozialer Ordnungen im Vergleich 4), Frankfurt a. M./New York 2007, S. 15–20, mit weiterfu¨hrender Literatur. 22 Zu Calvin vgl. Harold Hammer-Schenk, Art. Kirchenbau III, in Theologische Realenzyklopa¨die 18, Berlin/New York 1989, S. 461. 23 „Es liegt furwar nicht an stetenn noch gepewen, wo wir zusammen kommen, sondern allein an diesem unuberwindlichen gebet, das wir dasselb recht zusammen thun und fur got kommen lassen.“ Martin Luther, Von den Guten wercken (1520), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Weimar 1888, S. 202–276, hier S. 239.

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Die Bedeutung der Pfarrkirchen als Ort des Sonntagsgottesdienstes steigerte sich in gewisser Hinsicht noch, wurde dieser doch, nach dem Wegfall der Privatmessen und anderer Glaubenspraktiken, zum zentralen, wo¨chentlich wiederkehrenden Ritual, zu dessen Teilnahme alle Gemeindemitglieder verpflichtet waren. Die Residenzsta¨dte evangelischer Territorien entwickelten sich zum Sitz wichtiger kirchlicher Institutionen, und der an den Hofkirchen gefeierte Ritus bekam Vorbildfunktion fu¨r die Pfarrkirchen des Landes.24 Im Zeitalter der Konfessionalisierung, in dem die sta¨dtischen Obrigkeiten nach konfessioneller Homogenita¨t strebten und anders-konfessionelle Elemente nicht mehr geduldet wurden, avancierte vor allem die Ausstattung der Kirchen zum Medium der Bekenntnisinszenierung.25 Wa¨hrend der Kirchenbau beider evangelischer Konfessionen in stilistischer Hinsicht vielfa¨ltig und von verschiedenen Traditionen und Vorbildern beeinflusst war – nur die temples der franzo¨sischen Hugenotten brachen bewusst mit jeder Kirchenbautradition –,26 gab es grundlegende Unterschiede in der Frage der Nutzung des Kirchengeba¨udes, seiner theologischen Deutung und seiner Ausstattung. Zwar hatten Martin Luther und Johannes Calvin beide den Nutzen des Zweckbaus Kirche fu¨r eine geordnete Gottesdienstfeier betont, dennoch folgten aus den verschiedenen Abendmahlsliturgien unterschiedliche Anforderungen an den gestalteten Raum. Denn wa¨hrend im Luthertum die Predigt und das Abendmahlssakrament als heilsnotwendige Bestandteile des Gottesdienstes verstanden wurden und die Versammlung der Gla¨ubigen um den Altar Voraussetzung fu¨r die Realpra¨senz beim Abendmahl war, lehnten die Reformierten eine ha¨ufige Feier des Abendmahls, das sie als reines Geda¨chtnismahl verstanden, ab und betonten, dass allein das Ho¨ren des Wort Gottes in der Predigt den Weg zur Erlo¨sung bot. Nicht nur wegen dieses fundamentalen theologischen Unterschieds waren aus Sicht der Reformierten Liturgie und Glaubenspraxis der Lutheraner um 1600 von zahlreichen altkirchlichen Ru¨cksta¨nden durchsetzt, wie dies nicht zuletzt auch die theologische Kontroverse um die Bilder im Kirchenraum zeigt, deren Ho¨hepunkt zwischen 1570 und 1618 lag, als im Zuge der Konversion zahlreicher lutherischer Fu¨rsten zum Reformiertentum in deren Residenzsta¨dten ha¨ufig Bildentfernungen in den Hauptkirchen stattfanden.27

24 Kurt Andermann, Kirche und Grablege. Zur sakralen Dimension von Residenzen, in: Residenzen.

Aspekte hauptsta¨dtischer Zentralita¨t von der fru¨hen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie, hg. v. dems. (ObrhStud 10), Sigmaringen 1992, S. 159–187. 25 Ruth Slenczka, Sta¨dtische Repra¨sentation und Bekenntnisinszenierung. Die Braunschweiger Kirchenordnung von 1528 und die reformatorische Ausstattung der Bru¨dernkirche, in: Kommunikation und Transfer im Christentum der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Irene Dingel/Wolf-Friedrich Scha¨ufele (VInstEurG 74), Go¨ttingen 2008, S. 229–273. 26 Einen U ¨ berblick u¨ber den Kirchenbaustil bei den Reformierten gibt Klaus Mertens, Der Kirchenbau der Reformierten, in: Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, hg. v. Ansgar Reiss/ Sabine Witt, Dresden 2009, S. 296–303. Zum reformierten Kirchenbau in Europa siehe Andrew Spicer, Calvinist churches in early modern Europe, Manchester 2007. Die Berliner Kirchen klammert er allerdings aus. 27 Sergiusz Michalski, Das Pha¨nomen Bildersturm. Versuch einer U ¨ bersicht, in: Bilder und Bilderstu¨rme im Spa¨tmittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Bob Scribner/Martin Warnke, Wiesbaden 1990, S. 69–125. Das Pha¨nomen des reformierten Bildersturms in Residenzsta¨dten wa¨hrend des konfessionellen Zeitalters bearbeitet Nadine Lehmann (HU Berlin) in ihrer Doktorarbeit.

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Auch aus der Berliner Hof- oder Domkirche wurden im Ma¨rz 1615 – in Folge der Konversion des Kurfu¨rsten Johann Sigismund (1572–1619) zum Reformiertentum 1613 – die gesamte Ausstattung mit zahlreichen Alta¨ren, Kreuzen und Reliquien entfernt, womit der Bruch zwischen der lutherischen und calvinistischen Reformation manifestiert werden sollte. Die Ausstattung der Hofkirche hatte nicht mehr der ¨ berresten zu reinicalvinistisch-reformierten Vorstellung eines von katholischen U genden Kirchenraumes entsprochen. Die mehrheitlich lutherische Bevo¨lkerung empfand die Bildentfernung jedoch als Frevel, und lutherische Theologen erhoben dagegen nun das Bewahren der bildlichen Ausstattung zum Ausweis lutherischer Rechtgla¨ubigkeit. In den Pfarrkirchen Berlins und Co¨llns hatte nach der Reformation das Bu¨rgertum mit der Umgestaltung der Kirchenra¨ume, etwa durch die Stiftung zahlreicher Epitaphien, begonnen, wodurch die Kirchen eine reiche Ausstattung an nachreformatorischen und spa¨tmittelalterlichen religio¨sen Kunstwerken erhalten hatten.28 Der Akt der Bildsa¨uberung in der Hofkirche wurde daher nicht nur als Angriff auf die religio¨sen Bilder als solche verstanden, sondern als Kampfansage an das Raumversta¨ndnis der lutherischen Konfession insgesamt und das Selbstverwaltungsrecht der einzelnen Gemeinden.29 Letztlich standen sich in diesem Streit zwei kontra¨re Konzepte des Kirchenraums und religio¨ser Repra¨sentationen gegenu¨ber. Um die anhaltende theologische Debatte um die Konversion des Kurfu¨rsten und seine Religionspolitik, die erst zu Beginn des Dreißigja¨hrigen Krieges abflachte, zu unterbinden, war bereits am 24. Februar 1614 per Edikt den Geistlichen das unno¨tige Gezanck und disputieren auff der Cantzell verboten worden.30 Inhaltlich waren hier die Bestimmungen des La¨steredikts von 1664 bereits vorweggenommen.

28 Dazu Maria Deiters, Hof- und Stadtgesellschaft im Kirchenraum. Geda¨chtnismale residenzsta¨dti-

scher Eliten in der Berliner Nikolaikirche, in: Cranach und die Kunst der Renaissance unter den Hohenzollern. Kirche, Hof und Stadtkultur. Ausstellung der Stiftung Preußische Schlo¨sser und Ga¨rten in Kooperation mit der Evangelischen Kirchengemeinde St. Petri-St. Marien, Berlin/Mu¨nchen 2009, S. 28–41. 29 So rechtfertigt etwa Petrus Conovius, Pfarrer der Altstadt Brandenburg und ein prominenter Vertreter der orthodoxen Landeskirche, die Rechte seiner Gemeinde im Umgang mit ihrer Kirche und deren ¨ bertritt des Kurfu¨rsten zum calvinistischen Bekenntnis griff er in zwei FlugAusstattung. Nach dem U schriften die landesherrliche Religionspolitik scharf an. Einer der Hauptpunkte dieses Streits war eben die vom Landesherrn in der Berliner Domkirche veranlasste Bildentfernung. Seine Schrift „Von der Ausmusterung der Bilder“ ist eine Rechtfertigung der biblischen Historienbilder seiner Vorga¨ngergeneration, die er als memoralia, also Erinnerungsbilder Gottes himmlischer Offenbarung bezeichnet. Diese Bilder ko¨nnten im Kirchenraum aus christlicher Freyheit in ihrem rechten gebrauch ... wol ... gelitten werden. Die Entscheidungsbefugnis u¨ber die „Ausmusterung“ solcher Bilder sieht Conovius eben nicht beim Landesherrn, sondern bei den jeweiligen Gemeinden und deren Kirchenpatronen. Diese sollen selbst daru¨ber entscheiden ko¨nnen, welche Bilder sie in ihren Kirchen behalten oder eben „ausmustern“ wollen, Petrus Conovius, Bescheidentliche Abfertigunge ... Die Ausmusterung der Bilder betreffende ..., Wittenberg 1615, Bl. AIIf. 30 Mylius, CCM, 1,I (wie Anm. 7), Sp. 353f.

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II. Baugeschichte der Berliner Kirchen und ihr Bezug zum Stadtraum

Wa¨hrend des Dreißigja¨hrigen Krieges war Berlin-Co¨lln zwar nicht geplu¨ndert worden, aber dennoch hatte sich die Bevo¨lkerung der Doppelstadt durch Seuchen und den Niedergang des Handels auf etwa 6000 Einwohner reduziert, nahezu halbiert. Bereits 1680 aber lebten in der Residenz wieder 20 000 Menschen, und 1709 za¨hlte die Stadt etwas u¨ber 55 000 Einwohner. Grundlage fu¨r diese sich in wenigen Jahrzehnten vollziehende Entwicklung war der unter Kurfu¨rst Friedrich Wilhelm (1640–1688) und Friedrich III., seit 1701 preußischer Ko¨nig Friedrich I. (1688–1713), sich vollziehende Staatsbildungsprozess, der die Einfu¨hrung einer umfassenden Besteuerung, die Bildung eines stehenden Heeres sowie die Wirtschaftsfo¨rderung beinhaltete. Integraler Bestandteil war daneben die Residenzbildung und eine damit einhergehende Peuplierungspolitik, die etwa die Einwanderung der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten durch das 1685 durch Kurfu¨rst Friedrich Wilhelm erlassene Edikt von Potsdam erlaubte und fo¨rderte. In den folgenden Jahren kamen 20 000 Refugie´s ins Land, von denen sich ein Drittel in der Residenz ansiedelte. Folge des Ausbaus Berlins zu einer Residenz war eine enorme, seit 1661 durch die Kurfu¨rsten gefo¨rderte Bauta¨tigkeit.31 Neben den errichteten landesherrlichen Repra¨sentationsbauten wie Stadtschloss und Zeughaus, wurden in der zweiten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts in rascher Folge Vorsta¨dte durch die Kurfu¨rsten gegru¨ndet, die die Grenze der mittelalterlichen Doppelstadt vor allem in westlicher Richtung auf kurfu¨rstlichem Boden erweiterten: Kurfu¨rst Friedrich Wilhelm ließ 1662 Friedrichswerder westlich des Spreekanals und 1674 die Dorotheenstadt an beiden Seiten der Allee unter den Linden anlegen. Kurfu¨rst Friedrich III. gru¨ndete schließlich 1688 die Friedrichstadt. Folge war eine bauliche und ra¨umliche Neuordnung der Residenz, durch die das kurfu¨rstliche bzw. ko¨nigliche Schloss, das urspru¨nglich außerhalb der Stadt lag und nur an das mittelalterliche Co¨lln angrenzte, sich nun im Zentrum der Residenz befand. Schon 1658 war mit den Festungsbauten begonnen worden, die auf Berliner Seite dicht vor der mittelalterlichen Festungsmauer angelegt wurden, auf Co¨llner Seite jedoch betra¨chtlich u¨ber den Spreearm hinausgriffen und den Werder mit einbezogen.32 Politisch jedoch waren die drei Sta¨dte zuna¨chst eigensta¨ndig, und jede Stadt hatte eigene Magistrate, bei deren Besetzung der Landesherr jedoch umfangreiche Mitspracherechte hatte. Die drei Vorsta¨dte, Friedrichstadt, Dorotheenstadt und Friedrichswerder, wurden bald zu Zentren der Hugenottensiedlungen, in denen nicht das traditionelle Bu¨rger- und Zunftrecht der a¨lteren brandenburgischen Sta¨dte galt.

31 Folgendes nach: Heinrich Trost, Von der mittelalterlichen Handelsstadt zur Hauptstadt des Preu-

ßischen Ko¨nigreiches, in: Denkmale in Berlin. Bezirk Mitte. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Landesdenkmalamt Berlin, Peterberg 2003, S. 37–60. 32 Teil des kurfu¨rstlichen Residenzausbaus waren zahlreiche neue Vorschriften, mit denen die Landesherren das Erscheinungsbild der Stadt auch im Inneren sowie das sich hier abspielende o¨ffentliche Leben zu reglementieren suchten: 1660 wurde etwa mit der Brunnen- und Gassenordnung fu¨r Berlin verfu¨gt, dass alle Bu¨rger die Straße vor ihrer Tu¨r zu pflastern haben, Misthaufen von den Straßen zu entfernen seien und auch Schweinesta¨lle und Scheunen, die an die Straßen angrenzten, abzureißen seien.

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Die Stadt wuchs aber nicht nur nach Westen, auch vor den Toren Berlins und Co¨llns entstanden – durchaus gegen den Willen des Kurfu¨rsten – neue Siedlungen, darunter die Spandauer Vorstadt, die Georgenstadt, die Stralauer Vorstadt und die Ko¨penicker Vorstadt (Abb. 1, im Farbteil).33 Schließlich begann der Landesherr die Beho¨rden der Magistrate zu ersetzen, auch um einen noch sta¨rkeren Einfluss auf das sta¨dtische Bauwesen nehmen zu ko¨nnen. 1706 u¨bertrug eine Kabinettsordre dem Gouverneur der Stadt die Aufsicht u¨ber alle Neubauten. Die Magistrate hatten von nun an nur noch eine Mitsprache bei der Pru¨fung von Bauantra¨gen. 1709 schließlich wurden alle fu¨nf Sta¨dte zu einer Stadt vereinigt.34 Die Neugru¨ndung der Siedlungen und Sta¨dte und der gleichzeitige Ausbau der Festungswerke und Stadtmauern hatte das Problem der seelsorgerischen Versorgung der Bewohner der vor den Stadttoren gelegenen Siedlungen entstehen lassen. Fu¨r die entstehenden Kirchgemeinden – also lutherische sowie deutsch-reformierte und franzo¨sisch-reformierte Gemeinden –, wurden neben anderen o¨ffentlichen Geba¨uden, wie Ratha¨usern und Armenha¨usern, auch neue Kirchen gebaut. Bis dahin nutzte die franzo¨sisch-reformierte Gemeinde die Domkirche mit und zwar nach Beendigung des deutsch-reformierten Gottesdienstes. Gemeindemitgliedern niedrigen Standes jedoch diente zuna¨chst eine umgebaute Scheune als Gottesdienstort.35 Der erste nachreformatorische Kirchenbau Berlins schließlich war die zwischen 1678 und 1687 errichtete Dorotheensta¨dtische Kirche in der gleichnamigen Vorstadt, die sowohl von der lutherischen als auch von der zuna¨chst noch kleinen deutsch-reformierten Gemeinde genutzt wurde. Ab 1688 war es auch den franzo¨sischen Glaubensflu¨chtlingen gestattet, diese Kirche als Gottesdienstort zu nutzen.36 Bei der Anlage der Dorotheenstadt, benannt nach der lutherischen Frau Friedrich Wilhelms, der Kurfu¨rstin Dorothea, war ein Kirchenbau bereits eingeplant gewesen und im Gru¨ndungsdokument ausdru¨cklich in Aussicht gestellt worden. Das Patronat der Kirche lag aber nicht beim Kurfu¨rsten, sondern beim Magistrat vom Friedrichswerder. Obwohl der Bau von der Kurfu¨rstin finanziert wurde und auch die Gemeinde mit Spenden dazu beitrug, zog sich der Bau u¨ber zehn Jahre hin. Zwischenzeitlich versammelte sich die Gemeinde im Sommer um eine ho¨lzerne Kanzel, die im Freien auf der Allee Unter den Linden aufgestellt war, und im Winter in einem Privathaus. Als sta¨ndiger Gottesdienstort genu¨gte dies der Gemeinde jedoch nicht. Die schließlich 1687 eingeweihte Kirche bildete in dem bebauten Quartier westlich der Nord-Su¨d-Verbindung den ra¨umlichen Mittelpunkt.37 1687 verfu¨gte sie zwar noch nicht u¨ber einen Glockenturm, aber u¨ber einen frei stehenden Glockenstuhl an dem drei Glocken hingen (Abb. 2). Dieser erste nachreformatorische Kirchenneubau Berlins erfu¨llte 33 Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewa¨ltigung, Migrationssteuerung und

Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Mu¨nster 2006, S. 107. 34 Helmut Engel, Baugeschichte Berlin. Band 1: Aufstieg, Behauptung, Aufbruch: 1640–1861, Sta¨dtebau und Architektur in Berlin in den Zeiten fu¨rstlicher Herrschaft, Berlin 2009, S. 77. 35 Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 660. 36 Schachinger, Dorotheenstadt (wie Anm. 9), S. 61f. Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 626. 37 Engel, Baugeschichte Berlins (wie Anm. 34), S. 29.

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damit wichtige Anforderungen: Er bot Platz, er war gut erreichbar und seine Glocken waren gut ho¨rbar. Das nach niederla¨ndischen Vorbildern errichtete Geba¨ude auf griechischem Kreuz mit kleinem Vierungsturm war mit zweigeschossigen Emporen ausgestattet. Um die simultane Nutzung des Sakralraums zu organisieren war durch

Abb. 2: Die Dorotheensta¨dter Kirche, 1690 Federzeichnung von Andreas Ludwig Kru¨ger nach Johann Stridbeck Quelle: © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv. Nr.GHZ 64/3, 19. Reproduktion Oliver Ziebe, Berlin

kurfu¨rstliches Privileg verfu¨gt worden, daß unter den predigern, so dabey bestellt werden, alternieret, und wann von dem Reformierten Prediger an einem Sonntag des Morgens und von einem Lutherischen des Mittags gepredigt wird, den andern Sonntag darauf von dem Lutherische des Morgens und von dem Reformierten des Mittags verrichtet werde.38 Es wurden also zeitliche und ra¨umliche Regelungen gefunden, um den Konfessionsgruppen mit ihren verschiedenen Liturgien die Mo¨glichkeit zu bieten, den Gottesdienst zu feiern. Der Innenraum der Kirche war sehr schlicht gestaltet und nahm anscheinend auf die reformierte Gemeinde Ru¨cksicht, indem man auf eine reiche Kirchenausstattung sowie auf ein Altarbild und auf Altarkerzen verzichtete. 1689 schließlich erhielt auch die franzo¨sisch- reformierte Gemeinde das Nutzungsrecht. Um Probleme, die die gemeinsame Nutzung verursachte, zu beheben,

38 Wilhelm Henckel, Geschichte der evangelischen Dorotheenstadt-Gemeinde und ihrer Kirche im ers-

ten Vierteljahrtausend 1687–1937, Berlin 1937, S. 10.

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wurde die franzo¨sische Gemeinde schließlich zur Mitbesitzerin des Geba¨udes und der gesamten Anlage.39 Dennoch fu¨hrte die Eigentumsgemeinschaft immer wieder zu Unstimmigkeiten zwischen den Gemeinden, jede fu¨hlte sich durch die andere beengt und behindert, jede musste durch die andere stets erst Genehmigungen einholen, und es gab Streitigkeiten u¨ber die Verteilung der Einnahmen von Kirchhof und Gewo¨lbe, die Reinigung der Kirche, die Anlage von Kirchenlogen und Denkma¨lern.40 Auf sta¨dtischem Grund entstanden noch vor der Jahrhundertwende neue Kirchen, und zwar die Georgenkirche aus einem Um- und Erweiterungsbau einer mittelalterlichen Hospitalkirche sowie vor dem Ko¨penicker Tor der Neubau der Sebastianskirche. Vor den Toren Berlins hatte in der spa¨teren Georgenvorstadt schon lange eine kleine Gemeinde existiert, der die Hospitalkirche seit 1540 als Predigtkirche diente.41 Nachdem auch hier die Gemeinde gewachsen und die Kirche zu klein geworden war, wurde der Gottesdienst zuna¨chst auf dem Kirchhof abgehalten. Schließlich forderten die Bewohner die Bildung einer eigenen Gemeinde und damit auch die Einstellung eines eigenen Pastors, unter anderem weil sie – nach der abendlichen Schließung der Stadttore – keinen Geistlichen mehr fu¨r Nottaufen oder das Krankenabendmahl herbeirufen konnten.42 Weshalb Kurfu¨rst Friedrich III. auch schließlich auf die Bitten der Bewohner reagierte und 1689 die Gru¨ndung einer eigenen Gemeinde samt Pfarrer gestattete. Die Kirche wurde 1693–95 erneuert und erhielt 1712 einen Anbau sowie einen Glockenturm, so daß die Vorstadt nicht mehr gegen die Innenstadt zuru¨ckstand.43 Die Sebastianskirche oder die „lutherische Kirche vor dem Ko¨penicker Thor“44 aus dem Jahre 1695 geht auf die Patronage des Ratsherrn Sebastian Nethe zuru¨ck und wurde ihm zu Ehren benannt. Sie lag inmitten eines seit mehreren Jahren von Lutheranern wie Reformierten genutzten Kirchhofs an der Alten Jacobstraße in der Co¨llnischen Vorstadt. Da die kleine Kirche außerhalb des neuen Festungsgu¨rtels lag, wurde sie entsprechend der Bauverordnung nicht massiv, sondern aus Fachwerk errichtet, damit sie im Falle einer milita¨rischen Belagerung sofort niedergelegt werden konnte.45 Diese Kirche kann als rein bu¨rgerlich-sta¨dtisches Bauprojekt gewertet werden, die Zustimmung zum Bau der Filialkirche und zur Einstellung eines Pfarrers gab der Co¨llner Magistrat, der auch das Patronat inne hatte.46 Gebaut wurde die 39 Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 626f. 40 R. Stechow, Geschichte der Dorotheensta¨dtischen Kirchen und Gemeinde. Zur Feier des zweihun-

dertja¨hrigen Kirchen-Jubila¨ums, Berlin 1887, S. 11.

41 Wendland, Kirchengeschichte Berlins (wie Anm. 14), S. 43. 42 Wendland, Kirchengeschichte Berlins (wie Anm. 14), S. 43. 43 Wendland, Kirchengeschichte Berlins (wie Anm. 14), S. 44. 44 So bezeichnet der Architekt Christoph Pitzler in seinem Reise- und Skizzenbuch die Sebastianskirche

im Jahre 1704. Vgl. Berliner Baukunst der Barockzeit. Die Zeichnungen und Notizen aus dem Reisetagebuch des Architekten Christoph Pitzler (1657–1707), hg. v. Hellmut Lorenz, Berlin 1998. Vgl. Ku¨ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 705–711. 45 Schon Ende der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts war die Kirche so baufa¨llig, dass man die Glocken aus dem Dachreiter entfernen musste, weil der Bau durch das Gela¨ut zu sehr erschu¨ttert wurde. 1753 ersetzte die Gemeinde die Kirche durch einen steinernen Neubau des Hofmaurermeisters Christian August Neumann. 46 Wendland, Kirchengeschichte Berlins (wie Anm. 14), S. 46.

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Sebastianskirche von der Schicht des alteingesessenen, traditionellen Co¨llner Bu¨rgertums, das als Tra¨gerschicht der etablierten orthodox-lutherischen Kirche gelten kann. Anla¨sslich der Weihezeremonie dieser Kirche, zu der der Kurfu¨rst bzw. das kurfu¨rstliche Haus nicht geladen worden waren, kam es zu Auseinandersetzungen, die im na¨chsten Kapitel noch dargestellt werden. Die Gru¨ndung neuer Kirchengemeinden war also abha¨ngig von einer Reihe von Faktoren, vor allem aber, ob die Kirche auf sta¨dtischem oder kurfu¨rstlichem Grund entstand. In den auf kurfu¨rstlichem Grund errichteten Sta¨dten gab es um die Jahrhundertwende verschiedene Kirchbauprojekte. Hierzu geho¨rten die Friedrichswerdersche Kirche (1699–1701), die deutsche und die franzo¨sische Kirche auf dem Gendarmenmarkt, fu¨r die der temple von Lyon Vorbild gewesen sein soll.47 Schließlich noch die 1712 in der Spandauer Vorstadt errichtete Sophienkirche48 und die Parochialkirche (ab 1694–1712), die erste Pfarrkirche, die allein fu¨r die reformierte Gemeinde Berlins bestimmt war.49 Ihren Ho¨hepunkt sollte die Kirchenbaupolitik des Kurfu¨rsten und spa¨teren Ko¨nigs Friedrich I. in einem Neubau der Berliner Dom- bzw. Hofkirche finden, der jedoch nie realisiert wurde. Die Baugeschichten dieser Kirchen ko¨nnen hier im Einzelnen nicht dargestellt werden, dennoch wiederholt sich das Muster, das zuna¨chst die entstehenden Gemeinden den Kurfu¨rsten um die Erlaubnis zum Kirchenbau und zur Gru¨ndung einer Gemeinde bitten, der sich dann mit unterschiedlich großem Engagement am Kirchenbau beteiligte. Durch Spenden einzelner Gemeindemitglieder, Kollekten und andere Sammlungen blieben die jeweiligen Gemeinden aber aktiv am Baugeschehen beteiligt, auch wenn die eigentliche Bauplanung Sache der landesherrlichen Ra¨te waren. Betrachtet werden soll noch der zweite Sakralbau, der den Glaubensflu¨chtlingen nach langem Bitten 1699 gestattet worden war, na¨mlich die Kirche auf dem Friedrichswerder sowie die Parochialkirche, fu¨r die der Kurfu¨rst sich besonders einsetzte. Auf dem Friedrichswerder war der Gottesdienst zuna¨chst in einem großen Raum des Rathauses abgehalten worden. Die Friedrichswerdersche Kirche schließlich entstand aus einem Umbau eines als Pferdestall genutzten Reithauses. Zuna¨chst war ein bedeutenderer Bau geplant gewesen, den die reformierte Gemeinde auch befu¨rwortet hatte, dieser konnte jedoch angesichts der Kosten der Ko¨nigskro¨nung nicht ausgefu¨hrt werden. Der schließlich schlicht und turmlos ausgefu¨hrte eingeschossige Bau 47 Gerlinde Strohmaier-Wiederanders, Reformierter Kirchenbau in Deutschland vom 16. bis zum

18. Jahrhundert, in: Historische Horizonte. Vortra¨ge der dritten Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, hg. v. Sigrid Lekebusch/Hans-Georg Ulrichs (Emder Beitra¨ge zum reformierten Protestantismus 5), Wuppertal 2002, S. 87. 48 Wilhelm Witte, Die Geschichte der Sophienkirche zu Berlin von 1712 bis 1912. Festschrift zur Feier des zweihundertja¨hrigen Bestehens der Sophiengemeinde, Berlin 1912. Die Sophienkirche wurde unter Patronage der dritten Ehefrau Ko¨nig Friedrichs I. gebaut. Die Kirche, die nur mit großen finanziellen Problemen errichtet werden konnte, wurde erst kurz nach dem Tod Friedrichs I. eingeweiht. An der Einweihung nahm der neue Ko¨nig nicht teil, weil er seine Stiefmutter ablehnte. 49 Der Einfluss niederla¨ndischer, ro¨mischer und franzo¨sischer Baukunst auf den Berliner Kirchenbau zwischen 1678 und 1720 ist bereits mehrfach dargestellt worden. Vgl. Melanie Mertens, Der Ausbau Berlins zur ko¨niglichen Residenz, in: Preußen 1701. Eine europa¨ische Geschichte. Essays, hg. vom Deutschen Historischen Museum und der Stiftung Preußische Schlo¨sser und Ga¨rten Berlin-Brandenburg, Berlin 2001, S. 269–278.

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sollte als Simultankirche sowohl der deutsch-lutherischen, der deutsch-reformierten als auch der franzo¨sisch-reformierten Gemeinde Platz bieten. Das Geba¨ude war in der Mitte durch eine Wand geteilt, die den Gottesdienstraum der franzo¨sisch-reformierten Gemeinde von dem der deutsch-lutherischen und der deutsch-reformierten trennte (Abb. 3). Auf Wunsch des Kurfu¨rsten/Ko¨nigs war diese Mittelwand durch eine Tu¨r durchla¨ssig, um die Communication zwischen beiden Seiten nicht ganz und gar verku¨mmern zu lassen.50

Abb. 3: Die Friedrichswerdersche Kirche A. die deutsche und B. die franzo¨sische Kirche Quelle: Bildagentur fu¨r Kunst, Kultur und Geschichte (bpk), 16:40017120

Der Bauplatz der 1694 begonnenen Parochialkirche lag nicht in einer der neu gegru¨ndeten Vorsta¨dte, sondern in der Klosterstraße und damit nahe der nordo¨stlichen Stadtgrenze Berlins. Mit ihrem Bau reagierte der Kurfu¨rst auf den Wunsch der reformierten Gemeinde nach einem nahen, gut erreichbaren Kirchengeba¨ude. Die Gemeindemitglieder hatten geklagt, dass sie nicht mehr den Gottesdienst in der Hofkirche besuchen konnten, da diese so weit entfernt liege, dass man ihre Kirchenglocken nicht ho¨ren ko¨nne und dass auf diese Weise viele Gemeindemitglieder meist zu spa¨t zum Gottesdienst ka¨men. Zur Finanzierung des Baus wurden zahlreiche Kollekten durchgefu¨hrt, an denen sich auch – jenseits aller konfessionellen Grenzen – die lutherischen Gemeinden beteiligten. Aber auch in Gemeinden in Frankfurt a. M., in

50 Leopold Giese, Schinkel’s architektonisches Schaffen – Entwu¨rfe und Ausfu¨hrungen, Bd. 1: Die Fried-

richs-Werdersche Kirche in Berlin, Berlin 1921, S. 19.

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Hamburg und selbst in England und der Schweiz wurden Spenden fu¨r die Parochialkirche gesammelt. Geplant war ein u¨berkuppelter Zentralbau nach italienischem Vorbild; der Bau verzo¨gerte sich allerdings, da ein Teil des Gewo¨lbes einstu¨rzte. Er wurde schließlich schlichter und mit einem Walmdach vollendet; der Turm sogar erst 1712.51 Zwischen 1685 und 1712 hatte sich die sakrale Topographie der Stadt damit grundlegend vera¨ndert: Neben den mittelalterlichen Kirchen, die seit der Reformation von den lutherischen Gemeinden genutzt worden waren, bestimmten nun neue, religio¨se Landmarken nicht nur die neuen Stadtteile, sondern auch den mittelalterlichen Teil der Residenz. Die konfessionellen Unterschiede waren dabei nicht im Kirchenbaustil zu erkennen, sondern an der bild- und schmucklosen Innenausstattung der simultan genutzten Kirchen. Zentral fu¨r die Gemeindemitglieder waren andere Voraussetzungen: Die Kirchen waren gut erreichbar und zentral im Stadtgebiet gelegen, nahmen o¨ffentliche Funktionen war und verfu¨gten zumindest teilweise u¨ber ein Gela¨ut. In anderen Territorien und Orten, wo nach 1648 den konfessionellen Minderheiten der Bau von Kirchen erlaubt worden war, war dies nur mit der Reglementierung von Gro¨ße und Ho¨he sowie Lage der Bauten gestattet worden: So durften die Neubauten nicht an zentralen Pla¨tzen liegen, waren architektonisch kaum von anderen Ha¨usern unterschieden und mussten auf ein Gela¨ut und die Errichtung eines – auch gut sichtbaren – Glockenturms verzichten.52 Anders als in Berlin blieb es den geduldeten Konfessionsgemeinschaften in anderen Orten verwehrt, durch eigene bedeutende bauliche und akustische Markierungen im Stadtraum pra¨sent zu sein und so etwa die u¨berkommene Klangidentita¨t der Gemeinde zu vera¨ndern.53 Einen Turm erhielten die Kirchen zwar meist nicht sofort, jedoch ließ Ko¨nig Friedrich Wilhelm I. (1713–1740) kurz nach seinem Regierungsantritt die Tu¨rme der Parochial- und der Sophienkirche fertigstellen. Turmbauten ko¨nnen als Leitidee seiner Kirchenbaupolitik betrachtet werden.54 Insgesamt war die kurfu¨rstliche/ko¨nigliche Politik beim Kirchenbau von dem Plan geleitet, die reformierte Konfession durch den Kirchenbau in der Residenz zu fo¨rdern und auf diese Weise repra¨sentative Aspekte mit konfessionspolitischen zu verbinden. Wie jedoch die so erwirkte simultane Nutzung zu Problemen und Streitigkeiten zwischen den Konfessionsangeho¨rigen fu¨hrte soll im Folgenden dargestellt werden.

51 Friedrich Arndt, Geschichte der evangelischen Parochialkirche in Berlin vom Jahre 1694 bis 1839,

Berlin 1839, S. 6f.

52 Mit Beispielen: Beyer, Geheiligte Ra¨ume (wie Anm. 12), S. 118. Im Westfa¨lischen Friedensvertrag

wurde 1648 zwischen drei Stufen der Religionsausu¨bung unterschieden, und zwar zwischen dem ius domestica (private Hausandacht), dem exercitium religionis privatum (Recht der Religionsausu¨bung in Form eines gemeinschaftlichen Gottesdienstes) und dem exercitium religionis publicum, das die umfassende Kultusfreiheit meinte und die freie Zuga¨nglichkeit zu einem Kirchengeba¨ude samt Kirchturm und Glockengela¨ut umfasste. 53 Zur Bedeutung von Glocken fu¨r lokale Klangidentita¨ten in der Vormodern vgl. die grundlegende Studie von Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. La¨ndliche Gefu¨hlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995. 54 Mertens/Lorenz, Kirchenbau (wie Anm. 13), S. 27.

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III. Konflikte um die Nutzung der Kirchen

Die Gru¨ndung neuer Kirchgemeinden und der Bau von Kirchen fu¨hrten zuna¨chst zu der allgemeinen Problematik der ra¨umlichen Abgrenzung der neu entstandenen Parochien, der Zugeho¨rigkeit der Gemeindemitglieder zu den neuen Kirchengemeinden sowie der Schaffung neuer Begra¨bnispla¨tze.55 Aufgrund des Bevo¨lkerungswachstums sowie eines Wandels der Begra¨bniskultur wurde es zunehmend u¨blich, die Toten auf Friedho¨fen vor den Toren der Stadt zu beerdigen, auch wenn das innersta¨dtische Begra¨bnis erst durch das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 untersagt wurde. Daneben waren es vor allem die simultane Nutzung der Kirchen sowie die Bestattungszeremonien, die in Berlin und in anderen ma¨rkischen Sta¨dten zu zahlreichen Problemen und Auseinandersetzungen fu¨hrten:56 An der simultan genutzten Dorotheensta¨dtischen Kirche sto¨rte der Ku¨ster der lutherischen Gemeinde den Gottesdienst der franzo¨sisch-reformierten, indem er die Totenglocken wa¨hrend des Gottesdienstes la¨utete.57 In Brandenburg an der Havel beschwerte sich die reformierte Gemeinde, dass in der Kirche die bequemsten Kirchenba¨nke verschlossen blieben, ebenso wie die Sakristei, wo die Gemeinde ihre vasa sacra und den Abendmahlstisch verwahrte, und auf diese Weise der Gottesdienst behindert wu¨rde. Auch sei es vorgekommen, dass die Lutheraner ihren Gottesdienst zeitlich u¨berzogen ha¨tten, so dass die reformierte Gemeinde zuna¨chst im Regen habe warten mu¨ssen, bis sie die Kirche betreten konnte. Außerdem wurde geklagt, dass die Beerdigungszu¨ge der Reformierten behindert worden seien, indem man dem Leichenzug auf dem Weg zum Friedhof nur die halbe pfordt des Stadttores geo¨ffnet habe, wodurch die Tra¨ger den Leichnam abzusetzen und durchzuschleppen gezwungen worden seien. In anderen Fa¨llen blieb das Tor ganz verschlossen, wodurch der Leichenzug zum Stillstand kam.58 Ruhe und Pieta¨t der Beerdigung waren durch solche Schikanen erheblich gesto¨rt worden. Beispiele wie dieses zeigen, dass es die o¨ffentlich begangene Glaubenspraxis und ihre Riten waren, die die Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen markierten, die Anlass fu¨r Streitigkeiten zwischen den Gemeinden boten. Der Landesherr war daher stets daran interessiert, die zeremonielle Praxis von Reformierten und Lutheranern anzugleichen und eben jene Riten, durch die die ¨ ffentlichkeit des Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen auch in der O Stadtraumes sichtbar wurden, zu unterbinden. So wurde etwa das Singen lateinischer Lieder verboten, und 1683 ordnete Kurfu¨rst Friedrich Wilhelm an, dass sich

55 So beschwerten sich etwa der Rat und die Vier Gewerke der Stadt Co¨lln 1683 u¨ber in der Gertrauden-

kirche und auf dem Kirchhof gehaltene Predigten und Betstunden, die in der Peterskirchen „geschehen mu¨ssen“. Geheimes Staatsarchiv HA I, Rep. 47, Fasz. 12, S. 158. 56 Vgl. z. B. die vom Rat der Altstadt Brandenburg angeordnete „Inquisition wegen verschiedener von den Reformirten daselbst gefu¨hrter Beschwerden“ vom 2. Juni 1690: Geheimes Staatsarchiv HA I, Rep. 47, B2, Fasz. 9, fol. 1f. 57 Wendland, Kirchengeschichte Berlins (wie Anm. 14), S. 57. 58 Geheimes Staatsarchiv HA I, Rep. 47, B2, Fasz. 9, fol. 8.

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die alten Berliner und Co¨llner Gemeinden bei den Beerdigungen nach dem Vorbild der Vorstadtkirchen zu richten hatten: Die Pfarrer durften von nun an keine weißen Chorro¨cke mehr tragen, das Mitfu¨hren eines Kreuzes wurde untersagt, weil diese Sachen noch Reliquien aus dem Pabstumb seien.59 In diesem Jahr, 1683, wurde der erste lutherische Prediger der Dorotheensta¨dtischen Gemeinde, Martin Schulze, entlassen, nachdem er sechs Jahre in der Gemeinde angestellt gewesen war. Dem strengen Lutheraner Schulze wurde unter anderem vorgeworfen, sogenannte papistische Gebra¨uche im Gottesdienst, wie das Tragen eines Chorrocks oder das Singen der Einsetzungsworte beim Abendmahl, beibehalten zu haben. 1695 schließlich fu¨hrte unter anderem der Gebrauch des weißen Chorrocks bei der Weihe der Sebastianskirche zu einem Eklat. Im Juli dieses Jahres war die Vorstadtkirche in Anwesenheit des Co¨llner Magistrat festlich geweiht worden. Die Weihe bestand aus einem Festgottesdienst mit Kommunionfeier und einer Taufe, womit die Kirche quasi durch Predigt und erstmalige Spendung der beiden Sakramente in Gebrauch genommen wurde.60 Diese Form des Weihegottesdienstes zur Ingebrauchnahme eines neuen Kirchengeba¨udes hatte sich innerhalb der lutherischen Konfessionskultur um 1600 als Bestandteil des Kirchweihritus etabliert.61 Außerdem wurden bei der Feier die Kerzen auf dem Altar entzu¨ndet, Evangelien und Episteln wurden gesungen und vier Jungen in weißen Chorro¨cken halfen bei der Feier. Erst wenige Wochen zuvor hatte der Kurfu¨rst bestimmt, dass in den Vorstadtkirchen bestimmte lutherische Gebra¨uche wegfallen sollten, die in den alten Parochien noch gebra¨uchlich waren. Es sollten keine Kaseln oder weißen Chorro¨cke getragen werden, keine Lichter auf dem Altar brennen, kein Kreuz bei den Beerdigungszu¨gen getragen und keine Evangelien oder Episteln in der Kirche gesungen werden, um eine gro¨ßere „Gleichfo¨rmigkeit“ der Zeremonien in den neu erbauten Vorstadtkirchen zu erreichen.62 Der Kurfu¨rst hatte aber nicht nur an den begangenen „Lutherischen Ceremonien“, bei denen die Lichte auf dem Altar brannten, der Probst und der Prediger dieser Kirchen (...) weisse Chor-Ro¨cke an hatten Anstoß genommen, vor allem nahm der Kurfu¨rst sehr ungna¨dig auf, dass mit der Einweihung (dieser) Kirche wider alles Vermuthen geeilet worden sei und ihm als den Landes-Fu¨rsten von einem solchen solenni actu keine untertha¨nigste relation abgestattet worden sei.63 Die Gemeinde hatte es versa¨umt, den Kurfu¨rsten, seine Familie und den Hof einzuladen und die Kirchweihe war als sta¨dtisches Fest begangen worden.

59 Mylius, CCM, Bd. I, 1 (wie Anm. 7), Nr. LI: Verordnung wegen der Abschaffung der weissen Chorro¨-

cke und derer Creutze by den Begra¨bnissen, 9. Juni 1683 und Nr. XXXVIII: Circular, die lateinischen Lieder abzuschaffen, vom 28. Ma¨rz 1671. 60 Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 706. 61 Vgl. Vera Isaiasz, „Architectonica Sacra“: Feier und Semantik sta¨dtischer Kirchweihen im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Stadt und Religion in der fru¨hen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repra¨sentationen, hg. v. ders./Ute Lotz-Heumann/Monika Mommertz/Matthias Pohlig (Eigene und fremde Welten. Repra¨sentationen sozialer Ordnungen im Vergleich 4), Frankfurt a. M./New York 2007, S. 125–146, sowie Renate Du¨rr, Politische Kultur in der Fru¨hen Neuzeit. Kirchenra¨ume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden 1550–1750 (QFRefG 77), Gu¨tersloh 2006, S. 87–91. 62 Zitiert nach Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 706. Vgl. Wendland, Kirchengeschichte Berlins (wie Anm. 14), S. 47. 63 Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 706.

Unter einem Dach

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Kurfu¨rst Friedrich III. verbot zwar den Gebrauch bestimmter Elemente lutherischer Liturgie, wollte aber als Ko¨nig Friedrich I. nicht auf die repra¨sentative Inszenierung der Weihe der Parochialkirche verzichten. Neu erbaute reformierte Kirchen etwa in den no¨rdlichen Niederlanden wurden in Ablehnung jeglicher Kirchenzeremonien nur mit der ersten Predigt in Gebrauch genommen.64 Schon die Legung des Grundsteins fu¨r die Parochialkirche war dagegen mit einer vielbeachteten Zeremonie begangen worden.65 Der 8. Juli 1703 schließlich war zum Tag der feierlichen Weihe bestimmt worden. An diesem Tag fuhr der Ko¨nig mit seiner Gemahlin in einer Prunkkutsche und unter dem Glockengela¨ut der ganzen Stadt vom Schloss zu der neuen Kirche. Es folgten ihnen die Markgrafen und die meisten Minister sowie die Professoren und die Schu¨ler des Joachimsthalschen Gymnasiums. Der Hofstaat beschloss den ¨ ltesten der Kirche. Nach dem feierlichen Zug. Empfangen wurde der Ko¨nig von den A Vorspiel der Orgel gingen dann der Prediger und das Presbyterium zum Altartisch, der unter der Kanzel stand. Der Prediger der Gemeinde, Dr. Jeremias Sterky aus Lausanne, hielt nun die erste Predigt, die zugleich seine Antrittsrede war. Durch anda¨chtiges Gebet und Danksagung wurde nun die Kirche geweiht und fu¨r den Gottesdienst in Dienst gestellt. Als erste gottesdienstliche Handlung folgte die Taufe zweier ko¨niglicher Mohren und eines Tataren, deren Patenschaft der Ko¨nig und die Ko¨nigin u¨bernahmen. Ein Lobgesang und der vom Prediger gesprochene Segen beschlossen den Festgottesdienst. Die Weihe der Parochialkirche diente also der dynastisch-fu¨rstlichen Repra¨sentation und der Darstellung der Christlichkeit und Rechtgla¨ubigkeit des neu gekro¨nten Ko¨nigs. Abschließend ist festzuhalten, dass die Gemeinden auf vielfa¨ltige Weise, vor allem aber bei der Finanzierung, in die Kirchbauprojekte eingebunden waren. Die Initiative zum Kirchenbau ging von den Gemeinden aus, deren Anliegen ein o¨ffentliches und angemessenes Gottesdiensthaus war. In der Frage der Gestaltung hatten die Kirchengemeinden aber einen geringen Einfluss. Von einem einheitlichen oder einem konfessionell konnotierten, also spezifisch reformierten oder lutherischen Kirchenbaustil kann nicht gesprochen werden, denn es u¨berwogen niederla¨ndische und italienische Einflu¨sse, wa¨hrend die franzo¨sischen Hugenottentempel nur selten Vorbildfunktion hatten. Insgesamt konnten die neuen Gemeinden einen weitaus geringeren Einfluss auf die Berufung der Pfarrer, die Gestaltung des Kircheninneren und die Liturgie ausu¨ben, als die alten Gemeinden in Berlin und Co¨lln, wo die Kurfu¨rsten aber ebenso die Mitwirkungsrechte der Gemeinden zu beschneiden suchten. Ihre Absicht jedoch, durch die Simultankirchen die beiden Konfessionen einander anzuna¨hern, ging zuna¨chst nicht auf, stattdessen blieben Liturgie und Ritus sowie die allgemeine Nutzung der Kirchen noch lange ein dauernder Streitpunkt zwischen den verschiedenen

64 Almut Pollmer-Schmidt/Bernward Schmidt, Ritual and its Negotiation. ‚Dedicatio Ecclesiae‘ and

the Reformed First Sermon, in: Foudation, Dedication and Consecration in Early Modern Europe, hg. v. Maarten Delbeke/Minou Schraven, Leiden/Boston 2012, S. 315–332. 65 Kurtze Beschreibung Wie der erste Stein Zu der Evangelisch-Reformierten Stadt- und Pfarr-Kirchen in Berlin / Den 15. Augusti 1695 gelegte worden. Nebst denen dabey gehaltenen Reden / samt der Predigt ..., Co¨lln 1695.

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Gemeinden und trugen mit dazu bei, dass der Streit um die konfessionellen Unterschiede noch lange das sta¨dtische Leben mitbestimmte. Die landesherrliche Politik musste deshalb langfristig fast zwangsla¨ufig von einer Politik, die offen die Lutheraner angriff und die Reformierten fo¨rderte, nach 1700 auf eine eher u¨berkonfessionelle Linie einschwenken. Die fortwa¨hrenden landesherrlichen Eingriffe in das sta¨dtische Patronatsrecht, in die bu¨rgerliche Kirchenbauta¨tigkeit, in die Liturgie sowie in die „Macht“ der Pfarrer „auf der Canzel“66 vor 1700 jedoch trugen mit dazu bei, dass sich die Funktion der Kirchen als Orte lokaler Vergemeinschaftung langfristig vera¨nderten. Das Verbot der Thematisierung religionspolitischer Fragen und konfessioneller Differenzen wa¨hrend des Gottesdienstes sowie die Vereinheitlichung der Liturgie mussten dazu beitragen, dass das Brandenburgische Kirchenwesen seine regionale Pra¨gung verlor und die Kirchen, in einem sehr langwierigen Prozess, der hier nur angedeutet werden konnte, immer mehr zu auf ihre rein religio¨s-gottesdienstlichen Funktionen beschra¨nkten Ra¨umen wurden. Die Frage, ob die sozial und religio¨s immer differenziertere Stadtgemeinde u¨ber den Kirchenbau noch integrierbar war, muss jedoch differenziert beantwortet werden. Der Einsatz der neu entstandenen Kirchengemeinden fu¨r eigene Gemeindekirchen zeigt, wie bedeutsam diese Bauten fu¨r Vergesellschaftungsprozesse innerhalb der neuen Stadtgemeinden waren. Im Falle der Parochialkirche spendeten auch die lutherischen Gemeinden fu¨r einen reformierten Kirchenbau, was belegt, dass jenseits konfessioneller Grenzen die Kirchen im Versta¨ndnis der Zeitgenossen kaum hinterfragte soziale und religio¨se Funktionen hatten. Erst im 18. Jahrhundert sollte die Bedeutung der Kirchen als Orte o¨ffentlicher Religiosita¨t und Kirchlichkeit schließlich prinzipiell in Frage gestellt werden.

66 Ku ¨ ster, Altes und neues Berlin (wie Anm. 10), S. 569.

¨ GBAREN SYMBOLISCHE ANEIGNUNG DES UNVERFU Jerusalem und das Heilige Grab in Pilgerberichten und Bildern des Mittelalters von Hans-Joachim Schmidt

Jerusalem war der Sehnsuchtsort der okzidentalen Christen. Seit der Spa¨tantike wanderten Pilger in diese Stadt. Sie wurde in das Zentrum der Welt gestellt – sie war der umbilicus mundi.1 Jerusalem galt als Zentrum Europas, freilich in exzentrischer Position, weil außerhalb des Kontinents, ja außerhalb der Herrschaftsgebiete christlicher Fu¨rsten gelegen2, aber um nichts weniger Attraktionspunkt von Reisenden, die dort den biblischen Sta¨tten des Wirkens, des Sterbens und der Auferstehung Christi mit eigenen Sinnen nahe kommen wollten, daru¨ber Berichte anfertigten und dadurch Vorstellungen u¨ber die Stadt auch fu¨r die Daheimgebliebenen pra¨gten. Jerusalem war allen nahe. Aber zugleich war Jerusalem entru¨ckt, nicht allein durch die Entfernung, sondern vor allem durch die Unverfu¨gbarkeit u¨ber diese Stadt, die unter der Herrschaft der Muslime stand und deren Wiedereroberung im spa¨ten Mittelalter zwar nicht aufho¨rte, Kreuzzugsprojekte zu initiieren, meist aber nur noch zu inszenieren und zunehmend lediglich zu imaginieren.3 Eine symbolische Aneignung Jerusalems im Okzident musste den Verlust der realen Aneignung kompensieren. Die Zuweisung religio¨ser Bedeutung war biblisch begru¨ndet, erscho¨pfte sich aber nicht allein in Reminiszenz, sondern verlangte nach konkreter Vergewisserung an den Objekten selbst. Die Objekte waren ra¨umlich figuriert und konnten als Ensemble gesehen, betastet, vermessen und vor allem gedeutet werden. Der symbolische Bedeutungs-

1 Robert Bonfil, Gerusalemme ‚Umbilicus mundi‘, in: La citta` e il sacro, hg. v. Franco Cardini, Mai-

land 1994, S. 45–82; Beat Wolf, Jerusalem und Rom. Mitte, Nabel – Zentrun, Haupt. Die Metaphern „Umbilicus mundi“ und „Caput mundi“ in den Weltbildern der Antike und des Abendlandes bis in die Zeit der Ebstorfer Weltkarte, Bern u. a. 2010. 2 Folker Reichert, Nabel der Welt. Zentrum Europas und doch nur Peripherie? Jerusalem in Weltbild und Wahrnehmung des spa¨ten Mittelalters, in: ZHF 38 (2011), S. 559–584. 3 Norman Housley, The Later Crusades, 1274–1580. From Lyons to Alcazar, Oxford 1992; Otto Gerhard Oexle, Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois, in: HZ 224 (1977), S. 293–339; Sylvia Schein, The Future ‚Regnum Hierusalem‘. A Chapter in Medieval State Planning, in: Journal of Medieval History 10 (1984), S. 95–105; Hans-Joachim Schmidt, Bildungsreform als Kriegsvorbereitung. Die Vorschla¨ge von Pierre Dubois zur Wiedergewinnung des Heiligen Landes, in: Personen der Geschichte – Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte. Festschrift fu¨r Rainer Christoph Schwinges, hg. v. Christian Hesse u. a., Basel 2003, S. 421–440.

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u¨berschuss dieser Stadt machte sie zum zentralen Ort, der Personen anzog und Informationen aussandte.4 ¨ berlegungen widmen. Ich werde mich Diesen Informationen will ich meine U dabei vor allem auf das Heilige Grab, das begehrteste Monument christlicher Devotion und das wichtigste Ziel der Pilgerreisen, konzentrieren und dabei aber auch die Integration in den urbanen Raum in meine Interpretationen einbeziehen. Ich gehe von folgenden Fragen aus: Welche Symbole verbanden sich mit Jerusalem? Wie waren diese Symbole auf den Raum bezogen? In welcher Weise waren Pra¨zisierungen der ra¨umlichen Konfigurationen notwendig, um dem symbolgeladenen Orten Realita¨tsgehalt zuzuweisen? Waren Pra¨zisierungen durch Quantifizierungen zu erreichen? Und schließlich, fu¨hrte die Quantifizierung des heiligen Raumes zu einer Repra¨sentanz, und damit einer doppelten Symbolisierung des realen Jerusalem fu¨r die Menschen im Okzident? Die Schwierigkeit besteht darin, dass die symbolische Funktion der Stadt Jerusalem und des Heiligen Grabes in zwei Richtungen weist. Einerseits auf die Vergangenheit, d. h. auf die biblische Geschichte, deren Monumente und Orte nicht allein Erinnerung wachrufen und bewahren, sondern Aneignung der Vergangenheit durch fromme Praktiken ermo¨glichen und rechtfertigen, die wiederum den Kontakt mit den Ra¨umen voraussetzen, die durch eine zeitliche Kontraktion die Gegenwa¨rtigkeit des einst Geschehenen garantieren, so dass die ra¨umliche Identita¨t die symbolische Pra¨senz des Ungleichzeitigen hervorbringt.5 Zweitens geht es um die Symbolisierung dieser in der Stadt Jerusalem errungenen Vereinigung tempora¨r differenter, aber lokal identischer Geschehnisse fernab dieser Stadt, in der Heimat der Pilger. Deren Berichte sollen die ra¨umliche Multiplizierung hervorbringen und eine Pra¨senz von Jerusalem schaffen, die selbstversta¨ndlich als eine symbolische aufzufassen ist, deswegen aber nichts an einer von den Zeitgenossen angenommenen Wirklichkeit einbu¨ßt. Ja, die symbolische Repra¨sentanz Jerusalems im okzidentalen Europa erweist sich als ein Beweggrund und als eine Legitimation von Pilgerfahrten, die mehr waren als individuelle Aneignungen der der Stadt Jerusalem und dem Heiligen Grab innewohnenden Heilskraft, sondern dazu beitrugen, auch diejenigen, die in der Heimat blieben, in Kenntnis zu setzen von den heiligen Sta¨tten und sie Anteil nehmen zu lassen an der Vergewisserung des Seelenheils. Die zahlreichen Imitationen des Heiligen Grabes im gesamten christlichen Okzident mu¨ssen hier nicht noch einmal ausgebreitet und gedeutet werden. Der Blick soll auf Texte und Karten gelenkt werden, die – anders als sonst u¨blich6 – nicht als Zeugnisse des Reisens und des Wahrnehmens des Frem4 Chiara Frugoni, A Distant City. Images of Urban Experience in the Medieval World, Princeton 1991,

S. 9–12.

5 Bernhard Ko ¨ tting, Ecclesia peregrinans. Das Gottesvolk unterwegs, 2 Bde. (Mu¨nsterische Beitra¨ge

zur Theologie 54), Mu¨nster 1988; Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosita¨t im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 208–212. 6 Jean Richard, Il santo viaggio. Pellegrini e viaggiatori nel Medioevo, Rom 2003; Klaus Herbers, Pilger auf dem Weg nach Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela, in: Pilgerziele der Christenheit. Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela, hg. v. Paolo Caucci von Saucken, Stuttgart 1999, S. 103–133; Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im spa¨ten Mittelalter, Stuttgart 2001; Klaus Herbers, Die Pilgerfahrt – eine besondere Form des Reisens im Mittelalter, in: Die Welt

Symbolische Aneignung des Unverfu¨gbaren

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den, sondern ganz im Gegenteil als Aussagen des Wiederholens des bereits Bekannten gedeutet werden. Es geht mir also darum, die Funktion von Texten darzulegen, die Symbole zu duplizieren vermo¨gen, also selbst wiederum Symbole erzeugen. Der Transfer von Bedeutung von einem Ort zu einem anderen bedurfte freilich der Konkretisierung, denn nur so war es mo¨glich, legitime Repra¨sentationen von Bedeutungen anzulegen, die die Menschen im Okzident akzeptieren konnten. Zuna¨chst aber war die Verortung symbolischer Aneignung bei den fru¨hen Christen suspekt. Pilgerfahrten nach Jerusalem galten als unno¨tig, insofern die Na¨he zu Gott keinen privilegierten Ort beno¨tigte und allgegenwa¨rtig mo¨glich sein sollte. Jesus soll, so die Darstellung im Johannesevangelium, zur Samaritanerin gesagt haben: Glaube mir, Frau, die Stunde wird kommen, in der nicht auf diesem Berg und auch nicht in Jerusalem ihr den Vater verehren werdet. Sondern die Stunde wird kommen – und dies wird bald sein –, in der die wahren Gla¨ubigen den Vater im Geiste und in der Wahrheit anbeten werden (Joh 4,21–23). Die Kirchenva¨ter verweigerten der ko¨rperlichen Anna¨herung an die heiligen Sta¨tten einen devotionalen Wert. Gregor von Nyssa schrieb: „Ihr, die ihr den Herrn verehrt, lobt ihn an den Orten, wo ihr gerade seit. Ein Ortswechsel wird Euch Gott nicht na¨her bringen.“7 Vergeistlichung des Glaubens bedurfte keiner Ru¨ckversicherung durch materielle Gegensta¨nde und durch ra¨umliche Na¨he.8 Indes, die Anweisungen des Neuen Testaments und der fru¨hen Christen verhinderten nicht zahlreiche Pilgerreisen nach Jerusalem. Seit dem vierten Jahrhundert begann ein besta¨ndiger Zustrom. Der Antagonismus zwischen Omnipra¨senz des Heils und o¨rtlicher Fixierung von Verehrungsorten war ein Anstoß, die Kenntnis von Jerusalem und die Erfahrung u¨ber die dortigen heiligen Orte zu ku¨nden und damit u¨berall und unter allen verfu¨gbar zu machen – auch fern von Jerusalem –, so dass eine reale Pra¨senz eines jeden Christen dort entbehrlich war. Dennoch war die materielle Aneignung von Jerusalem ein Anliegen vieler, die dorthin zogen und die Erinnerung ihrer Reise materialisierten und in ihrer jeweiligen Heimat pra¨sentierten. Beweise u¨ber die tatsa¨chlich abgelegte Wallfahrt wurden erbracht durch die Ausstellung von Pilgerzeichen, die charakteristische Elemente der Stadt Jerusalem widergaben. Die Zeichen waren zugleich Objekte der Verehrung, die die Pra¨senz der heiligen Stadt perpetuierten.9 Es gab weitere Verfahren, um Jerusalem zu repra¨sentieren. Sie beruhten auf der Vermittlung von Kenntnissen, so dass Markierungen in den Westen transferiert wurden, die eine massenhafte Imitation der Jerusalemer Grabeskirche als Orte der Verehrung schufen, in denen die Daheimgebliebenen Jerusalem nahe sein konnten.10 Zur Vergegenwa¨rtigung von Jerusalem trugen bei ebenso die immaterierfahren. Zur Geschichtlichkeit von Wissen und Horizonten, hg. v. Stefan Krimm/Martin Sachse, Mu¨nchen 2007, S. 97–127. 7 Gregor von Nyssa, Epistolae 2–3, in: PG 46, Paris 1858, Sp. 1009–1024, hier Sp. 1024. 8 Giles Constable, Opposition to Pilgrimage in the Middle Ages, in: Studia Gratian 19 (1976), S. 123–246. 9 Andreas Haasis-Berner, Pilgerzeichen des Hochmittelalters, Wu¨rzburg 2003; Harmut Ku ¨ hne, Pilgerzeichen. Signum des Pilgerns und Devotionalie, in: Liturgisches Jahrbuch 60 (2010), S. 45–63. 10 Lieselotte Ko ¨ tzsche, Das Heilige Grab in Jerusalem und seine Nachfolge, in: Akten des 12. Internationalen Kongresses fu¨r Christliche Archa¨ologie, Bonn 22. – 28. Sept. 1991, hg. v. Ernst

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ellen Bedeutungen, die, an Schrift und Bild gebunden, Informationen, aber daru¨ber hinaus auch symbolische Pra¨senz hervorbrachten, so dass Jerusalem nicht allein jenseits des Meeres, in Outremer, existierte, sondern vor jedem Gla¨ubigen, selbst wenn er nie die mu¨hsame Reise auf sich nahm, entstehen konnte. Materielle und textuelle Bedeutungstra¨ger u¨berwanden die Fixierung an einen konkreten Ort. Authentizita¨t der Erfahrung u¨ber Jerusalem war nicht gebunden an den tatsa¨chlichen Kontakt mit dieser Stadt. Der Nutzen der zahlreichen Pilgerberichte erscho¨pfte sich nicht in der Vermittlung praktischer Kenntnisse zu Unterku¨nften, Schiffsreisen, Zugangserlaubnissen und Gefa¨hrdungen. Sie dienten nicht allein der Mehrung des perso¨nlichen Prestige des- und derjenigen, die sich auf die gefa¨hrliche Reise aufgemacht hatten und perso¨nlich die Sta¨tten des Wirkens Jesu und der Apostel hatten schauen ko¨nnen11, sondern sie stellten selbst wiederum origina¨re Objekte der Verehrung bereit. Jenseits des eigenen und prima¨ren Erlebens konnte Jerusalem vorgestellt sein. Die Aktivita¨ten des Schreibens, des Verku¨ndens und des Aufnehmens waren Fro¨mmigkeitsu¨bungen, die ebenfalls als verdienstvoll galten. Es waren devotionale Praktiken, die darauf zielten, die innere Erfahrung des Lebens, Leidens und Auferstehens Christi durch Kenntnisse u¨ber die Orte, wo sich das Geschehen ereignete, wachzurufen und zu intensivieren. Texte, aber auch Karten und Bilder stellten Jerusalem und insbesondere das Heilige Grab unter drei Gesichtspunkten dar: Jerusalem als Ort der biblischen Geschichte, als Ort der Pilgerreise und drittens als Objekt der Beschreibung und damit der Vergegenwa¨rtigung. Die Symbolisierung konnte indes nur funktionieren, wenn sie mit einer Pra¨zisierung der o¨rtlichen und ra¨umlichen Gegebenheiten in der Stadt Jerusalem kombiniert wurde. Denn die konkrete Existenz von Geba¨uden und ihren Anordnungen wirkte als stetes Korrektiv fu¨r Korrektheit, welches auch immer durch eigenen Augenschein der Pilger u¨berpru¨ft und verbessert werden konnte. Der Mo¨nch Arculf war am Ende des 7. Jahrhunderts einer dieser Pilger, dessen Bericht von Adomnan um das Jahr 700 aufgeschrieben wurde. Eine genaue Beschreibung der Kirche des Heiligen Grabes wurde geboten, erga¨nzt mit einer Zeichnung, von der mehrere Abschriften vorliegen, eine davon in der Burgerbibliothek Bern.12 Sie erfasste den Kuppelbau, die Seitenkapellen und den Vorbau dieser, wie es hieß, edelsten Kirche Jerusalems: „Im Zentrum und im Inneren der Rotunde befindet sich ein kleines rundes Haus, errichtet aus Steinen, in das neun Personen eintreten und dort aufrecht stehend beten ko¨nnen. Oberhalb ihrer Ko¨pfe gibt es einen Zwischenraum von eineinhalb Fuß bis zur Ho¨he der Decke. Der Eingang zu dem Ha¨uschen ist nach Osten gerichtet. Die a¨ußere Fassade ist mit Marmor bedeckt, die Spitze des Daches ist in Gold eingefasst und von einem Kreuz u¨berragt. Im no¨rdlichen Teil

Dassmann/Josef Engemann (Jahrbuch fu¨r Antike und Christentum, Erg.-Bd. 20/1), Mu¨nster 1995, S. 272–290; Le Saint Se´pulcre en Occident, hg. v. Ludovic Viallet, Turnhout (im Druck). 11 Jean Richard, Les re´cits de voyages et de pe`lerinages (Typologie des sources du moyen aˆge occidental 38), Turnhout 1981; Steeve Baccarard, L’image de Je´rusalem a` travers les re´cits de voyages et de pe`lerinages dans la premie`re moitie´ du XVe sie`cle, Paris 1992. 12 Bern, Burgerbibliothek, Cod. 582, fol. 8r.

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ist das heilige Grab, in den Felsen hinein gehauen. Das Grab ragt drei Handla¨ngen u¨ber den Boden.“ Weitere Quantifizierungen von Gro¨ßenverha¨ltnissen folgen. Sie anzugeben, erho¨hte die Glaubwu¨rdigkeit der Informationen. Auch Jerusalem selbst war eingebunden in die quantifizierende Standortbeschreibung. Die Stadt liege in der Mitte der Welt. Dazu gebe es auch einen evidenten Beweis. Es stehe dort eine Sa¨ule, die an der Mitsommerwende zur Mittagszeit keinen Schatten werfe. Arculf erachtet dieses Pha¨nomen als ein Wunder. Dass nach heutigem Kenntnisstand der fast senkrechte Einfall des Sonnenlichtes nahe dem Wendekreis des Krebses sich u¨ber die gesamte Ausdehnung des Breitenkreises beobachten la¨sst, war ihm offensichtlich unbekannt und wurde spa¨ter von dem Pilger Wilbrand von Oldenburg, der 1210 in ¨ quator, in den heißen Zonen Jerusalem weilte, als Irrtum bezeichnet, da doch am A ¨ berlegunder Mittelpunkt der Erde zu verorten sei.13 Der Einwand soll fu¨r unsere U gen hier jedoch keine Rolle spielen. Wichtig war allein, dass ein Beobachter berichtet, der mit eigenen Augen Beweise sah und die Grabeskirche und Jerusalem beschrieb. Der Verlust der Herrschaft u¨ber die Stadt wird beklagt und vor allem die Okkupierung der heiligen Orte der Christenheit durch Gottesha¨user der Muslime vermerkt, wobei aber auch deren Beschreibung in eine quantitative Erfassung einbezogen ist: Die Moschee – es handelt sich dabei offensichtlich um die Al-Aksa-Moschee – ko¨nne 3000 Gla¨ubige aufnehmen. Gleichwohl: Sie sei ohne Sorgfalt erbaut und befinde sich auf den Ruinen a¨lterer Geba¨ude.14 Pra¨zisierung und Quantifizierung hatten indes noch – neben dem Nachweis der Authentizita¨t – eine weitere Bedeutung. Es ging um die Wiederholung des tradierten Wissens, das abgerufen und immer wieder besta¨tigt werden musste. Die Konfiguration von Jerusalem war den mittelalterlichen Zeitgenossen bekannt, unabha¨ngig davon, ob sie jemals in der Stadt geweilt hatten. Die Apokalypse nach Johannes bot ein Ensemble von Quantifizierungen und Konfigurationen des himmlischen Jerusalem, dessen Spuren oder doch zumindest Analogien in der Beschreibung des irdischen Jerusalem wiederzuentdecken waren: Nach dem Text der Apokalypse maß ein Engel mit einem goldenen Rohr die Stadt, ihre Tore und ihre Mauern. Diese waren 144 Ellen hoch und zu jeder der vier Himmelsrichtungen jeweils 12 000 Stadien lang (Off 21,15–17). Die Apokalypse bestimmte die Sichtweise auf Jerusalem und markierte den Raum dieser Stadt mit Bedeutungen, die in mehreren Zeitebenen angesiedelt waren.15

13 Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium Terrae sanctae, in: Peregrinatores medii aevi quatuor, hg. v.

Johann Carl Mauritz Laurent, 2. Aufl. Leipzig 1873, S. 162–190.

14 Adamnanus, De locis sanctis, in: Itinera Hierosolymitana, hg. v. Paul Geyer (Corpus scriptorum eccle-

siasticarum Latinorum 39), Wien 1898, S. 221–297; Pierre Maraval, Constantin et les lieux saints de Palestine, in: Pe`lerinages en Terre Sainte (Connaissance des Pe`res de l’Eglise 122), Paris 2011, S. 27–51. Als Quelle fu¨r kunsthistorische Forschungen wird dieser Text und weitere Beschreibungen untersucht von: Arnulf Arwed, Mittelalterliche Beschreibungen der Grabeskirche in Jerusalem (Colloquia Academica. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1997), Stuttgart 1998, S. 7–44. 15 Kaspar Elm, Umbilicus mundi. Beitra¨ge zur Geschichte Jerusalems, der Kreuzzu¨ge, des Kapitels vom Heiligen Grab in Jerusalem und der Ritterorden (Instrumenta canonissarum regularium Sancti Sepulcri 7), Bru¨gge 1998, S. 16f.

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Die Reproduktion der Tradition war vorgezeichnet. Bereits Hieronymus hatte Jerusalem in der Mitte der Welt platziert. Von dort komme das Heil. Und die Lage erlaube, dass Menschen aus allen Weltgegenden dorthin gelangen ko¨nnten. Eine Welle von Pilgerreisen setzte ein, die Berichte hervorbrachten, die genaue Beschreibungen des Gesuchten und Gesehenen in Jerusalem boten. Bischof Cyrill von Jerusalem begnu¨gte sich zur Mitte des 4. Jahrhunderts noch mit einer Auflistung der Geba¨ude16, Egeria, die wohl am Ende des 4. Jahrhunderts in die Stadt zog, interessierte sich fu¨r die Liturgien, die dort gefeiert wurden.17 Die Architektur und der Raum standen noch weitgehend außerhalb der Betrachtung. Andere Autoren, wie Isidor von Sevilla im 6. und Beda Venerabilis im 8. Jahrhundert, sorgten fu¨r eine breite Rezeption eines Kompilats der Beschreibungen in der westlichen Christenheit. Nun aber war wohl offensichtlich das Bedu¨rfnis zu befriedigen, einen Ort genau zu beschreiben, den zu besuchen nur wenigen vorbehalten und u¨berdies mit großen Mu¨hen und Gefahren verbunden war. Die reale Distanzierung fu¨hrte zu einer symbolischen, durch Text und Bild vermittelten Pra¨zisierung. Beda Venerabilis bot eine genaue Beschreibung des Heiligen Grabes, das durch eine oktogonale Form, durch eine Umfassungsmauer und vier Seitentu¨rme, durch sechs Eingangstore, von denen die drei wichtigsten sich in Richtung der drei Kontinente o¨ffneten, gekennzeichnet war. In der Mitte erhob sich die Rotunde, die genaue Position der Mitte der Welt markierend. Deren Dach blieb an ihrer Spitze offen, so dass ungehindert das Sonnenlicht in die Grabeskirche einfallen ko¨nne und so die Kirche unmittelbar mit dem Himmel in Kontakt trete.18 Unabha¨ngig von allen Zersto¨rungen, Wiederaufbauten und Wandlungen der Grabeskirche war das Bild vorgezeichnet, das die Pilger vorzufinden hofften und das die Pilgerberichte besta¨tigten. Die architektonische Gestalt war bekannt und ihre Kenntnis bedurfte letztlich keiner Entdeckung, sondern der andauernden Besta¨tigung und Vergewisserung. Die Pilger sollten das wiedererkennen, was sie bereits kannten. Die Tendenz zur Schematisierung, die auf wenige charakteristische Merkmale abhob, verhinderte nun nicht die Ausschmu¨ckung, vor allem aber nicht weitere Bemu¨hungen um genaue Messungen, auch wenn sie letztlich das Bekannte besta¨tigten und ganz offensichtlich besta¨tigen sollten. Deswegen kann ich der Auffassung von Richard Krautheimer, der in der Relation von Original und Imitation eine vollsta¨ndige Indifferenz gegenu¨ber architektonischer Exaktheit und geometrischer Genauigkeit feststellte, nur darin folgen, soweit diese Aussage sich auf okzidentale Heilig-Grab-Kir-

16 Cyrill von Jerusalem, Mystagocicae catecheses. Mystagogische Katechesen, bearb. v. Georg

Ro¨wekamp, Freiburg i. Br. 1992, S. 14–19.

17 Itinerarium Egeriae. Egerias Travels, hg. v. John Wilkenson, London 1971, S. 158; E. David Hunt,

The Itinerary of Egeria. Reliving the Bible in Fourth-Century Palestine, in: The Holy Land. Holy Lands, and the Christian History (Studies in Church History 36), Woodbridge 2000, S. 34–54; John Wilkenson, Jewish Holy Places and the Origins of Christian Pilgrimage, in: The Blessings of Pilgrimage, Urbana 1990, S. 41–53. 18 Isidori Hispalensis Episcopi von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, hg. v. Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, XIV, III, 20 u. 21; XV, I; Isidor von Sevilla, De fide catholica ex veteri et Novo Testamento, in: PL 83, Paris 1850, Sp. 449–538, hier Sp. 498; Beda Venerabilis, De locis sanctis, in: Itinera Hierosolymitana et descriptiones terrae sanctae, bellis sacris anteriora, hg. v. Titus Tobler/ Auguste Molinier, Bd. 2, Ndr. Osnabru¨ck 1966, S. 211–237.

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chen bezieht19, wohingegen in den Texten und Bildern durchaus der Anspruch auf Authentizita¨t bestand, der durch Pra¨zisierung zu beweisen war. Der Schub, den die Kreuzzu¨ge20 fu¨r die Jerusalempilgerschaft hervorriefen, stieß eine gesteigerte Produktion von Texten und Bildern an. Bernhard von Clairvaux und sein Zeitgenosse Petrus Venerabilis erhoben die Kirche des Heiligen Grabes zur edelsten und wichtigsten Kirche der gesamten Christenheit; Bernhard drang aber darauf, sie unter christlich-okzidentale Herrschaft zu stellen und diese Herrschaft zu bewahren, wohingegen er meinte, dass eine Pilgerfahrt zu dieser heiligen Stadt nicht zu empfehlen sei, denn wichtiger als der Besuch sei der bewaffnete Kampf.21 Die kritischen Einwa¨nde von Guibert von Nogent gegen eine reiche materielle Ausstattung des Heiligen Grabes und gegen eine Reproduktion der Verehrungssta¨tte im Westen22 haben weder von der Pilgerreise, noch von der Inszenierung von Liturgien in Jerusalem, noch von der Gru¨ndung von Heiliggrabkirchen abhalten ko¨nnen. Die armselige Existenz Jesu und seines Grabes galten letztlich nichts gegen das Verlangen, Zugang zum Wirken des Gottessohnes auf Erden zu erlangen und diesen Zugang durch architektonische Gestaltung und durch textliche Pra¨zisierung zu konkretisieren. Pilger stro¨mten ins Heilige Land und suchten und boten Informationen. Wilhelm von Tyrus,Kenner und aufmerksame Augenzeuge des Heiligen Landes, war in der Lage, Jerusalem und die Kirche des Heiligen Grabes zu beschreiben, nicht als kurzfristiger Besucher, sondern als Person, die an der Gestaltung von Bau, Ausstattung und Liturgie mitwirken konnte. Was er zeigte, war daher mehr als nur das Ergebnis von Beobachtung, es zielte auf Planung, Formung und Konstruktion. In der Grabeskirche wurde der Ko¨nig von Jerusalem gekro¨nt. Dort trafen sich die Bru¨der des Templerordens. In der Stadt Jerusalem, wohin einst nur unter Gefahren westliche Pilger reisen konnten und wo fast keine Christen wohnten außer Griechen und Armeniern, da konnten nun Gottesdienste gefeiert werden, Mo¨nche siedelten sich an, neue Orden entstanden., Kirchen wurden errichtet.23 Ein Pilgerbericht eines aus dem Westen angereisten Autors mit Namen Theoderich, der wohl in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts schrieb, suchte Genauigkeit in der Beschreibung der Architektur und der Bildausstattung durch Quantifizierung zu erreichen, die mit der Wiedergabe geometrischer Grundstrukturen verbunden ist: Das u¨ber dem Grab errichtete

19 Richard Krautheimer, Introduction to an „Iconography of Medieval Architecture“, in: Journal of the

Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 1–33, hier S. 7–9.

20 Marcus Bull, Knightly piety and the lay response to the First Crusade. The Limousin and Gascony

c. 970 – c. 1130, Oxford 1993.

21 Bernard de Clairvaux, De laude novae militiae, in: Bernhard von Clairvaux, Sa¨mtliche Werke, latei-

nisch-deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler, Bd. 1, Innsbruck 1990, S. 267–325, S. 309–317; Petrus Venerabilis, De miraculis, in: PL 189, Paris 1890, Sp. 851A–954A, Sp. 882–887, 217–220; Adriaan H. Bre¨ ber das Verha¨ltnis von Religion, Kirche und dero, Christenheit und Christentum im Mittelalter. U Gesellschaft, Stuttgart 1998, S. 71–108. 22 Guibert von Nogent, De pignoribus sanctorum, in: PL 156, Paris 1890, Sp. 626. 23 Guillaume de Tyr, Historia rerum in partibus transmarinis gestarum (Recueil des historiens des Crosades. Historiens occidentaux), Paris 1879/80, S. 185–186; Rainer Christoph Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz. Studien zu Wilhelm von Tyrus (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 15), Stuttgart 1977.

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Bauwerk, das mit Marmor geschmu¨ckt ist, hat nicht den vollen Umfang eines Kreises, sondern gegen Osten stehen zwei kleine Mauern, die auf eine dritte stoßen und die insgesamt drei kleine Tore aufweisen – die drei Fuß breit und sieben Fuß hoch sind –, von denen eine von Norden, eine zweite von Osten und eine dritte von Su¨den erreichbar sind.24 Die zehn Sa¨ulen, die die Kuppel der Grabeskirche tragen, bilden ebenfalls einen Kreis, u¨ber dem ein Bogen sich erhebt.25 Die hier nur exemplarisch genannten Beschreibungen ordnen sich ganz einer deskriptiven Darstellung unter, die sogar weitgehend darauf verzichtet, den liturgischen Gebrauch vorzustellen, so dass die genaue Kenntnis der baulichen Beschaffenheit zwar keine Handlungsanleitung zu bieten vermag, wohl aber die Aneignung des Geba¨udes, u¨ber das zu verfu¨gen die okzidentalen Christen so große Anstrengungen unternommen hatten. Indes, die Aneignung blieb unvollsta¨ndig. Theodericus erwa¨hnt einige Alta¨re in der Grabeskirche, an denen die o¨stlichen Christen – einige ihrer Gruppen werden genannt – ihre Gottesdienste feiern, wobei mit der Bezeichnung altariola eine deutliche Abwertung verbunden ist. Den Autor interessiert mehr ein anderes Thema: Das Wunder des Heiligen Feuers, welches in jeder Osternacht stattfindet, dra¨ngt ihn zu ausfu¨hrlichen Beschreibungen, so dass er nur in dem hierzu verfassten Kapitel die von Bedeutung abgelo¨ste Architekturbeschreibung verla¨sst und das Wunder in das liturgische Geschehen des Ostergottesdienstes einbettet.26 Jerusalem barg heilige Objekte und Reliquien, die vor den Gefahren einer Entwendung zu bewahren waren, indem sie in den Okzident transferiert wurden. Der Kastilier Rorgo Fretelli beschreibt zur Mitte des 12. Jahrhunderts die heiligen Sta¨tten in Syrien und Pala¨stina und stellt dabei den Tempel in den Vordergrund, dessen mehrmalige Zersto¨rung stets wieder einen Wiederaufbau nach sich zog, so dass nunmehr, zu seiner Zeit, der vierte Tempel bewundert werden ko¨nne. Die Szenerie der Pra¨sentation Jesu im Tempel leitet u¨ber in die Erza¨hlung u¨ber die Sicherung der Reliquie der Vorhaut Jesu, die Karl der Große erhalten und nach Aachen in die Pfalzkapelle u¨berfu¨hrt habe, dann von dort durch den westfra¨nkischen Ko¨nig Karl den Kahlen nach Cahors weitergegeben worden sei. Wichtig war die materielle Sicherung der einzigen ko¨rperlichen Reliquie von Jesus und ihre Aufbewahrung an einem Ort, der der Kontrolle der okzidentalen Christen unterstand und vor Zersto¨rung, Entwendung und Profanierung geschu¨tzt war. Der Raum von Jerusalem bot dafu¨r keine Gewa¨hr. Er war exponiert; er war gefa¨hrdet, wieder in die Ha¨nde der Muslime zu fallen.27 Die Kontrolle u¨ber Stadt und heilige Sta¨tten ging tatsa¨chlich nach der Niederlage des Kreuzfahrerheeres in Hattin 1187 wieder verloren, und Jerusalem wurde erneut der ferne Ort, der gleichwohl im Zentrum der Welt stand und der der exzentrische Anziehungspunkt der westlichen Christen blieb, ja diese Funktion noch versta¨rkte,

24 Theodericus, Libellus de locis sanctis, hg. v. Marie-Luise und Walther Bulst, Heidelberg 1976, S. 12f. 25 Ebd., S. 14. 26 Ebd., S. 152; Carmen von Samson-Himmelstjerna, Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer

Berichte und der mittelhochdeutschen erza¨hlenden Dichtung (Berliner Historische Studien 37), Berlin 2004, S. 58–78. 27 Rorgo Fretelli, Liber locorum sanctorum Terrae Jerusalem, in: PL 155, Paris 1854, Sp. 1037–1054, Sp. 1047f.

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nachdem trotz des Verlusts der politischen Herrschaft die religio¨se Bindung an Jerusalem nicht nachließ, sondern Anstrengungen motivierte, sich den heiligen Sta¨tten zu na¨hern. Die Ebstorfer Weltkarte aus dem 13. Jahrhundert stellte Jerusalem, wie u¨blich, in das Zentrum der Welt, bot daru¨ber hinaus ein Abbild des Raumes dieser Stadt. Sie wurde im Vergleich zu a¨hnlichen Weltkarten, wie die des Oxforder Psalters aus dem Jahre 1110 oder des Londoner Psalters von 1260 oder der Weltkarte in der Kathedrale zu Hereford von ca. 1270, nicht als Kreis vorgestellt, der einen gleichberechtigten Zugang in alle Richtungen signalisierte, sondern als Oktogon, das sich zwar der Kreisform anna¨herte, auch die Offenheit nach u¨berall anzeigte, aber die fortifikatorische Funktion mittelalterlicher Stadtanlagen sta¨rker aufgriff, damit Jerusalem dem okzidentalen Bewusstsein na¨her ru¨ckte und sich vor allem an das biblische Mus¨ brigen entsprach das Oktogon der Stadtmauer dem Oktogon der ter anglich. Im U a¨ußeren Einfassung der Grabeskirche, die selbst wiederum ein Rundbau war, so wie dies in den spa¨tmittelalterlichen Beschreibungen vorgestellt wurde. Im Zentrum der Stadt erhob sich der auferstandene Christus, der seinem Grab entstieg, so dass die Abbildung den geographischen Ort mit dem historischen Ereignis verknu¨pfte und beide in eine ra¨umliche Konfiguration stellte, die eindeutig urban konnotiert war. Das Heilige Grab wurde als Kirche vorgestellt, die von einem Kranz von Kapellen umgeben war, was der zeitgeno¨ssischen Situation in Jerusalem entsprach, so dass als weiterer Bezugspunkt die im 13. Jahrhundert aktuelle Devotion in das Bildprogramm einbezogen wurde. Die Visualisierung vom Heiligen Grab und von Jerusalem durch die Ebstorfer Weltkarte und anderen a¨hnlich aufgebauten Weltkarten war nicht mehr auf eine eigene Beobachtung angewiesen. Die Karten boten eine Raumdarstellung, in die eine Narration eingestellt war. Es ging bei den Darstellungen nicht um geo¨ bereinstimmung von Realita¨t und Bild; die Transformiegraphische und ra¨umliche U rung des Gesehenen in das Dargestellte verlangte keine Kopie. Es ging vielmehr um die Vorstellung einer Stadt, deren Bestandteile sich nach ihrer religio¨sen Bedeutung bemaßen und in diesen Maßen auch dargestellt wurden. Der Gewinn an Realita¨tsbezug, etwa in der Karte des auch als Zeichner von Portulankarten hervorgetretenen Venezianers Pietro Vesconte, bedeutete indes weiterhin keinen Verzicht auf die Vermischung der Zeitebenen, die in dasselbe Bild einzufu¨gen weiterhin als ada¨quates Mittel der Information angesehen wurde. Weiterhin war Jerusalem in diesen Karten meist nur als Ort im Weltgeschehen und auf der Weltkarte dargestellt, ohne auf die Strukturierung innerhalb der Stadt genauer einzugehen. Was za¨hlte, war die Positionierung im Raum der Welt, nicht die Beschreibung eines sta¨dtischen Raumes.28 Ein Plan, der in einer Handschrift der Abtei Pru¨fenig aus dem 14. Jahrhundert enthalten ist, zeigt das architektonische Ensemble der Kirche des Heiligen Grabes, mit der Sa¨ule, welche am Sommeranfang keinen Schatten wirft, umgeben von einem

28 Ingrid Baumga¨rtner, Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Jerusalem

im Hoch- und Spa¨tmittelalter. Konflikte und Konfliktbewa¨ltigung – Vorstellungen und Vergegenwa¨rtigungen, hg. v. Dieter R. Bauer/Klaus Herbers/Nikolas Jaspert, Frankfurt a. M. 2001, S. 271–334, hier S. 315f.

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Kranz von Kapellen und Nebengeba¨uden, die von einer Umfassungsmauer eingeschlossen sind. Tore weisen die Wege in die vier Himmelsrichtungen. Geometrische Exaktheit zu erlangen, war eines der Mittel, Jerusalem in den Westen zu transponieren. Fu¨r Roger Bacon war die Kenntnis von Jerusalem und dem Heiligen Grab Voraussetzung, die Bibel angemessen zu verstehen. In die Mysterien des Glaubens einzudringen erfordere – mit den Ohren und den Augen des Sterblichen –, die mens humana zur Erkenntnis zu fu¨hren. In moralischer Deutung ist Jerusalem als Seele bezeichnet, in allegorischer Deutung der Ort des Friedens und in anagogischer Auslegung der Ort der triumphierenden Kirche. Die Reflexion u¨ber das biblische Geschehen wird gefo¨rdert durch das Wandern auf den Fußspuren der Patriarchen, Propheten, Apostel und von Jesus. Die physische Vergegenwa¨rtigung verlangt Pra¨zision und die genaue Abmessung der Distanzen im Raum. Mathematik ist gefordert.29 Der philosophische Diskurs war sowohl Reflex als auch Anstoß fu¨r die Praxis der Okzidentalen, die im Heiligen Land weilten. Vermessungen am Heiligen Grab wurden von einigen Reisenden berichtet. Bischof Meinwerk von Paderborn habe zu Anfang des 11. Jahrhunderts, um eine Kirche zu errichten, die der Grabeskirche gleichen sollte, den Mo¨nch Wino von Helmarshausen ausgesandt, der in Jerusalem die Ausdehnungen dieser Kirche vermessen habe, so wie die Vita Meinwerki, indes erst ca. hundert Jahre spa¨ter verfasst, berichtete.30 Die Lebensbeschreibung des Bischofs von Bologna Petronius (432 bis 450) erza¨hlt, dass er sorgsam mit einem Maßstab die Ausmaße der Jerusalemer Grabeskirche bei seinem Besuch aufgenommen habe, um dann spa¨ter in seiner Heimat nach diesem Vorbild eine Kirche errichten zu lassen. Der Text stammt indes vom endenden 12. Jahrhundert, zeigt also keine seit der Antike herru¨hrende Tradition, vielmehr eine in der Phase der Kreuzfahrerherrschaft in Jerusalem mo¨gliche und realisierte Chance, architektonische Genauigkeit in Jerusalem selbst zu erlangen.31 Die Gestaltungshoheit u¨ber den Raum Jerusalem ging den westlichen Christen mit dem Verlust der Stadt 1187 wieder verloren. Dem Verlangen nach Jerusalem tat dies keinen Abbruch. Vielmehr dra¨ngte die bedru¨ckende Gegenwart zu einer Ru¨ckbesinnung auf andere Zeitebenen – entweder biblische Vergangenheit oder eschatologische Zukunft. Der Eindruck, den der Besuch der Geba¨udes der Grabeskirche hinterließ, reicherte sich mit Reminiszenzen an Psalmen, Hymnen und Gebete an, die Jerusalem verherrlichten, so wie dies bei dem Pilgerbericht von Wilbrand von Oldenburg, der 1211 ins Heilige Land reiste, vorgefu¨hrt wird. Der bekannte Text stu¨lpt sich u¨ber den unbekannten Ort, der durch den Text aber vertraut gemacht werden kann und damit als Objekt der Verehrung zur Verfu¨gung steht.32

29 Roger Bacon, Opus majus, hg. v. John Henry Bridges, 2 Bde., Oxford 1897–1900, I, S. 161, 184–186. 30 Hans-Ju¨rgen Brandt, Die Jerusalemkirche des Bischofs Meinwerk von 1036. Zur Bedeutung des Hei-

lig-Grab-Kultes im Mittelalter, in: Die Busdorfkirche in Paderborn, 1036–1986, hg. v. dems. u. a. Paderborn 1986, S. 173–195. 31 Colin Morris, Bringing the Holy Sepulchre to the West. S. Stefano, Bologna, from the fifth to the twentieth century, in: The Church Retrospective, hg. v. R. N. Swanson, 33 (1997), S. 31–59. 32 Willibrand von Oldenburg, Itinerarium (wie Anm. 13), S. 162–190.

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Eine allein auf die Memorierung von Texten und die Produktion von Texten basierende Aneignung von Jerusalem genu¨gte freilich nicht. Die Bema¨chtigung dieser Stadt war ein Anliegen, zu dem nicht zuletzt die nicht abreißenden Besuche anstachelten. Jerusalem blieb auch nach dem Verlust der letzten Kreuzfahrerstu¨tzpunkte in Pala¨stina im Jahre 1291 Zielort von milita¨rischen Projekten und politischen Projektionen. Der franzo¨sische Adelige Bertrandon de la Broquie`re wurde vom Burgunderherzog Philipp dem Ku¨hnen 1432 ausgesandt, um die Lage von Sta¨dten und Befestigungen auszukundschaften, ihre milita¨rische Nutzung zu erfahren, aber auch, um die heiligen Sta¨tten in Jerusalem zu besuchen und zu beschreiben. Der Bericht, den Betrandon verfasste, war hinsichtlich der religio¨sen Bedeutung von Jerusalem recht inhaltsarm und verwies eher auf Befestigungen und Versorgungseinrichtungen in den Sta¨dten und sie umgebende Berge sowie auf die unterwu¨rfige Haltung der dort beheimateten Christen gegenu¨ber dem Sultan und auf die Optionen zur milita¨rischen Eroberung, als dass er auf Kirchen und Fro¨mmigkeitsu¨bungen im Raum der Stadt eingegangen wa¨re. Gleichwohl, auch hier war der Stadtraum symbolisch aufgeladen und zugleich als milita¨risch geschu¨tzter Bereich vorgestellt. Ging es doch schließlich darum, die Stadt wieder unter die Herrschaft von Christen zu bringen und dazu sowohl die herausgehobene Bedeutung als auch die Schwierigkeit des Unternehmens kenntlich zu machen.33 Die fehlende materielle Verfu¨gung kontrastierte mit der religio¨sen Aneignung. Den Widerspruch aufzulo¨sen und das heißt, den urspru¨nglichen Zustand wiederherzustellen, war der Zukunft anvertraut. Versta¨rkt seit dem 15. Jahrhundert pra¨sentierten Autoren Bilder und Texte von Jerusalem. Es ging um die zumindest symbolische Aneignung eines sta¨dtischen Raumes, der politisch nicht verfu¨gbar war. Amade´e Boveri verfasste zur Mitte des Jahrhunderts einen Text, der eine Kompilation von Beschreibungen bot und dabei Jerusalem mit Bedeutungen markierte, die christlich fundiert waren und zugleich die muslimische Gegenwart nicht ausblendeten, die er vielmehr als Verunreinigung deutete, die auszumerzen entweder kriegerische Anstrengung zur Ru¨ckeroberung oder mentale Disposition erforderte, das biblische Geschehen im Raum zu entdecken und zu evozieren. Der Tempel sei von Salomon errichtet, aber durch Kalif Omar, den Nachfolger Muhameds, umgebaut worden. Die Kirche des Heiligen Grabes hingegen stellte sich ihm als unversehrt dar. Die Beschreibung von deren kreisrunder Form bleibt indes schemenhaft und vermag nicht zu einer genauen Darstellung der architektonischen Teile vorzudringen. Immerhin kann er die charakteristischen Merkmale aufza¨hlen: die Tore der Kirche, die sich zu den vier Himmelsrichtungen o¨ffnen, sind reich dekoriert, wobei das su¨dliche Tor an einen Vorhof anschließt, in dem die Pilger sich sammeln und der von Kapellen umsa¨umt ist. Oberhalb des Grabmonuments erhebt sich ein Turm, der an der Spitze offen ist, mit Fenstern ausgestattet, die mit Bo¨gen und Sa¨ulen verziert sind. Mitunter begnu¨gen sich Pilger, summarisch die Teile 33 Bertrandon de la Broquie`re, Le Voyage d’Outremer, hg. Charles Henri Auguste Schefer, Paris 1892,

S. 12–17; Mehmed Izzedin, Deux voyageurs du 15e sie`cle en Turquie: Bertrandon de la Broquie`re et Pero Tafur, in: Journal asiatique 239 (1951), S. 159–167; Bertrandon de la Broquie`re, The Voyage d’Outremer, translated, edited and annoted by Galen R. Kline (American University Studies 2, 83), New York u. a. 1988.

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der Kirche zu benennen, ohne dass ein architektonisches Ensemble evoziert wird, wie in dem anonymen „Voyage de la saincte cyte´ de Hierusalem“ aus dem Jahre 1480.34 Religio¨se Informationen zu erhalten und Fro¨mmigkeit zu praktizieren, dazu diente die Erza¨hlung, die der schweizerisch-su¨ddeutsche Dominikaner Felix Fabri u¨ber seine beiden Pilgerfahrten nach Jerusalem verfasste, die er in den Jahren 1480 und 1483 bis 1484 unternahm. Er erla¨utert in seinen einleitenden Abschnitten, dass, da alle Gla¨ubigen Jerusalem sehen wollten, dies aber nur wenige ko¨nnten, den u¨brigen Kenntnisse zu vermitteln seien, die ihr Fernbleiben von der heiligen Stadt kompensieren sollen. Auch sie sollten vom Wissen profitieren u¨ber die genaue Lage der Stadt, u¨ber die Anordnung der Kirchen, u¨ber die Angaben zu ihrer Gro¨ße und ihrer Ausschmu¨ckung. Dies gelte insbesondere von der Kirche des Heiligen Grabes, so dass ein indirekter, u¨ber den Text vermittelter Zugang geboten werde. Ja, es bestehe sogar ein Risiko darin, wenn zu viele Pilger nach Jerusalem reisen wollten, wu¨rden doch damit nur die dortigen Muslime zusa¨tzliches Geld verdienen, wu¨rden die heiligen Sta¨tten durch Abnutzung gefa¨hrdet werden und wu¨rden viele Reisende doch nur Gelegenheit suchen, sich ihrer Wallfahrt zu bru¨sten. Daher sei es besser, einen versta¨ndigen und genauen Beobachter, der in rechter frommer Absicht Jerusalem besuche – Felix Fabri meint offensichtlich sich selbst – Bericht erstatten zu lassen und diesen Bericht zu nutzen fu¨r jeden, der Wissen und genaue Anschauung haben wolle vom Heiligen Grab und der gesamten Stadt. Nicht allein die Lektu¨re machte dies mo¨glich, sondern durch Verbreitung von Textinhalten u¨ber die Prediger erlangte der Pilgerbericht von Felix Fabri eine umfassende Breitenwirkung. Der Text sollte andere Texte kreieren.35 Eine perso¨nliche Begegnung mit dem Heiligen Grab sollte ermo¨glicht werden. Die Reproduktion des Textes durch Lesen, Abschreiben und Erza¨hlen in Predigten sollte die Reproduktion des Objektes hervorbringen. So wie die Kenntnis der Bibel auf Lesen und Erza¨hlen beruhe, so auch die Kenntnis der heiligen Orte, wie Felix schrieb und damit Repra¨sentanz des biblischen Geschehens mit der Repra¨sentanz des Ortes verband. Ja, die Gla¨ubigen, die durch den Pilgerbericht Fabris Wissen erworben hatten, seien eher befa¨higt, Wissen u¨ber die Heilige Schrift zu erlangen. Der Autor weist daher den eventuellen Vorwurf zuru¨ck, er wu¨rde lediglich die Neugier befriedigen. Nein, was er geschaffen hat, war ein Hilfsmittel der Devotion. Eigentlich habe jeder Jerusalempilger die Aufgabe, die anderen Gla¨ubigen an seinem Wissen teilhaben zu lassen, so dass der Bericht von Felix Fabri ein exemplarisches Zeugnis darstellt und ein Beitrag war, um die Pra¨senz von Jerusalem durch Textreproduktion zu multiplizieren. Die Einzigartigkeit der Stadt sollte der omnipra¨senten Aneignung nicht im Wege stehen und damit die Heilswirkung nicht mehr allein 34 Christine Perotte, Re´cit de pe`lerinage d’Amade´e Boveri. Transcription et commentaire, Me´moire de

maıˆtrise (masch.), universite´ de Paris IV, 1981, S. 125–135; Le Voyage de la saincte cyte´ de Hierusalem, hg. v. Charles Henri Auguste Schefer, Paris 1882, S. 69–80. 35 Kathryne Beebe, Felix Fabri and his audiences. The pilgrimage writings of a Dominican preacher in late-medieval Germany, Oxford 2007; Karin Schneider, Felix Fabri als Prediger, in: Festschrift fu¨r Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. Johannes Janota u. a., Tu¨bingen 1992, Bd. 1, S. 457–468; Hans-Joachim Schmidt, Allegorie und Empirie. Interpretation und Normierung sozialer Realita¨t in Predigten des 13. Jahrhunderts, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium Berlin 3. – 6. Okt. 1989, hg. v. Volker Mertens/Hans-Joachen Schiewer, Tu¨bingen 1992, S. 301–332.

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exklusiv denen vorbehalten sein, die Geld, Zeit und Wagemut besaßen, die Reise zu unternehmen. Damit die Multiplikatorwirkung des Textes funktionierte, musste er authentisch sein. Die Symbolisierung verlangte nach Absicherung. Sie bestand in dem Versprechen des Autors, die Dinge, u¨ber die er berichtete, mit eigenen Augen gesehen zu haben – eine Formulierung, die daher in dem Werk von Fabri an vielen Stellen vorkommt. Deswegen war die pra¨zise Beschreibung von Kirchen, ihren Bedeutungen, ihrer religio¨sen Sinnstiftung und ihrer Aufgabe als Orte von Abla¨ssen notwendig. Kein anderer Pilgerbericht des Mittelalters wartet mit einer so reichen Detailfu¨lle auf und vermittelt eine so große Genauigkeit. Die Quelle des Heils sei das Heilige Grab. Sie ist Gegenstand einer minutio¨sen Beschreibung: Abmessungen des Kir¨ rtlichkeiten von Einga¨ngen, Abfolgen chenraumes, Konfigurationen von Kapellen, O von liturgischen Gegensta¨nden, Angaben zur Ausstattung des Heiligen Grabes – all das schafft ein Ensemble von Objekten, die den Raum ausfu¨llen, die mit Bedeutung aufgeladen sind und als Quelle des Heils vorgestellt werden, das diejenigen erlangen, denen Abla¨sse, die ebenfalls genau quantifiziert werden, gewa¨hrt werden. Im Raum des Heiligen Grabes vereinigen sich die Erinnerung an das biblische Geschehen, die Anwesenheit des frommen Pilgers, die Heilswirkung auf die Anwesenden und die Transponierung in den Raum des fernen Okzidents. Die mentis recollectio und die contemplatio bedurften nicht der jeweils eigenen corporis emigratio.36 Die La¨ngenangaben, die Felix Fabri pra¨sentiert, stu¨tzen sich, so der Autor selbst, auf diejenigen, die ein anderer Pilger kurz zuvor aufgenommen hatte. Es handelt sich um Johannes Tucher, einen reichen Nu¨rnberger Patrizier, der selbsta¨ndig Vermessungen vorgenommen habe, so wie er berichtet. Er eignete sich auf diese Weise die architektonischen Elemente der Grabeskirche an. Nur auf den ersten Blick erscheine sie wie ein niedriger Turm. Gemessen wurde die Form der Rotunde. Die a¨ußere Mauer bilde zwo¨lf Winkel, in denen sechseckige Sa¨ulen platziert seien, deren Durchmesser einen halben Fuß betrage. Der Abstand vom Boden bis zur Decke sei lediglich eineinhalb Mann hoch. Im Zentrum befinde sich der Felsen des heiligen Grabes Christi, dessen La¨nge vier Hand und drei Finger betrage und dessen Ho¨he drei Hand und vier Finger. Der kleine Eingang zur Kirche sei viereinhalb Hand und drei Finger hoch. Die Auflistung der Maßangaben setzt sich fu¨r viele andere Teile der Kirche fort. Ohne sie hier in extenso wiedergeben zu wollen, sei darauf verwiesen, was in unserem Zusammenhang wichtig ist: Der vermessene Raum ist der angeeignete Raum, der damit zu einem symbolischen Raum wird, der transferierbar ist und letztlich allen Christen zur Verfu¨gung gestellt werden kann. Der Raum der Kirche, obwohl unter der faktischen Herrschaft der Muslime, kann fu¨r die Christen zur Verfu¨gung gestellt werden. Not-

36 Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem, hg. v. Conrad Die-

ter Hassler, 3 Bde. (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart), Stuttgart 1843–49, I, S. 2, 36, 229–230, 236–237, 250–315; Jean Meyers, L’evagatorium de Fre`re Fe´lix Fabri. De l’errance du voyage ˆ ge 114 (2008), S. 9–36; Albrecht Classen, Imaginary experience of a` l’errance du re´cit, in: Le Moyen A the divine. Felix Fabri’s „Sionspilger“. Late-medieval pilgrimage literature as a window into religious mentality, in: Studies in spirituality 15 (2005), S. 109–128.

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wendig war die Vermittlung der Maßangaben nicht, um eine Kopie des Heiligen Grabes anzulegen, sondern um Elemente der Erinnerung zu schaffen und zu vermitteln.37 Memorierung heißt Angleichung an das bereits Erinnerte. Johannes Tucher behauptet, die Grabeskirche von Jerusalem habe dasselbe Aussehen wie die Kirche Sankt Sebald in Nu¨rnberg. Die Evokation ihrer zentralen Kuppel erweitere die Kenntnis u¨ber die in der Ferne besuchte Kirche des Heiligen Grabes. Beide Gottesha¨user werden einander nahe geru¨ckt. Damit ist mehr gemeint als das nicht selten zu beobachtende Pha¨nomen, dass der Reisende nur das in der Fremde wahrnimmt, was er bereits kennt, sondern es geht um die Versicherung, dem Heiligen Grab nahe zu sein. Dazu bedurfte es eben nicht einmal mehr einer bewußten architektonischen ¨ hnlichkeit. Tucher war nicht der Kopie, sondern es genu¨gte die Behauptung einer A einzige, der meinte, im fernen Jerusalem das ihm in der Heimat Vertraute wiederzusehen. Ludolf von Suchem erachtete die Grabeskirche a¨hnlich mit der Domkirche zu Mu¨nster in Westfalen, Richard Guylforde mit dem Temple in London, Emo Capodilista mit der Kirche San Antonio in Padua, Antonio da Reboldi mit der Kirche San Stefano in Bologna, William Wey mit der Markuskirche in Venedig und Francesco Suriano mit Santa Maria Rotonda, also dem Pantheon, in Rom.38 Jerusalem wurde so an die Heimat angeschlossen, verlor den exotischen Charakter, war der Verfu¨gung der Muslime und der o¨stlichen Christen wenigstens mental entwunden, wurde zu einem Bestandteil der okzidentalen Christenheit. Weil eine exakte mentale Reproduktion ¨ hnlichkeiten zu finden und sie nicht notwendig war, gab es einen weiten Spielraum, A zum Vergleich heranzuziehen, seien die realen Unterschiede noch so beachtlich. Die Evokation von Jerusalem konnte auch als Modell eines Ortes der Vollkommenheit verwendet werden. In den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts erachtete ein Verwalter an der Universita¨t Paris, der aus der Schweiz stammte, seine Heimat als Imitation der heiligen Stadt. Den Psalmvers 125 leicht variierend schrieb er, das wie die Berge die Schweiz – im Psalm steht hier Jerusalem – umschließen, so Gott sein aus¨ berho¨hung bediente sich des erwa¨hltes Volk – und dies fu¨r alle Zeit. Die religio¨se U Themas einer Adaptation, die nicht als Duplizierung, sondern als Aneignung funktioniert, so dass nicht Jerusalem am anderen Ort repra¨sentiert erscheint, sondern Jerusalem sogar ersetzt wird durch einen geographischen Raum, dessen Vorzu¨ge sich vor

37 Crispino Valenziano, „Mimesis anamnesis“ spazio-temporale per il triduo pasquale, in: Studia Ansel-

miana 102 (1990), S. 13–54. 38 Ludolfs von Sudheim Reise ins Heilige Land, hg. v. Ivar v. Stapelmohr, Lund 1937; Ludolf von

Suchem’s description of the Holy Land, and of the way thither, written in the year A. D. 1350, hg. v. Aubrey Stewart, London 1895; The Itineraries of William Wey, hg. v. Francis Davey, Oxford 2010; The Pylgrymage of Sir Richard Guylforde to the Holy Land, A. D. 1506, hg. v. Henry Ellis, London 1851; Francesco Suriano, Il trattato di Terra Santa e dell’Oriente, hg. v. Girolamo Golubovich, Mailand 1900; Francesco Suriano, Treatise on the Holy Land, Jerusalem 1949; Colin Morris, The Sepulchre of Christ and the medieval West. From the Beginning to 1600, Oxford 2005, S. 326f.; Trade, Travel, and Exploration in the Middle Ages, An Encyclopedia, hg. v. John B. Friedman/Kristen Mossler Figg, New York u. a. 2000, S. 346–347; Be´atrice Dansette, Je´rusalem et la Terre Sainte au tournant des anne´es 1500. Un enjeu politico-religieux pour l’Occident? Une nouvelle lecture du Traite´ de la Terre Sainte de l’Orient de Francesco Suriano, in: Le partage du monde. E´changes et colonisation dans la Me´diterrane´e me´die´vale, hg. v. Michel Balard/Alain Ducellier, Paris 1998, S. 81–100.

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die der heiligen Stadt schieben.39 Die Repra¨sentation geschah durch die Variation des Textes, nicht durch die der Erfahrung; beide Verfahren a¨hneln sich aber, weil beide u¨ber Erinnerungen verfu¨gen, indem sie aktuellen Bedu¨rfnissen und aktuellen Eindru¨cken angeglichen werden. Die Beschreibungen von Jerusalem, beruhend auf dem eigenen Sehen und Abmessen, boten sich der Visualisierung an. Der Pilgerbericht, den Bernhard von Breydenbach, ein Mainzer Kanoniker und Reisegefa¨hrte von Felix Fabri, verfasste, war nicht allein der erste, der 1486 gedruckt wurde und allein von daher weite Verbreitung erfuhr, er war auch mit Abbildungen und Karten versehen, die Erhard Reuwich schuf. Im Bericht von Breydenbach ist Jerusalem als Ort der heiligen Sta¨tten vorgestellt, so dass die christliche Markierung des sta¨dtischen Raumes die zu dieser Zeit dominante muslimische architektonische Durchdringung zuru¨ckdra¨ngte. Die ima¨ berlegenheit der Christen in Jerusalem beruhte auf Aneignung durch Reigina¨re U sen und durch Modifizierung des durch sie gewonnenen Wissens. Wiederum stand die Grabeskirche im Zentrum des Interesses. Wiederum ging es um die exakte quantifizierende Beschreibung. Diese Kirche sei rund, sie habe einen Durchmesser von 73 Fuß. Und wiederum folgt eine Kaskade von Zahlenangaben: Ho¨he der Seitenkapellen, Breite der Hauptkirche, Abstand zwischen Decke und Fundament, La¨nge des Grabes, Vergleich der Maßangaben mit Ko¨rperteilen, Absta¨nde zwischen Alta¨ren und vieles andere mehr wurden vermessen bzw. vermeintlich vermessen. Die Pra¨zisierung der Quantita¨ten bu¨rgte fu¨r die Sicherheit der Information. Die Angabe von ¨ ußere der Felsengrotte, wo Christus begraben Zahlen suggerierte Exaktheit. Das A lag, sei mit Marmor ausgestattet, hingegen das Innere im rohen Gestein so belassen, wie es zur Zeit der Auferstehung Christi bestanden habe. Der Eingang, nach Osten ausgerichtet, war sehr niedrig und beließ nur wenig Platz fu¨r die Eintretenden. So wie ¨ ffnung in der Kuppel, u¨blich in den Pilgerberichten, verwies Breydenbach auf die O die das Sonnenlicht eintreten ließ, den Kirchenraum mit Licht ausfu¨llte, wohingegen die Felsengrotte ga¨nzlich im Dunkeln lag, das lediglich durch Ampullen ausgeleuchtet werden konnte.40 Die Abbildungen von Reuwich vera¨nderten indes den Eindruck, den der Text hinterließ. Sie zeigen die Stadt Jerusalem, in der die christlichen Bauwerke sich im Schatten der von den Muslimen genutzten ducken. Indem aber die Omarmoschee auf dem Tempelberg, so wie u¨blich, als Tempel Salomons gedeutet wurde, war eine von der eigenen religio¨sen Tradition reklamierte Pra¨senz aber doch gewa¨hrleistet. Die Konkurrenz zu den Muslimen stand einer ungesto¨rten Transponierung der Stadt Jerusalem in symbolischer Repra¨sentanz im Wege, was Felix Fabri durchaus einra¨umen musste und in seiner ausfu¨hrlichen Beschreibung der Moschee, die er in seinem Pilgerbericht anbot, als Profanierung eines heiligen Raumes deutete.41 Die Grabeskirche nimmt in den Illustrationen von Reuwich keinen prominenten Platz im Stadtensemble ein. Die Bilder zeigen eine Architektur, die anders als die Beschreibung 39 Sven Stelling-Michaud, les influences universitaires sur l’e´closion du sentiment allemand aux 15e et

16e sie`cles, in: Schweizer Beitra¨ge zur Allgemeinen Geschichte 3 (1945), S. 62–73, hier S. 65.

40 Bernhard von Breydenbach, Peregrinatio in terram sanctam. Eine Pilgerreise ins Heilige Land. Fru¨h-

¨ bersetzung, hg. v. Isolde Mozer, Berlin/New York 2010, S. 132–139. neuhochdeutscher Text und U

41 Felix Fabri, Evagatorium (wie Anm. 36), I, S. 250–315.

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von Breydenbach, kein vollsta¨ndiges Wissen u¨ber die Kirche vorzustellen vermag, vielmehr auf einzelne Teile verweisen. Das enge Eingefu¨gtsein in Nachbargeba¨ude machte dies offensichtlich schwierig. Der a¨ußere Blick stimme nicht mit der Sicht im Inneren u¨berein, wie Breydenbach feststellte.42 Die reale Lage behinderte die imaginierte exzellente Bedeutung. Nur eine Seite der Kirche bot die Mo¨glichkeit einer Abbildung. Reuwich griff zu einem Trick, mit dem er nicht eine real einsehbare Sicht vorstellte, sondern eine abstrahierende architektonische Skizze bot, die die forma et dispositio der Kirche umriss, die losgelo¨st von allen sto¨renden Elementen der Umgebung, als Solita¨r, dem Betrachter vor Augen tritt. So war es dann auch mo¨glich, die Bestandteile der Kirche vorzustellen. Seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts gewannen Bilder von Jerusalem an Genauigkeit und dra¨ngten phantasievolle Darstellungen zuru¨ck. Der Realita¨tsgewinn kann nicht allein mit den allgemeinen Errungenschaften der europa¨ischen Malerei erkla¨rt werden, er beruht auch auf den gesteigerten Anspru¨chen und Versuchen, sich die Stadt Jerusalem anzueignen. Gleichwohl, das Problem, wie exakte Abbildungen geschaffen werden ko¨nnten, ohne selbst an Ort und Stelle la¨ngere Zeit anwesend sein zu ko¨nnen, war nicht aus der Welt zu schaffen, so dass letztlich nicht das Geschaute, sondern wiederum das Geda¨chtnis von dem Geschauten ins Bild gesetzt werden musste.43 Die Vermessung des Raumes ist ha¨ufig kombiniert, so insbesondere bei Felix Fabri, mit der Vermessung des Seelenheils. Der Besuch von Kirchen, Kapellen und heiligen Orten gewa¨hrt Abla¨sse, die pra¨zise zeitlich terminiert werden. Das Verfahren wird bereits in dem Pilgerbericht des Jakob von Verona aus der Mitte des 14. Jahrhunderts vorgefu¨hrt: Der Autor bietet ausfu¨hrliche Listen von Indulgenzen, die durch den Besuch bestimmter Sta¨tten, Geba¨uden und Kirchen erworben werden ko¨nnen. Er breitet eine Geographie des Ablasses aus, der sich auf die Geographie des Raumes legt.44 Noch eindeutiger verbindet Niccolo` da Poggibonsi, der zur gleichen Zeit Jerusalem besuchte und u¨ber seine Reise berichtete, die beiden Geographien. Sie sind in jeweils analoger Weise durch Zahlen vorgestellt, die durch ihre Pra¨zision Verla¨sslichkeit der Information und des Heils garantieren.45 Von den ra¨umlichen Konstellationen abgehoben und einzig die Abla¨sse aufza¨hlend, konzentriert Francesco Suriano gegen Ende des 15. Jahrhunderts seine Quantifizierung, die er in einer Reihung vorstellt.46 Die Heilswirkung des sta¨dtischen Raumes von Jerusalem konnte nur durch Handlungen aktiviert werden, die eine Verbindung von distanzierten Objekten und eine Bewegung von Menschen hervorriefen. Die Prozession ist die klassische Form einer raumbezogenen Fro¨mmigkeitspraxis, die auch in Jerusalem stattfand, dort aber

42 Breydenbach, Peregrinatio (wie Anm. 40), S. 134f. 43 Morris, Sepulchre (wie Anm. 38), S. 347f. 44 Pellegrinaggio ai luoghi santi: Liber Peregrinationis di Jacopo da Verona, hg. v. Vittorio Castagna,

Verona 1990, S. 203.

45 Niccolo` da Poggibonsi, Libro d’oltramare, hg. v. Alberto Bacchi della Lega (Studium biblicum fran-

ciscanum. Collectio maior 2), Jerusalem 1945, S. 1f. 46 Suriano, Il trattato di Terra Santa (wie Anm. 38), S. 19f.

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unter besonderen Bedingungen, insofern die Beschra¨nkungen der Bewegungsfreiheit durch die Muslime und die o¨stlichen Christen47 nur wenige Wege o¨ffneten. Es waren die Muslime, die das Tor zur Kirche des Heiligen Grabes o¨ffneten und die Pilger zum Eintreten aufforderten. Zwischen der Feier von Messen, dem Ausruhen und dem Warten waren Strecken zuru¨ckzulegen, deren Zielorte Indulgenzen bereithielten. Stefan Baumgartner, der 1498 in Jerusalem weilte, verwies auf das dynamische Bewegungsmuster, zugleich aber auch auf die Hindernisse, die Zuga¨nge erschwerte und festgelegte Routen oktroyierte, die damit nicht allein durch die symbolische Bedeutung der besuchten Orte, sondern auch durch die Vorschriften der heimischen Autorita¨ten vorgezeichnet waren.48 Das Pilgertagebuch von Arnold von Harff, kurz vor dem Jahre 1500 geschrieben, verzeichnet die Wege, die er selbst in Jerusalem zuru¨cklegte, verbindet damit Teile der Stadt miteinander, bezieht auf sie das biblische Geschehen der Vergangenheit und auch die Heilswirkung der Zukunft. An dem Ort, an dem Ko¨nig David Buße tat fu¨r den Tod von Urias, gebe es einen Ablass von sieben Jahren und sieben mal vierzig Tagen. An einer anderen Stelle in Jerusalem, an der einst Jesus Maria Magdalena erschien, benennt Arnold Harff einen Ring. Dieser sei fu¨nf Schritte entfernt von einem anderen, gleich gestalteten Ring, auf dem Maria Magdalena stand, als sie sich Jesus nicht zu na¨hern wagte. An dieser Stelle gebe es ebenfalls sieben Jahre und sieben mal vierzig Tage Ablass. Die Quantifizierungen von ra¨umlichen Distanzen und Abla¨ssen durchzieht den gesamten Pilgerbericht. In die der heiligen Helena geweihten Kapelle fu¨hren 30 Stufen. Elf Stufen steigen Pilger in eine Gruft hinab, die 22 Fuß hoch ist. Darin wurde 307 Jahre nach der Geburt Christi das heilige Kreuz gefunden. Achtzehn Stufen aufwa¨rts geht es zum Kalvarienberg, wo eine Kapelle steht, in der sta¨ndig elf Lampen brennen. Zahlenangaben sollen eine Genauigkeit erzeugen, die umso wichtiger ist, als die Information zwar auf eigenem Augenschein beruht, von dem Leser aber nicht u¨berpru¨ft werden kann, so dass die Pra¨zision Garant der Wahrheit ist. Die Architektur weist der Bewegung des Pilgers die Richtung, welcher den sta¨dtischen Raum durchmisst, dabei Abla¨sse einsammelt und sie in Zahlenwerte fasst. Davon sind auch nicht mehr existente Bauwerke betroffen, die einst von Heiden zersto¨rt wurden, als Heilsbringer und markante Gliederung des Raumes aber weiter pra¨sent bleiben.49 Das bauliche Ensemble ist eben nicht als reales Fakt, sondern in seiner Funktion des Verweisens auf Erza¨hlung und Geschehen wichtig. Der Genuese Anselmo Adorno und sein Sohn beziehen in ihrem Bericht die heiligen Sta¨tten, die Kirchen, vor allem die des Heiligen Grabes, sogar auf moralische Tugenden. Der heilige Raum wird zur Kraftquelle, um eine innere Umkehr des Gla¨ubigen anzustoßen. Die starken emotionalen Regungen dra¨ngen auf eine Erneuerung,

47 Dorothee van den Brincken, Die „Nationes Christianorum Orientalium“ im Versta¨ndnis der latei-

nischen Historiographie von der Mitte des 12. bis in die zweite Ha¨lfte des 14. Jahrhunderts (Ko¨lner Historische Abhandlungen 22), Ko¨ln u. a. 1973. 48 Stefan Baumgartner, Reise zum Heiligen Grab 1498 mit Herzog Heinrich dem Frommen von Sachsen, hg. v. Thomas Kraus, Go¨ppingen 1986, S. 31–39. 49 Rom, Jerusalem, Santiago. Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496–1498), hg. v. Helmut Brall-Tuchel/Folker Reichert, Ko¨ln u. a. 2007, S. 187–193.

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die den Versuchungen der Welt abschwo¨rt und auf das Heil hinweist. Die Verinnerlichung der Erfahrung, die der Besuch von Jerusalem hervorruft, ist gleichwohl auf die Kenntnis der a¨ußeren Gestaltungen des Raums mit ihren Kirchen angewiesen und verlangt ebenfalls Genauigkeit in der Wiedergabe des Beobachteten.50 Auch spa¨tere Berichte von Pilgerfahrten insistierten auf den architektonischen Bestandteilen der Grabeskirche, deren Pra¨zisierung offensichtlich fu¨r notwendig erachtet wurde. Dies kann sogar auch dann geschehen, wenn die Berichterstatter – vor allem Laien – mit der Verknu¨pfung mit dem biblischen Geschehen offensichtlich u¨berfordert waren. Selbald Rieter vera¨nderte dabei die oktogonale Form des Zentralbaus in einen Turm mit zwo¨lf Ecken, woru¨ber sich eine Kuppel wo¨lbte. Wiederum fu¨llt der Autor seinen Bericht mit einer Ansammlung von Maßangaben auf, die er selbsta¨ndig an Ort und Stelle vorgenommen zu haben behauptet. Als Ergebnis seines Bemu¨hens um Genauigkeit leidet indes die Vorstellung einer Gesamtansicht, vielmehr verliert sie sich in einer unu¨bersichtlichen Fu¨lle von isolierten Details, die aber gleichwohl ihre Funktion besitzen, um den Bericht authentisch erscheinen zu lassen. Die Konzentration auf Architektur u¨berdeckt bei Rieter sogar die Liturgie, die er als Inszenierung von Bedeutung nicht beru¨cksichtigt. Der sakrale Raum tritt bei ihm als ¨ berfluss von Elementen auf, die zu verbinden und mit symbolischer Bedeutung zu U versehen, ihm nicht gelingt.51 Dies kann nicht auf intellektuelle Unfa¨higkeit zuru¨ckgefu¨hrt werden. Es ist dies das Ergebnis einer stets erneut vorzunehmenden Aneignung eines Raumes, der zwar bekannt war und dessen Kenntnis immer wieder in Erinnerung gerufen wurde durch eine Vielzahl von Texten, Bildern und Karten, von denen hier nur einige wenige vorgestellt werden konnten, der aber nicht in einer tradierten und kanonisierten Fixierung eingefroren werden konnte, insofern durch Pilgerreisen und Pilgerberichte individuelle Einsichtnahmen und Beschreibungen entstanden, die selten aufeinander Bezug nahmen, weil sie eben auf das selbst Geschaute, und damit auf die Authentizita¨t so viel Wert legten. Der Besuch von Jerusalem war nicht heilsnotwendig, fo¨rderte auch keineswegs das individuelle Seelenheil, sollte aber durch die Kenntnis und die Erfahrung der Orte des biblischen Geschehens den Glauben sta¨rken. Die Berichte von der Pilgerfahrt multiplizierten die Wirkung und trugen das Wissen u¨ber Jerusalem in den gesamten Okzident. Wichtig war die Fu¨lle der Information. Sie waren an den Raum der Stadt Jerusalem gebunden. Hingegen war das architektonische Ensemble, das in den sta¨dtischen Raum gestellt war, ohne Belang und diente nur als Folie einer Beschreibung, die Wert auf individuelle, gleichwohl reproduzierbare Devotion legte. Der Raum war Erinnerungsort, nicht Gestaltungsort. Instrumente, ja gar die Kompetenz, den Raum des Heiligen Grabes und der Stadt Jerusalem zu gestalten, war denjenigen entzogen, die den Raum besuchten und ihn beschrieben. Der Mangel an Intervention war kompensiert durch Symbolisierung.

50 Itine´raire d’Anselme Adorno en Terre Sainte 1470–1471, hg. v. Jacques Heers/Georgette de Groer,

Paris 1978.

51 Das Reisebuch der Familie Rieter, hg. v. Reinhold Ro ¨ hricht/Heinrich Meisner (Bibliothek des lite-

rarischen Vereins in Stuttgart 168), Tu¨bingen 1884, S. 16–23, 29.

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Dem faktischen Entgleiten des Raumes wird die exaltierte Aneignung durch Aufladung mit Bedeutung entgegengesetzt. Sie funktioniert sogar umso besser, je ferner, je entru¨ckter der Raum ist, je gro¨ßer die Anstrengungen sind, um ihn zu erreichen, je gefa¨hrlicher Reise und Aufenthalt sind, je undeutlicher das Wissen u¨ber ihn ist. Die Zuschreibung der Heiligkeit u¨berwindet das Fehlen instrumentaler Kompetenz. So wird der Raum des Heiligen Grabes in Jerusalem zu einem Raum, u¨ber den das okzidentale Europa verfu¨gt, ja in sein Zentrum ru¨ckt, indes nicht faktisch, sondern durch einen Bedeutungsu¨berschuss, der auf religio¨ser Sinnstiftung beruht, aber um nichts weniger Zentralita¨t hervorbringt. Aber die Verbindung von Sinn und Raumgestaltung war, weil Raumplanung unmo¨glich war, nicht eindeutig. Paradoxerweise war der heiligste Ort der Christenheit, das Heilige Grab, am wenigsten geschu¨tzt vor subjektiver Festlegung, gerade weil er so oft besucht und beschrieben wurde und weil er sich der konkreten Verfu¨gung entzog und weil die biblische Begru¨ndung des Sinnes eine Verknu¨pfung von Text und Objekt verlangte, die einer eindeutigen Relation entbehrte. Die Heiligkeit von Jerusalem verhinderte eine Traditionsbildung. Eine dominante Sicht, die Widerspru¨che ha¨tte aussondern ko¨nnen, hat sich nicht durchsetzen ko¨nnen. Trotz der Erwartung, das stets Gleiche sich wiederholen zu sehen, blieben gerade die konkreten Angaben zu Abmessungen unterschiedlich. Die symbolische Aneignung des heiligen Ortes brachte multiforme Imaginationen hervor. Das Geda¨chtnis haftete nicht allein an den loca sancta, sondern am eigenen Tun. Nur so konnten die okzidentalen Christen die Erinnerung an Jerusalem retten, sie waren darauf angewiesen, durch ihr Handeln, durch ihre Reisen, durch ihr Schauen das Geda¨chtnis zu aktivieren, so dass weniger der gebaute Raum als der erwanderte und geschaute Raum Informationen bot und das Material bereitstellte, das in den Texten der Jerusalempilger verarbeitet wurde.52 Und diese heterogene Aneignung unterlag umso weniger einem Zwang zum Konsens, als die Texte und Bilder zu Jerusalem und dem Heiligen Grab keinem theologisch reservierten Genre angeho¨rten, sondern es jedem Kleriker ¨ hnund jedem Laien offen stand, sie auszuformulieren. Verweise auf angebliche A lichkeiten mit vertrauten Kirchen in der jeweiligen Heimat formten und verformten das Geda¨chtnis. Die dem subjektiven Erleben besonders empfa¨nglichen Reiseberichte hemmten eine Uniformierung. Die unregulierte Reproduktion des Geschauten fo¨rderte gewiss die symbolische Repra¨sentanz, aber sie lag in vielfa¨ltigen Formen vor. Die individuelle Memorierung des heiligen Raumes beruhte zwar auf einer kollektiven Sicherung und Aneignung des Traditionsbestandes der heiligen Stadt Jerusalem, aber die Erkennung des Bekannten war um nichts weniger durch perso¨nliche Arrangements gestaltet, die durch sinnliche Erfahrung gewonnen wurden. Die Arrangements waren umso freier, als die Entru¨ckung Jerusalems aus der Verfu¨gung der okzidentalen Christen eine symbolische Aneignung an keine Bedingung anknu¨pfte, wie der architektonische Raum konkret zu gestalten sei. Die tatsa¨chliche Inkompetenz,

52 John Wilkinson, Holy Places lost but not forgotten, in: L’idea di Gerusalemme nella spiritualita` cris-

tiana del Medioevo. Atti del Convegno internazionale, Jerusalem 31. Aug. – 6. Sept. 1999 (Pontificio Comitato di Scienze Storiche. Atti e documenti 12), Citta` del Vaticano 2003, S. 204–210.

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Geba¨ude zu errichten und zu vera¨ndern, befreite von Vorgaben der Realisierbarkeit und beließ umso gro¨ßere Entfaltungsmo¨glichkeit, wenn es darum ging, in Texten und Bildern einen Raum zu imaginieren. Ihn gleichwohl zu pra¨zisieren und die Illusionierung der Realita¨t zu schaffen, erforderte quantitative Fixierung von Distanzen und Gro¨ßenverha¨ltnissen. Der Grad der quantifizierenden Darstellung war sogar gro¨ßer als bei Ra¨umen im Okzident, so dass die Entru¨ckung von Jerusalem durch geometrische Akribie, kombiniert mit numerischer Eindeutigkeit kompensiert wurde. Nur so konnte es den okzidentalen Christen gelingen, Jerusalem nicht aus ihrer Kontrolle zu entlassen und die Stadt in ihr Geda¨chtnis einzubinden. Damit war Jerusalem durch eine Tradition fixiert, die nicht notwendigerweise der Erfahrung bedurfte, um sie zu erkennen, sondern auf einem Wissen beruhte, das wiederzuerkennen war. Die Topographie des Heiligen Landes war narrativ verkoppelt: zuna¨chst durch die Erza¨hlungen der Heiligen Schrift, dann durch die Erza¨hlungen der Pilger und Reisenden; beide beruhten auf verfestigten Traditionen, so dass Erinnerung sowohl subjektiv als auch kollektiv begru¨ndet war, was Maurice Halbwachs als den Unterschied von souvenir und von me´moire vorstellte.53 Beide Formen der Erinnerung bedurften aber der gegenseitigen Stu¨tzung. Denn Tradition allein vermochte das Wissen nicht zu verbu¨rgen; dazu bedurfte es dann doch einer Erza¨hlung, die Mu¨hen, Erstaunen und Entdecken vorfu¨hrte, also das Neue, bisher nicht Bekannte. Eindeutigkeit durch Konsens oder durch Traditionsbindung war dabei nicht erforderlich; vielmehr war der subjektive Variantenreichtum Gewa¨hr fu¨r das tatsa¨chlich Geschaute und fu¨r die Verla¨sslichkeit der Information. Gleichwohl gab es die Tendenz zu schematisieren, denn nur so konnte Jerusalem als besta¨ndiger Ort der Verehrung bewahrt werden. Sowohl individueller Bericht als auch kollektive Kenntnis verbu¨rgten die Aneignung der heiligen Stadt in der Ferne. Die „Mo¨blierung des Raumes“ – wenn ich hier die Terminologie des Tagungstitels aufgreifen darf – war ein mentaler Vorgang, der Objekte platzierte, sie einrichtete und mit religio¨ser Deutung versah. Texte u¨ber Jerusalem schufen die Illusion einer Selbstwirksamkeit, um u¨ber den Raum zu verfu¨gen und seine Mo¨blierung gestalten zu ko¨nnen. Sie war arrangiert nicht durch architektonische Vera¨nderungen, sondern im Gegenteil durch die behauptete Fixierung des Raumes, der, weil er Bedeutungen besaß und biblisches Geschehen repra¨sentierte, vor Vera¨nderungen geschu¨tzt vorgestellt wurde und damit Anachronismen verfestigte, die anzutasten nicht opportun war. Aber weil diese Vera¨nderungen realiter vorhanden waren, blieb nichts anderes u¨brig, als zu versuchen sie zu negieren, zu beklagen oder wiederherzustellen. Muslimische Geba¨ude, Riten und Personen waren nichts anderes als Sto¨rfaktoren. Sie waren zu eliminieren – sei es durch Verschweigen, sei es durch Aufforderung, sie gewaltsam zu entfernen. Das imaginierte Jerusalem u¨berto¨nte das reale Jerusalem. Die liturgische Performanz durch westliche Christen blieb in Jerusalem zwar bestehen, aber sie unterlag Einschra¨nkungen und verhinderte sowohl stabile Traditionsbindung als auch innovative Arrangements, denn die Verfu¨gungsge-

53 Maurice Halbwachs, La topographie le´gendaire des E ´ vangiles en Terre Sainte. E´tude de me´moire col-

lective, Nouvelle e´dition, Paris 1971, S. 123–125.

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walt u¨ber den liturgischen Raum war verwehrt, nicht aber eine mentale Aneignung.54 Deswegen verwies der Raum des Heiligen Grabes und von Jerusalem auf einen Sinn. Er war es, der die Raumbeschreibung lenkte und Raumbeschreibung als Erweckung des bereits Bekannten und damit als Produkt einer Erinnerungsleistung vorstellte, die sich vom konkreten Raum ablo¨sen und damit umso gegenwa¨rtiger im Okzident machen konnte. Mehr als fu¨r andere Sta¨tten, war damit der Raum das Ergebnis mentaler Aneignungsprozesse. Das Heilige Grab und die heilige Stadt Jerusalem existierten in Texten. Sie waren eingebettet in Vorstellungen.

54 Vgl. Hanns-Peter Neuheuser, Liturgische Raumerschließung und Heiligenverehrung, in: Heilige –

Liturgie – Raum, hg. v. Dieter R. Bauer u. a. (Beitra¨ge zur Hagiographie 8), Stuttgart 2000, S. 183–215; Klaus Herbers, Pilgerfahrten und die Sakralisierung von Wegen und Orten, in ebd., S. 219–235.

„HEILIGES TRIER“ Die Sakralisierung des sta¨dtischen Raumes im Mittelalter von Sabine Reichert

„Heilige Stadt“. Diesen Titel beanspruchten im europa¨ischen Mittelalter gleich mehrere Sta¨dte. Vorbilder waren Jerusalem und Rom, wie am Beispiel der a¨ltesten Stadtsiegel von Trier, Ko¨ln und Mainz deutlich wird. Alle drei Siegelbilder zeigen eine Stadtarchitektur, die die Darstellung des Himmlischen Jerusalems in der JohannesOffenbarung rezipiert: „Da entru¨ckte er mich in der Verzu¨ckung auf einen großen hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herab kam, erfu¨llt von der Herrlichkeit Gottes.“ Es folgt eine genaue Beschreibung der 12 Tore der Stadt, ihrer 12 Grundsteine und ihres ebenma¨ßigen Grundrisses.1 Doch die drei Siegel haben noch etwas gemein: „Sie alle drei verku¨nden eine besondere Na¨he der Gemeinde zur ro¨mischen Kirche.“2 Auf allen drei Siegeln stehen die heiligen Kirchenpatrone im Mittelpunkt: Auf dem Mainzer Siegel ist mit dem Hl. Martin der Patron der Kathedrale dargestellt und die Umschrift verweist auf die ro¨mische Kirche, Ko¨ln und Trier konnten sich hingegen direkt auf den Patron der ro¨mischen Kirche, Petrus, berufen.3 Auf allen drei Siegelbildern wird also der Bezug der Kathedralstadt zu Rom deutlich. Das Trierer Siegelbild allerdings geht noch einen Schritt weiter: Es zeigt Christus auf der Weltkugel stehend, ihm zur Seite, wie erwa¨hnt, der Hl. Petrus und der

1 Off 21, 10. Zur architektonischen Rezeption auch des irdischen Jerusalems vgl. den Beitrag von Hans-

Joachim Schmidt, Symbolische Aneignung des Unverfu¨gbaren. Jerusalem und das Heilige Grab in Pilgerberichten und Bildern des Mittelalters, im vorliegenden Band. 2 Ernst-Dieter Hehl, Goldenes Mainz und Heiliger Stuhl. Die Stadt und ihre Erzbischo¨fe im Mittelalter, in: Mainz. Die Geschichte der Stadt, hg. v. Franz Dumont/Ferdinand Scherf/Friedrich Schu¨tz, Mainz 1998, S. 839–858, hier S. 841. 3 Ebd.; Michael Matheus, Zur Romimitation in der Aurea Moguntia, in: Landes- und Reichsgeschichte. Festschrift fu¨r Alois Gerlich zum 70. Geburtstag, hg. v. Winfried Dotzauer/Wolfgang Kleiber/ Michael Matheus/Karl-Heinz Spiess (Geschichtliche Landeskunde 42), Stuttgart 1995, S. 47–59; zu Ko¨ln Andreas Odenthal/Gottfried Stracke, Die Stationsliturgie Ko¨lns und ihre topographischen Bezu¨ge zu Rom. Die Libri Ordinarii des Ko¨lner Apostelnstiftes; Grundlagen eines Dialoges zwischen Kunstgeschichte und Liturgiewissenschaft, in: Heiliger Raum. Architektur, Kunst und Liturgie in mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen, hg. v. Franz Kohlschein/Peter Wu¨nsche (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 82), Mu¨nster 1998, S. 136–162; Toni Diederich, Die alten Siegel der Stadt Ko¨ln, Ko¨ln 1980; vgl. auch Ders., Stadtpatrone an Rhein und Mosel, in: RhVjbll 58 (1994), S. 25–98.

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Hl. Eucharius – ein Petrusschu¨ler, der als erster Bischof von Trier verehrt wird. Vier kleinere Figuren, die Einwohner repra¨sentierend, halten die Ha¨nde flehend erhoben. Das Selbstversta¨ndnis Triers ist durch die Umschrift „Sancta Treveris“ auf der Mauer deutlich gekennzeichnet. Alle drei Metropolen bedienten sich also religio¨ser Legitimationsformeln, um sich als wahre Tochter der ro¨mischen Kirche zu behaupten. Dies spiegelt die Bestrebungen der drei Erzbischo¨fe wider, sich gegenu¨ber ihren Amtsbru¨dern einen Vorrang im Reich zu verschaffen und die Spitzenposition im Reichsepiskopat dauerhaft zu erlangen.4 In diesem Zusammenhang sind auch die zahlreichen Baumaßnahmen zu nennen, die die Erzbischo¨fe besonders im Hochmittelalter ergriffen, um ihre Metropolen auszubauen und ihre Anspru¨che nachhaltig zu unterstreichen. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass diese Romimitation sich nicht nur in baulichen Maßnahmen widerspiegelte, sondern auch im liturgischen Kult ihre Ausgestaltung erfahren konnte.5 Im Mittelpunkt der Ausfu¨hrungen stehen religio¨se Prozessionen, die im Aufschwung der Neueren Kulturwissenschaften wieder vermehrt in den Blickpunkt der Forschung geru¨ckt sind. Erinnert sei an dieser Stelle an die angelsa¨chsische Forschung, die sich seit den 1970er Jahren versta¨rkt sta¨dtischen Fro¨mmigkeitsformen wie Stiftungen, Bruderschaften, aber eben auch Prozessionen gewidmet hat. Charles Phythian-Adams zeigte bereits 1977 in seiner Studie „Ceremony and the Citizen“, wie fruchtbar die Anna¨herung u¨ber sozialanthropologische Theorien sein kann.6 Es folgten weitere englischsprachige Arbeiten, die sich mit der Verflechtung sta¨dtischen Lebens und religio¨ser Kultur bescha¨ftigen.7 Im sogenannten ritual turn

4 Vgl. Bernd Ro ¨ der, Romnachfolge und der Streit der drei rheinischen Erzbischo¨fe um den Primat. Zur

Ikonographie und zur Entstehung des ersten Großen Siegels der Stadt Trier, in: Jahrbuch fu¨r westdeutsche Landesgeschichte 25 (1999), S. 69–108; Thomas Zotz, Pallium et alia quaedam archiepiscopatus insignia. Zum Beziehungsgefu¨ge und zu Rangfragen der Reichskirchen im Spiegel der Pa¨pstlichen Privilegierung des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Festschrift fu¨r Berent Schwineko¨per zu seinem siebzigsten Geburtstag, hg. v. Hans-Martin Maurer/Hans Patze, Sigmaringen 1982, S. 155–175. 5 „Through the various churches, shrines, and public places in the three major cities, Christians were able to express a social victory, what has been called „the conquest of space“. But more than the buildings, it was the liturgy that made this „conquest“ both visible and viable by covering the city with liturgical action that had the bishop as its main participant. Of course, in Constantinople, this process was sometimes bi-focal because of the importance of the emperor. Christianity, therefore, represented the public religious life of the city by means of its cult. It made the civitas not only civilization, but also holy civilization, a civilization defended as much by icons and relics and processions as it was by walls and military and political power. Thus, the city as holy civilization was a concept that was expressed above all liturgically.“ John F. Baldovin, The Urban Character of Christian Worship. The Origins, Development, and Meaning of Station Liturgy (Orientalia Christiana Analecta 228), Rom 1987, hier S. 257. 6 Charles Phythian-Adams, Ceremony and the Citizens: the communal year at Conventry 1450–1550, in: Crisis and Order in English Towns, 1500–1700, London 1972, S. 57–85. 7 Unter den einflussreichsten sind zu nennen Richard C. Trexler, Public Life in Renaissance Florence, New York 1980; Edward Muir, Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton, NJ 1981; Ders., Ritual ¨ berblick bietet Miri Rubin, Stadtgein Early Modern Europe, Cambridge 22005. Einen konzisen U schichte und Laienfro¨mmigkeit – Das englische Beispiel, in: Stadtgeschichtsforschung. Aspekte, Tendenzen, Perspektiven, hg. v. Fritz Mayrhofer (Beitra¨ge zur Geschichte der Sta¨dte Mitteleuropas 12), Linz/Donau 1993, S. 37–53. Hinsichtlich der Prozessionsforschung ist hier besonders die Studie von Muir zu Venedig zu nennen. Die komplizierte Verfassung Venedigs basierte auf der klaren Hierar-

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wurden diese Ansa¨tze von der Stadtgeschichtsforschung u¨bernommen und besonders die Bedeutung religio¨ser Rituale und sta¨dtischer Feste ru¨ckten in den Fokus.8 Im Folgenden stehen die religio¨sen Prozessionen im Blickpunkt, die zu den repra¨sentativsten Ritualen innerhalb vormoderner Sta¨dte za¨hlten. Sta¨dtische Prozessionen bildeten einen Kommunikationsraum, in dem Ordnung, Hierarchie und Herrschaft sowohl abgebildet als auch verhandelt wurden.9 Unter dieser Pra¨misse sind sie in verschiedenen Fallbeispielen untersucht worden.10 Im Fokus standen zumeist die Ausgestaltung des Rituals bzw. die Einflussnahme des sta¨dtischen Rates auf ebendieses.11 Der vorliegende Beitrag sucht die religio¨sen Umga¨nge sta¨rker vor dem Kontext der Gesamtstadt zu betrachten und die liturgischen Quellen in die Stadtgeschichtsforschung einzubinden. Im Mittelpunkt steht die sogenannte Bannprozession, die in

¨ mter und Zusta¨ndigkeiten, deren Gu¨ltigkeit in stark ritualisierten Strukturen festgeschriechie der A ben wurde. In besonderer Weise wurde die Hierarchie in den Prozessionen deutlich; Muir bezeichnet Venedig zu Recht als „Republic of Processions“: Muir, Venice, S. 185. Im Mittelpunkt stand der Doge als Repra¨sentationsfigur der politischen Autorita¨t, der seine Legitimita¨t und damit die Herrschaftslegitimita¨t der Serenissima direkt von St. Markus ableitete. „In effect, the ducal procession was the constitution.“ Muir, Venice, S. 190. 8 Siehe u. a. Benjamin R. McRee, Unity or Division? The Social Meaning of Guild Ceremony in Urban Communities, in: City and Spectacle in Medieval Europe, hg. v. Barbara A. Hanawalt/Kathryn L. Reyerson (Medieval studies at Minnesota 6), Minneapolis 1994, S. 189–207; Lawrence M. Bryant, Configurations of the Community in Late Medieval Spectacles. Paris and London during the Dual Monarchy, in: ebd., S. 3–33. 9 Andrea Lo ¨ ther, Prozessionen in spa¨tmittelalterlichen Sta¨dten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, sta¨dtische Einheit (Norm und Struktur 12), Ko¨ln 1999, S. 335. 10 Ohne einen vollsta¨ndigen U ¨ berblick geben zu wollen, siehe u. a. Franz-Josef Arlinghaus, The Myth of Urban Unity: Religion and Social Performance in Late Medieval Braunschweig, in: Cities, Texts and Social Networks, 400–1500. Experiences and Perceptions of Medieval Urban Space, hg. v. Caroline Goodson/Anne E. Lesters/Carol Symes, Farnham 2010, S. 215–232; Sabine von Heusinger, „Cruzgang“ und „umblauf“. Symbolische Kommunikation im Stadtraum am Beispiel von Prozessionen, in: Kommunikation in mittelalterlichen Sta¨dten, hg. v. Jo¨rg Oberste (Forum Mittelalter 3), Regens¨ ffentliche Selbstdarstellung sozialer Gruppen in der Stadt, burg 2007, S. 141–156; Sonja Du¨nnebeil, O in: Memoria, Communitas, Civitas. Me´moire et conscience urbaines en occident a` la fin du Moyen ˆ ge (Beihefte der Francia 55), Ostfildern 2003, S. 73–86; Kathrin Enzel, „Eins Rahts Kirmiß ...“ Die A „Große Ko¨lner Gottestracht“ als Rahmen der politischen Selbstdarstellung sta¨dtischer Obrigkeiten, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 471–497; Dieter Scheler, Inszenierte Wirklichkeit. Spa¨tmittelalterliche Prozessionen zwischen Obrigkeit und „Volk“, in: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Fu¨r und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, hg. v. Bea Lundt/Helma Reimo¨ller, Ko¨ln u. a. 1992, S. 119–129; Marian Fu¨ssel, Hierarchie in Bewegung. Die Freiburger Fronleichnamsprozession als Medium sozialer Distinktion in der Fru¨hen Neuzeit, in: Stadtgemeinde und Sta¨ndegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Patrick Schmidt/Horst Carl (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 20), Berlin 2007, S. 31–55; Prozessionen, Wallfahrten, Aufma¨rsche. Bewegung zwischen Religion und Politik in Europa und Asien seit dem Mittelalter, hg. v. Jo¨rg Gengnagel/Monika Horstmann (Menschen und Kulturen 4), Ko¨ln 2007; Moving Subjects. Processional performance in the Middle Ages and the Renaissance, ed. by Kathleen Ashley/Wim Hu¨sken (Ludus 5), Amsterdam 2001; Medialita¨t der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne, ed. by Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten (Germanisch-romanische Monatsschrift, Beiheft 39), Heidelberg 2011. 11 Die Stadtgeschichtsforschung postuliert dabei einen Bruch in der Tra¨gerschaft religio¨ser Feste im Spa¨tmittelalter: die Organe bu¨rgerlicher Selbstverwaltung gewannen zunehmend Zugriff auf das rituelle Leben der Stadt. Lo¨ther, Prozessionen (wie Anm. 9), S. 330.

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Trier jeweils am 3. Freitag der Osterzeit gehalten wurde. Ihre Einfu¨hrung wird Erzbischof Egbert (977–993) zugeschrieben, damit geho¨rt sie zu den a¨ltesten belegten Prozessionen im Trierer Stadtraum. Anhand dieses Beispiels soll erla¨utert werden, welchen Niederschlag die Vorstellung der Heiligen Stadt im religio¨sen Kult erfuhr und welch große Bedeutung den stadtweiten Prozessionen bereits im Hochmittelalter zukam – unabha¨ngig von Fragen nach Status und Hierarchie der Teilnehmer. In einem zweiten Schritt wird die Bannprozession mit weiteren großen Trierer Prozessionen verglichen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Sakralisierung des sta¨dtischen Raumes durch mittelalterliche Prozessionen.

I. Die Trierer Bannprozession als Romimitation

Die Prozession, die Erzbischof Egbert als Reaktion auf eine große Du¨rre im Trierer Erzstift angeordnet haben soll,12 nahm ihren Ausgang am Dom. Dort hatten sich bereits vorher die Kapitel von St. Paulin und St. Simeon eingefunden.13 Der Weg fu¨hrte kreisfo¨rmig um die Stadt herum und besuchte dabei sieben große Kirchen; es handelte sich um die Klosterkirchen St. Eucharius/St. Matthias, St. Oeren/ St. Irminen, St. Martin, St. Marien ad Martyres, St. Maximin und die beiden Stiftskirchen von St. Paulin und St. Simeon.14 Mitgefu¨hrt wurden wie u¨blich das Weihrauchfa¨sschen, Weihwasser, Prozessionskreuze sowie die Reliquien aus den Stiftskirchen. Eine besondere Rolle kam der wertvollsten Reliquie des Umgangs zu: dem Stab des Hl. Petrus, der unter Erzbischof Egbert ein neues pra¨chtiges Goldreliquiar erhalten hatte.15 Der Petrusstab wurde wa¨hrend des Weges abwechselnd von den fu¨nf Archi-

12 983 als vermeintliches Jahr der Gru¨ndung ist erst ab dem 17. Jahrhundert belegt. Ferdinand Pauly, Aus

der Geschichte des Bistums Trier, 2. Teil, Trier 1969, S. 59. Der Ablauf des Umgangs in seiner Fru¨hzeit ist in der Forschung strittig; Heinz bietet Belege, dass die Bannfeier tatsa¨chlich nicht nur das unmittelbare Umfeld der Bischofsstadt miteinbezog, sondern auch entlegenere Regionen. Andreas Heinz, Die von Erzbischof Egbert gestiftete Bannfeier (Statio bannita). Ursprung und Ende eines stadtrierischen Prozessionsbrauches, in: Egbert Erzbischof von Trier 977–993. Gedenkschrift der Dio¨zese Trier zum 1000. Todestag, 2 Bde., bearb. v. Andreas Weiner/Rita Heynen, hg. v. Franz J. Ronig (TZ, Beih. 18), Trier 1998, S. 67–80; Nikolaus Kyll, Pflichtprozessionen und Bannfahrten im westlichen Teil des alten Erzbistums Trier (RhArch 57), Bonn 1962. Im Folgenden soll nur die stadttrierische Feier der Statio Bannita im Vordergrund stehen. 13 Der a¨lteste Liber Ordinarius der Trierer Domkirche. London, Brit. Mus. Harley 2958, Anfang 14. Jh. Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen, hg. und bearb. v. Adalbert Kurzeja (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 52), Mu¨nster 1970, hier fol. 41v–42r. Die Edition des Liber Ordinarius im Folgenden abgeku¨rzt als LO. 14 Das Stift St. Simeon wurde erst 1030 gegru¨ndet und seine Kirche in die Porta Nigra hineingebaut. Es kann also erst nach dieser Zeit in den Umgang miteinbezogen worden sein. 15 Ebenso wie andere bedeutende Reliquien des Trierer Domschatzes: der Hl. Nagel, die Sohle des Hl. Andreas und der Euchariusschrein. Alfred Haverkamp, „Heilige Sta¨dte“ im hohen Mittelalter, in: Mentalita¨ten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, hg. v. Frantisˇek Graus (VuF 35), Sigmaringen 1987, S. 119–156, hier S. 129.

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diakonen des Erzbistums getragen.16 So nahm gleichsam „das ganze Bistum an der stadttrierischen Feier teil“.17 Im Rahmen der Bannprozession war keine gemeinsame Eucharistiefeier vorgesehen, lediglich in St. Maria ad Martyres gab es einen la¨ngeren Aufenthalt, um dort die Sext zu singen. Nach Beendigung des gemeinsamen Umgangs zogen die beteiligten Kleriker in ihre eigenen Kirchen zuru¨ck, um dort den Tag mit einer Eucharistiefeier abzuschließen.18 ¨ berschrift De Statione Bannita. Hac die pro penitentibus circuitur civitas. Diese U der Bannfeier im Liber Ordinarius der Domkirche ku¨ndigt ihren Verlauf bereits an. Die Stadt wurde kreisfo¨rmig umschritten und dabei die sieben wichtigsten Kirchen besucht. Diese Siebenzahl ist von besonderer Bedeutung und im Zusammenhang mit Bußprozessionen bereits fru¨h belegt.19 So ordnete Papst Gregor der Große (590–604) im Jahre 590 eine große Bußprozession zur Abwendung der Pest an. Veranstaltet wurde sie in Form einer siebenfachen Litanei, „bei der die einzelnen Sta¨nde (Klerus, Mo¨nche, Nonnen, usw.) in sieben Cho¨ren und begleitet von den Priestern je einer Region, von sieben verschiedenen Kirchen aus unter Litaneigebet nach Maria Maior 16 Auf dem ersten Stu¨ck des Weges vom Dom zum Benediktinerkloster St. Eucharius/St. Matthias trug

der Dompropst, in einen roten Chorrock gekleidet, die Reliquie; auf dem zweiten Teil des Weges von St. Eucharius/St. Matthias bis zum Frauenkonvent Oeren-St. Irminen der Archidiakon von Trier. Dort u¨bernahm den Stab der Archidiakon von Dietkirchen an der Lahn bis St. Maria ad Martyres. Es folgte der Archidiakon von Karden, der die Reliquie in St. Maximin dem Archidiakon von Longuich u¨bergab. Dieser trug sie bis zum Simeonstift, wo sie der Archidiakon von Tholey auf dem Ru¨ckweg bis in den Dom mitfu¨hrte. Kurzeja, Liber Ordinarius (wie Anm. 13), S. 322. Zum besonderen Rang der Stiftskirche St. Castor in Karden, dessen Propst in Personalunion das Amt des Archidiakons bekleidete, siehe Andreas Heinz, Die Fronleichnamsfeier an der Stiftskirche St. Castor in Karden/Mosel im alten Erzbistum Trier, in: ArchMrhKG 33 (1981), S. 97–128, hier S. 97. Tholey wurde erst im 11. Jahrhundert eines der fu¨nf Archidiakonate der Trierer Dio¨zese. Vorher war es la¨ngere Zeit Streitpunkt zwischen Trier und Verdun. Siehe dazu P. Augustinus Thiele OSB, St. Rodingus und die Fru¨hzeit von Tholey, in: ArchMrhKG 7 (1955), S. 337–344. 17 Kurzeja, Liber Ordinarius (wie Anm. 13), S. 322; Heinz, Bannfeier (wie Anm. 12), S. 74. Zu den Domherren, die die fu¨nf Archidiakonate innehatten Hubert Bastgen, Die Geschichte des Trierer Domkapitels im Mittelalter (Go¨rrGes 7), Paderborn 1910, S. 141. 18 LO fol. 42r. Kurzeja, Liber Ordinarius (wie Anm. 13), S. 323. Der LO verzeichnet die sieben Stationen der Prozession und der entsprechenden Gesa¨nge, ob daru¨ber hinaus weitere Kirchen und Kapellen besucht bzw. durch entsprechende Gesa¨nge geehrt wurden, ist nicht ersichtlich. Es ist allerdings eher unwahrscheinlich, weil die einzelnen Stationen anderer großer Prozessionen im LO ausfu¨hrlich dargestellt werden. 19 Bedenkt man die mittelalterliche Affinita¨t zur Zahlensymbolik erscheint dies wenig zufa¨llig, sondern die Zahl Sieben schien schon bei der Einrichtung der Prozession eine Rolle gespielt zu haben. Korrekterweise mu¨sste man den Dom als Ausgangspunkt hinzurechnen, allerdings kann das Stift St. Simeon erst nach seiner Gru¨ndung hinzugekommen sein. Vermutlich war die Siebenzahl bei der Stiftung des Umgangs schon bei seiner Einrichtung intendiert und das Stift St. Simeon wurde nach seiner Gru¨ndung in den Umgang aufgenommen. Ein weiterer Beleg dafu¨r ko¨nnte die Einbeziehung der Frauenabtei St. Irminen sein. Mit der spa¨teren Erga¨nzung um St. Simeon wird es dann auch vermutlich zusammenha¨ngen, dass das Kapitel von St. Paulin sich in St. Maximin verabschiedete, also an der Statio in St. Simeon nicht mehr teilnahm. Dies spra¨che zudem fu¨r die Rolle der Kathedrale als Ausgangspunkt der Prozession und nicht als Stationskirche. Wu¨rde man die Kathedrale dennoch hinzuza¨hlen mo¨gen, erga¨be sich mit der Zahl Acht der symbolische Verweis auf die Unendlichkeit und somit auf die transzendente Bedeutung der Prozession. Vgl. Rudolf Suntrup, Art. Zahlensymbolik A. Westen, in: LexMA 9, Mu¨nchen 2002, Sp. 443–448.

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zogen.“20 Im Jahre 603 veranlasste Papst Gregor eine weitere litania septiformis nach Maria Maior, die sich allerdings in der Gruppeneinteilung und den Ausgangskirchen etwas unterschied.21 Die in der Bannprozession zu beobachtende Siebenzahl erscheint aber noch a¨lter und verweist deutlich auf das Vorbild der ro¨mischen Stationsgottesdienste und vor allem auf die sieben Pilgerkirchen Roms. Seit dem 7. Jahrhundert fu¨hrte nachweislich ein Pilgerweg von der Grablege des Apostels Paulus zu sechs weiteren großen Kirchen der Stadt.22 Es handelte sich um San Paolo fuori le Mura, San Sebastiano alle Catacombe, San Giovanni in Laterano, Santa Croce in Gerusalemme, San Lorenzo fuori le Mura und Santa Maria Maggiore.23 No¨rdlich der Alpen wurde seit dem 10. Jahrhundert versucht, dieses Bauprogramm der Heiligen Stadt Rom zu kopieren. ¨ bernahme der gleiEine vollsta¨ndige Imitation durch den Bau von Kirchen und die U chen Patrozinien glu¨ckte allerdings nur in wenigen Fallen wie beispielsweise in Konstanz oder Lu¨ttich.24 Ein derartiger Nachbau der ro¨mischen Sakraltopographie kam fu¨r Trier nicht in Frage, dafu¨r waren bereits zu viele bauliche Strukturen vorhanden. Eine Adaption der Idee der sieben Pilgerkirchen findet sich dafu¨r eindeutig in der Ausgestaltung der Bannprozession. Ein weiterer Beleg fu¨r die bewusste Anlehnung an die sieben ro¨mischen Pilgerkirchen in der Anlage des Umgangs ist seine lange Tradition. Zum Zeitpunkt der Stiftung geho¨rten die sieben Stationskirchen zu den a¨ltesten und wichtigsten Kirchen der Stadt, und sie lagen alle im Bereich ro¨mischer Großbauten oder antiker Gra¨berfelder. Besonders interessant ist nun, dass die Bannprozession in kaum vera¨nderter Form bis ins 18. Jahrhundert fortgefu¨hrt wurde.25 Man

20 „Es war dies eine Regelung, die eine viel gro¨ßere Beteiligung der einzelnen Sta¨nde an der Prozession

ermo¨glichte und doch die Einheit der Gemeindeprozession durch das Zusammenkommen in derselben Zielkirche wahrte.“ Richard Hierzegger, Collecta und Statio. Die ro¨mischen Stationsprozessionen im fru¨hen Mittelalter, in: ZThK 60 (1963), S. 511–554, hier S. 542. 21 Hierzegger nennt die litania septiformis Gregors des Gr. „die großartigste ro¨mische Collecta des Mittelalters“. Hierzegger, Collecta und Statio (wie Anm. 20), S. 543. Dabei galten fu¨r die außerordentlichen Bußprozessionen a¨hnliche Vorgaben wie fu¨r die regelma¨ßigen: Neben dem obligatorischen Fasten wurde am Tage der litania septiformis Arbeitsruhe geboten. Ebd. 22 Niels Gutschow, Begehungen und Umgehungen. Das Durchmessen und die Besetzung von Raum durch Wallfahrten und Prozessionen, in: Prozessionen, Wallfahrten, Aufma¨rsche. Bewegung zwischen Religion und Politik in Europa und Asien seit dem Mittelalter, hg. v. Jo¨rg Gengnagel/Monika Horstmann (Menschen und Kulturen 4), Ko¨ln 2007, S. 399–436, hier S. 402. 23 Eine Darstellung von 1575 zeigt diesen Pilgerweg exemplarisch auf, abgebildet bei Wolfgang Braunfels, Abendla¨ndische Stadtbaukunst – Herrschaftsform und Stadtgestalt, Ko¨ln 1976, S. 311. 24 Helmut Maurer, Kirchengru¨ndung und Romgedanke am Beispiel des ottonischen Bischofssitzes Konstanz, in: Bischofs- und Kathedralsta¨dte des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Franz Petri (StF A 1), Ko¨ln/Wien/Weimar 1976, S. 47–59. Ein weiteres Beispiel fu¨r den Versuch der Romimitation bei Stefan Weinfurter, Sancta Aureatensis Ecclesia. Zur Geschichte Eichsta¨tts in ottonischsalischer Zeit, in: ZBayLG 49 (1986), S. 3–40. 25 Alexander Wu ¨ rdtwein, Commentatio historico-liturgica de Stationibus Ecclesiae Moguntinae: ex antiquitatibus ecclesiasticis eruta et addito ecclesiarum Trevirensis et Coloniensis ritu illustrata, Mainz 1782, S. 208–212. Auch das Domstationale von 1774 kennt sie noch in der beschriebenen Form. Die ¨ nderungen waren marginaler Natur, beispielsweise wurde fu¨r die Gebete auf dem Weg wie bei andeA ren Prozessionen auch der Rosenkranz eingefu¨hrt. Kurzeja, Liber Ordinarius (wie Anm. 13), S. 323. Zur wa¨hrend der Aufkla¨rung geu¨bten Kritik an dem Umgang ausfu¨hrlich Heinz, Bannfeier (wie Anm. 12).

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behielt nicht nur die Siebenzahl, sondern auch die besuchten Orte bei. Die Adaption der ro¨mischen Tradition erwies sich also als sta¨rker als die sich zum Spa¨tmittelalter immer weiter ausdifferenzierende Trierer Sakraltopographie.

II. Die Bannprozession im Kontext Trierer Gru¨ndungsmythen

Die Darstellung der ro¨mischen Pilgerkirchen durch die Trierer Stationskirchen stellte dabei keineswegs einen willku¨rlichen oder gar spontanen Akt dar, sondern die Imitation der Heiligen Stadt Rom durch die religio¨s-kultische Umsetzung der Bannprozession fu¨gte sich nahtlos ein in das Trierer Selbstversta¨ndnis und die politischen Bestrebungen der Erzbischo¨fe um die Vorrangstellung im Reichsepiskopat. Den wohl bekanntesten Niederschlag fanden diese Bestrebungen in der Trierer Gru¨ndungssage, wie sie die Hystoria Treverensis und die Gesta Treverorum vermitteln. Der Ursprung Triers wird auf Trebeta, Sohn des assyrischen Ko¨nigs Ninus, zuru¨ckgefu¨hrt, der die Stadt Trier gegru¨ndet haben soll. Es handelt sich bei der sog. Trebetasage ohne Zweifel um eine Fiktion, eine „gelehrte Sage“, die von einem der lateinischen Literatur kundigen Verfasser, vermutlich Mo¨nch oder Kleriker des Domstiftes, entworfen wurde. Sie ist wohl im 10. Jahrhundert entstanden und fand ihre systematische Weiterentwicklung im 11. Jahrhundert und daru¨ber hinaus.26 Die Trierer Sagen betonen die Eigensta¨ndigkeit der Treverer in ro¨mischer Zeit, wozu auch die Rechte auf Steuereinnahmen, politische und kulturelle Einrichtungen und sogar eine in der Gesta Treverorum erwa¨hnte eigene Sprache geho¨ren.27 Als unumsto¨ßlicher Beleg fu¨r die fru¨he Hochkultur der Trebeter galten die im Hochmittelalter noch zahlreich erhaltenen ro¨mischen Ruinen. Wer außer diesem legenda¨ren Gru¨ndungsvolk sollte sonst das Vermo¨gen gehabt haben, um solch wunderbare und technisch so anders gestalteten Geba¨ude zu errichten?28 Gru¨ndungsmythen sind fu¨r mittelalterliche Vorstellungswelten keinesfalls ungewo¨hnlich,29 das Charakteristische der Trierer Sage ist das von ihr postulierte Alter 26 Ilse Haari-Oberg, Die Wirkungsgeschichte der Trierer Gru¨ndungssage vom 10. bis 15. Jahrhundert

(Europa¨ische Hochschulschriften 3/607), Bern 1994; Heinz Thomas, Studien zur Trierer Geschichtsschreibung des 11. Jahrhunderts inbesondere der Gesta Treverorum (RhArch 68), Bonn 1968; Wolfgang Binsfeld, Zum Namen der Treverer und der Stadt Trier, in: TZ 33 (1970), S. 35–42. 27 Gesta Treverorum I, Kap. VIII. 28 So spricht der erste Teil der Gesta Treverorum ausfu¨hrlich u¨ber die Bauwerke und Techniken, beispielsweise das Zusammenfu¨gen der großen Steinquader durch Bleispangen. Ausfu¨hrlich zur Wahrnehmung ¨ berreste in Trier Lukas Clemens, Aspekte der Nutzung und Wahrnehmung von Antike antiker U im hochmittelalterlichen Trier, in: Stadt und Archa¨ologie, hg. v. Bernhard Kirchga¨ssner/Hans-Peter Becht (Stadt in der Geschichte 26), Stuttgart 2000, S. 61–80; Ders., Zum Umgang mit der Antike im hochmittelalterlichen Trier, in: 2000 Jahre Trier, 3 Bde., hg. v. Hans Hubert Anton/Alfred Haverkamp, Trier 1996, Bd. 2: Trier im Mittelalter, S. 167–202. 29 Exemplarisch zu diesem Themenfeld die Sammelba¨nde Geschichtsbilder und Gru¨ndungsmythen, hg. v. Hans-Joachim Gehrke (Identita¨ten und Alterita¨ten 7), Wu¨rzburg 2001, S. 23–36; Gru¨ndungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen. Beitra¨ge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuita¨t, hg.

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Triers: Als Gru¨ndung durch einen assyrischen Prinzen erscheint Trier deutlich a¨lter als die Stadt Rom. In Trier wurde ein „eigenes Geschichtsbewusstsein kultiviert, in dessen Zentrum zwei Berichte stehen: der profane Ursprung der Stadt durch Trebeta im Rahmen der ersten vier Weltreiche und die Gru¨ndung der Kirche durch die Petrusschu¨ler Eucharius, Valerius und Maternus.“30 Damit zeigt sich eine deutliche Parallele zur dogmatischen Entwicklung der Kirche in Rom, wo der Ewigkeitsanspruch des Rommythos durch die Pra¨senz des Apostelfu¨rsten Petrus gewa¨hrleistet wurde.31 Auf diese apostolische Tradition stu¨tzte sich das Trierer Erzbistum. Petrus selbst soll seinen Schu¨lern Eucharius, Valerius und Maternus seinen Bischofsstab u¨bergeben und somit die Trierische Vorrangstellung in Germanien begru¨ndet haben.32 Der Petrusstab ersetzte nicht den Krummstab des Trierer Erzbischofs, sondern war Reliquie und Hoheitszeichen der Trierer Erzbischo¨fe zugleich.33 Im Bilderzyklus zu Kaiser Heinrichs Romfahrt kann man deutlich erkennen, wie der Petrusstab dem heimkehrenden Erzbischof Balduin entgegengetragen wird.34 Damit erkla¨rt sich auch die zentrale Rolle des Petrusstabes in der Bannstation. Der Heilige Nagel wa¨re als Herrenreliquie eigentlich viel hochrangiger einzustufen,35 doch trugen die fu¨nf Archidiakone des Bistums den Stab des Apostelfu¨rsten, der somit zum „Garant der Herrschaft“ wurde.36

v. Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg, Ko¨ln 2004; Sta¨dtische Mythen, hg. v. Bernhard Kirchga¨ssner (Stadt in der Geschichte 28), Stuttgart 2003. 30 Haari-Oberg, Trierer Gru¨ndungssage (wie Anm. 26), S. 32. 31 Johannes Fried, Ro¨mische Erinnerung. Zu den Anfa¨ngen und fru¨hen Wirkungen des christlichen Rommythos, in: Studien zur Geschichte des Mittelalters. Ju¨rgen Petersohn zum 65. Geburtstag, hg. v. Matthias Thumser/Annegret Wenz-Haubfleisch/Peter Wiegand, Stuttgart 2000, S. 1–41, hier. S. 28. 32 In diesen Zusammenhang geho¨rt auch die Fa¨lschung eines Privilegs Papst Silvesters I. (314–335). Darin soll dieser dem Trierer Bischof Agritius den Primat besta¨tigt und erneuert haben. Vgl. Haverkamp, Heilige Sta¨dte (wie Anm. 15), S. 129; Franz J. Ronig, Was der Liber Ordinarius des Trierer Domes u¨ber die Einbeziehung der Kunstwerke in die Liturgie aussagt, in: Heiliger Raum (wie Anm. 3), S. 100–116, hier S. 112. Gesta Treverorum I, Kap. VIV. 33 Ronig, Liber Ordinarius (wie Anm. 32), S. 112. Auf dem Reliquiar ist die Geschichte des Stabes voll¨ bergabe an die Trierer Bischo¨fe sei er in der Hunnenzeit nach Metz sta¨ndig eingraviert. Nach seiner U gelangt und dort bis zur Zeit Ottos I. verblieben. Dort habe ihn sein Bruder, Erzbischof Bruno, fu¨r Ko¨ln gefordert. Erst unter Otto II. gelang es Erzbischof Egbert, ihn fu¨r die Trierer Kirche zuru¨ckzugewinnen, allerdings wurde er auf Betreiben Erzbischofs Warinus von Ko¨ln geteilt. Die vollsta¨ndige lateinische Inschrift ist abgedruckt in Egbert, Erzbischof von Trier, 977–993. Gedenkschrift der Dio¨zese Trier zum 1000. Todestag, hg. v. Franz J. Ronig (TZ, Beih. 18), Bd. 1, Trier 1993, S. 38. Zum Ko¨lner Umgang mit dem Petrusstab Eduard Hegel, Zur Entstehung der Kultsta¨tte und Pfarre St. Kolumba in Ko¨ln, in: Ecclesiastica Rhenana. Aufsa¨tze zur rheinischen Kirchengeschichte, hg. v. Dems./Severin Corsten, Ko¨ln 1986, S. 85–114, hier S. 86f. 34 Vgl. Der Weg zur Kaiserkrone. Der Romzug Heinrich VII. in der Darstellung Erzbischof Balduins von Trier, hg. v. Michel Margue/Michel Pauly/Wolfgang Schmid (Publications du Centre luxembourgeois de Documentation et d’Etudes Medie´vales 24), Trier 2009, S. 36f. 35 Hans-Joachim Kann, Der Trierer „Heilige Nagel“. Geschichte und Verehrung im Spiegel unedierter Pilgerandenken, in: KurtrJb 35 (1995), S. 69–87, hier S. 87. 36 Vgl. Hans-Ju¨rgen Becker, Der Heilige und das Recht, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. Ju¨rgen Petersohn (VuF 42), Sigmaringen 1994, S. 53–70, hier S. 61. Allerdings war der von den Trierern als Herrschaftsgarant verehrte Petrusstab leider unvollsta¨ndig – die andere Ha¨lfte befand sich ausgerechnet im Besitz der Ko¨lner Kirche und wurde dort ebenfalls bei Prozessionen mitgefu¨hrt. Zur Ko¨lner Gru¨ndungslegende und zur Ru¨ckfu¨hrung auf ro¨mische Senatoren durch die fu¨h-

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III. Die Bedeutung von religio¨sen Prozessionen fu¨r den sta¨dtischen Raum

Die Bannprozession ist nicht nur die a¨lteste belegte Prozession durch den sta¨dtischen Raum, ihre Ausgestaltung war Vorbild fu¨r weitere große Trierer Umga¨nge. So fu¨hrten auch die Rogationstage vor Christi Himmelfahrt in ihren drei, an drei aufeinander folgenden Tagen durchgefu¨hrten Prozessionen zu denselben sieben Kirchen.37 Besonders interessant ist dabei, dass nicht nur die Zahl der sieben Kirchen gleich blieb, sondern auch ihre Reihenfolge. So fu¨hrten an den Freitagen der Fastenzeit ebenfalls, vom Dom ausgehend, jeweils Prozessionen zu den genannten Kirchen.38 Die Idee der ro¨mischen Pilgerkirchen fand also nicht nur in der Bannprozession ihren rituellen Ausdruck, sondern die Vorstellung der Heiligen Stadt wurde in weiteren Prozessionen tradiert – deutlich u¨ber das Hochmittelalter hinaus. Bei der hier vorgestellten, erzbischo¨flich angeordneten Bannprozession handelte es sich um eine Bittprozession.39 Diese waren gema¨ß ihrer liturgischen Grundbedeutung – der Bitte um Gottes Hilfe und Beistand – mo¨glichst umfassend angelegt. Dem Bittzweck entsprechend versammelte sich die gesamte Gemeinde und absolvierte eine mo¨glichst umfassende Wegstrecke. Die Bannprozession, aber auch die erwa¨hnten Umga¨nge der Rogationstage vor Christi Himmelfahrt sowie der Freitage der Fastenzeit beschritten jeweils spezifische Routen, ihnen allen ist aber gemein, dass sie den ummauerten Stadtbereich verließen. Die symbolische Abgrenzung des sta¨dtischen Raumes, die Kategorie intra oder extra muros, beeinflusste also nicht den Verlauf der Prozession.40 Allein die Dienstagsprozession der Rogationstage fu¨hrte entlang der Stadtmauer, was allerdings eher mit den topographischen Verha¨ltnissen – in diesem Falle dem Moselufer – zusammenhing. Eine symbolische Umrundung a¨lterer Stadtgrenzen, wie beispielsweise fu¨r die spa¨tmittelalterliche Fronleichnamsprozessionen in Marseille oder Aix-en-Provence zu beobachten,41 ist fu¨r Trierer Bittga¨nge

renden Geschlechterfamilien Klaus Militzer, Die Entwicklung eines bu¨rgerlichen Selbstversta¨ndnisses in Ko¨ln wa¨hrend des Mittelalters, in: Sta¨ndische und religio¨se Identita¨ten in Mittelalter und fru¨her Neuzeit, hg. v. Stefan Kwiatkowski/Janusz Mallek, Toru´n 1998, S. 87–97, hier S. 95f.; Hugo Steh¨ mterbezeichnungen im Hochmittelalter in deutschen Sta¨dten, ka¨mper, Imitatio Urbis. Altro¨mische A besonders in Ko¨ln, in: Ko¨ln – und daru¨ber hinaus. Ausgewa¨hlte Abhandlungen, hg. v. Dems. (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Ko¨ln 93/94), 2 Bde., Ko¨ln 2004, S. 447–492. 37 Kurzeja, Liber Ordinarius (wie Anm. 13), S. 308–317. Vgl. dazu ausfu¨hrlicher Sabine Reichert, Die Kathedrale der Bu¨rger. Zum Verha¨ltnis von mittelalterlicher Stadt und Bischofskirche in Trier und Osnabru¨ck (Westfalen in der Vormoderne 22), Mu¨nster 2014. 38 Kurzeja, Liber Ordinarius (wie Anm. 13), S. 304. 39 Siehe auch den kurzen Beitrag von Nikolaus Kyll, Zur Entstehung der Bittprozession besonders im Trierer Bistum, in: LdkdlVjbll 7 (1961), S. 60–66. 40 Zum Aspekt der „Grenze“ vgl. Paul Hugger, Ephemere und imagina¨re Grenzen, in: Abgrenzungen – Ausgrenzungen in der Stadt und um die Stadt (Stadt- und Landmauern 3) (Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r Denkmalpflege an der ETH Zu¨rich 15, 3), Zu¨rich 1999, S. 35–38; Ba¨rbel Brodt, Before I built a walll I’d ask to know what I was walling in or walling out. Die Stadtmauer als Vermittler zwischen Stadt und Land?, in: Die Stadt und ihr Rand, hg. v. Peter Johanek (StF A 70), Ko¨ln/Weimar/ Wien 2008, S. 1–18. 41 Miri Rubin, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991, S. 268f.

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Sabine Reichert

nicht erkennbar. Vielmehr beru¨hrten die großen Bittprozessionen sa¨mtliche sta¨dtische Pfarrsprengel und banden durch das Verlassen des ummauerten Stadtraums auch die der Stadt vorgelagerten Siedlungen, Hospita¨ler und Kapellen mit in das liturgische Gedenken ein. Die Sakralgemeinschaft Stadt endete also keineswegs am Stadttor, sondern die der Stadt vorgelagerten geistlichen Institutionen ebenso wie die ihnen inkorporierten Pfarreien waren ein konstituierender Teil ebendieser Gemeinschaft. Die in ihren Reliquien pra¨senten Heiligen schu¨tzten und bewahrten die Stadt und ihre Bewohner, der Kranz der Kirchen und Kapellen umgab die Stadt wie eine zweite „sakrale“ Mauer.42 Im Zentrum dieses geistigen Ensembles der Gesamtstadt stand die Kathedrale, die auch im Spa¨tmittelalter trotz wiederholter Auseinandersetzungen zwischen Erzbischof, Domkapitel und Bu¨rgergemeinde ihre liturgische Zentralita¨tsfunktion keinesfalls verloren hatte. Auch in der ausdifferenzierten Sakraltopographie der spa¨tmittelalterlichen Stadt versammelten sich in ihr zu den hohen Festtagen Klerus wie Laien. Die Kathedralkirche war aber nicht nur wie beschrieben Ausgangspunkt zahlreicher großer Prozessionen, vielmehr war sie ebenfalls ein Ort liturgischer Bewegung, denn „die Dimension der Bewegung geho¨rt als eine fundamentale ko¨rperliche Ausdrucksgeba¨rde zum Wesen liturgischen Handelns.“43 Die Bischofskirche war sowohl durch ihre architektonische Ausgestaltung als auch die in ihr gefeierte Liturgie selbst ein Abbild des Himmlischen Jerusalem.44 Damit war die Kathedrale mehr als nur ein Heiliger Raum fu¨r die in ihr zelebrierenden Kleriker, fu¨r Erbauer und Nutzer war „die Bischofskirche nicht einfach nur ein Geba¨ude, ein – wenn auch herausragender – Teil der Stadt, fu¨r sie war die Kathedralkirche selbst „Stadt“.“45 Die Kathedrale und die sie umgebende Gesamtstadt, die sich beide aus einer Pluralita¨t von Einzelra¨umen und Handlungsstrukturen konstituierten, ko¨nnen damit gleichzeitig als Zitat der Heiligen Sta¨dte Rom und Jerusalem gedeutet werden. Eine besondere Rolle kam hierbei den religio¨sen Prozessionen zu, die als bewegte Liturgie den urbanen Raum u¨berspannten und dabei sakralisierten. In den Umga¨ngen wurden die Reliquien der Heiligen in den o¨ffentlichen Raum hinausgetragen und damit fu¨r den Laien ebenso sichtbar und erfahrbar gemacht, wie die aus dem abgeschlossenen Sakralraum des Hochchores in das Mittelschiff hinausgetragene Monstranz. Stellte sich der Kirchenraum als Aufbewahrungsort der Reliquien als ein besta¨ndiger Sakralraum dar,46 der seine besondere Atmospha¨re den feierlich geweih42 Vgl. Helmut Flachenecker, Eine vertane Chance? Die Rolle der bischo¨flichen civitates im hoch-

mittelalterlichen Spannungsfeld zwischen Raumerfassung und Herrschaftsausbildung, in: Bischof und Bu¨rger. Herrschaftsbeziehungen in den Kathedralsta¨dten des Hoch- und Spa¨tmittelalters, hg. v. Uwe Grieme/Nathalie Kruppa/Stefan Pa¨tzold (Studien zur Germania Sacra 26), Go¨ttingen 2004, S. 11–26. 43 Ju¨rgen Ba¨rsch, Raum und Bewegung im mittelalterlichen Gottesdienst. Anmerkungen zur Prozessionsliturgie in der Essener Stiftskirche nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius vom Ende des 14. Jahrhunderts, in: Heiliger Raum (wie Anm. 3), S. 163–185, hier S. 163. 44 Vgl. u. a. Peter Wu ¨ nsche, Die Kathedrale als Heilige Stadt. Zur liturgischen Topographie des Bamberger Domes, in: Heiliger Raum (wie Anm. 3), S. 25–58; Gu¨nther Bandmann, Die vorgotische Kathedrale als Himmelsstadt, in: Fru¨hmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 67–93. 45 Wu ¨ nsche, Kathedrale als Heilige Stadt (wie Anm. 44), S. 26. 46 Carola Ja¨ggi, Die Kirche als Heiliger Raum. Zur Geschichte eines Paradoxons, in: Sakralita¨t zwischen Antike und Neuzeit, hg. v. Berndt Hamm/Klaus Herbers/Heidrun Stein-Kecks (Beitra¨ge zur Hagiographie 6), Stuttgart 2007, S. 75–89.

„Heiliges Trier“ – Die Sakralisierung des sta¨dtischen Raumes im Mittelalter

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ten Alta¨ren und der Emanation der Reliquien in seinem Inneren verdankte, wurde dieser Sakralraum durch die Prozessionen erweitert und auf das gesamte Stadtgebiet u¨bertragen. Dahinter steht eine Auffassung von Sakralita¨t und dem sakralem Charakter des Kirchenraumes, der sich erst mit der Aufnahme der außerro¨mischen Riten im Pontificale Romanum des 12. Jahrhunderts verschieben sollte.47 War es im fru¨hen Christentum die Eucharistiefeier, die dem Geba¨ude seinen sakralen Charakter verlieh, begann man zunehmend, „die Sakralita¨t konkreter in den irdischen Bau zu verankern.“48 Der ro¨mische Weg erlangte dies u¨ber den Reliquienkult, das wegweisende Beispiel war die Petersbasilika u¨ber dem Grab des Apostels. Auch der Trierer Dom war dem hl. Petrus geweiht und so erhielt der Petrusstab eine zentrale Rolle innerhalb der Bannprozession, doch bedurfte er anscheinend der Unterstu¨tzung weiterer wirkma¨chtiger Reliquien aus dem Domschatz. Durch das Mitfu¨hren der Reliquien wa¨hrend der Prozession wurde die eigentliche Quelle der Sakralita¨t aus der Kirche hinaus in den Raum der Laien u¨berfu¨hrt. Der Besuch der Stationskirchen band die dortigen Reliquien mit in den Umgang ein und versta¨rkte seine heilbrin¨ berschreiten der Kirchenschwelle fand eine Umdeutung gende Wirkung. Mit dem U 49 des urbanen Raumes statt. Er wurde – durch die liturgischen Gesa¨nge weithin ho¨rbar50 – wa¨hrend der Dauer der Prozession sakral erho¨ht und damit seine Bedeutung als Raum der Sakralgemeinschaft sichtbar gemacht. Der Stadtraum verlor dadurch aber nicht seine eigentliche Bedeutung, sie trat nur hinter die Liturgie zuru¨ck.51 Die Sakralisierung des sta¨dtischen Raumes durch die Prozession war allerdings nur ein tempora¨rer Akt; um die Vorstellung der Heiligen Stadt dauerhaft aufrechtzuerhalten, musste die Sichtbarmachung des Sakralen regelma¨ßig erneuert werden. Und ebendies leistete die Prozession durch ihren rituellen Charakter.

47 Sible L. de Blaauw, Die Kirchweihe im mittelalterlichen Rom. Ritual als Instrument der Sakralisie-

rung eines Ortes, in: Sakralita¨t zwischen Antike und Neuzeit (wie Anm. 46), S. 91–99, hier S. 99. 48 Dies geschah sichtbar, wie de Blaauw an der Entwicklung der fru¨hmittelalterlichen Kirchweihliturgie

belegt, ebd., S. 99.

49 Zur Bedeutung von Schwellen-Situationen und Sakralhierarchie vgl. Ja¨ggi, Kirche als Heiliger Raum

(wie Anm. 46), S. 86.

50 Zum Gesang und der aktiven Rolle der Teilnehmenden nicht nur durch Singen, sondern auch Ho¨ren

Wolfgang Fuhrmann, Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter (Musiksoziologie 13), Kassel 2004; zur rituellen Bedeutung von kirchlichem Gesang Rebecca J. Slough, „Let Every Tongue, by Art Refined, Mingle Its Softest Notes With Mine“. An Exploration of Hymn-Singing Events and Dimensions of Knowing, in: Religious and Social Ritual: Interdisciplinary Explorations, hg. v. Michael B. Aune/Valerie DeMarinis, Albany 1996, S. 175–206. 51 Andreas Pfisterer, Der Prototyp der Sakralstadt: Ro¨mische Heiligenoffizien, in: Kommunikation in mittelalterlichen Sta¨dten (wie Anm. 10), S. 181–186.

KAMPF UM RAUM Rom und seine hierarchische Topographie im Zeitalter des Nepotismus von Volker Reinhardt

Rom ist der am intensivsten umka¨mpfte Raum der Geschichte.1 Das gilt fu¨r den realen, den ausmessbaren Raum und noch sta¨rker fu¨r den symbolischen Raum im weitesten Sinne. Der faktische Herrschaftsraum unterteilt sich in die tatsa¨chlichen Zentren der Macht, die in Rom wie u¨berall in Europa nicht einstra¨ngig, sondern mindestens bina¨r, wenn nicht noch sehr viel aufgefa¨cherter ausfallen. Komplexer als alle u¨brigen Machtzentren aber wird Rom durch die Vielschichtigkeit und durch die multiple Deutbarkeit bzw. Nutzbarkeit des symbolischen Raumes. Denn dieser symbolische Raum ist seinerseits in verschiedene Schichten aufgegliedert, von denen sich nur die wichtigsten einigermaßen historisch erfassen lassen: – in den symbolischen Herrschaftsraum, der mit dem realen Herrschaftsraum nicht identisch sein muss, sondern ihm sogar Konkurrenz machen kann; – in den Erinnerungsraum mit den speziellen Akzentsetzungen des Exorzisierungs-, Majestas- und Ruhmesraums; – in den Sakralraum mit seiner dynamischen Sonderform des Heilsraums und schließlich – in den Adels- oder Feudalraum mit seinen unterschiedlichen Wu¨rdigkeitsabstufungen. Der Symbolraum Rom insgesamt ist durch die Dauer und Dichte, aber auch durch ¨ berlieferung im Laufe der Zeit zu einem die Gegensa¨tzlichkeit der geschichtlichen U regelrechten ideologischen Selbstbedienungsladen geworden. Aus der in Rom zum Anschauungsmaterial gewordenen Geschichte, Politiktheorie, Theologie, Kirche, Kultur und Propaganda konnte man bekanntlich, siehe die Cola di Rienzo-Episoden des 14. Jahrhunderts oder die Porcari-Verschwo¨rungen unter Nikolaus V. und Pius II. hundert Jahre spa¨ter, Legitimation scho¨pfen fu¨r

1 Die nachfolgenden Ausfu¨hrungen, wenn nicht speziell angegeben, nach: Volker Reinhardt, Rom.

Ein illustrierter Fu¨hrer durch die Geschichte, Mu¨nchen 1999; ders., Im Schatten von Sankt Peter. Die Geschichte des barocken Rom, Darmstadt 2011.

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– eine Erneuerung der tribunizisch-comizischen Republik, – eine Wiederherstellung eines mediterran-afrikanischen Imperiums, siehe Benito Mussolini 1936, – eine sozialistische Fraternitas-Republik im Stile Giuseppe Mazzinis anno 1849, – eine italienische Staatenfo¨deration nach den Vorgaben Vincenzo Giobertis um dieselbe Zeit oder auch – eine autorita¨r-konstitutionelle Monarchie, wie sie nach dem 20. September 1870 implantiert wurde. Alle diese Gesellschafts- und Staatsformen verstanden sich als Alternativen und Nachfolgemodelle zur pa¨pstlichen Wahlmonarchie, die alle realen und symbolischen Rom-Ra¨ume zwischen etwa 750 und 1870 de jure und – la¨ngere Aussetzer zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert ausgenommen – u¨berwiegend auch de facto besetzt hat. Allerdings haben auch Pa¨pste und Nepoten diese realen und symbolischen Ra¨ume mit ganz unterschiedlichen Priorita¨ten, Zielsetzungen und Botschaften in Anspruch genommen,2 worum es in den nachfolgenden Ausfu¨hrungen, die die Zeit zwischen 1590 und 1790 umspannen und vor allem auf das 17. Jahrhundert fokussiert sind, gehen soll. Als einzige Herrschaftsbildung auf ro¨mischem Boden in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden hat die im Juni 1946 aus der Taufe gehobene Republik Italien darauf verzichtet, den ro¨mischen Symbolraum umzuformen. Es gibt bis heute keine repra¨sentative Wertevergegenwa¨rtigung oder Ideologieveranschaulichung des demokratischen Italien in seiner Hauptstadt. Den Gru¨nden fu¨r diese SystemverewigungsAbstinenz nachzugehen, wu¨rde sich lohnen, hier jedoch zu weit fu¨hren: Misstrauen gegenu¨ber pompo¨ser Propagandaarchitektur, wie sie wa¨hrend des Faschismus u¨berreichlich produziert wurde, Rom-Skepsis, Verzicht auf Konkurrenz mit dem Papsttum – alle diese Gru¨nde kommen wahrscheinlich in der einen oder anderen Dosierung ins Spiel. Das einzige wirklich repra¨sentative Bauwerk des demokratischen Italien, die Halle des Bahnhofs Termini, besetzt – fraglos zufa¨llig – einen bereits ¨ berumgedeuteten Raum:3 An der Stelle der alten Diokletians-Thermen, die der U lieferung nach von christlichen Sklaven errichtet worden waren, hatte Papst Paul V. (1605–1621) einen zentralen Getreidespeicher errichten lassen – von heidnischer Da¨monie zu frommer paternalistischer Fu¨rsorge, diese Umwertung zumindest war wohl erwogen. Im Folgenden soll es darum gehen, wie der Herrschafts- und Symbolraum Rom im Zeitalter des Nepotismus neu okkupiert, aufgeteilt, mit Aussagen aufgeladen und damit radikal umgewidmet wurde, und zwar zugunsten der jeweiligen Papstverwandten. Dazu sollen einige besonders hervorstechende Bespiele angefu¨hrt werden. Sie sind wenig mehr als Prolegomena zu einer bislang ungeschriebenen Geschichte

2 Orientierung in: Werte und Symbole im fru¨hneuzeitlichen Rom, hg. v. Gu¨nther Wassilowsky/Hubert

Wolf (Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme 11), Mu¨nster 2005.

3 Vgl. Volker Reinhardt, U ¨ berleben in der fru¨hneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung

in Rom 1563–1797 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 72), Tu¨bingen 1991.

Rom und seine hierarchische Topographie im Zeitalter des Nepotismus

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der Raumbedeutung, Raumdurchdringung und Raumbesetzung Roms in der Neuzeit. Zur Stadtentwicklung der Urbs zwischen Antike und 19. Jahrhundert ist in den letzten Jahrzehnten betra¨chtlicher Forschungsertrag eingebracht worden.4 Doch stand dabei kaum je die Frage im Vordergrund, nach welchen Kriterien Herrscher und Eliten eigentlich die speziellen Orte auswa¨hlten, an denen sie ihre Hauptbauten errichten ließen; wenn dieses Problem angeschnitten wurde, standen meist „realra¨umliche“ Aspekte wie strategische Positionierung, Verteidigungsfa¨higkeit oder Anbindung an Waren- oder Truppenwege im Vordergrund. Trotzdem ist davon auszugehen, dass es fu¨r die Bauherren im Rom der fru¨hen Neuzeit eine Dignita¨ts- und damit Attraktivita¨ts-Hierarchie von Baufla¨chen und Baugrundstu¨cken gab, die nicht prima¨r von diesen konkreten Gesichtspunkten abhing. Dass so spa¨t angekommene Stadtgestalter wie die Papstfamilien des Barock ha¨ufig mit dem vorliebnehmen mussten, was die vorher arrivierten Eliten u¨brig gelassen hatten, ist richtig, doch zugleich oft zu relativieren. Zum einen konnten die Papstverwandten der Neuzeit ha¨ufig Objekte aus dem Besitz verschuldeter Adelsfamilien, darunter nicht selten a¨ltere Nepotengeschlechter, erwerben und dann entweder abreißen oder neu gestalten.5 Zum anderen konnten sie Tabus verletzen und zuvor geschu¨tzte Tabura¨ume wie antike Ruinensta¨tten abtragen lassen und neu besetzen. So ist davon auszugehen, dass die quasi allma¨chtigen Papstverwandten der Neuzeit kaum je ihre Wunschbiotope komplett besetzen, doch zumindest im Großen und Ganzen die Ra¨ume einnahmen, die ihnen vorschwebten. Geschichte verpflichtet – nach diesem Grundsatz durften das keine „no memory spaces“ sein, sondern mussten symbolische Bezu¨ge aufweisen, die mit der Familienpropaganda konform gingen und auf diese Weise selbst zu Ruhmesmotiven werden konnten.6 Die hier angefu¨hrten Exempel sollen Typen des symbolischen Raums in Rom verdeutlichen und damit die Umrisse eines Raumbesetzungs-Programms aufzeigen, das im Prinzip fu¨r alle aufeinanderfolgenden Nepoten verbindlich war; dafu¨r sorgte schon die unerbittliche Konkurrenz zwischen den Papstfamilien, die sich nach jedem weiteren Pontifikat einer immer u¨berma¨chtigeren Tradition gegenu¨bersahen und sich zugleich verpflichtet wussten, diese Vorgaben ihrer Vorga¨nger zumindest in einem Hauptpunkt zu u¨bertrumpfen.7 So darf man getrost davon ausgehen, dass jeder im Folgenden aufgezeigte Einzelfall zugleich eine Norm markierte. Der nachfolgenden Untersuchung liegt die These zugrunde, dass der Hauptzweck der pa¨pstlichen Herrschaft in Rom wie im Kirchenstaat zwischen 1590 und

4U ¨ bersicht bei: Mario Sanfilippo, Le tre citta` di Roma, Roma/Bari 1993; Rene´ Schiffmann, Roma

felix. Aspekte der sta¨dtebaulichen Gestaltung Roms unter Sixtus V., Bern 1995; Enrico Guidoni, L’urbanistica di Roma tra miti e progetti, Roma/Bari 1990; Etienne Hubert, Espace urbain et habitat a` Rome. Du Xe sie`cle a` la fin du XIIIe sie`cle, Roma 1990. 5 Vgl. Volker Reinhardt, Kardinal Scipione Borghese (1605–1633). Vermo¨gen, Finanzen und sozialer Aufstieg eines Papstnepoten (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 58), Tu¨bingen 1984. 6 Zum allgemeinen Vergleich: Matthias Oberli, „Magnificentia Principis“. Das Ma¨zenatentum des Prinzen und Kardinals Maurizio von Savoyen (1593–1657), Weimar 1999. 7 Dazu exemplarisch: Arne Karsten, Ku¨nstler und Kardina¨le. Vom Ma¨zenatentum ro¨mischer Kardinalnepoten im 17. Jahrhundert, Ko¨ln/Weimar/Wien 2003.

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1790 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – darin bestand, die Blutsverwandten des Pontifex maximus zu symbolischen Herrschaftsteilhabern wa¨hrend des Familienpontifikats und dadurch zu integralen und dauerhaften Mitgliedern der ro¨mischen Funktions- und Vornehmheitselite zu erheben. Spa¨testens mit dem inzwischen exemplarisch erforschten Borghese-Pontifikat 8 von 1605 bis 1621 ist diese spezifische Form des Nepotismus zur tragenden Herrschaftsachse geworden; weitere Steigerungen machen sie bis nach der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Haupt- und phasenweise zum Quasi-Allein-Zweck pa¨pstlicher Herrschaftsausu¨bung. Belege fu¨r diese Herrschaftsausrichtung sind inzwischen innen- wie außenpolitisch in verschiedenen Publikationen geliefert.9 Hier soll gezeigt werden, wie dieses zentrale Herrschaftsprogramm der Nepoten-Etablierung im hochverdichteten Herrschafts- und Symbolraum Rom – innerhalb wie auch außerhalb der Stadtmauern – umgesetzt wurde. Denn so intensiv sich diese Raumbesetzungs-Konkurrenz auch auf das ummauerte Gebiet der Urbs konzentrierte, so drang dieser Wettbewerb doch zugleich vielfach u¨ber diese Grenzen hinaus und dehnte sich in die ro¨mische Campagna aus, gleichsam als Fortsetzung und Ausstu¨lpung von den sta¨dtischen Zentren her. Der alles beherrschenden Herrschaftsausrichtung auf die Erho¨hung und Verstetigung des Familienstatus entsprechend agierte auch der jeweilige Papst im realen wie symbolischen Herrschaftsraum Rom. Auch seine Herrschaftszeichen sind nicht nur familienbezogen, sondern familienzentriert. Diese Akzente setzt vor allem das pa¨pstliche Wappen, dessen Hauptfunktion im Wiedererkennungswert zugunsten der Familie besteht. Dementsprechend wachsen die Wappenschilde in der Fru¨hen Neuzeit und mit ihnen die heraldischen Symbole der Nepoten ins Riesenhafte an. Zwangsla¨ufig ist diese Entwicklung keinesfalls. Ein Nikolaus V. wa¨hlte 1447 als Wappen die gekreuzten Schlu¨ssel, also kein Familiensymbol, sondern das Amtszeichen, das sich auf diese Weise außerhalb wie innerhalb des Schildes befand. Mit diesem Wappen konnte man keinen Nepotismus betreiben, was den Absichten des Parentucelli-Papstes vo¨llig entsprach. Im 16. und 17. Jahrhundert aber gibt es in Rom – mit Ausnahme der „Gegenpontifikate“ Innozenz’ XI. und XII. von 1676 bis 1689 und 1691 bis 1700 – keine neuen repra¨sentativen Amtsbauten und daher auch keine symbolische Besetzung des Raumes fu¨r die personen- und familienu¨bergreifende Institution Papsttum.10 Das zeigt sich am deutlichsten an den angeblichen Gegenbeispielen. Auf der Fassade der Peterskirche11 verdra¨ngt die Widmungs- und Weihinschrift den Apostelfu¨rsten und schreit die Familienidentita¨t des Papstes im Zentrum fo¨rmlich heraus: Mit den vier Wo¨rtern PAULUS V BURGHESIUS ROMANUS besetzt die Familie Borghese den wichtigsten Sakralraum des fru¨hneuzeitlichen Rom nach außen. Vier Jahrzehnte spa¨ter sind ihr die Chigi am selben Ort nachgefolgt. Auch

8 Summe und Bilanz in: Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstge-

schichte (Pa¨pste und Papsttum 37), Stuttgart 2009.

9 Reinhardt, Schatten (wie Anm. 1). 10 Reinhardt, Schatten (wie Anm. 1), S. 240–248. 11 Dazu grundlegend: Horst Bredekamp, Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zersto¨-

rung. Auf- und Abbau von Bramante bis Bernini, Berlin 2000.

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die grandiose und kostenaufwendige Neugestaltung des Petersplatzes ist ein Werk der Familienkodierung.12 Das macht die Fu¨lle der kolossal dimensionierten Chigiwappen in und an den monumentalen Kolonnaden eindrucksvoll deutlich. Um auch hier die Profilierungspriorita¨ten nochmals klarzustellen: Als Bauherr ist der Papst kenntlich gemacht, doch als Teil eines Geschlechterverbandes und damit einer gro¨ßeren, u¨ber seinen Tod hinaus fortwirkenden Abstammungsgemeinschaft mit in sich geschlossener Identita¨t. Die Barberini haben den Borghese kurz danach im selben ra¨umlichen Kontext Konkurrenz gemacht. Mit der Fassade und damit dem Eingang hatten die Borghese einen Schlu¨sselpunkt der Petersbasilika markiert. Die Barberini gingen ra¨umlich wie symbolisch noch einige Schritte weiter und besetzten das Ziborium, den gigantischen Bronzebaldachin u¨ber dem angeblichen Petrusgrab. Hier tritt das Papstwappen selbst noch weiter zuru¨ck, ist es doch als solches nur auf den tiefen Marmorsockeln zu sehen. Auf dem Baldachin selbst haben sich die Bienen, Sonnen und Lorbeerzweige der Barberini nicht nur ins Hundertfache vervielfa¨ltigt, sondern sogar verselbsta¨ndigt, das heißt aus dem Wappenschild herausgelo¨st. Damit ist die Familie des Papstes insgesamt als vom Heiligen Geist mit erwa¨hlt und zur Fu¨hrung der Kirche vorherbestimmt ausgewiesen. Doch mit solchen Zeichensetzungen hatte die symbolische Besetzung von Sakralra¨umen durch die Nepoten keineswegs ihr Bewenden. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Grablegen. Eine Familiengrabkapelle mit entsprechendem jus patronatus an kirchengeschichtlich und theologisch prominenter Stelle war ein weiteres Muss. Die Borghese haben die Wohnsta¨tte ihrer Toten an die vornehme, ja exklusive Hauptmarienkirche Santa Maria Maggiore angestu¨ckt, wo sich schon die Peretti, die Verwandten Sixtus’ V., zusammen mit ihrem Papst fu¨r die Ewigkeit niedergelassen hatten. Damit wird der weit herausgehobene Sakralraum der legendenumrankten Marienkirche zu einem sakralisierenden Raum fu¨r die Familie des Papstes; sie vermehrt ihn durch die neue Kapelle und ihre Ausstattung und partizipiert zugleich an der religio¨sen Dignita¨t und Weihe des Gesamtkomplexes.13 Ganz a¨hnlich zeigt sich das Vorgehen Innozenz’ X.14 Fu¨r seine Nepoten wa¨hlte der Pamphili-Papst das unbedeutende Kirchlein Sant’ Agnese in Agona an der Piazza Navona, die zum multiplen Verherrlichungsraum von Papst und Nepoten ausgestaltet wurde. Zum familieneigenen Sakralraum wurde dieser Platz dadurch, dass in

12 Vgl. Arne Karsten, Bernini. Der Scho¨pfer des barocken Rom, Mu¨nchen 2006, auch zum Ziborium

der Peterskirche. Zu den Chigi: Peter Stephan, Der Griff nach den Sternen. Die gentilizische Kodierung des ro¨mischen Stadtraums durch Grabma¨ler unter Sixtus V. und Alexander VII., in: Grab – Kult – Memoria. Studien zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung, hg. v. Carolin Behrmann/Arne Karsten/Philipp Zitzlsperger, Ko¨ln/Weimar/Wien 2007, S. 75–103. 13 Michail Chatzidakis, „Imagines Pietatis Burghesianae“. Die Papstgrabma¨ler Pauls V. und Clemens’ VIII. in der Cappella Paolina in S. Maria Maggiore, in: Totenkult und Wille zur Macht. Die unruhigen Ruhesta¨tten der Pa¨pste in St. Peter, hg. v. Horst Bredekamp/Volker Reinhardt, Darmstadt 2004, S. 159–178. 14 Zur Raumbesetzung durch die Pamphili: Karsten, Ku¨nstler (wie Anm. 7); Gerhard Eimer, La fabbrica di Sant’Agnese in Navona. Ro¨mische Architekten, Bauherren und Handwerker im Zeitalter des Nepotismus, 2 Bde. (Stockholm studies in history of art 17/18), Stockholm 1970/1971.

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großer Eile eine spezielle Verehrungsbeziehung der Familie Pamphili zur heiligen Agnes konstruiert wurde. Die der Ma¨rtyrerin neu errichtete Kirche stellte sich so als Huldigung an die Familienpatronin dar, der die Pamphili nach fast anderthalb Jahrtausenden erstmals die gebu¨hrende Ruhmessta¨tte schufen; dadurch gewannen sie fu¨r alle sichtbar selbst Anteil an dieser Glorie. Doch ließ sich der Sakralraum der Piazza Navona auch fu¨r „weltliche“ Verherrlichung nutzen. Majestas markierte der Bau der Familienresidenz an derselben, durch den Zirkus des Domitian schon in der Antike herausgehobenen Stelle, womit dieser Ort des bo¨sen Imperators zugleich exorzisiert und christlich umgewidmet wurde. Feudalraum ist der Familienpalast durch seine fu¨rstlichen Dimensionen – dass hier eine große Adelsfamilie ho¨chsten und damit feudalherrschaftlichen Ranges residierte, spiegelt die Anlage bis heute eindrucksvoll wider. Zugleich war damit ein weiterer typisch ro¨mischer Erinnerungsraum, na¨mlich ein Ruhmesraum durch historische Kontinuita¨ts-Konstruktion, inszeniert. Im Inneren freskierte Pietro da Cortona na¨mlich das piano nobile mit Szenen aus Vergils Aeneis. Diese nahmen unmittelbar Bezug auf die mythisch u¨berho¨hte Familiengeschichte der Pamphili, die sich qua Namensa¨hnlichkeit vom ro¨mischen Ko¨nig Numa Pompilius, einem Nachfolger des Aeneas, ableiteten. Daraus la¨sst sich eine weitere Gesetzma¨ßigkeit folgern: In Rom und speziell fu¨r die Nepoten konnte es Majestas- und Ruhmesra¨ume nur als Formen des Erinnerungsraums geben. Wer sich als Herrschaftstra¨ger nicht mit einer prestigetra¨chtigen Anbindung an eine mythisch u¨berho¨hte Vergangenheit ausweisen konnte, hatte in der Gegenwart keinerlei Anspruch auf Rang oder gar Macht. Das galt besonders unerbittlich fu¨r Parvenu¨s wie die Nepoten. Sie mussten sich in der riesenhaften Memoriafla¨che der Ewigen Stadt eindrucksvoll positionieren, um ihre Herrschaftsstellung zu rechtfertigen. Da sie im Gegensatz zu den Baronalfamilien der Colonna und Orsini keine authentischen Erinnerungen pflegen konnten, mussten sie diese Geschichte erfinden und dazu passende Ra¨ume usurpieren.15 Wurde diese konstruierte bzw. fingierte Memoria dadurch glaubwu¨rdig? Ja und nein. Im ro¨mischen Elitengefu¨ge herrschte fraglos ein unausgesprochener Konsens, fiktive Genealogien als Vornehmheitsausweise mit der Lizenz zur phantasievollen Ausgestaltung bei aller Skepsis im Einzelnen zu akzeptieren – im Wissen, dass diese Vornehmheit nicht historisch, sondern allein symbolisch begru¨ndet war. Und noch eine spezifisch ro¨mische Norm gewinnt so Konturen. Ein Papst ohne Nepoten ko¨nnte sich mit der Besetzung von Sakralra¨umen begnu¨gen. Pa¨pste mit Nepoten und vor allem die Nepoten selbst beno¨tigen die Erinnerungsra¨ume, um den Rang der Familie auf Dauer zu erhalten. Zu Grablege und Familienpalast kam an der Piazza Navona als weiterer Propaganda-Akzent der Vierstro¨mebrunnen Berninis hinzu, der die weltumspannende Herrschaft des Pamphilipapstes und damit zugleich der Familie verherrlicht. Durch diese propagandistisch hoch verdichtete Raumbesetzung durch Palast, Kirche und

15 Christina Strunck, Die Konkurrenz der Pala¨ste. Alter Adel versus Nepoten im Rom des Seicento,

in: Die Kreise der Nepoten, hg. v. Daniel Bu¨chel/Volker Reinhardt (Freiburger Studien zur Fru¨hen Neuzeit 5), Bern 2001, S. 203–233.

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Brunnen wird die Piazza Navona zu einem symbolischen Herrschaftsraum, den es neben dem realen Herrschaftsraum des Vatikans eigentlich nicht geben durfte. Die¨ bergewicht des ex nihilo geschaffenen zweiten Herrschaftsraumes ses unerlaubte U der Piazza Navona, mit dem die Familie auch symbolisch den Spitzenplatz vor dem Amtsbegru¨nder Petrus einnahm, hat viel dazu beigetragen, dass dieses Raumensemble nie wirklich angenommen wurde, sondern im Gegenteil regelrechte ideologische Abwehrhaltungen provozierte.16 Trotz dieser Priorita¨tensetzung hat auch Innozenz X. den faktischen Herrschaftsraum des Vatikans symbolisch fu¨r seine Familie besetzt. So bekam der regierende Kardinalnepot als Oberaufseher des Kirchenstaats dort, im Vatikanischen Palast, hervorgehobene Herrschaftsra¨umlichkeiten zugewiesen, wie anderthalb Jahrhunderte zuvor die Borgia, seine Verwandten. Zum Kampf der Nepoten um Rom, den realen und symbolischen Raum, geho¨rte es, mo¨glichst viel Erinnerungsraum zu besetzen und umzuwidmen. Durch diese Umwidmungen wurden pagane Ra¨ume christlich gemacht, wie es die zahlreichen Obelisken Sixtus V. zeigen – sie exorzisieren heidnische Erinnerungsra¨ume und machen sie zu Heilsra¨umen der christlichen Kirche.17 Wer nach Rom kam, um seine Su¨ndenstrafen zu tilgen und das ewige Heil zu gewinnen, konnte sich den ehemals heidnischen Sonnennadeln regelrecht anvertrauen, das heißt: von einem Obesliken zum anderen u¨ber die vom Papst neu errichteten Straßen wandeln, auf diesen Wegen Hauptkirchen besuchen und durch dort verrichtete fromme Andachtsu¨bungen das Paradies gewinnen. Bezeichnenderweise hat nach 1590 kein Papst und keine Nepotenfamilie solche Heilsra¨ume gestaltet, die den Pilgern die alleinseligmachende Funktion der Kirche zugleich vor Augen fu¨hrten und nutzbar machten. Die Sakralra¨ume der Nepoten feiern stattdessen die spirtituelle dignitas der eigenen Familie, im Extremfall der Altieri, der Verwandten Clemens’ X., sogar durch eine eigene Selige, genauer: durch eine vom Familienpapst selbst selig gesprochene Franziskanertertiarin.18 Der Borghesepapst Paul V. sprach mit Carlo Borromeo immerhin einen a¨lteren Kardinalnepoten heilig und verlieh diesem ho¨chst umstrittenen Amt damit eine spirituelle Wu¨rde und Rechtfertigung; zugleich wurde durch den Akt der Kanonisation eine enge Beziehung zwischen dem heiligen Kardinal und der Familie des Papstes bzw. seines Nachfolgers im Amt des Kardinalnepoten konstruiert.19 Die Sakralraumbesetzung durch die Nepoten des 17. Jahrhunderts ist im Gegensatz zur Raumneuformierung Sixtus V. also nicht dynamisch, sondern statisch, sie fu¨hrt nicht zu Zielen, sondern ist selbstreferentiell, auf das eigene Zentrum der Familie hin angelegt.

16 Reinhardt, U ¨ berleben (wie Anm. 3). 17 Exemplarisch: Peter Stephan, Rom unter Sixtus V.: Stadtplanung als Vergegenwa¨rtigung von Heils-

geschichte, in: Zeitschrift fu¨r Kunstgeschichte 72 (2009), S. 165–214. 18 Karsten, Bernini (wie Anm. 12), S. 221–224. 19 Vgl. Volker Reinhardt, Krieg um die Erinnerungshoheit. Die Heiligsprechung Carlo Borromeos, in:

Schweizerische Zeitschrift fu¨r Religions- und Kulturgeschichte 103 (2009), S. 63–72.

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Volker Reinhardt

Zu den Umwidmungen a¨lterer, durch Konkurrenten bereits besetzter Erinnerungsra¨ume geho¨rte die Errichtung von suburbanen Villen. Diese lagen vorzugsweise auf Terrains, die bereits in der Antike entsprechend ausgewiesen waren. In diesem Zusammenhang gewann die ro¨mische Archa¨ologie und historische Landeskunde, wie sie mit Flavio Biondo im 15. Jahrhundert erfolgreich initiiert wurde, ho¨chste Bedeutung. Dadurch, dass man in der Folgezeit Grundstu¨cke erwerben konnte, die durch diese Forschungen eine historische Langzeitidentita¨t gewannen, also Bauten auf geschichtlich nobilitiertem Grund errichtete, gewann ein Großteil der Nepotenprojekte zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert u¨berhaupt erst seine propagandistische Relevanz. Wer wie die Borghese stolz erkla¨ren konnte, dass die eigene Villa auf den Ga¨rten des Lucullus stand, verschaffte sich eine historische Fundierung und Profilierung, wie sie die Nepoten, fast ausnahmslos Parvenu¨s aus Patriziat und niederem Stadtadel, dringend beno¨tigten. Eine andere Form der Umwertung bestand darin, dass pa¨pstliche Nepoten fremde Ruhmesra¨ume enteigneten. Das war zum Beispiel in der Kirche Santa Maria in Aracoeli, der alten Basilika der ro¨mischen Stadtgemeinde, der Fall, die sich daru¨ber hinaus im Konservatorenpalast durch Freskenzyklen republikanischer Ro¨mergro¨ße zu profilieren versuchte. In dieser Kirche verewigte sich Carlo Barberini, der Bruder Urbans VIII., mit einer monumentalen Inschrifttafel, die den politischen Sakralraum der Kommune zu einem Erinnerungsraum der Nepoten umfunktionierte. ¨ hnliche Zeichen finden sich im Konkurrenzraum Rom vielfach, zum Beispiel A in der la¨ndlichen Umgebung, wo der Besitzwechsel von den alten Baronalfamilien Colonna, Orsini, Ceatani und Savelli zu den neuen Feudalgeschlechtern der Nepoten rasant vonstatten ging. Auch in ihren neuen Herrschaftszentren der Campagna wie Palestrina, Ariccia oder Monte Compatri okkupierten die Barberini, Chigi und Borghese einen zugleich realen und durch Palast- wie Kirchenbauten symbolisch extrem u¨berho¨hten Herrschafts-, Majestas- und Feudalraum. Was steht dahinter? Wollten sich die Papstnepoten zwischen 1590 und 1676 zu einer exklusiven, nur durch neue Papstverwandte zu erweiternden Elite oder gar zu einer Geblu¨tsheiligkeitsgemeinschaft erkla¨ren? Planten sie unter Umsta¨nden nicht weniger als eine Art kollektive Machteroberung derjenigen, die durch das Votum des Heiligen Geistes als Gruppe geadelt waren? Solche gelegentlich vorgebrachten Thesen verzeichnen die sozialhistorische Realita¨t. Eine durch Abstammung spirituell nobilitierte Großgruppe der Papstverwandten mit entsprechend exklusivem Selbstversta¨ndnis hat es nie gegeben. Dazu war die unmittelbare Konkurrenz zwischen den Familien zu stark; stattdessen gab es Allianzen, meistens zwischen Geschlechtern, die nicht unmittelbar aufeinander folgten und sich dadurch nicht direkt von der Macht verdra¨ngten. Dass sich Nepotenfamilien ha¨ufig untereinander verschwa¨gerten, nicht selten in Form reiner Endogamie, hing damit zusammen, dass sie zwar wa¨hrend des Familienpontifikats in die Baronalfamilien einheiraten durften, danach aber von den großen Clans wieder die kalte Schulter gezeigt bekamen. So stellen sich die neuen Adeligen von Papstes Gnaden als eine unfreiwillig abgegrenzte, auf ho¨chstem feudalen Titelniveau und unvergleichbar hoher materieller Ausstattung zugleich isolierte und blockierte Sekunda¨relite dar – ein zweiter Familienpontifikat war nach dem Konzil von Trient nicht in Aussicht und damit auch keine zweite Erho¨hungschance.

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Die einzig realistische Perspektive der Nepoten war somit im besten Fall die mu¨hsame Behauptung des Status quo und ansonsten die Verzo¨gerung des unvermeidlichen Abstiegs. Dass die Nepoten der Neuzeit umso intensiver und za¨her den ro¨mischen Stadtraum real und symbolisch zu besetzen versuchen, ist somit eine defensive Statusbewahrungsreaktion. Als solche aber ist sie u¨berraschend erfolgreich, wenngleich nicht nur im Sinne ihrer Erfinder. Schließlich haben die urbanistischen Inseln der Borghese, Barberini, Pamphili und Chigi mit ihren architektonischen und dekorativen Highlights in Rom und Umgebung die Familien ihrer Bauherren nicht nur u¨berlebt, sondern auch an Prestige weit u¨bertroffen.

¨ DTISCHES „PATRIZIAT“ UND REGIONALER ADEL STA Beobachtungen zu Integrationsleistungen und Abgrenzungsstrategien am Beispiel mittel- und norddeutscher Sta¨dte von Michael Hecht

Im Jahr 1734 zeigten sich Ko¨nig Friedrich Wilhelm I. von Preußen und seine Verwaltung merklich irritiert. Im Zusammenhang mit den Reformen, die der Monarch in vielen Orten seiner Herrschaftsgebiete fu¨r das ratha¨usliche Regiment in den Sta¨dten initiierte – und damit vor allem auf eine effizientere Ta¨tigkeit der Magistrate, ihre Einordnung in den staatlichen Instanzenzug sowie eine Sta¨rkung des fiskalischen Zugriffs abzielte1, hatte man sich auch mit der Ratsverfassung der Landsta¨dte Staßfurt und Groß Salze im Herzogtum Magdeburg bescha¨ftigt. Mit Verwunderung war dabei festgestellt worden, dass die Magistrate dieser beiden Sta¨dte, die seit 1680 unter kurbrandenburgischer Herrschaft standen, nur aus adligen Personen gebildet werden durften. Sa¨mtliche Bu¨rgermeister, Ka¨mmerer und Ratsherren mussten demnach notwendigerweise dem Adel angeho¨ren. In Berlin hielt man diese Praxis fu¨r ho¨chst ungewo¨hnlich und erkla¨rungsbedu¨rftig und verlangte die Einreichung von Privilegienurkunden, mit denen sich eine solche Vorschrift begru¨nden ließe. Beide Sta¨dte konnten keine entsprechenden Diplome vorlegen, verwiesen jedoch auf das alte Herkommen. So fu¨hrte der Staßfurter Rat aus, er ko¨nne sich so wohl aus alten Documentis als auch aus denen auf denen Glocken und sonsten hin und wieder befindlichen Inscriptionen und Wapen u¨ber anderthalb hundert Jahr her legitimiren, daß der Magistrat besta¨ndig aus adelichen Personen bestanden habe und alle Ratsherren aus der Noblesse gewesen seien. Noch deutlicher a¨ußerte sich der Groß Salzer Rat: Es sei außer Zweifel, dass daß der allhiesige Rath a` tempore immemoriale und vielleicht so lange Saltze gestanden, allezeit aus Adelichen Personen bestanden habe, denn wie in Staßfurt seien nur die Mitglieder der o¨rtlichen Pfa¨nnerschaft, also die Inhaber

1 Zu den Grundsa¨tzen der Ratsreformen des „Soldatenko¨nigs“ vgl. Gustav Schmoller, Deut-

sches Sta¨dtewesen in a¨lterer Zeit (Bonner Staatswissenschaftliche Untersuchungen 5), Bonn 1922, S. 231–428; Gerd Heinrich, Staatsaufsicht und Stadtfreiheit in Brandenburg-Preußen unter dem Absolutismus, in: Die Sta¨dte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert, hg. v. Wilhelm Rausch (Beitra¨ge zur Geschichte der Sta¨dte Mitteleuropas 5), Linz/Donau 1981, S. 153–172; exemplarisch zur Umsetzung der Reformen am Beispiel Herfords vgl. Nicolas Ru¨gge, Im Dienst von Stadt und Staat. Der Rat der Stadt Herford und die preußische Zentralverwaltung im 18. Jahrhundert (Bu¨rgertum. Beitra¨ge zur europa¨ischen Gesellschaftsgeschichte 15), Go¨ttingen 2000.

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Michael Hecht

von Siederechten in der sta¨dtischen Saline, in diesem Ort ratsfa¨hig. Die Pfa¨nnerschaft habe ihrerseits immer aus lauter Adlichen Persohnen bestanden, und niemand als gute von Adel ha¨tten hiesige Sool-Gu¨ther acquiriren und possidiren ko¨nnen.2 In der Tat hatte die Aristokratisierung der Solgutseigentu¨mer und Pfa¨nner von Staßfurt und Groß Salze schon mehr als ein Jahrhundert zuvor ihren Abschluss gefunden. Die Siedeberechtigten waren seither vollsta¨ndig im regionalen Adel integriert; Angeho¨rige alter ritterschaftlicher Familien des mitteldeutschen Raumes (u. a. von Dieskau, von Krosigk, von der Schulenburg) erwarben hier Salinenanteile und versahen in der Folge den Dienst als Ratsherren und Bu¨rgermeister der beiden kleinen Sta¨dte.3 Eine Konsequenz dieser Entwicklung war unter anderem, dass die Deputierten des Staßfurter und des Groß Salzer Stadtrats bei den landsta¨ndischen Versammlungen des Erzstifts bzw. Herzogtums Magdeburg nicht auf der Sta¨dtebank, sondern auf der Ritterbank Platz nehmen durften. Die Anna¨herung an den Landadel ging so weit, dass die Pfa¨nnerschaften spa¨testens ab 1659 (Staßfurt) bzw. 1714 (Groß Salze) fu¨r Neumitglieder eine 16fache Ahnenprobe – also den Nachweis des Adels bis zu allen Ururgroßeltern – verlangten, und damit der Form nach die gleichen strengen Exklusivita¨tsbarrieren aufrichteten wie etwa die benachbarten Domkapitel.4 In ihrer Argumentation gegenu¨ber den preußischen Beho¨rden hinsichtlich der sta¨ndischen Qualita¨t der Ratsherren waren beide Magistrate 1734 erfolgreich: Bis zu den Sta¨dtereformen im fru¨hen 19. Jahrhundert blieb die Mitgliedschaft im Rat ein Privileg der adligen Pfa¨nner. Der Fall Staßfurt und Groß Salze widerspricht ga¨ngigen Vorstellungen von der Professionalisierung und Verstaatlichung der sta¨dtischen Ra¨te in der zweiten Ha¨lfte der Fru¨hen Neuzeit. Dass er bereits im 18. Jahrhundert als ungewo¨hnlich angesehen wurde, beweist die verwunderte Reaktion der preußischen Regierung. Auch wenn hier die Verfasstheit des Stadtregiments mit dem Vorhandensein von Salinengu¨tern verknu¨pft war und zu einer in ihrer Konsequenz zweifellos ganz speziellen Rekrutierungspraxis der sta¨dtischen Ratsgremien gefu¨hrt hat, kann die Episode gleichwohl auf eine auch andernorts zu beobachtende Verflechtung der Spha¨ren der Stadt und 2 Die Schreiben der Ra¨te von Staßfurt und Groß Salze vom 11. bzw. 27. Oktober 1734 in Landeshaupt-

archiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg, Rep. A 5 Nr. 1104, Bl. 3–4 und 8–14.

3 Eine detaillierte Untersuchung dieser Entwicklungen ist Forschungsdesiderat; man ist nach wie vor

auf die (zum Teil a¨ltere) stadtgeschichtliche Literatur zu Staßfurt und Groß Salze (heute Stadtteil von Scho¨nebeck) angewiesen. Vgl. insbesondere Friedrich Wilhelm Geiss/Theobald Weise, Chronik der Stadt Staßfurt mit Beru¨cksichtigung der Umgegend vom Beginne historischer Nachrichten bis auf die Gegenwart, Staßfurt (2. Aufl.) 1898; Hanns Freydank, Die Pfa¨nner zu Staßfurt, in: Genethliakon. Festschrift fu¨r Geheimrat S. G. D. Freydanck zu seinem 90. Geburtstage, Halle 1941, S. 9–16; Adolf Mu¨ller, Aus der Vergangenheit der Stadt Groß-Salze, in: Geschichtsbla¨tter fu¨r Stadt und Land Magdeburg 45 (1910), S. 51–63; ders., Chronik der Stadt Groß Salze, Groß Salze 1920; Ruth Goebel, Das Scho¨nebecker Salz. Von der Solesiedung bis zum Solbad, Scho¨nebeck 1997, S. 15–62. 4 Michael Hecht, Zwischen Saline und Rittergut. Adlige Sa¨lzer und Pfa¨nner in der Fru¨hen Neuzeit, in: Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Heike Du¨selder/Olga Weckenbrock/Siegrid Westphal, Ko¨ln u. a. 2008, S. 239–259, hier S. 252. Zur Praxis von Ahnenproben in fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten vgl. auch Elizabeth Harding/Michael Hecht, Ahnenproben als soziale Pha¨nomene des Spa¨tmittelalters und der Fru¨hen Neuzeit. Eine Einfu¨hrung, in: Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repra¨sentation, hg. v. dens. (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 37), Mu¨nster 2011, S. 9–82.

Sta¨dtisches „Patriziat“ und regionaler Adel

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des Adels aufmerksam machen. Wa¨hrend fu¨r das Spa¨tmittelalter das (mitunter konfliktreiche) Verha¨ltnis zwischen Adel und Stadt5, daru¨ber hinaus fu¨r einige der oberdeutschen Reichssta¨dte sowie fu¨r eidgeno¨ssische und italienische Stadtrepubliken die Frage der Aristokratisierung der patrizischen Familienverba¨nde wiederholt thematisiert wurde6, hat man sich mit dem Verha¨ltnis zwischen urbanen Eliten und Nobilita¨t, ihren Grenzziehungen und gegenseitigen Verschra¨nkungen, in mittel- und norddeutschen Landsta¨dten der Fru¨hen Neuzeit bislang wenig bescha¨ftigt. In der Forschung dominierte die auf Heinz Schilling zuru¨ckgehende Entwicklungstypologie der sta¨dtischen Oberschichten, die in pra¨gnanter Weise eine Vera¨nderung im Verha¨ltnis von urbanen zu supraurbanen Raumbezu¨gen der Eliten implizierte: Der Wandel von einem spa¨tmittelalterlichen „Hansestadtpatriziat“ zu einem kaufma¨nnischgewerblichen Honoratiorentum und schließlich zu einer u¨berlokalen Funktionselite, die nicht mehr prima¨r die Stadt, sondern den Territorialstaat und den Landesherrn als Bezugshorizont besaß.7 Wenn im vorliegenden Beitrag auf den besonderen Aspekt des Verha¨ltnisses der sta¨dtischen Eliten zum territorial organisierten Landadel abgehoben wird, kann 5 Aus der Fu¨lle an Arbeiten vgl. u. a. Thomas Zotz, Adel in der deutschen Stadt des Spa¨tmittelal-

ters. Erscheinungsformen und Verhaltensweisen, in: Zeitschrift fu¨r die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), S. 22–50; Andreas Ranft, Stadt und Adel im spa¨ten Mittelalter. Ihr Verha¨ltnis am Beispiel der Adelsgesellschaften, in: Die Kraichgauer Ritterschaft in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Stefan Rhein (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 3), Sigmaringen 1993, S. 47–64; Arend Mindermann, Adel in der Stadt des Spa¨tmittelalters. Go¨ttingen und Stade 1300 bis 1600 (Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r Historische Landesforschung der Universita¨t Go¨ttingen 35), Bielefeld 1996; Les nobles et la ville dans l’espace francophone (XIIe–XVIe sie`cles), hg. v. Thierry Dutour, Paris 2010; Heidrun Ochs, Ritteradel und Sta¨dte. Bemerkungen zu ihrem Verha¨ltnis am Beispiel der Ka¨mmerer von Worms und der Vo¨gte von Hunolstein, in: Kommunikationsnetze des Ritteradels im Reich um 1500, hg. v. Joachim Schneider (Geschichtliche Landeskunde 69), Stuttgart 2012, S. 91–109. 6 Vgl. exemplarisch: Patriziati e aristocrazie nobiliari. Ceti dominanti e organizzazione del potere nell’Italia centro-settentrionale dal XVI al XVII secolo, hg. v. Cesare Mozzarelli/Pierangelo Schiera (Collana di storia sociale 1), Trento 1978; Rudolf Endres, Adel und Patriziat in Oberdeutschland, in: Sta¨ndische Gesellschaft und soziale Mobilita¨t, hg. v. Winfried Schulze (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12), Mu¨nchen 1988, S. 221–238; Stadtadel und Bu¨rgertum in den italienischen und deutschen Sta¨dten des Spa¨tmittelalters, hg. v. Reinhard Elze/Gina Fasoli (Schriften des ItalienischDeutschen Historischen Instituts in Trient 2), Berlin 1991; Dorit Raines, L’invention du mythe aristocratique. L’image de soi du patriciat ve´nitien au temps de la Se´re´nissime, Venedig 2006; Peter Fleischmann, Rat und Patriziat in Nu¨rnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert (Nu¨rnbF 31), Neustadt an der Aisch 2008. 7 Heinz Schilling, Wandlungs- und Differenzierungsprozesse innerhalb der bu¨rgerlichen Oberschichten West- und Nordwestdeutschlands im 16. und 17. Jahrhundert, in: Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert: Parallelen, Verknu¨pfungen, Vergleiche, hg. v. Marian Biskup/Klaus Zernack (VSWG Beihefte 74), Wiesbaden 1983, S. 121–173. Vgl. auch Etienne Francois, ¸ Sta¨dtische Eliten in Deutschland zwischen 1650 und 1800. Einige Beispiele, Thesen und Fragen, in: Bu¨rgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studien zur Sozialgeschichte des europa¨ischen Bu¨rgertums im Mittelalter und in der Neuzeit, hg. v. Heinz Schilling/Herman Diederiks (StF A 23), Ko¨ln 1985, S. 65–83. Das Schillingsche Modell ist in zahlreichen Lokalstudien aufgenommen, weiterentwickelt und empirisch modifiziert worden; man denke insbesondere an die in ju¨ngerer Zeit florierende Forschung zum Typ der Residenzstadt, dazu zuletzt: In der Residenzstadt. Funktionen, Medien, Formen bu¨rgerlicher und ho¨fischer Repra¨sentation, hg. v. Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Residenzenforschung, Neue Folge 1), Ostfildern 2014.

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Michael Hecht

dabei an zwei innovative Forschungsfelder der neueren, kulturhistorisch orientierten Stadtgeschichtsschreibung angeschlossen werden: Einen ersten Referenzpunkt stellt die Pra¨misse dar, gesellschaftliche Kategorien wie „Patriziat“ und „Stadtadel“ nicht mehr als starre und an vermeintlich objektiven Definitionskriterien ausgerichtete Sozialformationen zu verstehen, sondern als wandelbare Ordnungsvorstellungen und Geltungsbehauptungen, die sich in der kommunikativen Praxis bewa¨hren mussten.8 Ein genauerer Blick auf die Selbststilisierungen und die sozialen Fremdund Selbstverortungen der sta¨dtischen Eliten kann offenlegen, welche Bedeutung der Hinwendung zu spezifisch adligen Interaktionsmustern und Repra¨sentationsformen zukam. Dies muss nicht notwendigerweise im Gegensatz zu den von Heinz Schilling hervorgehobenen landesfu¨rstlich-territorialen Orientierungen stehen, verweist in der genuinen Betonung von Nobilita¨t jedoch auf einen gesonderten supraurbanen Werteund Handlungshorizont. Einen zweiten Referenzpunkt bilden die ju¨ngeren Arbeiten zu sta¨dtischen Ra¨umen in der Vormoderne. Ihnen gemeinsam ist ein relationaler und prozessualer Raumbegriff, der auf menschliche Wahrnehmungen und Handlungen als Bedingungen fu¨r die Raumkonstituierung verweist.9 Die soziale Konstruktion von Ra¨umen ist in dieser Perspektive eng mit der Hervorbringung und Dynamisierung sozialer Ordnung in der Stadt verbunden. Daher scheint es lohnend, auch danach zu fragen, in welcher Form Angeho¨rige der sta¨dtischen Eliten Raumbildungen als Distinktionsmedien nutzten und wie sich „patrizische“ Familien im Prozess der Aristokratisierung selbst in einem Raum des Urbanen wie des Supraurbanen verorteten. Eine Bescha¨ftigung mit Integrationsbemu¨hungen und Abgrenzungsstrategien der „Patriziate“ und ihrer landadligen Umwelt kann eine differenzierte Sicht darauf ermo¨glichen, wie sta¨dtische und u¨bersta¨dtische Kommunikations- und Handlungsra¨ume zueinander in Beziehung standen und welche Folgen diese Interdependenz fu¨r soziale Grenzziehungen und Herrschaftsverha¨ltnisse in der Stadt besaß. In dieser Weise las¨ berlegungen auch diejenigen Forschungen erweisen sich mit den vorgenannten U tern, die nach den Beziehungen der Sta¨dte zu ihrem Umland fragen.10

8 Vgl. Gregor Rohmann, Gab es in Hamburg ein „Patriziat“? Beobachtungen zum „Slechtbok“ der

Moler vom Hirsch, in: Museum, Musen, Meer. Jo¨rgen Bracker zum 65. Geburtstag, hg. v. Olaf Matthes/Arne Steinert, Hamburg 2001, S. 138–168; Michael Hecht, Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzsta¨dte Lu¨neburg, Halle und Werl in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit (StF A 77), Ko¨ln u. a. 2010. 9 Unter zahlreichen neueren Arbeiten seien folgende Sammelba¨nde genannt: Kirche, Ma¨rkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsra¨ume in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Renate Du¨rr/Gerd Schwerhoff (Zeitspru¨nge 9, 6/4), Frankfurt 2005; Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Christian Hochmuth/Susanne Rau (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 13), Konstanz 2006; Urban Space in the Middle Ages and the Early Modern Age, hg. v. Albrecht Classen (Fundaments of Medieval and Early Modern Culture 4), Berlin 2009; Sta¨dtische Ra¨ume im Mittelalter, hg. v. Susanne Ehrich/Jo¨rg Oberste (Forum Mittelalter – Forum 5), Regensburg 2009; Ordnungen des sozialen Raumes. Die Quartieri, Sestieri und Seggi in den fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten Italiens, hg. v. Grit Heidemann/Tanja Michalsky, Berlin 2012. 10 Solche Forschungen sind ha¨ufig wirtschaftshistorisch angelegt und/oder rekurrieren auf das Konzept der „Sta¨dtelandschaft“. Vgl. u. a. Sta¨dtelandschaft – Re´sau urbain – Urban Network. Sta¨dte im regionalen Kontext in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit, hg. v. Holger Th. Gra¨f/Katrin Keller (StF A 62),

Sta¨dtisches „Patriziat“ und regionaler Adel

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Da sich die Mechanismen „patrizischer“ Gruppenbildung, der Grad der Aristokratisierung urbaner Eliten sowie das Ausmaß der Konflikte mit sta¨dtischen und landadligen Akteuren – abha¨ngig von den konkreten Ausgestaltungen der Ratsverfassung, der Na¨he zum landesfu¨rstlichen Hof, aber auch der Verfasstheit der territorialen Ritterschaften – in den einzelnen Sta¨dten Mittel- und Norddeutschlands sehr unterscheiden konnten, ist eine generalisierende oder synthetisierende Behandlung des Themas beim gegenwa¨rtigen Forschungsstand unmo¨glich. Im Folgenden ko¨nnen daher nur einige exemplarische Beobachtungen vorgenommen werden, die eher den Charakter von Sondierungen im Hinblick auf einzelne, in Zukunft noch genauer auszuleuchtende Pha¨nomene besitzen. Dabei werde ich zuna¨chst einen sehr knappen ¨ berblick zum fru¨hneuzeitlichen „Patriziat“ in mittel- und norddeutschen LandU sta¨dten geben (1.), sodann nach der Verortung des Sta¨dtischen innerhalb der Erinnerungskonzeptionen „patrizischer“ Familien fragen (2.) und schließlich den Umgang mit sta¨dtischen Ra¨umen und Orten im Prozess der Aristokratisierung am Beispiel der westfa¨lischen Salzstadt Werl (3.) thematisieren.

I. „Patrizische“ Gruppen zwischen Bu¨rgerschaft und Adel

Die Frage, ob es in der Vormoderne in den norddeutschen (Hanse-)Sta¨dten ein Patriziat gegeben habe, ist vor etlichen Jahrzehnten kontrovers diskutiert worden. Am pointiertesten war die Ablehnung dieses Terminus durch Ahasver von Brandt, der das Wort Patriziat als einen „Schwammbegriff ohne jeden greifbaren Inhalt“ bezeichnete. Im Gegensatz zu den su¨ddeutschen Reichssta¨dten wie Nu¨rnberg, Augsburg oder Ulm, wo sich ein sozial abgeschlossener und zum Geburtsstand verdichteter „Stadtadel“ ausgebildet habe, sei fu¨r die hansische Sta¨dtelandschaft „kein ‚Patriziat‘ in irgend einem vertretbaren Wortsinn“ festzustellen; lediglich eine offene, „o¨rtlich wie sta¨ndisch durchaus mobile Oberschicht“ ko¨nne nachgewiesen werden.11 Abgesehen davon, dass von Brandt in seinen Ausfu¨hrungen das Leistungsprinzip als modernes bu¨rgerliches Leitbild bereits in „seinen“ vormodernen Hansesta¨dten stark akzenKo¨ln u. a. 2004; Sta¨dtelandschaften im Ostseeraum im Mittelalter und in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Roman Czaja/Carsten Jahnke, Torun´ 2009; Zwischen Stadt und Land. Wirtschaftsverflechtungen von la¨ndlichen und sta¨dtischen Ra¨umen in Europa 1300–1600, hg. v. Markus Cerman/Erich Landsteiner, Innsbruck u. a. 2010. 11 Ahasver von Brandt, Die Stadt des spa¨ten Mittelalters im hansischen Raum, in: HansGbll 96 (1978), S. 1–14, hier S. 9f. Zur Diskussion um dieses Thema vgl. auch Gebhard von Lenthe, Das Patriziat in Niedersachsen, in: Deutsches Patriziat 1430–1740, hg. v. Hellmuth Ro¨ssler (Schriften zur Problematik der deutschen Fu¨hrungsschichten in der Neuzeit 3), Limburg/Lahn 1968, S. 157–194; CarlHans Hauptmeyer, Niedersa¨chsische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im hohen und spa¨ten Mittelalter (1000–1500), in: Geschichte Niedersachsens, Bd. II, 1, hg. v. Ernst Schubert, Hannover 1997, S. 1041–1319, hier S. 1250; Ju¨rgen Ellermeyer, Zur Sozialstruktur spa¨tmittelalterlicher Sta¨dte. Ein Ru¨ckblick auf Ansa¨tze, Erfolge und Probleme der Forschung in Deutschland, in: Die Sozialstruktur und Sozialtopographie vorindustrieller Sta¨dte, hg. v. Matthias Meinhardt/Andreas Ranft (Hallische Beitra¨ge zur Geschichte des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit 1), Berlin 2005, S. 17–34.

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tuierte und dabei die Mo¨glichkeit sozialen Aufstiegs durch talentierte und tu¨chtige Ma¨nner wohl u¨berbewertete, unterschla¨gt eine solche Sichtweise den Sachverhalt, dass „Patriziat“ als Repra¨sentation sozialer Ordnung in vielen Sta¨dten Norddeutschlands in der Fru¨hen Neuzeit weit verbreitet war und daher auch vom Historiker ernst genommen werden sollte. ¨ bernahme des Titels „Patrizier“ durch Angeho¨riger sta¨dtischer Eliten, die Die U im Laufe des 16. Jahrhunderts vielerorts belegbar ist, verweist auf neue sta¨ndische Selbstbilder, die sich bis zur zweiten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts immer mehr durchzusetzen vermochten. In der Chronistik wurde eine semantische Neuordnung der Stadtbevo¨lkerung in „Patrizier“ und „Plebejer“ als Narrativ zur Beschreibung von Stadtkonflikten – auch in der Ru¨ckprojektion in das Mittelalter – genutzt.12 Ratsherren und Bu¨rgermeister erhielten in ihren gedruckten Leichenpredigten ebenso wie in den Inschriften ihrer Grabdenkma¨ler immer ha¨ufiger das Epitheton „Patrizier“.13 Ihre So¨hne schrieben sich mit dem Zusatz Patricius in die Matrikeln der Universita¨ten ein und tauchten spa¨ter mit dem gleichen Attribut in Einwohnerverzeichnissen und Besteuerungslisten auf.14 Auch in die sta¨dtischen Rechtstexte, vor allem die Aufwands- und Policey-Ordnungen, fand das neue sta¨ndische Ordnungsmodell immer o¨fter Eingang. Dabei zeigt sich, dass durch diesen Prozess das Kriterium der Abstammung fu¨r die soziale Positionierung merklich aufgewertet wurde. Erfolgte etwa in vielen Kleiderordnungen der Zeit um 1500 die Zuordnung zu den einzelnen „Klassen“ unter Zugrundelegung der Steuerleistung der Bu¨rger, trat vor allem im 17. Jahrhundert die Frage der familia¨ren Herkunft deutlich sta¨rker neben Begru¨n¨ mter) und Vermo¨gen basierdungen der Standesunterschiede, die auf Funktionen (A ten. So geho¨rten in Quedlinburg zu der Gruppe, welcher der gro¨ßte Kleideraufwand gestattet war, ab 1666 nicht nur die Bu¨rgermeister und Ratsherren, sondern auch diejenigen, die solchen Personen im ersten und andern gliedt entsproßen, daverne sie nicht aus ihren stande und bedingung geheyratet hatten.15 In Braunschweig, Hanno12 So etwa in Lu¨neburg, vgl. Heiko Droste, Schreiben u¨ber Lu¨neburg. Wandel von Funktion und

Gebrauchssituation der Lu¨neburger Historiographie (1350–1639) (VHKomNds 195), Hannover 2000; Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 90–101. 13 Fu¨r die Leichenpredigten vgl. zahlreiche Beispiele in Fritz Roth, Restlose Auswertungen von Leichenpredigten und Personalschriften fu¨r genealogische und kulturhistorische Zwecke, 10 Bde., Boppard/Rhein 1959–1980; Die Leichenpredigten des Stadtarchivs Braunschweig, bearb. v. Gustav Fru¨h u. a., 10 Bde., Hannover 1976–1990; in der Analyse fu¨r eine Stadt exemplarisch: Hermann Mitgau, Einbecker Patriziat des 16./17. Jahrhunderts im Lichte seiner Leichenpredigten, in: Einbecker Jahrbuch 29 (1970), S. 37–51. Fu¨r die Grabdenkma¨ler (bis 1650) kann auf die Reihe „Die deutschen Inschriften“ verwiesen werden, in der auch zahlreiche mittel- und norddeutsche Landsta¨dte erfasst sind. 14 Auch hierfu¨r nur exemplarische Belege: Peter Baumgart, Die Anfa¨nge der Universita¨t Helmstedt im Spiegel ihrer Matrikel (1576–1600), in: BrschwJb 50 (1969), S. 5–32, hier S. 19; Die Kopfsteuerbeschreibungen der Stadt Braunschweig von 1672 und 1687, bearb. v. Heinrich Medefind (VHKomNds 221), Hannover 2004. 15 Abdruck der Quedlinburger Kleiderordnung von 1666 in: Quellen zur sta¨dtischen Verwaltungs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte von Quedlinburg vom 15. Jahrhundert bis zur Zeit Friedrichs des Großen, Teil 1: Baurdinge nebst sonstigen obrigkeitlichen Verordnungen und Abmachungen, bearb. v. Hermann Lorenz (GQProvSachs 44), Halle 1916, S. 378f. In den vorherigen Policey- und Kleiderordnungen von 1591, 1630 und 1661 (ebd. S. 245–247, 301–303 und 377f.) taucht diese Formulierung noch nicht auf.

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ver, Hildesheim, Lu¨neburg und andernorts entstanden Kleider- und Hochzeitsordnungen, in denen ein zunehmend als heredita¨re Gruppe verstandenes „Patriziat“ als eigensta¨ndige Rangkategorie erscheint.16 Verschiedene Konflikte innerhalb der Stadtgesellschaft um visuelle Hervorhebungen (Kleidung, Kutschen, Vorgang) zwischen „Patriziern“ und anderen Gruppen, vor allem in der zweiten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts, belegen den Erfolg einer „patrizischen“ Gruppenbildung sowie die Wirkma¨chtigkeit symbolischer Abgrenzungen innerhalb dieses Prozesses.17 Die intensive Betonung von Herkunft und Abstammung als Rangmerkmal sta¨dtischer Eliten la¨sst sich auch in anderen Medien der Repra¨sentation sozialer Ordnung beobachten. Geburtssta¨ndische Selbstvergewisserungen ko¨nnen etwa besonders eindru¨cklich im Bereich der Funeralkultur studiert werden: Grabsteine und Epitaphien der „Patrizier“ in den sta¨dtischen Kirchen griffen hin und wieder auf ein Gestaltungselement zuru¨ck, das seit dem ausgehenden Mittelalter im ritterschaftlichen und fu¨rstlichen Grabmalswesen als Distinktionsmerkmal diente: die heraldische Ahnenprobe.18 Auch in den gedruckten Leichenpredigten wurden zusa¨tzlich zum Lebenslauf der „patrizischen“ Verstorbenen deren Vorfahren in va¨terlicher und mu¨tterlicher Linie aufgeza¨hlt oder gar – wie beispielsweise in Lu¨neburg bei Georg von Dassel (1599–1657), Richel Dorothea von Laffert geb. Sto¨terogge (1639–1668) und Ursula Reimer geb. von Do¨ring (1664–1697) – in grafischen Darstellungen bis zur vierten oder fu¨nften Ahnengeneration abgebildet (vgl. Abb. 1).19 16 Vgl. Werner Spiess, Der Stand der Geschlechter und der Stand der weißen Ringe. Das Problem „Patri-

ziat und Honoratiorentum“ in der Stadt Braunschweig im 16. und 17. Jahrhundert, in: Braunschweigisches Jahrbuch 30 (1949), S. 65–80; Anne-Kathrin Reich, Kleidung als Spiegelbild sozialer Differenzierung. Sta¨dtische Kleiderordnungen vom 14. bis zum 17. Jahrhundert am Beispiel der Altstadt Hannover (QDNds 125), Hannover 2005; Johannes Gebauer, Geschichte der Stadt Hildesheim, Bd. 2, Hildesheim u. a. 1924, S. 179; Christian Plath, Hildesheimer Hochzeitsordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts als sozialgeschichtliche Quelle, in: Die Dio¨zese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 72 (2004), S. 427–460; Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 220–223. 17 Vgl. beispielsweise August Jugler, Aus Hannovers Vorzeit. Ein Beitrag zur deutschen CulturGeschichte, Hannover 1883, S. 233–235. Zur sozialen Logik von Rangkonflikten, die freilich auch zwischen anderen sta¨dtischen Gruppen im genannten Zeitraum nachweisbar sind, ist in letzter Zeit versta¨rkt gearbeitet worden, vgl. u. a. Thomas Weller, Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der fru¨hneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500–1800 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2006; Marian Fu¨ssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universita¨t der Fru¨hen Neuzeit (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2006; Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 185–214. 18 Fu¨r Beispiele aus Einbeck, Hameln, Hannover und Hildesheim vgl. Michael Hecht, „Nobiles Urbani“. Konzeptionen von Stadtadel zwischen Diskurs und Praxis in niedersa¨chsischen Sta¨dten der Fru¨hen Neuzeit, in: Niedersa¨chsisches Jahrbuch fu¨r Landesgeschichte 84 (2012), S. 171–196, hier S. 187–191. Grundsa¨tzlich ders., Ahnenproben in der Funeralkultur der Fru¨hen Neuzeit, in: Annales de l’Est 62 (2012), S. 161–183. 19 Peter Rehbinder, Gottes Theurer Sohn, und trautes Kind, Das ist Eine einfa¨ltige Erkla¨rung des Geistund Trostreichen Spruchs Jer. 31. 20. ... Zu schuldigem Ehren-Geda¨chtniß Des ... Georg von Dassel Fu¨rnehmen Su¨lfftmeisters in Lu¨neburg ..., Hamburg 1657; ders., Visio Apocalyptica, Das ist: Ein Fu¨rbild des Ju¨ngsten Gerichts ... Zum Christlichen Ehren-Geda¨chtniß, Der Weiland Wol-Edlen und Hoch-Tugendreichen Frawen, Fr. Richel Dorothea, gebornen Sto¨teroggen, Des Wol-Edlen, Vesten, und Hochweisen Herrn H. Hieronymi von Lafferdt, Wolverdienten Bu¨rgermeisters der Stadt Lu¨neburg ... Ehegemahlinn ..., Lu¨neburg 1669; Lu¨der Westing, Der sich zu Gott haltenden Gla¨ubigen Herrlichkeit, Welche Der Weyland Hoch-Edel-Gebohrnen Frauen, Frauen Ursula von Do¨ring, Herrn

Abb. 1: Leichenpredigt des Georg von Dassel aus dem Jahr 1657 (mit Darstellung der Ahnentafel)

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Daran zeigt sich, dass auch bei den Stadtbu¨rgern das Wissen um die Abstammung zunehmend wichtiger und der Imitation adliger Praktiken ein ehrvergro¨ßerndes Potential zugeschrieben wurden. Hieraus ließen sich ohne Zweifel Impulse fu¨r eine Aristokratisierung ableiten, die als neu anzusehen sind. Denn die Frage nach der Nobilita¨t der sta¨dtischen Familien stellte sich im Mittelalter in der Regel noch nicht. Angeho¨rige vieler Ratsgeschlechter konnten auf der einen Seite Lehngu¨ter erwerben und Heiratsbeziehungen mit den ritterschaftlichen Familien des Landes unterhalten, auf der anderen Seite als Stadtbu¨rger, Kaufleute und Repra¨sentanten ihrer Gemeinde auftreten, ohne dass hierfu¨r eine dezidierte Zuschreibung von Adligkeit notwendig ¨ bergangszone zwischen Nicht-Adel und war. Mitunter bewegten sie sich in jener U Adel, die je nach Kontext eine flexible Zuordnung ermo¨glichte.20 Dies a¨nderte sich vor allem seit dem 17. Jahrhundert, also jener Zeit, in der die Juridifizierung von Standeszugeho¨rigkeit durch Rang- und Pra¨zedenzrecht den Zwang zu einer exakten sta¨ndischen Verortung bzw. Selbstverortung nach sich zog.21 Sowohl die sta¨ndische Ausdifferenzierung innerhalb der Sta¨dte als auch die Abschließungstendenzen der ritterschaftlichen Korporationen im Territorium machten es zunehmend schwerer, Grenzen zu u¨berschreiten und beispielsweise zwischen der Spha¨re des sta¨dtischen Kaufmanns und der des adligen Kavaliers zu changieren. Zugleich bot die wachsende geburtssta¨ndische, auf Herkunft und Abstammung abzielende Konzeption des „Patriziats“ Anschlussmo¨glichkeiten an den Adelsdiskurs und sorgte vielfach fu¨r eine (Selbst-)Zuschreibung von Nobilita¨t an die sta¨dtischen Eliten.22

II. Memorialra¨ume des „Patriziats“

In welcher Weise kann in den Erinnerungskonzeptionen der sta¨dtischen Geschlechter wa¨hrend der „patrizischen“ Aristokratisierung eine Verortung im Raum des Urbanen oder des Supraurbanen nachgewiesen werden?23 Auffa¨llig ist, dass im Tobia¨ Reimers ... Ehe-Frauen ... Zum Geda¨chtniß und Nachruhm Vorgestellet, Lu¨neburg 1697. Allgemein zu Ahnenproben in der vormodernen Funeralkultur vgl. Harding/Hecht, Ahnenproben (wie Anm. 4), S. 44–55; zu den erwa¨hnten Lu¨neburger Familien vgl. Hans-Ju¨rgen von Witzendorff, Stammtafeln Lu¨neburger Patriziergeschlechter, Go¨ttingen 1955. 20 Vgl. mehrere Beitra¨ge in: Zwischen Nicht-Adel und Adel, hg. v. Kurt Andermann/Peter Johanek (VuF 53), Stuttgart 2001. 21 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der fru¨hen Neuzeit, in: ZHF 28 (2001), S. 385–418; Maren Bleckmann, Rang und Recht. Zur juristischen Austragung von Rangkonflikten im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. phil. Mu¨nster 2003. 22 Der Stadtadelsdiskurs hatte seinen sozialen Ort vorwiegend in den su¨ddeutschen Reichssta¨dten, wurde aber auch im Norden des Reiches aufgenommen, vgl. beispielsweise Joachim Meier, Dransfeldiana Memoriae Viri Nobilissimi & Consultissimi Dn. Bernhardi Thilonis a Dransfeldt I. U. L. Patricii Go¨ttingensis ... Sive De Patriciis Germanicis ... Dissertatio, Go¨ttingen 1698; Johann Michael von Loen, Der Kaufmanns-Adel, in: ders., Kleine Schriften, Teil 3, Frankfurt u. a. 1751, S. 308–386; ders, Der Adel, Ulm 1752, S. 44–49. 23 Einige der folgenden Beobachtungen finden sich bereits bei Hecht, „Nobiles Urbani“ (wie Anm. 18), S. 181–184.

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16. Jahrhundert noch weitgehend die Stadt den Bezugsraum abgab. Sehr plastisch la¨sst sich dies an den kollektiven Herkunftserza¨hlungen beobachten, die sich in den „Patriziaten“ zahlreicher mittel- und norddeutscher Sta¨dte stark a¨hnelten. Ein zentrales Motiv hierin war ein Ursprungsmythos, der adlige Abstammung, urbane Lokalisierung und ko¨nigliche Privilegierung miteinander verband. Dazu erfuhr eine Erza¨hlung aus der im 10. Jahrhundert entstandenen „Sachsengeschichte“ Widukinds von Corvey, Ko¨nig Heinrich I. habe zum Schutz gegen die Ungarn jeden neunten Mann aus dem Lande auf die Burgen gezogen (ex agrariis militibus nonum quemque eligens in urbibus habitare fecit), eine sinnfa¨llige Umdeutung: Der Ko¨nig (oft auch als Kaiser Heinrich bezeichnet) habe die Fa¨higsten aus dem Landadel in die Sta¨dte geschickt und damit das „Patriziat“ als besonderen Stand eingesetzt. Diese Vorstellung war in der norddeutschen Geschichtsschreibung schon im 16. Jahrhundert verbreitet und wurde anschließend weiter ausgeschmu¨ckt. Leonhard Elver (1564–1631), ein Lu¨neburger „Patrizier“, Bu¨rgermeister und Historiograph, stellte die Begebenheit zu Beginn des 17. Jahrhunderts beispielsweise folgendermaßen dar: Von solchen Ordine Patriciorum ist dieses alhier zu berichten, wie derselbe vorhin vom Henrico Aucupe in den Sa¨chsischen Sta¨dten heillsahmlich angeordnet, also ist er auch in dieser Stadt, so bald dieselbe etwas in Auffnehmen gerathen, introduciret worden. Vorgedachter lo¨bl. Kayser hat Anno 924 die Ungarn an der Elbe geschlagen, weill er aber gedacht, wie er ihren Lande verderblichen Einfall und Durchzuge insku¨nfftige begegnen wolte, liess er die Sta¨dte in Sachsen befestigen, schafft Bu¨rger in Waffen und dass der neunte Mann vom Lande in die Stadt ziehen und sich nebst den Bu¨rgern in Waffen u¨ben, auch die vermo¨gendesten Pferde halten mu¨ssen. Die sich nun am besten in solchen exercitiis militaribus bewiesen, wurden den andern vorgezogen, mit sonderlichen Privilegien und Begnadungen, alss mit Schild und Helm Wehren zu tragen, und dergleichen mehr praeeminentz begabet, und die Edle Bu¨rger genennet, dahero sind die Patricii und Geschlechter in Sta¨dten kommen.24 Ein Jahrhundert spa¨ter wiederholte der Lu¨neburger Geschichtsschreiber Johann Heinrich Bu¨ttner (1666–1746) diesen Ursprungsmythos und pra¨zisierte ihn an verschiedenen Stellen. So war es fu¨r ihn eine unfehlbahre Warheit, daß die itzlebenden Familien des Patriziats per successionem haereditariam mit den einst vom Kayser Henrico in Lu¨neburg stabilirte(n) Geschlechter(n) in Verbindung stehen wu¨rden.25 Auch in anderen Sta¨dten, beispielsweise in Go¨ttingen und Braunschweig26, rezipierte man die auf Widukind zuru¨ckgehende Einsetzungsgeschichte und zog in a¨hnlicher Weise Verbindungslinien zwischen den Vorga¨ngen des 10. Jahrhunderts und den 24 StadtA Lu¨neburg, AB 1132 I, Bd. 1, S. 31f. 25 Johann Heinrich Bu ¨ ttner, Genealogiae oder Stamm- und Geschlecht-Register der vornehmsten

Lu¨neburgischen Adelichen Patricien-Geschlechter, so theils annoch vorhanden, theils vor etlichen und vielen Jahren ausgegangen sind, Lu¨neburg 1704. Zum Autor und seinem Werk vgl. auch Johannes W. E. Bu¨ttner, Leben und Wirken des Lu¨neburger Historikers Johann Heinrich Bu¨ttner (1666–1746), in: Lu¨neburger Bla¨tte 7/8 (1957), S. 101–116; Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 93–101. 26 Nachweise bei Hecht, „Nobiles Urbani“ (wie Anm. 18), S. 182.

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Patrizierfamilien der Fru¨hen Neuzeit. Eine solche Erinnerungskonzeption war nicht nur in der Chronistik, sondern auch bei den sta¨dtischen Geschlechtern selbst pra¨sent. In der Urkunde, mit welcher Kaiser Rudolf II. 1596 der hannoverschen Familie von Anderten ihren Adel besta¨tigte, wurde etwa ausgefu¨hrt, dass der Empfa¨nger des Diploms aus den Chronichen, seinen Uhrkunden und sonsten glaubwu¨rdiglich dargethan, das unnser Ho¨chstgeerter Vorfahr am Reich Kayser Heinrich christseligster Geda¨chtnu¨ß seinen Uranel von Anderten, nebst den von Lu¨de, von Wintheim und andern Sta¨de Geschlechtern im Jahr 924 zu den Ritterspielen gerechnen lassen, selbst darin geu¨bt und den Adel gleich gehalten habe.27 Fu¨r die alten Familien in den Sta¨dten bestand somit die Mo¨glichkeit, sich unabha¨ngig von den individuellen Genealogien auf eine gemeinsame fundierende Geschichte zu beziehen, die Aspekte der edlen Abkunft, der Tapferkeit und Ritterlichkeit als adlige Tugenden, der urbanen Lebensfu¨hrung sowie den Verweis auf das Reichsoberhaupt als der entscheidenden Autorita¨t in Sta¨ndefragen in der Fru¨hen Neuzeit miteinander verband. „Patriziat“ als Erinnerungsgemeinschaft war auf diese Weise eng mit der Stadt und ihrer Geschichte verbunden. Die Gemeinsamkeit der Abstammungsmythen mit der Verortung im urbanen Raum scheint sich seit der zweiten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts jedoch zunehmend aufgelo¨st zu haben. Fu¨r die Erreichung des Ziels, Adligkeit zu akkumulieren, standen den „patrizischen“ Familien durchaus unterschiedliche Strategien zu Verfu¨gung. In einigen Sta¨dten, vor allem solchen mit einer stark fu¨rstenkritisch-republikanischen Tradition, wurde die Idee eines genuinen „Stadtadels“ (nobilitas urbana) weiterhin gepflegt und in ihrer besonderen Dignita¨t insbesondere gegenu¨ber nobilitierten Aufsteigern verteidigt.28 Andernorts, nicht selten in Residenzsta¨dten, orientierten sich die fu¨hrenden Familien in steigendem Maße am Hof- bzw. Fu¨rstendienst und versuchten, oft unterstu¨tzt durch fo¨rmliche Adelsverleihungen oder Adelskonfirmationen, Anschluss an den Amtsadel zu finden.29 Eine weitere Option fu¨r „patrizische“ Geschlechter bestand darin, die Gleichrangigkeit mit den ritterschaftlichen Familien zu behaupten und sich somit am alten landsa¨ssigen Adel zu orientieren. Auch wenn die Angeho¨rigen des „Patriziats“ ihre Sta¨dte zuna¨chst noch nicht oder zumindest nicht vollsta¨ndig verließen und ha¨ufig auch noch weiterhin in den sta¨dtischen Ratsgremien pra¨sent blieben, la¨sst sich doch eine allma¨hliche Entgrenzung, eine Loslo¨27 Friedrich Christian August von Meding, Nachrichten von adelichen Wappen, Teil 2, Weißenfels/

¨ hnliche Formulierungen finden sich beispielsweise in Braunschweig fu¨r die Leipzig 1788, S. 17f. A Familien von Broitzem, Vechelde und Broistede, in Lu¨neburg fu¨r die von Laffert, vgl. Hecht, „Nobiles Urbani“ (wie Anm. 18), S. 182f. 28 Fu¨r Lu¨neburg vgl. mit weiteren Nachweisen Michael Hecht, Wie man vom „Bu¨rger“ zum „Patrizier“ wurde. Sozialer Aufstieg und sta¨ndische Exklusivita¨t in der fru¨hneuzeitlichen Stadt – das Beispiel Lu¨neburg, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2011 (online: www.kunstgeschichte-ejournal.net/128/). 29 In diesen Fa¨llen scheint nicht nur der Begriff der „Beamtenaristokratie“ (vgl. Schilling, Wandlungsprozesse [wie Anm. 7], S. 128f.), sondern auch der Terminus „Staatspatriziat“ passend, den Joachim Lampe in Ansehung der Funktionen und Verwandtschaftsbeziehungen fu¨r die territorialen Eliten Kurhannovers unterhalb des Hofadels in die Forschungsdiskussion eingebracht hat, vgl. Joachim Lampe, Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover. Die Lebenskreise der ho¨heren Beamten an den kurhannoverschen Zentral- und Hofbeho¨rden 1712–1760, 2 Bde., Go¨ttingen 1963.

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sung des Selbstversta¨ndnisses vom urbanen Raum beobachten. Damit steht auch in Verbindung, dass die Maxime des publizistischen Adelsdiskurses, dass Kaufmannschaft keine adelsada¨quate Ta¨tigkeit sei, zum Wandel der o¨konomischen Einstellungen in vielen „Patrizierfamilien“ fu¨hrte und ihnen damit die Tu¨r zu neuen Handlungs- und Kommunikationsra¨umen o¨ffnete.30 Die Abkehr von der Stadt la¨sst sich auch eindru¨cklich auf dem Feld der Erinnerung nachweisen. Berichteten beispielsweise die „Patrizier“ der Stadt Werl im Herzogtum Westfalen von den großen Taten ihrer Vorfahren, so stellten sie nach 1650 ¨ mtern, sondern die Verwenimmer seltener die Ta¨tigkeit in den hohen sta¨dtischen A dung in Kriegsdiensten fu¨r verschiedene Fu¨rsten heraus, und deuteten nun auch das Wappenzeichen der „patrizischen“ Korporation der Erbsa¨lzer, welches Gera¨te zur Salzherstellung zeigte, als instrumenta bellica, mit denen sich die Ahnen besondere Meriten erworben ha¨tten.31 Auch wa¨hrend der Standesauseinandersetzung der sogenannten Erbma¨nner in Mu¨nster verwiesen diese gegenu¨ber Domkapitel und Ritterschaft darauf, dass ihre Vorfahren und Verwandten neben andern Ritterbu¨rtigen mit Harnisch, Spiesen und Dienern milita¨risch hervorgetreten seien und daru¨ber hinaus prestigereiche Karrieren im Fu¨rstendienst vorzuweisen ha¨tten.32 In den genealogischen Herkunftsmythen ru¨ckte im spa¨ten 17. und im 18. Jahrhundert der urbane Hintergrund der Familiengeschichten auch andernorts immer mehr zugunsten einer vermeintlich „lupenreinen“ adligen Abstammung in den Hintergrund. Die Hildesheimer Familie Brandis, die im 16. und fru¨hen 17. Jahrhundert noch stolz auf ihre sta¨dtischen Wurzeln war33, konstruierte spa¨testens im 18. Jahrhundert genealogische Verbindungen zu gleichnamigen, im Mittelalter bei Leipzig ansa¨ssigen Landadligen, und ließ sich 1769 in einem kaiserlichen Adelsdiplom eine ¨ hnliches kann man bei der Goslarer „Patrientsprechende Herkunft verbriefen.34 A 30 Zur Diskussion um standesgema¨ße Nahrung vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Handelsgeist und

Adelsethos. Zur Diskussion um das Handelsverbot fu¨r den oberdeutschen Adel vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: ZHF 15 (1988), S. 273–309. Die Abkehr von Handelsgescha¨ften bei Familien des „Patriziats“ in Norddeutschland la¨sst sich in vielen Fa¨llen belegen, vgl. exemplarisch Werner Spiess, Von Vechelde. Die Geschichte einer Braunschweiger Patrizierfamilie (Werkstu¨cke aus Museum, Archiv und Bibliothek der Stadt Braunschweig 13), Braunschweig 1951, S. 112ff. 31 Das Zitat nach StadtA Werl, Sc I, 18, Bl. 8. Vgl. auch Friedrich v. Klocke, Das Wappenwesen der Erbsa¨lzer von Werl, in: Westfalen 26 (1941), S. 49–62. 32 Justitia pressa, non oppressa ... in Causa famosa Mu¨nsterischer Herrn Statthalter und Ra¨then, und Consorten, contra Die Mu¨nsterische Erbma¨nner ..., o. O. 1685, S. 15f. Zum langanhaltenden Streit der Erbma¨nner mit dem westfa¨lischen Stiftsadel vgl. auch Wolfgang Weikert, Erbma¨nner und Erbma¨nnerprozesse. Ein Kapitel Mu¨nsterscher Stadtgeschichte, Mu¨nster 1990; Rudolfine von Oer, Der Mu¨nsterische „Erbma¨nnerstreit“. Zur Problematik von Revisionen reichskammergerichtlicher Urteile (Quellen und Forschungen zur ho¨chsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 32), Ko¨ln u. a. 1998; Marcus Weidner, Landadel in Mu¨nster 1600–1760. Stadtverfassung, Standesbehauptung und Fu¨rstenhof (QFGMu¨nst NF 18), Mu¨nster 2000; Elizabeth Harding, Landtag und Adligkeit. Sta¨ndische Repra¨sentationspraxis der Ritterschaften von Osnabru¨ck, Mu¨nster und Ravensberg 1650–1800 (Westfalen in der Vormoderne 10), Mu¨nster 2011. 33 Vgl. die bekannten „Diarien“, die auch Abstammungsinformationen enthalten: Henning Brandis’ Diarium. Hildesheimsche Geschichten aus den Jahren 1471–1528, hg. v. Ludwig Ha¨nselmann, Hildesheim 1896; Joachim Brandis’ des Ju¨ngeren Diarium, erga¨nzt aus Tilo Brandis’ Annalen, 1528–1609, hg. v. Max Buhlers, Hildesheim 1902. 34 In die Nobilitierungsurkunde wurde der Passus aufgenommen, dass die Familie von dem alten Sa¨chsischen Adelichen Geschlecht derer Brandis zu Brandis und Machern abstamme, welches zu Ende des

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zierfamilie“ von Uslar (Ußler) beobachten. Noch in der Leichenpredigt auf Catharina geb. von Uslar (1557–1624) findet sich lediglich mitgeteilt, dass ihr Vater Heinrich zu den edelsten Angeho¨rigen des seit 300 Jahren in der Stadt Goslar ansa¨ssigen Geschlechts dieses Namens geho¨re. Die Leichenpredigt auf ihren Neffen Friedrich Franz von Uslar (1591–1653) weiß hingegen zu berichten, dass die Familie von einem ro¨mischen Adligen Uslarius de Doro Campo abstamme, dessen Nachkommen in verschiedenen Orten Niedersachsens Rittergu¨ter erwerben konnten.35 Ganz bewusst knu¨pfte man damit an die Herkunftslegende des benachbarten ritterschaftlichen Geschlechts der Freiherren von Uslar-Gleichen an, die seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts den vermeintlich zur Zeit des Kaisers Augustus aus Rom geflohenen Uslarius de Dorocampo als Stammvater erinnerte.36 Die Groß Salzer Familie Becker hatte schon um 1600 eigenma¨chtig ihren Namen, dessen Klang wenig aristokratisch war, in „von Wu¨stenhoff“ gea¨ndert, und stellte sich auf diese Weise in die Tradition eines la¨ngst ausgestorbenen ritterschaftlichen Geschlechts.37 Diese und a¨hnliche „Ansippungen“ der sta¨dtischen Geschlechter an landadlige Familien belegen, dass fu¨r die Generierung von Adligkeit die genuin urbanen Vergangenheiten, die Verortung in einem sta¨dtischen Erinnerungsraum, ha¨ufig nicht mehr als ausreichend empfunden wurden und daher aufgebessert werden sollten. Allerdings war es nicht selbstversta¨ndlich, mit solchen Konstruktionen beim Landadel auf Akzeptanz zu stoßen. Ha¨ufig blieb fu¨r die ritterschaftlichen Familien die Nobilita¨t der „Patrizier“ suspekt und es wurden sta¨ndische Grenzziehungen vorgenommen, durch welche die Unterschiedlichkeit der Herkunft und damit auch der Positionierung im sozialen Gefu¨ge bekra¨ftigt wurden.38

dreyzehnten Jahrhunderts durch Curdt Brandis nach Hildesheim mit Siegfried dem Andern einen Grafen von Querfurt und Bischoffen zu gedachten Hildesheim gekommen sei, vgl. den Abdruck des Diploms in: Archiv fu¨r Geschichte und Genealogie, hg. v. Boldwin von dem Knesebeck, Bd. 1, Hannover 1842, S. 200–204, sowie die genealogische Herleitung der Brandis aus Sachsen bei Johann Wilhelm Franz von Krohne, Allgemeines Teutsches Adels-Lexicon, Bd. 1, Lu¨beck 1774, Sp. 110f. Auch hannoversche „Patrizier“ behaupteten im 18. Jahrhundert, dass ihre Vorfahren im Mittelalter im Gefolge Hildesheimer Bischo¨fe nach Niedersachsen gekommen seien, vgl. etwa Eduard de Lorme, Die von Windheim. Ein Abriß mit Quellenangaben, in: Der Deutsche Herold 56 (1925), S. 77f. 35 Die Zitate nach: Leichenpredigten Braunschweig (wie Anm. 13), Bd. 9, Hannover 1985, S. 4260. Zur Familie in Goslar vgl. auch Vincenz v. Uslar/Rudolf v. Uslar, Chronik der Familie v. Uslar 1281–1987, Manuskr. 1987. 36 Vgl. Christoph Specht, Stambuch und Geschlecht Register Der HochAdelichen AltStammigen Junckern Von Ußlar, Wie dieselbe vor 1629 Jahren von einem fu¨rnehmen Edlen Ro¨mer Osselario de Dorocampo in Teutschlandt gezielet und entsprossen ..., Hildesheim 1636; Theodor Steinmetz, Ursprung und Fortgang, Leben und Thaten Des Vor Christi unsers Erlo¨sers Gebuhrt und Unruhe zu Rom gebohrnen glu¨ckselig und ruhigen Edlen Ro¨mers Ußlar von Dorocampo Und der Von ihm in Teutschland entsprossenen Herren von Ußlar, Go¨ttingen 1701. Kritisch zu dieser Ursprungslegende, aber eine genealogische Verbindung der freiherrlichen und der „patrizischen“ von Uslar noch bejahend: Edmund Frhr. v. Uslar-Gleichen, Beitra¨ge zu einer Familien-Geschichte der Freiherren von UslarGleichen, Hannover 1888. 37 Theodor Gu ¨ nther, Das Geschlecht von Wu¨stenhoff im Erzbistum Magdeburg, in: Mitteldeutsche Familienkunde 19 (1978), S. 465–478. Vergleichbare Umbenennungen finden sich auch andernorts. 38 Besonders eindru¨cklich im Mu¨nsterschen Erbma¨nnerstreit (vgl. Anm. 32), aber auch in den Distinktionsbemu¨hungen des Hofadels in Hannover gegenu¨ber dem „Staatspatriziat“, vgl. dazu Siegfried Mu¨ller, Leben in der Residenzstadt Hannover. Adel und Bu¨rgertum im Zeitalter der Aufkla¨rung, Hanno-

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III. Zum Umgang mit (supra)urbanen Ra¨umen und Orten: das Beispiel Werl

Der Prozess der Aristokratisierung des „Patriziats“ und die damit im Zusammenhang stehenden vera¨nderten Verortungen innerhalb des Memorialraumes fu¨hrten auch zu gewandelten Positionierungen innerhalb der Sta¨dte und damit zu neuen Formen der Raumbildung. Dies soll abschließend knapp am Beispiel der Salzstadt Werl im kurko¨lnischen Herzogtum Westfalen skizziert werden. Dort war die sich als „patrizisch“ verstehende Gruppe im Kollegium der sogenannten Erbsa¨lzer organisiert, das heißt sie umfasste alle Siedeberechtigten der sta¨dtischen Saline. Fu¨r die Ausu¨bung des Siederechts galt schon im Spa¨tmittelalter die Abstammung va¨terlicherseits von einem Siedeberechtigten als Bedingung; die Sa¨lzereigenschaft wurde also nur innerhalb eines kleinen Kreises von Familien von Generation zu Generation „im Mannesstamm“ vererbt. Ein geburtssta¨ndisch akzentuiertes Bewusstsein herausgehobener Stellung ist daher schon sehr zeitig nachweisbar – die fru¨hneuzeitlichen Erbsa¨lzer sahen sich als direkte patrilineare Nachkommen der vermeintlich von Kaiser Karl dem Großen mit der Saline belehnten Ma¨nner.39 Die vom Erbsa¨lzerkollegium pra¨tendierte sta¨ndische Sonderstellung fu¨hrte vor allem zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert zu zahlreichen Konflikten mit den anderen ratsfa¨higen Korporationen (Kaufherrenamt, Ba¨ckeramt, Bauleuteamt) sowie der u¨brigen Bu¨rgerschaft der Stadt.40 Die soziale Dynamik im sa¨lzerschaftlichen Selbstversta¨ndnis als sta¨ndisch exponierte Gruppe zeigte sich im Stadtraum zuna¨chst unter anderem an der versta¨rkten Herausstellung des Salinenareals als besonderen Bezirk. Der sogenannte Salzplatz im Nordwesten der Stadt (vgl. Abb. 2) wurde gewissermaßen zum Symbol fu¨r die sa¨lzerschaftlichen Pra¨tensionen. Er war nicht nur der Ort der eigentlichen Salzproduktion, sondern auch der Ort der „Aufschwo¨rungen“, das heißt des komplexen Initiationsrituals fu¨r die angehenden Sa¨lzer, dessen Kern die „Filiationsprobe“, der Nachweis der „echten und rechten“ Geburt des in die Korporation aufzunehmenden Sa¨lzersohnes und damit die Reproduktion des geburtssta¨ndischen Exklusivita¨tsanspruchs der Gruppe bildete.41 Und schließlich war der Salzplatz Ort eines eigensta¨ndigen

ver 1988; Carl-Hans Hauptmeyer, Die Residenzstadt, in: Geschichte der Stadt Hannover, Bd. 1, hg. v. Klaus Mlynek/Waldemar R. Ro¨hrbein, Hannover 1992, S. 137–264. 39 Vgl. Friedrich v. Klocke, Das Patriziatsproblem und die Werler Erbsa¨lzer (Geschichtliche Arbeiten zur westfa¨lischen Landesforschung 7), Mu¨nster 1965; Peter Johanek, Salz und Sa¨lzer, in: Werl. Geschichte einer westfa¨lischen Stadt, hg. v. Amalie Rohrer/Hans-Ju¨rgen Zacher, Paderborn 1994, Bd. 1, S. 135–159; Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 47–51, 64–57, 80–83, 109–117. 40 Dazu auch Rudolf Preising, Stadt und Rat zu Werl. Geschichtliche Untersuchungen u¨ber ihre Entstehung und Verfassung (Schriften der Stadt Werl A 9/10), Mu¨nster 1963; ders., Werl im Jahrhundert des Dreißigja¨hrigen Krieges (Schriften der Stadt Werl A 15/16), Mu¨nster 1975; Heinrich Josef Deisting, Erbsa¨lzer-Miniaturen. Aus der 750ja¨hrigen Geschichte der Werler Erbsa¨lzer, in: Werl gestern-heutemorgen 13 (1996), S. 7–28. 41 Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 144–149; Friedrich v. Klocke, Die gentilizische Gesinnung und der Filiationsbeweis mit Aufschwo¨rung beim Erbsa¨lzertum von Werl, in: Beitra¨ge zur westfa¨lischen Familienforschung 13 (1954), S. 33–49.

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Abb. 2: Werl um 1829 Quelle: Sammlung des IStG

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Gerichts, das unter Vorsitz des aus den Reihen der Erbsa¨lzer gewa¨hlten „Platzrichters“ die zum Salzwesen geho¨rigen Sachen verhandelte. Die Verteidigung eines rechtlichen Sonderstatus des Salzplatzes, also seine Exemtion aus der sta¨dtischen Jurisdiktion, kann zwar schon fu¨r das ausgehende Mittelalter nachgewiesen werden, sie erhielt jedoch seit dem 16. Jahrhundert eine neue Qualita¨t. Vor allem in den Jahrzehnten zwischen 1650 und 1690 wurde in zahlreichen Streitigkeiten um die Deutung der Funktionen des Salzplatzes und damit zugleich um die soziale Ordnung in der Stadt gerungen.42 Die konkreten Konfliktgegensta¨nde waren dabei durchaus vielfa¨ltig. Einen zentralen Punkt stellten die Jurisdiktionskompetenzen des Salzplatzgerichtes dar. Die Opponenten der Sa¨lzer argumentierten, es wu¨rden Sachen, so dem Saltzampt nicht anklebig seien, vor den Platzrichter gezogen, obwohl sie vor das kurfu¨rstliche Scho¨ffengericht oder das Stadtgericht (Magistrat) geho¨rten.43 Die unterschiedlichen Auslegungen der Zusta¨ndigkeiten betrafen nicht nur die Art der Delikte, sondern auch die vom Salzplatzgericht vorzuladenden Personenkreise.44 Durch die vermeintlichen Kompetenzu¨berschreitungen sah man nicht nur die Botma¨ßigkeit der Stadtobrigkeit verletzt, sondern auch die fiskalischen Rechte der Kommune geschma¨lert, denn die Sa¨lzer weigerten sich, die sonst dem Magistrat zukommende Ha¨lfte der Bru¨chten (Strafgelder) an die Stadt abzufu¨hren. Eine Verknu¨pfung rechtlicher und finanzieller Argumente zeigt sich auch in dem Vorwurf an die Sa¨lzer, sie wu¨rden die Immunita¨t des Salzplatzes nutzen, um mit Eisen, Kleidung und Brot zu handeln und somit die Marktprivilegien der Kaufleute und Ba¨cker zu unterlaufen. Umstritten waren auch die genauen Grenzen des Salzplatzes: Mehrere Erbsa¨lzer kauften im Laufe des 17. Jahrhunderts Haussta¨tten und Ga¨rten im Randbereich, deren Einbeziehung in den Sonderrechtsbezirk nicht unwidersprochen blieb.45 Ein besonders sichtbares Zeichen der Exponierung des Salinenareals stellte der Anspruch der Sa¨lzer auf die Verwendung deß also genanten Sa¨ltzerthurns auf dem Salzplatz dar, in welchen man Delinquenten eigenma¨chtig zu Wasser und Brodt setzen wollte, was von Seiten des Rates heftig angefochten wurde.46 In den Argumentationsweisen beider Seiten la¨sst sich deutlich erkennen, wie sehr die Bedeutungszuschreibungen hinsichtlich des Salzplatzes mit den sich versta¨rkenden sta¨ndischen Abgrenzungen innerhalb der Stadt verbunden waren. Wa¨hrend die

42 Die Konflikte sind in umfangreichen Akten des StadtAs Werl (Bestand Akten aus vorpreußischer Zeit

und Bestand Erbsa¨lzerarchiv) dokumentiert, vgl. vor allem B 31a IV 1; B 42 I 4ff.; B 42 I 20; Sc XVII 4; Sd VI 1ff. 43 Das Zitat nach StadtA Werl, Sc XVII 4, Bd. 1, Bl. 107. In diesem Fall ging es um eine Schla¨gerei zwischen mehreren Salzknechten und zwei Juden, die einige Wagen Salz fu¨r andere aufladen lassen wollten. 44 In den Augen des nicht sa¨lzerschaftlichen Teils des Stadtrats geho¨rten Delikte wie Schla¨gereien, Injurien und Diebstahl grundsa¨tzlich nicht vor das Platzgericht; auch wurden die Versuche der Sa¨lzer, die Jurisdiktionsrechte nicht nur auf die eigenen Korporationsmitglieder, sondern auch auf die Salzarbeiter, Diener der Sa¨lzer und sonstige am Salzplatz agierende Personen zu beziehen, angefochten. 45 Eine Aufstellung entsprechender Grundstu¨cke findet sich in StadtA Werl, Sc XVII 4, Bd. 1, Bl. 183f. 46 Ebd., Bl. 4.

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Erbsa¨lzer argumentierten, sie seien mit besonderen Privilegien und Freiheiten ausgestattet, die sie immediate anfanglich von dem Ro¨hmischen Kayser erhalten ha¨tten47, verwiesen die u¨brigen Korporationen auf das Ideal bu¨rgerschaftlicher Gleichheit und Einheit sowie auf die Stadtobrigkeit des Magistrats, der sich auch die Sa¨lzer zu unterwerfen ha¨tten. Die Streitigkeiten um den Salzplatz zeigten den Hochmuth der Sa¨lzer, die zu ihrem Privathnutzen zu appliciren sich unterstehen wolten. Sie versuchten zunehmend von Jahren zu Jahren sich zu eximiren, praeeminentiam zu suchen, in der Meinung, durch also praejudicirliche Eingriffe daß Ampt der Sa¨ltzer zuerho¨hen, die u¨brigen drey A¨mpter aber zu vergeringeren.48 Die Konflikte um den Stadtraum waren auf diese Weise Teil der mit den Mitteln symbolischer Kommunikation vorangetriebenen Aristokratisierung der Sa¨lzer, die auch bei anderen Praktiken, etwa der Ratswahl und den sta¨dtischen Prozessionen, die sta¨dtische Ordnung durcheinander brachte.49 Der Zusammenhang von behaupteter „Pra¨eminenz“ der Sa¨lzer und sta¨dtischen Raumbildungen wird auch an anderer Stelle deutlich, beispielsweise in der Entwicklung der innersta¨dtischen Ha¨user und Ho¨fe der Sa¨lzer, die oftmals durch Zukauf angrenzender Haussta¨tten zu weitla¨ufigen Anwesen erweitert und repra¨sentativ ausgestattet wurden.50 Die innersta¨dtische Haushaltsfu¨hrung geriet allerdings zunehmend in Konkurrenz zu anderen Lebensformen, die sich sta¨rker am landsa¨ssigen (ritterschaftlichen) Adel orientierten, der fu¨r die Sa¨lzer seit der zweiten Ha¨lfte des 17. Jahrhunderts immer mehr das Leitbild fu¨r die soziale Selbstverortung abgab. Wichtig war in diesem Prozess vor allem, dass es den Sa¨lzern im Jahr 1710 gelang, beim kaiserlichen Hofrat in Wien Diplome zu erhalten, welche die adlige Qualita¨t aller Familien im Erbsa¨lzerkollegium besta¨tigten. Einige Jahrzehnte spa¨ter wurden schließlich sogar Urkunden ausgestellt, die vom alten ritterma¨ßigen Reichs-Adel ¨ bernahme von Rittergu¨tern auf sprachen.51 In diesem Zusammenhang spielte die U dem Land eine wichtige Rolle. Der Vorgang des Umzuges der Sa¨lzerfamilien vom Haus in der Stadt auf die Gu¨ter im sta¨dtischen Umland, der selbstversta¨ndlich auch bei „patrizischen“ Geschlechtern andernorts zu beobachten ist52, war in Werl allerdings kein abrupter und kein

47 Gemeint ist damit das sogenannte Sigismundinum, eine von Ko¨nig Sigismund 1432 ausgestellte

Urkunde zur Konfirmation der Sa¨lzerrechte, die in der Fru¨hen Neuzeit zum zentralen Dokument sta¨ndischen Selbstversta¨ndnisses und korporativer Erinnerungskultur (mit Ru¨ckfu¨hrung der vermeintlichen Privilegierung auf Karl den Großen) der Erbsa¨lzer avancierte, vgl. Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 64–67, 109–117, 281–288. 48 StadtA Werl, Sc XVII 4, Bd. 1, die Zitate Bl. 13, 21 und 171. 49 Vgl. Michael Hecht, Abbild sakraler Einheit oder Repra¨sentation sozialer Distinktion? Prozessionen und Rangkonflikte im westfa¨lischen Werl im 17. und 18. Jahrhundert, in: Bekenntnis, soziale Ordnung und rituelle Praxis. Neue Forschungen zu Reformation und Konfessionalisierung in Westfalen, hg. v. Werner Freitag/Christian Helbich (Westfalen in der Vormoderne 4), S. 261–278. 50 Fu¨r einen U ¨ berblick zu den Werler Ha¨usern und Ho¨fen der Erbsa¨lzer vgl. v. Klocke, Patriziatsproblem (wie Anm. 39), S. 286–303. 51 Zum Kontext der Nobilitierungen bzw. Adelsbesta¨tigungen vgl. Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 283–286. 52 Auch hier ist wieder in erster Linie auf die Forschungen zu den su¨ddeutschen Reichssta¨dten zu verweisen, vgl. etwa Rolf Kiessling, Patrizier und Kaufleute als Herrschaftstra¨ger auf dem Land, in: Herr-

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spannungsfreier Prozess, sondern zeigte sich eingebunden in Formen der Aushandlung und Selbstversicherung des sozialen Status. Die Werler Sa¨lzer taten sich zuna¨chst schwer damit, einen vollsta¨ndigen Ru¨ckzug der Angeho¨rigen ihrer Korporation aus der Stadt zu akzeptieren. Die Notwendigkeit, die Ha¨lfte der Ratsherren- und Bu¨rger¨ mter in der Selbstverwaltung der Saline zu besetzen, meisterposten sowie wichtige A hatte zur Aufnahme der Residenzpflicht in die Statuten des Sa¨lzerkollegiums gefu¨hrt. Jeder, der Mitglied der Korporation sein und Einku¨nfte aus der Salzherstellung genießen wollte, musste sich eidlich verpflichten, sein fixum domicilium innerhalb der Stadtmauern zu nehmen und mit dem Gesinde zu Werll wonhaftig zu sein.53 Verunsicherungen in dieser Frage ergaben sich nach 1630, als einzelne Sa¨lzer bereits gro¨ßere Gu¨ter im Umland von Werl erwarben und mit einer dortigen Haushaltsfu¨hrung die ¨ bernahme adelsa¨hnlicher Lebensweisen zu verwirklichen suchten, ohne die SiedeU rechte aufgeben zu wollen. Im Rahmen eines gro¨ßeren Konfliktes zwischen zwei Sa¨lzern aus dem Geschlecht Papen einerseits und dem restlichen Sa¨lzerkollegium andererseits wurde in den 1660er Jahren darum gerungen, wie streng die Kriterien der Residenzpflicht angewandt werden sollten.54 Die beiden weggezogenen Sa¨lzer argumentierten, dass ihre Gu¨ter lediglich eine halbe Stunde von der Stadt entfernt seien und sie daher jederzeit bei vorfallenden Notwendigkeiten dem Kollegium mit Rat und Tat assistieren kommen ko¨nnten; auch fanden sich beide bereit, ein innersta¨dtisches Haus mit einer Magd zu unterhalten, welche die Kommunikation zwischen ihnen und der Korporation gewa¨hrleisten sollte. Diese Praktiken wurden von den u¨brigen Sa¨lzergenossen jedoch nicht akzeptiert. Um die Conservation des gesambten Collegii, die Handlungseinheit der Gruppe und die Ausu¨bung der ihr laut Stadtverfassung zustehenden Aufgaben nicht zu gefa¨hrden, sei die Cohabitation in ipsa civitate Werlensi praecise erforderlich. Den auswa¨rtigen Sa¨lzern wurden die Einku¨nfte so lange gesperrt, bis sie ihre Haushaltsfu¨hrung wieder in die Stadt zuru¨ckverlegten. Diese Konflikte zeigen, dass sich die Korporation der Erbsa¨lzer in dieser Zeit noch als innersta¨dtische Gemeinschaft verstand und die Norm der Residenzpflicht weitgehend erfolgreich verteidigen konnte. Ein u¨ber den Stadtraum hinausweisender, an landadligen Idealen orientierter Lebensstil einzelner Sa¨lzer wurde nicht bedingungslos akzeptiert. Dies a¨nderte sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten zunehmend. Die kollektive Adaption aristokratischen Selbstversta¨ndnisses gewann seit Beginn des 18. Jahrhunderts gegenu¨ber der Koha¨sionskraft durch innersta¨dtische Haushaltsfu¨hrung immer mehr an Gewicht. Nachdem die Auseinandersetzungen um die Pra¨zedenz der Sa¨lzer gegenu¨ber den anderen sta¨dtischen Einwohnern zu Beginn der 1720er Jahren deutlich an Scha¨rfe gewonnen hatten, traten schließlich schaft und Politik. Vom fru¨hen Mittelalter bis zur Gebietsreform, hg. v. Walter Po¨tzl (Der Landkreis Augsburg 3), Augsburg 2003, S. 217–237; Christof Metzger, Landsitze Augsburger Patrizier, Mu¨nchen/Berlin 2005; Stefan Lang, Die Patrizier der Reichsstadt Ulm. Stadtherren, Gutsbesitzer und Ma¨zene, Ulm 2011, S. 86–95. 53 Zu den Sa¨lzerstatuten vgl. Urkundenbuch zur Landes- und Rechtsgeschichte des Herzogthums Westfalen, hg. v. Johann Suibert Seibertz, Bd. 3, Arnsberg 1854, Nr. 930, 933 und 1054; v. Klocke, Patriziatsproblem (wie Anm. 39), S. 113–127. 54 Zu diesen Konflikten auf Grundlage der Aktenu¨berlieferung im StadtA Werl (Sc II 17b, 45, 47; Su II 14) vgl. Hecht, Patriziatsbildung (wie Anm. 8), S. 178–184. Hieraus stammen auch die folgenden Zitate.

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nach la¨ngeren Verhandlungen die Mitglieder des Erbsa¨lzerkollegiums gemeinschaftlich aus der Werler Bu¨rgerschaft aus und lebten fortan als Corpus nobile außerhalb der Jurisdiktionsgewalt des Magistrats in der Stadt. Damit fiel auch ein wichtiger Argumentationsstrang fu¨r die Aufrechterhaltung der Residenzpflicht weg. Im Januar 1746 beschloss die Kollegialversammlung der Sa¨lzer daher mehrheitlich, den Zwang zur innersta¨dtischen Haushaltsfu¨hrung aus den Statuten zu streichen.55 Wohl nicht zufa¨llig war das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts ein Zeitraum, in dem mehreren Sa¨lzerfamilien der Erwerb solcher Gu¨ter gelang, die im Herzogtum Westfalen im Rahmen von Aufschwo¨rungen als ritterschaftsfa¨hig anerkannt worden waren. So erhielt Johann Kaspar Reimund von Papen nach seiner Heirat 1738 das Rittergut Lohe aus dem Besitz der von Wrede; die Sa¨lzerfamilie von Lilien erwarb 1753 bzw. 1756 Borg und Lahr von den Familien von Luerwald und von Loe. Auch Eheverbindungen mit renommierten Geschlechtern des Landadels kamen nun ha¨ufiger vor.56 Dies bedeutete zwar noch nicht, dass auch den Sa¨lzerfamilien die Aufnahme in die Ritterschaft gelang, da die strengen Erfordernisse der Ahnenprobe (noch) nicht zu erfu¨llen waren und die nobilitas patriciorum oder der Stadtadelichen suspect blieb.57 Doch die Lo¨sung vom Sta¨dtischen und die Verortung in einem supraurbanen Raum bot den Sa¨lzern die Mo¨glichkeit, den Abstand zum stiftsfa¨higen Adel immer mehr zu verkleinern, was spa¨testens im 19. Jahrhundert zu einer weitgehenden Assimilation fu¨hrte.

Ausblick

Auch in zahlreichen mittel- und norddeutschen Landsta¨dten gab es Gruppen, die sich im Laufe der Fru¨hen Neuzeit zuna¨chst „patrizische“ Qualita¨t zuschrieben und im Zuge eines Prozesses der Aristokratisierung Anschluss an den regionalen Landadel suchten. Die vorgestellten Beispiele konnten vorsichtig andeuten, wie sehr die Dynamik der sozialen Positionierung mit einer allma¨hlichen Umdeutung bei der Selbstverortung im Raum des Sta¨dtischen verbunden war. Im Bereich der Erinnerung, aber auch bei der inner- und u¨bersta¨dtischen Raumbildung sowie im Umgang mit symbolisch aufgeladenen Orten der Stadt zeigt sich eine stetige, jedoch nicht konfliktfreie Loslo¨sung von urbanen Bezu¨gen. Diese Loslo¨sung war Voraussetzung, Bestandteil und Ergebnis der kommunikativen Praktiken, die zur sta¨ndischen Neuformierung 55 StadtA Werl, Sd VIII 10. 56 v. Klocke, Patriziatsproblem (wie Anm. 39), S. 274ff.; Albert K. Ho ¨ mberg, Geschichtliche Nach-

richten u¨ber Adelssitze und Rittergu¨ter im Herzogtum Westfalen und ihre Besitzer, Heft 17 und 18, Mu¨nster 1978; zur westfa¨lischen Ritterschaft und ihrem Verha¨ltnis zum Erbsa¨lzerkollegium vgl. auch Andreas Mu¨ller, Zwischen Kontinuita¨t und Wandel: Der Adel im kurko¨lnischen Herzogtum Westfalen, in: Das Herzogtum Westfalen, Bd. 1, hg. v. Harm Klueting, Mu¨nster 2009, S. 419–441; ders., Die Praxis der Ahnenprobe im deutschen Adel des 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Ritterschaft des kurko¨lnischen Herzogtums Westfalen, in: Die Ahnenprobe in der Vormoderne (wie Anm. 4), S. 247–266. 57 Das Zitat nach v. Klocke, Patriziatsproblem (wie Anm. 39), S. 434.

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fu¨hrten; sie stand mit dem Prozess der Aristokratisierung in einer engen Wechselwirkung. In welcher konkreten Form die Generierung von Nobilita¨t erfolgte und in welcher Weise die landadligen Korporationen, denen sich die „Patrizier“ anzuna¨hern suchten, auf diese Prozesse reagierten und ihrerseits die urbane Verwurzelung der vermeintlichen Standesgenossen zum Thema machten, wa¨re noch jeweils im Detail zu untersuchen. Die Erfolge einer Assimilierung mit dem ritterschaftlichen Adel konnten von Territorium zu Territorium, von Stadt zu Stadt und zuweilen auch von Familie zu Familie durchaus unterschiedlich ausfallen, so dass es auch hier die einzelnen Fa¨lle zu differenzieren gilt. Ein Vergleich des zuletzt behandelten Beispiels der Werler Erbsa¨lzer mit den eingangs erwa¨hnten Pfa¨nnern der Sta¨dte Staßfurt und Groß Salze zeigt bereits bestimmte Unterschiede auf: Wa¨hrend sich in allen drei Sta¨dten die an der Salzproduktion beteiligten Korporationen Adligkeit zuschrieben, sahen deren Verbindungen zur Stadt und zum Landadel im 18. Jahrhundert anders aus. In Werl lebten die Sa¨lzer als adliges Kollegium ab 1723 außerhalb der Bu¨rgerschaft in der Stadt und zunehmend auf ihren la¨ndlichen Rittergu¨tern, ohne vollsta¨ndig von der landsta¨ndischen Ritterkurie als gleichrangig anerkannt zu werden. In Staßfurt und Groß Salze blieben die Pfa¨nner bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl anerkannte Mitglieder der Adelskurie des Landtags wie auch Bu¨rger ihrer Stadt, in der sie die Ratsa¨mter unter sich zu besetzen hatten. Inwieweit die hier vollkommen gelungene Aristokratisierung wiederum auf das Sta¨dtische, beispielsweise auf die Amtsfu¨hrung und das Amtsethos der ritterschaftlichen Bu¨rgermeister und Ratska¨mmerer zuru¨ckwirkte, ist eine weitere interessante Frage, der zuku¨nftig noch genauer nachgegangen werden mu¨sste.

¨ UME DISTINKTIVE RA Grenzen und Mo¨glichkeiten der sta¨dtischen Elite Freiburgs i. Ue. im 18. Jahrhundert von Rita Binz-Wohlhauser

Freiburg im Uechtland za¨hlte im 18. Jahrhundert gegen 5000 Einwohner und stellte innerhalb der Alten Eidgenossenschaft eine Stadt mittleren Umfangs dar.1 Zusammen mit dem deutlich gro¨ßeren Nachbar Bern sowie den kleineren Sta¨dten Solothurn und Luzern wird Freiburg in der Literatur gerne als Aristokratischer Sta¨dteort beschrieben. Damit assoziierte Prozesse wie die Abschließung des Bu¨rgerrechts, eine Ratserga¨nzung via Kooptation sowie der Aufbau von Familienherrschaften gab es jedoch auch in so genannten Zunftsta¨dten wie Zu¨rich.2 Besagte Abschließung setzte in Freiburg in der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts ein. Zunehmend wurde zwischen privilegierten und gemeinen Bu¨rgern unterschieden, das Bu¨rgerrecht innerhalb der Familien weitergereicht und die Neuzuga¨nge zur so genannten bourgeoisie privilegie´e im Verlauf des 17. Jahrhunderts schwieriger gemacht, bis man sie 1684 fu¨r fast 100 Jahre stoppte. Das ho¨chste Bu¨rgerrecht besaßen im 18. Jahrhundert noch 105 Geschlechter/Familien, wovon rund ein Viertel erst nach 1782 neu hinzugestoßen war. Diese privilegierten Stadtbu¨rger, welche im vorliegenden Artikel synonym als sta¨dtische Elite bezeichnet werden, blieben im Alltag mit unterschiedlichen Ausgangslagen und Handlungschancen konfrontiert – beispielsweise waren bloß 67 Familien im Freiburger Rat vertreten. Pra¨gend waren ebenfalls die jeweiligen Ta¨tigkeitsfelder und das damit verbundene Prestige, durch welche unterschiedliche geographische wie auch soziale Ra¨ume erschlossen werden konnten. Da sich solche Geltungs-Ra¨ume auf der einen Seite nicht auf das Territorium der Stadtrepublik beschra¨nken mussten und sie sich auf der anderen Seite ebenso in Luft auflo¨sen konnten, kam es zu diversen Polarisierungen innerhalb des eigenen Standes, die im zweiten Teil dieses Artikels im Vordergrund stehen. Zuna¨chst wird anhand ausgewa¨hlter Beispiele illustriert, u¨ber welche Mittel sich die sta¨dtische Elite ihre Geltungsra¨ume erschloss. 1 Die Autorin fasst im vorliegenden Artikel einige Ergebnisse ihrer Dissertation zusammen, vgl.

¨ chtland Rita Binz-Wohlhauser, Zwischen Glanz und Elend. Sta¨dtische Elite in Freiburg im U (18. Jahrhundert), Zu¨rich 2014. 2 Ulrich Pfister, Politische Eliten im fru¨hneuzeitlichen Zu¨rich, in: Alter Adel – neuer Adel?, hg. v. Peter Niederha¨user (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zu¨rich 70), Zu¨rich 2003, S. 211–230.

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I. Die Einnahme lokaler, eidgeno¨ssischer und europa¨ischer Geltungsra¨ume

Innerhalb der Freiburger Stadtrepublik wurden bekannte Distinktionsformen genutzt, um sich sowohl von der gemeinen Bu¨rgerschaft wie auch von den Standesgenossen abzugrenzen. Vorrang und Vornehmheit visualisierten sich nicht nur durch die Kleidung oder die Rangordnung bei Prozessionen, ebenso standen die Gro¨ße, Lage und der architektonische Stil eines Stadthauses wie letztlich auch die Wahl der jeweiligen Grabsta¨tte zur Verfu¨gung. Als typisch fu¨r die Eliten aristokratischer Sta¨dte-Orte wird oft die Grundlage ihres Wohlstands hervorgehoben. Dazu za¨hlten Grundbesitz sowie Ertra¨ge aus Solddienst und/oder zivilen Mandaten, seltener als die Zu¨rcher habe man sich im Handel oder in Finanzgescha¨ften engagiert.3 Die Freiburger Realita¨t zeigt sich differenzierter: Obwohl sich die meisten Familien der bourgeoisie privilegie´e als Grundbesitzer etablieren konnten, waren Gro¨ße und Anzahl ihrer Doma¨nen sowie der daran gebundenen Herrschaftsrechte variabel. Sa¨mtliche als vermo¨gende Rentiers zu bezeichnen, wa¨re falsch. Vielmehr standen sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine finanzstarke Minderheit und eine finanzschwache Mehrheit gegenu¨ber, zudem blieben einige Ratsfamilien weiterhin im Gewerbe ta¨tig und/oder brachten ihre nicht im Rat platzierten So¨hne in bezahlten Stadta¨mtern oder anderen Berufen unter, was dem Bild reiner, einzig nach aristokratischen Werten strebenden Rentiersfamilien widerspricht. Vergleicht man die 1798 durch eine Steuer ausgewiesenen Jahresrenten privilegierter Stadtbu¨rger mit einer bekannten Kategorisierung des franzo¨sischen Adels des 18. Jahrhunderts, ha¨tten sich bloß einzelne Freiburger mit dem reichen Provinz- oder wohlhabenden lokalen Adel Frankreichs messen ko¨nnen. Die Mehrheit der sta¨dtischen Elite wa¨re damals den untersten Adelskategorien bescheidener Lebensstil sowie Armut zugeordnet worden.4 Gleichzeitig bezeugen zahlreiche amtliche Quellen wie auch Dokumente aus Familienarchiven damalige Alltagssorgen finanzieller Natur: Unruhe generierten die Kosten einer standesgema¨ßen Erziehung und Unterbringung der Kinder, ebenfalls sahen sich viele Familien mit Spielschulden oder einem allzu u¨ppigen Lebensstil einzelner Mitglieder konfrontiert. Infolge unterschiedlicher o¨konomischer und sozialer Ressourcen sowie dem jeweiligen Willen, in solchen Fa¨llen eine diskrete und innerfamilia¨re Lo¨sung anzustreben, waren die getroffenen Maßnahmen der sta¨dtischen Elite nicht nur entsprechend breit gefa¨chert, sondern innerhalb des lokalen Raums gleichzeitig distinktiv. Wa¨hrend etwa eine adelige, jedoch hoch verschuldete Schultheißenwitwe de Diesbach in einer Notlage auf die Unterstu¨tzung ihrer begu¨terten Verwandten za¨hlen und so das Ansehen ihrer Sippe wahren konnte, mussten derartige Probleme ha¨ufig vor den Rat oder vor zusta¨ndige Kommissionen getragen werden. Es kam zu zahlreichen Vormundschaften, der Vergabe von Almosen sowie 3 Vgl. Anne Marie Dubler, Patrizische Orte, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010,

S. 573–574.

4 Zur Kategorisierung des franzo¨sischen Adels vgl. Guy Chaussinand-Nogaret, La Noblesse au

XVIIIe`me sie`cle. De la fe´odalite´ aux Lumie`res, Paris 1976, S. 77ff. Der Vergleich mit der sta¨dtischen Elite Freiburgs ist in der Dissertation der Autorin ausfu¨hrlich dargestellt.

Distinktive Ra¨ume

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einzelnen Nachlassliquidationen, ein bislang fu¨r die sta¨dtische Elite Freiburgs wenig thematisierter Sachverhalt. Aufgrund der heterogenen Finanzlage ist es wenig erstaunlich, dass sich die sta¨dtische Elite auf lokaler Ebene unterschiedlich fortbewegte: Wa¨hrend einige mit Karossen unterwegs waren, gingen Ratsherren ebenso zu Fuß oder liehen sich fu¨r weitere Strecken das Pferd eines Verwandten. Aus dem gleichen Grund gestaltete sich das Erscheinungsbild der Freiburger Landsitze entsprechend breit und reichte vom Landschloss bis hin zum einfachen Bauernhaus. Im 18. Jahrhundert wurden mehrere Herrenha¨user neu nach franzo¨sischem Vorbild erbaut. Obwohl sie vor Ort Aufsehen erregten, zeigten sich ausla¨ndische Besucher davon geringer beeindruckt; so meinte etwa die Franzo¨sin Madame de la Briche zu Schloss Greng bei Murten: [...] tre`s belle pour la Suisse, mais qui serait tre`s simple en France [...].5 Selbst eine repra¨sentative Bauta¨tigkeit sollte nicht von vornherein als ein Beleg fu¨r hohe Finanzkraft interpretiert werden, denn gegen Freiburger Kleinra¨te, die am Stadtrand ihre Ha¨user verscho¨nern ließen, wurde mitunter posthum ein Konkursverfahren ero¨ffnet – nicht nur im 21. Jahrhundert war ein Leben auf Pump mo¨glich und u¨blich. Geltungsra¨ume innerhalb der Alten Eidgenossenschaft schuf sich die sta¨dtische Elite vorwiegend u¨ber den Aufbau und die Pflege von Beziehungsnetzen. Selten basierten diese auf Heirat, da die Freiburger Partnersuche – von einigen Ausnahmen abgesehen – im 18. Jahrhundert stark auf den lokalen Heiratsmarkt ausgerichtet blieb. Innerhalb der Alten Eidgenossenschaft exponierte man sich damit keineswegs, garantierten doch auch anderswo dichte Verbindungen innerhalb sta¨dtischer oder la¨ndlicher Eliten eine Art Langzeit-Klientelismus.6 Im Zuge der Freiburger Ratsintegration bot dies gleichzeitig finanzielle Vorteile. Das wird offenkundig, sobald man sich mit der Vorgehensweise der Geheimen Kammer auseinandersetzt – jenem Ratsgremium, das in Freiburg die Neumitglieder des Rats bestimmte. Stand man in direkter Blutslinie mit dem dort einsitzenden Pra¨sentator oder war man mit diesem verschwa¨gert, floss das von ihm eingeforderte stattliche Eintrittsgeld zuru¨ck in die Sippe. Angesichts der preka¨ren Freiburger Finanzlage verhinderte eine hohe Dichte lokaler Ehearrangements weiter einen Kapitalabfluss, da Mitgiftsleistungen vor Ort blieben. Nach dem Motto Un Suisse doit se marier dans sa pattrie et hors de la tout mariage est complettement mauvais, je n’en excepte qu’un ou deux exemples de fortune conside´rables que des militaires suisses ont fait par des mariages7 ist eine kritische Haltung 5 Zitat der Madame de la Briche (1785) aus Alain Chardonnens, Du missel a` l’ordinateur, Fribourg

2001, S. 114. 6 Exemplarisch fu¨r den Raum der Alten Eidgenossenschaft vgl. Denise Wittwer Hesse, Die Bedeutung

der Verwandtschaft im bernischen Patriziat, in: Berns goldene Zeit, hg. v. Andre´ Holenstein u. a., ¨ berlegungen zum Wandel von Bern 2008, S. 149–153; Jon Mathieu, Ein Cousin an jeder Zaunlu¨cke. U Verwandtschaft und la¨ndlicher Gemeinde, 1700–1900, in: Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, hg. v. Margareth Lanzinger/Edith Saurer, Wien 2007, S. 55–71; Ders., Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500–1900, in: Historische Anthropologie (2002), S. 225–244; Sandro Guzzi-Heeb, Die Dynamik der Geschlechter. Frauen, Ma¨nner, Familie und Verwandtschaft in der Walliser Dynastie der de Rivaz (1700–1815), in: SchweizZG (2002/4), S. 477–493. 7 StaatsA Freiburg, Fonds Praroman. Brief vom 3. 8. 1784 an den adligen Georges de Praroman, der eine Braut aus der Normandie hofierte. Der Name des Verfassers bleibt unbekannt.

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gegenu¨ber Ehen mit Fremden nicht nur in Freiburg, sondern auch fu¨r Solothurn oder Nidwalden nachgewiesen; den Appenzellerinnen war zudem bis 1783 verboten, einen Fremden zu heiraten.8 Freiburger Beziehungsnetze innerhalb der Alten Eidgenossenschaft erschlossen sich daher vorwiegend u¨ber das politische und milita¨rische Handlungsfeld. Die Repra¨sentanten der Stadtrepublik reisten an die eidgeno¨ssische Tagsatzung, zum franzo¨sischen Botschafter nach Solothurn oder zu den Ratskollegen anderer Sta¨dte. Gleichzeitig besuchten und korrespondierten sie mit Familien, die ebenfalls im Solddienst ta¨tig waren – aus den Quellen erschließen sich Netzwerke ins heutige Wallis, nach Solothurn, Bern oder in die Innerschweiz. Freundschaften mit auswa¨rtigen Personen kamen auch banaler zustande, beispielsweise durch das Aufsuchen regionaler Kurorte, wo man auf die Standesvertreter der benachbarten Sta¨dte Bern und Neuenburg traf. Zur Beziehungspflege mit den Eliten u¨briger katholischer Orte standen weiter die Pensionate der Freiburger Frauenklo¨ster zur Verfu¨gung, denn dort wurden Ma¨dchen aus ebenbu¨rtigen Solothurner oder Innerschweizer Familien unter anderem von Nonnen betreut, die zur privilegierten Stadtbu¨rgerschaft geho¨rten. Auch durch Sprachaufenthalte wurden Kontakte aufrechterhalten, beispielsweise sandten einige Freiburger Ratsherren ihre So¨hne in die Deutschschweiz zu Bekannten und nahmen im Gegenzug deren Kinder auf, um vor Ort Franzo¨sisch zu lernen. An der deutsch-franzo¨sischen Sprachgrenze liegend, waren in Freiburg beide Sprachen seit Jahrhunderten gela¨ufig, wenngleich mit mehrfach wechselndem Stellenwert. Deutsch blieb bis 1798 die Amtssprache der Republik, dennoch stand fu¨r die meisten Familien der sta¨dtischen Elite Franzo¨sisch an erster Stelle, damals europaweit die Sprache des Adels und der Kultur. Welchen Stellenwert Zweisprachigkeit im Alltag erhielt, blieb ¨ mtern der Stadtrepublik, davon abha¨ngig, ob sich eine Familie prima¨r in den zivilen A in den Fremden Diensten oder in beiden Bereichen engagierte. Den europa¨ischen Raum erschloss sich die sta¨dtische Elite vorwiegend u¨ber erwa¨hnte Fremde Dienste. Freiburger Offiziere stellten sich im 18. Jahrhundert mehrheitlich der franzo¨sischen Krone zur Verfu¨gung, und diese enge Verflechtung mit Frankreich hatte verschiedene Gru¨nde: Beispielsweise stand auf der wirtschaftlichen Ebene der fu¨r die Ka¨seherstellung wichtige Salzimport aus der Freigrafschaft Burgund dem Export Freiburger Soldaten gegenu¨ber.9 Offiziere, die sich stattdessen nach Wien orientiert hatten, sorgten in ihrer Heimat vereinzelt fu¨r Unruhe, andere wiederum dienten Spanien, Savoyen, Sachsen, Portugal oder Genua. Die Solddienstunternehmen der Alten Eidgenossenschaft wiesen aber insbesondere fu¨r die zweite Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts eine ru¨ckla¨ufige Rentabilita¨t aus. Zusa¨tzlich waren in

8 Heiratete ein Nidwaldner 1755 eine auswa¨rtige Frau, musste er zur Strafe 100 Kronen in der Kanzlei

hinterlegen. Tat er dies nicht, wurde er des Landes verwiesen und seine Kinder galten als Fremde. Vgl. Peter Steiner, Die Gemeinden, Ra¨te und Gerichte im Nidwalden des 18. Jahrhunderts, Stans 1986, S. 137 (Fußnote 228). Zu Solothurn vgl. Bruno Amiet/Hans Siegrist, Solothurner Geschichte, Bd. 2, Solothurn 1976, S. 498. Zu Appenzell vgl. Markus Schu¨rmann, Bevo¨lkerung, Wirtschaft und Gesellschaft in Appenzell Innerrhoden im 18. und fru¨hen 19. Jahrhundert (Dissertation an der Universita¨t Basel), Appenzell 1974, S. 70. 9 Jean Steinauer, Patriciens, fromagers, mercenaires, Freiburg 2000, S. 196.

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vielen Schweizer Orten die diesbezu¨glichen Karten unter den fu¨hrenden Familien la¨ngst verteilt, und etliche von ihnen waren hoch verschuldet. Wa¨hrend vorangehende Jahrhunderte noch Profite ero¨ffnet hatten, kamen diese im 18. Jahrhundert nur noch wenigen ho¨heren Offizieren, Obersten und Genera¨len zugute.10 Auch in Freiburg manifestierten sich nur noch wenige Familien durch langja¨hrigen Regimentsoder Kompaniebesitz oder stiegen traditionell die Karriereleiter empor. Hierzu blieben diejenigen Beziehungen wichtig, die man innerhalb der Alten Eidgenossenschaft geknu¨pft hatte. Mittels privater Korrespondenzen lassen sich Absprachen zwischen im Solddienst ta¨tigen Familien verfolgen, dabei hatte man die konfessionellen Gegensa¨tze des 17. Jahrhunderts la¨ngst u¨berwunden: Beispielsweise suchten die Freiburger de Diesbach-Torny gemeinsam mit den Bernern von Erlach oder von Graffenried nach Wegen, um ihren Mitgliedern bei der Versetzung ein schnelles Vorankommen zu ermo¨glichen.11 Einige, aus Gewerbe und Handel stammende Ratsfamilien hatten im Lauf der Jahrhunderte durch ihr Milita¨rengagement einen ausla¨ndischen Adelstitel erworben. Exemplarisch genannt sei die im Fa¨rbereigewerbe reich gewordene Familie Fe´gely (dt. Vo¨geli), die nach den Burgunderkriegen Ende des 15. Jahrhunderts vom franzo¨sischen Ko¨nig in den Adelsstand gehoben worden war.12 Die Mehrheit der im 17. und 18. Jahrhundert erworbenen, adeligen Auszeichnungen der Freiburger Geschlechter reiht sich in die inflationa¨re Praxis damaliger Standeserhebungen ein, die jene gleichzeitig entwertete – es handelte sich vorwiegend um Reichsfreiherren (frz. Baron) oder Grafen.13 Vor Ort noblesse e´trange`re genannt, vermochten einzelne adelige Repra¨sentanten ihren Status im 18. Jahrhundert durch den Erwerb ho¨fische Ehren zu untermauern, beispielsweise durch den Titel eines sa¨chsischen oder Wiener Kammerherrn oder der Aufnahme ihrer Frauen in den Wiener Sternkreuzorden.14 Gema¨ß Bluche wurden die Honneurs de la Cour in Versailles insgesamt nur fu¨nf Schweizer

10 Zu den Solddienstunternehmen der Alten Eidgenossenschaft vgl. Urs Ka¨lin, Die Urner Magistra-

tenfamilien. Herrschaft, o¨konomische Lage und Lebensstil einer la¨ndlichen Oberschicht 1700–1850, Zu¨rich 1991, S. 104–129; Anne-Lise Head-Ko¨nig, Der Aufstieg der Milita¨runternehmer, in: 1291–1991. Die Schweizerische Wirtschaft, Geschichte in drei Akten, hg. v. Ronald Cicurel, StSulpice 1991, S. 80–85; Steiner, Nidwalden (wie Anm. 8), S. 36. Zudem folgende Artikel im Historischen Lexikon der Schweiz: Philippe Henry, Fremde Dienste, Band 4, Basel 2005, S. 789–796 sowie Herman Romer, Milita¨runternehmer, Bd. 8, Basel 2009, S. 589–591. 11 Burgerbibliothek Bern, Familienarchiv Diesbach-Torny, Nr. 65 (Korrespondenzen), hier exemplarisch: Briefe vom 12. 9. 1756, 4. 2. 1768 oder 11. 3. 1773. 12 Re´gis de Courten, Fe´gely, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 446. Betreffend Fa¨rbereigewerbe vgl. Friburgum Helvetiorum Nuythoniae. Chronique fribourgeoise du dix-septie`me sie`cle, hg. und kommentiert von He´liodore Raemy de Bertigny, Freiburg 1852, hier „pre´cis historique“ S. 126. 13 Den Titel eines Reichsfreiherrn fu¨hrte die Familie d’Alt, Barone nannten sich aber auch Vertreter der de Boccard, Griset de Forel und de Gle´resse. Grafentitel fu¨hrten d’Affry, de Castella, verschiedene Diesbach-Vertreter und die Lenzburg – diese Liste ist jedoch nicht abschließend. Zur Entwertung dieser Titel vgl. Ronald G. Asch, Europa¨ischer Adel in der fru¨hen Neuzeit, Ko¨ln 2008, S. 43–51. 14 Mitglieder des Wiener Sternkreuzordens wurden Frauen der Griset de Forel sowie de Diesbach. Den Titel eines sa¨chsischen Kammerherrn trugen Vertreter der Griset de Forel, Kammerherren am Wiener Hof wurden Vertreter der de Diesbach, vgl. La ge´ne´alogie de la maison de Diesbach, hg. v. Vicomte de Ghellinck vaernewyck, Gent 1921, sowie StaatsA Freiburg, Familienfonds Griset de Forel.

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Geschlechtern erteilt, darunter befanden sich die beiden Freiburger Familien d’Affry und de Diesbach.15 Dass bestehende Kontakte zu ausla¨ndischen Adeligen mit der notwendigen Sorgfalt gepflegt wurden, dokumentieren die Tagebu¨cher von Franc¸ois Pierre de Diesbach-Torny (1739–1811), Wiener Kammerherr und Freiburger Ratsherr, der sich auf seinen zahlreichen Reisen zwischen Wien und Paris mit entsprechenden Bekannten und Freunden traf.16 Beziehungen der sta¨dtischen Elite ins Ausland erschlossen sich weiter u¨ber einzelne Repra¨sentanten, die man in den Malteserorden aufgenommen hatte (z. B. Griset de Forel) – letztlich aber ebenso u¨ber die Jesuiten. Waren doch etliche Freiburger als Beichtva¨ter an ausla¨ndischen Ho¨fen ta¨tig, so etwa in Sachsen, in der Pfalz oder in Wien. Andere ku¨mmerten sich in ausla¨ndischen Kollegien um die Studenten aus der Heimat, die sich auf Bildungsreise befanden, und stellten Kontakte zu den dortigen Eliten her.

II. Innersta¨ndische Polarisierungen

Die Besetzung unterschiedlicher Geltungsra¨ume ist als ein distinktives Element zu betrachten, das die sta¨dtische Elite Freiburgs in mehrfacher Hinsicht polarisierte. Eine erste Trennlinie verlief zwischen adeligen und ungetitelten Familien, und obwohl derartige Rivalita¨ten schon in fru¨heren Jahrhunderten vorhanden gewesen waren, nahmen sie aufgrund des europaweit steigenden Distinktionsdrucks im 18. Jahrhundert weiter zu. Die mit ausla¨ndischen Titeln ausgezeichneten Familien – man nannte sie in Freiburg noblesse e´trange`re – hatten u¨ber ihren Geltungsbereich, der weit u¨ber den vieler ungetitelter Ratsfamilien hinausging, nicht nur ein eigenes Selbstversta¨ndnis entwickelt, sondern vermittelten auch in anderer Hinsicht Exklusivita¨t: Obwohl sie innerhalb der sta¨dtischen Elite klar in der Minderheit waren, verfu¨gten sie meist u¨ber eine bessere Finanzkraft und betrieben eine endogenere Heiratspolitik. Die Basis ihrer kulturellen Abgrenzung wurde oft schon in der Erziehung ihrer Kinder gelegt. Wa¨hrend die Mehrheit der sta¨dtischen Elite den Nachwuchs durch Hauslehrer unterrichten ließ und ihn spa¨ter ins Freiburger Jesuitenkollegium oder in umliegende Frauenklo¨ster sandte, zogen einige Vertreter der noblesse e´trange`re ausla¨ndische Einrichtungen vor. Graf Louis-Auguste-Augustin d’Affry (1713–1793) etwa, der als langja¨hriger Administrator der Schweizer und Bu¨ndner Truppen am franzo¨sischen Hof eine vorteilhafte Stellung inne hielt, sandte seine Tochter zu Bernhardinern nach Lyon und einen Sohn in das Pariser Elitekolle-

15 Die Honneurs de la Cour (HC) erhielten folgende Schweizer Geschlechter: d’Affry, Freiburg (HC

1767, 1772, 1773, 1780 und 1786); Besenval, Solothurn (HC 1786); Diesbach, Freiburg (HC 1773); Erlach, Bern (HC 1771 und 1775); Von Roll, Solothurn (HC 1776 und 1782). Vgl. deren Eintra¨ge in Franc¸ois Bluche, Les Honneurs de la Cour, Paris 2000 (Erstausgabe 1958). 16 Die erwa¨hnten Tagebu¨cher befinden sich in der Burgerbibliothek Bern, Familienarchiv DiesbachTorny, Nr. 14 (diverse Ba¨nde).

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gium Louis-le-Grand.17 Weitere Vertreter der noblesse e´trange`re wurden in ihrer Jugend nach Paris geschickt, erhielten eine Ausbildung zum Pagen in Mannheim oder besuchten ab Mitte des 18. Jahrhunderts das Wiener Theresianum. Die ungetitelten Ratsso¨hne traten hingegen oft erst nach Abschluss des Freiburger Kollegiums mit den kulturellen Gegebenheiten des Auslands in unmittelbaren Kontakt. Entweder absolvierten sie einige Jahre als Offiziere in fremden Diensten und/ oder gingen auf Bildungsreise. Inhalte, Dauer und Form solcher Reisen unterschieden sich von denjenigen adliger Standesvertreter, und infolge mangelnder Finanzen kam es nicht selten zu einem fru¨hzeitigen Abbruch. Auch waren ho¨fische Kontakte rar, bestenfalls schlossen solche Ratsso¨hne Bekanntschaften mit dem niederen Adel oder verkehrten mit Ratsherren anderer Sta¨dte. Der Handlungsspielraum der ungetitelten Freiburger Studenten bewegte sich somit weitgehend im Rahmen ausla¨ndischer Ratsfamilien.18 Obwohl sich die nicht adeligen, Freiburger Standesvertreter stets um einen Kavaliershabitus bemu¨hten, stand die ihnen im Ausland entgegengebrachte Anerkennung in Kontrast zu ihrer Vornehmheit in der Heimat. Franc¸ois Pierre Reynold (1709–1759) etwa, der spa¨ter eine steile Ratskarriere absolvierte, hatte sich wa¨hrend eines Aufenthalts in Innsbruck mit drei jungen Baronen aus Schwaben angefreundet. Er beschrieb ihre unterschiedliche, gesellschaftliche Anerkennung mit folgenden Worten: Nous sommes pourtant pas semblables en tout. Car ses Messieurs ont l’entre´e dans les grandes assemble´es de la noblesse d’icj, et pas nous, parceque nous sommes pas comme Eux Cavaliers mais seulement Edelleuthen, lesquels sont si communs icj, qu’on ¨ ber das bekannte Schweizer En fait point de difference d’avec les bons Bourgeois.19 U Image im Ausland – dasjenige des edlen Bauern – beklagte sich auch der langja¨hrige Freiburger Schultheiß Baron Franc¸ois Joseph Nicolas d’Alt (1669–1770). Als Inhaber des ho¨chsten Amts der Stadtrepublik und als gleichzeitiger Vertreter der noblesse e´trange`re machte er die fru¨h stattgefundene Ausgrenzung der Adeligen aus den Sta¨dten der Alten Eidgenossenschaft dafu¨r verantwortlich. Seiner Meinung nach hatte dies dazu beigetragen, dass diejenigen qui sont jaloux de noˆtre Souverainite´ et de notre Liberte´ in der Welt verbreiten wu¨rden que la Suisse n’est habite´e que par des Paysans et des manans qui ne me´ritent point d’e´tre associe´s a` la Noblesse de l’Europe, et que par consequent ils n’en me´ritent pas la consideration. Cette ide´e est injuste et insoutenable (...).20 Sein Sohn war wiederum der Ansicht, dass in Freiburg eine kulturelle Kluft zwischen gebildeten Adeligen und ungebildeten Republikanern bestu¨nde. ¨ ber einen Nachfolger seines Vaters, der seinerseits 24 Jahre als Schultheiß im Amt U 17 Zu d’Affrys Tochter Madeleine finden sich unterschiedliche Angaben. Gema¨ß Andrey/Czouz-Tor-

nare sandte man sie in ein Pensionat der Ursulinen nach Dijon, gema¨ß den Tagebu¨chern ihres spa¨teren Ehemanns verbrachte sie etliche Zeit bei Bernhardinern in Lyon. Vgl. Georges Andrey/Alain-Jacques Czouz-Tornare, Louis d’Affry (1743–1810). Premier Landamman de la Suisse, Gene`ve 2003, S. 36–38. Ebenso: Tagebu¨cher des Franc¸ois Pierre de Diesbach-Torny (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 192. 18 Vgl. Thomas Grosser, Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bu¨rgerliche Bildungsreise, in: Neue Impulse der Reiseforschung, hg. v. Michael Maurer, Berlin 1999, S. 135–176. 19 Copie-Lettres des Franc¸ois Pierre Reynold (1709–1759). In Privatbesitz, Brief vom 23. 3. 1734. 20 Kantons- und Universita¨tsbibliothek Fribourg, Franc¸ois Joseph Nicolas d’Alt, Hors d’oeuvres (Sign. soc. e´conomique D 1454), Bd. 6, S. 130.

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saß, urteilte er: Tre`s verse´ dans les petites choses de sa petite Re´publique, il n’a pas les premiers e´le´ments des sciences, des arts, ni des belles-lettres. Le de´faut d’e´ducation et de monde lui donne un air pitoyablement guinde´ dans la societe´.21 Diverse Vorgaben der Freiburger Stadtrepublik hatten die Rivalita¨t zwischen Adeligen und ungetitelten Repra¨sentanten seit Jahrhunderten unterstu¨tzt. Beispielsweise waren einzelne Ratsgremien oder -mandate nur unter Ablegung eines Adelstitels zuga¨nglich, wozu sich einige Vertreter der noblesse e´trange`re auch bereit zeigten. Zudem wurde im Ausland weilenden Offizieren eine Befo¨rderung in den Rat der Sechzig verwehrt, der mitunter als Zwischenstufe der zivilen Karriereplanung diente, denn hieraus wurden mehrheitlich die Kandidaten fu¨r die lukrativen und/oder einflussreichen Mandaten und Gremien rekrutiert. Verwehrt blieb den Offizieren die Befo¨rderung in den Sechziger mit dem Argument, der dortige Einsitz erfordere deren Anwesenheit. Natu¨rlich sahen sich nicht nur adlige Mitglieder des Großen Rats davon betroffen; nach Ablauf einer milita¨rischen Karriere stellte dies jedoch eine zusa¨tzliche Hu¨rde dar. Weiter durften ausla¨ndische Adels- oder Rittertitel auf Freiburger Territorium nur gefu¨hrt werden, wenn eine entsprechende Bewilligung des ¨ bertragbarkeit solcher Titel auf nachfolgende Kleinen Rats vorlag. Selbst wenn die U Generationen urkundlich festgehalten war, musste dieser Akt beim Tod eines Titelfu¨hrers erneuert werden. Die Gru¨nde lagen auf der Hand: Der Kleine Rat bewilligte die Fu¨hrung solcher Titel nur unter dem Vorbehalt, dass die Souvera¨nita¨t der Freiburger Obrigkeit keinesfalls Schaden nehmen du¨rfe und stets die Standesinteressen gewahrt bleiben mu¨ssten.22 Dass sich solche Bewilligungsverfahren nicht mit adeligem Selbstversta¨ndnis deckten, dokumentieren erneut die Aufzeichnungen des Schultheißen d’Alt. Seiner Ansicht nach sollten nur diejenigen als Adelige bezeichnet werden [...] qui ont aquis leur noblesse par leur vertus aupre`s des Teˆtes courrone´s, independamment de celle que l’aristocratie donne par le Droit de Souverainte´ aux de´sir de nos Patriciens, und daher ha¨tten es in Freiburg nur 15 Geschlechter verdient, als Maison noble qualifie´e zu gelten.23 Obwohl sich Vertreter der Familie d’Alt mit solchen Aussagen von anderen privilegierten Stadtbu¨rgern distanzierten, blieb ihnen die Prozedur einer Anerkennung nicht erspart. Der Titel eines Reichsfreiherrn, der 1704 durch Kaiser Leopold I. an den Vater des Schultheißen verliehen worden war, fand hingegen erst 60 Jahre spa¨ter seinen Weg in die Freiburger Kanzlei. Und nachdem Schultheiß d’Alt verstorben war, ließ 1771 auch sein Sohn den Titel beglaubigen.24 Sta¨dtische Unruhen, die durch andere Umsta¨nde hervorgerufen wurden und hier nicht weiter erla¨utert werden sollen, bewogen 1782 schließlich beide Parteien zu einem Abkommen. 21 Dieses Urteil bezog sich auf Schultheiß Franc¸ois Romain Werro (1716–1794), vgl. Un memoire ine´-

dit du baron Marie-Franc¸ois d’Alt sur les troubles de 1781–1783, publiziert von Gaston Castella in: Annales Fribourgeoises 12 (1924), S. 146–165, 268–273, sowie in Annales Fribourgeoises 13 (1925), S. 4–25, 75–82. Das Zitat findet sich Bd. 12, S. 272 (Fußnote 40). 22 StaatsA Freiburg, Ratsmanual 316 (1765), S. 84. 23 Es handelte es sich um die d’Affry, d’Alt, de Boccard, Castella de Gruye`re, verschiedene Diesbachlinien, d’Erlach, de Fe´gely de Vivy, Griset de Forel, de Fivaz, de Gle´resse, ein Zweig der Maillardoz, de Praroman, Baron du Prel, de Reyff und die Reynold de Cressier. Vgl. d’Alt, Hors d’oeuvres (wie Anm. 20), Bd. 6, S. 235f. 24 StaatsA Freiburg, Ratsmanual 322 (1771), S. 209.

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Die noblesse e´trange`re musste auf die Fu¨hrung ausla¨ndischer Titel verzichten, erhielt ¨ mtern der Stadtrepublik. Um aber im Gegenzug freien Zugang zu allen politischen A die Ebenbu¨rtigkeit sa¨mtlicher Ratsfamilien hervorzuheben, sollten von nun an alle das Adelspra¨dikat „de“ erhalten. Im Sinne europa¨ischer Vornehmheit wurde damit ein uniformes Bindeglied geschaffen, auf Ebene der Mentalita¨ten blieben die familia¨ren Differenzen weiter bestehen. Nicht alle Vertreter der noblesse e´trange`re hiel¨ mter fu¨r erstrebenswert, was man auf Seiten der vorten die neu zuga¨nglichen A mals Ungetitelten erneut als Verachtung interpretierte; zudem drohte den d’Affrys eine Buße, weil sie ihren Grafentitel trotz Verbot weiterfu¨hrten.25 Dieses Abkommen trieb sowohl die innersta¨dtische wie auch die innersta¨ndische Fragmentierung weiter voran, denn die Ratsgeschlechter grenzten sich damit nicht nur vom aufstrebenden gemeinen Stadtbu¨rgertum, sondern auch von den u¨brigen Familien der sta¨dtischen Elite ab, die nicht mehr im Rat vertreten waren. 1783 erfolgte die gleiche Selbsttitulierung der Ratsgeschlechter im benachbarten Bern. Unterschiedliche Geltungsra¨ume vermochten auch einzelne Geschlechter aufzuspalten oder letztlich zu polarisieren. So etwa die ungetitelten Montenach, zu deren lokalen Ansehen im 18. Jahrhundert eine hohe Anzahl Ratsvertreter wie auch auffallend viele Oberinnen der sta¨dtischen Frauenklo¨ster beigetragen hatten. Geltung im eidgeno¨ssischen und europa¨ischen Raum schufen sie sich durch die Wahl von Vater und Sohn zum Freiburger Schultheiß, durch zweifache Repra¨sentation als Bischof der Dio¨zese Lausanne sowie durch ihre Kompanie im Dienste Genuas. Obwohl sich die einzelnen Linien dieser weit verzweigten Sippe im Lauf der Zeit auf bestimmte Ta¨tigkeitsfelder spezialisiert hatten, forderte eine derart erfolgreiche Familienpolitik ihren Tribut. Ressourcenknappheit und Konkurrenz erho¨hten das innerfamilia¨re Konfliktpotential; beispielsweise bescha¨ftigte ein Erbstreit um ein Fideikommiss, in den auch Schultheiß Anton Niklaus Montenach (1691–1753) involviert war, das sta¨dtische Gericht u¨ber mehrere Jahrzehnte. Im Spannungsfeld von Distinktionsdruck, großen finanziellen Auslagen und zunehmender Ressourcenschwa¨che war dieselbe Problematik in weiteren Familien der sta¨dtischen Elite zu beobachten. In vielen Fa¨llen blieb die Geltung privilegierter Stadtbu¨rger auf den lokalen Raum begrenzt, und er lo¨ste sich teilweise sogar in Luft auf. Von dieser Form der innersta¨ndischen Polarisierung sah sich unter anderen die Familie Haberkorn betroffen. Seit dem 16. Jahrhundert im Freiburger Rat vertreten, vollzog sie im 18. Jahrhundert einen rasanten Abstieg und fiel im Zeitraum von drei Generationen von ihrer Mitgliedschaft im Kleinen Rat, also einem der einflussreichsten Gremien der Stadtrepublik, in die Obhut der sta¨dtischen Fu¨rsorge. Die zunehmende Marginalisierung der Haberkorn la¨sst sich auf verschiedenen Ebenen nachzeichnen. Auf der einen Seite kam es zu einer allma¨hlichen Verengung ihres durch Patenschaften oder Heiratsallianzen hergestellten, lokalen Beziehungsgeflechts. Auf der anderen Seite ließ sich eine sinkende Ratsrepra¨sentation nicht durch angesehene Kirchena¨mter kompensieren, wie dies anderen Freiburger Familien mo¨glich gewesen war. Dennoch hatten sich die Haberkorn in der ersten Jahrhundertha¨lfte die prestigevolle Wahl in den Kleinen Rat

25 Ebd., Fonds Griset de Forel. Brief des Jean de Forel vom 3. 7. 1785.

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geleistet, aber dieses wa¨hrend 28 Jahren ausgeu¨bte und gering entscha¨digte Ehrenamt forderte seinen Tribut. Kurz bevor Kleinrat Franz Philipp Haberkorn (1676–1753) verstarb, begann der kontinuierliche Auflo¨sungsprozess seines Familienguts. Nach jahrelangen Bemu¨hungen sahen sich die Nachkommen des Kleinrats durch eine akute Versorgungskrise bedroht, die sich infolge einer stark reduzierten Verwandtschaft nicht mehr innerfamilia¨r abfedern ließ. Die letzten beiden Ratsvertreter Haberkorn – es waren Sohn und Enkel des erwa¨hnten Kleinrats – geho¨rten aus Sicht ihrer Standesgenossen in die Ha¨nde der Armenpflege und erhielten 1770 einen offiziellen Vormund. Dies war eine u¨bliche Vorgehensweise, denn etliche Freiburger Ratsherren wie auch weitere Mitglieder der sta¨dtischen Elite standen aufgrund hoher Schulden unter Vormundschaft oder unter Aufsicht der so genannten Waisenkammer. In ausufernden Fa¨llen griff der Rat zu weitergehenden Maßnahmen, die je nach Kooperation der Betroffenen von wohlwollendem Entgegenkommen bis zur Verbannung ins Exil reichen konnten. Um dies am Beispiel der Haberkorn zu illustrieren: Dem einsichtigen Ratsherrn Franz Niklaus Haberkorn (1702–1774) wurde ein Gang ins Armenhaus erspart, stattdessen bot man ihm zur Wahrung des Gesichts eine Fremdplatzierung in einer Pension an. Sein Sohn jedoch, den die Quellen als einen ha¨ufig alkoholisierten und zu Tobsuchtsanfa¨llen neigenden Querulanten beschreiben, sah sich nach dem Tod seines Vaters vo¨llig isoliert. Nach Einhaltung einer kurzen Pieta¨tsfrist wurde er auf Anweisung des Rats in ein Observanzkloster der Franziskaner nach Lyon u¨berfu¨hrt, wo er als letzter Vertreter seines Geschlechts 14 Jahre spa¨ter verstarb. Sein Status als Ratsherr wurde in dieser Zeit formell aufrechterhalten, fu¨hrten ihn doch die Freiburger Besatzungsbu¨cher als solchen weiter. Erforderlich war in derartigen Fa¨llen ein so genannter Lebensschein, den die Verwandten im Vorfeld der ja¨hrlichen Ratsbesta¨tigung vorlegen mussten.26 Mehreren Freiburger Chronisten schien die Geltung der Haberkorn gegen Ende des 18. Jahrhunderts bedeutsam genug, um sie weiterhin als Mitglieder der sta¨dtischen Elite zu bezeichnen. Ihren rasanten sozialen Abstieg ließen sie dabei unerwa¨hnt – schließlich schickte es sich ¨ ffentlichkeit zu tragen. La¨ngst ausgestorben, nicht, innerfamilia¨re Probleme an die O erhielten die Haberkorn zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar einen kleinen Artikel im damals publizierten HBLS.27 Zu Polarisierungen innerhalb des sta¨dtischen Raums fu¨hrte letztlich auch die Freiburger Bestattungskultur. Unabha¨ngig konfessioneller Unterschiede besta¨tigen die Quellen eine a¨hnliche Vorgehensweise, wie sie fu¨r andere sta¨dtische oder la¨ndliche Gebiete der Alten Eidgenossenschaft dokumentiert wird.28 Das La¨uten der

26 Vgl. StaatsA Freiburg, Legislation et varie´te´s 60, Cammermanual, S. 139. 27 Vgl. Art. Haberkorn, in: Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, Band 4, Neuenburg 1927,

S. 31f. 28 Exemplarisch fu¨r die Alte Eidgenossenschaft vgl. Georges Descoeudres u. a., Sterben in Schwyz.

Beharrung und Wandlung im Totenbrauchtum einer la¨ndlichen Siedlung vom Spa¨tmittelalter bis in die Neuzeit, Schwyz 1995; Albert Hauser, Von den letzten Dingen. Tod, Begra¨bnis und Friedho¨fe in der Schweiz 1700–1990, Zu¨rich 1994; Martin Illi, Wohin die Toten gingen. Begra¨bnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt, Dissertation, Zu¨rich 1992; Genauere Angaben zu Freiburger Bestattungskultur finden sich in der Dissertation der Autorin (vgl. Anm. 1)

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großen Glocke etwa, welches den gemeinen Bu¨rgern verwehrt blieb. Zur Beschra¨nkung von Prunk und Aufwand hatte die Obrigkeit weiter die Trauerkleidung sowie das Gewicht und die Zahl der Leichkerzen festgesetzt – beides nach sta¨ndischen Kriterien. Die Geltung des oder der Verstorbenen wurde ebenso durch die Anwesenheitspflicht des Rats bei bestimmten Trauerprozessionen, der La¨nge eines Trauerzugs oder durch den jeweiligen Bestattungsort unterstrichen. Innerhalb der Stadt existierten – von den Klo¨stern mit ihren Grablegen abgesehen – sechs Gottesha¨user, die zur Bestattung der gesamten Stadtbevo¨lkerung zur Verfu¨gung standen: St. Nikolaus, Liebfrauen, Franziskaner, Augustiner, St. Johann sowie die Kapelle St. Peter.29 Zahlreiche Testamente wie auch die Freiburger Pfarreiregister belegen, dass sich die Gra¨ber der privilegierten Familien hauptsa¨chlich auf die vier Kirchen rund um den eigentlichen Stadtkern konzentrierten. Bevorzugt wurde die damalige Stiftskirche und heutige Kathedrale St. Nikolaus, gefolgt von der Franziskaner- und der Augustinerkirche. Im wahrsten Sinne des Wortes abfallend positionierte sich in dieser Hinsicht die in der Unterstadt gelegene Kirche St. Johann.30 Auch in Freiburg wurden Grabstellen im Innenraum von Kirchen verkauft. Ein Inventar des 17. Jahrhunderts spricht von 364 Pla¨tzen, die innerhalb der Stiftskirche St. Nikolaus zur Verfu¨gung standen. Diese waren mehrheitlich, aber nicht ausschließlich durch Vertreter der privilegierten Bu¨rgerschaft besetzt, und diese Familiengra¨ber wechselten ihren Besitzer, sobald ein Geschlecht ausstarb.31 Dem europa¨ischen Trend folgend fand kurz vor Mitte des 18. Jahrhunderts ein Wechsel von der Kirchen- zur Friedhofbestattung statt. In Freiburg wurden Gra¨ber im Kircheninnern somit fru¨her verboten als etwa im protestantischen Basel oder Zu¨rich, denn schon 1745 ließ der Rat verlauten, die Kirchen wu¨rden dadurch viel gesu¨nder und man erspare sich gleichzeitig das kontinuierliche Aufreißen des Pflasters – ein pragmatischer Ansatz, der unter anderem im Kontext der damaligen, kostspieligen Bodensanierung der Franziskanerkirche stand.32 Bereits im darauffolgenden Jahr trat eine neue Regelung in Kraft, und sa¨mtliche Personen, die bislang ein Bestattungsrecht in den Stadtkirchen besessen hatten, sollten fortan auf deren Hof beerdigt werden.33 Innerhalb der Stiftskirche St. Nikolaus bewahrten sich einzelne Parteien dennoch eine Sonderstellung: Einerseits die Chorherren des Stifts, die einige Jahrzehnte spa¨ter aus nachvollziehbaren Gru¨nden ihren Bestattungsort verlegen wollten – der Geruch ihrer zu Fu¨ssen liegenden Mitbru¨der verunmo¨glichte Chorgesang und Gebet und fu¨hrte teilweise zur Bewusstlosigkeit.34 Andererseits – und dies schuf einen weite-

29 Hubertus von Gemmingen, Zur ewigen Ruhe gebettet. Friedho¨fe und Totenbestattung im alten und

modernen Freiburg, in: Freiburger Geschichtsbla¨tter 89 (2012), S. 9–53.

30 Genauere Angaben finden sich in der Dissertation der Autorin (vgl. Anm. 1) 31 StaatsA Freiburg, Geistliche Sachen, Nr. 692. Erwa¨hntes Inventar des Freiburger Kirchmeyers umfasst

40 Familien, wovon sich die Mehrheit im 16. oder 17. Jahrhundert aktiv am sta¨dtischen Ratsgeschehen beteiligte. Nur in wenigen Fa¨llen war keine Ratsfa¨higkeit vorhanden. 32 StaatsA Freiburg, Ratsmanual 296 (1745), S. 117. 33 Ebd., Ratserkanntnusbuch Nr. 31, fol. 429–430v. 34 Zu diesem 1789 an den Rat gesandten Schreiben vgl. Hubertus von Gemmingen, Les dortoirs des morts: modes et rites d’inhumation a` Saint-Nicolas, in: Das Kapitel St. Nikolaus in Freiburg, hg. v. Jean Steinauer/Hubertus von Gemmingen, Freiburg 2010, S. 319–334, hier S. 329f.

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ren Polarisierungsherd innerhalb der sta¨dtischen Elite – blieb das Privileg der Familiengruft einzig den de Diesbach erhalten. Dies vermutlich aus praktischen Gru¨nden, denn besagte Gruft ist noch heute von außen zuga¨nglich, womit das Aufreißen von Bodenplatten im Kircheninnern vermieden werden konnte. Einige Vertreter der sta¨dtischen Elite fu¨hlten sich dadurch benachteiligt und machten beim Rat Anspru¨che geltend. Beispielsweise die adeligen Reynold de Cressier, die sich damit nicht nur gegenu¨ber der u¨brigen Stadtelite, sondern auch innerhalb der eigenen Sippe abzugrenzen suchten. Als 1755 die in der Stiftskirche gelegene Familienkapelle der Reynold diverse Sanierungen beno¨tigte und sich der Rat mit der Finanzierungsfrage auseinandersetzte, bot ein Repra¨sentant der Reynold de Cressier an, sich weiterhin um den Unterhalt der Kapelle zu ku¨mmern, sofern man das dortige Bestattungsrecht zuru¨ckerhalte. Dieses Vorrecht sollte exklusiv nur seinen Zweig betreffen, nicht aber die u¨brige Reynold-Verwandtschaft. Entsprechende Reaktionen folgten, namentlich der ungetitelte Kleinrat Franz Peter Reynold (1709–1759) setzte sich zur Wehr – schließlich hatte man sich im Zuge der neuen Begra¨bnisordnung auch an den Ra¨umungskosten der fru¨heren Familiengruft beteiligt, und so wurde der Antrag gema¨ß der neuen Begra¨bnisordnung abgelehnt.35 Formell blieb das Recht auf Kirchenbestattung nach 1746 nur noch Geistlichen, Freiburger Schultheißen oder großzu¨gigen Stiftern vorbehalten. Einige Schultheiße wurden in der Stiftskirche bestattet, man bezeichnete deren Grabstelle als tumba praetorum. Beru¨cksichtigt wurden auch Freiburger Standesvertreter, die als Bischo¨fe der Dio¨zese Lausanne im Amt gewesen waren; Letztere besaßen damals aber keine gemeinsame Gruft.36 Durch die Zuordnung bestimmter Friedho¨fe hatte schon vor 1746 eine innersta¨dtische Polarisierung bestanden. 1721 vermeinte der Rat, die aus Armuts- oder Krankheitsgru¨nden im Bu¨rgerspital verstorbenen Mitglieder der sta¨dtischen Elite weiterhin im Innern der Liebfrauenkirche zu bestatten, wa¨hrend die u¨brigen dort residierenden Stadtbu¨rger auf dem nahe gelegenen Franziskanerfriedhof ihre letzte Ruhe finden sollten.37 Da ab 1746 auch die Gra¨ber der Liebfrauenkirche gera¨umt werden mussten, setzte man die privilegierten Spitalinsassen fortan bei den Franziskanern bei. Den u¨brigen wurde aus Platzgru¨nden die dezentralere und in der Na¨he des Bu¨rgerspitals gelegene Kapelle St. Peter zugeteilt, wo die Obrigkeit eine Friedhofserweitung plante.38 Durchgefu¨hrt hat man diese schließlich auf der no¨rdlichen Seite des Spitals, und somit außerhalb der Stadtmauer. Auf diesem ab 1751 ero¨ffneten Friedhof beim Weihertor – heute durch Bahngeleise und Teile der Universita¨t besetzt – wurden ab

35 StaatsA Freiburg, Ratsmanual 306 (1755), S. 381; sowie Ratsmanual 307 (1756), S. 132. 36 Bischof Pierre de Montenach († 1707) begrub man in der Stiftskirche; Jacques († 1716) und Claude

Antoine Duding († 1745) – beide za¨hlten nicht zur privilegierten Stadtbu¨rgerschaft – wurden in der Kirche St. Johann in der Freiburger Unterstadt bestattet. Hubert de Boccard († 1758) fand seine letzte Ruhe im Chor der Liebfrauenkirche; Jean Nicolas de Montenach († 1782) in der Kirche der Ursulinen, und Emanuel de Lenzburg († 1798) begrub man wunschgema¨ß im Grab seiner Familie bei den Franziskanern. Vgl. die Artikel zu den jeweiligen Bischo¨fen in der Reihe Helvetia Sacra I/4, Le dioce`se de Lausanne (VIe s. – 1821), de Lausanne et Gene`ve (1821–1925) et de Lausanne, Gene`ve et Fribourg (depuis 1925), Basel/Frankfurt a. M. 1988, S. 158–167. 37 StaatsA Freiburg, Ratsmanual 272 (1721), S. 374. 38 Ebd., Ratserkanntnusbuch Nr. 31, S. 430.

Distinktive Ra¨ume

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1763 auch Mitglieder der Pfarrei St. Nikolaus bestattet, vermutlich weil man auf dem Hof der Stiftskirche erneut an Grenzen stieß.39 Bis Ende des 18. Jahrhunderts ließen sich jedoch nur ein geringer Anteil privilegierter Stadtbu¨rger dort bestatten. In den Testamenten der privilegierten Bu¨rgerschaft finden sich selten Angaben zum spezifischen Ablauf einer Bestattung, hingegen nahm die pauschale Bitte selon Condition et Etat unter die Erde gebracht zu werden, in der zweiten Jahrhundertha¨lfte leicht zu. Dem europa¨ischen Trend folgte auch der vereinzelte Wunsch nach einer schlichten Bestattung, hingegen bleibt insbesondere bei reichen Standesvertretern wie Graf Rudolf II. de Castella († 1793) fraglich, wie man sein sans pompe et au meilleur marche´, aber dennoch suivant mon Rang letztlich wohl interpretiert hat.40 Trotz einer hohen Zahl gesichteter Testamente konnte bislang kein Hinweis gefunden werden, dass das Verbot der Kirchenbestattung einen Trend gefo¨rdert ha¨tte, sich aus Distinktionsgru¨nden nun ha¨ufiger im Umland bestatten zu lassen – ein Sachverhalt, der beispielsweise fu¨r Bern beschrieben wird.41 Weiterhin grenzte sich die sta¨dtische Elite Freiburgs hingegen klar von denjenigen Friedho¨fen ab, auf denen man die nicht privilegierten Bewohner des Bu¨rgerspitals bestatten ließ.

III. Fazit

Ausgangspunkt dieses Artikels bildeten 105 Freiburger Familien, die im 18. Jahrhundert aufgrund ihres Bu¨rgerrechtsstatus in corpore einen gesellschaftlichen Vorrang beanspruchten und diesen u¨ber verschiedene Mittel zu legitimieren suchten. Da ihr Einfluss- und Geltungsbereich in vielen Fa¨llen auf das lokale Territorium beschra¨nkt blieb, sorgten daru¨ber hinaus erschlossene Ra¨ume im Zuge des europaweit zunehmenden Distinktionsdrucks fu¨r innersta¨ndische Konkurrenz und Polarisierungen. Einige, im Bereich der Fremden Dienste gut etablierte Familien der noblesse e´trange`re hoben sich in mehrfacher Hinsicht von anderen Repra¨sentanten der sta¨dtischen Elite ab. Ein Ungleichgewicht, das man unter anderem 1782 durch die Selbsttitulierung sa¨mtlicher Ratsgeschlechter beizulegen suchte. Auch aus diesem Grund sprach die bisherige Forschung oft von Freiburger Aristokratisierungstendenzen. Obwohl solche zweifelsohne vorhanden waren, wa¨re es falsch, damit die gesamte sta¨dtische Elite zu pauschalisieren. Denn mit Aristokratisierung verbunden blieben ebenso ein spezifisches Selbstbild und ein distinktiver

39 Marcel Strub, La Ville de Fribourg: les monuments religieux, Teil 2, Basel 1959, S. 422; sowie Aloys

Lauper/Carolina Kapsopoulos, Alle´e du Cimetie`re – le Cimetie`re Saint-Leonard, in: Ville de Fribourg, les fiches, hg. v. Amt fu¨r Kulturgu¨ter, Freiburg 2006. 40 StaatsA Freiburg, Notariatsregister 8, S. 95ff. 41 Vgl. Uwe Do ¨ rk, Der Tod der Oberschichten. Zur Entwicklung der Funeral- und Sepulkralkultur in Ulm und Bern in der fru¨hen Neuzeit, in: Macht und Memoria, Begra¨bniskultur europa¨ischer Oberschichten in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Mark Hengerer, Ko¨ln 2005, S. 131–162.

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Lebensstil, der in alle Bereiche des Denkens und Handelns hineinreichte.42 Gerade in dieser Hinsicht vermittelt die sta¨dtische Elite Freiburgs jedoch ein a¨ußerst heterogenes Bild: An den Erziehungsformen ihrer Kinder, der jeweiligen Heiratspolitik einer Familie, der konkreten Umsetzung des Rentnerdaseins sowie am differenten Umgang mit dem adligen Titel wird ersichtlich, dass Aristokratisierung unterschiedlich im Zentrum familia¨ren Agierens stand und stark an das traditionelle Ta¨tigkeitsfeld, der damit verbundenen Identita¨t und dem jeweiligen Ressourcenzugang gekoppelt blieb. Bisherige Tendenzen, prima¨r glanzvolle Freiburger Repra¨sentanten ins Visier zu nehmen und all jene außer Acht zu lassen, deren Geltungsraum durch einen allgemeinen Ressourcenmangel begrenzt blieb, mag teilweise mit der Quellenlage zusammenha¨ngen – sind doch die Familienarchive der Erstgenannten oft besser ausgestattet als diejenigen marginalisierter Verba¨nde. Gleichzeitig wird damit ausgeblendet, dass sich die Mehrheit der privilegierten Bu¨rgerschaft im eidgeno¨ssischen oder europa¨ischen Raum nicht als une famille distingue´e etablieren konnte. Nicht nur in Freiburg, sondern auch in anderen Sta¨dten der Alten Eidgenossenschaft ist bei der Nutzung ga¨ngiger Pauschalisierungen Vorsicht geboten, da sie der Komplexita¨t damaliger Gesellschaften meist nicht gerecht werden.

42 Vgl. Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und „edler“ Lebens-

stil in Antike und Fru¨her Neuzeit, hg. v. Hans Beck/Peter Scholz/Uwe Walter (HZ, Beih. 47), Mu¨nchen 2008, S. 2.

DIE TEILE UND DAS GANZE ¨ berlegungen zu Stadtvierteln und kommunalen Leistungen in der Fru¨hen Neuzeit U von Eric Piltz

I.

Will man die Eigenlogik vormoderner Sta¨dte erfassen, dann erscheint es zuna¨chst sinnvoll, diese als eine je unterschiedliche Zusammensetzung vieler substa¨dtischer sozialer und machtpolitischer Ra¨ume und Gemeinschaften zu betrachten.1 Eine Stadt wies „viele ra¨umliche Konfigurationen [auf], die koexistierten oder ineinander verschachtelt sind“2, die nahelegen, dass es sich bei der Rede von Stadt um einen „Synthesebegriff“ handelt.3 Der Vedutenblick des Historikers verstellt dies leicht, zumal der furor geographicus der Fru¨hen Neuzeit die Stadt im Innern weitgehend ausgelassen zu haben scheint. Die Stadt im Bild ist zumeist die Stadt als Bild und die Civitates Orbis Terrarum inszenieren Stadtko¨rper, keine Bewegungen.4 Fu¨r raumbezogene Identita¨ten und Lokalita¨tspraktiken wurden in der Forschung Selbstzeugnisse und Reiseberichte, aber auch Kriminalita¨tsakten herangezogen, anhand derer sich die Selbstverortungen fru¨hneuzeitlicher imagina¨rer Kartographien der Stadtnutzer rekonstruieren lassen.5 Was dabei vor allem aufscheint sind Orte, einzelne Punkte,

1 Karsten Igel, Vielerlei Ra¨ume – eine Stadt. Konstituierte und reale Ra¨ume im spa¨tmittelalterlichen

Osnabru¨ck, in: Sta¨dtische Ra¨ume im Mittelalter (Forum Mittelalter – Studien 5), hg. v. Susanne Ehrich/Jo¨rg Oberste, Regensburg 2009, S. 163–179. 2 Susanne Rau, Ra¨ume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einfu¨hrungen 14), Frankfurt a. M./New York 2013, S. 154. 3 Ebd., S. 155. 4 Zuletzt Peter Johanek, Bild und Wahrnehmung der Stadt. Anna¨herungen an ein Forschungsproblem, in: Bild und Wahrnehmung der Stadt (StF A 3), hg. v. Dems., Ko¨ln u. a. 2012, S. 1–23; Jeffrey Chipps Smith, Imaging and Imagining Nuremberg, in: Topographies of the early modern city (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Fru¨her Neuzeit 3), hg. v. Arthur Groos/Hans-Jochen Schiewer/ Markus Stock, Go¨ttingen 2008, S. 17–41. 5 Alain Cabantous, Le quartier espace ve´cu a` l’e´poque moderne. Ambiguı¨te´ et perspectives d’une histoire, in: Histoire, e´conomie et socie´te´ 13, 3 (1994), S. 427–439; Susanne Claudine Pils, Schreiben u¨ber Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639–1716 (Forschungen und Beitra¨ge zur Wiener Stadtgeschichte 36), Wien 2002; Eric Piltz, Verortung der Erinnerung. Heimat und Raumerfahrung in Selbstzeugnissen der Fru¨hen Neuzeit, in: Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, hg. v. Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schro¨ter, Bielefeld 2007, S. 57–79; Ralf-

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Kirchen, Pla¨tze, Ma¨rkte, Straßen, einzelne Ha¨user, die ein Netzwerk von Sichtbarkeiten und Wegen ergeben.6 Dabei pra¨formieren die jeweiligen Quellen die Aussagen daru¨ber, was Sta¨dter unter ihrer Stadt verstanden und wahrnahmen. So werden die imagina¨ren Kartographien des mittelalterlichen Marseille bei Daniel Lord Smail bestimmt durch die Rolle der town clerks und der offiziellen Quellen.7 Es handelt sich also stets um eine an einen Akteur gebundene Perspektive darauf, was die Stadt ist. Bei Bram Vannieuwenhuyze, der Smails Anregungen aufgreift, erscheint Bru¨ssel dagegen aus dem Blickwinkel der Quartiersbeschreibungen, in denen relative und horizontale Beschreibungsmuster und die Aufza¨hlung und Lokalisierung von Gu¨tern, Straßen und Nachbarn dominieren.8 Werden so ra¨umliche Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster greifbar, la¨sst sich die Identifizierung bzw. die Identifikationsmo¨glichkeiten mit dem eigenen Stadtteil historisch nur schwer messen. Wie die Arbeiten zu Großsta¨dten allerdings gezeigt haben, bildeten Stadtviertel, Kirchspiele und Nachbarschaft erste Referenzrahmen, wenn es darum ging, sich selbst und andere zu verorten.9 Hinzu kommt, letztlich als kleinster Baustein der sta¨dtischen Identita¨tskreise, das Haus.10 Das Viertel, die Pfarrei oder Nachbarschaft bildeten einen ra¨umlichsozialen Kontext, der unterhalb der sta¨dtischen Ebene eine Zugeho¨rigkeit bezeichnen konnte, der auf ra¨umlicher Na¨he und sozialer Interaktion basierte und Gegenstand und Mittel horizontaler und vertikaler sozialer und ra¨umlicher Kontrolle war.11 Es

Peter Fuchs, „Ob Zeuge wisse, was das Burggraftum Nu¨rnberg sei?“ Raumkenntnisse fru¨hneuzeitlicher Untertanen, in: Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beitra¨ge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, hg. v. Achim Landwehr, Augsburg 2002, S. 93–114. 6 Susanne Rau, Zeit-Ra¨ume, Parcours und Karte. Die Raum-Erkundungen der Reisenden in fru¨hneuzeitlichen Großsta¨dten, in: Raum-Erkundungen. Einblicke und Ausblicke, hg. v. Elisabeth Tiller/ Christoph Oliver Mayer, Heidelberg 2011, S. 155–180. 7 Daniel Lord Smail, Imaginary Cartographies: Possession and Identity in Late Medieval Marseille, Ithaca 1999. 8 Bram Vannieuwenhuyze, Buren, Straten en aanknopingspunten. Plaatsbepaaling in het laatmiddeleeuwse Brussel (dertiende-zestiende eeuw), in: Stadsgeschiedenis 4, 2 (2009), S. 97–114. In den London Chronicles des 15. Jahrhunderts „wird der sta¨dtische Raum u¨ber einen imagina¨ren Parcours, ein Ab- und Durchschreiten bestimmter Punkte erschlossen, gedacht, konstruiert und potentiell angeeignet.“ Im Anschluss an Michel de Certeau Anja Rathmann-Lutz, Historiographische Topographie und chorographische mindscapes. Raumkonstruktionen in den „London Chronicles“, in: Sta¨dtische Ra¨ume im Mittelalter (wie Anm. 1), S. 49–58, hier S. 57. 9 Die klassischen Studien dazu bei James S. Amelang, People of the Ribera: Popular Politics and Neighborhood Identity in Early Modern Barcelona, in: Culture and Identity in Early Modern Europe (1500–1800). Essays in Honor of Natalie Zemon Davis, hg. v. Barbara B. Diefendorf/Carla Hesse, Ann Arbor 1993, S. 119–137; Jeremy Boulton, Neighbourhood and Society: A London Suburb in the Seventeenth Century, Cambridge 1987; Nicholas Eckstein, The District of the Green Dragon. Neighbourhood Life and Social Change in Renaissance Florence (Quaderni di „Rinascimento“ 22), Florenz 1995; David Garrioch, Neighbourhood and community in Paris, 1740–1790, Cambridge 2002 (1986). 10 Programmatisch Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europa¨ischen Fru¨hen Neuzeit, in: ZHF 38 (2011), S. 621–664. 11 Carl A. Hoffmann, Nachbarschaften als Akteure und Instrumente der sozialen Kontrolle in urbanen Gesellschaften des Sechzehnten Jahrhunderts, in: Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im fru¨hneuzeitlichen Europa (Jus Commune, Sonderhefte 127), hg. v. Heinz Schilling, Frankfurt a. M. 1999, S. 187–202.

Die Teile und das Ganze

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bleibt allerdings zu konstatieren, dass weiterhin Bedarf besteht an Forschungen zu Stadtvierteln, Nachbarschaften und sozialra¨umlichen Gliederungen und deren Rolle fu¨r das Funktionieren fru¨hneuzeitlicher Sta¨dte.12

II.

Als zentral fu¨r diesen Sachverhalt ist der Konnex kommunaler Leistungen und (sub)sta¨dtischer Verwaltung herauszustellen. Diskutiert wurde er ju¨ngst erneut im Kontext der civil society, die fru¨hneuzeitlich gewendet auf den gesamten Verband sta¨dtischer Einrichtungen und Korporationen, quasi zwischen Familie und Staat, bezogen werden kann. Definieren ließe sie sich mit Katherine Lynch als eine o¨ffentliche (d. h. nicht: fu¨r alle frei zuga¨ngliche) Spha¨re, in der Individuen Gemeinschaften bilden und wo sich ebenso Wettbewerb, Rivalita¨t und Muster sozialer Ungleichheit entwickeln und die sich in Gilden, Zu¨nften, Bruderschaften und in substa¨dtischen Assoziations- und Organisationsformen findet.13 Die Bereitstellung kommunaler Leistungen la¨sst sich weder erscho¨pfend aus korporativem Eigensinn noch aus reinem Gemeinsinn als voraussetzungslose Orientierung auf den Gemeinen Nutzen herleiten. Manon van der Heijden bringt dies fu¨r die niederla¨ndischen Sta¨dte wie folgt auf den Punkt: „citizens performed public duties to fulfil their role as good citizens, and by doing so they served the city, but obviously such activities served their own interests as well“14. Die Themenbereiche reichen dabei von der Einrichtung und Aufrechterhaltung der Infrastruktur (Wasserleitungen, Brunnen, Feuerschutz, Straßen etc.) bis zur Gewa¨hrleistung des gutnachbarlichen Zusammenlebens, wobei gerade

12 Forschungsu¨berblicke oder Synthesen lassen sich an einer Hand abza¨hlen: Johannes Schultze, Die

Stadtviertel. Ein sta¨dtegeschichtliches Problem, in: BllDtLG 92 (1956), S. 18–39; Robert Ju¨tte, Das Stadtviertel als Problem und Gegenstand der fru¨hneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung, in: ebd. 127 (1991), S. 235–269; Jo¨rg Rogge, Viertel, Bauer- und Nachbarschaften. Bemerkungen zu Gliederung und Funktion des Stadtraumes im 15. Jahrhundert, in: Hanse – Sta¨dte – Bu¨nde. Die sa¨chsischen Sta¨dte zwischen Elbe und Weser um 1500, Bd. 1, hg v. Matthias Puhle, Magdeburg 1996, S. 231–240; Arnd Reitemeier, Kirchspiele und Viertel als ‚vertikale Einheiten‘ der Stadt des spa¨ten Mittelalters, in: BllDtLG 141/142 (2005/2006), S. 603–640. Fu¨r Stralsund hat zuletzt Karsten Labahn eine Verdichtung sozialer Beziehungsnetzwerke auf Ebene der Stadtviertel nachgewiesen. Karsten Labahn, Quartiere, Da¨mme und die Hafenvorstadt in Stralsund. Zur sozialra¨umlichen Gliederung der fru¨hneuzeitlichen Stadt, in: Stadt und Meer im Ostseeraum im 17. und 18. Jahrhundert. Seehandel, Sozialstruktur und Hausbau – dargestellt in historischen Informationssystemen. Beitra¨ge des wissenschaftlichen Kolloquiums in Stralsund vom 8. und 9. September 2005, hg. v. Frank Braun/Stefan Kroll/Kersten Kru¨ger, Berlin 2013, S. 208–247. 13 Katherine A. Lynch, Individuals, families, and communities in Europe, 1200–1800. The Urban Foundations of Western Society (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 37), Cambridge 2003; Vgl. Antony Black, Guild and Society. European Political Thought from the Twelfth Century to the Present, New Brunswick/London 32007. 14 Manon van der Heijden, Conflict and consensus. The allocation of public services in the Low Countries 1500–1800, in: Serving the urban community. The rise of public facilities in the Low Countries, hg. v. Ders. u. a., Amsterdam 2009, S. 21–41, hier S. 26.

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auf nachbarschaftlicher Ebene eine funktionale Trennung beider Bereiche nicht auszumachen ist.15 Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Im Jahr 1632 legte im westfa¨lischen Coesfeld die Nachbarschaft der Walkenbru¨ckenstraße in ihrem Protokollbuch fest, dass unter den Nachburen gute a¨nigkeit, liebe, und nachburschafft gehalten werden solle, dazu za¨hlte sie gegenseitige Gewa¨hrleistung von (und den Schutz vor) Licht, Feuer, Wasser und anderer mehr nothwendigen sachen.16 Weiter heißt es, dass, sollten sich Streit, Unverstand und Unta¨tigkeit unter den Nachbarn ergeben, es die Aufgabe der von der Nachbarschaft bestellten Provisoren und Scho¨ffen wa¨re, diese beizulegen. Es handelt sich hier um ein Statut, das sich die Nachbarn selbst geben und das sie als eine korporativ verfasste und ra¨umlich begrenzte Form der Nachbarschaft kennzeichnet, wie sie am Mittel- und Unterrhein und im westfa¨lisch-mu¨nsterischen Raum, aber ¨ berlingen am Bodensee sowie in auch in einigen su¨ddeutschen Kleinsta¨dten wie U einigen Großsta¨dten der Niederlande in der Fru¨hen Neuzeit anzutreffen sind. Diese Form korporierter Nachbarschaften mit ra¨umlichen Grenzen wie Stadtvierteln sind trotz ihrer Verbreitung einerseits insofern ein Sonderfall, als sie Quellen hinterlassen haben, die eine Analyse ihrer Formen der Soziabilita¨t und Vergemeinschaftung erlauben.17 Andererseits wa¨re es verfehlt, aus dem Fehlen vergleichbarer Quellen in anderen Sta¨dten darauf zu schließen, dass es keine substa¨dtischen Lokalita¨tsbezu¨ge gegeben hat. Die Teilungen des sta¨dtischen Raumes in ra¨umlich-funktionale Glieder du¨rften vielmehr den altsta¨dtischen Normalfall dargestellt haben.18 In den Coesfelder Nachbarschaften a¨ußerte sich die Plurifunktionalita¨t darin, dass neben dem Verbot des Streits die Versammlung der Nachbarn verordnet, dass, sollte einer unter ihnen in Armut geraten, denselben [...] mu¨glicher succurs vnd behulff geschehen solle, bei Krankheit eines Nachbarn obliege es den anderen dafu¨r zu sorgen, dass die heiligen Sakramente rechtzeitig erteilt werden. Die Nachbarn wurden zudem bei einer Geldstrafe angehalten, einen Verstorbenen gemeinsam zu 15 Wolfgang Kaschuba, Kommunalismus als „common sense“. Zur Konzeption von Lebenswelt und

Alltagskultur im neuzeitlichen Gemeindegedanken, in: Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich, hg. v. Peter Blickle, Mu¨nchen 1991, S. 65–91, hier S. 58. 16 StadtA Coesfeld, VII/4 Walkenbru¨ckenstraße, o. p. Im Stadtarchiv Coesfeld werden Bu¨cher der folgenden Nachbarschaften verwahrt: Große Viehstraße, Mu¨hlennachbarschaft, Schafsnachbarschaft, Walkenbru¨ckenstraße, Su¨ringstraße, Kuchenstraße. 17 Zu den korporierten Nachbarschaften ausfu¨hrlicher in Eric Piltz, Vergemeinschaftung durch Anwesenheit. Die sozialra¨umlichen Grenzen der Nachbarschaft in Andernach und Coesfeld, in: Grenzen und Grenzu¨berschreitungen in der Fru¨hen Neuzeit. Bilanz und Perspektiven der Fru¨hneuzeitforschung (Fru¨hneuzeit-Impulse 1), hg. v. Christine Roll/Frank Pohle/Matthias Myrczek, Ko¨ln u. a. 2010, S. 385–398. Bei den Nachbarschaftsbu¨chern handelt es sich gewissermaßen um „Quellen vom unteren Rand der Schriftlichkeit“. Siehe dazu Helmut Graser: Quellen vom unteren Rand der Schriftlichkeit – die Stimme der einfachen Leute in der Stadt der Fru¨hen Neuzeit?, in: Sprachvariation und Sprachwandel in der Stadt der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Stephan Elspass/Michaela Negele, Heidelberg 2011, S. 15–48. 18 Vgl. Ju ¨ tte, Stadtviertel (wie Anm. 12). Viertel etc., die nicht zugleich als kirchliche Einheiten greifbar sind, sind erst spa¨t u¨berliefert und oft nur aus der Existenz der entsprechenden Viertelsmeister greifbar. Unterschiedliche Bezeichnungen von Stadtvierteln (Leischaften, Bauerschaften, Huden, Wachten) ko¨nnen bisweilen auf Herkunft oder Funktion verweisen, wobei die Stadtverteidigung ein vorrangiges Moment beansprucht. Schultze, Stadtviertel (wie Anm. 12), S. 27.

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bestatten, ferner sollten sie sich freundtlich erzeigen, und sollte bei den gemeinsamen Nachbarschaftsgelagen einer zu Za¨nkerei oder Unlust neigen, solle demjenigen eine Strafe in Form von einzuzahlendem Bier auferlegt werden. Die Liste ließe sich ebenso fortsetzen wie auch andere a¨hnlich lautende Verordnungen an die Seite stellen. Als entscheidend mo¨chte ich hier aber herausstellen, dass in der allta¨glichen Lebenswelt die nachbarschaftliche Organisation auf Werte rekurrierte, die sich gleichsam tautologisch als Nachbarschaftlichkeit zusammenfassen lassen und die ein semantisches Feld von christlicher Na¨chstenliebe und pragmatischen Nachbarpflichten umschließen. Auch wenn Werte ans sich „nicht beobachtbar sind, dann beno¨tigt man sie doch als Erkla¨rungsfaktoren, die die Existenz von empirisch beobachtbaren Verhaltensregularien erst versta¨ndlich machen.“19 Der Vorrang guter Nachbarschaft war dabei ein solcher artikulierter Wert, der informelle Verhaltensnormen und Hilfe, die Sachvorsorge und das Wohlsein aller Nachbarn und Hausbesitzer beinhaltete. Auch wenn in der Tat die Ansicht daru¨ber, was als Gemeinwohl angesehen und was als no¨tig erachtet wird dieses aufrechtzuerhalten, zwischen sta¨dtischen Gruppen verschieden sein konnte20, kann man hierin eine Konvergenz der Interessen der Akteure erkennen, die an der Bereitstellung weicher (nachbarschaftliche Hilfe) und harter (Straßenreinigung, Brunnenbau) Infrastruktur der Stadt beteiligt waren.21 Diese Interessenkonvergenz von substa¨dtischer und sta¨dtischer Ebene wird z. B. deutlich im Nachbarschaftsbuch der Hochstraße in Andernach22: Die Nachbarn werden 1640 hierin aufgerufen, die Unordnung in den Straßen zu beenden und nicht la¨nger ihren Abfall vor der Tu¨r des Nachbarn abzuladen. Dies sei nicht nur bereits in der sta¨dtischen Policeyordnung so festgehalten, vielmehr sollten diejenigen Nachbarn, die nicht von dieser Praxis absa¨hen, durch den Schultheißen der Nachbarschaft und den Knecht gezwungen werden, die Kosten fu¨r die Reinigung zu u¨bernehmen. In der nachbarlichen Verordnung war es aber nicht die sta¨dtische Policeyordnung, die es zu befolgen galt, vielmehr war es Sache der Nachbarschaft, dies aus Eigeninteresse zu regeln. Und die Vorschriften gingen sogar noch weiter: Sollte sich jemand weigern, dies zu tun, dann konnte die Nachbarschaft ein Pfand aus seinem Haus als Sicherheit nehmen. An dieser Stelle trafen sich die Vorstellungen von Ordnung und Sicherheit auf nachbarschaftlicher Ebene mit der Guten Policey. Hinsichtlich ihrer Legitimation und ihrer Ausrichtung auf den Gemeinen Nutz lassen sich Parallelen ziehen zwischen 19 Philip R. Hoffmann, Normenkonflikte und Wertewandel – U ¨ berlegungen zur Historizita¨t des Nor-

mativen, in: Die Historizita¨t des Normativen. Normenkonflikte und Wertewandel im diachronen Vergleich. Diskussionsbeitra¨ge des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs/SFB 485, Nr. 61, hg. v. der Arbeitsgruppe Normenkonflikte und Wertewandel, Konstanz 2005, S. 3–22, hier S. 12. 20 Besonders deutlich bei Philip J. Broadhead, Guildsmen, Religious Reform and the Search for the Common Good: The Role of the Guilds in the Early Reformation in Augsburg, in: The Historical Journal 39 (1996), S. 577–597; vgl. Jo¨rg Rogge, Fu¨r den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikversta¨ndnis von Rat und Bu¨rgerschaft in Augsburg im Spa¨tmittelalter, Tu¨bingen 1996. 21 Indem die Betonung auf die Konvergenz von Interessen fa¨llt, folge ich nicht Peter Blickles Annahme, dass die Idee des Gemeinen Nutzens sich allein aus Nachbarschaft und Lebensunterhalt entwickelte. Peter Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: HZ 242 (1986), S. 529–556, hier S. 544. 22 Andernach, Nachbarschaftbuch Hochstraßennachbarschaft, Privatbesitz, S. 2f.

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den Haushalten, Nachbarschaften und der sta¨dtischen Ebene.23 Die Aufrechterhaltung des Gemeinwohls „in der Sicherung der Nahrungsgrundlagen und des nachbarschaftlichen Friedens“24 konkretisierte sich im Ideal der Nachbarschaftlichkeit, der gegenseitigen nachbarlichen Hilfe und der Wahrung des nachbarlichen Friedens. ¨ bersetzung und Hineinspiegelung spiWenn sich zudem im 17. Jahrhunderts eine „U rituellen christlich-konformen Handelns“ in die Feuerordnungen erkennen la¨sst, um „praktische und geistliche Feuerverhu¨tung zu vereinen“25, und man bedenkt, dass der Feuerschutz ebenso wie die Gewa¨hrleistung von „Feuer und Licht“26 Bestandteil nachbarlicher Hilfe war, dann erscheint Nachbarschaftlichkeit als Grundwert sta¨dtischer Ordnung, auf die die Stadt im Sinne der Guten Policey als Ressource zuru¨ckgreifen konnte. Die enge Interessensverflechtung von Stadt(rat) und Nachbarschaften im Hinblick auf die Gewa¨hrleistung des Stadtfriedens tritt gerade im Konfliktfall zwischen sta¨dtischen und substa¨dtischen Einrichtungen hervor, beispielhaft ersichtlich an einer Beschwerde des Amtmannes der Andernacher Marktnachbarschaft, einem Dr. Roß.27 Dieser beklagte sich beim Rat am 5. 2. 1728 u¨ber den ungebu¨hrlichen Umgang mit ihm, woraufhin durch den Rat die Nachbarschaft explizit aufgefordert wurde, den mit der nachbarschaftlichen Organisation einhergehenden Respect gegenu¨ber der ¨ mtervertretung zu wahren.28 Erfahren wir auch nichts u¨ber die Hintergru¨nde dieA ses Streits, so liegt doch die Vermutung nahe, dass eine Spannungssituation zwischen Nachbarn und ihrem auf Lebenszeit gewa¨hlten Amtmann zu einigen Reibereien u¨ber dessen Amtsfu¨hrung gefu¨hrt haben muss.29 Roß war bereits mehrfach mit der Nachbarschaft in Konflikt geraten.30 Wenige Jahre spa¨ter reichte er abermals eine Remonstration ein, die der Rat damit beantwortete, dass der Schultheiß der Nachbarschaft, 23 Frank G. Hirschmann, Die Stadt im Mittelalter (Enzyklopa¨die deutscher Geschichte 84), Mu¨nchen

2009, S. 25.

24 Andrea Iseli, Gute Policey. O ¨ ffentliche Ordnung in der Fru¨hen Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 127. 25 Cornel Zwierlein, Der geza¨hmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Fru¨her Neuzeit und

Moderne (Umwelt und Gesellschaft 3), Go¨ttingen 2011, S. 122. Eine prominente Gegenstimme, die eher dem common sense (i. S. des gesunden Menschenverstandes) als einem auf ho¨heren Werten basierendem Gemeinsinn beim Brandschutz das Wort redet ist Ende des 16. Jahrhunderts der Neo-Stoiker Justus Lipsius: „Wenn in dieser Stadt zum Lo¨schen eines Brandes gerufen wu¨rde, so wu¨rde ich geradezu behaupten wollen, daß sogar alle Blinden und Lahmen herbeiliefen, um zu lo¨schen. Was meinst du? Daß sie es aus Liebe zur Vaterstadt tun? Ja frage sie doch nur selbst! Dann werden sie bekennen, daß sie es tun, weil es sie perso¨nlich betrifft.“, in: Justus Lipsius, De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Latein – Deutsch (excerpta classica XVI), Mainz 1998, S. 57, S. 59. 26 So eine immer wiederkehrende Redeformel in den Nachbarschaftsbu¨chern. 27 Das Nachbarbuch der Marktnachbarschaft ist leider verloren gegangen. 28 Landeshauptarchiv (LHA) Koblenz, 612/2019, Ratsprotokolle, 5. 2. 1728. 29 Denkbare Konfliktebenen wa¨ren der Ablauf und die Planung der nachbarlichen Feiern oder der Verwaltung der Gelder. 30 Einen Hinweis darauf, dass Dr. Roß schon seit la¨ngerem mit seiner Nachbarschaft in Unfrieden lag, liefert ein Decretum des Rats zwei Jahre zuvor, datiert auf den 21. Februar 1726, in dem der Marktnachbarschaft befohlen wird, den bei Peter Frank getrunkenen Wein aus eigenen Mitteln zu bezahlen. Außerdem wurden sie angehalten ku¨nftig gegen Klagenden Hrn Amtmann sich besser zu betragen und gebu¨hrenden Respect zu erweisen. LHA Koblenz, 612/2019, Ratsprotokolle, 21. Februar 1726. Hintergrund ist das Verbot, am zweiten Karnevalstag den Wein aus der Nachbarschaftskasse zu bezahlen, um Missbrauch und Verschwendung einzuda¨mmen.

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ein von den Nachbarn bestelltes Amt, innerhalb von 24 Stunden dafu¨r sorgen solle, dass die angesetzte Ratsstrafe fu¨r die beklagte Nachbarschaft bezahlt wu¨rde, andernfalls dem Bu¨rgermeister die Execution u¨bertragen wu¨rde.31 Womo¨glich spielen hier innernachbarschaftliche Konkurrenzen hinein, zumindest ist die Organisation der Nachbarschaft, die u¨ber den Amtmann geleitet wurde, ernsthaft durch derartige Friktionen gefa¨hrdet. Dem gegenu¨ber stand das Primat der gu¨tlichen Einigung als ein Leitgedanke sta¨dtischer Herrschaft. Daher wurde vom Rat angemahnt, dass diese Sache [...] in der gu¨the abgemacht werden solle.32 Die Duldsamkeit des Rates zeigte sich, als wie gewo¨hnlich am unmittelbar folgenden Fastnachtssonntag das u¨bliche Geloch (Gelage) gehalten wurde, dem nun prompt eine Beschwerde des Amtmanns wegen des sta¨ndigen Ungehorsams der Nachbarn am Aschermittwoch folgte.33 Der Rat war ein weiteres Mal nur auf Ausgleich bedacht. Die Uneinigkeit der Marktnachbarschaft mit ihrem Vorsteher setzte sich allerdings fort, so dass Roß Anfang 1731 abermals Beschwerde einreichte, woraufhin der Rat beschloss, die beklagte Nachbarschaft durch den Bu¨rgermeister wegen ihrer besta¨ndigen Renitenz zu bestrafen.34 Womit man am gleichen Punkt wie zwei Jahre zuvor angelangt war. Ob und wie in dem Fall die Strafe ausgefu¨hrt wurde oder sich das Bestreben nach gu¨tlicher Einigung fortgesetzt hat, bleibt unklar. Gleichwohl ist keinesfalls die Mo¨glichkeit auszuschließen, dass es zu einer Schlichtung auf infra-justizieller nachbarschaftlicher Ebene kam, zumal auch die mu¨ndlichen Verhandlungen vor dem Rat, die im Fall Roß nur summarisch im Ergebnis festgehalten wurden, hier lu¨ckenhaft sein ko¨nnen.35 Was dieser Fall aber verdeutlicht, ist zum einen eine keineswegs selbstversta¨ndliche nachbarschaftliche Selbstorganisation, zum anderen der doppelte Befund, dass der Rat in nachbarschaftliche Belange eher zuru¨ckhaltend intervenierte, von einer Autokephalie der Nachbarschaften jedoch nicht die Rede sein kann. Ausgehend von einem Mangel an sta¨dtischen Beamten, la¨sst sich hier die infra-administrative Struktur substa¨dtischer Organisation greifen, auf deren Selbstregulierung und Selbstverwaltung die Stadt weitgehend angewiesen war. Die Beteiligung an der Stadtgemeinde war, wie Ulrich Meier und Klaus Schreiner betont haben, ein korporatives Unterfangen36 bei

31 19. 2. 1728: Beklagte nachbahrschafft wird in eine gantße rathsstraff condemnirt, und Zu deren erle-

gung dem schulteißen eine Zeith Von 24 stund angesetßt, nach deren fruchtloser Verfließung Hr Bu¨rgermeister die Execution aufgetragen wird. LHA Koblenz, 612/2019 Ratsprotokolle von 1728–1730, Nr. II, B. 1. 32 Ebd. 33 eine beschließliche Anzeig des besta¨ndigen Ungehorsams mit Bitt pro demandanda executione. Ebd. 34 LHA Koblenz 612/2020, Ratsprotokolle, 1. 2. 1731. 35 Fu¨r eine Beantwortung dieser Frage mu¨sste das fehlende Nachbarschaftsbuch Auskunft geben. Auffa¨llig ist, dass stets der Amtmann der Beschwerdetra¨ger ist und nicht die Nachbarn gegen Roß Klage erheben. 36 Ulrich Meier/Klaus Schreiner, Regimen civitatis. Zum Spannungsverha¨ltnis von Freiheit und Ordnung in alteuropa¨ischen Stadtgesellschaften, in: Stadtregiment und Bu¨rgerfreiheit. Handlungsspielra¨ume in deutschen und italienischen Sta¨dten des Spa¨ten Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit (Bu¨rgertum. Beitra¨ge zur europa¨ischen Gesellschaftsgeschichte 7), hg. v. Dens., Go¨ttingen 1994, S. 9–34; Manon van der Heijden, Civic Duty. Public services in the Early Modern Low Countries, Cambridge 2012. Franc¸ois-Joseph Ruggiu bezeichnet die Stadt der Fru¨hen Neuzeit als „un espace global de pouvoirs auquel un nombre plus ou moins grand de citadins pouvaient participer a` des degre´s divers

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der – wie die Policey- und Implementationsforschung gezeigt hat – nicht nur TopDown-Prozesse, sondern auch die Praktiken der Aneignungen und der Face-to-faceKontrolle zu beru¨cksichtigen sind. Das Konzept der Herrschaftsvermittlung zudem hat vor allem fu¨r die territoriale Ebene auf die Broker- und Mittlerrollen niederer Beamter hingewiesen.37 An den Vorsta¨dten wird die Wechselbeziehung von Viertel und sta¨dtischer Herrschaft besonders augenfa¨llig. Das ehemalige „Stiefkind“ der Sta¨dteforschung,38 die Vorstadt, hat mittlerweile einen Platz in der Erforschung urbaner Ra¨ume.39 Die Leipziger Vorsta¨dte, die als vergleichsweise gut untersucht gelten ko¨nnen, kannten seit dem 16. Jahrhundert Ordonnanzen des Rates, die sich an die Nachbarschaften der Vorsta¨dte wandten.40 Wa¨hrend Catherine Denys fu¨r Lille im 17. und 18. Jahrhundert festgestellt hat, dass der Vorort ein von der Policey gering betroffener Raum blieb und in der Wahrnehmung der sta¨dtischen Gerichte die Policey des sta¨dtischen Raumes im Ganzen zuna¨chst auf der Vorstellung eines geschlossenen, eingefriedeten Raumes beruhte,41 ließe sich fu¨r Leipzig umgekehrt behaupten, dass die sta¨dtische Politik fu¨r die Vorsta¨dte einen erho¨hten Regelungsbedarf erkannte. Eine Scharnierfunktion hatten dabei die Gassenmeister der Vorsta¨dte, die den Zuzug von Fremden kontrollierten, an den Rat berichteten, aber ebenso vorgeschriebene infra-justizielle Schlichterinstanz wie auch unterste Verwaltungsebene waren.42 Als Bewohner der Nachbarschaft waren sie durchaus integriert, zugleich aber Agenten der Obrigkeit, die die pourvu qu’ils aient en main au moins un certain nombre de ressources.“ Franc¸ois-Joseph Ruggiu, Pour une e´tude de l’engagement civique au XVIIIe sie`cle, in: Histoire Urbaine 19,2 (2007), S. 145–164, hier S. 147. 37 Achim Landwehr, „Normdurchsetzung“ in der Fru¨hen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift fu¨r Geschichte 48 (2000), S. 146–162, hat von einer territorialen Perspektive aus auf die Interessenkongruenzen zwischen Obrigkeit und Untertanen hingewiesen und dafu¨r pla¨diert, nicht allein auf die Durchsetzungsfa¨higkeit herrschaftlicher Interessen zu schauen, sondern auf Aneignungs- und Implementationsprozesse. Vgl. Andre´ Holenstein u. a., Der Arm des Gesetzes. Ordnungskra¨fte und gesellschaftliche Ordnung in der Vormoderne als Forschungsfeld (Einleitung), in: Policey in lokalen Ra¨umen. Ordnungskra¨fte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spa¨tmittelalter bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Dens., Frankfurt a. M. 2002, S. 1–54, hier S. 7; Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, hg. v. Dems./Heide Wunder, Ko¨ln u. a. 2005, S. 1–21. 38 So noch Karl Czok, Zur Rolle der Vorsta¨dte in Sachsen und Thu¨ringen im Zeitalter der deutschen fru¨hbu¨rgerlichen Revolution, in: Die Stadt an der Schwelle zur Neuzeit, hg. v. Wilhelm Rausch, Linz/ Donau 1980, S. 227–244, hier S. 227. 39 Siehe z. B. das Programm der Konferenz Extra muros – Vorsta¨dtische Ra¨ume in Spa¨tmittelalter und fru¨her Neuzeit, 21. – 22. 2. 2013, Luxemburg, unter URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=20991 [26. 3. 2013]. Druck in StF als A 91. 40 Karl Czok, Die Nachbarschaftsartikel fu¨r die Leipziger Vorsta¨dte vom Jahre 1550, in: Viatori per urbes castraque. Festschrift fu¨r Herwig Ebner zu 75. Geburtstag, hg. v. Helmut Bra¨uer/Gerhard Jaritz/ Ka¨the Sonnleitner (Schriftenreihe des Instituts fu¨r Geschichte 14), Graz 2003, S. 131–142. 41 Catherine Denys, Policey und sta¨dtischer Raum in einer franzo¨sischen Grenzstadt: das Beispiel Lille (1686–1791), in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt (Konflikte und Kultur 13), hg. v. Christian Hochmuth/Susanne Rau, Konstanz, 2006, S. 75–90. Die unmittelbare Umgebung der Sta¨dte behielten lange Zeit diesen unsicheren Charakter. Vgl. John M. Merriman, The Margins of City Life. Explorations on the French Urban Frontier 1815–1870, Oxford 1991. 42 Leipzig Acta allerhand Gassenmeisterberichte u¨ber Vorga¨nge und Zusta¨nde in den Nachbarschaften, StadtA Leipzig, Tit. XXXIX, Nr. 55. Vorwiegend auf Basis der Nachbarschaftsordnungen Verena

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Statuten der Nachbarschaften approbieren mussten. Viertelja¨hrlich fand eine Verlesung der Nachbarschaftsartikel statt, fu¨r deren Einhaltung die Gassenmeister zusta¨ndig waren.43 So fragte 1725 der Gassenmeister und trewgehorsamster Diener Daniel Heinrich Siebenbu¨rger beim Rat an, inwiefern die Verordnung umzusetzen sei, nach der kein Miethmann in der Vorstadt angenommen werde du¨rfe ohne Attestat von der Nachbarschaft, wo er zuvor gewohnt habe. Unter den Gassenmeistern haben sich, so Siebenbu¨rger, nun Zweifel geregt, ob hierunter auch die Personen fielen, die aus der Innenstadt in die Vorstadt zo¨gen. Zwar ko¨nne man davon ausgehen, dass bei Bu¨rgern und wirklichen Schutzverwandten die Vorzeigung eines Attestats unno¨tig sei, selbige doch wenigstens durchga¨ngig bey ledigen und unter E. E. Hochw. Raths Schutze noch nicht stehende Personen (36r.), vor allem bei dienstlosem Gesinde unentbehrlich sei. Es bringe somit wenig, wenn diese zwar die Stadt verlassen mu¨ssten, sich aber unter der Entschuldigung, daß sie bereits in der Stadt gewohnet sicher in der Vorstadt niederlassen du¨rften.44 Die Unsicherheiten der Kontrolle zeigen sich noch einmal, wenn in der Leipziger Nachbarschaft auf der großen und kleinen Kautze mit Christoph Heinrich Aaron ein Musikus zum Gassenschreiber gewa¨hlt wird. Der Gassenmeister richtete 1725 ein Schreiben an den Rat, dass dieser nebst andere Musicis ta¨glich des Nachmittags wenigstens von 4. bis 10. Uhr des Abends, auch wohl manchmahl noch la¨nger, die aufwartung hat. Nachdem er Aarons Fa¨higkeiten, den Dienst zu erfu¨llen grundsa¨tzlich in Zweifel gezogen hat, bittet er den Rat zu u¨berlegen, ob bey oberwehnten Umsta¨nden Aaronnen den Gassenschreiberdienst aufzutragen sey oder nicht.45 Dass man hier u¨berhaupt den Bock zum Ga¨rtner machen konnte, la¨sst sich nur damit erkla¨ren, dass sta¨dtische Herrschaft nur mittelbar und auch soziale Kontrolle nur in der inner- und vorsta¨dtischen Partitionierung vermittelt vonstatten ¨ mter ging. Es waren die Gassenbewohner ebenso wie die Nachbarschaften, die ihre A und Vertreter wa¨hlten. Diese waren Scharniere nachbarschaftlicher interner Interessen und obrigkeitlicher Regelungsanspru¨che, konnten vom Rat direkt adressiert werden und die Nachbarschaft als Korporation vertreten.

Kriese, Die Leipziger Vorsta¨dte – ihre o¨konomische, soziale und verfassungsma¨ßige Entwicklung im 18. Jahrhundert, unvero¨ff. Diss. 1986. 43 Articul der Nachbarschafft auf der Ulrichs-Gaße, StadtA Leipzig, Tit. XXXIX, Nr. 4, 1669. Siehe zu Konflikten innerhalb der vorsta¨dtischen Nachbarschaften jetzt Alexander Ka¨stner, Welcher Pfaffe ist ein Schelm? Nachbarschaft, Konflikte und religio¨se Devianz in Leipzig (1640), in: Go¨ttlicher Zorn und menschliches Maß. Religio¨se Abweichung in fru¨hneuzeitlichen Stadtgemeinschaften (Konflikte und Kultur 28), hg. v. Dems./Gerd Schwerhoff, Konstanz 2013, S. 183–214, zu den Gassenmeistern S. 187f. 44 Acta Die Gaßen-Meister in denen Vorsta¨dten und deren Verrichtung betrf., Anno 1725, StadtA Leipzig, Tit. XXXIX, Nr. 8a, fol. 35r–37v. Die Gleichstellung mit der inneren Stadt „in communeller Hinsicht“ erfolgte in mehreren Schritten ab 1835. StadtA Leipzig, Tit. XXXIX, Nr. 26. 45 Acta Gaßen-Meister (wie Anm. 44), fol. 89r–90r.

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III.

Heinz Schilling hat darauf hingewiesen, dass „die Nachbarschaftsverba¨nde bereits fru¨h als Mittra¨ger o¨ffentlicher Gewalt“ auftraten.46 Dies geschah in den kleinen und gro¨ßeren Sta¨dten, intra- und extra-mural in unterschiedlichem Ausmaße. Die durchaus plausiblen Forschungsannahmen einer Korrelation zwischen sta¨dtischem Wachstum und expandierenden kommunalen Diensten, den civil services, lassen sich aber nicht derart kausal verknu¨pfen, dass sie auch im Umkehrschluss Gu¨ltigkeit bewahren. Stagnation und wirtschaftliche Krisen zeitigen eben nicht automatisch einen Ru¨ckgang an sta¨dtischen Einrichtungen.47 Dennoch sind Gro¨ße und Wachstum der Stadt entscheidende Faktoren: Je gro¨ßer die Stadt, so im niederla¨ndischen Vergleich zwischen Haarlem, Antwerpen, Amsterdam und kleineren Sta¨dten wie Middelburg, desto wahrscheinlicher ist es, dass die sta¨dtischen Obrigkeiten die Verantwortung u¨bernehmen. Bei kleineren Sta¨dten verblieben nicht-politische Aufgaben wie die Straßenreinigung tendenziell eher in den Ha¨nden privater Bu¨rger bzw. auf der Ebene der Stadtviertel. Ein Großteil der sta¨dtischen Diener erhielt kein regula¨res Gehalt oder verfu¨gte u¨ber ein eigenes Budget, das von der Stadtobrigkeit bereitgestellt worden wa¨re. Vielmehr waren diejenigen, die im Dienste der Stadt standen, nicht public servants, sondern civil servants „who executed their tasks to a certain extent in line with government stipulations, but who were supposed to treat their job as an enterprise in which they should invest their money and hire their own assistants.“48 Die Plurifunktionalita¨t anstelle einer funktionalen Differenzierung substa¨dtischer Organisationen ist dabei zentral. Anhand korporierter Nachbarschaften, die in den Niederlanden eine prominente Rolle in der Organisationsstruktur der Stadt bilden, la¨sst sich eine Entwicklung im Hinblick auf die Versorgungseinrichtungen nachzeichnen: In Leiden leitete Ende des 16. Jahrhunderts der umtriebige Stadtsekreta¨r Jan van Hout einige Reformen ein, die das Verha¨ltnis von sta¨dtischer und substa¨dtischer Ebene neu definieren sollten:49 Er pla¨dierte ausdru¨cklich dafu¨r, die bestehenden kirchlichen Organisationen und sta¨dtischen Korporationen in den Dienst der sta¨dtischen Politik zu stellen. Sie sollten weiterhin eine aktive Rolle bei der Bereitstellung von o¨ffentlicher Sicherheit, sozialer Fu¨rsorge und der Konfliktregulierung spielen, allerdings unter der Aufsicht des Magistrats. Fu¨r die Nachbarschaften in Leiden und Gent bedeutete dies konkret, dass Gelder nicht mehr an den Nachbarschaftsvorstand gezahlt wurden und innerhalb der Nachbarschaft verblieben. Eine Zentralisierung senkte an dieser Stelle die Zahlungsbereitschaft, da u¨ber die Verwendung der

46 Heinz Schilling, Gab es im spa¨ten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen sta¨d-

tischen „Republikanismus“? Zur politischen Kultur des alteuropa¨ischen Stadtbu¨rgertums, in: Republiken und Republikanismus im Europa der Fru¨hen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 11), hg. v. Helmut G. Koenigsberger, Mu¨nchen 1988, S. 101–143, hier S. 112f. 47 Van der Heijden, Civic duty (wie Anm. 36), S. 10. 48 Ebd., S. 77. 49 Siehe dazu Kees Walle, Buurthouden. De geschiedenis van burengebruiken en buurtorganisaties in Leiden (14e–19e eeuw), Leiden 2005.

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Gelder z. B. fu¨r Nothilfe bei Kranken, Armen oder bei Hausscha¨den nicht mehr mit entschieden werden konnte. Begleitet wurde dies zum einen durch den Aufbau eines eigenen sta¨dtischen Kontrollapparats, zum anderen durch die Nachbarschaftsvorsteher als Mittelsma¨nner, deren Rolle zwischen Dienern der Obrigkeit und Agenten der Nachbarschaft changierte. Versorgungstyp

Versorger

¨ ffentliche Sicherheit O (milita¨rischer Schutz, Gerichtswesen, sta¨dtische Diener, Konfliktregulierung, Feuerschutz)

– – – – –

Stadtwachen/Viertel Zu¨nfte/Gilden Nachbarschaften Kirchliche Organisationen Ratsherrn

¨ ffentliche Wohlfahrt O (Armenfu¨rsorge, Waisen, Gesundheit, Bildung)

– – – – –

Zu¨nfte/Gilden Nachbarschaften Kirchliche Organisationen Stadtrat Private Bu¨rger

¨ ffentliche Arbeit O (Geba¨ude, Straßen, Hafen, Beleuchtung etc.)

– Stadtrat – Nachbarschaften – Private Bu¨rger

Wirtschaftliche Regulierung (Aufsicht u¨ber Markt, Gu¨ter und Handel, Qualita¨t)

– Stadtrat – Zu¨nfte/Gilden

¨ ffentliche Verwaltung O (Stadtregiment, ‚civil servants‘, Fiskalverwaltung, Registrierung von Ehen, Geburten, Tod etc.)

– Stadtrat, sta¨dtische Bedienstete – Zu¨nfte/Gilden

¨ berDie Tabelle50 zeigt hierzu eine – vorrangig fu¨r die Niederlande entwickelte – U sicht u¨ber die Typen sta¨dtischer Infrastruktur und die daran beteiligten Akteure. Diese als kommunale Leistungen unter Beteiligung substa¨dtischer Organisationsformen und der Bu¨rger selbst zusammenzufu¨hren, kann m. E. auch fu¨r die deutsche Stadtgeschichtsforschung fruchtbar sein. Mir scheint, dass das, was van der Heijden civic activism nennt, na¨mlich die bewusste und aktive Partizipation an sta¨dtischen Versorgungsbelangen durch Gruppen und einzelne Bu¨rger, ohne Anstellung oder unmittelbare Vergu¨tung, als Voraussetzung, die Vielzahl sta¨dtischer Einrichtung zu gewa¨hrleisten, eine lohnenswerte Perspektive ist, die zudem der fehlenden ra¨umlichen Trennung wirtschaftlicher, o¨ffentlicher und privater Belange und der Interessenund Wertekonvergenz von sta¨dtischer und substa¨dtischer Ebene in der vormodernen Stadt gerecht wird. 50 Nach van der Heijden, Civic duty (wie Anm. 36), S. 40.

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Stadtherrschaft la¨sst sich nicht in einem einfachen Modell von Raumkontrolle denken. Vielmehr wirkte die Formel von Frieden und Sicherheit auf den Ebenen der Stadt, der Nachbarschaft und des Hauses gleichermaßen mit unterschiedlichen Gestaltungsspielra¨umen.51 Zudem erhielt die Aufrechterhaltung und Absicherung des Gemeinwohls ihre konkrete Gestalt in der Sicherung von Nahrung und nachbarlichem Frieden. Das Bedu¨rfnis nach Ordnung und Stabilita¨t war ein Ausdruck des Konsenses zwischen normierender Obrigkeit und den „Normadressaten“.52 Dies schließt keineswegs den konfliktiven Charakter aus, vor allem, wenn es um die Einforderung oder Bereitstellung der Infrastruktur ging.53 Sta¨dtische Grundwerte wie Gemeinnutz, Gerechtigkeit, Ehre der Stadt, konnten dabei „jeweils von Gruppen geltend gemacht werden [...], gegen eine andere Gruppe oder gegen Einzelne, die ambitioniert waren, um nach Macht zu streben.“54 Im Kern der Auseinandersetzung u¨ber die sta¨dtische Ordnung standen aber auf substa¨dtischer Ebene nicht allein prima¨r theoretische Diskurse (betreffend pax, concordia, res publica), sondern die praktischen Fragen, wie und von wem z. B. die Armenfu¨rsorge oder die Wasserversorgung gewa¨hrleistet werden sollte. Gewissermaßen als eigentliche Tra¨ger allgemeiner Wertund Normvorstellungen waren es die substa¨dtischen Einheiten, die so etwas wie eine sta¨dtische Gemeinschaft erst ermo¨glichten.55

51 Peter Schuster, Hinter den Mauern das Paradies? Sicherheit und Unsicherheit in den Sta¨dten des spa¨-

ten Mittelalters, in: Unsichere Großsta¨dte. Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, hg. v. Martin Dinges/ Fritz Sack, Konstanz 2000, S. 70. 52 Karl Ha¨rter, Soziale Disziplinierung durch Strafe? Intentionen fru¨hneuzeitlicher Polizeiordnungen und staatlicher Sanktionspraxis, in: ZHF 26 (1999), S. 365–379; Joachim Eibach, Sta¨dtische Strafjustiz als konsensuale Praxis: Frankfurt a. M. im 17. und 18. Jahrhundert, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl, Konstanz 2004, S. 181–214. 53 van der Heijden, Civic duty (wie Anm. 36), S. 81. 54 Hans-Christoph Rublack, Grundwerte in der Reichsstadt im Spa¨tmittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, in: Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele sta¨dtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, hg. v. Horst Brunner, Go¨ppingen 1982, S. 9–36, hier S. 20. 55 Vgl. Guido Heinzmann, Gemeinschaft und Identita¨t spa¨tmittelalterlicher Kleinsta¨dte Westfalens. Eine mentalita¨tsgeschichtliche Untersuchung der Sta¨dte Dorsten, Haltern, Hamm, Lu¨nen, Recklinghausen und Werne, Norderstedt 2006, S. 431.

WAS IST „STADT“? Ra¨ume und Spielra¨ume am Beispiel des mittelalterlichen Bamberg von Claudia Esch

Am 7. Ma¨rz 1632 berichtete der schwedische General Gustav Horn seinem Ko¨nig u¨ber die fra¨nkische Bischofsstadt an der Regnitz: Damit nun Euer Koenigl. Maiest. gru¨ndlich Nachricht haben moegen, so wollen Dieselbe anfangs sich gnaedigst informieren lassen, wie dass die Stadt Bamberg ein grosser weitlaeuftiger Ort, gleichsam von unterschiedlichen Staedten.1 Die Vorstellung eines seit dem Mittelalter gewissermaßen in mehrere Sta¨dte zergliederten Bamberg, die bei Horns Beschreibung anklingt, fand auch Eingang in die Forschung.2 Erst ku¨rzlich stellte Franz-Josef Arlinghaus fest: „In Su¨ddeutschland stellt Bamberg neben anderen das Beispiel fu¨r eine Stadt dar, die aus mindestens zwei verschiedenen Sta¨dten bestand.“3 Die fra¨nkische Siedlung besaß offenbar eine so komplexe Struktur, dass nicht einmal die Zahl der dort befindlichen Stadtgemeinden ohne weiteres gekla¨rt werden kann. Die Ursache hierfu¨r liegt in der Existenz mehrerer großfla¨chiger Immunita¨tsbezirke innerhalb Bambergs, in denen sich im Verlauf des Mittelalters sta¨dtische Siedlungen entwickelten. Die Formulierung Stat und Muntaten, die seit dem 13. Jahrhundert als Bezeichnung fu¨r das Stadtgebiet auftaucht, deutet auf das zwischen Zusammengeho¨rigkeit und Eigensta¨ndigkeit oszillierende Verha¨ltnis der Siedlungsteile hin. Alle Gebiete zusammen bildeten die Siedlung Bamberg – aber geho¨rten die in den Quellen als Muntaten bezeichneten Immunita¨ten noch zur ‚eigentlichen‘ Stadt? Dies tangiert unmittelbar die Frage nach den Grenzen der Stadt im Raum. Welches Gebiet

1 Johann Peter von Ludewig, Bambergensium episcoporum novissimi seculi continuatio ab anno 1600 ad

annum 1718, in: Scriptores rerum episcopatus Bambergensis, hg. v. Johann Peter von Ludewig (Scriptores Rerum Germanicarum 1), Frankfurt 1718, S. 1011–1109, hier S. 1028. 2 Isolde Maierho ¨ fer, Bambergs verfassungstopographische Entwicklung vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Bischofs- und Kathedralsta¨dte des Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Franz Petri (StF A 1), Ko¨ln 1976, S. 146–162, hier S. 155. 3 Franz-Josef Arlinghaus, Einheit der Stadt? Religion und Performanz im spa¨tmittelalterlichen Braunschweig, in: Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bu¨rgerkirche – urbanes Zentrum, hg. v. Werner Freitag (StF A 82), Ko¨ln 2011, S. 77–96, hier S. 85.

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Claudia Esch

geho¨rte zur Stadt und in welchem Verha¨ltnis standen die Immunita¨ten dazu – waren sie Stadtteile, Teilsta¨dte oder eigensta¨ndige Siedlungen vor der Stadt? Bamberg galt in der Literatur lange als Sonderfall, da sich die geistlichen Territorien in Bezug auf ihre ra¨umliche Ausdehnung und ihren politischen Einfluss von Immunita¨ten in anderen Sta¨dten abhoben.4 Ein Vergleich der Immunita¨ten in Bamberg mit anderen inner- und außersta¨dtischen Siedlungsstrukturen, die sich nicht in geistlichen Ha¨nden befanden, wurde selten unternommen. Helmut Flachenecker setzte neue Akzente in dieser Hinsicht, als er die Bamberger Immunita¨ten unter dem Aspekt der sta¨dtischen Sonderbezirke betrachtete und damit einen Vergleich der Immunita¨ten mit anderen, strukturell a¨hnlichen sta¨dtischen Siedlungspha¨nomenen anregte.5 Einen a¨hnlichen Weg schlug Franz-Josef Arlinghaus ein, der Bamberg in eine Reihe mit mehrgliedrigen Sta¨dten wie Ko¨ln, Braunschweig oder Hildesheim stellte.6 Die Immunita¨ten wurden hier nicht mehr prima¨r als geistliche Territorien, sondern als eigensta¨ndige Stadtgemeinden betrachtet. Da die Bemerkung im Kontext eines Aufsatzes zu Braunschweig fiel, folgte keine na¨here Auseinandersetzung mit dem Bamberger Fall. Eine eingehende Untersuchung des Verha¨ltnisses von Stadt und Immunita¨ten unter dem Aspekt der Grenzen der Stadt steht daher noch aus. Dieser Ansatz soll im Folgenden weitergefu¨hrt werden. Das Vorhaben wirft zuna¨chst die grundsa¨tzliche Frage nach der Definition der Grenzen der Stadt im Mittelalter auf. Der Rand der Stadt und die sich dort befindlichen Siedlungen sind in den letzten Jahrzehnten versta¨rkt in das Blickfeld der Forschung geru¨ckt,7 wobei fu¨r die Bestimmung der Stadtgrenze meist die Stadtmauer

4 Konrad Hofmann, Die engere Immunita¨t in deutschen Bischofssta¨dten im Mittelalter (Go¨rrGes 20),

Paderborn 1914, S. 53; Norbert Leudemann, Deutsche Bischofssta¨dte im Mittelalter. Zur topographischen Entwicklung der deutschen Bischofsstadt im Heiligen Ro¨mischen Reich, Mu¨nchen 1980, S. 102; Thomas Gunzelmann/Stefan Pfaffenberger, Die Stadt zwischen Bischof, Domkapitel und Bu¨rgern. Zweite Ha¨lfte 13. Jahrhundert bis erste Ha¨lfte 15. Jahrhundert, in: Stadt Bamberg 1 – Stadtdenkmal und Denkmallandschaft. 1. Halbband: Stadtentwicklungsgeschichte, hg. v. Thomas Gunzelmann (Die Kunstdenkma¨ler von Bayern: Regierungsbezirk Oberfranken 3), Mu¨nchen/Bamberg 2012, S. 254–311, hier S. 289. 5 Helmut Flachenecker, Kirchliche Immunita¨tsbezirke – Fremdko¨rper in der Stadt?, in: Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormoderne, hg. v. Peter Johanek (StF A 59), Ko¨ln 2004, S. 1–28, hier S. 6. 6 Arlinghaus, Einheit (wie Anm. 3), S. 85. 7 Grundlegend dazu: Stadterweiterung und Vorstadt. Protokoll u¨ber die VI. Arbeitstagung des Arbeitskreises fu¨r Su¨dwestdeutsche Stadtgeschichtsforschung, Konstanz, 10. – 12. November 1967, hg. v. Erich Maschke (VKomGLdkdBW B 51), Stuttgart 1969. Zu Vorsta¨dten vgl. Karl Czok, Die Vorsta¨dte. Ihre Stellung in den Stadt-Land-Beziehungen, in: Gewerbliche Produktion und Stadt-Land-Beziehungen, hg. v. Konrad Fritze, Weimar 1979, S. 127–135; ders., Vorsta¨dte. Zu Entstehung, Entwicklungsstadien, Wirtschafts- und Sozialstruktur, in: Stadt- und Landmauern 3: Abgrenzungen – Ausgrenzungen in der Stadt und um die Stadt (Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r Denkmalpflege an der Eidgeno¨ssischen Technischen Hochschule Zu¨rich 15,3), Zu¨rich 1999, S. 189–194; Karlheinz Blaschke, Altstadt – Neustadt – Vorstadt. Zur Typologie genetischer und topographischer Stadtgeschichtsforschung, in: Vierteljahrschrift fu¨r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 57 (1970), S. 350–362; ders., Die Stellung der Vorsta¨dte im Gefu¨ge der mittelalterlichen Stadt, in: Stadtbaukunst im Mittelalter, hg. v. Dieter Dolgner, Berlin 1990, S. 204–217; Herbert Knittler, Stadterweiterung und Vorstadt im kleinund mittelsta¨dtischen Milieu am Beispiel o¨sterreichischer La¨nder, in: Die Stadt als Kommunikationsraum, hg. v. Helmut Bra¨uer/Elke Schlenkrich, Leipzig 2001, S. 535–565; Armand Baeriswyl, Stadt,

Was ist „Stadt“?

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herangezogen wird.8 Fu¨r die Wahl der Befestigungsanlage als Trennlinie zwischen inner- und außersta¨dtischen Gebieten spricht die herausragende Rolle, welche die Mauer bereits im Mittelalter fu¨r die Identita¨t und das Selbstversta¨ndnis einer Stadt spielte.9 Im Fall Bambergs eignet sich die Stadtmauer jedoch nur bedingt zur Abgrenzung, da ein geschlossener Mauerring um die Gesamtstadt im 14. und 15. Jahrhundert fehlte.10 Zudem belegen die Studien zu den Stadtrandsiedlungen, dass der Blick auf die Mauer nur eine Facette der Stadt beru¨cksichtigt und fu¨r sich betrachtet noch kein zuverla¨ssiger Indikator fu¨r das Verha¨ltnis einer Siedlung zur Stadt ist. Es existierte eine große Bandbreite an Siedlungsformen vor den Stadttoren, von denen manche in vielerlei Hinsicht – wirtschaftlich, politisch, kirchlich und auch rechtlich – mit der Stadt verbunden waren, andere dagegen nicht oder nur teilweise.11 Die Stadt endete nicht in allen Fa¨llen und in jeder Hinsicht an der Mauer. Die Entscheidung u¨ber den Einbezug einer vorsta¨dtischen Siedlung in den Mauerring hing stark von lokalen Gegebenheiten und Zufa¨lligkeiten ab.12 Selbst Siedlungen, die zu einem spa¨teren Zeitpunkt in den Mauerring einbezogen wurden, konnten einen Sonderstatus behalten und gingen damit trotz ihrer baulichen Integration rechtlich nicht in der Stadt auf.13 Eine solche Sondergemeinde ist zwar einerseits nicht unter die außerhalb der Stadt(mauer) gelegenen Siedlungen zu rechnen, kann aber

Vorstadt und Stadterweiterung im Mittelalter. Archa¨ologische und historische Studien zum Wachstum der drei Za¨hringersta¨dte Burgdorf, Bern und Freiburg im Breisgau (Schweizer Beitra¨ge zur Kulturgeschichte und Archa¨ologie des Mittelalters 30), Basel 2003. Zu mittelalterlichen Stadtrandpha¨nomenen im weiteren Sinn vgl. Franz Irsigler, Ko¨ln extra muros. 14. – 18. Jahrhundert, in: Siedlungsforschung 1 (1983), S. 137–149; Winfried Schich, Stadtrandpha¨nomene bei den Sta¨dten im Großberliner Raum vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, in: ebd., S. 65–85.; Peter Hill, Die Stadt und ihr Rand im Mittelalter. Das Beispiel Bremen, in: Die Stadt und ihr Rand, hg. v. Peter Johanek (StF A 70), Ko¨ln 2008, S. 167–189. 8 Schich, Stadtrandpha¨nomeme (wie Anm. 7), S. 68; Ba¨rbel Brodt, Before I built a Wall I’d ask to know what I was walling in or walling out. Die Stadtmauer als Vermittler zwischen Stadt und Land?, in: Stadt und Rand (wie Anm. 7), S. 1–17, hier S. 2f.; Hill, Stadt (wie Anm. 7), S. 170. 9 Peter Johanek, Die Mauer und die Heiligen. Stadtvorstellungen im Mittelalter, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit. 1400–1800, hg. v. Wolfgang Behringer/Bernd Roeck, Mu¨nchen 1999, S. 26–38; Roland Gerber, Wehrhaft, heilig und scho¨n. Selbstversta¨ndnis, Außenansicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Sta¨dte im Su¨dwesten des Reiches, in: Was machte im Mittelalter zur Stadt? Selbstversta¨ndnis Außensicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Sta¨dte. Vortra¨ge des gleichnamigen Symposiums vom 30. Ma¨rz bis 2. April 2006 in Heilbronn, hg. v. Kurt-Ulrich Ja¨schke/Christian Schrenk (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 18), Heilbronn 2007, S. 25–46, besonders S. 40. Zur Nachwirkung des Bilds der ummauerten Stadt vgl. Peter Johanek, Einleitung, in: Stadt und Rand (wie Anm. 7), S. VII–XVIII, hier S. XV. 10 Dennoch gab es durchaus Befestigungsanlagen. Vergleiche den Abschnitt unten zur Stadtmauer. 11 Blaschke, Stellung der Vorsta¨dte (wie Anm. 7), S. 206–211. Auf die Zwischenstellung der Vorsta¨dte zwischen Stadt und Land weist auch Karl Czok hin: Czok, Zu Entstehung (wie Anm. 7), S. 191f. 12 Blaschke, Altstadt (wie Anm. 7), S. 352; Knittler, Stadterweiterung (wie Anm. 7), S. 541. 13 Karlheinz Blaschke, Sonderrechtsbereiche in sa¨chsischen Sta¨dten an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Civitatum communitas. Studien zum europa¨ischen Sta¨dtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, hg. v. Helmut Ja¨ger/Franz Petri/Heinz Quirin (StF A 21, 1), Ko¨ln 1984, S. 254–265, hier S. 259–263.

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andererseits unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfassung und Rechtsstellung als eigensta¨ndige Stadt(gemeinde) begriffen werden.14 Ob man Siedlungen als Sondergemeinden innerhalb der ummauerten Stadt oder als eigensta¨ndige Sta¨dte innerhalb gemeinsamer Mauern betrachtet,15 ist in manchen Fa¨llen nur eine Frage der Gewichtung der Kriterien und damit letztlich abha¨ngig von dem zu Grunde gelegten Stadtbegriff.16 Damit lo¨st sich das Problem der Grenzbestimmung der Stadt jedoch nur bedingt, da fu¨r den Stadtbegriff eine Fu¨lle an Definitionsvorschla¨gen vorliegt.17 Wa¨hrend sich die Forschung einig ist, dass ein einzelnes Kriterium nicht ausreicht, um die Stadt zu definieren, variieren die Vorschla¨ge bezu¨glich der Zusammenstellung der Merkmale erheblich. Die Bandbreite der aktuell diskutierten Beitra¨ge reicht von teilweise umfangreichen Kriterienkatalogen18 bis hin zu eher pra¨gnanten Definitionsangeboten.19 Eine der bis heute einflussreichsten und wohl meist rezipierten20 Stadtdefini-

14 Zum Pha¨nomen der Doppel- oder Gruppenstadt siehe Karl Fro ¨ hlich, Das verfassungstopographi-

sche Bild der mittelalterlichen Stadt im Lichte der neueren Forschung, in: Die Stadt des Mittelalters. Erster Band: Begriff, Entstehung und Ausbreitung, hg. v. Carl Haase (Wege der Forschung 243), Darmstadt 31978, S. 281–337, besonders S. 330–335; Wilfried Ehbrecht, Doppelstadt, in: LexMA 3, Mu¨nchen 1986, Sp. 1259–1260; Monika Knipper, Mittelalterliche Doppelsta¨dte. Entstehung und Vereinigung im Vergleich ausgewa¨hlter Beispiele (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 154), Darmstadt 2010, besonders S. 19–45. 15 Franz-Josef Arlinghaus za¨hlt die Sondergemeinden in Ko¨ln zu den Beispielen eigensta¨ndiger Stadtgemeinden, wa¨hrend Ko¨ln in der Liste der mehrgliedrigen Sta¨dte von Monika Knipper nicht auftaucht. Arlinghaus, Einheit (wie Anm. 3), S. 84; Knipper, Doppelsta¨dte (wie Anm. 14), S. 38. Zu den Ko¨lner Gemeinden siehe auch Manfred Groten, Entstehung und Fru¨hzeit der Ko¨lner Sondergemeinden, in: Sondergemeinden (wie Anm. 5), S. 53–77. 16 Knipper, Doppelsta¨dte (wie Anm. 14), S. 20. 17 Einen U ¨ berblick u¨ber die Forschungsdebatten geben Alfred Heit, Vielfalt der Erscheinung – Einheit des Begriffs? Die Stadtdefinition in der deutschsprachigen Stadtgeschichtsforschung seit dem 18. Jahrhundert, in: Vielerlei Sta¨dte. Der Stadtbegriff, hg. v. Peter Johanek (StF A 61), Ko¨ln 2004, S. 1–12, und Franz Irsigler, Anna¨herungen an den Stadtbegriff, in: Europa¨ische Sta¨dte im Mittelalter, hg. v. Ferdinand Opll/Christoph Sonnlechner (Forschungen und Beitra¨ge zur Wiener Stadtgeschichte 52), Innsbruck 2010, S. 15–30. Siehe auch Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien/ Ko¨ln/Weimar 2012, S. 39–50. 18 Karlheinz Blaschke, Qualita¨t, Quantita¨t und Raumfunktion als Wesenmerkmale der Stadt vom Mittelalter bis zur Gegenwart, in: Jahrbuch fu¨r Regionalgeschichte 3 (1968), S. 34–50, hier S. 35; HansWalter Herrmann, Sta¨dte im Einzugsbereich der Saar bis 1400, in: Les petites villes en Lotharingie. Die kleinen Sta¨dte in Lothringen (Publications de la Section historique de l’Institut g.-d., te 108), Luxembourg 1992, S. 225–317, hier S. 269; Monika Escher/Alfred Haverkamp/Frank G. Hirschmann, Einleitung, in: Sta¨dtelandschaft – Sta¨dtenetz – zentralo¨rtliches Gefu¨ge. Ansa¨tze und Befunde zur Geschichte der Sta¨dte im hohen und spa¨ten Mittelalter, hg. v. Monika Escher/Alfred Haverkamp/ Frank G. Hirschmann (Trierer historische Forschungen 43), Mainz 2000, S. 9–54, hier S. 52–53; Wilhelm Ehbrecht, civile ius per novos iurantes consuetum est ab antiquo novari in Fivelgoniae. Merkmale nichtagrarischer Siedlungen im mittelalterlichen Friesland zwischen Lauwers und Weser, in: Der weite Blick des Historikers. Einsichten in Kultur-, Landes- und Stadtgeschichte. Peter Johanek zum 65. Geburtstag, hg. v. Wilfried Ehbrecht u. a., Ko¨ln 2002, S. 409–452, hier S. 417. 19 Irsigler, Anna¨herungen (wie Anm. 17), S. 28; Peter Johanek, Tradition und Zukunft der Stadtgeschichtsforschung in Mitteleuropa, in: Im Dienste der Stadtgeschichtsforschung. Festgabe fu¨r Wilhelm Rausch zur Vollendung seines 70. Lebensjahres (Pro civitate Austriae: Sonderheft), Linz 1997, S. 37–62, hier S. 39. 20 Zur Bedeutung des Weberschen Stadtbegriffs vergleiche Irsigler, Anna¨herung (wie Anm. 17), S. 20.

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tionen wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Max Weber entwickelt, der fu¨nf Merkmale der okzidentalen Stadt hervorhob: „1. die Befestigung, 2. der Markt, 3. eigenes Gericht und mindestens teilweise eigenes Recht, 4. Verbandscharakter und damit verbunden 5. mindestens teilweise Autonomie und Autokephalie, also auch Verwaltung durch Beho¨rden, an deren Bestellung die Bu¨rger als solche irgendwie beteiligt waren.“21 Den Stadtbegriff Max Webers legte auch Franz-Josef Arlinghaus seinen Ausfu¨hrungen zu den zusammengesetzten Sta¨dten, zu denen er Bamberg za¨hlt, zu Grunde, wobei er sich vor allem auf das letzte Kriterium konzentrierte.22 In Erweiterung dieses Ansatzes wird sich die vorliegende Arbeit ebenfalls am Weber’schen Stadtbegriff orientieren, dabei jedoch alle fu¨nf Merkmale bei der Betrachtung des Verha¨ltnisses der Immunita¨ten zur Stadt Bamberg beru¨cksichtigen. Nach einer kurzen Einfu¨hrung, in der die Entstehung und Entwicklung der Stadt Bamberg und ihrer Muntaten skizziert werden, wird die eigentliche Untersuchung in fu¨nf Schritten erfolgen. Zuna¨chst wird die Stadtmauer hinsichtlich ihrer trennenden oder verbindenden Funktion untersucht. Danach steht die Abgrenzung der Gerichtsbezirke im Blickpunkt, woran sich als dritter Punkt die Betrachtung der wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den Territorien und insbesondere das Verha¨ltnis von Stadt- und Immunita¨tsma¨rkten anschließt. Im vierten Teil werden die Kriterien fu¨r die Vergabe des Bu¨rgerrechts als Indikator fu¨r die Zugeho¨rigkeit zum Bu¨rgerverband betrachtet. Abschließend wird die Beteiligung der Stadt- und Immunita¨tsbewohner an den sta¨dtischen Institutionen beleuchtet. Die Liste der Kriterien ließe sich sicherlich noch erweitern. Auf die Bedeutung der kirchlichen Organisationsstruktur fu¨r das Versta¨ndnis der Stadtstruktur wurde mit gutem Grund immer wieder hingewiesen.23 Letztlich sind die Mo¨glichkeiten so vielfa¨ltig wie die Vorschla¨ge fu¨r einen allgemeinen Stadtbegriff, fu¨r den eine in jeder Hinsicht befriedigende und abschließende Definition noch nicht gefunden wurde.24 Das Weber’sche Kriterienbu¨ndel erscheint daher als ein geeigneter Ansatzpunkt, um eine Diskussion u¨ber das Verha¨ltnis der Bamberger Immunita¨ten zur Stadt anzustoßen.

21 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tu¨bingen 51972,

S. 736.

22 Arlinghaus, Einheit (wie Anm. 3), S. 78. 23 Karlheinz Blaschke, Kirchenorganisation und Kirchenpatrozinien als Hilfsmittel der Stadtkernfor-

schung, in: Stadtkernforschung, hg. v. Helmut Ja¨ger (StF A 27), Ko¨ln 1987, S. 23–57; Freitag, Einleitung, in: Die Pfarre in der Stadt (wie Anm. 3), S. XI–XVII. 24 Irsigler, Anna¨herungen (wie Anm. 17), S. 30.

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I. Die Stadt Bamberg und ihre Immunita¨ten

Die Anfa¨nge der Siedlung an der Regnitz gehen bis ins Fru¨hmittelalter zuru¨ck, wobei der Ortsname Bamberg erstmals im 10. Jahrhundert im Zusammenhang mit der dort befindlichen Burg erwa¨hnt wurde.25 Seinen Aufschwung zur Stadt nahm der Ort jedoch erst mit der Gru¨ndung des Bistums Bamberg durch Kaiser Heinrich II. im Jahre 1007.26 In der Hauptstadt der jungen Dio¨zese, die vom Kaiser großzu¨gig gefo¨rdert wurde, entstand innerhalb weniger Jahrzehnte eine Reihe von geistlichen Institutionen. Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts existierten neben dem Domstift die Benediktinerabtei St. Michael sowie die Kollegiatstifte St. Jakob, St. Stephan und St. Maria in Theuerstadt (heute St. Gangolf genannt).27 Auf dem teilweise sehr umfangreichen Territorium, das der jeweiligen geistlichen Institution geho¨rte, siedelten neben den Geistlichen, deren Bediensteten und Amtstra¨gern auch weitere Laien.28 Die Immunita¨t, d. h. der Schutz vor dem rechtlichen und herrschaftlichen Zugriff des Vogtes, galt bereits seit 1154 fu¨r das gesamte Gebiet um die Stifte und das Kloster „mit allen Behausungen im Umkreis“29. Als um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert die Vogteirechte an den Bischof fielen, bezog sich die Immunita¨t der kirchlichen Gebiete und deren Bewohner nun auf den Schutz vor Eingriffen durch den bischo¨flichen Stadtherrn.30 Die Immunita¨ten der Stifte traten seit dem 13. Jahrhundert fast ausschließlich als Verbund gegenu¨ber dem Bischof und der Stadt in Erscheinung.31 Das Domkapitel nahm dabei die Fu¨hrungsrolle ein und vertrat die Immunita¨ten als Gesamtheit 25 Stefan Diller, Die Entwicklung Bambergs bis 1007, in: Das Bistum Bamberg um 1007. Festgabe zum

Millennium, hg. v. Josef Urban/Joachim Andraschke (Studien zur Bamberger Bistumsgeschichte 3), Bamberg 2006, S. 193–200, hier S. 194; Bernd Schneidmu¨ller, Die einzigartige geliebte Stadt. Heinrich II. und Bamberg, in: Kaiser Heinrich II., 1002–1024, hg. v. Josef Kirmeier/Bernd Schneidmu¨ller (Vero¨ffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 44), Augsburg 2002, S. 30–5, hier S. 31f. 26 Rainer Leng, Klo¨ster und Stifte als Standortfaktoren auf dem Weg vom Bischofssitz zur civitas sancta am Beispiel von Wu¨rzburg und Bamberg, in: Urbanisierung und Urbanita¨t. Der Beitrag der kirchlichen Institutionen zur Stadtentwicklung in Bayern, hg. v. Helmut Flachenecker (ZbayLG, Beih. 36), Mu¨nchen 2008, S. 49–79, hier S. 53f. 27 Schneidmu ¨ ller, Geliebte Stadt (wie Anm. 25), S. 45–48. 28 Zu den Immunita¨ten noch immer grundlegend, aber in vielen Teilen veraltet ist Wilhelm Neukam, Immunita¨ten und Civitas in Bamberg von der Gru¨ndung des Bistums 1007 bis zum Ausgang des Immunita¨tenstreits 1440, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 78 (1922/23/24), S. 191–369. Vergleiche auch Alwin Reindl, Die vier Immunita¨ten des Domkapitels zu Bamberg, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 105 (1969), S. 213–510. 29 universis habitationibus suis per circuitum. Urkunde vom 3. 7. 1154 im Staatsarchiv Bamberg, Bamberger Urkunden vor 1401, Nr. 277. Der Text der Urkunde ist abgedruckt in: Aemilian Ussermann, Episcopatus Bambergensis sub metropoli Moguntina chronologice ac diplomatice illustratus (Germania sacra in provincias ecclesiasticas et dioeceses distributa), St. Blasien 1801, Codex probationum, S. 109f. 30 Erich von Guttenberg, Das Bistum Bamberg (Germania Sacra, Zweite Abt. : Die Bistu¨mer der Kirchenprovinz Mainz 1), Berlin 1937, S. 55. Bischof Berthold besta¨tigte 1261 die Freiheit der Immunita¨ten und ihrer Bewohner. Zum Text der Urkunde siehe: Georg Weigel, Die Wahlkapitulationen der Bamberger Bischo¨fe 1328–1693. Eine historische Untersuchung, Bamberg 1909, S. 130. 31 Die Immunita¨t des Klosters St. Michael spielt seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts eine deutlich geringere Rolle, auch wenn fu¨r sie wohl die gleichen Rechte galten. Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 238.

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nach außen, wa¨hrend die inneren Angelegenheiten dem jeweiligen Stift oblagen.32 Damit teilte sich Bamberg in Bezug auf die Herrschaftsverha¨ltnisse in zwei große Blo¨cke: auf der einen Seite die Stadt, die dem Bischof unterstand, auf der anderen die Gesamtheit der Immunita¨ten, deren Rechte vom Domkapitel vertreten wurden. Neben den Begriffen civitas oder Stat taucht seit dem 14. Jahrhundert in den Quellen versta¨rkt der Begriff Stadtgericht fu¨r den territorialen Zusta¨ndigkeitsbereich des Bischofs auf, insbesondere wenn dessen Abgrenzung zu den Immunita¨ten deutlich gemacht werden sollte. Letztere werden in den Quellen als Muntaten bezeichnet, fu¨r deren Bewohner zum Teil der Begriff Munta¨ter Verwendung findet. Das Verha¨ltnis von Stadt und Immunita¨ten wurde grundlegend im Jahre 1275 von Bischof Berthold unter Mitwirkung des Domkapitels und der Stadt geregelt.33 Gegen Ende des 14. Jahrhunderts sind zunehmend Probleme im Miteinander von Stadt und Immunita¨ten zu beobachten.34 Im Zuge eines Einfalls der Hussiten im Bistum im Jahre 1430 eskalierte der Konflikt und gipfelte in der Forderung der Stadtbewohner nach einer Abschaffung der Immunita¨ten. Dieser sogenannte ‚Bamberger Immunita¨tenstreit‘, in dem die Stadt, die Bischo¨fe von Bamberg sowie das Domkapitel und die u¨brigen Stifte in wechselnden Frontstellungen agierten, endete nach u¨ber zehn Jahren mit einer Umstrukturierung der sta¨dtischen Finanzverwaltung unter Beibehaltung der Immunita¨ten.35 Kernstu¨ck dieses Kompromisses war eine kommunale Steuer, die sowohl von den Bewohnern des Stadtgerichts als auch von den Immunita¨tsbewohnern erhoben wurde. Die Steuer, deren Verwaltung einer Kommission aus Immunita¨ts- und Stadtgerichtsvertretern oblag, kann als Erfolg der Bu¨rger gewertet werden.36 Dem fiskalischen Zusammenschluss folgte 1750 die rechtliche Eingliederung der Immunita¨ten durch einen Tauschvertrag zwischen Bischof und Domkapitel.37 Spa¨testens im 18. Jahrhundert kann also von einer rechtlich vereinigten Stadt gesprochen werden. Wie aber sah das Verha¨ltnis der Gebiete im Mittelalter, insbeson-

32 Erst seit 1432 forderte das Domkapitel von den Bewohnern aller Immunita¨ten einen Huldigungseid.

Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 239.

33 Das Original der Urkunde vom 05. 12. 1275 befindet sich im Staatsarchiv Bamberg, Bamberger Urkun-

den vor 1401, Nr. 889. Eine Abschrift der Urkunde ist editiert in: Das a¨lteste Bamberger Bischofsurbar 1323/28 (URBAR A), hg. v. Walter Scherzer, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 108 (1972), S. 5–170, hier S. 36–38. 34 Die a¨ltere Forschung ging von einer ununterbrochenen Linie von Konflikten ab dem 13. Jahrhundert aus, hier vor allem Neukam, Immunita¨ten und Civitas (wie Anm. 28), S. 197. Trotz der Konflikte des spa¨ten 14. Jahrhunderts ist jedoch von la¨ngeren Zeiten friedlicher Koexistenz auszugehen. Flachenecker, Kirchliche Immunita¨tsbezirke (wie Anm. 5), S. 11f. 35 Zum Immunita¨tenstreit vergleiche Chronik des Bamberger Immunita¨tsstreites von 1430–1435. Mit einem Urkundenanhang, hg. v. Anton Chroust (Chroniken der Stadt Bamberg 1), Leipzig 1907; Caroline Go¨ldel, Zur Entwicklung der Bamberger Stadtverfassung im 15. Jahrhundert im Spannungsfeld Rat – Gemeinde – Klerus, in: Die Berichte des Historischen Vereins Bamberg 135 (1999), S. 7–44. 36 Ebd., S. 7; Johannes Staudenmaier, Gute Policey in Hochstift und Stadt Bamberg. Normgebung, Herrschaftspraxis und Machtbeziehungen vor dem Dreißigja¨hrigen Krieg (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt a. M. 2012, S. 67; Gunzelmann/Pfaffenberger. Die Stadt zwischen Bischof, Domkapitel und Bu¨rgern (wie Anm. 4), S. 309–311. 37 Maierho ¨ fer, Entwicklung (wie Anm. 2), S. 160.

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dere bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, aus? Handelte es sich um mehrere getrennte Sta¨dte oder waren die Immunita¨ten ein Teil der Stadt Bamberg – und wenn ja, in welcher Hinsicht und in welchem Maß?

II. Die Funktion der Stadtmauer

Die Bamberger Stadtmauer stellt keine eindeutige Trennlinie zwischen sta¨dtischem und außersta¨dtischen Gebieten dar. Um den ex- oder inkludierenden Aspekten der Stadtbefestigung nachzuspu¨ren, muss man daher genauer hinsehen. Dies liegt in der Weitla¨ufigkeit und Unebenheit des Stadtgebiets begru¨ndet, die eine vollsta¨ndige Ummauerung der Siedlung unmo¨glich machten.38 Die seit dem 15. Jahrhundert gelegentlich auftretenden Aussagen, Bamberg besa¨ße keine Stadtmauer, beziehen sich auf das Fehlen eines kompletten Mauerrings um die Stadt.39 Dabei existierten seit dem 13. Jahrhundert durchaus Befestigungsanlagen, die zumindest einen Teil des auf drei Siedlungsschwerpunkte verteilten Stadtgebiets schu¨tzten. Bereits im Fru¨hmittelalter hatte sich zu Fu¨ßen des castrum Babenberg und spa¨teren Dombergs eine Siedlung am Ufer des linken Regnitzarms im sogenannten Sandgebiet entwickelt. Ebenfalls in diese Zeit lassen sich die Anfa¨nge einer zweiten Siedlung auf der anderen Seite der beiden Flussarme datieren, die spa¨ter Theuerstadt genannt wurde. Diese befand sich in der Na¨he einer Ko¨nigsstraße, die als Fernverbindung von Nord nach Su¨d fungierte.40 Die Bistumsgru¨ndung im 11. Jahrhundert gab der Entwicklung Bambergs Auftrieb, so dass spa¨testens zu Beginn des 12. Jahrhunderts die ra¨umlichen Verha¨ltnisse im Sand zu beengt wurden und sich der Schwerpunkt der bu¨rgerlichen Siedlung in das Inselgebiet zwischen den beiden Regnitzarmen verlagerte.41 Diese drei Siedlungen bildeten ein gemeinsames Rechtsgebiet, das der Herrschaft des Bischofs unterstand. Aber nur die relativ flache und kompakte Inselstadt wurde erstmals im 13. Jahrhundert und nochmals im 15. Jahrhundert mit einem Mauerring umgeben.42 Die Befestigung des Sandgebiets, das sich zwischen dem Berggebiet mit der Domburg und dem linken Regnitzufer befand, bestand dagegen vor allem aus der

38 Stefan Pfaffenberger, Die Stadtbefestigung Bambergs, in: Stadt Bamberg 1 (wie Anm. 4), S. 805–854,

hier S. 811–813.

39 Dieser Topos findet sich um 1450 bei Albrecht von Eyb. William Hammer, Albrecht von Eyb, Eulogist

of Bamberg, in: The Germanic Review 17 (1942), S. 3–19, hier S. 17. Das Bild taucht im 16. und 17. Jahrhundert ha¨ufiger auf. Zur Stadtmauer und zur Wehrverfassung der Stadt Bamberg ist momentan eine Dissertation von Christian Chandon (Bamberg) im Entstehen, dem ich fu¨r seine Anregungen danke. 40 Stefan Pfaffenberger/Thomas Gunzelmann, Das fru¨hmittelalterliche Bamberg, in: Stadt Bamberg 1 (wie Anm. 4), S. 161–181, hier S. 178–181. 41 Thomas Gunzelmann/Stefan Pfaffenberger, Das Zeitalter Bischof Ottos I. Bamberg in der 1. Ha¨lfte des 12. Jahrhunderts, in: Stadt Bamberg 1 (wie Anm. 4), S. 213–231, hier S. 218–220. 42 Pfaffenberger, Stadtbefestigung (wie Anm. 38), S. 824, 831–839.

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Verla¨ngerung der Mauern der Domburg zum Fluss hin.43 Die Theuerstadt war auf Grund ihrer la¨nglichen Ausdehnung entlang der Straße weitgehend unbefestigt, von der Sicherung der Zugangswege durch Tore einmal abgesehen.44 Da sich keine der Immunita¨ten im Inselgebiet befand, stand ihre Integration in den eigentlichen Mauerring der Stadt ebenso wie fu¨r andere Teile des bischo¨flichen Stadtgebiets von vornherein nicht zur Debatte. Auch das Fehlen einer eigenen Umwallung der Immunita¨tsgebiete, ist topographisch erkla¨rbar. Bei den geistlichen Territorien im Berggebiet spielte die Hanglage eine große Rolle, die einerseits einen gewissen natu¨rlichen Schutz bot, zum anderen eine Befestigung erheblich erschwert ha¨tte.45 Die Immunita¨t St. Gangolf, die als einzige Immunita¨t auf der rechten Regnitzseite lag, war vermutlich aus a¨hnlichen Gru¨nden wie die unmittelbar benachbarte bischo¨fliche Theuerstadt von keinem Mauerring umgeben. Hinweise auf eine bewusste Exklusion oder Inklusion der Immunita¨ten lassen sich daher nur bei den wenigen Grenzfa¨llen finden, in denen die Immunita¨ten die Stadtmauer beru¨hrten. Dies betrifft vor allem die Befestigung des Sandgebiets, wo sich durchaus eine Anbindung der geistlichen Territorien an die Stadtbefestigung andeutet. Dies beginnt bereits beim Ausgangspunkt der zum Fluss hin verlaufenden Stadtmauer, der von der Maueranlagen der Domburg gebildet wurde. Noch deutlicher wird die integrative Funktion der Stadtmauer im Fall der Immunita¨t St. Stephan, des einzigen Immunita¨tsgebiets mit einer wirklichen Teilbefestigung. Dessen Mauerstu¨ck war baulich in die Stadtbefestigung des bischo¨flichen Sandgebiets einbezogen.46 An den wenigen Stellen, an denen es strategisch sinnvoll war, scheinen die Immunita¨ten durchaus in die Stadtbefestigung integriert worden zu sein, so dass die Stadtmauer nicht als Trennlinie zwischen Stadt und Immunita¨ten zu sehen ist.47 Dieser bauliche Befund wird durch Schriftquellen gestu¨tzt, die seit dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts die Immunita¨t St. Stephan als innerhalb der Stadtmauer gelegen bezeichnen. Wa¨hrend Bischof Ludwig die Gesamtheit der Immunita¨tsbewohner 1367 noch als Bu¨rger in allen Muntaten vor vnser stat Bamberg gesessen48 anredete, verhandelte sein Nachfolger Lamprecht mit den Bu¨rgern in allen mundtaten vor vnd in vnser Stat Bamberg gesezzen49. Auch das Domkapitel sprach im 15. Jahrhundert von den Bewohnern der in- und außerhalb der Mauern gelegenen Immunita¨ten,50 wobei St. Stephan als einziges Stift intra muros51 galt.

43 Ebd., S. 813f., 824–828. 44 Ebd., S. 829–831. 45 Ebd., S. 811, 828–829. 46 Ebd., S. 828. 47 Nur im Bereich des zur Domimmunita¨t geho¨renden Kaulbergs scheint ein fortifikatorisch sinnvoll

erscheinendes Mauerstu¨ck nicht ausgefu¨hrt worden zu sein. Ob dies am Rechtsstatus des Gebiets lag, ist allerdings unklar. Pfaffenberger, Stadtbefestigung (wie Anm. 38), S. 827. 48 StadtA Bamberg, A 21, 9. 1. 1367. 49 StadtA Bamberg, A 21, 4. 3. 1389. 50 Notarsinstrument vom 5. 5. 1431, Chroust, Chronik (wie Anm. 35), S. 189. 51 Vgl. zum Beispiel die Notiz im Liber albus des Domkapitels vom 4. 8. 1441, in der von den Stiften Stephani intra, Jacobi et beate Marie in Tewerstadt extra muros die Rede ist. StaatsA Bamberg, B 86, Nr. 230, fol. 64v.

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Die Munta¨ter scheinen sich daru¨ber hinaus finanziell am Bau der Stadtmauer beteiligt zu haben. Als die Immunita¨tsbewohner 1412 vor dem Domkapitel gegen die steuerliche Privilegierung der in den Immunita¨ten ansa¨ssigen Hausgenossen52 klagten, entgegneten letztere: Undt wie wohl bey unseren zeiten ein grab vmb die Statt vndt Munthet gemacht worden, darzu sie [d. h. die Immunita¨tsbewohner] anzahl mit den Burgeren geben haben, daran wir nichts gelitten auch nichts zugeben schuldig sindt.53 Um welchen Bauabschnitt der Stadtmauer es sich handelte, fu¨r den die Immunita¨tsbewohner auf Geheiß des Domkapitels einen Beitrag leisteten, wird aus der Quelle nicht ersichtlich.54 In den Augen der Beteiligten schu¨tzte der Befestigungsgraben die Immunita¨ten jedoch ebenso wie die Stadt und fungierte damit eher als integratives Element. Auch im 1430 begonnenen Immunita¨tenstreit war die Forderung nach einer Besteuerung der Immunita¨tsbewohner eng mit dem Wunsch nach einer Erneuerung der Stadtmauer verbunden.55 Die Tatsache, dass der tatsa¨chlich ausgefu¨hrte Mauerbau vor allem das bischo¨fliche Inselgebiet betraf, spielte dabei in den Auseinandersetzungen keine Rolle.56

III. Die Gerichtsbezirke

Die Befreiung vom rechtlichen Zugriff des Stadtherrn bildet den Kern des Immunita¨tsprivilegs, so dass das Domkapitel und die Stifte auf die Abgrenzung ihrer Gerichtsbezirke großen Wert legten. Bereits bei der grundlegenden Regelung des Verha¨ltnisses von Stadt und Immunita¨ten 1275 wurden die Gerichtskompetenzen der Gebiete festgelegt.57 Die Gerichtsgrenzen bildeten die eigentliche Trennlinie zwischen den Territorien, worauf auch die seit dem 14. Jahrhundert auftauchende Bezeichnung ‚Stadtgericht‘ als pars pro toto fu¨r das eigentliche Herrschaftsgebiet des bischo¨flichen Stadtherrn hinweist.

52 Hierbei handelt es sich um eine privilegierte Personengruppe, die sich von den einst fu¨r die Mu¨nzauf-

sicht zusta¨ndigen Amtsleuten herleitete. Vergleiche dazu allgemein Hubert Emmerig, Die Regensburger Mu¨nzerhausgenossenschaft im 13. und 14. Jahrhundert, in: Verhandlungen des historischen Vereins fu¨r Oberpfalz und Regensburg 130 (1990), S. 1–170. Zu Bamberg im Speziellen ist immer noch grundlegend Caspar Anton Schweitzer, Die Hausgenossen zu Bamberg, in: Archiv fu¨r Geschichte und Altertumskunde in Oberfranken 2 (1843), S. 1–32. 53 Abschrift der Klageschrift (17. Jahrhundert), Staatsbibliothek Bamberg, R. B. Msc. 18, fol. 24r. 54 Die Erweiterung der Stadtmauer in der Inselstadt wurde erst 1431 begonnen. Pfaffenberger, Stadtbefestigung (wie Anm. 38), S. 831. 55 Chroust, Chronik (wie Anm. 35), S. 7f. 56 Das Zustimmungsrecht des Bischofs zum Mauerbau war dagegen durchaus ein Streitpunkt. Go ¨ ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 15. 57 Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 36.

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Das Stadtgericht wurde vom Schultheißen und den zwo¨lf Scho¨ffen gebildet, in den Immunita¨ten saß in jedem Gebiet ein Immunita¨tsrichter – meist der Kellner des Stifts oder eine von ihm beauftragte Person – ebenso mit einer gewissen Anzahl von Scho¨ffen zu Gericht.58 Die Zusta¨ndigkeit des Stadt- bzw. der Immunita¨tsgerichte war auf das jeweils eigene Territorium beschra¨nkt, u¨ber dessen Grenzen hinweg die Verfolgung eines Verda¨chtigen nicht mo¨glich war. Die Trennung der Gerichtszusta¨ndigkeiten galt selbst fu¨r Delikte im Bereich der Hochgerichtsbarkeit, die nur das Stadtgericht, aber nicht die einzelnen Immunita¨tsgerichte verhandeln durften. In diesen Fa¨l¨ berstellung an das Zentlen erfolgte keine Auslieferung an die Stadt, sondern eine U gericht.59 Die Immunita¨ten geho¨rten damit in rechtlicher Hinsicht nicht zur bischo¨flichen Stadt. Ein Zugriffsrecht der sta¨dtischen Scho¨ffen im Gerichtsgebiet der Immunita¨ten konnte zwar im Ausnahmefall gewa¨hrt werden, bedurfte aber der ausdru¨cklichen Genehmigung der Immunita¨tsherren. Dies la¨sst sich zum Beispiel bei der zwischen 1306 und 1330 in das Stadtrecht aufgenommenen Verfahrensweise bei handgreiflichen Streitigkeiten beobachten. Im Einvernehmen mit den Pro¨psten der Stifte wurde den Bu¨rgermeistern, Ratsherren oder Scho¨ffen die Einmischung ungeachtet des Ortes der Streitigkeiten eingera¨umt, wobei ein Amtmann oder Scho¨ffe aus den Immunita¨ten hinzugezogen werden musste, sobald ein Immunita¨tsbewohner involviert war.60 Das dafu¨r notwendige ausfu¨hrliche Regelwerk verdeutlicht jedoch die prinzipielle Separierung der Gebiete in Bezug auf die Gerichtskompetenzen.

IV. Der Markt

In der Forschung zu Bamberg wird meist von einem eigenen Markt in den Immunita¨ten ausgegangen, der auf Grund seiner Befreiung von Abgaben eine starke Konkurrenz zum sta¨dtischen Markt dargestellt habe.61 Diese Annahme gru¨ndet sich auf die Gleichstellung des Immunita¨tsmarkts mit dem sta¨dtischen Markt im Zuge des Grundlagenvertrags von 1275: „Der Markt der Immunita¨t sei dem Markt der Stadt beim Kaufen und Verkaufen von Dingen in allem gleich, so dass der ganze Kaufhandel62,

58 Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 309–312. 59 Ebd., S. 329–334. 60 Gerichtsbuch der Stadt Bamberg, in: Das alte Bamberger Recht als Quelle der Carolina, hg. v. Heinrich

Zoepfl, Heidelberg 1839, S. 141–168, hier S. 158f. 61 In diesem Sinn argumentieren zum Beispiel Neukam, Immunita¨ten und Civitas (wie Anm. 28), S. 261;

Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 236; Helmut Flachenecker, Der Bischof und sein Bischofssitz. Wu¨rzburg – Eichsta¨tt – Bamberg im Fru¨h- und Hochmittelalter, in: Ro¨mische Quartalschrift fu¨r christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 91 (1996), S. 148–181, hier S. 175. 62 Das Wort mercatum kann Markt oder Handel bedeuten. In der deutschen U ¨ bertragung des 15. Jahrhunderts wird es mit kaufmanschatz wiedergegeben, vgl. Chroust, Chronik (wie Anm. 35), S. 178.

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den die Stadt bei allen Lebensmitteln hat, die Immunita¨t zu gleichem Recht haben wird.“63 Thomas Gunzelmann und Stefan Pfaffenberg wiesen ku¨rzlich jedoch darauf hin, dass der sich vermeintlich so negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung der Bischofsstadt auswirkende Immunita¨tsmarkt weder in einer weiteren Quelle erwa¨hnt wird noch im Stadtgrundriss lokalisierbar ist.64 Wa¨hrend die ra¨umliche Verortung des oder der Immunita¨tsma¨rkte bislang nicht gelang, la¨sst sich der Markt der Bischofsstadt spa¨testens seit dem 12. Jahrhundert im Inselgebiet im Bereich des Gru¨nen Markts und der Langen Gasse belegen.65 Es wa¨re daher denkbar, dass 1275 nicht ein mit dem sta¨dtischen Markt vergleichbarer zentraler Handelsplatz geschaffen wurde, sondern nur die Marktregeln auf das Gebiet der Immunita¨ten ausgeweitet wurden. Auf letzteres deutet zumindest eine bischo¨fliche Urkunde hin, die nur wenige Monate vor dem erwa¨hnten Vertrag vom Dezember 1275 die Rechte und Kompetenzen des Domkapitels in Bamberg festlegte. Den Domherren wurde dabei unter anderen die Regelung der Marktangelegenheiten in Bamberg anvertraut: „Außerdem besta¨tigen wir dem Domkapitel bezu¨glich des Markts fu¨r alle zum Lebensunterhalt geho¨rigen Nahrungsmittel und Getra¨nke, dass das, was dem Ka¨ufer und Verka¨ufer nu¨tzt, mit dem Rat und der Zustimmung dieser – d. h. unseres Beamten zusammen mit eigens dazu ausgewa¨hlten Bu¨rgern – vom Kapitel vernu¨nftig angeordnet wird und auch in den Immunita¨ten befolgt wird.“66 Das Domkapitel war damit fu¨r den Erlass von einheitlichen Marktregeln fu¨r das gesamte Stadtgebiet einschließlich der Immunita¨ten zusta¨ndig, wobei eine Zusammenarbeit mit dem bischo¨flichen Schultheiß und den Bu¨rgern vorgesehen war. Bischof Berthold lo¨ste damit ein Problem, das weniger wirtschaftlicher als vielmehr herrschaftlich-rechtlicher Natur war. Denn weder der Stadtherr noch sein Vertreter konnten in den Immunita¨ten eigenma¨chtig Marktgesetze in Kraft setzen, ohne die Rechte des Domkapitels und der anderen Immunita¨tsherren zu verletzen. Da jedoch offenbar im Hinblick auf die ta¨gliche Versorgung mit Nahrungsmitteln Regelungsbedarf bestand, gestand man dem Domkapitel offiziell die Anordnung der in Zusammenarbeit mit den bischo¨flichen und sta¨dtischen Beauftragten erarbeiteten 63 Forum emunitatis in vendendis et emendis rebus foro civitatis per omnia sit conforme, ita quod omne

mercatum, quod habet civitas in cunctis necessariis, habebit emunitas equo iure. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 37. 64 Gunzelmann/Pfaffenberger, Die Stadt zwischen Bischof, Domkapitel und Bu¨rgern (wie Anm. 4), S. 261 und S. 303. 65 Ebd., S. 221. 66 Item de mercato cunctorum victualium cibi et potus. capitulo recognoscimus ut eorum consilio et consensu. officiati nostri cum civibus ad hoc electis a Capitulo rationabiliter secundum quod emptori et vendetori expedierit. ordinetur et idem in emunitatibus observetur. Urkunde vom 1. 2. 1275, Rechtsbuch Friedrichs von Hohenlohe (1348), hg. v. Karl Adolf Konstantin v. Ho¨fler (Quellensammlung fu¨r fra¨nkische Geschichte 3), Bamberg 1852, S. XCVII.

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gebietsu¨bergreifenden Marktregeln zu. Nur die Ertra¨ge der Strafzahlungen fu¨r das ¨ berschreiten dieser Regeln wurden nach Gebieten getrennt und fielen in der Stadt U dem Bischof, in den Immunita¨ten dem jeweiligen Propst zu.67 Im Licht dieser Vereinbarung erkla¨rt sich auch die singula¨re Erwa¨hnung eines Marktes in den Immunita¨ten im Dezember desselben Jahres. Die Feststellung der Rechtsgleichheit der Ma¨rkte zielte weniger auf die Errichtung eines eigensta¨ndigen Immunita¨tsmarktes als vielmehr auf die Etablierung eines einheitlich geregelten Wirtschaftsraums u¨ber die Grenzen der Herrschaftsbereiche hinweg. Fu¨r diese Annahme spricht auch der Umstand, dass ein gemeinsames Marktrecht existierte, das sowohl Immunita¨ts- als auch Stadtbewohner erwerben konnten. 1275 legte man fest, dass alle Auswa¨rtigen, die in die Immunita¨ten zogen, bis zum Erwerb dieses Marktrechts weiterhin die allgemeinen Zo¨lle zahlen mussten: „Wenn ein Auswa¨rtiger, der das Marktrecht nicht hat, in die Immunita¨t kommt, gibt er den Zoll, bis er das besagte Markt- und Stadtrecht, das gemeinhin ‚Marcketrech‘ genannt wird, erworben hat; dieses Recht erha¨lt er in Gegenwart des bischo¨flichen Richters.“68 Ebenso wie die Stadtbewohner waren damit auch die Munta¨ter erst nach dem Kauf des Marktrechts von dem fu¨r Auswa¨rtigen u¨blichen Zoll befreit.69 Statt einer pro Verkaufstag oder pro Warenmenge anfallenden Abgabe war damit nur eine ja¨hrliche Pauschalzahlung an den Zolleinnehmer zu leisten.70 Die Anwesenheit des bischo¨flichen Richters bei der Vergabe des Marktrechts71 sowie dessen Bezeichnung als ius fori et civitatis illustriert, dass es sich hierbei um eine von der bischo¨flichen Stadt ausgehende Einrichtung handelte. Die Immunita¨ten waren damit seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts in wirtschaftlicher Hinsicht eng mit der Stadt verbunden. Falls der Markt der Immunita¨ten zu diesem Zeitpunkt noch als eigensta¨ndiger Handelsplatz bestand, so verlor er in den folgenden Jahrzehnten rapide an Bedeutung und verschmolz schließlich mit dem sta¨dtischen Markt. Dies la¨sst sich an den bischo¨flichen Steuerregelungen ablesen. Bereits 1275 wurde eine Steuerpflicht fu¨r alle Immunita¨tsbewohner, die Verkaufssta¨nde auf dem sta¨dtischen Markt unterhielten, festgeschrieben:

67 Ebd. 68 Si quis extraneus ius fori non habens in emunitatem venerit, suum dabit thelonium, donec predictum ius

fori et civitatis, quod vulgariter Marcketrech dicitur, fuerit assecutus; quod ius coram episcopali iudice obtinebit. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 37. 69 Dies wurde ha¨ufig als Abgabenbefreiung des Immunita¨tsmarktes interpretiert. Neukam, Immunita¨ten und Civitas (wie Anm. 28), S. 260; Maierho¨fer, Entwicklung (wie Anm. 2), S. 151. Im Licht der sta¨dtischen Zollordnung bietet sich diese Interpretation meiner Meinung nach aber nicht an. 70 Die Zollordnung ist enthalten in: Ho ¨ fler, Rechtsbuch (wie Anm. 66), S. 9–1; Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 39–46. Die Zollordnung war noch im 15. Jahrhundert in Kraft, vgl. StadtA Bamberg, B 4, 34, fol. 25v–31r. 71 Spa¨testen gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich ein Verkauf des Marktrechts durch den bischo¨flichen Ku¨chenmeister etabliert. Ab 1504 war der Bischof oder sein Kammermeister dafu¨r zusta¨ndig. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 46f.

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„Dass diejenigen Personen aus den Immunita¨ten, die den Markt der Stadt aufsuchen mit ihren Waren, die auf Dreibeinen – volkssprachlich Schragen genannt –, in Buden, die Hu¨tten genannt werden, und auf Tischen und Fleischba¨nken gestellt werden, dem Herrn Bischof seine Steuern geben mu¨ssen.“72 Bei den Zahlungen handelte es sich nicht, wie vielfach angenommen, um die Marktabgaben.73 Diese werden in den Quellen als zoll, evectiones, ungelt oder theloneum bezeichnet.74 Mit dem Terminus steurae sind dagegen die auf Grundbesitz und Vermo¨gen basierenden Abgaben gemeint, die dem Bischof in seiner Funktion als Stadtherr zustanden.75 Zwar waren die Immunita¨tsbewohner auf Grund ihrer herrschaftlichen Sonderstellung grundsa¨tzlich von der Steuerpflicht gegenu¨ber dem Stadtherrn befreit, doch mussten sie ihm als Teilnehmer am sta¨dtischen Markt dennoch Steuerzahlungen leisten. Diesen Zusammenhang betonte 1323 auch Bischof Johann von Schlackenwerth, als er in seinem Urbar vermerken ließ, dass ihm auf Grund seiner stadtherrlichen Gewalt alle Laien, Bu¨rger und Juden in Bamberg „Steuern, Dienste und auch den Treueid“76 leisten mu¨ssten, ausgenommen die Immunita¨ten. Diese Befreiung gelte allerdings nicht fu¨r die Immunita¨tsbewohner, die in der Bischofsstadt als Verka¨ufer und Ha¨ndler ta¨tig seien: „Ebenso geben alle Handwerker und Verka¨ufer irgendeiner Art, die in den Immunita¨ten wohnen und Ba¨nke, Orte oder Stu¨hle in der Stadt fu¨r den Verkauf ihrer Sachen oder Waren haben, Steuern und Abgaben mit allen.“77

72 Quod homines emunitatum, frequentantes forum civitatis cum mercibus suis ponentes tripedes, qui vul-

gariter vocantur schragen, tuguria que vocatur hutten, et mensas et macella, dare debent domino episcopo suas steuras. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 36. 73 Zu dieser Ansicht siehe etwa Chroust, Chronik (wie Anm. 35), S. XXXII; Neukam, Immunita¨ten und Civitas in Bamberg (wie Anm. 28), S. 258; Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 236. Zu dieser Interpretation trug vor allem die Erga¨nzung bei, dass die am sta¨dtischen Markt ta¨tigen Munta¨ter nicht perso¨nlich haftbar, sondern nur mit ihrem Handelsgut pfa¨ndbar waren. Diese Einschra¨nkung ist aber eher im Kontext der Abgrenzung der Gerichtszusta¨ndigkeiten zwischen den Gebieten zu sehen, die eine Inhaftierung der Immunita¨tsbewohner durch bischo¨fliche Beamte ausschloss. 74 Im Urkundentext selbst wird an anderer Stelle der Marktzoll mit theloneum bezeichnet. In den bischo¨flichen Urbaren werden die Marktabgaben mit dem Begriff zoll (Scherzer, Bischofsurbar [wie Anm. 33], S. 39) bzw. evectionibus [..] vulgariter nuncupantur vngelt umschrieben (Ho¨fler, Rechtsbuch [wie Anm. 66], S. 9). 75 Der Zusammenhang zwischen dem Grundbesitz und der Zahlung der steurae wird bereits aus der Urkunde selbst ersichtlich, wenn keine steurae auf die Gu¨ter und Grundstu¨cke erhoben werden du¨rfen, die Personen bei einem Umzug vom Stadtgebiet in die Immunita¨ten oder umgekehrt zuru¨cklassen. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 36. 76 steuram et servicia necnon fidelitatis homagium. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 35. 77 Item omnes mechanici atque vendentes qualiacumque residentes in emunitatibus habentes macella, loca seu stalla in civitate pro vendendis rebus suis vel mercimoniis, solvunt steuram et tributa cum omnibus. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 35. Ganz a¨hnlich auch Ho¨fler, Rechtsbuch (wie Anm. 66), S. 6.

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Die Immunita¨tsbewohner verloren damit durch ihre Pra¨senz am sta¨dtischen Markt ihren steuerrechtlichen Sonderstatus, auch wenn sie herrschaftlich weiterhin ihrem jeweiligen Propst unterstanden und von der Leistung des Treueids befreit waren. Die Attraktivita¨t des sta¨dtischen Markts muss also groß genug gewesen sein, um selbst unter diesen Bedingungen Handwerker und Ha¨ndler aus den Immunita¨ten anzuziehen. Verschiedene Quittungen belegen, dass der Bischof tatsa¨chlich Steuern von den Immunita¨tsbewohnern erhielt.78 Der Immunita¨tsmarkt, sofern er jemals eine Bedeutung als eigensta¨ndiger Markt besessen haben sollte, verlor diese spa¨testens in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Als Bischof Friedrich von Hohenlohe 1346 in einem Urbar seine Steueranspru¨che gegenu¨ber den Immunita¨tsbewohnern festhalten ließ, verzichtete er bereits auf eine Unterscheidung zwischen dem Verkauf auf dem Markt der Stadt und jenem der Immunita¨ten. Vielmehr genu¨gte der Besitz einer Verkaufssta¨tte in einem beliebigen Teil Bambergs fu¨r die Verpflichtung zur Steuerzahlung an den Bischof: „Es ist auch zu vermerken, dass diejenigen, die in den Immunita¨ten wohnen und irgendwelche Sta¨tten halten, in denen sie irgendwelche Sachen verkaufen oder Handel treiben, genauso Abgaben und Steuern mit den Bu¨rgern zahlen.“79 Damit fand die Entwicklung zu einem einheitlichen Markt- und Wirtschaftsraum, die im 13. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatte, ihren Abschluss. Die wirtschaftliche Einheit von Stadt und Immunita¨ten erstreckte sich auch auf die Handwerksorganisation. Zwar wird die territoriale Zugeho¨rigkeit der Zunftmitglieder in den von der Stadt erlassenen mittelalterlichen Handwerksordnungen nicht thematisiert, doch spricht das angesichts eines gemeinsamen Marktes eher fu¨r eine Integration der Immunita¨tshandwerker in das sta¨dtische Handwerk. In den Ordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die vom Bischof mit Zustimmung des Domkapitels in Kraft gesetzt wurden und daher die Gerichtsgrenzen sta¨rker im Blick hatten, wird dann auch explizit von Zunftmitgliedern im Stadtgericht und den Immunita¨ten ausgegangen.80

78 Besta¨tigung u¨ber den Erhalt von 20 Pfund Heller aus der Immunita¨tssteuer vom 18. 11. 1354, StaatsA

Bamberg, Bamberger Urkunden vor 1401, Nr. 2843. Vgl. auch StadtA Bamberg, A 21, 16. 8. 1381.

79 Est autem notandum, quod si aliqui in emunitatibus residentes, aliqua loca teuant, in quibus res ali-

quas vendant, aut mercimonia exerceant, tales tributum uel steuram cum ciuibus soluent. Ho¨fler, Rechtsbuch (wie Anm. 68), S. 6. Die Steuerzahlung der Immunita¨tsbewohner scheint sich im Verlauf des 14. Jahrhunderts von der Bindung an den Markt gelo¨st zu haben. Die Zahlung einer pauschalen Abgabe trug vermutlich dazu bei, dass auch nicht im Handel ta¨tige Personen unter die Steuerpflicht fielen. Vgl. StadtA Bamberg, A 21, 23. 3. 1369. 80 Als Beispiel dienen die Fischerordnung von 1590 und die Ba¨ckerordnung von 1630, deren Text abgedruckt ist bei: Wilhelm Koch, Fu¨rstbischo¨fliche Fischereigesetzgebung und Fischereiverwaltung am Main von 1450–1800. Mit 4 Anlagen, 2 Abbildungen und Wo¨rterbuch, in: 80 Jahre Fischereiverband Unterfranken e. V. Wu¨rzburg. 1877–1957, hg. v. V. Butschek (Bericht des Fischereiverbandes Unterfranken e. V. 7), Wu¨rzburg 1958, S. 206–271, hier S. 251–254, und Alfred Seel, 600 Jahre Bamberger Ba¨ckerhandwerk. Beitra¨ge zur Geschichte des Ba¨ckerhandwerks in Bamberg, Bamberg 1973, S. 92–99.

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Die Einheit der Stadt und ihrer Handwerker wurde zudem im 15. Jahrhundert in der Fronleichnamsprozession symbolisch in Szene gesetzt. In der vom Rat der Stadt verabschiedeten Prozessionsordnung heißt es: Item also sullen alle hantwergklewte in Bamberg sie haben Zunffte oder nicht es sein Burger oder gemein Arm oder reiche auss der Stat vnd in der Muntat in der Processon vor vnsers Herrn leichnam gutlichen vnd zuchtiglichen mit den kertzen were die hat oder haben wil gene ongeverde.81 Hier tritt die Bedeutung des gemeinsamen Wirtschaftsraums fu¨r die Stadt nochmals deutlich vor Augen. Zum einen repra¨sentierten Stadtgerichts- und Immunita¨tsbewohner in einem gemeinsamen Umzug das sta¨dtische Handwerk und wiesen damit auf ihre Zusammengeho¨rigkeit hin. Zum anderen wurde durch den Prozessionsweg, der um den zentralen Marktplatz im bischo¨flichen Inselgebiet fu¨hrte, die Bedeutung des Marktes fu¨r die Einheit der Stadt betont.82 Zumindest in der religio¨sen Inszenierung sta¨dtischer Ordnung fungierte der Markt damit als Zentrum der Stadtgemeinde, die sich auf alle Gerichtsbezirke erstreckte.

V. Das Bu¨rgerrecht in Bamberg

Ein politisch aktiver Bu¨rgerstand ist in Bamberg seit dem 13. Jahrhundert greifbar. Die Stadt besaß zwar zu keinem Zeitpunkt eine vom Stadtherrn unabha¨ngige oder gar reichsfreie Stellung, doch etablierte sich die Bu¨rgerschaft als politische Kraft neben dem Stadtherrn. Die Bu¨rger traten erstmals nachweislich in einer Urkunde aus dem Jahr 1263 als Korporation auf.83 Zur selben Zeit ist auch ein Stadtsiegel in den Quellen fassbar, was die rechtliche und politische Handlungsfa¨higkeit der Bu¨rger der civitas Babenbergensis verdeutlicht.84 Wer jedoch geho¨rte zu der Gruppe der Bu¨rger und welche Rolle spielte dabei die territoriale Zuordnung der betreffenden Person? 81 StadtA Bamberg, B 4, Nr. 34, fol. 17r. Die Ordnung entstand vermutlich um 1440/1450, vgl. Werner

Scharrer, Laienbruderschaften in der Stadt Bamberg vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Geschichte, Brauchtum, Kultobjekte, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 126 (1990), S. 21–392, hier S. 135. Zur Prozession siehe Karl Schnapp, Fronleichnams-Oktavprozession bei AltSt. Martin. Ein Beitrag zur Geschichte der Bamberger Fronleichnamsprozession, in: Fra¨nkische Bla¨tter fu¨r Geschichtsforschung und Heimatpflege 4 (1952), S. 47–51; Andrea Lo¨ther, Prozessionen in spa¨tmittelalterlichen Sta¨dten (Norm und Struktur 12), Ko¨ln 1999, S. 90. 82 Die Prozessionsordnung schweigt zwar zum abgelaufenen Weg, bei einem 1470 geschlichteten Streit erscheint jedoch der Zusatz so man vmb den marckt ginge. Altes Ratsbuch, StadtA Bamberg, B 4, Nr. 3, fol. 1r. 83 Die Bu¨rgergemeinde tritt unter der Bezeichung universitas civium Babenbergensis in Erscheinung. StaatsA Bamberg, Hochstift Bamberg neuverzeichnete Akten 5104, fol. S. 24. 84 Das Bamberger Stadtsiegel bildet einen stehenden Ritter mit Schild und Fahne ab, vermutlich den heiligen Georg. Die Umschrift lautet S[igillum] civium civitatis Babenbergensium. Gerd Zimmermann, St. Georg als Schutzpatron am Dom, in der Stadt und im Bistum Bamberg, in: St. Georg. Ritterheili-

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Der Begriff ‚Bu¨rger‘ wird in den Bamberger Quellen unterschiedlich verwendet. Die Bezeichnung konnte je nach Kontext allgemein alle Personen umfassen, die sich im Besitz des Bu¨rgerrechts befanden, oder auch spezifischer nur die Mitglieder der politischen Elite im Gegensatz zur u¨brigen Bu¨rgergemeinde benennen.85 In Hinblick auf unser Thema ist vor allem relevant, dass im 15. Jahrhundert der Begriff ‚Bu¨rger‘ auch fu¨r die Stadtgerichtsbewohner in Abgrenzung zu den ‚Munta¨tern‘, d. h. den Bewohner der Immunita¨ten, verwendet werden konnte. Besonders letzterer Umstand fu¨hrte in der Forschung zu der Annahme, der Bu¨rgerbegriff ha¨tte sich von Anfang an ausschließlich auf die Bewohner des Stadtgerichts bezogen.86 Zahlreiche Quellenbelege aus dem 14. und 15. Jahrhundert wiedersprechen dieser These jedoch. Im Jahre 1341 etwa schlossen die Burger gemeincklich in den Muntaten hie gesezzen ze Babenberg eine Steuervereinbarung mit dem Bischof87 und noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde die Verordnung u¨ber die Ausgestaltung der Hochzeits- und Tauffeiern in Bamberg von den Burger[n] in dem Statgericht zu Bamberg vnd in den Muntaten daselbst88 erlassen. Eine na¨here Betrachtung des Bu¨rgerbegriffs in Bamberg in Hinblick auf den Status der Immunita¨tsbewohner scheint daher angebracht.89 Offenbar konnte das Bamberger Bu¨rgerrecht sowohl von Stadtgerichts- als auch Immunita¨tsbewohnern erworben werden. In den Quellen werden die Begriffe ‚Bu¨rger‘, ‚Bu¨rger zu Bamberg‘ oder ‚Bu¨rger der Stadt Bamberg‘ verwendet, wobei die Personen zusa¨tzlich durch die Angabe ihres Wohnorts als ‚Bu¨rger im Stadtgericht‘ oder ‚Bu¨rger in den Immunita¨ten‘ na¨her beschrieben werden konnten. Ein speziell auf die Immunita¨ten bezogener Bu¨rgerbegriff – denkbar wa¨re theoretisch ‚Bu¨rger der ¨ hnliches – taucht dagegen nicht auf. Immunita¨ten‘ oder A Schon Wilhelm Neukam wies darauf hin, dass der Begriff civitas seit dem 13. Jahrhundert sowohl das Gebiet des Stadtgerichts als auch die gesamte Stadt inklusive der Immunita¨ten bezeichnen konnte.90 Es wa¨re daher nur folgerichtig, wenn der von

ger, Nothelfer, Bamberger Dompatron, hg. v. Michael Kleiner (Schriften des Historischen Museums Bamberg 25), Bamberg 1992, S. 99–109. 85 Go ¨ ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 20f. 86 Engelbert Reichl, Markt- und Kaufmannsrecht in Bamberg. Dissertation Heidelberg 1951, S. 83; Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 234. 87 StaatsA Bamberg, Bamberger Urkunden vor 1401, Nr. 2412. 88 Eintrag vom 1. 5. 1418 im Altes Eid- und Pflichtenbuch, StadtA Bamberg,B 4, 34, fol. 79. 89 Bislang gibt es nur wenige Studien zum Bu¨rgerrecht in Bamberg. Engelbert Reichl beleuchtet die wichtigsten Rechtsquellen, stellt jedoch den rechtshistorischen Gesichtspunkt stark in den Vordergrund. Reichl, Markt- und Kaufmannsrecht (wie Anm. 86), S. 92–102. Carolin Go¨ldel streift das Thema kurz. Go¨ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 14. Zum Bu¨rgerrecht in der Fru¨hen Neuzeit vgl. Lina Ho¨rl, Worin eigentlich die Wu¨rkungen des Großen und Kleinen Burgerrechts bestehen? Das Bamberger Bu¨rgerrecht im 17. und 18. Jahrhundert, in: Kolloquium 2009. Beitra¨ge Bamberger Nachwuchswissenschaftlerinnen, hg. v. Margarete Wagner-Braun/Ada Raev/Mirjam Schambeck (Forschende Frauen in Bamberg 2), Bamberg 2009, S. 63–95; dies., Von Schustern, Schneidern und Zitronenkra¨mern. Die Bu¨rgerbu¨cher der Stadt Bamberg von 1625 bis 1819, in: Jahrbuch fu¨r Regionalgeschichte 28 (2010), S. 79–98. 90 Neukam, Immunita¨ten und Civitas (wie Anm. 28), S. 272.

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der civitas abgeleitete cives, zu Deutsch burger, auch als potenziell gebietsu¨bergreifende Kategorie zu denken ist. Auch die Aussage des Immunita¨tsbewohners Thomas Palas, der vor Gericht ausdru¨cklich darauf hinweisen musste, er wer nicht purger ze Babenberg und het weder purgerrecht noch der stat recht und het mit der Stat noch mit den muntaten nichts zu schikken91, deutet in die Richtung eines allgemeinen Bu¨rgerrechts. Die im 14. Jahrhundert entstandenen und noch im 15. Jahrhundert in Gebrauch befindlichen Stadtrechtsaufzeichnungen enthalten ebenfalls Hinweise auf Immunita¨tsbewohner, die im Besitz des allgemeinen Bu¨rgerrechts waren. So wurde zum Beispiel die Weineinlagerung durch einen muntater, der hie sitzt vnd purgerrecht hat92 geregelt. Es ist anzunehmen, dass die Bu¨rger in den Immunita¨ten zuna¨chst das Bu¨rgerrecht auf demselben Weg wie die Stadtgerichtsbewohner erwarben: automatisch durch den Bu¨rgerstatus der Eltern bzw. durch Heirat einer Bu¨rgerstochter oder als Fremder durch den Erwerb des Bu¨rgerrechts.93 Da ein Umzug zwischen Stadtgericht und Immunita¨ten seit dem 13. Jahrhundert ungehindert mo¨glich war, handelte es sich bei einigen Bu¨rgern in den Immunita¨ten vermutlich um ehemalige Stadtgerichtsbewohner und deren Nachkommen.94 Gerade bei den politischen Eliten der Stadt zeigen sich enge Verbindungen in beide Territorien, die eine gewisse Fluktuation wahrscheinlich erscheinen lassen. Vom 13. bis ins 15. Jahrhundert lassen sich etliche Personen sowohl im Stadtgericht als auch in einem der Immunita¨tsgerichte als Scho¨ffen nachweisen.95 Gerade etliche der Wortfu¨hrer der Immunita¨tsbewohner waren in anderen Jahren als Scho¨ffen im Stadtgericht ta¨tig gewesen.96 Gegen das Pha¨nomen des Umzugs von Bu¨rgern in die Immunita¨ten ging die Stadt jedoch Ende des 14. Jahrhunderts zunehmend vor. Bereits zwischen 1306 und 1333 war festgelegt worden, dass jeder neu als Bu¨rger aufgenommene Fremde fu¨r mindestens zwei Jahre im Bereich des Stadtgerichts wohnen bleiben und mit der Stadt an Steuern und Pflichten „mitleiden“ musste.97 Allerdings verfiel bei einer Zuwider91 StadtA Bamberg, A 21, 23. 3. 1369 92 Das Bamberger Stadtrecht, hg. v. Harald Parigger (Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte

Frankens 12), Wu¨rzburg 1983, S. 139, § 218.

93 Ebd. S. 65, § 56–58 und S. 95, § 118. Siehe auch Zoepfl, Gerichtsbuch (wie Anm. 60), S. 160. Ein Frem-

der, der Bu¨rger werden wollte, musste nach einer Pru¨fung seiner Rechtschaffenheit durch die Bu¨rger eine Geldzahlung leisten, eine Ambrust fu¨r die Stadt anschaffen und vor dem Schultheißen und den Scho¨ffen des Stadtgerichts den Bu¨rgereid ablegen. Ob dieses Verfahren fu¨r Fremde in den Immunita¨ten ebenso galt, ist unklar. 94 Der freie Umzug wurde 05. 12. 1275 festgeschrieben. Scherzer, Bischofsurbar (wie Anm. 33), S. 36. 95 Bernhard Schimmelpfennig, Bamberg im Mittelalter. Siedelgebiete und Bevo¨lkerung bis 1370 (Historische Studien 391), Lu¨beck 1964, S. 79f.; Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 321; Caroline Go¨ldel, Der Bamberger Bauhof und dessen Schriftwesen im 15. Jahrhundert, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 123 (1987), S. 223–282, hier S. 234–235. 96 Burckhard Lo¨ffelholz und Konrad Mehlmeister zum Beispiel klagten 1412 im Namen aller Immunita¨ten. Staatsbibliothek Bamberg, R. B. Msc. 18, fol. 19–22. Beide waren in den Jahren zuvor mehrmals als Scho¨ffen des Stadtgerichts aufgetreten. Burckhard zuletzt 1398, Konrad sogar noch 1411. Nikolaus Haas, Geschichte der Pfarrei St. Martin zu Bamberg und sa¨mmtlicher milden Stiftungen der Stadt, Bamberg 1845, S. 740–741; StaatsA Bamberg, B 86, Nr. 233, fol. 422. 97 Zoepfl, Gerichtsbuch (wie Anm. 60), S. 160. So auch in den Aufzeichnunge des Bamberger Stadtrechts aus dem spa¨ten 14. und 15. Jahrhundert, Parigger, Stadtrecht (wie Anm. 92), S. 96, § 118.

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handlung nur das hinterlegte Pfand von fu¨nf Pfund, nicht aber das erworbene Bu¨rgerrecht. Dieses verlor ein Bu¨rger zuna¨chst nur, wenn er la¨nger als zwei Jahre aus Bamberg abwesend war.98 Im Jahre 1389 einigten sich die Stadtgerichtsbewohner mit dem Bischof auf eine Verscha¨rfung der Regelung. Von nun an sollte jeder Bu¨rger, der aus dem Stadtgericht wegzog, das Bu¨rgerrecht zwei Monate vorher abgeben und sich danach weiterhin ein Jahr an den sta¨dtischen Lasten beteiligen. Dies galt umgekehrt auch fu¨r die Immunita¨tsbewohner, was das Vorhandensein von Bu¨rgern in den geistlichen Gebieten unterstreicht.99 Die Regelung zielte daher nicht gegen den Bu¨rgerstatus der Immunita¨tsbewohner im Allgemeinen, sondern gegen den Umzug von Stadtgerichtsbewohnern in die Immunita¨ten, der sich gegen Ende des 14. Jahrhunderts in den Augen der Stadt zum Problem entwickelt hatte.100 Der Grund hierfu¨r ist in der steuerlichen Sonderstellung der geistlichen Gebiete und deren Bewohner zu suchen. Das Domkapitel hatte sich bereits im 13. Jahrhundert ein Zustimmungsrecht zu allen Steuererhebungen in den Immunita¨ten gesichert.101 Dies betraf zuna¨chst vor allem die bischo¨flichen Steuern, die zwar von den Bewohnern der Immunita¨ten ebenso wie von den Stadtgerichtsbewohner erhoben, jedoch aus Ru¨cksicht auf die Rechtsanspru¨che des Domkapitels in getrennten Vertra¨gen festgelegt wurden.102 Im Zusammenhang mit diesen Steuervertra¨gen taucht daher auch erstmals die Differenzierung zwischen den ‚Bu¨rgern im Stadtgericht‘ und den ‚Bu¨rgern in den Immunita¨ten‘ auf.103 Die Unterscheidung war also keine dem Bu¨rgerbegriff immanente Komponente, sondern eine Konzession an die Herrschaftsverha¨ltnisse in Bamberg. Die obrigkeitliche Zweiteilung der Bu¨rgergemeinde wurde erst mit dem Wachsen ihres politischen Einflusses problematisch. Die Vermo¨genssteuer, die von den Bu¨rgern in den 1380er Jahren zur Deckung der sta¨dtischen Ausgaben eingefu¨hrt wurde,104 spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Denn etwa zur selben Zeit entzu¨ndete sich ein heftiger Streit zwischen Stadt und Domkapitel u¨ber die Beteiligung 98 Zoepfl, Gerichtsbuch (wie Anm. 60), S. 164. In den Stadtrechtsaufzeichnungen des spa¨ten 14. und fru¨-

hen 15. Jahrhunderts ist von der Abwesenheit auß dieser statt die Rede. Parigger, Stadtrecht (wie Anm. 92), S. 64f., § 56–58. Bei der im Neubu¨rgereid verankerten Residenzpflicht sprach man dagegen in beiden Fa¨llen juristisch korrekt vom Gebiet des Stadtgerichts. 99 StadtA Bamberg, A 21, 21. 11. 1389. Die Regelung wurde in a¨hnlicher Weise 1398 besta¨tigt. StadtA Bamberg, A 21, 9. 9. 1398. 100 Vgl. die 1395/1396 vor dem Ko¨nig vorgebrachten Klagen der Bu¨rger. StadtA Bamberg, A 21, 19. 1. 1395; StaatsA Bamberg, Bamberger Urkunden vor 1401, Nr. 4599. 101 Die Bischo¨fe besta¨tigten dem Domkapitel im 14. Jahrhundert mehrmals, keine Steuer in den Immunita¨ten ohne Zustimmung des Domkapitels zu erheben. Vergleiche zum Beispiel die Wahlkapitulation Bischof Wernthos vom 16. 4. 1328. Ho¨fler, Rechtsbuch (wie Anm. 66), S. C, Beilage III, Nr. 4. 102 Steuervertra¨ge vom 9. 1. 1367, 4. 3. 1389 und 4. 3. 1389, alle StadtA Bamberg, A 21. Die Immunita¨tsbewohner waren nicht generell von bischo¨flichen Steuern befreit, wie dies in der Literatur zum Teil angenommen wird. Siehe dazu unter anderem Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 236, Maierho¨fer, Entwicklung (wie Anm. 2), S. 156: Go¨ldel, Bauhof (wie Anm. 95), S. 227. Ob das Zustimmungsrecht des Domkapitels zu einer geringeren Steuerbelastung der Munta¨ter fu¨hrte, la¨sst sich auf Grund der Quellenlage nicht entscheiden. 103 StadtA Bamberg, A 21, 9. 1. 1367. 104 Die Bu¨rger aus der Gemeinde des Stadtgerichts klagten 1420 gegen die Scho¨ffen und Bu¨rger der Fu¨hrungsschicht des Stadtgerichts bezu¨glich einer Steuer die sie langzeit bey dreißig oder mer jaren vntz bis her von vns empfangen vnd angenomen haben. StaatsA Bamberg, A 91, Lade 446, Nr. 658.

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der Immunita¨tsbewohner an den sta¨dtischen Lasten. Hierbei kollidierte das Selbstversta¨ndnis der Stadt als Gemeinschaft aller Bu¨rger und Einwohner Bambergs mit den Herrschaftsanspru¨chen des Domkapitels u¨ber die Immunita¨ten. Im Fru¨hjahr 1394 wurde die Frage zu Gunsten des Domkapitels entschieden und eine finanzielle Unterstu¨tzung der Stadt durch die Immunita¨tsbewohner auf außergewo¨hnliche Notfa¨lle beschra¨nkt und an die Zustimmung der Immunita¨tsherren gekoppelt.105 Damit wurde das Steuerbewilligungsrecht des Domkapitels auch fu¨r die Erhebung einer sta¨dtischen Steuer in den Immunita¨ten besta¨tigt. Die Stadtgerichtsbewohner sicherten sich in den folgenden Jahren zwar die pa¨pstliche und ko¨nigliche Unterstu¨tzung fu¨r eine Revision der Entscheidung, konnten ¨ nderung erreichen.106 aber erst im Zuge des Immunita¨tenstreits 1430–1446 eine A Unter den bis dahin gegebenen Voraussetzungen bedeutete der Umzug jedes Stadtgerichtsbewohners in die Immunita¨ten einen finanziellen und machtpolitischen Verlust fu¨r die Stadt. Daher versuchte man die Umsiedlung unter anderem durch den Entzug des Bu¨rgerrechts zu unterbinden, was langfristig zu einer sta¨rkeren Koppelung des Bu¨rgerrechts an den Wohnsitz fu¨hrte. Ob der Entzug des Bu¨rgerrechts bei einem Umzug bereits seit dem Ende des 14. Jahrhunderts konsequent durchgesetzt wurde, la¨sst sich nicht sicher kla¨ren. In die Stadtrechtsaufzeichnungen, die noch im 15. Jahrhundert in Gebrauch waren, fand die Regelung keinen Eingang.107 Spa¨testens im 17. und 18. Jahrhundert musste nach einem Umzug in ein anderes Territorium das Bu¨rgerrecht erneut vom Stadtrat bzw. den Immunita¨tsgerichten erworben werden.108 Dabei handelte es sich jedoch immer um das allgemeine Bamberger Bu¨rgerrecht, das je nach Territorium von unterschiedlichen Stellen erworben werden musste. Das dabei zu zahlende Bu¨rgergeld war eine wichtige Finanzquelle.109 Der vor allem in Quellen des 15. Jahrhunderts formulierte Gegensatz zwischen ‚Bu¨rgern‘ und ‚Muntatern‘ impliziert daher keinesfalls den Ausschluss der Immunita¨tsbewohner vom Bu¨rgerrecht, sondern ist aus dem Kontext des oben skizzierten Konflikts heraus zu verstehen. Die Bezeichnungen schlossen sich urspru¨nglich nicht aus, sondern beschrieben zwei unterschiedliche Eigenschaften. Wa¨hrend der Bu¨rgerstatus den perso¨nlichen Rechtsstatus kennzeichnete, bezog sich der Begriff ‚Munta¨ter‘ auf die territoriale und herrschaftliche Zuordnung einer Person. Daher konnte der Immunita¨tsbewohner Hans Berlin 1369 von den beiden Steuereinnehmern, die burger in der muntat vor der stat Bamberg waren, als mitpurger vnd muntater110 bezeichnet werden und Bischof Ludwig die Immunita¨tsbewohner als unser Burger vnd Muntater111 ansprechen. 105 Chroust, Chronik (wie Anm. 35), S. 176–180. Der Entscheidung lag der Vertrag von 1275 zu Grunde. 106 Die Privilegien Ko¨nig Wenzels und Papst Bonifaz’ von 1397 erlangten erst als Vorlage fu¨r die Goldene

Bulle von Kaiser Sigismund Relevanz, mit der er 1431 die Immunita¨ten aufhob. Ebd., S. 32–50.

107 Parigger, Stadtrecht (wie Anm. 92), S. 30. 108 Zum Bu¨rgerrecht im 17. und 18. Jahrhundert vergleiche Ho ¨ rl, Bamberger Bu¨rgerrecht (wie Anm. 89)

und dies., Von Schustern (wie Anm. 89), besonders S. 94f.

109 Ho ¨ rl, Bamberger Bu¨rgerrecht (wie Anm. 89), S. 85. 110 StadtA Bamberg, A 21, 21. 11. 1369. 111 StadtA Bamberg, A 21, 9. 1. 1367.

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Da sich der im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts aufkommende Streit zwischen der Stadt und dem Domkapitel jedoch letztlich um die ra¨umlichen Grenzen der sta¨dtischen Herrschaft drehte, dominierte der territoriale Aspekt zunehmend die Wahrnehmung. Dies la¨sst sich bei der Schlichtungsurkunde von 1394 anschaulich beobachten, in der es zu Anfang noch um die Anspru¨che der burgere im statgericht gesessen gegenu¨ber den muntatern geht, wa¨hrend dies wenige Zeilen spa¨ter auf die griffige Formel Burger gegen Muntater verku¨rzt wird.112 Das Begriffspaar wurde seitdem ha¨ufig im Kontext von Auseinandersetzungen um das Verha¨ltnis von Immunita¨ten und Stadtgericht verwendet. Es umschrieb aber lediglich die sich aus ihrem Wohnort ergebende herrschaftliche Zuordnung einer Person und traf keine Aussage u¨ber ihren Bu¨rgerrechtsstatus. In diesem Sinne gebrauchte auch Papst Bonifaz IX. 1397 die beiden Begriffe: wiewol zu Bamberg an dem ende, statgericht genant, burger und in den andern enden daselbst, muntat genant, derselben inwohner zu zeiten muntater geheissen werden, so werden sy doch alle usserhalb der statt zu Bamberg, auch in den nechsten steten, wenn von der stat frommen und gemache odir irem schaden und ungemache gehandelt wirdet sy sein in dem statgericht oder in den muntaten wonhafftig, gemeiniclichen burger zu Bamberg gewant zu nennne und dafur zu achten.113 Nicht nur außerhalb, wie der Papst bemerkte, sondern auch innerhalb Bambergs konnten die Immunita¨tsbewohner weiterhin als Bu¨rger bezeichnet werden, sobald die territoriale Abgrenzung nicht im Vordergrund stand. Bischof Albrecht erhob zum Beispiel 1401 eine Weihesteuer von unseren Burger und armen lewt wegen in allen muntaten zu Bamberg gesezzen.114 Der Gegensatz zwischen ‚Bu¨rgern‘ und ‚Munta¨tern‘ war kein grundsa¨tzlicher, sondern beruhte auf dem jeweiligen Kontext der Aussage. Die ha¨ufige Kontrastierung der Begriffe im Vorfeld und wa¨hrend des Immunita¨tenstreits verstellt bisweilen den Blick darauf, dass auch die Immunita¨tsbewohner Bu¨rger der Stadt Bamberg sein konnten.

VI. Die Beteiligung an sta¨dtischen Institutionen

Es la¨sst sich damit feststellen, dass sich die Bu¨rgerschaft im Prinzip u¨ber das Stadtgebiet einschließlich der Immunita¨ten verteilte, dabei jedoch im Hinblick auf die Herrschaftsgewalt des Stadtherrn zwischen dem im Stadtgericht und dem in den Immunita¨ten verorteten Teil getrennt wurde. Diese Unterscheidung betraf damit aber die 112 Chroust, Chronik (wie Anm. 35), Urkundenanhang Nr. 2, S. 174–176. 113 Ebd., S. 38. 114 StadtA Bamberg, A 21, 21. 1. 1401. Vergleiche auch die Regelung des Aufwands fu¨r Hochzeiten und

Taufen (wie Anm. 88).

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Kernbereiche sta¨dtischen Handelns wie die Rechtsprechung und die Finanzverwaltung, aus denen sich die Institutionen einer Stadt entwickelten. Haben wir es in Bamberg aus institutioneller Perspektive also eher mit zwei Bu¨rgergemeinden zu tun, die nur das identische Bu¨rgerrecht einte? Oder gab es auch Institutionen, an deren Bestellung die Bu¨rger aller Gerichtsbezirke beteiligt waren? Das Stadtgericht, dessen Scho¨ffen bis 1431 zusammen mit dem Schultheiß fu¨r die Stadt urkunden konnten, stellte eine der wichtigsten sta¨dtischen Institutionen dar.115 Von seiner Funktion her war das Gericht auf den bischo¨flichen Teil der Stadt bezogen. Die Scho¨ffen u¨bten zusammen mit dem Schultheiß die ihnen vom Stadtherrn u¨bertragene Gerichtsgewalt aus, die sich auf den von den Immunita¨ten getrennten Jurisdiktionsbereich des Bischofs beschra¨nkte. Nach dem Stadtrecht des 14. und 15. Jahrhunderts sollten die Scho¨ffen vom Schultheiß auf Ratschlag der Bu¨rger ausgewa¨hlt werden.116 Ungeachtet davon lassen sich allerdings enge perso¨nliche Verbindungen der Scho¨ffen in die Immunita¨ten beobachten, so dass die institutionelle Verankerung des Scho¨ffenkollegiums im bischo¨flichen Gebiet nicht zwingend die Grenzen seines tatsa¨chlichen Einfluss- und Interessengebiets beschreiben musste.117 Vor allem im 14. Jahrhundert schlossen zudem meist nicht die Scho¨ffen, sondern die Bu¨rger als politischer Verband im Namen der Stadt Vereinbarungen und besiegelten diese mit dem Stadtsiegel. Falls die Bu¨rgergemeinde nicht durch den Zusatz im Stadtgericht gesessen na¨her spezifiziert wurde, ist eine territoriale Verortung der hinter den Bu¨rgern gemeinicklich der Stadt Bamberg stehenden Protagonisten schwierig.118 Geht man von einem nicht territorial gebundenen Bu¨rgerbegriff aus, ko¨nnten sich im Prinzip auch Immunita¨tsbewohner darunter befunden haben. Angesichts der engen Verbindungen der sta¨dtischen Amtstra¨ger in die Immunita¨ten wa¨re die Beteiligung von Munta¨tern in der Fu¨hrungsschicht der Bu¨rgerschaft zumindest denkbar. An den Ergebnissen einiger Verhandlungen deutet sich auf jeden Fall an, dass sich die Bu¨rgerschaft der Stadt im 14. Jahrhundert als Vertretung der Bewohner von Stadtgericht und Immunita¨ten verstehen konnte. So verfu¨gte Kaiser Ludwig 1333, nachdem er einen Streit zwischen dem Bischof von Bamberg, dem Domkapitel und den burger[n] gemainlich da selben geschlichtet hatte, dass die Bewohner von Stadtgericht und Immunita¨ten gemeinsam die in diesem Zusammenhang durch Ehrungen und Gesandtschaften entstandenen Kosten tragen sollten.119 Auch bei dem Streit um die Einfu¨hrung des Ungelds, d. h. einer Abgabe auf den Ausschank von Wein, Bier und Met, erschienen 1377 Vertreter von Stadtgericht und Immunita¨ten vor dem kaiserlichen Hofgericht,120 wa¨hrend der Ungeldvertrag einige Monate spa¨ter nur von

115 Go ¨ ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 14. 116 Parigger, Stadtrecht (wie Anm. 92), S. 43, § 1. 117 Vergleiche Anm. 95. 118 Der Zusatz ‚im Stadtgericht‘ taucht vor 1380 meist im Zusammenhang mit den bischo¨flichen Steuern

auf, erst danach auch ha¨ufiger in anderen Kontexten.

119 StadtA Bamberg, A 21, 5. 6. 1333. Die Schlichtungsurkunde ist ediert in: Dokumente zur Geschichte

des deutschen Reiches und seiner Verfassung. 1331–1335, hg. v. Wolfgang Eggert (MGH, Constitudines 6,2), Hannover 2003, S. 314–317. 120 StaatsA Bamberg, B 21, Nr. 2, fol. 95v–96r.

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Bischof, Domkapitel und den Bu¨rger[n] gemeinklich der Stat ze Bamberg unterzeichnet wurde. Dennoch wurde der sta¨dtische Anteil fu¨r die Baumaßnahmen im Stadtgericht und den Immunita¨ten bestimmt.121 Die ‚Stadt‘ in Form der Bu¨rgerschaft u¨bernahm damit auch fu¨r die Immunita¨ten Verantwortung. Die implizite Mitverwaltung der Immunita¨ten durch die sta¨dtischen Institutionen ging zu Beginn des 15. Jahrhunderts zuru¨ck. Vermutlich angestoßen durch den Schiedsspruch von 1394, der eine individuelle Heranziehung der Munta¨ter zur Stadtsteuer unterband, wurde den Immunita¨ten mehr finanzielle Eigenverantwortung u¨bertragen. Die Gemeinde der Bu¨rger in allen Immunita¨ten war bis dahin nur fu¨r die Erhebung der bischo¨flichen Steuern in ihrem Gebiet zusta¨ndig gewesen.122 In den 1420er Jahren brachten die Immunita¨tsbewohner auf Geheiß des Domkapitels nun auch einen eigenen Beitrag fu¨r kommunale Aufgaben auf. Dazu za¨hlten zum Beispiel Baumaßnahmen in den Immunita¨ten, die Unterstu¨tzung der Stadt beim Bau von Bru¨cken oder die Beteiligung an der Bezahlung der bischo¨flichen So¨ldner.123 Mit der steigenden Steuerbelastung der Immunita¨tsbewohner war jedoch kein Ausbau der bu¨rgerlichen Institutionen in den Gebieten verbunden. Die Scho¨ffen der Immunita¨tsgerichte, die dieses Amt von den Stiften als erbliches Lehen erhielten, traten nicht als Vertretung der Bewohner ihres Gerichtsbezirks in Erscheinung.124 Es lassen sich gelegentlich namentlich genannte Vertreter der Immunita¨ten nachweisen, bei denen es sich eventuell um jeweils zwei von den Bewohnern jeder Immunita¨t gewa¨hlte Gemeinmeister handelte.125 Die Maßnahmen der Immunita¨tsgemeinde, wie etwa die Einsammlung einer Steuer von ihren Mitgliedern, mussten aber im Einzelnen vom Domkapitel genehmigt werden.126 Die zunehmende fiskalische Separierung der Bu¨rgergemeinde im Stadtgericht und in den Immunita¨ten, wobei erstere u¨ber eine gro¨ßere Eigensta¨ndigkeit und mehr Kompetenzen verfu¨gte, schloss allerdings nicht die Zusammenarbeit in anderen Bereichen aus. So stellten die Bu¨rger im Stadtgericht und in den Immunita¨ten 1418 gemeinsam Beschra¨nkungen fu¨r die Ausgestaltung von Hochzeitsfeier und Taufen auf.127 Bei einem milita¨rischen Auszug wurde ein gemeinsamer Rat aus Vertretern beider Gebiete gebildet.128

121 Ungeldvertrag vom 9. 10. 1377, gedruckt in: Michael Bernhard Pickel, Das Abgabenrecht und die

Abgaben der Stadt Bamberg bis 1800, Erlangen 1951, S. 144.

122 Die Immunita¨tsgemeinde fu¨hrte die Eintreibung der bischo¨flichen Steuer eigenverantwortlich durch

und nahm auch Kredite dafu¨r auf. StadtA Bamberg, A 21, 7. 1. 1383.

123 Staatsbibliothek Bamberg, R. B. Msc. 18, fol. 24r. Vgl. auch Schweitzer, Hausgenossen (wie Anm. 52),

S. 26–31.

124 Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 314–317. 125 Zu dem Amt vor allem in der Zeit nach 1500 vgl. Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 277. Der

Begriff Gemeinmeister wird davor nur selten verwendet. 126 1426 baten die Immunita¨tsbewohner das Domkapitel um die Erlaubnis, eine Steuer aufzulegen. Diese

wurde unter der Auflage gewa¨hrt, dass die Steuereinnehmer spa¨ter vor dem Domkapitel Rechnung ablegen. StaatsA Bamberg, B 86 Nr. 230, fol. 87v. Zwei Jahre spa¨ter erhielt die Immunita¨tsgemeinde auch einen eigenen Anteil am neuen Ungeld. StadtA Bamberg, A 21, 26. 9. 1428 I A. 127 StadtA Bamberg, B 4, Nr. 34, fol. 79–80. 128 Ebd., fol. 21v.

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Die im 15. Jahrhundert anhaltende enge Zusammenarbeit der politischen Eliten zeigt sich auch im Immunita¨tenstreit, der lange als Paradebeispiel fu¨r die Konflikttra¨chtigkeit des Verha¨ltnisses zwischen Stadtgericht und Immunita¨ten galt.129 Die Forderung nach einer Auflo¨sung der Immunita¨ten wurde von großen Teilen der Fu¨hrungsschicht der Immunita¨ten unterstu¨tzt, die zugleich in den neu entstandenen Rat der Stadt integriert wurden. Die Aussage der Chronik des Immunita¨tenstreits, dass alle die montheter, die die negsten und pesten waren130, die Stadt unterstu¨tzten, wird durch eine große Zahl an Munta¨tern auf der 1435/1437 neu erstellten Liste der Genannten der Stadt besta¨tigt.131 Auch unter den im Immunita¨tenstreit fassbaren Ratsherren befanden sich Immunita¨tsbewohner.132 Es dra¨ngt sich der Eindruck auf, dass der von den Bu¨rgern 1431 eingesetzte Rat eine bereits seit langem bestehende Lu¨cke schloss, indem er der Bu¨rgerschaft eine gebietsu¨bergreifende Institution zur Verfu¨gung stellte. Die Forderung nach einem unabha¨ngigen Stadtrat war von den Bu¨rgern bereits seit vielen Jahrzehnten immer wieder erhoben worden, doch hatte der Bischof bislang sein Recht auf die Ein- und Absetzung des Rates in allen Auseinandersetzungen erfolgreich verteidigt.133 Der 1306 erstmals erwa¨hnte Stadtrat wurde nur sporadisch vom Stadtherrn einberufen.134 Gegen Ende des 14. Jahrhunderts besaß er kaum Kompetenzen.135 Erst im Zuge des Immunita¨tenstreits und der tempora¨ren Auflo¨sung der Immunita¨ten erka¨mpfte sich die Stadt einen dauerhaft installierten Rat. Die Tatsache, dass die Berufung von Immunita¨tsbewohnern in den Rat offenbar ohne Widersta¨nde ablief, deutet einmal mehr auf die Zugeho¨rigkeit der Munta¨ter zum Bu¨rgerverband der Stadt. Zwar mussten die Bu¨rger letztlich die formale Einsetzung des Rates durch den Bischof anerkennen, doch blieb er als sta¨ndige Institution auch nach dem Ende des Immunita¨tenstreits und der gescheiterten Auflo¨sung der geistlichen Gerichtsbezirke erhalten.136 Auch die Beteiligung von Immunita¨tsbewohnern la¨sst sich zumindest in den unmittelbar folgenden Jahren weiterhin beobachten.137 Dies jedoch fu¨hrte zu Konflikten mit dem Domkapitel, das einen gebietsu¨bergrei-

129 Zur a¨lteren Forschungsmeinung vergleiche Neukam, Immunita¨ten und Civitas (wie Anm. 28), S. 294.

Bereits Alwin Reindl machte jedoch darauf aufmerksam, dass die Konfliktlinien vor allem zwischen der Stadt und dem Domkapitel und weniger zwischen der Bevo¨lkerung der Gebiete verlief. Reindl, Immunita¨ten (wie Anm. 28), S. 233. 130 Chroust, Chronik (wie Anm. 35), S. 58. 131 StadtA Bamberg, B 4, Nr. 34, fol. 15v–16v. Die Genannten bildeten die Erweiterung des Rates und waren an dessen Wahl beteiligt. Go¨ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 14. 132 Go ¨ ldel, Bauhof (wie Anm. 95), S. 234–235. 133 StadtA Bamberg, A 21, 21. 11. 1389 und 9. 9. 1398. 134 Zum Rat vgl. Schimmelpfennig, Bamberg im Mittelalter (wie Anm. 95), S. 76–78; Karl Schnapp, Stadtgemeinde und Kirchengemeinde in Bamberg. Vom Spa¨tmittelalter bis zum kirchlichen Absolutismus (Vero¨ffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 5), Bamberg 1999, S. 35–39. 135 1386 erlaubt Bischof Lamprecht den Bu¨rgern auf Grund eines Schreibfehlers in einem Schuldbrief die formale Einsetzung eines Rates, ohne diesem Kompetenzen zu u¨bertragen. StadtA Bamberg, A 21, 16. 11. 1386. 136 Go ¨ ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 14. 137 1445 wurden Immunita¨tsbewohner in den Rat berufen. Go ¨ ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 44.

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fenden Rat als Gefahr fu¨r seine Herrschaftsrechte in den Immunita¨ten betrachtete.138 Solange sich die Bu¨rgerschaft nicht gemeinsam von der Autorita¨t ihrer beiden ‚Stadtherrn‘, des Bischofs und des Domkapitels, befreien konnte, stieß die Bildung einer gemeinsamen und gebietsu¨bergreifenden Institution immer wieder an ihre Grenzen – und zwar die Herrschaftsgrenzen der Obrigkeiten. Da eine autonome Stellung der Bu¨rgerschaft zu keinem Zeitpunkt in greifbarer Na¨he war, blieb als Kompromiss und Ausweg nur die Bildung fo¨deraler Strukturen. Daher bestand die Einigung am Ende des Immunita¨tenstreits in der Einfu¨hrung des Wochengelds, einer gemeinsamen Stadtsteuer fu¨r Immunita¨ts- und Stadtgerichtsbewohner, die durch parita¨tisch besetzte Gremien erhoben und verwaltet wurde. Die Wochengeldkommission bestand aus je sechs von den Bewohnern des Stadtgericht bzw. der Immunita¨ten gewa¨hlten Vertreter und die von der Steuer finanzierten Baumaßnahmen wurden von zwei Baumeistern, je einem aus jedem Herrschaftsgebiet, beaufsichtigt.139 Die getrennten institutionellen Strukturen in Stadtgericht und Immunita¨ten wurden damit anerkannt und konserviert, wa¨hrend die Zusammenarbeit durch die gemeinsame Finanzverwaltung gleichzeitig forciert wurde. Aus wie vielen Sta¨dten bestand nun die Siedlung Bamberg zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert? In welchem Maße geho¨rten die Immunita¨ten zur ‚Stadt‘ und in welchem Umfang bildeten sie eigene Sta¨dte oder stadta¨hnliche Gebilde? Eine eindeutige Trennlinie zwischen Bischofsstadt und Immunita¨ten la¨sst sich nur fu¨r die Gerichtsbezirke erkennen. Die Stadtmauer, die auf Grund der zergliederten Siedlungstopographie ohnehin keinen geschlossenen Mauerring bildete, bezog die Immunita¨ten an den wenigen dazu geeigneten Stellen durchaus in die Befestigungsanlagen ein. Auch wirtschaftlich bildeten die Territorien einen Verbund mit allgemein gu¨ltigen Marktregeln und gemeinsamer Handwerksorganisation. Der Immunita¨tsmarkt verlor, so fern er u¨berhaupt je eine u¨ber die Nahrungsmittelversorgung hinausgehende Bedeutung inne hatte, seine Funktion im Verlauf des 14. Jahrhunderts. Die Untersuchung des Bu¨rgerbegriffs zeigt, dass sowohl Stadtgerichts- als auch Immunita¨tsbewohner Bu¨rger der Stadt Bamberg sein konnten und die engen Beziehungen zwischen den politischen Eliten der Gebiete verdeutlichen, dass wir es tatsa¨chlich mit einer gebietsu¨bergreifenden Bu¨rgerschaft zu tun haben. Diese Bu¨rgerschaft teilte sich jedoch aus der Perspektive der Obrigkeit in einen im Stadtgericht und einen in den Immunita¨ten verorteten Teil. Diese Teilung war zwar vor allem den Herrschaftsrechten des Domkapitels u¨ber die Immunita¨ten und deren Bewohner geschuldet, sie wirkten sich jedoch massiv auf das institutionelle Gefu¨ge der Stadt aus. Wa¨hrend die Bu¨rgerschaft, deren Institutionen im bischo¨flichen Teil der Stadt angebunden waren, bis zum Ende des 14. Jahrhunderts immer wieder als Vertretung der Bu¨rger in Stadtgericht und Immunita¨ten agierte, fand zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine zunehmende institutionelle Ausdifferenzierung zwischen dem

138 Der Bischof musste 1443 versprechen, in Zukunft keine Immunita¨tsbewohner ohne Erlaubnis des

Domkapitels in den Rat zu berufen. StaatsA Bamberg, A 91, Lade 450, Nr. 873.

139 Go ¨ ldel, Stadtverfassung (wie Anm. 35), S. 18.

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Stadtgericht und den Immunita¨ten statt. Diese Entwicklung wurde vor allem durch die Weigerung des Domkapitels, der finanziell und politisch immer einflussreicheren Bu¨rgerschaft ein Besteuerungsrecht u¨ber die Immunita¨tsbewohner zu gewa¨hren, versta¨rkt. In der Folge wurde auch das Bu¨rgerrecht sta¨rker an die territoriale Zugeho¨rigkeit gekoppelt. Die enge Zusammenarbeit zwischen den Fu¨hrungsschichten in Stadtgericht und Immunita¨ten wa¨hrend des Immunita¨tenstreits zeigt, dass die zunehmende institutionelle Trennung nur bedingt das Selbstversta¨ndnis und das Interesse der Bu¨rgerschaft widerspiegelt, wobei hier allerdings nur Aussagen u¨ber die politische Elite der Stadt getroffen werden ko¨nnen. Im Zuge des 1431 ausbrechenden Immunita¨tenstreits und der zeitweisen Eingliederung der Immunita¨ten etablierte sich relativ schnell der Stadtrat als eine Institution, die Anspruch auf eine Repra¨sentation der Bu¨rgerschaft in allen Bezirken erhob. Als sich Bischof, Stadt und Domkapitel nach za¨hen Ka¨mpfen schließlich auf die Beibehaltung der Immunita¨ten einigten, trat diese Funktion des Stadtrates sta¨rker in den Hintergund, verschwand aber nicht ga¨nzlich. Dafu¨r wurde dem Wunsch der Bu¨rgerschaft nach einer gemeinsamen Finanzverwaltung nachgegeben, wobei die gebietsu¨bergreifenden Institutionen durch ihre parita¨tische Zusammensetzung die Eigensta¨ndigkeit der Immunita¨ten betonten. Die Frage, in welchem Maße die Immunita¨ten zur Stadt Bamberg geho¨rten, mu¨sste also eigentlich anders formuliert werden: Fu¨r wen geho¨rten die Immunita¨ten zur Stadt? Aus dem Blickwinkel des Domkapitels und der u¨brigen Stifte war die ‚Stadt‘ der rechtliche Zusta¨ndigkeitsbereich des Stadtherrn, der an den Gerichtsgrenzen endete. Die ‚Rechtsstadt‘ bezog die Immunita¨ten nicht ein. Dagegen waren die Immunita¨ten aus Sicht des Bischofs zwar nicht institutionell-rechtlich Teil seiner ‚Stadt‘, aber wirtschaftlich und fiskalisch in sein Herrschaftsgebiet integriert. Auch wenn der Bischof nur u¨ber das Gebiet des Stadtgerichts unmittelbar regierte, geho¨rten die Immunita¨ten mit gewissen Einschra¨nkungen zu seinem Einflussbereich. Betrachtet man die Stadt wiederum als Gemeinschaft ihrer Bu¨rger, so u¨berwiegen die Gemeinsamkeiten zwischen Stadtgericht und Immunita¨ten deutlich die trennenden Elemente. Die Territorien bildeten einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, eine sta¨dtische Wehrgemeinschaft und einen Bu¨rgerverband, der sich auch um gemeinsame Institutionen bemu¨hte. Die Konflikte des 15. Jahrhunderts ergaben sich weniger aus dem Gegensatz von Stadt und Immunita¨ten als vielmehr aus der Reibung zwischen den verschiedenen Stadtkonzeptionen. In dieser Hinsicht bestand Bamberg im Mittelalter also durchaus aus mehreren ‚Sta¨dten‘ bzw. Stadtvorstellungen.

BILD DER STADT – BILD DES TERRITORIUMS Der Miluogo oder die Verortung des Zentrums von Silke Kurth

Der vorliegende Aufsatz behandelt das Bild der Stadt Florenz und des angrenzenden Territoriums, so wie es uns durch die Karten und Stadtansichten, die zwischen Ende des 15. und Ende des 16. Jahrhunderts entstanden, ku¨nstlerisch ausgestaltet und medial vermittelt u¨berliefert ist. Dabei wird sich die Untersuchung in erster Linie auf eigensta¨ndige Gesamtdarstellungen der Stadt konzentrieren. Sie setzt sich also mit einem ikonographischen Typus auseinander, der im behandelten Zeitraum weit geringere Verbreitung erfa¨hrt als die im Laufe des 15. Jahrhunderts in der Malerei rasant zunehmenden, sowohl aus innersta¨dtischer wie außersta¨dtischer Perspektive heraus entwickelten Detailansichten der Stadt. Beobachtung und Analyse zeigen sich in diesem Aufsatz im Besonderen geleitet vom Interesse an der Konstitution und Wahrnehmung des o¨ffentlichen Raumes im Florenz des Cinquecento. So ist es naheliegend, dass in diesem Kontext dem topographischen Zentrum der Stadt, einst der Mercato – nach dem Bau der Loggia des Mercato Nuovo (1557–61) entsprechend in Mercato Vecchio umtituliert – eine beson¨ berlagerung von architektonischen, dere Bedeutung zukommt, da die vielschichtige U urbanistischen, administrativen, sozialen und ephemeren Ra¨umen, u¨ber welche sich ¨ bergang zur fru¨hen Neudas sta¨dtische Miteinander definiert und konstituiert, am U zeit einem Wandlungsprozess unterliegen, der sich, so die vertretene Auffassung, ganz besonders deutlich an diesem innersta¨dtischen Knotenpunkt manifestiert.

I. Der miluogo/das Milieu Benedetto Varchi (1503–1565), illustrer Humanist, Schriftsteller und Historiker, verfasste zwischen 1543 und 1565 seine „Storia Fiorentina“ – eines der bekanntesten Florentiner Beispiele des sich in dieser Zeit verbreitenden Genres – im Auftrag Cosimos I. de’ Medici. Das eben diesem gewidmete Werk, welches die Geschichte von Florenz zwischen 1433 und 1537 resu¨miert,1 wurde nach rund zwei Jahrzehnten 1 Der Zeitraum umfasst damit also die Jahre nach der ersten Exilierung der Medici, 1433, und dem Tod

Alessandros de’ Medici im Jahr 1537.

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Arbeit fertig gestellt, verschwand anschließend jedoch in den mediceischen Archiven, um erst im Jahre 1721 vero¨ffentlicht zu werden. Das Werk Varchis, das zuweilen als oberfla¨chlich abgetan wurde und dessen historische Relevanz man zudem aufgrund seiner Entstehung als herzogliches Auftragswerk geschma¨lert sah, vermag uns jedoch – jenseits aller vornehmlich politischen Aspekte – durchaus interessante Beschreibungen sta¨dtischer Realita¨t zu liefern. Aus dem neunten Buch der ‚Storia‘ stammt dann auch ein Terminus, der im Folgenden gleichsam als Leitbegriff fu¨r die Untersuchung ausgewa¨hlter bildlicher Repra¨sentationen der Stadt bemu¨ht werden kann und soll. Im Zuge seiner Beschreibungen der Gegend um den Alten Markt von Florenz spricht Varchi mehrmals vom miluogo der Stadt. Wir erfahren u¨ber diesen, sich aus dem Franzo¨sischen herleitenden Begriff u. a., dass der Autor ihn als eine offensichtlich veraltete Bezeichnung fu¨r die Stadtmitte erachtet, dass er des Weiteren das Herz der Stadt beschreibt, wenn auch nicht zwangsla¨ufig den exakten topographischen Mittelpunkt,2 und ihn daru¨ber hinaus – im Zuge seiner ausfu¨hrlichen Berechnungen des tatsa¨chlichen topographischen Zentrums – aber wiederum mit dem centro, dem ra¨umlichen Mittelpunkt identifiziert.3 „Nel mezzo e quasi centro della citta`“ heißt es im ersten Passus, ‚in der Mitte‘ bzw. ‚mittendrin‘, ‚fast im Zentrum der Stadt‘ ko¨nnte man u¨bersetzen; „il miluogo o vero (ovvero) centro“ heißt es im zweiten Absatz; der miluogo wird also schlicht mit Zentrum gleichgesetzt. Der heute la¨ngst unu¨blich gewordene Begriff4 vermag – ungeachtet oder vielleicht auch gerade aufgrund des zeitlichen Abstands, den wir zu ihm pflegen – in seiner etymologischen Entwicklung erstaunlich pra¨zise das Pha¨nomen des fundamen¨ bertalen Wandels zu beschreiben, dem die Gegend um den Mercato Vecchio am U gang zur Neuzeit unterworfen ist. Zum einen, weil der Terminus in seiner Zeit, wie gerade gesehen, ganz offensichtlich die sta¨dtische Mitte bezeichnet, also genau den Ort bzw. den Raum, von dem aus die Stadt gleichsam nach außen expandiert und sich im Raum verortet, zum anderen, weil er aber auch – das wird deutlich wenn man sich den Gebrauch des Begriff in der Folgezeit anschaut – nicht nur die geographische Mitte, sondern vor allem das Zentrum sta¨dtischer „Sinnproduktion“ bezeichnet. Der miluogo konstituiert sich dabei also zuna¨chst u¨ber das Zusammenspiel ra¨umlich-geographischer und sozial-demographischer Faktoren wie performativer Praktiken als sta¨dtisches Zentrum, der miluogo entspricht dem sta¨dtischen „Mittendrin“. ¨ konomie, Verwaltung, Die hier aus den Bereichen der Architektur, Urbanistik, O Repra¨sentation und des Sozialwesens heraus entwickelte Sinnstiftung strahlt u¨ber den weiteren, peripheren Raum der Stadt aus.

2 „... e nel miluogo (come dicevano essi) cioe` nel mezzo e quasi centro della citta` era la chiesa di Santo

Andrea, e quella di Santa Maria in Campidoglio, quali si veggono ancora ne’ tempi nostri.“ Benedetto Varchi, Storia fiorentina. Con i primi quattro libri e col nono secondo il codice autografo, hg. v. Gaetano Milanesi, Florenz 1858, Bd. 2, 9. Buch, S. 51. 3 „... cosı´ dalla Porta a San Gallo, passando dal Canto alla Macine, pel Borgo di San Lorenzo, dal Canto alla Paglia e dinanzi all’Arcivescovado, infino a mezzo Mercato Vecchio.“ Varchi, Storia fiorentina (wie Anm. 2), S. 72. 4 Vgl. Vocabolario degli accademici della Crusca, 4. Edizione, Firenze 1729–1738, Bd. 3, S. 244f.

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Geht man einen Schritt weiter und damit indirekt auch zuru¨ck zum franzo¨sischen Ursprungswort, la¨sst sich fest halten, dass der Begriff des Milieus gemeinhin im Kontext sozialgeographischer Studien angewandt wird, um jene markanten und tief verwurzelten Charakteristiken von Ra¨umen anzuzeigen, die – historisch verankert – durch die Beziehung von Raum und Gesellschaft herausgebildet werden. Die Entwicklung des Milieubegriffs fu¨hrt bekanntlich im 20. Jahrhundert – nicht zuletzt beeinflusst von der Raumforschung – zu einer ganzen Milieu-Landschaft, die zunehmend zwischen unterschiedlichen Typologien differenziert. Wa¨hrend damit in den 60er Jahren noch vorrangig geographische, v. a. innersta¨dtische Ra¨ume gemeint waren, hat sich der Raumbegriff auch in Bezug auf das Milieu bekanntlich dergestalt erweitert, dass bspw. la¨ngst zwischen unterschiedlichen politischen, kulturellen und letztlich Lebensstil-Milieus differenziert wird.5 Allgemein gesprochen bezeichnet der Begriff des sozialen Milieus in der Soziologie also die sozialen Bedingungen, denen ein Einzelner oder eine Gruppe ausgesetzt sind. Der Milieu-Begriff hat sich damit la¨ngst vom Zentrum, von der ra¨umlich-topographisch-sozialen Mitte der Gesellschaft entfernt, die einst fu¨r das sta¨dtische Selbstbild sinnstiftend war, um vielmehr eine Vielzahl von Zentren bzw. Mitten voneinander abzugrenzen. Die jeweilige Sinnstiftung des miluogo verschiebt sich – das ist die am Beispiel ¨ bergang vom Quattrocento zum Cinquecento aufzuzeigende von Florenz fu¨r den U Entwicklung – von einem sozial hierarchischen, sich aber u¨ber identische Ra¨ume und ra¨umlich parallele Praktiken definierenden miluogo hin zu sozial homogeneren, sich aber immer strikter von anderen unterscheidenden Milieus, die sich geographischra¨umlich ausdifferenzieren und nicht zuletzt u¨ber Mechanismen der Separation und Segregation konstituieren.

II. Der Mercato Vecchio – eine historische Skizze

Die symbolische Bedeutung der Zentrumsdefinition innerhalb der ro¨mischen Stadt wurde in der Antike durch eine an der Schnittstelle von cardo maximus und decumanus maximus auf dem Forum errichtete Opfersa¨ule herausgestellt. Als gesichert gilt heute, dass sich zu ro¨mischer Zeit auch in Florenz an diesem Punkt der Stadt einst eine solche Sa¨ule befand, ebenso wie der Umstand, dass sich u¨ber ihr eine Figur erhob; konkrete Hinweise u¨ber deren Erscheinung und spa¨teren Verbleib fehlen jedoch. Bereits zwischen dem 10. und dem 11. Jahrhundert, einhergehend also mit dem politischen und o¨konomischen Aufschwung der Stadt, wurde auf dem Platz des ehemaligen antiken Forums der zentrale innersta¨dtische Markt eingerichtet. Nur wenig spa¨ter kam der mercatum de porta S. Mariae hinzu, in unmittelbarer Na¨he gelegen, ungefa¨hr dort, wo im Cinquecento die Loggia des Mercato Nuovo entstehen sollte.

5 Gerhard Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992.

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Das forum vetus war Zentrum des hochmittelalterlichen Florenz – der miluogo der Stadt – bestimmt v. a. von der Pra¨senz der Kirchen Sant’Andrea und Santa Maria in Campidoglio sowie von einer regen Handelsta¨tigkeit, die sich im Laufe der Zeit u¨ber das gesamte Gebiet zwischen den beiden Ma¨rkten ausdehnen sollte, und weiterhin markiert von der ro¨mischen Granitsa¨ule. Nach der Zersto¨rung des Monuments im fru¨hen Quattrocento, errichtete man im Jahr 1431 u¨ber dem antiken Sa¨ulenstumpf eine neue Sa¨ule, nun mit einem neuen Kapitell und einer Statue Donatellos in pietra serena geschmu¨ckt, die der Allegorie der Dovizia bzw. Abbondanza als gutem Omen fu¨r das Glu¨ck und Wohlergehen der Stadt weibliche Gestalt verlieh.6 Die Renaissance-Stadt zeigte sich stets bemu¨ht, ihre ro¨mischen Wurzeln zu betonen und zu visualisieren7; die antike Tradition der Aufstellung einer Sa¨ule am umbilicus coloniae, am Nabel der Stadt, wurde jedoch nicht nur fortgefu¨hrt, sondern durch die einzigartige Auftragsvergabe – u¨brigens eines der ganz fru¨hen nachantiken Beispiele großformatiger profaner Skulptur im o¨ffentlichen Raum – geradezu mit neuer Bedeutung aufgeladen.8 Die Florenz u¨ber die Jahrhunderte charakterisierende Einteilung des Stadtgebiets in Viertel fu¨hrte im Mittelalter die einstige ro¨mische Vierteilung des Castrums weiter, wobei das Sa¨ulenmonument den administrativen Knotenpunkt zwischen den drei no¨rdlich des Arno gelegenen quartieri kennzeichnete.9 Daru¨ber hinaus u¨bte es aber wie bereits in der Antike seine raumstrukturierende Funktion auch u¨ber die Stadtgrenzen hinweg bis ins Umland aus, schließlich fiel den Stadtvierteln das religio¨se, milita¨rische und zivile Patronat u¨ber das sich jeweils außerhalb der Stadtmauern anschließende contado zu, wobei die kleinen borghi, also die Vororte und Gemeinden, den innersta¨dtischen Vierteln vergleichbar organisiert und verwaltet wurden.10 Ausgehend von diesem klar markierten, zentralen Punkt innerhalb des sta¨dtischen miluogo entfaltete sich in unmittelbarer Umgebung des Marktes ein sozialer Raum, dessen Erscheinungsbild denkbar weit entfernt war von einer Platzanlage im modernen Versta¨ndnis, d. h. im Sinne eines offenen, vorwiegend leeren innersta¨dtischen Raumes. Es handelte es sich vielmehr um ein entlang schmaler Gassen eng

6 d. h. dem U ¨ berfluss und der großen Fu¨lle. Die Figur wurde 1721 aufgrund ihres schlechten Erhaltungs-

¨ berflusses‘ von Giovan Battista Foggini; 1956 wurde diese zustands ersetzt durch die ‚Allegorie des U entfernt und im Palazzo der Cassa di Risparmio in der Via dell’Oriuolo aufgestellt. 7 Vgl. z. B. Giovanni Villani, Nuova Cronica, Florenz ab ca. 1322–1348; Leonardo Bruni, Laudatio Florentia Urbis, Florenz 1403–04; Silvia Mantini, Lo spazio sacro della Firenze Medicea. Trasformazioni urbane e cerimoniali pubblici tra Quattrocento e Cinquecento, Florenz 1995. 8 Im oberen Teil des Sa¨ulenrumpfes war u¨brigens eine Glocke befestigt, mit der O ¨ ffnung und Schließung des Marktes angeku¨ndigt wurden, im unteren Teil befanden sich – hier ist die Quellenlage schwierig – mo¨glicherweise Ketten mit Halseisen, mit denen Betru¨ger und sa¨umige Schuldner an den Pranger gebunden wurden. 9 Die quartieri Santa Maria Novella, San Giovanni und Santa Croce. 10 Im 13. Jahrhundert wurden die quartieri in sestieri, also Stadtsechstel u¨berfu¨hrt, wobei fu¨nf no¨rdlich und eines su¨dlich des Arno lagen; eine administrative Lo¨sung, die vor allem der rasanten Bevo¨lkerungsexpansion der Stadt Rechnung tragen sollte. Im Zuge der politischen wie administrativen Umwa¨lzungen in und direkt nach der Regierungszeit des Herzogs von Athen, kehrte man nach 1343 jedoch wieder zur urspru¨nglichen Einteilung in Stadtviertel zuru¨ck.

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bebautes Gebiet, innerhalb dessen sich im Laufe der Zeit die Wohntu¨rme, Palazzi, Kirchen, Tabernacoli, Marktsta¨nde und botteghe immer enger zusammendra¨ngten.11 Die Raumwerdung des Mercato Vecchio, der also la¨ngst mehr als nur die Architektur des eigentlichen Marktes intendierte, erfolgte vermittels einer vielschichti¨ berlagerung o¨konomischer, religio¨ser und sozialer Funktionen erwachsener gen U performativer Praktiken. Der miluogo war bis in die Renaissance hinein Wohnort, Arbeitssta¨tte, Wirtschaftszentrum, Handelsplatz, politischer Versammlungsplatz und Kultort sowie eines der wichtigsten Zentren sozialen Lebens und kommunaler Kommunikation. Der miluogo positionierte sich dabei exakt in der Mitte zwischen weltlicher und religio¨ser Macht und avancierte aufgrund genau dieser Schlu¨sselposition zum bevorzugten Sitz der Zunftniederlassungen.12 Die Bausubstanz integrierte sich in ein locker, meist spontan gewachsenes und prima¨r nicht hierarchisch gegliedertes ra¨umliches Kontinuum, das keinem logisch geplanten Ordnungsprinzip unterworfen war, und die Grenze zwischen privatem und o¨ffentlichem Raum in dieser Zeit oft dem architektonischen Zufall geschuldet sein ließ.13 Bis in die Renaissance hinein ¨ bereinwird diese die Stadtstruktur und Sozialtopographie so pra¨gende ra¨umliche U stimmung von Wohnort und Arbeitssta¨tte wa¨hren. (Abb. 1 Stradano, im Farbteil) Der miluogo war als Ziel sta¨dtischer Bewegungsflu¨sse weit davon entfernt, nur ein Raum zwischen anderen Orten zu sein, er war vielmehr der Identifikationsraum der Stadtrepublik par excellence. Er war der zentrale Ort diskursiver Sinnproduktion der Handelsstadt. Im Kontext der Betrachtung einiger beispielhaft ausgewa¨hlter Stadtansichten bzw. Karten von Florenz wird demnach stets die Frage mitschwingen, welcher Stellenwert dem so herausgehobenen Zentrum wie natu¨rlich auch seinem Gegenpart, der Peripherie bzw. dem an die Stadt grenzenden Territorium, in der bildlichen Darstellung beigemessen wird.

11 Dieses Gebiet erstreckte sich anna¨hernd bis an die heutigen Straßen Via Tornabuoni, Via de’ Cerretani,

Via de’ Calzaiuoli und Via Porta Rossa heran. Die von Guido Carocci auf Basis des Katasters aus dem Jahr 1427 erarbeitete Planimetrie des Zentrums („Il centro di Firenze (Mercato Vecchio) nel 1427“), vermag einen guten Eindruck von der Infrastruktur und der Verteilung von Wohnraum wie Arbeitssta¨tten zu vermitteln, Giovanni Fanelli, Firenze (Le citta` nella storia d’Italia), Roma/Bari 1980, S. 89. 12 Gemeint ist damit die herausragende Lage westlich der zentralen Achse zwischen dem im Jahre 1296 begonnenen Neubau der Kathedrale und dem ab 1299 errichteten Bau des Regierungssitzes, des Palazzo dei Priori. Allein im Gebiet zwischen altem und spa¨terem neuen Markt befanden sich bis mindestens 1534 der Sitz der Arte della Lana, der Arte dei Mercatanti bzw. di Calimala, der Arte degli Albergatori, der Arte dei Linaioli e Rigattieri, der Arte dei Medici e Speziali, der Arte dei Oliandoli, der Arte dei Beccai und der Arte dei Chiavaioli e Calderai; circa die Ha¨lfte aller Zunftsitze also. Vgl. Fanelli, Firenze (wie Anm. 11), S. 47 sowie S. 254f.; Luciano Artusi, Le Arti e i Mestieri di Firenze, Rom 1990. 13 Vgl. Guido Carocci, Il Mercato Vecchio di Firenze. Ricordi e curiosita` di Storia e d’Arte, Florenz (1884) 1900.

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III. Kartographie und Stadtansichten von Florenz

In den fru¨hen Jahrzehnten des Quattrocento trat im Zuge des aufblu¨henden Renaissance-Humanismus ein großes Interesse an der in Italien erst ju¨ngst bekannt gewordenen ptolema¨ischen „Geographie“ zu Tage.14 Das beginnende Zeitalter der Entdeckungen verlieh – einher gehend mit den Fortschritten im Bereich der Vermessungsmethoden – der Anfertigung von Karten an der Schwelle zur Neuzeit einen enormen Aufschwung, so dass dem ptolema¨ischen Grundstock zuna¨chst neue Karten hinzugefu¨hrt wurden, dieser ein Jahrhundert spa¨ter aber bereits komplett durch neu geschaffenes Material ersetzt und damit der Weg hin zu den großen repra¨sentativen Atlanten des Seicento vorbereitet war.15 Hatten – einmal abgesehen von den Seekarten – alle anderen Karten im Mittelalter aufgrund ihrer Schematik und Realita¨tsdistanz eher der Versicherung eines religio¨s und kulturell determinierten Weltbildes als denn einer konkreten Nutzung bzw. Anwendungspraxis gedient, wuchsen ¨ bergang zur Neuzeit die Anspru¨che an das Medium. Die immer enger wermit dem U dende Verschra¨nkung von empirischer Forschung und wissenschaftlich berechenbaren wie ku¨nstlerischen Darstellungstechniken fo¨rderte das Interesse an realistischen Abbildungen sowohl der allgemeinen Erdoberfla¨che als auch insbesondere der aktuell erfahrbaren Lebenswelt: der Stadt wie des sie umgebenden Landes. Die a¨ltesten u¨berlieferten Ansichten von Florenz gehen bereits auf das Trecento zuru¨ck;16 doch entwickelt sich eigentlich erst im oben angerissenen kulturellen Kontext des 15. Jahrhundert ein gro¨ßeres Interesse an einer detaillierten Wiedergabe der Stadt und ihrer Geba¨ude.17 So fu¨hrte die allgemein in den Bildku¨nsten nachweisbare wachsende Vorliebe fu¨r detailreiche und tiefenra¨umlich dargestellte Szenen dazu, ¨ berlieferungen immer ha¨ufiger vor dass historische Ereignisse wie auch religio¨se U

14 Claudius Ptolema¨us (ca. 100 n. Chr. Hermiou/Obera¨gypten – ca. 180 n. Chr. Alexandria), Geographike

hyphegesis [griech. „Einfu¨hrung in die Geographie“], um 150 n. Chr. Der Begriff der Geographie intendierte bei Ptolema¨us die zeichnerische Wiedergabe der Erdoberfla¨che; die Leistung seines aus acht Ba¨nden bestehenden Werkes, das in gewisser Weise die geoda¨tisch basierte Kartographie antizipierte, lag v. a. in der Erstellung von Koordinatenlisten, d. h. der Positionierung von ca. 8000 Punkten der seinerzeit bekannten Erde in einem Gradnetz, sowie in seinem Bemu¨hen um die Landkartenprojektion. Die „Geographie“ war Ende des 13. Jahrhunderts wiederentdeckt worden, zwischen Ende des 14. und Beginn des 15. Jahrhunderts erreichte eine griechische Kopie Italien. Im Jahr 1406 wurde bereits die ¨ bersetzung angefertigt, der eine Vielzahl an Abschriften folgen sollten; 1475 erschien erste lateinische U die erste Inkunabel. 15 Siehe in diesem Zusammenhang z. B. die Florenz-Miniaturen von Jacopo del Massaio aus den Jahren 1456, 1469 und 1472; vgl. Anm. 25. 16 Die a¨lteste uns u¨berlieferte vollsta¨ndige Ansicht von Florenz, heute dem Umkreis von Bernardo Daddis zugeschrieben, ist die bekannte Madonna della Misericordia (1352, Fresko, 48 × 73 cm, Florenz, Sala del Consiglio dell’Oratorio del Bigallo). Die Detailansicht zu Fu¨ßen der Mutter Gottes zeigt uns die sta¨dtischen Geba¨ude eng hinter den Stadtmauern zusammengedra¨ngt ohne Ru¨cksichtnahme auf reale Proportionsverha¨ltnisse und Bedeutungshierarchien. 17 Marco Chiarini/Alessandro Marabottini, Firenze e la sua immagine. Cinque secoli di vedutismo, Venedig 1994.

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einem identifizierbaren sta¨dtischen Hintergrund bzw. gar in einem konkreten sta¨dtischen Kontext verortet wurden.18 Parallel zum Aufkommen der druckgraphischen Verfahren im 15. Jahrhundert erlebten aber schließlich vor allem die eigensta¨ndigen Stadtansichten eine rasch wachsende Verbreitung in diesen neuen Medien, sei es als Einzelbla¨tter, sei es in Form von Kompendien.19 Dabei wurde das in ganz unterschiedlichen Bereichen wachsende Bemu¨hen um die Imago Urbis – man denke allein an die humanistische Konzeptualisierung der Idealstadt – vor allem durch die Sta¨dtelob-Literatur der Renaissance inspiriert und gefo¨rdert, jenem neuen Genre, das – Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts von Giovanni Villani vorbereitet – schließlich mit Leonardo Brunis in den Jahren 1403/04 entstandener „Laudatio Florentia Urbis“ gleichsam aus der Taufe gehoben wurde. Anders als die in eigensta¨ndige Ikonographien eingebundenen Teilansichten,20 verfolgen die Gesamtdarstellungen stets eine ideologische oder politische Intention. In der Absicht, vermittels der Wiedergabe von beispielsweise Stadtmauern, Kirchen, Regierungs- und Stadtpala¨sten, Macht, Scho¨nheit und Reichtum der Stadt zur Anschauung zu bringen, a¨hneln die bildlichen Stadtrepra¨sentationen durchaus jenen ¨ berho¨hung historischer Ereignisse und Perso¨nlichkeiten schriftlichen, welche qua U das gleiche Ziel einer Herausstellung zeitgeno¨ssischer sta¨dtischer Bedeutung verfolgten. Auch wenn sich in diesem Vergleich eine augenscheinlich dynamische, diachrone und eine statische, synchrone Beschreibungsweise gegenu¨berstehen, bleibt doch das Lob auf die Stadt das beide Gattungen verbindende Ziel. So wie die literarische Stadtgeschichte ihre eigenen Anforderungen an das Medium stellt, so bildet auch die Stadtikonographie spezifische Bedingungen und visuelle Strategien aus, denn konzeptuelle Abstraktionsleistung, wissenschaftliche Methodik, reale Anschauung, Perspek¨ berho¨hung gehen Hand in Hand, wenn sich die Frage tivwahl und panegyrische U nach dem Bild der Stadt und dem Bild des Territoriums stellt. Ein herausragendes Beispiel fu¨r das enge Ineinandergreifen von empirischer Beobachtung, wissenschaftlicher Dokumentation und a¨sthetischer Wiedergabe im Renaissance-Humanismus scheint gerade im Bereich der Abbildung von Stadt erkennbar zu werden: Denn es kann wohl kaum als Zufall gewertet werden, dass im Falle von Florenz die Reform zur Einfu¨hrung des sta¨dtischen Katasters im Jahre 1427,21 die Anwendung der erst 18 Z. B. Iacopo del Sellaio, S. Giovanni Battista, ca. 1450, Tempera auf Holz, Washington, National Gal-

lery, Kress Collection; Domenico Ghirlandaio, Approbation der franziskanischen Ordensregeln vor Honorius III., Posthumes Wunder des Heiligen Franz von Assisi, 1483–86, Fresko, Florenz, S. Trinita, Cappella Sassetti; Anonym, Il supplizio di Savonarola, ca. 1500, Tempera auf Holz, ehem. Florenz, Museo Storico Topografico „Firenze com’era“; vgl. Giovanni Fanelli, L’immagine della citta` nella pittura del Quattrocento, in: ders., Firenze architettura e citta`, Bd. 2 Atlante, Florenz 1973, S. 69–71. 19 Der „Liber Cronicarum“, 1493 von Hartmann Schedel herausgegeben und von Antonio Koberger in Nu¨rnberg gedruckt, wird gemeinhin als erstes Sta¨dte-Buch bezeichnet. Auf 68 Tafeln wurden bis dato sowohl unvero¨ffentlichte als auch aus anderen Werken u¨bernommene Stadtansichten pra¨sentiert, die das ganze Spektrum von realistischen, aus unterschiedlichen Versatzteilen komponierten, bis zum Teil phantastischen Darstellungen umfassten. Die Vedute von Florenz, unu¨bersehbar auf den beru¨hmten Kettenplan rekurrierend, wurde u¨brigens aus dem gleichen Holz geschnitten wie die Ansichten von Bologna und Rom. 20 Vgl. u. a. Anm. 21 Fanelli, Firenze (wie Anm. 11), S. 69ff.

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ju¨ngst entwickelten zentralperspektiven Konstruktion auf sta¨dtische Geba¨ude und Gegenden22 sowie die Entstehung der fru¨hen Stadtansichten23 zeitlich weitgehend zusammenfallen.24

1. Pietro di Jacopo del Massaio, Ansicht von Florenz, 1472 Einen außergewo¨hnlichen ikonographien Typus legt uns Pietro di Jacopo del Massaio mit seiner beru¨hmten Miniatur der Florentiner Topographie vor, welche der „Cosmografia di Tolomeo“ entstammt, deren drei Codizes Massaio zwischen 1456 und 1472 illustrierte.25 (Abb. 2, im Farbteil) Das bekannteste der drei Volumen ist zweifellos das der Vatikanischen Bibliothek; das vorliegende Bildbeispiel hingegen stammt aus der nur geringfu¨gig variierten letzten Ausgabe des Cod. Urb. Lat. N. 277 aus dem Jahr 1472. Die Identifikation der Stadt erfolgt in erster Linie u¨ber die differenzierte Wiedergabe der Stadtmauern und ihrer unterschiedlichen Stadttore sowie durch eine Vielzahl voneinander isoliert und perspektivisch sehr heterogen dargestellten namentlich benannten Geba¨uden. Die Tatsache, dass unter diesen Architekturen fast ausnahmslos kirchliche Bauten zu finden sind, die großen Ordenskirchen ebenso wie vor allem die Pfarrkirchen, ist nicht nur – wie man zuna¨chst annehmen ko¨nnte – einer dominanten christlichen Sicht auf die Stadt geschuldet (erinnert sei an den ikonographisch wie kompositorisch meist dominanten Kathedralbau), sondern legt vor allem Zeugnis ab von der Intention, eine sta¨dtische Ordnung und Sozialstruktur ins Bild zu setzen, die sich von den quartieri u¨ber die gonfaloni bis zu den popoli bzw. parochie, also eben diesen Pfarrkirchen ausdifferenzierte. Die gleichma¨ßige Verteilung der Geba¨ude u¨ber das Stadtgebiet legt ganz in diesem Sinne die Gleichberechtigung und weitgehende administrative Autonomie sa¨mtlicher Stadtteile nahe. Der Verzicht auf reale Proportionsverha¨ltnisse wie aber auch auf eine klare Bedeutungsperspektive26, die

22 Marco di Bartolomeo Rustici, Dimostrazione dell’andata del Santo Sepolcro, auch: Codice Rustici,

datiert 1425 (bzw. 1433, 1441–42 und nach 1444), Florenz, Seminario Arcivescovile Maggiore di Cestello. Das erste Buch ist in 169 Kapitel und 80 Karten unterteilt (1r–80r) und behandelt Kirchen, Klo¨ster, Hospita¨ler, aber auch urbanistische Ensembles von Florenz sowie, wenn auch in weit geringerem Umfang, das sta¨dtische Umland. 23 Vgl. Anm. 19. 24 „La riforma di questo strumento analitico [der Kataster, Anm. d. A.] di conoscenza del territorio ha un eminente valore giuridico e economico per ogni tipo di commercio, ma e` pure il diretto antecedente per la formazione di una nuova scienza che si dira` circa due secoli dopo topografia.“ Cesare de Seta, L’iconografia urbana in Europa dal XV al XVIII secolo, in: Citta` d’Europa. Iconografia e vedutismo dal XV al XVIII secolo, hg. v. dems., Neapel 1996, S. 11. 25 Pietro Jacopo del Massaio, Ansicht von Florenz, 1472, Miniatur aus dem Cod. Urb. Lat. N. 277 der „Geographie“ des Ptolema¨us, Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana. Es handelt sich dabei um die spa¨teste dreier bekannter Ausgaben der „Geographie“ des Ptolema¨us; die beiden anderen sind: Cod. Par. Lat. N. 17542, 1456, Biblioteca Nazionale di Parigi und Cod. Vat. Lat. N. 5699, 1469, Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana. 26 Als Beispiel seien nur die vergleichbaren Gro¨ßen des Domkomplexes und jenes von Santa Croce und Santa Maria del Carmine angefu¨hrt.

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Isolierung der einzelnen, weitgehend ranggleichen Darstellungselemente bei gleichzeitiger Vernachla¨ssigung einer verbindenden Infrastruktur vermittelt uns zwar das Bild einer noch in den Kinderschuhen steckenden, symbolisch determinierten Topographie, sie attestiert jedoch alles andere als einen Mangel an Zusammengeho¨rigkeit des sta¨dtischen Ensembles, ganz im Gegenteil stellen die angefu¨hrten Charakteristika die Grundlage fu¨r die Visualisierung der typischen sta¨dtischen Raumstruktur dar. Unterstu¨tzt wird diese Bildintention durch die ungewo¨hnliche nach Su¨den ausgerichtete Perspektive, ein Gegenentwurf zum in dieser Zeit aufkommenden und spa¨ter kanonischen Vedutenblick von Su¨dwesten her. Die gewa¨hlte Perspektive ermo¨glicht es, das no¨rdlich des Arno verortete sta¨dtische Zentrum, eben den miluogo, explizit in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu ru¨cken. So wundert es auch nicht, dass der topographische Schnittpunkt zwischen den die wichtigsten Stadttore verbindenden Hauptachsen – Nord/Su¨d (Porta San Gallo/Porta Romana) und Ost/West (Porta alla Croce/Porta al Prato) – weder auf dem Domplatz, noch vor dem Kommunalpalast, sondern exakt im Schnittpunkt drei der vier quartieri, der Piazza del Mercato Vecchio zu liegen kommt. Massaio illustriert, so hat man beinah den Eindruck, die Beschreibung der sta¨dtischen Ring- und Achsenstruktur wie sie uns von Villani u¨berliefert ist und auf die wahrscheinlich auch Varchi rekurrierte. Villani berichtete, dass der Errichtung der Florentiner Stadtmauern – gemeint ist der sechste, also der ¨ ra – die Berechnung eines Grundgeru¨sts aus zwei anna¨zweite Ring kommunaler A hernd gleich langen, sich jeweils in ihrer Mitte u¨berlagernden Achsen zugrunde lag, deren Schnittpunkt nur wenige Meter su¨dlich der Colonna della Dovizia verortete wurde: „’l punto della croce e del centro del giro della cittade si ha in su la Calimala“.27 Dass Massaio seine Ansicht daru¨ber hinaus so konzipiert, dass zudem auch noch der Schnittpunkt der Bilddiagonalen des Blattes auf genau diesen Punkt triff, kann die wohldurchdachte und politisch determinierte Intention der Darstellung, die sich vom topographischen Zentrum des miluogo aus entwickelt, nur unterstreichen. Die alles andere als zufa¨llige Konstruktion der Planansicht zeigt sich also bemu¨ht, die Idee des Kunstwerks Stadt zu vermitteln, dessen kollektives Anliegen wie repra¨sentatives Abbild sich zwar u¨ber ein Netz dezentraler Strukuren konstituiert – auch wenn deren republikanischer Geist zur Zeit der Kryptos des Quattrocento effektiv bereits untergraben werden – letztlich aber in einem einzigen Punkt zusammenla¨uft, dem Zentrum sta¨dtischer Sinnproduktion, dem miluogo. Die Stadt wird als eine physische Entita¨t wahrgenommen, die durch die Mauergrenze isoliert vom sta¨dtischen Außenraum existiert; gleich so, als wu¨rde sie im leeren Raum eines fremden, undifferenzierten ‚Außen‘ schweben. Diese Konzentration auf den sta¨dtischen ‚Innenraum‘ verbildlicht – ganz anders als im beru¨hmten Kettenplan – die Identifizierung der Stadt in primis u¨ber die politische, administrative und soziale Struktur intra moenia, u¨ber die Raumorganisation schließlich des Stadtstaates.

27 Villani, Nova Cronica (wie Anm. 7), Buch X, Kapitel CCLVII: Ancora de l’edificazione delle mura

d’Oltrarno.

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2. Anonym, Ansicht von Florenz, 1455 In Poggio Bracciolinis „Historiae Florentini populi“ la¨sst sich ein weiteres, interessantes Beispiel fu¨r diesen ikonographischen Typus einer Stadtansicht finden, 1455 von einem nicht namentlich genannten Miniaturisten geschaffen.28 (Abb. 3, im Farbteil) Wenn diese Darstellung hinsichtlich ihrer methodischen Stringenz jener Massaios auch in keiner Weise vergleichbar ist – sie erweist sich zweifellos als weniger systematisch durchstrukturiert –, besticht sie doch durch eine sehr detailgetreue und malerisch differenzierte Wiedergabe der in geringerer Zahl ausgewa¨hlten, allerdings nicht namentlich gekennzeichneten innersta¨dtischen Architekturen. Auch sie zeigt ein Bild der Stadt und des Territoriums, das sich maßgeblich u¨ber das Verha¨ltnis von beschreibendem, charakterisierendem Innen der Stadt und anonymen Außen des Contado definiert. Allein die Entita¨t Stadt interessiert hier, das Territorium dagegen wird letztlich nur als dekorativ zu fu¨llender Bildraum behandelt. Bemerkenswert ist im Unterschied zu Massaios Miniatur der Umstand, dass der innersta¨dtische Zusammenhalt und die markante Grenzziehung, die ihn vom Außenraum abgrenzt, hier nicht nur vermittels einer Betonung der Stadtmauern, sondern vor allem durch einen ungewo¨hnlichen Einsatz der Farbe hervorgehoben werden. Dieser la¨sst bisweilen jedoch selbst bedeutende Bauwerke – eklatanteste Beispiele sind wohl der Dom und das Baptisterium – entgegen aller ikonographischen Tradition beinahe in den Hintergrund ru¨cken. Auffa¨llig markant treten indes einerseits mit dem Palazzo Vecchio der Regierungssitz und andererseits mit dem Palazzo Medici der Familiensitz der aktuellen politischen Machtinhaber aus dem Stadtbild hervor; ein Umstand, der im Entstehungskontext durchaus als Ausdruck Bracciolinis enger Verbindung zur Familie Medici gelesen werden kann.29 Der Humanist, Literat und Historiker Poggio Bracciolini war nach dem Tod Carlo Aretinos 1453 auf maßgebli¨ . in das Amt des Kanzlers der Florentiner Republik beruches Betreiben Cosimos d. A fen worden und arbeitete bis zu seinem Lebensende an seiner Florentiner Geschichte, u¨ber deren Fertigstellung er 1459 verstarb.

3. Lucantonio degli Uberti, Pianta della Catena, um 1500 Der verschollene Kettenplan Francesco Rossellis stellt die erste uns u¨berlieferte perspektivisch ausgerichtete und topographisch weitgehend korrekte Gesamtdarstellung von Florenz dar; hier wird im Folgenden die knapp drei Jahrzehnt spa¨ter von Lucantonio degli Uberti angefertigte Kopie der Ansicht herangezogen.30 (Abb. 4, im

28 Anonym, Ansicht von Florenz, 1455, Miniatur, 333 × 225 mm, in: Poggo Bracciolini, Storia fioren-

tina dall’origine della citta` fino all’anno, Florenz 1455, c. 1v., Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Urb. Lat. 491. 29 Bracciolini war v. a. Cosimo und dessen ju¨ngerem Bruder Lorenzo freundschaftlich verbunden und unterhielt daru¨ber hinaus private Investitionen in die Medici-Bank. 30 Lucantonio degli Uberti (ta¨tig um 1500-nach 1526), Pianta delle Catene/Kettenplan (auch bezeichnet als „Berlinese“), ca. 1500/10, Holzschnitt, 57,8 × 131,6 cm, Berlin, Staatl. Museen Preuß. Kulturbesitz,

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Farbteil) Rossellis in spa¨terer Zeit unza¨hlige Male kopierte Ansicht aus Su¨dwesten – wahrscheinlich von Monte Oliveto aus konzipiert – hat durch ihre weite Verbreitung das Bild der Stadt in Europa nachhaltig gepra¨gt; bis weit noch ins 18. Jahrhundert hinein la¨sst sich ein Großteil der Stadtbilder von Florenz auf diesen Prototyp zuru¨ckverfolgen.31 Die weit ins Querformat gezogene deskriptive Ansicht zeigt das in eine weitgehend gleichfo¨rmige Hu¨gellandschaft eingebettete, kompakte, ellipsenfo¨rmige Stadtbild von Florenz, aus dem einzelne Bauten durch ihre Gro¨ße und architektonische Freistellung herausragen. Die einzelnen monumentalen Architekturen – nahezu aus einer einheitlichen Perspektive volumetisch gestaltet – ermo¨glichen nicht zuletzt aufgrund ihrer recht exakten topographischen Verortung eine leichte Identifizierung, 88 in die Ansicht eingefu¨gte Namen stehen im selben Dienst. Narrative, allta¨gliche Szenen mit Staffagefiguren werden – radikal mit den perspektivischen Gro¨ßenverha¨ltnissen brechend – zwecks besserer Sichtbarkeit in der Landschaft vor den Stadtmauern verortet. Vor allem die Wiedergabe des Zeichners selbst am unteren rechten Bildrand ¨ berzeugung des Betrachters ab, eine leicht zuga¨ngliche und authentizielt auf die U sche Ansicht der Stadt vorzufinden. Der sta¨dtische Raum wird hier – anders als in den gerade betrachteten Stadtbildern – ungeachtet seiner technisch stringenteren Raumkomposition nicht als objektivierte bzw. abstrahierte Entita¨t wahrgenommen, sondern in erster Linie als menschlicher Lebensraum, der sich u¨ber markante Architekturen, vor allem aber u¨ber ein augenscheinlich harmonisches, gewachsenes Ganzes der Stadt definiert. Das Verha¨ltnis zwischen Zentrum, Peripherie und Contado ist durch eine von außen nach innen zunehmende Dichte an Objekten – gleichsam von Ba¨umen zu Bauten – gekennzeichnet. Die Grenze der Stadtmauer wird aufgrund der perspektivischen Hell-DunkelEffekte interessanterweise zum Teil stark betont, zum Teil fast aufgelo¨st, so dass der Zeichner augenscheinlich beide Aspekte der Stadt bildlich zu vermitteln beabsichtigt: ¨ berdie Abgrenzung vom Territorium wie aber auch das Erwachsen aus bzw. das U gehen in selbiges. Symbolisches Zentrum der Stadt ist die Kathedrale Santa Maria del Fiore mit einer u¨berdimensioniert aufragenden Kuppel32; faktisches Zentrum allein der Nord-Su¨d-Achse bleibt der Mercato Vecchio, erkennbar an der hoch aufragenden Colonna dell’Abondanza. Leichte Zuga¨nglichkeit, traditionelle Gewichtungen, Detailreichtum und Pra¨zision machten aus dem Kettenplan und seinen Derivaten ein geeignetes Propaganda-

Kupferstichkabinett, Kopie nach Francesco Rosselli, Pianta delle Catene, zw. 1471–1480 (Original verschollen bis auf eines von neun Bla¨ttern, die Gegend von Fiesole darstellend). 31 Z. B. Francesco Rosselli, Tempera auf Holz, 92,5 × 143,5 cm, London, Collezione Bier; Michael Wolgemut und Wilhelm W. Pleydenwurff, 1493, Kupferstich, in: Hartmann Schedel, Liber Chronicarum, Nu¨rnberg 1493; Anonym, 1550, Kupferstich, 311 × 408 mm, in: Sebastian Mu¨nster, Cosmografia, Basel 1550; Domenico Zenoi, 1569, Kupferstich, 287 × 210 mm, in: M. G. Ballino, De’ disegni delle piu` illustri citta`..., Venedig 1569; Claudio Duchetto, 1580, Kupferstich, 442 × 320 mm, Florenz, Museo Storico Topografico „Firenze com’era“. 32 Das zweite und dritte Register des Kathedral-Tambours, die zu diesem Effekt beitragen, sind u¨brigens eine geistreiche und zweckdienliche Erfindung; sie scheinen bereits Baccio d’Agnolos Laubengang antizipieren zu wollen.

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instrument der sta¨dtischen Fu¨hrung, in dem sich symboltra¨chtige Topographie und sta¨dtische Morphologie u¨berblenden. Die auf das Jahr 1493 datierte Stadtansicht aus Hartmann Schedels „Liber Chronicarum“ ist zweifellos eine der bekanntesten Gesamtdarstellungen, die auf den Kettenplan Rossellis rekurrieren.33 (Abb. 5, im Farbteil) Das Stadtgebiet ist komplett erfasst, die schra¨ge Aufsicht aus Su¨dwesten ermo¨glicht die Darstellung eines quantitativ reduzierten und von daher im Detail gut zu identifizierenden Geba¨udeagglomerats, aus dem die ma¨chtige Domkuppel und der Campanile als religio¨ses Zentrum herausragen. Wie fu¨r die Stadtansichten, die als Teil von Chroniken und Sammlungen zusammengestellt wurden, charakteristisch, konzentriert sich der Blick von außen also besonders auf die Stadtsilhouette und auf die zentralen religio¨sen Architekturen. Ganz a¨hnlich wie im Fall der in Sebastian Mu¨nsters „Cosmographie“34 publizierten Ansicht von Florenz scheint die Stadt zudem auf die Gro¨ße eines Dorfes zusammengeschrumpft zu sein; es interessiert das Ganze, nicht aber die enzyklopa¨dische Vollsta¨ndigkeit. Die realistische Wiedergabe des tatsa¨chlichen Gesamtbildes besitzt in diesem Kontext also keine Priorita¨t, ha¨ufig werden die Ansichten nach gleichsam kanonischen Vorbildern ausgearbeitet und erst durch Details pra¨zisiert. Im Fall der vorliegenden Ansicht ist die Ungenauigkeit und Oberfla¨chlichkeit der Wiedergabe, die weit hinter dem Vorbild zuru¨cksteht, evident. Fu¨r die Bestimmung des Zentrums wird allein die Ansicht des perspektivisch unscho¨n zusammengeschobenen Domkomplexes bemu¨ht, wobei vor allem die dunklen Schattierungen der Kathedrale der Betonung dienen; das umliegende Territorium wird auf ein Minimum geschrumpft und zeigt sich bar jeder Bedeutung in Relation zur Stadt; der Horizont wirkt wie ausradiert.

4. Renovatio Urbana – Die Modifikation des Raumes Scheint im Bereich der Urbanistik das Thema der citta` ideale eines der großen ku¨nstlerischen und humanistischen Leitthemen des Quattrocento zu sein, so existieren in der Realita¨t der Renaissance tatsa¨chlich kaum architektonisch-urbanistische Umsetzungen dieser Idealkonzepte. Es hat daher den Anschein, als wu¨rde erst das 16. Jahrhundert realisieren, was Architekten und Humanisten hundert Jahre zuvor mit dem hehren Ziel, eine bessere Menschheit in besseren Sta¨dten wohnen zu lassen, theoretisch entworfen hatten. Nunmehr aber hatte an Stelle der Republik bzw. Kryptos ein allein herrschender Fu¨rst die Bu¨hne betreten und ordnete das Stadtbild unter Zuhilfenahme einer geschickten Gesetzgebung den Anforderungen des fru¨hmodernen Staatsapparates wie auch durchaus seinen privaten Bedu¨rfnissen unter.35 In der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts hatte sich das im Mittelalter ausgepra¨gte und 33 Schedel, Liber Chronicarum (wie Anm. 31). 34 Vgl. Anm. 31. 35 Legge in commodo di quelli che volessero edificare per tutto lo stato, passata il 28 gennaio 1550/51;

vgl. Legislazione toscana raccolta e illustrata dal dottore Lorenzo Cantini, Firenze 1800–1808, Bd. II, S. 194ff.

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in der Renaissance konsolidierte Stadtbild von Florenz in Folge der urbanistischen Interventionen der ersten beiden mediceischen Großherzo¨ge so nachhaltig vera¨ndert, wie es erst wieder im spa¨ten 19. Jahrhundert geschehen sollte.36 Eine der Grundlagen war durch den Ausbau der von Cosimo I. eingerichteten Magistratura dei Capitani di Parte geschaffen worden, welche die mittelalterliche Magistratur der Ufficiali della Torre vereinnahmte und zu einem quasi modernen Ministero dei Lavori Pubblici ausbaute, in dem – unter großherzoglicher Kontrolle – nun sa¨mtliche sta¨dtische Bauta¨tigkeit zusammenlief. Jenseits des enormen Katalogs an hinla¨nglich bekannten urbanistischen und architektonischen Prestigewerken, die allein in die Regierungszeit Cosimos fallen und dem Grundgedanken des Fu¨rstenstaates sinnlich Ausdruck verleihen,37 la¨sst sich jedoch auch eine große Zahl an – oftmals als sekunda¨r vernachla¨ssigten – Maßnahmen aufzeigen, die massiv und nachhaltig in die sta¨dtische Sozialtopographie eingreifen. Sie sind zugespitzt mit den Schlagworten Bereinigung, Segregation, Konzentration und Linealisierung des steinernen wie lebendigen Stadtbildes zu umreißen und zeichnen sich durch eine immer markanter werdende Trennlinie zwischen sozialen Bevo¨lkerungsgruppen und Schichten und ihren jeweiligen Lebensra¨umen aus; alles in allem bilden sie also als Sozialmetaphern das die gesamte Stadt ra¨umlich durchorganisierende Staatswesen ab. „Die Stadt des Fu¨rsten ist an die Stelle der Stadt der Menschen getreten.“38 Die Verwaltungsstruktur der quartieri und gonfaloni war la¨ngst unterho¨hlt, die meisten der einst einflussreichen Zu¨nfte zur ra¨umlichen Unterwerfung und Eingliederung in das Ministerialgeba¨ude der Uffizien gezwungen.39 Bereits um die Mitte der 70er Jahre des Cinquecento war die Gegend um den Alten Markt einem tief greifenden Wandel unterworfen, der den Konstitutionsprozess des einst prestigereichen miluogo als zentralem, multiplen Kommunikationsraum und als urbanistischem Knotenpunkt der quartieri interclassisti in sein Gegenteil verkehrte und durch die ¨ berformung des Stadtraums gleichsam in seinem Inneweit ausgreifende ho¨fische U ren ausho¨hlte. Auszu¨ge aus den Katastern Mitte des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts belegen die Folgen der staatlich determinierten urbanistischen Eingriffe fu¨r die

36 Niemand vermochte so gekonnt wie Vasari dem Topos des Fu¨rsten als universaler Bauherr und Sta¨d-

teplaner in zahlreichen Fresken Ausdruck zu verleihen. Diesbezu¨gliche Themen finden sich u. a. in der Sala di Cosimo: Cosimo im Kreise seiner Hofku¨nstler und Architekten, die ihm aktuelle Pla¨ne und Entwu¨rfe pra¨sentieren; Cosimo besichtigt die Befestigungsbauten von Elba; die Personifikationen von Cortona, Volterra, Fivizzano, Borgo San Sepolcro und Arezzo, die als meist knieende weibliche Figuren von Cosimo die corona murale auf das Haupt gesetzt bekommen (vgl. dazu auch Vasari, Opere, Bd. VIII, S. 193f.); Veduten anderer toskanischer Sta¨dte mit Befestigungsanlagen und Zitadellen (vgl. Ettore Allegri/Alessandro Cecchi, Palazzo Vecchio e i Medici. Guida storica, Florenz 1980, S. 144–148 mit Abb.); im Salone dei Cinquecento: Cosimo I. plant den Krieg gegen Siena mit der Darstellung des Fu¨rsten als Kriegsarchitekt. Vgl. Volker Breidecker, Florenz oder „Die Rede, die zum Auge spricht.“ Kunst, Fest und Macht im Ambiente der Stadt, Mu¨nchen 1992, S. 347. 37 Vgl. die Liste der Bauvorhaben und Eingriffe in die Stadtstruktur aus der Regierungszeit Cosimo I., in: Fanelli, Firenze (wie Anm. 11), Abb. 42. 38 Breidecker, Florenz (wie Anm. 36), S. 348. 39 Francesco Martelli, Le Magistrature, in: Vasari. Gli Uffizi e il Duca. Ausst. Kat. Florenz 2011, S. 40–45.

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Standortwahl und Bauta¨tigkeit der Florentiner Oberschicht, von der rund 40 Prozent dem innersta¨dtischen Migrationsprozess folgen.40 Wa¨hrend die Wirtschaftsta¨tigkeit des Zentrums immer mehr auf die nun ra¨umlich gebu¨ndelten einfachen Handelszweige beschra¨nkt wurde,41 umschloss die konzentrisch nach außen treibende Expansion der je pra¨ferierten Standorte vom miluogo des Mittelalters u¨ber die Achsen des ro¨mischen Castrums, an denen zur Zeit der Renaissance die neuen Pala¨ste und Handelssitze entstanden, nunmehr das gesamte Gebiet intra moenia .42 Neu geschlagene bzw. erweiterte Achsen und qua Aufstellung von Monumenten erreichte punktuelle Markierungen schufen neue symbolische Ra¨ume, o¨ffentliche Festakte unterstu¨tzten vermittels Bewegung die Ausbildung ephemerer und performativer Ra¨ume, die sich zunehmend vom einstigen miluogo entfernten, ihn einschlossen und nach außen strebend, neuen Raum erobern. Die Wahrnehmung des durch den Fu¨rsten besetzten o¨ffentlichen Raumes wurde u¨ber das jeweils Sichtbare hinaus erweitert. Der alte Markt hatte als miluogo, als sinnstiftendes Zentrum ausgedient. Dem rapiden Bedeutungsverlust und unaufhaltbaren Niedergang seiner Bausubstanz wurde durch eine fu¨r den Staat u¨beraus lukrative Sanierungsmaßnahme besonderer Art entgegengewirkt: durch die 1571/72 erfolgende Ghettoisierung sa¨mtlicher in der Toskana ansa¨ssigen Juden, direkt im Herzen der Stadt.43 Der Bau des Florentiner Ghettos als sozialer Bereinigungsmaßnahme wurde zu einer opera pubblica, die sich nahtlos in die Reihe der großherzoglichen Repra¨sentationsauftra¨ge eingliederte und stellt letztlich nur ein, wenn auch ohne Zweifel das eklatanteste Beispiel dar fu¨r die zunehmende ra¨umliche Segregation einzelner Bevo¨lkerungsgruppen innerhalb des Stadtgebiets. Nirgendwo anders konstituiert sich in dieser Zeit soziale Exklusion aber u¨ber eine derart exponierte ra¨umliche Inklusion.44

5. Baldassarre Peruzzi, Pianta delle fortificazioni e ponti, 1520 Peruzzis beru¨hmtes Blatt zeigt uns eine auf den ersten Blick wenig zuga¨nglich Ansicht von Florenz.45 (Abb. 6, im Farbteil) Als eines der fru¨hsten Beispiele dieser

40 Gemeint sind die Kataster aus den Jahren 1552, 1561 und 1632. 41 Vorangetrieben einerseits durch den Bau der Loggia del Pesce (Vasari 1568) und die damit einherge-

hende Verlegung des Fischmarktes vom Arnoufer (Piazza del Pesce) aufgrund der Errichtung des herzoglichen Korridors und andererseits bedingt durch den Bau des Mercato Nuovo (del Tasso 1546), der den Vertrieb von exklusiveren Waren nun in unmittelbarer Na¨he des Regierungszentrums situierte. 42 Burr R. Litchfield, Demographic Characteristics of Florentine Patrician Families Sixteenth to Nineteenth Centuries, in: Journal of Economic History 29 (June) (1969), S. 191–205; ders., Dalla Repubblica al Granducato: il nuovo assetto socio-spaziale di Firenze, 1551–1632, Florenz 1991. 43 Stefanie B. Siegmund, The Medici State and the Ghetto of Florence. The construction of an Early Modern Jewish Comunity, Stanford 2006. 44 Silke Kurth, Das Florentiner Ghetto. Ein urbanistisches Projekt und seine Urspru¨nge zwischen Gegenreformation und absolutistischem Herrschaftsanspruch, in: Fru¨hneuzeitliche Ghettos in Europa im Vergleich, hg. v. Fritz Backhaus/Gisela Engel/Gundula Greber/Robert Liberles, Berlin 2012, S. 173–204. 45 Baldassarre Peruzzi, Pianta delle fortificazioni e dei ponti di Firenze, 1522, Feder auf Papier, Florenz, Uffizi, Gabinetto dei disegni e delle stampe.

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Art, konzentriert sich die Zeichnung auf die Wiedergabe des sta¨dtischen Umrisses; Stadtmauern und Stadttore aber auch die Bru¨ckenkonstruktionen werden als offensichtlich vorrangig relevante Architekturen wiedergegeben. Einzige Ausnahme bildet der Komplex von Kathedrale und Baptisterium, der gleichsam als Dreh- und Angelpunkt der Komposition dient. Die perspektivische Anlage des a¨ußerst reduzierten Schemas rekurriert ganz offensichtlich auf die vom Kettenplan inaugurierte Su¨dwest-Ansicht, schließlich erscheint die Umrisslinie als Horizonalprojektion der dort perspektivisch dargestellten Stadtmauern; der Typus des Blattes hingegen repra¨sentiert eine, im Cinquecento an Bedeutung gewinnende Fortifikationstopographie und antizipiert in gewisser Weise die thematische Kartographie. Mit dem einschneidenden Wandel in der Kriegsfu¨hrung und Belagerungsstrategie sowie den Innovationen im Bereich des ¨ bergang zur fru¨Festungsbaus und der sta¨dtischen Verteidigungsarchitektur am U hen Neuzeit, verbreiten sich auch der milita¨rischen Strategie dienliche Darstellungen immer mehr. Die forma urbis wird zum Ausdruck und zur Essenz der neuen Stadt; eine Interpretation, die Peruzzis Plan in die Nachfolge der oben diskutierten Miniaturen des Quattrocento stellt. Wie ein pars pro toto stehen die zum Großteil namentlich bezeichneten Fortifikationsarchitekturen fu¨r die gesamte Stadt, mit der Absicht, ihrer Sta¨rke nach Außen und ihrer Sicherung nach Innen Ausdruck zu verleihen. Alle Elemente, die nicht diesem Zweck unterstellt sind, werden ausgeblendet, von der leeren Fla¨che verschluckt; die funktionalen Darstellungskriterien verdra¨ngen die a¨sthetischen. Das Bild der Stadt ist allein reduziert auf die Grenze zwischen dem, was sie ist und dem, was sie nicht ist.

6. Stefano Bonsignori, Nova Pvlcherrimae civitatis Florentiae ..., 1584 Ebenso wie die Veduten, zeigen auch Karten – ungeachtet ihrer Absage an die Narrativita¨t – keine objektive Topographie, sondern offenbaren immer eine Interpretation der Stadt, die nicht zuletzt durch die Auftragslage beeinflusst und von a¨sthetischen und gestalterischen Entscheidungen des Kartographen bestimmt wird. Mit dem Stadtplan von Florenz, den Stefano Bonsignori 1584 im Auftrag Francescos I. de’ Medici anfertigte, liegt uns eines der herausragendsten Dokumente der historischen Topographie vor.46 (Abb. 7, im Farbteil) Es handelt sich keineswegs um eine von einem realen Standort her konstruierte Ansicht der Stadt – auch wenn die Perspektivkonstruktion von Su¨dwesten her und die kleine Staffagefigur des Mo¨nches, eine Reminiszens der Veduten des 15. Jahrhunderts, dies nahe legen mo¨chte –, sondern um

46 Stefano Bonsignori, Nova pulcherrimae civitatis Florentiae toporaphia accuratissima delineata, 1584,

Acquaforte, 125 × 138 cm, hg. v. Girolamo Franceschini, Siena 1594, gedruckt auf neun Bla¨ttern, zusammengefu¨gt auf Leinwand, ehem. Florenz, Museo Storico Topografico „Firenze com’era“. Der große Erfolg des innovativen Bonsignori-Plans zeigt sich in den rasch folgenden Nachdrucken, die in Italien entstehen, z. B. in: Pietro Bertelli, Theatrum urbium italicarum, Venezia 1599; I. Marcucci, Ritratti delle piu` famose et principali citta` d’Italia, Roma 1615; Giacomo Lauro, Heroico splendore delle citta` del mondo, Roma 1639.

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den nachweislich ersten Plan von Florenz, der auf der Grundlage von Proportionsverha¨ltnissen und Gesetzma¨ßigkeiten der Horizontalprojektion vermittels moderner Vermessungstechnik angefertigt wurde.47 Der Olivetanermo¨nch und großherzogliche Kosmograph Bonsignori machte sich – unter Hilfe einiger perspektivischen Korrekturen – eine Kombination aus der Darstellungstechnik der Planimetrie und jener der axonometrischen Perspektive zu eigen48, was es ihm ermo¨glichte, sowohl Geba¨ude als auch Pla¨tze und Straßen detailgenau und gleichermaßen gut erkennbar zu zeigen. Die Proportionsverha¨ltnisse der einzelnen Bauten wurden dabei zum Teil mit der Absicht forciert, die sta¨dtische Infrastruktur, v. a. die Umrisse der Ha¨userblocks und Straßenzu¨ge, die nunmehr den Architekturen gleichwertig die Morphologie der Stadt charakterisieren, markanter hervortreten zu lassen. Die vormals u¨bliche Isolierung der Architekturen bzw. zum Teil stark u¨berzeichnete Bedeutungshierarchie der Geba¨ude ist hier einer minuzio¨sen Wiedergabe der gesamtsta¨dtischen Struktur gewichen, in der alle Einzelteile gleichwertig nebeneinander treten. Der evozierte enzyklopa¨dische Charakter des urbanen Ganzen wird durch die Nummerierung der Architekturen und die Legende, die immerhin 225 Monumente auffu¨hrt, noch unterstrichen. Der alte Markt ist auch bei Bonsignori in der topographischen Mitte und damit im gestalterischen Zentrum des Plans verortet. Wa¨hrend er als architektonische Platzanlage allerdings nicht mehr identifizierbar ist, stehen die wie in einem großen Ring um das ehemalige Castrum angelegten innersta¨dtischen Pla¨tze in Form nicht gestalteter weißer Fla¨chen als Bu¨hne des o¨ffentlichen ho¨fischen Zeremoniells zur Disposition, vor der sich die verschiedenen Monumente mediceischen Ruhms deutlich abheben. Neben die ‚Statik des Volumens‘ tritt nun auch die ‚Dynamik der Bewegung‘ als zentrale neue Komponente in die Raumwahrnehmung ein. Die pra¨zise Wiedergabe und Kennzeichnung des sta¨dtischen Straßennetzes, das nunmehr an die Stelle des vormals entweder aufgrund der Staffelung der Geba¨ude nicht erkennbaren oder schlichtweg undefinierten, oft leeren Raumes getreten ist, gibt Aufschluss u¨ber den enormen Bedeutungszuwachs, den die Infrastruktur als solche erfahren hat. Auch wenn der Plan dem Betrachter eine mit wissenschaftlichen Methoden erzielte Objektivita¨t der Ansicht suggeriert, hat wohl kein Bild einer Stadt zuvor mit derartiger Selbstverherrlichung dem Staate affirmierend zugearbeitet. Kulturelle Selbstvergewisserung und Legitimation der konstruierten Ordnung gehen Hand in Hand. Auffa¨llig ist u¨berdies die bei Bonsignori ga¨nzlich neue Behandlung der sta¨dtischen Grenze, wobei Bonsignoris Darstellung der Stadtmauern wie auch der Fortezza durchaus auf dem traditionsgema¨ß großen ikonographischen Stellenwert der Fortifikationsarchitektur fußt. Im Unterschied zu den Planansichten des Quattrocento, wie v. a. jener del Massaios von 1472, sind diese Mauern jetzt allerdings keine

47 Die Karte wurde nach genauesten topographischen Erhebungen angefertigt, die Bonsignori seit

1575/76 organisierte und von Vermessern und Kartographen durchfu¨hren ließ; Giuseppe Boffito/ Attilio Mori, Piante e vedute di Firenze. Studio storico topografico cartografico, Florenz 1926, S. XXIII–XXIV. 48 Ein fru¨hes Beispiel fu¨r eine geometrisch exakte und a¨ußerst detailreiche Arbeit dieser Art ist die um 1500 von Jacopo de’ Barbari erstellte Stadtansicht Venedigs.

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Grenze mehr zwischen dem ‚Etwas‘ der Stadt und dem ‚Nichts‘ des sie umgebenden Raumes, sondern sie stellen lediglich eine markante Linienfu¨hrung unter vielen dar, welche die ra¨umliche Komposition bestimmen. Stadtmauern und Festungen trennen und verbinden doch; sie sind zu einer Membran zwischen den beschleunigten Bewegungsflu¨ssen der Zeit geworden.49 Als befestigte Orte der citta` bestimmen sie einerseits einen Raum, der sich isoliert (das ‚Innen‘), wa¨hrend sie andererseits als Teil eines ausgreifenden Netzes an neu errichteten Festungsanlagen im Großherzogtum zugleich ein Verbindungsglied zum Territorium (dem ‚Außen‘) darstellen und damit auch die neue politische Ordnung des Territorialstaates repra¨sentieren. Insofern dienen diese Bauten nicht nur einer realen Verteidigungsfunktion, sondern sind immer auch Ausdruck eines symbolischen Machtraumes, in den sich der sta¨dtische Raum eingliedert. Der Stadtumriss erha¨lt seine Bedeutung nun nicht mehr als Grenze, sondern als Strukturpha¨nomen. Die Stadtmauern stehen hier weniger im kompositorischen Dienst einer Eingrenzung bzw. einer Trennung von Ra¨umen, vielmehr u¨bernehmen sie die fundamentale Funktion einer geometrischen Vorlage, an der sich das gesamte netzartige Liniengefu¨ge des Planes – ausgehend vom ehemaligen Castrum – orientiert. Allerorts ist nunmehr die Kontinuita¨t des Raumes betont, indem das ausgepra¨gte Achsensystem der innersta¨dtischen Infrastruktur u¨ber die Stadtgrenzen hinaus seine Fortfu¨hrung findet: So wie die Stadt ins Umland wuchert, so dra¨ngt das Umland in die Stadt hinein. Damit liegt dem sta¨dtischen Umland ein geometrisches Ordnungsprinzip zugrunde, das jenem der innersta¨dtischen Topographie durchaus vergleichbar ist; bewusst werden von Straßenzu¨gen zusammengefasste Ha¨userblocks innerhalb der Stadtmauern parzellierten Landstu¨cken außerhalb derselben gegenu¨bergestellt. Die bis ins Detail durchstrukturierte Untergliederung des sta¨dtischen Ganzen visualisiert einmal mehr die eingangs aufgezeigte Entwicklungslinie vom miluogo zum Milieu. Bonsignoris Bildstrategie inszeniert wie keine andere die neue sozialtopographische Ordnung, Ausrichtung und Ausbildung, die sich u¨ber das komplexe Zusammenspiel der oben ¨ bergang zur fru¨hen Neuzeit konstituiert. angerissenen Raumbildungsprozesse am U Selbst eine bescheidene – in unserem Fall auf die Frage nach der Verortung des Zentrums befragte – Bildauswahl wie die vorliegende vermag die beeindruckende Entwicklung sta¨dtischer Topographie und Morphologie zu illustrieren, die sich zwischen der Mitte des 15. und Ende des 16. Jahrhunderts in Florenz vollzieht. Der miluogo als Zentrum sta¨dtischer Topographie und Ort kommunaler Identita¨ts- und Sinnstiftung wird in der Folge der urbanistischen Eingriffe des Cinquecento und der sich neu konstituierenden sta¨dtischen Sozialtopopographie von neuen, jetzt erstmals auch dezentralen Machtzentren abgelo¨st und beginnt – bereits weit in die Zukunft vorausweisend – den sich zunehmend ausdifferenzierenden sozialen Milieus zu weichen. 49 Die Wiedergabe der Fortezza – hier im Westen dargestellt – reiht sich u¨brigens aufgrund ihres regelma¨-

ßigen Grundrisses und Liniensystems stilistisch in die Gesamtkomposition ein, insofern sie die Gro¨ße und Geometrie der Windrose oben links und der großherzoglichen Wappenkomposition oben rechts wieder aufzugreifen scheint. Die Wehrarchitektur erscheint also u¨ber die stilistische Anna¨herung mit der Orientierung im geographischen Raum wie auch mit den Herrschaftsinsignien verknu¨pft.

ZENTRUM UND PERIPHERIE Bezu¨ge zum Gebauten des Markusplatzes in den Sta¨dten der venezianischen Terraferma von Daniel Leis

Im Mittelalter geho¨rte Venedig zu den großen Seerepubliken Italiens, seit dem vierten Kreuzzug ist es zudem eine bedeutende Territorialmacht im o¨stlichen Mittelmeer, deren Anspruch auf Gebietsherrschaft in dem Titel des Dogen „Herr u¨ber ein Viertel und ein Achtel des ro¨mischen Weltreiches“ sprechenden Ausdruck findet.1 Die venetischen Gebiete Oberitaliens und damit jene Gegenden, aus denen die Venezianer ihrer eigenen Historiographie entsprechend einstmals in die Lagune gewandert waren, kamen jedoch erst ab dem 15. Jahrhundert zur Markusrepublik und bildeten neben dem Stato da Mar, den u¨berseeischen Besitzungen, die sogenannte Terraferma. Zahlreiche Sta¨dte kamen nun zu Venedig, und diese neue Zugeho¨rigkeit bewirkte nicht nur Vera¨nderungen in der politischen Struktur der Sta¨dte, sondern hatte auch Auswirkungen auf ihr Stadtbild. Zahlreiche Bauten entstanden mit venezianischen Bezu¨gen, besonders o¨ffentliche Geba¨ude und wichtige sta¨dtische Bauaufgaben wie etwa Mauern und Befestigungen unterlagen einer Transformation mit venezianischem Bezug oder wurden durch eine venezianische Heraldik neu codiert.2

I. Pla¨tze in den Sta¨dten der Terraferma Die Haupt- und Stadtpla¨tze sind es vor allem, an denen die neue Herrschaft sichtbar wurde. Dies u¨berrascht nicht, ku¨nden doch gerade Pla¨tze nicht nur von der politischen und o¨konomischen Macht ihrer Erbauer, sondern daru¨ber hinaus in besonderer 1 Zu dem nach dem 4. Kreuzzug angenommenen Titel siehe Serban ¸ Marin, „Dominus Quartae partis

et dimidiae totius imperii romaniae“. The Forth Crusade and the dogal title in the venetian chronicles’ representation, in: Quaderni della Casa Romena 3 (2004), S. 119–150. 2 Fu¨r die Befestigungen und die Semantik der Torbauten siehe: Stefan Schweizer, Zwischen Repra¨sentation und Funktion. Die Stadttore der Renaissance in Italien (VMPI 184), Go¨ttingen 2002, und ders., Sta¨dtische Repra¨sentation und Dogen-Ikonographie. Die Selbstdarstellung der Republik Venedig in den spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Stadttoren Trevisos, Paduas und Veronas, in: concilium medii aevi 6 (2003), S. 15–36.

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Weise vom Selbstversta¨ndnis der Gemeinschaft, in deren Diensten sie stehen und fu¨r die sie wesentliche Funktionen u¨bernehmen.3 Die dem Platz eingeschriebenen Vorstellungen, die aus Handlungen und Bedeutungszuweisungen erwachsen, treten mit seiner architektonischen Ausgestaltung in eine Wechselwirkung. Das Gebaute kann so bestimmte Inhalte vertreten und vermitteln, gibt der immateriellen Ordnung des Gemeinwesens im Stadtbild eine materielle Pra¨senz. Eine Vera¨nderung in der sozialen oder politischen Ordnung wird sich auf die Orte ihrer Repra¨sentation und Herrschaftsausu¨bung auswirken. Im Fall der Sta¨dte der Terraferma kann es nicht verwundern, dass ihre Pla¨tze nunmehr baulichen Vera¨nderungen unterworfen wurden, fu¨r die der Markusplatz, das venezianische Staatsforum, als Referenz diente. So stehen etwa am nordwestlichen Ende der Piazza dei Signori in Vicenza zwei Denkmalsa¨ulen, von denen die su¨dliche eine Darstellung des Redentore, die no¨rdliche den Markuslo¨wen tra¨gt (Abb. 1, im Farbteil). Diese Anlage la¨sst unmittelbar an Venedig denken, wo auf dem Markusplatz, genauer am su¨dlichen Ende der Piazzetta,4 ebenfalls zwei Sa¨ulen stehen (Abb. 2, im Farbteil). Auch hier tra¨gt eine Sa¨ule den Markuslo¨wen, wa¨hrend sich auf der anderen eine Darstellung des Hl. Theodor, des a¨lteren Stadtpatrons Venedigs, befindet. Wenn auch die Errichtung der beiden Sa¨ulen in Vicenza nicht zeitgleich erfolgte5 – die zweite wurde erst fast zwei Jahrhunderte spa¨ter aufgestellt – so wurde hierdurch die Allusion auf den Markusplatz nur versta¨rkt, nicht jedoch geboren. Schon die Errichtung der ersten Sa¨ule ließ unmittelbar an jene Sa¨ule in Venedig und an den venezianischen Hauptplatz denken. Umso mehr, als die Errichtung in Vicenza kein singula¨res Ereignis darstellte. Schon im Laufe des 15. Jahrhunderts kam es auf den Haupt- und Marktpla¨tzen der Terraferma-Sta¨dte zu Aufstellungen von Sa¨ulen, die eine Darstellung des Markuslo¨wen trugen. Neben Vicenza etwa in Ravenna 1483, in Udine 1490, in Brescia 1496. Die meisten Sa¨ulen wurden dann im 16. Jahrhundert nach der Schlacht von Agnadello und dem voru¨bergehenden Verlust des Festlandbesitzes gegen die Liga von Cambrai gesetzt, doch wuchs ihre Zahl noch bis zum Ende der Republik 1797 kontinuierlich an, die letzten Sa¨ulenerrichtungen datieren in Chioggia 1786, in Padua 1787, in Negrar 1792 und in Crespano del Grappa 1795.6 Insgesamt hat Alberto Rizzi in einem Katalog der Lo¨wendarstellungen Venedigs u¨ber 3 Zu den Pla¨tzen der venetischen Sta¨dte siehe Donatella Calabi, Le piazze centrali e la citta`, in: Lo spazio

nelle citta` venete (1348–1509), hg. v. Enrico Guidoni/Ugo Soragni (Storia dell’urbanistica. Veneto 1), Rom 1977, S. 158–169. 4 Der Markusplatz wurde zu Zeiten der Republik weiter verstanden als heute. Neben dem Markusplatz und der Piazzetta geho¨rten auch die kleine heute so genannte Piazzetta dei leoncini no¨rdlich der Markuskirche und der Bereich zwischen Dogenpalast und dem Hafenbecken von San Marco dazu. Vgl. etwa die Beschreibung des Platzes bei Francesco Sansovino, Venetia. Citta` nobilissima, et singolare, Venedig 1581, S. 105r. 5 Die erste Sa¨ule mit dem Markuslo¨wen wurde 1464 aufgestellt, die zweite mit der Figur des Erlo¨sers 1640, Vittorio Barichella, Le colonne di S. Marco e del Redentore nella Piazza de’ Signori, Vicenza 1994. 6 Zu den Sa¨ulen allgemein Alberto Rizzi, I leoni di San Marco. Il simbolo della repubblica veneta nella scultura e nella pittura, 2 Bde., Venedig 2001, hier bes. Bd. 1, S. 66; siehe auch Witold Maisel, Die italienischen, spanischen und portugiesischen Hoheitssa¨ulen, in: Forschungen zur Rechtsarcha¨ologie und Rechtlichen Volkskunde 9 (1987), S. 17–30, hier S. 21.

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60 nachweisbare Beispiele von Sa¨ulen zusammengetragen, von denen 25 noch erhalten sind, dazu 10 Aufstellungen mit Pfeilern, die der Sa¨ule in gewisser Weise verwandt sind.7 Die Errichtung der Sa¨ulen steht allerdings nicht isoliert, sondern ist eingebettet in eine wesentlich breitere bauliche Ausgestaltung, die den Pla¨tzen der TerrafermaSta¨dte Adaptionen von Geba¨uden des Markusplatzes einschreiben. So kann etwa die zwischen 1448 und 1457 errichtete Loggia del Lionello (Abb. 3, im Farbteil) an der heutigen Piazza Liberta` von Udine die Herkunft ihrer Formen vom wenige Jahre zuvor vollendeten Dogenpalast in Venedig (Abb. 4, im Farbteil) kaum leugnen, und der am selben Platz 1527 errichtete Uhrturm (Abb. 5, im Farbteil) orientiert sich noch enger am Vorbild des ein Vierteljahrhundert zuvor auf dem Markusplatz errichteten (Abb. 6, im Farbteil). Nimmt man die beiden Sa¨ulen des Markuslo¨wen und der Justitia hinzu, so erscheint der Platz geradezu mit venezianischen Kopien mo¨bliert. Die Beispiele ließen sich um eine ganze Reihe weiterer erga¨nzen, etwa um die Uhren in Padua (Abb. 7, im Farbteil) und Brescia, doch sollen hier keine Einzelfa¨lle untersucht, sondern das Pha¨nomen in seiner Gesamtheit zum Ausgangspunkt von ¨ berlegungen zu einer Praxis dieser Bezugsetzung gemacht werden. U

¨ berformung mit venezianischem Bezug II. U

In der Gesamtheit scheint es, als ob urbanistische und politische Situation hier eine Parallele besaßen. Wie die vorgefundenen, aber weiter bestehenden lokalen Signorien durch aus Venedig entsandte Verwalter u¨berformt wurden, so wurde auch das architektonische Bild der Sta¨dte durch Bauten mit explizit venezianischem Bezug u¨berformt. Referenz fu¨r die Stadtpla¨tze war hierbei der Markusplatz, bildete dieser doch im Gebauten ein wesentliches Zeugnis venezianischer Macht und den Spiegel des republikanischen Selbstversta¨ndnisses. Wenn auf den Pla¨tzen der Terraferma-Sta¨dte erkennbar auf architektonische Besonderheiten des Markusplatzes alludiert wurde, so wurden zugleich bestimmte Bedeutungen, die mit diesen verbunden sind, evoziert. Es ist also zu fragen, welche Inhalte dadurch transportiert werden sollten. Fu¨r die Sta¨dte sind die Pla¨tze Erinnerungs- und Identifikationsorte; durch ihre Unverwechselbarkeit gleichsam „Markenzeichen“, die Singularita¨t versprechen und nicht erst im Zeitalter einer touristischen Vermarktung die Besonderheit eines Reisezieles hervorheben mo¨chten. Auch die Fru¨he Neuzeit kennt die Platzansicht als Charakteristikum einer Stadt. Mitunter sind es auch nur einzelne Bauten oder bestimmte Denkma¨ler, die zur Identifikation ausreichen, als pars pro toto eine bestimmte Stadt oder deren Gemeinwesen vertreten ko¨nnen. Gerade in Venedig ist es der Markusplatz, der besonders ha¨ufig auf den Frontispizen von Stadtbeschreibungen, als Hin¨ mterportraits, auf Votivbildern der Dogen und so fort erscheint. Damit tergrund in A 7 Rizzi, San Marco (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 67.

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wird zuna¨chst natu¨rlich einfach auf den Ort Venedig verwiesen, doch du¨rften die Ansichten des republikanischen Zentrums zugleich auch auf das republikanisch-verfasste Gemeinwesen allgemein hinweisen. So verstanden, treten die Platzansichten neben andere Darstellungen Venedigs. Die Personifikation der Venezia etwa verko¨rperte die Tugenden, die der Stadt eigen waren; der Heilige Markus war der eigentliche Stadtherr und verlieh himmlische Legitimita¨t,8 auch wenn er in der Gestalt seines Symboltieres in Erscheinung trat. Darstellungen der Dogen spielen dagegen eher eine untergeordnete Rolle. Der Doge war Repra¨sentant, nicht Verko¨rperung des venezianischen Staates, hatte sich der republikanischen Verfasstheit zu unterwerfen und dies durch eine lange Liste von Einschra¨nkungen in seiner Wahlkapitulation zu beschwo¨ren. III. Der Markusplatz als Modell Dem Markusplatz kam es letztlich zu, dem republikanischen Staatswesens einen Ort zu geben. Die ihn umgebenden Bauten beherbergten die Ra¨te und Gremien der Repu¨ mter, Gerichte und Beho¨rden ihrer Exekutive, die das Stadtregiment darblik, die A stellten. Der Platz fungierte als Bu¨hne des Gemeinwesens, an dem alle Schichten Anteil an der Repra¨sentation dieser res publica hatten.9 Er war ebenso Erinnerungsort an fu¨r das Gemeinwesen bedeutsame Ereignisse, wie er Legitimationsort der Herrschaft war, wo des Heiligen gedacht wurde, in dessen Namen die Republik existierte und handelte. Der Platz diente als Ort der Herrschaft, auf dem die Republik Beschlu¨sse verku¨ndete, Hinrichtungen vollzog und ihre Ordnung in den Prozessionen ihrer Funktionstra¨ger sichtbar wurde.10 Die sta¨dtebauliche Gestalt des Markusplatzes oder auch einzelner seiner charakteristischen Elemente scheinen daher in besonderer Weise geeignet gewesen zu sein, den Ort Venedig und damit das Gemeinwesen der Republik zu repra¨sentieren. Diese fu¨r Venedig etablierte Semantik konnte leicht auf andere Sta¨dte u¨bertragen werden, indem auf Pla¨tzen Allusionen auf venezianische Bauten oder Ensembles des Markusplatzes geschaffen wurden, signalisierten diese die Zugeho¨rigkeit zur Republik Venedig. 8 Der Heilige war der eigentliche Stadtherr, von dem der Doge das Dogat als Lehen erhielt. Siehe zur

Entstehung, Konzeption und Etablierung im Zeremoniell Alfons Zettler, Die politischen Dimensionen des Markuskultes im hochmittelalterlichen Venedig, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. Ju¨rgen Petersohn (VuF 42), Sigmaringen 1994, S. 541–571, bes. S. 542ff. 9 Die venezianische Gesellschaft war in drei „Klassen“ eingeteilt: Die Aristokraten, gebildet aus den im Goldenen Buch eingetragenen Familien, saßen im Großen Rat; die cittadini waren meist wohlhabende Kaufleute und stark in Bruderschaften organisiert; die popolani waren die einfache Bevo¨lkerung. Neben den Prozessionen der Signoria auf dem Markusplatz, gab es dort aber auch Feierlichkeiten, die von den Bruderschaften der cittadini oder durch die Vereinigungen der popolani durchgefu¨hrt wurden. Zur Bevo¨lkerung Venedigs und ihrer Zusammensetzung siehe Daniele Beltrami, Storia della popolazione di Venezia dalla fine del secolo XVI alla caduta della Repubblica, Padua 1954. 10 Zu Funktion und Bedeutung vgl. Iain Fenlon, Piazza San Marco, London 2009, Egle Renata Trincanato, Rappresentativita` e funzionalita` di Piazza San Marco, in: La Piazza San Marco, l’architettura, la storia, le funzioni, hg. v. Giuseppe Samona`, Padua 1970, S. 79–91.

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Welch hoher Identifikationswert im Stadtbild dabei gerade auch den Sa¨ulen zukam, mag eine Stadtansicht der Zeit um 1400 verdeutlichen. Es handelt sich um eine Miniatur, die in einer Ausgabe von Marco Polos Miglione erscheint (Abb. 8, im Farbteil).11 Die Ansicht zeigt eine Stadt im Wasser: Venedig. Zur Darstellung ist das Areal um die Piazza di San Marco gekommen. Dabei dienen jedoch weniger die den Platz umgebenden Geba¨ude, sondern vielmehr die Ausstattung des Platzes als wesentliches Identifikationsmerkmal. Zwar ist auch der Dogenpalast in seiner architektonischen Struktur wiedergegeben – unten ist er durch Arkaden geo¨ffnet, oben besitzt er einen Umgang. Und auch die Markuskirche kann wohlwollend anhand der Kuppeln erkannt werden, wenngleich dieselben – etwas eigenwillig dargestellt – eher dicken Tu¨rmen gleichen. Doch im Eigentlichen sind es die Pferde von San Marco und die beiden Sa¨ulen mit ihren Figuren, die eine Identifizierung als Ansicht des Markusplatzes garantieren. Nun ist das Aufrichten einer Sa¨ule als markantes Zeichen keineswegs eine venezianische Besonderheit. Auch Rom und Byzanz verdanken ihren Kaisersa¨ulen charakteristische Merkmale gerade fu¨r die fru¨hen Stadtansichten. Auch die solchermaßen betonte Erhebung eines Symbol- oder Wappentieres kennt in Italien Parallelen. So etwa in den Sa¨ulen der sienesischen Wo¨lfin, der Lupa senese, die sich dort in der Stadt mehrfach findet und die ebenfalls in untergebenen Sta¨dten wie Massa Marittima, Sovano oder Montepulciano Aufstellung fand.12 Doch ist der Brauch nicht allgemein und niemand scheint ihn mit der gleichen Vehemenz verfolgt zu haben, wie die Venezianer. Eine wirkliche Besonderheit Venedigs aber ist die Errichtung einer zweiten Sa¨ule, die auch in ihrer Ikonographie freier ist. Betrachtet man noch einmal die Miniatur des Miglione (Abb. 8, im Farbteil), so wird man in der geflu¨gelten Figur einen Michael erkennen mu¨ssen und nicht den Hl. Theodor. Im Gegensatz zu einer weiteren Deutung der Figur als hl. Georg hat die Forschung den Michael akzeptiert,13 was in unserem Zusammenhang genu¨gt, um die Ikonographie der zweiten Sa¨ule als nicht kanonisch zu begreifen. Dies aber erlaubte es, auch in den Sta¨dten der Terraferma der Markussa¨ule eine zweite Sa¨ule an die Seite zu stellen, die in ihrer Ikonographie nicht von vornherein festgelegt war. Eine erste Errichtung zweier Sa¨ulen fand 1483 in Ravenna 11 Oxford, Bodleian Library, Codex 264, Teil 2, fol. 218. Li Livres du Graunt Caam, Paecht 1973, S. 70,

Nr. 792.

12 Siehe hierzu Dietmar Popp, Lupa Senese: Zur Inszenierung einer mythischen Vergangenheit in Siena

(1260–1560), in: Kunst als a¨sthetisches Ereignis, hg. v. Ulrich Schu¨tte (Marburger Jahrbuch fu¨r Kunstwissenschaft 24), Marburg 1997, S. 41–58. 13 Nicht zuletzt wegen einer anderen Darstellung mit dem Engel wurde dieser als der historische Zustand der Sa¨ule akzeptiert, ob dabei die heutige Figur vera¨ndert wurde, oder ob sie eine andere ersetzt, ob urspru¨nglich ein Theodor intendiert war, und ob die Deutung als Georg, die immerhin Sansovino noch in Quellen fand, eine Fehldeutung ist wird in der Forschung unterschiedlich bewertet. Vgl. Wilhelm Schlink, Die Sockelskulpturen der beiden Sa¨ulen am Markusplatz von Venedig, in: Intuition und Darstellung. Erich Hubala zum 24. Ma¨rz 1985, hg. v. Frank Bu¨ttner/Christian Lenz, Mu¨nchen 1985, S. 33–44, S. 36; Veronika Wiegartz, Antike Bildwerke im Urteil mittelalterlicher Zeitgenossen (Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte 7), Weimar 2004, S. 282; Guido Tigler, Intorno alle colonne di Piazza San Marco, in: Atti dell’Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti CLVIII (1999/2000), S. 1–45, S. 26.

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statt: Zwei gleichartige Granitsa¨ulen, die eine trug eine Figur des Markuslo¨wen, die andere jene des Hl. Apolinaris, des Stadtpatrons von Ravenna (Abb. 9, im Farbteil).14 Auch in Brescia wurde 1496 per Dekret die Errichtung zweier Sa¨ulen angeordnet. Eine mit dem Markuslo¨wen und eine fu¨r den Stadtpatron.15 Andernorts wurde erst mit großem zeitlichen Abstand der Sa¨ule mit dem Markuslo¨wen eine zweite, bevorzugt mit Darstellungen der jeweiligen lokalen Stadtpatrone, zur Seite gestellt. So beispielsweise in Udine, wo der Sa¨ule mit dem Markuslo¨wen von 1490 erst 1614 eine zweite mit der Figur der Justitia folgte. Das Beispiel Vicenza wurde bereits genannt.

IV. Semantiken der Sa¨ulenmonumente Die zweite Sa¨ule, die dem Markuslo¨wen einen lokalen Heiligen zur Seite stellt, wirkt dabei wie ein ausgleichendes, beinahe schon pluralistisches Element, war sie doch durch ihre Figur ohne expliziten inhaltlichen Venedigbezug gekennzeichnet. Es ko¨nnte der Eindruck entstehen, das Herrschaftszeichen des Markuslo¨wen solle durch eine zweite Sa¨ule, die zudem nicht u¨berall vorhanden war, relativiert werden. Doch bekra¨ftigt auf der andern Seite gerade die Aufstellung eines Sa¨ulenpaares den vom Markusplatz her bekannten a¨sthetischen Eindruck. Insofern du¨rfte die Semantik der beiden Sa¨ulen eine besondere Verbindung mit Venedig ausdru¨cken, die sich gerade in der Adaption der beiden Sa¨ulen, aber mit einer Vera¨nderung in der Ikonographie der Figuren a¨ußerte. Die venezianische Herrschaft wird nicht als oktroyierte dargestellt, sondern steht im Einklang mit der lokalen Tradition. Doch auch wo keine zweite, relativierende Sa¨ule neben jene des Markuslo¨wen trat, braucht dies nicht zu bedeuten, dass hier ein entsprechendes Moment des Ausgleichs fehlt. Natu¨rlich ist der Markuslo¨we ein Symbol der Republik Venedig und als solcher sollte er auch verstanden werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er im Falle von Herrschaftswechseln von der Sa¨ule abgenommen und symbolische Handlungen an ihm vollzogen wurden. Der Lo¨we der Sa¨ule in Ravenna etwa wurde nach der Eingliederung der Stadt in den Kirchenstaat nach Bologna u¨berfu¨hrt, wo er symbolisch an die Kette gelegt wurde. Auch die Revolutiona¨re des Jahres 1797 vollzogen symbolische Bestrafungen des Lo¨wen oder zerschlugen ihn. In Venedig selbst wurde der Lo¨we ebenso wie die Pferde von San Marco unter napoleonischer Herrschaft von der Sa¨ule geholt. Hernach wurden diese Zeugnisse venezianischer Selbstdarstellung als antike Kunstwerke und moderne Tropha¨en nach Paris u¨berfu¨hrt. Dies mag zu der Annahme verleiten, es handele sich bei den in den Sta¨dten errichteten Sa¨ulen um ein von der neuen venezianischen Herrschaft installiertes Machtsymbol, welches den Bewohnern alle Tage ihre verlorene Freiheit vor Augen fu¨hren solle. Doch du¨rfte diese Lesart zu einseitig sein. Dagegen spricht schon die ha¨ufig erst spa¨t nach

14 Der Markuslo¨we wurde als die Stadt zum Kirchenstaat kam, durch einen Petrus ersetzt. Maisel,

Hoheitssa¨ulen (wie Anm. 6), S. 20; Rizzi, San Marco (wie Anm. 6), Bd. 2, Kat-Nr. 2080.

15 Rizzi, San Marco (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 76.

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dem Herrschaftswechsel erfolgte Aufstellung. Zwar sind die genauen Umsta¨nde der Errichtungen der Sa¨ulen in den Sta¨dten bisher kaum erforscht, doch wurden die Sa¨ulen mitunter eben auch von den Sta¨dten selbst errichtet, wie etwa im bereits eingangs erwa¨hnten Vicenza.16 Auch in Verona wurde die dortige Sa¨ule von der Stadt aufgestellt, als diese nach acht Jahren kaiserlicher Herrschaft (1509–17) wieder an Venedig kam, was Luigi Simeoni als besonderen Ausdruck der Devotion verstanden hat.17 Gerade die Veroneser hatten 1405 in einem feierlichen Akt ihre Treue zu Venedig gelobt und ihre Stadt der Markusrepublik gewidmet.18 Solche Vorstellungen der freiwilligen Unterwerfung vertragen sich schlecht mit Zeichen der Unterdru¨ckung. Daher du¨rfte die Semantik der Sa¨ulen eher auf eine Wechselwirkung zwischen der jeweiligen Stadt und Venedig verweisen; als Ausdruck eines Bundes, der fu¨r beide Seiten Vorteile bot. Der Lo¨we zeigt die Herrschaft Venedigs an, verweist als Symbol des Hl. Markus auf eine u¨berpersonale und u¨ber den Gremien stehende Legitimation. Doch begu¨nstigt die Symbolik des Markuslo¨wen selbst womo¨glich eine verso¨hnliche Lesart. Wird er doch ha¨ufig mit dem aufgeschlagenen Buch dargestellt, in dem der Friedensgruß pax tibi, Marce, evangelista meus zu lesen ist. Und auch wenn dieser nicht bei allen Darstellungen zu finden ist, so ist er doch mit dem Markuslo¨wen so eng verbunden, dass er mitzudenken ist. Dieser Friedensgruß mag wie ein Versprechen fu¨r das gute Regiment der venezianischen Herrschaft gewirkt haben. Hier ist auch auf die Inschrift der Sa¨ule in Caprino hinzuweisen, die besagt, dass die Sa¨ule am 12. August 1786 anla¨sslich der Errichtung eines Wochenmarktes aufgestellt wurde, was eine u¨ber das Anzeigen des Stadtherrn hinausgehende Verbindung der Sa¨ule mit der Verleihung hoheitlicher Privilegien nahelegt.19 Daneben ist in diesem Zusammenhang noch auf ein anderes Monument aufmerksam zu machen, welches sich in Venedig selbst befindet. Im Su¨dwesten der Stadt, auf dem Platz S. Nicolo` dei Mendicoli vor der gleichnamigen Kirche, befindet sich eine kleine Sa¨ule, die einen Markuslo¨wen tra¨gt (Abb. 10, im Farbteil).20 Dort lag das Viertel der Nicolotti, die mit den Castellani zu den beiden a¨ltesten Einwohnergruppen Venedigs za¨hlten. Im Laufe der Jahre hatten die Nicolotti zahlreiche Privilegien erworben, die sie vor anderen Bewohnern der Stadt auszeichneten, wozu insbesondere das Recht geho¨rte, einen eigenen Dogen zu wa¨hlen.21 Vor diesem Hintergrund du¨rfte die Sa¨ule auf dem Campo S. Nicolo` dei Mendicoli als eine besondere Auszeichnung verstanden worden sein, die sich auf das Monument auf der Piazzetta bezog. Es 16 Maisel, Hoheitssa¨ulen (wie Anm. 6), S. 20. 17 Luigi Simeoni, Verona. Guida storica-artistica della Citta` e Provincia, nuova edizione reveduta ed

aggiornato da Ugo Zannoni, Verona 1953, S. 50. 18 Giovanni Solinas, Storia di Verona, Verona 1981, S. 319ff. 19 Die heutige Inschrift befindet sich auf der Kopie des 19. Jahrhunderts, siehe Alberto Rizzi, Il Leone

di Venezia a „Verona fidelis“, in: Atti dell’Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti, 154, III (1995/96), S. 611–671, hier S. 658. 20 Rizzi, San Marco (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 70, Kat.-Nr. 747. Der dortige Lo¨we ist aus pietra d’Istria gefertigt, er soll urspru¨nglich einen Schwanz aus vergoldetem Eisen besessen haben, wohingegen unklar bleibt, ob ihm Flu¨gel montiert waren. 21 Siehe hierzu Edward Muir, Civic ritual in Renaissance Venice, Princeton 1981, S. 99–100; Cornelia Friedrichs, Francesco Guardi – Venezianische Feste und Zeremonien. Die Inszenierung der Republik in Festen und Bildern, Berlin 2006, S. 87.

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erscheint daher nicht gerechtfertigt, bei der Bewertung der Sa¨ulen in den TerrafermaSta¨dten eine auf einen repressiven Charakter als Herrschaftszeichen verengte Semantik zu vermuten.

V. Territoriumsbildung und Fazit

Ein letzter, aber wichtiger Aspekt soll noch angefu¨hrt werden. Trugen die Sa¨ulen doch auch zu einer Produktion eines venezianischen Territoriums bei. Dass das Versta¨ndnis eines Territoriums in der fru¨hen Neuzeit ganz anders aufgefasst wurde als heute, dass es sich nicht vom geographischen Raum herleitete, sondern vom politischen Raum, d. h. von der Herrschaft u¨ber ein Gebiet, hat Achim Landwehr gerade an Beispielen der Terraferma herausgearbeitet.22 Die Erfassung des Territoriums erfolgte daher auch nicht als Teil der Erdoberfla¨che innerhalb fester geographischer Grenzen, sondern nur summarisch, durch eine Aufza¨hlung von einzelnen Punkten in der Weite des ungemessenen Raumes. Diese Punkte sind befestigte Pla¨tze, Sta¨dte oder Ortschaften. Vor diesem Hintergrund gewinnen nun aber auch die Sa¨ulen eine weitere Dimension, erscheinen sie doch als fixe Punkte in einem undefinierten Raum. Wer das Territorium Venedigs durchschritt, kam von Stadt zu Stadt, von Sa¨ule zu Sa¨ule. Indem diese die Herrschaft Venedigs u¨ber einen bestimmten Punkt innerhalb des Territoriums angaben, ergaben sie zusammengenommen eine Vorstellung des politischen Raumes. Sie bildeten die sichtbaren Knotenpunkte eines unsichtbaren Netzes, das sich u¨ber den geographischen Raum gelegt hatte. Durch dieses Netz waren die Herrschaften untereinander und mit der Stadt in der Lagune verbunden. Die vorgestellten Bezugsetzungen zu Venedig, die mittels der Reproduktion a¨ußerer Formen eine inhaltliche Verbindung evozierten, sind solche zwischen Zentrum und Peripherie. Sie kennen Vor- und Abbild, aber sie erfolgen eher auf einer Ebene, denn von oben nach unten. Dies entsprach der politischen Eingliederung der Gebiete, die sich nicht durch eine ru¨cksichtslose Expansion auszeichnete, sondern durch zahlreiche Zugesta¨ndnisse an die alten Stadtherrschaften, deren Gesetze und Institutionen weitgehend erhalten blieben.23 Im Gegenzug akzeptierten die Sta¨dte die Oberhoheit Venedigs. Zahlreiche Territorien begaben sich „freiwillig“ unter die venezianische Herrschaft. Dieser propagierten Zustimmung zum Herrschaftswechsel musste auch in der politischen Symbolik Rechnung getragen werden. Eine Symbolik, die fu¨r das Gute Regiment der Republik stand war fu¨r diese Erweiterung offen. Darin mag ein wesentlicher Grund fu¨r die Wahl und Akzeptanz venezianischer Formen begru¨ndet liegen. 22 Achim Landwehr, Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevo¨lkerung, Mythos 1570–1750, Paderborn

2007, bes. S. 167–179; ders., Das Territorium inszenieren. Der politische Raum im fru¨hneuzeitlichen Venedig, in: Inszenierung und Ritual in Mittelalter und Renaissance, hg. v. Andrea von Hu¨lsen-Esch (Studia humaniora 40), Du¨sseldorf 2005, S. 219–238. 23 Zu den Beziehungen und Institutionen siehe Ivone Cacciavillani, Venezia e la terraferma, Padua 22009.

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Abb. 1 zu Isaiasz (S. 49–66): Plan von der Ko¨nigl. Residenzstadt Berlin, 1723 Kupferstich von Georg Paul Busch Quelle: © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv. Nr. GDR 77/29. Reproduktion Oliver Ziebe, Berlin

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Abb. 1 zu Stephan (S. 27–48): Sixtinische Kapelle. Gesamtansicht

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Abb. 2 zu Stephan (S. 27–48): Sixtinische Kapelle, Michelangelos Ju¨ngstes Gericht. Gesamtansicht

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Abb. 3 zu Stephan (S. 27–48): Sixtinische Kapelle, Michelangelos Ju¨ngstes Gericht. Zentrale Szene: Christus und die Apostel

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Abb. 4 zu Stephan (S. 27–48): Sixtinische Kapelle, Michelangelos Ju¨ngstes Gericht. Petrus und die Magna Peccatrix

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Abb. 5 zu Stephan (S. 27–48): Sixtinische Kapelle. Rekonstruktion des urspru¨nglichen Zustands, um 1500

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Abb. 6 zu Stephan (S. 27–48): Hans Burckmair, Frontispiz in Johannes Stamlers Dyalogus ..., Augsburg 1508

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Abb. 7 zu Stephan (S. 27–48): Meister BP, Das Spottwappen des Papstes, 1538

Abb. 8 zu Stephan (S. 27–48): Anonym, Lutherus Triumphans, um 1568

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Abb. 9 zu Stephan (S. 27–48): Padua, Arena-Kapelle. Ju¨ngstes Gericht von Giotto, Eingangsinnenwand

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Abb. 10 zu Stephan (S. 27–48): Florenz, San Marco. Ju¨ngstes Gericht von Fra Bartolomeo

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Abb. 11 zu Stephan (S. 27–48): Sixtinische Kapelle, Schlu¨sselu¨bergabe von Perugino

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Abb. 1 zu Kurth (S. 183–199): Jan van der Straet (Johannes Stradanus), Florenz, Piazza del Mercato Vecchio, 1555

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Abb. 2 zu Kurth (S. 183–199): Pietro di Jacopo del Massaio, Ansicht von Florenz, 1472

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Abb. 3 zu Kurth (S. 183–199): Anonym, Ansicht von Florenz, 1455

Quelle: © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin (Inv. 899-100)

Abb. 4 zu Kurth (S. 183–199): Lucantonio degli Uberti, Pianta della Catena, um 1500

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Abb. 5 zu Kurth (S. 183–199): Hartmann Schedel, Florenz, 1493

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Abb. 6 zu Kurth (S. 183–199): Baldassare Peruzzi, Pianta delle fortificazioni e ponti, 1520

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Abb. 7 zu Kurth (S. 183–199): Nova Pvlcherrimae civitatis Florentiae topographia accvratissime delineata, 1584 Quelle: Florenz! Katalog der Ausstellung Bundeskunsthalle Bonn, 22. Nov. bis 9. Ma¨rz 2014, Abb. 170

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Abb. 1 zu Leis (S. 201–208): Vicenza. Piazza dei Signori Quelle: Archiv des Autors

Abb. 2 zu Leis (S. 201–208): Venedig. Piazzetta gen Su¨den Quelle: Archiv des Autors

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Abb. 3 zu Leis (S. 201–208): Udine. Piazza Liberta`: Loggia del Lionello Quelle: Foto © Sailko

Abb. 4 zu Leis (S. 201–208): Venedig. Dogenpalast Quelle: Archiv des Autors

Abb. 7 zu Leis (S. 201–208): Padua. Uhrturm Quelle: Archiv des Autors

Abb. 5 zu Leis (S. 201–208): Udine. Uhrturm

Quelle: Sandro Schachner

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Abb. 6 zu Leis (S. 201–208): Venedig. Uhrturm Quelle: Archiv des Autors

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Abb. 8 zu Leis (S. 201–208): Venedig. Ansicht um 1400, Miniatur Quelle: Marco Polo, Li Livres du Graunt Caam, fol. 218r (Ms. Bodl. 264, pt. III)

Abb. 9 zu Leis (S. 201–208): Ravenna. Piazza del Popolo Quelle: Archiv des Autors

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Abb. 10 zu Leis (S. 201–208): Venedig. Lo¨wensa¨ule vor San Nicolo` dei Mendicoli Quelle: Archiv des Autors

DIE REPUBLIK FREIBURG, DIE WAADTLA¨ NDER STADT ¨ SSISCHE REGION GREYERZ ROMONT UND DIE EIDGENO Herrschaftspraxis und politische Sprache in Freiburger Untertanensta¨dten des 18. Jahrhunderts von Emanuel Leugger

Als Souvera¨n von ‚Stadt und Republik‘ regierte der Rat der eidgeno¨ssischen Stadt Freiburg im Ancien Re´gime u¨ber ein in Panner und Vogteien gegliedertes Territorium.1 Wie in anderen Gebieten fu¨hrten erweiterte Regelungsanspru¨che der Freiburger Obrigkeit im 18. Jahrhundert zu Auseinandersetzungen mit verschiedenen Bevo¨lkerungsgruppen und im Jahr 1781 schließlich zur Belagerung der Hauptstadt durch ein Heer bewaffneter Untertanen.2 Diese Auseinandersetzungen sollen am Beispiel der Freiburger Untertanensta¨dte Romont und Greyerz nachgezeichnet werden. Die Wechselbeziehung zwischen Sta¨dten und den durch Imagination, soziale Interaktion und institutionelle Durchdringung geschaffenen supraurbanen Ra¨umen wird dabei unter zwei Aspekten angegangen. Einerseits wird der Herrschaftsraum der Stadt Freiburg thematisiert, in welchen die beiden Untertanensta¨dte auf unterschiedliche Weise eingebunden waren: Um ihren erweiterten juristischen und politischen Zentralita¨tsanspru¨chen im Untertanengebiet Geltung zu verschaffen, waren auch die Freiburger Ra¨te und ihre Vo¨gte darauf angewiesen, dass in den lokalen Gesellschaften eine gewisse Nachfrage nach diesen zentralen Entscheidungs- und Schlichtungsangeboten bestand. Gerade auch weil die Freiburger Obrigkeit u¨ber kein stehendes Heer verfu¨gte und der Beamtenapparat kaum ausgebaut war,3 mussten die in einer steigenden Zahl von Mandaten 1 Im Aufsatz werden Teile von Forschungsergebnissen einer Dissertation pra¨sentiert, die im Rahmen des

vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekts „Eliten, Kommunikation und Konflikte. Der Stand Freiburg 1655–1803“ entsteht. Zum Territorium vgl. u. a. Hubert Foerster, Das Ende des Ancien Re´gime, in: Freiburg 1798: Eine Kulturrevolution, hg. v. Raoul Blanchard/Hubert Foerster, Freiburg 1998, S. 13–19, hier S. 13. 2 Zum sogenannten Chenaux-Aufstand von 1781 vgl. u. a. Hans Brugger, Der Freiburgische Bau¨ ffenternaufstand oder Chenaux-Handel (1781), Bern 1890, und Andreas Wu¨rgler, Unruhen und O lichkeit. Sta¨dtische und la¨ndliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (Fru¨hneuzeit-Forschungen 1), Tu¨bingen 1995. 3 In den Vogteien amtete jeweils ein aus dem Freiburger Patriziat stammender Vogt. Die wenigen ihm unterstellten Amtsleute wurden aus der lokalen Bevo¨lkerung gewa¨hlt und hautsa¨chlich mit Sporteln entlohnt.

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verbreiteten Normen von lokalen Bevo¨lkerungsgruppen akzeptiert oder zumindest fu¨r eigene Zwecke instrumentalisiert werden, um Wirkungen zu entfalten.4 Dabei traf die Freiburger Obrigkeit im Sta¨dtchen Romont auf andere soziale und institutionelle Voraussetzungen als in Greyerz, was zu Unterschieden in der Kommunikation zwischen dem Freiburger Zentrum und diesen Peripherien und damit auch zu anderen Herrschaftspraktiken und Konfliktlagen fu¨hrte. Andererseits wird es um Idiome der politischen Sprache gehen, in denen die Auseinandersetzungen gefu¨hrt wurden.5 Denn neben der Einbindung in das Herrschaftsgebiet Freiburgs geho¨rten beide Sta¨dtchen unterschiedlichen, den Kanton u¨berschreitenden Regionen an. Und die Erinnerungsbesta¨nde, Diskurse und Rituale, welche diese regionalen Zugeho¨rigkeiten mitkonstruierten, wurden in der Kommunikation mit dem Freiburger Zentrum auf unterschiedliche Weise funktionalisiert. Letztendlich hatten sie auch Einfluss darauf, ob der preka¨re Anspruch der Kleinsta¨dte Romont und Greyerz auf einen spezifisch sta¨dtischen Status von den lokalen Eliten in den Auseinandersetzungen sta¨rker hervorgehoben oder eher u¨berblendet wurde.

I. Die Republik Freiburg und ihre Untertanensta¨dte im 18. Jahrhundert

Die Stadt Freiburg war im Zuge ihrer territorialen Expansion im 15. und 16. Jahrhundert in Gebiete vorgedrungen, die eine hohe Dichte an mittelalterlichen Stadtgru¨ndungen aufwiesen.6 Obwohl der Großteil dieser Siedlungen bereits im Spa¨tmittelalter einen umfassenden demografischen und wirtschaftlichen Niedergang erlebt hatte, genossen viele dieser ehemaligen Stadtgru¨ndungen noch im 18. Jahrhundert Privi4 Die Forschung zu den Konzepten „fru¨hneuzeitliche Herrschaft als soziale Praxis“ oder „Herrschaft

als Aushandlungsprozess“ hat einen kaum mehr u¨berschaubaren Umfang erreicht. Ein Fazit aus den umfangreichen Arbeiten u¨ber Herrschaft und Verwaltung in der Fru¨hen Neuzeit zieht u. a. Stefan Bra¨ berlegungen zur politischen Kultur der Fru¨hen Neuzeit, kensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. U in: Die Fru¨he Neuzeit als Epoche, hg. v. Helmut Neuhaus (HZ, Beih. 49), Mu¨nchen 2009, S. 395–406. 5 Als ‚Idiome‘ sollen spezifische Sprachformen bezeichnet werden, derer sich regional abgrenzbare Untertanengruppen in der Kommunikation mit der zentralen Obrigkeit bedienten. Der Begriff Sprache wird dabei im diskursanalytischen Sinne gebraucht, indem davon ausgegangen wird, dass es beim Ringen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen um akzeptierte Sprachformen oder um Bedeutungszuschreibungen fu¨r bestimme Begriffe immer auch um die Durchsetzung bestimmter Vorstellungen von der sozialen Welt geht. Zur Verwendung des Begriffs Idiom vgl. auch Stefan Brakensiek, Lokale Amtstra¨ger in deutschen Territorien der Fru¨hen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identita¨t, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Roland G. Asch/Dagmar Freist, Ko¨ln 2005, S. 49–67, hier S. 50–51. 6 Der Media¨vist Roland Flu ¨ ckiger, Mittelalterliche Stadtgru¨ndungen zwischen Freiburg und Greyerz als Beispiel einer u¨berfu¨llten Sta¨dtelandschaft im Hochmittelalter (Freiburger Geschichtsbla¨tter 63), Freiburg 1984, za¨hlte allein zwischen Freiburg und dem ca. 30 km su¨dlich gelegenen Sta¨dtchen Greyerz neun Ortschaften zu einer zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert geschaffenen mittelalterlichen Sta¨dtelandschaft.

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legien, die auf die urspru¨nglichen Stadtrechte zuru¨ckgefu¨hrt wurden. Im zwanzig Kilometer su¨dlich der Hauptstadt gelegenen Corbie`res waren Mitte des 17. Jahrhunderts noch 26 wehrfa¨hige Ma¨nner geza¨hlt worden.7 Trotzdem kam bis zum Ende des Ancien Re´gime am Johannistag die Bu¨rgerversammlung (Bourgeoisie) zusammen, um infolge der Freiheiten, Privilegien und Rechte der Stadt8 u¨ber die Besetzung des o¨rt¨ rger der dortigen Honolichen Gerichtes zu beschließen, dessen Jurisdiktion zum A ratioren lange auch die benachbarte Gemeinde Hauteville umfasste.9 Wa¨hrend im Begriff der Bourgeoisie die besondere Stellung der Flecken und ehemaligen Sta¨dte weiterhin markiert blieb, wurden in den gesetzgebenden Mandaten der Freiburger Obrigkeit im 18. Jahrhundert oft nur noch vier Untertanenorte hervorgehoben und als Sta¨dte bezeichnet.10 Dazu za¨hlte neben dem Markt- und Messeort Romont auch Greyerz, obwohl das Sta¨dtchen kaum tausend Einwohner hatte und im Verlauf des Jahrhunderts auch seine Funktion als Marktort verloren hatte. In beiden Kleinsta¨dten bestand – zumindest formell – neben der Bu¨rgerversammlung ein Rat, beide besaßen intakte Wehranlagen, an deren Unterhalt sich auch die umliegenden Gemeinden beteiligen mussten und beide genossen gegenu¨ber dem Umland besondere Vorrechte in der Ohmgelderhebung, bei der Gewichts- und Maßpolicey und als Gerichtsort.11 Pra¨sent war die Freiburger Herrschaft in beiden Sta¨dt¨ mter der Lokalverwaltung mit einchen durch einen Vogt, wa¨hrend die u¨brigen A heimischen Honoratioren besetzt wurden. Wie in anderen Gegenden kam es auch in Romont und Greyerz immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Vo¨gten und der sta¨dtischen Elite u¨ber die partikularen Privilegien. Diese nahmen zu, als die Freiburger Obrigkeit ihren Ausstoß an gesetzgebenden Mandaten ab Mitte des 18. Jahrhunderts markant erho¨hte und Maßnahmen ergriff, um die verbreiteten Nor¨ bel und Topoi, mit men im ganzen Kanton zu implementieren.12 Die angeblichen U denen die obrigkeitlichen Mandate begru¨ndet wurden, waren natu¨rlich auch in Freiburg die gleichen wie in anderen europa¨ischen Territorien: Mu¨ßiggang, Ausschweifung und Faulheit der Untertanen sollten beka¨mpft, der Fleiß gefo¨rdert und die Ent-

7 Ebd., S. 96. 8 Gemeindearchiv Corbie`res, Manual des assemble´es bourgeoisiales de Corbie`res, s. p., Diverse Sitzun-

gen (en conse´quence des franchises, privile`ges et droits de la ville).

9 Zur Forderung nach der Beschneidung der Privilegien von Corbie`res und der Schaffung eines eige-

nen Gerichtes in Hauteville vgl. u. a. StaatsA Freiburg, RM 333 (1782), S. 199 und S. 438, sowie Ratserkanntnisbuch 36, S. 198–200. 10 Vgl. u. a. Staatsarchiv (ku¨nftig StaatsA) Freiburg, Imprime´s, Nr. 54, Verordnung betreffend die Pintenschenker und die Policey der Wirtha¨user 1780. Dort werden neben der Hauptstadt Romont, Bulle, Estavayer-le-Lac und Greyerz als Sta¨dte besonders reglementiert. Hinzu kam noch Murten, das unbestritten als Stadt bezeichnet wurde, aber aufgrund der gemeinsamen Verwaltung mit Bern einen besonderen Status hatte. 11 Zum Unterhalt der Wehranlagen vgl. u. a. Hubert Thorin, Notice historique sur Gruye`re, Freiburg 1881, S. 317 und Stadtarchiv (ku¨nftig StadtA) Romont, Manual du conseil communal, Bd. 34, S. 200. Zu den sta¨dtischen Privilegien vgl. u. a. Le droit de Gruye`res, hg von Bernard de Vevey (Les sources du droit suisse 9, Les sources du droit du canton de Fribourg 1, Le droit des villes 4), Aarau 1938. 12 Vgl. StaatsA Freiburg, Mandatenbuch 8, fol. 20v, 22v, 60r und 64r. Zur Begrifflichkeit vgl. Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation fru¨hneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt a. M. 2000, S. 32–36.

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vo¨lkerung des Kantons gestoppt werden.13 Den spezifischen Hintergrund in Freiburg bildeten Diskurse u¨ber die o¨konomische und administrative Ru¨cksta¨ndigkeit des katholischen Kantons – vor allem auch im Vergleich mit dem reformierten Nachbarkanton Bern14 – sowie Neuprofilierungsversuche von Segmenten des Freiburger Patriziates als eine auf Dienst und Patriotismus basierende republikanische Aristokratie.15

II. Die Wahrer der guten Policey

1. Auseinandersetzungen zwischen der Freiburger Obrigkeit und der o¨rtlichen Ratselite in Romont In Romont trat besonders der 1774 eingesetzte Vogt Marie-Franc¸ois d’Alt von Tieffenthal als entschlossener Vertreter des Freiburger Souvera¨ns und damit auch der eigenen Interessen auf. Sein Vater hatte als langja¨hriger Schultheiß von Freiburg eine umfassende Imagepflege als aufgekla¨rter Staatsmann betrieben. Unter anderem war er mit einer umfangreichen Darstellung der Schweizer Geschichte als katholischer Gelehrter aufgetreten und hatte wiederholt administrative Reformen eingefordert.16 Zumindest in Bezug auf den letzten Punkt trat sein einziger Sohn in seine Fußstapfen:17 Kurz nach seinem Amtsantritt in Romont begann Vogt d’Alt seinen Einfluss in Bereichen geltend zu machen, die der o¨rtliche Rat von Romont zu seiner alleinigen Herrschaftsspha¨re za¨hlte. In Romont hatte sich a¨hnlich wie in der Hauptstadt eine Ratsoligarchie etabliert, wa¨hrend sich die politische Partizipation der restlichen Stadtbu¨rger fast ausschließlich auf symbolische Akte an den Schwo¨rtagen beschra¨nkte. Die Kooptation sicherte einem kleinen Kreis von Familien die Ratsherrenstellen und damit auch die Vergabe

13 Vgl. Geschichte des Kantons Freiburg, hg. v. Roland Ruffieux, Bd. 1, Freiburg 1981, S. 501. 14 Vgl. Franc¸ois-Nicolas-Constantin Blanc, Notes historiques raisonne´es et critiques pour servir a`

l’histoire du val et pays de Charmey (1779), hg. v. Alain-Jaques Tornare, in: La re´volution au pays et val de Charmey 1789–1815, Freiburg 1998, S. 93–157, hier S. 132. 15 Vgl. u. a. George Andrey, La „Ville et Re´publique“ de Fribourg sous le re`gne du baron d’Alt (1737–1770). Essai sur les Lumie`res patriciennes, in: Les conditions de la vie intellectuelle et culturelle en Suisse romande au temps des Lumie`res, hg. v. Alain Dubois, Genf, Paris 1996, S. 205–228. Allgemein zur Verknu¨pfung von Republik- und Adelsdiskursen vgl. Nadir Weber, Die Republik des Adels. Zum Begriff der Aristokratie in der politischen Sprache der Fru¨hen Neuzeit, ZHF 38 (2011), Nr. 2, S. 221–227. 16 Vgl. Andrey, Ville (wie Anm. 15). 17 Die Imagebildung von Teilen des Freiburger Adels als eine am Gemeinwohl orientierte und auf die gro¨ßtmo¨gliche Gleichheit im Staat ausgerichtete republikanische Aristokratie verspottete er spa¨ter nicht nur als heuchlerisch, sondern auch als Verletzung adeligen Selbstversta¨ndnisses: Un me´moire ine´dit du Baron Marie-Franc¸ois d’Alt (1725–1791), hg. v. Gaston Castella, in: Annales fribourgeoises 12 (1924), S. 161–162.

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weiterer Stadta¨mter.18 Das Bestreben dieser Ratselite, die politische Teilhabe exklusiv zu gestalten, dru¨ckte sich auch in verschiedenen o¨rtlichen Reglementen aus. So wurde 1733 das Ratsgremium mit dem Argument verkleinert, dass eine große Anzahl von Ratsherrenstellen sowohl nutzlos als auch scha¨dlich fu¨r den Gehorsam und das Gemeinwohl sei.19 Auffallend an den schriftlichen Normen zu den Ratsherrenwahlen war auch, dass neben der u¨blichen „Besetzungslyrik“20, welche die geforderten funktionellen und moralischen Eigenschaften hervorhob, auch die sozialen Kriterien der Wahlen keinesfalls verborgen wurden: Ausgewa¨hlt wu¨rde aufgrund der Fa¨higkeit und der durch Bildung, Sitten, rechtem Verhalten genauso wie durch Geburt und Familienanciennita¨t erworbenen Verdienste.21 Der auf diese Weise konstituierte Rat von Romont trat als die relevante lokale Obrigkeit auf, welcher die restliche Bu¨rgerschaft zum Gehorsam verpflichtet war. Widerhandlungen gegen seine Anordnungen wurden mit Bußen oder kurzen Haftstrafen im o¨rtlichen Bu¨rgergefa¨ngnis sanktioniert und auch die Titulatur Seigneur fu¨r den Ratsvorsitzenden unterstrich diesen Anspruch. Es war denn auch folgerichtig, dass diese Titulatur zum Gegenstand symbolischer Rangkonflikte wurde, als sich die Freiburger Vo¨gte in den 1770er-Jahren entschlossen daran machten, die Vorrechte des o¨rtlichen Rates zu beschneiden: 1774 musste die Titulatur seigneur in Anwesenheit des Vogtes aus allen Ratsbu¨chern gestrichen werden.22 Neben solchen symbolischen Rangzuweisungen versuchten die Vo¨gte in diesem Jahrzehnt die Einflussmo¨glichkeiten der Freiburger Obrigkeit auf verschiedene Felder auszuweiten. Eine herausragende Bedeutung besaßen dabei die Gerichte, Appellationsinstanzen und Schlichtungsverfahren, welche die Freiburger Obrigkeit bereitstellte und welche die Untertanen im Herrschaftsgebiet fu¨r die Lo¨sung ihrer ganz allta¨glichen Konflikte nutzen konnten.23 Die Vo¨gte bemu¨hten sich darum, die eigenen Funktionen in der Rechtsprechung aufzuwerten und die Kommunikationskana¨le zwischen Romont und der Freiburger Hauptstadt zu o¨ffnen, um auf diese Weise die Rolle der Freiburger Obrigkeit als Schiedsrichter und Vermittler bei lokalen Interessengegensa¨tzen zu sta¨rken. Dabei trafen sie aber auf heftige Gegenwehr der o¨rtlichen Ratselite. Denn in Zivilprozessen galt zwar auch in Romont formell der im Kanton gu¨ltige Rechtsweg, gema¨ß welchem u¨ber dem lokalen Niedergericht das 18 StadtA Romont, Tiroir XII, Nr. 1, Statuts confirme´s souverainement le 18 novembre 1733. 19 Ebd., S. 3 (aussi inutile que de´savantageux a` la subordination et bien public). 20 Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Sta¨dten der Vormoderne. Zu¨rich und Mu¨nster im

Vergleich, Ko¨ln u. a. 2007, S. 44.

21 StadtA Romont, Tiroir XII, Nr. 1, Statuts confirme´s souverainement le 18 novembre 1733, S. 5–6 (le

plus capable, et meritant tant par ses etudes, moeurs et conduitte, que naissance et anciennete´ de famille).

22 StaatsA Freiburg, Schlossbuch Romont, fol. 107v: vuˆ qu’il ne convient point, que le Pre´sident d’un

conseil subordonne´ porte le nom de Monseigneur ou de Seigneur pendant que le dit Noble Conseil de Romont ne donne a` son Baillif, nostre Representant, que celuy de tres honnore´ Seigneur, comme nous l’avons encore remarque´ dans tout le contenu de son exposition. 23 Grundsa¨tzlich zur Verfestigung staatlicher Strukturen infolge der Nutzung institutioneller Angebote durch die Untertanen siehe Andre´ Holenstein, Klagen, anzeigen, supplizieren. Kommunikative Praktiken und Konfliktlo¨sungsverfahren in der Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der la¨ndlichen Gesellschaft (16. – 19. Jahrhundert), hg. v. Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter, Ko¨ln u. a. 2003, S. 335–369, hier S. 339.

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Vogtgericht und schließlich die Appellationskammer in Freiburg als Rekursinstanzen fungierten.24 Der Rat von Romont hatte aber Maßnahmen ergriffen, damit lokale Spannungen nicht nach außen traten, lokale Konflikte nicht in Freiburg gelo¨st wurden und damit er selbst als die relevante Ordnungs- und Schlichtungsinstanz in der Lebenswelt der Bu¨rger erschien. Gema¨ß den Stadtstatuten war es den Bu¨rgern etwa verboten, eine Appellation vor einem Freiburger Gremium einzulegen, wenn er nicht vorher in ein sogenanntes Schlichtungsverfahren vor dem o¨rtlichen Rat eingewilligt hatte.25 Und in der Praxis kam es durchaus vor, dass Bu¨rger, die sich diesem Schlichtungsangebot verweigerten, mit Gefa¨ngnis bedroht wurden.26 Die Freiburger Vo¨gte versuchten nun diese lokalen Barrieren fu¨r ihre eigene Rechtsprechung zu durchbrechen und ermutigten wiederholt Bu¨rger, die juristische Zusta¨ndigkeit des o¨rtlichen Rates in Frage zu stellen.27 Die Ratsherren von Romont dagegen verteidigten ihren Anspruch, dass obrigkeitliches Ordnungsstreben in erster Linie nicht im Vogteischloss oder in Freiburg, sondern im o¨rtlichen Rathaus vollzogen werden sollte. Denn seit uralten Zeiten habe die Aufrechterhaltung und Befo¨rderung der Policey in den Ha¨nden des edlen Rates gelegen.28 Legitimiert wurde dieser umfassende Anspruch mit dem Selbstversta¨ndnis einer sta¨dtischen Obrigkeit im Geltungsbereich des Waadtla¨nder Rechtes.29 Dieser Rechtsraum sei seit dem Mittelalter durch eine weitgehende Privilegierung der Sta¨dte gekennzeichnet gewesen und die Freiburger Obrigkeit habe diese Privilegierung durch die Kodifizierung des „Waadtla¨nder Coutumier“ und die Besta¨tigung verschiedener Stadtrechte anerkannt.30 Mit diesem Selbstversta¨ndnis kollidierte auch das Bemu¨hen der Freiburger Obrigkeit, immer weitere gesellschaftliche Bereiche durch Mandate zu reglementieren. Und wie in der Rechtsprechung, suchten die Freiburger Vo¨gte deshalb auch bei der Implementierung dieser Mandate nach Mo¨glichkeiten der situativen und strategischen Allianzen mit lokalen Akteuren gegen den o¨rtlichen Rat.31 Dies zeigte sich etwa bei der Wirtshauspolicey. Immer wortreicher hatte der Freiburger Souvera¨n in seinen Mandaten die große Anzahl von Wirtsha¨usern als Ursache von Mu¨ßiggang, Spiel, Tanz und Trinksucht und damit als Bedrohung fu¨r den wirtschaftlichen, moralischen und auch religio¨sen Zustand des Kantons dargestellt.32 Mit diesen Begru¨n24 Dieser Rechtsweg war in den Welschen Vogteien vorgeschrieben vgl. StaatsA Freiburg, Justice 51, Wel-

scher Appellatzen Manual 1721–1797, und Blanc, Notes (wie Anm. 14), S. 137.

25 StadtA Romont, Tiroir XII, Nr. 1, Original des Statuts confirme´s souverainement le 18 novembre 1733. 26 StadtA Romont, Manual du conseil communal, Bd. 35, fol. 151v. 27 Vgl. u. a. ebd., fol. 158r. 28 Vgl. u. a. StadtA Romont, Manual du conseil communal Nr. 36, S. 112r: depuis un tems imme´morial, le

noble conseil a toujours euˆ la manutention de la police.

29 Vgl. StaatsA Freiburg, Schlossbuch Romont, fol. 108v. 30 Vgl. u. a. StaatsA Freiburg, Vogteikorrespondenz Romont, Schreiben des Vogtes vom 25. 1. 1776, Ein-

lage: Seconde tre`s humble Repre´sentation du Conseil de Romont a` leurs Souverains Excellences de Conseil prive´. 31 Zur fru¨hneuzeitlichen Gesetzgebung als umfassenden kommunikativen Vorgang vgl. Andre´ Holenstein, ‚Gute Policey‘ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Re´gime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), Bd. 1, Tu¨bingen 2003, S. 142ff., sowie Landwehr, Policey (wie Anm. 13). 32 Vgl. StaatsA Freiburg, Mandatenbuch 9, S. 575.

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dungsmustern versuchte er auch einen gro¨ßeren Einfluss auf die Wirtshauszulassungen zu gewinnen, u¨ber die unterschiedliche lokale Privilegien fortbestanden. Nachdem der o¨rtliche Rat in Romont verschiedene Einmischungen der Vo¨gte in die Wirthauspolicey mit dem Verweis auf das alte Recht abgewehrt hatte,33 trat im Fru¨hjahr 1775 eine Bruchlinie innerhalb der lokalen Gesellschaft auf. Ein Stadtbu¨rger von Romont schaltete die Freiburger Obrigkeit ein, weil ihm der o¨rtliche Rat den Weinverkauf in seinem Haus verboten hatte.34 Der Bu¨rger sprach in seiner Eingabe dem Rat von Romont die Kompetenz ab, u¨ber Wirtshaus- und Schenkenzulassungen entscheiden zu du¨rfen. Interessant fu¨r die Freiburger Obrigkeit war, dass der Bu¨rger und sein im Berner Waadtland rekrutierter Schreiber ihrerseits auch mit dem alten Recht argumentierten: Sie wiesen nach, dass gema¨ß dem Waadtla¨nder Coutumier und verschiedener Stadtrechte jeder Stadtbu¨rger Wein verkaufen und eine Schenke fu¨hren du¨rfe.35 Obwohl das Anliegen des Bu¨rgers im Widerspruch zu den deklarierten Absichten der Freiburger Obrigkeit stand, versuchte diese, die Eingabe fu¨r eigene Zwecke zu funktionalisieren. Bisher hatte sich der lokale Rat von Romont mit dem Normtypus des alten Rechtes und der besonderen Privilegierung sta¨dtischer Ra¨te im Waadtla¨nder Rechtsraum gegen die Einflussausweitung der Vo¨gte und der Freiburger Autorita¨ten gewehrt. Nun wandte ein Bu¨rger diesen Normtypus gegen den lokalen Rat, wies Lu¨cken in der Argumentation mit dem alten Recht nach und gab der Freiburger Obrigkeit die Mo¨glichkeit, diese Lu¨cken mit ihren eigenen Ordnungsnormen zu schließen.36 Die Freiburger Obrigkeit nutzte deshalb die Gelegenheit und vero¨ffentlichte nach langen rechtlichen Auseinandersetzungen ein umfassendes Mandat. In diesem erkla¨rte sie, dass man mit dem o¨rtlichen Rat darin u¨berreinstimme, dass das alte Recht der Stadtbu¨rger auf die Ero¨ffnung einer Schenke eine Gefahr fu¨r die o¨ffentliche Moral darstelle, und dass deshalb ein regulativer Eingriff no¨tig sei.37 Dieser Eingriff bestand nicht nur darin, dass die Freiburger Obrigkeit fu¨r sich das Recht auf die Wirtshaus- und Schenkenzulassung beanspruchte und die Schließung von Wirtsha¨usern anordnete, sie steckte allgemein die Einflussspha¨re des o¨rtlichen Rats enger ab. Die Ordnungsanspru¨che des o¨rtlichen Rates auf die gesamte Policey38 wurden zuru¨ckgewiesen und die Unterordnung unter die Rechtsprechung und Gesetzgebung des Freiburger Souvera¨ns und seiner Vo¨gte hervorgehoben.39 Trotz solcher Eingriffsversuche und den folgenden langja¨hrigen Rechtsstreitigkeiten mit dem Vogt und dem Freiburger Rat konnten sich die Ratsherren von 33 Vgl. StadtA Romont, Manual du conseil communal Nr. 36, fol. 112r. 34 StadtA Romont, Manual du conseil communal Nr. 36, fol 133r. 35 Vgl ebd. und StaatsA Freiburg, Vogteikorrespondenz Romont, Schreiben des Vogtes von 25. 1. 1776,

Einlage: Seconde tre`s humble Repre´sentation du Conseil de Romont. 36 Zur idealtypischen Unterscheidung zwischen aus dem gesellschaftssteuernden Willen des Gesetzge-

bers hervorgegangenen Ordnungsnormen und adynamischen Rechtsnormen siehe Holenstein, ‚Gute Policey‘ (wie Anm. 31), S. 32–33. 37 StaatsA Freiburg, Mandatenbuch 10, S. 239–243. 38 Der o¨rtliche Rat beschrieb seine eigenen Kompetenzen wiederholt mit Formulierungen wie toute police oder police dans toutes ses parties (vgl. u. a. StaatsA Freiburg, Vogtei Romont, Schlossbuch, S. 108v.). Die Auseinandersetzungen zwischen dem o¨rtlichen Rat und der Freiburger Obrigkeit drehten sich deshalb immer auch um den umstrittenen semantischen Gehalt des Begriffs ‚Policey‘. 39 StaatsA Freiburg, Mandatenbuch 10, S. 239–243.

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Romont aber am Ende der 1770er-Jahre beglu¨ckwu¨nschen. Zwar mussten sie im Verlaufe der Auseinandersetzungen ihren Sprachgebrauch an die zeitgeno¨ssischen Konventionen anpassen, etwa indem sie auf den Titel seigneur verzichteten oder den Begriff Policey explizit in einem staatsrechtlich engen Sinn verwendeten und eindeutig von der Souvera¨nita¨t Freiburgs unterschieden.40 Aber ihre Vorrechte und ihren Status als lokal relevante Ordnungsmacht konnten sie gegenu¨ber den Freiburger Vo¨gten weitgehend verteidigen.41 Neben der kulturellen Anpassungsfa¨higkeit ihres Idioms in der politischen Kommunikation erleichterten auch soziale und institutionelle Voraussetzungen diese zufriedenstellende Beilegung der Auseinandersetzung: Die Ratselite von Romont trat in den Auseinandersetzungen sehr geschlossen auf. In den langen Aushandlungsprozessen mit der Freiburger Regierung wurden kaum soziale Bruchlinien innerhalb des lokalen Ratsgremiums offengelegt. Stattdessen wurden die politischen Hinterbu¨hnen bespielt und informelle Kontakte ins Freiburger Patriziat genutzt, um eine gu¨nstige Beeinflussung der Entscheidungsprozesse in Freiburg zu erreichen.42 Aber auch aus der lokalen Bu¨rgerschaft drangen kaum Interventionsgesuche nach Freiburg. In der Wirtshausfrage etwa blieb der in Freiburg klagende Bu¨rger weitgehend isoliert und de facto funktionierten der o¨rtliche Rat und das lokale Gericht weiterhin als wirkungsvolle Puffer, welche die Nachfrage nach den rechtsprechenden Angeboten Freiburgs da¨mpften. Selbst Versuche des Vogtes, eine politische Bu¨rgeropposition gegen den Rat von Romont zu mobilisieren, stießen auf wenig Resonanz: Im Vorfeld der ja¨hrlichen Bu¨rgerversammlung warf der Vogt dem o¨rtlichen Rat 1776 vor, die Stadtrechte nicht vollsta¨ndig verlesen zu lassen. Ein zusammengerufener Bu¨rgerausschuss widerlegte aber den Vorwurf, so dass der Vogt von seiner Klage abru¨cken musste.43 Paradoxerweise war die vollsta¨ndige Offenlegung und Verlesung der Freiburger Stadtrechte dann eine zentrale Forderung, als ab 1780 Oppositionsgruppen in der Hauptstadt und im la¨ndlichen Territorium die Vorherrschaft des Freiburger Rates und des dortigen Patriziates herausforderten.44 Die Elite von Romont ihrerseits, die soeben ihre Rechtstreitigkeiten mit der Freiburger Regierung beendet hatte, bekundete in diesen Unruhen wiederholt ihre unverru¨ckbare Treue zu den Freiburger Herren und sicherte der Hauptstadt auch milita¨rischen Beistand zu.45 Selbst als der Frei40 Versta¨ndigungsangebote fanden sich u. a. in den staatsrechtlichen Diskursen Frankreichs, in denen es

im 18. Jahrhundert zu einer semantischen Verengung des Begriffs ‚Police‘ kam. Vgl. Andrea Iseli, ‚Bonne Police‘. Fru¨hneuzeitliches Versta¨ndnis von der guten Ordnung eines Staates in Frankreich (Fru¨hneuzeit-Forschungen 11), Epfendorf/Neckar 2003, S. 63–66. 41 Der Freiburger Chronist Franc¸ois-Nicolas-Constantin Blanc resu¨mierte 1780: Cette ville eut sous la pre´fecture de monsieur le Baron d’Alt il y a quelques anne´es une grande difficulte´ avec le souverain au sujet de se droits, franchises et privile`ges, qui malgre´ cela lui furent confirme´es apre`s bien des frais et des peines (StaatsA Freiburg, Chroniques, Nr. 13, Franc¸ois-Nicolas-Constantin Blanc, Chronique fribourgeoise, S. 61). 42 Dokumente zu informellen Kontakten des o¨rtlichen Rates zu Freiburger Ratsherren finden sich im StadtA Romont, Tiroir XIX. Verschiedene Ratsherren von Romont hatten zudem familia¨re Verbindungen ins Freiburger Patriziat oder besaßen selbst das privilegierte Bu¨rgerrecht von Freiburg. 43 StadtA Romont, Manual du conseil communal, Nr. 36, S. 197. 44 Vgl. Wu ¨ rgler, Unruhen (wie Anm. 2), S. 12–14. 45 Vgl. u. a. StaatsA Freiburg, Vogteikorrespondenz Romont, Schreiben des Vogtes vom 18. 12. 1780.

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burger Rat im Mai 1781 auf Dra¨ngen der eidgeno¨ssischen Verbu¨ndeten alle Gemeinden des Kantons aufforderte, Beschwerdeschriften u¨ber seine Herrschaft einzureichen, kam aus der Stadt Romont nur Lob u¨ber das mildta¨tige Regiment.46 Eine ganz andere Rolle in den Unruhen spielten dagegen Teile der Honoratiorenschicht des 30 km su¨dlich der Hauptstadt gelegenen Kleinsta¨dtchens Greyerz, aus dem wichtige Anfu¨hrer des bewaffneten Widerstandes im Fru¨hjahr 1781 stammten. 2. Greyerz: Rivalisierende Eliten, obrigkeitliche Eingriffe und ein demokratischer Graf Wie in Romont kam es auch in der Vogtei Greyerz in den 1770er-Jahren zu Auseinandersetzungen zwischen den Vo¨gten sowie dem Freiburger Rat einerseits und herausragenden Gruppen der lokalen Gesellschaft andererseits. Als Verteidiger lokaler Privilegien traten besonders Honoratioren des Landsta¨dtchens Greyerz und des Burgfleckens La Tour-de-Treˆme hervor, die wiederholt zunehmende Sanktionseingriffe und Ressourcenabscho¨pfungen der Freiburger Obrigkeit beklagten.47 Anders als in Romont, wo die o¨rtliche Ratselite wa¨hrend der Streitigkeiten um ihre Policeyprivilegien ihre Reihen schloss und kaum Anzeichen von internen Spannungen und Fraktionen nach außen traten, war das Vorgehen der Freiburger Obrigkeit gegen lokale Amts- und Wu¨rdentra¨ger in der Vogtei Greyerz von Konflikten und Statuska¨mpfen innerhalb der lokalen Gesellschaft begleitet, die oft in Form von Injurienprozessen ¨ ffentlichkeit traten.48 Daraus entstand eine Situation von ungleich gro¨ßerer an die O Sprengkraft als in Romont: Die lokalen Rivalita¨ten erleichterten es den Vo¨gten und dem Freiburger Rat, die Auseinandersetzungen zu personalisieren, einzelne Vertreter der o¨rtlichen Honoratiorenschicht als Konfliktverantwortliche zu benennen und auch wiederholt Klagen aus der lokalen Gesellschaft o¨ffentlich werden zu lassen. Dies trug zur Verscha¨rfung der Auseinandersetzungen ebenso bei wie die Tatsache, dass die betroffenen Interessenbereiche und die aktivierten Diskurse es den bedra¨ngten lokalen Akteuren ermo¨glichten, orts- und schichtenu¨bergreifend gegen die Freiburger Obrigkeit zu mobilisieren. Ein Grund, weshalb die Freiburger Obrigkeit in Greyerz auf eine Flut von Klagen aus der lokalen Gesellschaft zuru¨ckgreifen konnte, um ihre eigenen Anspru¨che gegenu¨ber den lokalen Honoratioren durchzusetzen und sich als unverzichtbare Vermittlerin zu legitimieren, lag in den institutionellen Voraussetzungen. Denn im Gegensatz zu Romont gab es in Greyerz kaum lokale Autorita¨ten, die den Fluss von Berufungen und Beschwerden an den Vogt oder die Freiburger Gremien erfolgreich hemmten. Der bestehende Kleine Rat hatte sich in Greyerz nie als herausragendes Gremium absetzen ko¨nnen und tagte sogar weniger ha¨ufig als die Bu¨rgerversamm46 Vgl. u. a. StaatsA Freiburg, Vogteikorrespondenz Romont, Schreiben des Vogtes vom Mai 1781. 47 Vgl. Brugger, Bauernaufstand (wie Anm. 2), S. 11–20, und Pierre de Zurich, Du nouveau sur Pierre-

Nicolas Chenaux. L’affaire de Sautaux, in: Annales Fribourgeoises 31/32 (1943/44). 48 Zur engen Verbindung von Injurienprozessen mit sozialen Umwandlungsprozessen und daraus entste-

henden Chancen fu¨r obrigkeitliches Handeln vgl. Michaela Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vordero¨sterreichische Obervogtei Triberg von 1737–1780 (VMPI), Go¨ttingen 1998, S. 184–192.

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lung.49 Zudem behinderte die große Anzahl von Kleinsta¨dten und Flecken in der ¨ bernahme von juristischen Zentralita¨tsfunktionen durch lokale InstanGegend die U zen. Nur knapp 5 km no¨rdlich von Greyerz befand sich die Stadt Bulle und zwischen den beiden Ortschaften lag das im „Helvetischen Lexicon“ von 1753 als Sta¨dtlein bezeichnete La Tour-de-Treˆme .50 Dies fu¨hrte wiederholt zu sich u¨berschneidenden Kompetenzanspru¨chen lokaler Gerichtsinstanzen und zu selbst nach zeitgeno¨ssischen Standards diffusen Verfahrensgrenzen. So bemerkte 1779 der Advokat Jean Nicolas Andre´ de Castella aus Greyerz, als er einen Klienten vor dem dortigen Vogtgericht vertrat, dass die Gegenpartei vom Advokaten Collard aus Bulle vertreten wurde, gegen den er zu dieser Zeit perso¨nlich einen Injurienprozess vor Freiburger Gerichten fu¨hrte.51 De Castella weigerte sich, die Verhandlungen vor dem Vogtgericht weiterzufu¨hren, nutzte aber die Anwesenheit seines Gegners in Greyerz: Weil de Castella auch Schreiber des o¨rtlichen Niedergerichts war, ließ er dort noch am gleichen Tag ein obrigkeitliches Urteil gegen seinen Gegner verlesen und erwirkte eine weitere Verurteilung. Nun wandte sich Collard an den Freiburger Rat, prangerte die Vermischung der beiden Verfahren an und beklagte, dass er sich als Bu¨rger von Bulle nicht vor einem lokalen Greyerzer Gericht zu verantworten habe.52 Zu den institutionellen Unterschieden im Vergleich mit Romont kamen soziale und wirtschaftliche Differenzen. Der internationale Handel mit Greyerzer Ka¨se fu¨hrte in der Region zu einer großen wirtschaftlichen Dynamik.53 Durch den Handel und die lukrative Alpwirtschaft waren auch Streitsummen vorhanden, welche kostspielige Gerichts- und Appellationsverfahren lohnenswert machten. Dies widerspiegelte sich nicht zuletzt im großen Angebot von juristisch geschultem Personal in der Gegend.54 Als Beispiel kann wiederum eine Episode aus der Ta¨tigkeit des Advokaten Jean Nicolas Andre´ de Castella aus Greyerz dienen. Ab 1771 focht er als Rechtsvertreter von Familienmitgliedern eine Erbschaft an, die der aus einer großen Ka¨seha¨ndler-Dynastie stammende ehemalige Venner von Bulle, Franc¸ois-Joseph Ardieu, im Jahr 1746 angetreten hatte und u¨ber die schon mehrere Prozesse gefu¨hrt worden waren. Er lo¨ste damit eine – wie ein Beteiligter schrieb – hydrama¨ßige Abfolge von Rechtsstreitigkeiten, Gerichtsprozessen und Vermittlungsverfahren aus, die auch einen o¨ffentlichen, mit Druckschriften ausgetragenen Ehrenhandel zwischen de Castella und seinem Gegner beinhaltete.55 Neben vielen Verhandlungen vor dem loka49 Vgl. Gemeindearchiv Gruye`res, I., 1.9.3., Protocols du conseil communal, 1703–1734. Vgl. auch Tho-

rin, Notice (wie Anm. 11), S. 283.

50 Johann Jacob Leu, Allgemeines Helvetisches, Eydgeno¨ssisches oder Schweitzerisches Lexicon,

18. Teil, Zu¨rich 1763, S. 248.

51 Vgl. StaatsA Freiburg, Vogteikorrespondenz Greyerz, Schreiben des Vogtes an den Rat vom

29. 7. 1779, Einlage: Supplik des Advokaten Collard an den Freiburger Rat.

52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Roland Ruffieux/Walter Bodmer, Histoire du gruye`re en Gruye`re du XVIe au XXe sie`cle (E ´ tu-

des et recherches d’histoire contemporaine 4), Fribourg 1972.

54 Olivier Murith, Quand la plume tombe par l’e´pe´e. Le notaire Jean Nicolas Andre´ Castella de

Gruye`res entre 1771 et 1781: son travail, ses clients, ses relations et l’insurrection Chenaux. Lizentiatsarbeit Universita¨t Freiburg 2004, S. 37. 55 Vgl. Franc¸ois-Joseph Rey, Troisie`me Me´moire pour le Sieur Franc¸ois-Joseph Ardieu, bourgeois et ancien banneret de Bulle, [Fribourg 1777], S. 1.

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len Niedergericht bescha¨ftigte sich in den folgenden zehn Jahren die obrigkeitliche Appellationskammer in Freiburg in mindestens elf Sitzungen mit dem Streitfall;56 zudem wurde die Angelegenheit in zwo¨lf Zusammenku¨nften des Kleinen Rates von Freiburg verhandelt.57 Dieser Monsterprozess unter lokalen Honoratioren bildete keinen Einzelfall.58 Der rege Fluss von Klagen und Appellationen an Freiburger Gremien und der damit geschaffene Informationsstand der Freiburger Autorita¨ten u¨ber lokale Beziehungen und Spannungen schufen Ansatzpunkte fu¨r obrigkeitliches Handeln, die gezielt genutzt wurden. Denn die Freiburger Obrigkeit und ihre Vo¨gte bemu¨hten sich in den 1770er-Jahren um eine – in ihrem Sinne – effizientere Verwaltung der Vogtei und damit auch um eine Begrenzung der Handlungsra¨ume von lokalen Instanzen und Amtstra¨gern.59 Entschieden nahmen die Freiburger Vo¨gte zu diesem Zweck auch Klagen aus der lokalen Bevo¨lkerung u¨ber angeblichen Amtsmissbrauch und die Despotie kommunaler Vorsteher, Unterbeamten und Gerichtsgremien auf. Auf diese Weise inszenierten sie sich als unverzichtbare Schlichtungsinstanzen und bei Gelegenheit auch als Fu¨rsprecher von sozial schwachen Schichten, die vor den lokalen Gremien Willku¨r erfuhren oder sich den ordentlichen Gerichtsweg u¨ber die lokalen Gerichte nicht leisten konnten.60 Das bedeutete, dass auf soziale Hierarchien der lokalen Gesellschaft mitunter wenig Ru¨cksicht genommen wurde und dass die angeprangerten Misssta¨nde stark personalisiert wurden. Im Sta¨dtchen Greyerz geriet der erwa¨hnte Advokat de Castella, der als Adeliger, ehemaliger Venner und als Gerichtssekreta¨r eine herausragende Stellung in der lokalen Gesellschaft einnahm, immer sta¨rker ins Visier solcher obrigkeitlicher Disziplinierungsmaßnahmen. Der Vogt ließ Klagen u¨ber angeblichen Amtsmissbrauch, Kompetenzu¨berschreitungen und perso¨nliche Verfehlungen von de Castella ausfu¨hrlich untersuchen und dokumentieren und stellte diesen damit nicht nur als Hindernis fu¨r obrigkeitliches Ordnungs- und Rationalisierungsstreben, sondern auch als Scha¨dling der lokalen Gesellschaft dar.61 Wa¨hrend die sozialen Gefa¨lle und heftigen Statuska¨mpfe in der lokalen Gesellschaft den Vo¨gten in Greyerz gro¨ßere Mo¨glichkeiten zur Ausweitung ihrer Einflussspha¨re als in Romont boten, waren auch die Reaktionen der auf diese Weise bedra¨ngten Honoratioren unterschiedlich. In Romont hoben die o¨rtlichen Ratsherren ihren Status als spezifisch sta¨dtische Obrigkeit hervor, die bedra¨ngten Greyerzer Notabeln dagegen nutzten die Hybridita¨t dessen, was man spa¨ter als Landstadt 56 Vgl. ebd. sowie StaatsA Freiburg, Justice 51, Manual der welschen Appellationskammer 1721–1797,

S. 245v, S. 248v–250v, S. 258r.

57 StaatsA Freiburg, RM 324, RM 327, RM 328, RM 329, RM 330 und RM 331. 58 Vgl. Pierre de Zurich, Pierre Nicolas Chenaux, 1740–1781, in: Annales Fribourgeoises 23 (1935). 59 Zum Erfolg der obrigkeitlichen Ressourcenabscho¨pfung in der Vogtei vgl. Hermann Scho ¨ pfer, Frei-

burg und Greyerz im Ancien Re´gime. Ein Blick in die Vogteirechnungen, in: Freiburger Geschichtsbla¨tter 83 (2006), S. 151–193. 60 Als Beispiel dieses Argumentationsregisters vgl. StaatsA Freiburg, Vogteikorrespondenz Greyerz, Schreiben vom 30. 3. 1780. 61 Vgl. u. a. StaatsA Freiburg, Vogteikorrespondenz Greyerz, Schreiben vom 17. 2. 1780 und vom 30. 3. 1780.

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bezeichnen sollte: Obwohl auch mit einem Stadtrecht nach dem Waadtla¨nder Vorbild versehen und obwohl die damit verbundenen Privilegien gegenu¨ber den umliegenden Gemeinden eifrig gehu¨tet wurden, brachten die Greyerzer Notabeln in den Auseinandersetzungen mit der Freiburger Obrigkeit vor allem Argumente zur Geltung, welche diese lokalen Hierarchien verbargen, regional integrierend wirkten und auch den la¨ndlichen Charakter der Region hervorhoben. Im Zentrum der Argumentation stand ein historisches Narrativ u¨ber den Kauf der ehemaligen Grafschaft ¨ berliefeGreyerz an die Kantone Freiburg und Bern im 16. Jahrhundert. Mit dieser U rung wurde die starke Hervorhebung der wechselseitigen Rechte und Pflichten zwischen der Freiburger Obrigkeit und den Untertanen verbunden, denn die Greyerzer ha¨tten den Untertaneneid nur nach der Besta¨tigung ihrer Rechte abgelegt. Vor allem wurde aus der Vergangenheit die Forderung abgeleitet, dass im Konfliktfall ein eidgeno¨ssisches Schiedsgericht einbezogen werden mu¨sse, da die Eidgenossenschaft beim Kauf der Grafschaft die Bewahrung der Greyerzer Rechte garantiert habe.62 Das Grundnarrativ u¨ber den Erwerb der Grafschaft durch Freiburg konnte situativ durch unterschiedliche Aktualisierungen geschmu¨ckt werden. Ha¨ufig wurde das Narrativ mit dem im 18. Jahrhundert popula¨ren Landgemeindeideal verbunden: Der letzte Graf von Greyerz habe seinen Untertanen na¨mlich die Landgemeindedemokratie nach dem Vorbild der Innerschweizer Kantone versprochen, die Umsetzung dieses Versprechens aber sei durch die Berner und Freiburger Obrigkeiten verhindert worden.63 Weil sie ihre Souvera¨nita¨t offen angegriffen sah, fasste die Freiburger Obrigkeit dieses Idiom viel provokativer auf als den Stadtrechts- und Policeydiskurs der Ratsherren von Romont.64 Und tatsa¨chlich wirkte das Greyerz Idiom radikaler. Als im Zuge von Feiertagsreduktionen die Freiburger Obrigkeit mit dem Vorwurf des Glaubensabfalls konfrontiert war,65 waren es vor allem bedra¨ngte Greyerzer Notabeln wie der erwa¨hnte Advokat de Castella, die diesen Vorwurf mit dem Diskurs um die Verletzung alter Rechte verbanden und nun vehement eine eidgeno¨ssische Vermittlung verlangten. Sie erreichten eine Mobilisierung in verschiedenen Teilen des Kantons, die in der Belagerung der Hauptstadt Freiburg im Mai 1781 durch ein bewaffnetes Heer aus dem Untertanengebiet gipfelte.66 Das Freiburger Patriziat konnte sich nur durch den eiligen Zuzug von Berner Truppen aus der misslichen Lage befreien und musste eine spektakula¨re Blamage nicht nur auf der eidgeno¨ssischen Bu¨hne hinnehmen.67

62 Zu diesem Narrativ und dessen Verbreitung durch die o¨rtlichen Honoratioren vgl. u. a. Zurich, Saut-

aux (wie Anm. 43), S. 52–53; StaatsA Freiburg, Vogtei Greyerz, Kommissariatsarchiv, Nr. 571, und Jean Nicolas Andre´ de Castella, Expose´ justificatif pour le peuple du canton de Fribourg au sujet des troubles arrive´s en 1781, [Genf] 1781, S. 23–23. 63 Vgl. de Castella, Expose´ (wie Anm. 62), S. 25–25, sowie Blanc, Notes (wie Anm. 14), S. 97. 64 Vgl. StaatsA Freiburg, Vogtei Greyerz, Kommissariatsarchiv, Nr. 570. 65 Vgl. Fre´de´ric Yerly, La religion populaire dans le canton de Fribourg (fin du XVIIIe-milieu du XIXe sie`cle): Nature, caracte´ristiques et e´volution, unvero¨ffentlichte Lizentiatsarbeit Universita¨t Freiburg 1990, S. 111–167. 66 Vgl. Brugger, Bauernaufstand (wie Anm. 2). 67 Zur Berichterstattung u¨ber die Freiburger Unruhen in der europa¨ischen Presse siehe Wu¨rgler, Unruhen (wie Anm. 2), S. 18ff.

TERRITORIALISIERUNG DURCH BURGRECHTE? Politische Raumgestaltung im Spa¨tmittelalter von Heinrich Speich

I. Stadt – Raum – Burgrecht

Die Forschung zum Verha¨ltnis von Stadt und Raum war lange vom Paradigma der Territorialisierung gepra¨gt.1 Das prominente Konzept legt den Schwerpunkt der Betrachtung auf die Stadt und versteht demnach die Stadt als dominierenden Faktor einer um sie herum stattfindenden politischen Raumgestaltung. Der Zugriff schra¨nkt folgerichtig die Sicht auf weitere Akteure dieser politischen Raumgestaltung im Umfeld von Sta¨dten ein. Bu¨ndnis- und Burgrechtsvertra¨ge, so wird im Folgenden argumentiert, bieten die Mo¨glichkeit, alle Akteure gleichwertig in den Blick zu bekommen. Als erster Schritt soll also gepru¨ft werden, wie Burgrechte funktionierten und welche Wirkung sie in Zeit und Raum entfalten konnten. Es wird zu zeigen sein, dass Burgrechte Bindeglieder zwischen politischen Akteuren sind. Beispiele aus dem westlichen Schweizer Mittelland erhellen, dass Burgrechte die Wahrnehmung politischer Ra¨ume nachhaltig vera¨ndern konnten. Das Paradigma der Territorialisierung mit seiner Bevorzugung der Stadt als Akteur wird dann vor diesem Hintergrund neu zu beleuchten sein. Wie alle Bu¨ndnisse verbinden auch Burgrechte Partner, die Ziele verfolgen, die sich gemeinsam voraussichtlich einfacher als im Alleingang erreichen lassen. Diese Ziele und die Wege dahin unterscheiden sich von Fall zu Fall; es werden deshalb zuna¨chst einige Beispiele vorgestellt. Im Raum der heutigen Schweiz und in ihrer Nachbarschaft entwickelten sich, unter Beteiligung der spa¨teren „eidgeno¨ssischen Orte“ (im 15. Jahrhundert) spezifische Formen von Bu¨ndnissen. Dazu geho¨ren die sogenannten Burgrechte. Sache und 1 Einfu¨hrend siehe Tom Scott, The City-State in Europe, 1000–1600. Hinterland, Territory, Region,

Oxford 2012, S. 164–192 sowie S. 215–217; Rolf Kiessling, Die Zentralita¨tstheorie und andere Modelle zum Stadt-Land-Verha¨ltnis, in: Zentren. Ausstrahlung, Einzugsbereich und Anziehungskraft von Sta¨dten und Siedlungen zwischen Rhein und Alpen, hg. v. Hans-Jo¨rg Gilomen/Martina Ster¨ ber die regionale Komcken, Zu¨rich 2001, S. 17–40; Frank Go¨ttmann, Die Bu¨nde und ihre Ra¨ume. U ponente politischer Einungen im 16. Jahrhundert, in: Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift fu¨r Horst Rabe, hg. v. Christine Roll, Frankfurt a. M. 1996, S. 441–469, bes. S. 453–462.

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Begriff ru¨cken politische Bu¨ndnisse in einen Zusammenhang mit der Beteiligung an sta¨dtischen Rechten2. Ein erster Hinweis auf Bedeutung und Herkunft des Wortes „Burgrecht“ gibt sein lateinisches Gegenstu¨ck burgesia bzw. burgensia. Diese Lehnu¨bertragung aus dem Deutschen gibt nur einen Ausschnitt des deutschen Begriffes wieder, indem er den individuell ausgehandelten Eintritt in das Bu¨rgerrecht einer Stadt bezeichnet.3 Burgrechtsvertra¨ge wurden schon im 19. Jahrhundert durch Georg Ludwig von Maurer und Otto von Gierke Gegenstand der Sta¨dteforschung.4 Deren Untersuchungen konzentrierten sich auf das Spannungsfeld zwischen kommunalen Einungen und herrschaftlichen Bindungen im Hinblick auf deren Funktionen als Vorla¨uder des modernen (Bundes)Staats. In der Schweiz bescha¨ftigten sich ebenfalls im 19. Jahrhundert Josef Eutych Kopp und Wilhelm Oechsli mit den Burgrechten als Teilbereich der Eidgeno¨ssischen Bu¨ndnisse.5 Der junge Bundesstaat Schweiz suchte Vorla¨ufer und fand sie in den mittelalterlichen Vertra¨gen, in denen sich scheinbar gleichberechtigt, freiwillig und quasi demokratisch Adlige, Sta¨dte, Klo¨ster und La¨nder verbunden hatten. So wurden die von Sta¨dten ausgehenden Bu¨ndnisse im Gebiet der spa¨teren Schweiz der in der Urschweiz zentrierten, und durch Mythen u¨berho¨hten Fru¨hgeschichte der Eidgenossenschaft bewusst beigestellt, um deren Einzigartigkeit als „Sonderfall“ noch zu betonen. Aus den Quellenbegriffen „burgensia“, „combourgeoisie“ und „Burgrecht“ wurde dabei ein kaum reflektierter Forschungsbegriff, welcher nach Bedarf den Eigenheiten des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes angepasst wurde. Auch in neuster Zeit betrachteten Urs Martin Zahnd oder Roland Gerber Burgrechte als genuin sta¨dtische Instrumente der Territorialisierung.6 Diese Sichtweise ist allerdings weder ¨ bernahme bezu¨glich der Burgrechte zwischen zwei Sta¨dten noch bei der spa¨teren U 2 Vgl. Andreas Wu¨rgler, Art. Burgrecht, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Bd. 3,

S. 104–105; Claude Cuendet, Les traite´s de combourgeoisie en pays romand et entre ceux-ci et les villes de Berne et Fribourg (XIIIe au XVIe sie`cle), Lausanne 1979. Walter Schlesinger, Burg und Stadt, in: Aus Verfassungs- und Landesgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Mayer, Lindau 1954, S. 97–150. 3 David Vitali, Mit dem Latein am Ende? Volkssprachlicher Einfluss in lateinischen Chartularen aus der Westschweiz, Bern 2007, S. 192, S. 405–406. Vgl. Glossarium diplomaticum, hg. v. Eduard Brinckmeier, Gotha 1856 (Neudruck: Aalen 1967), Lemma: Burgrecht, Bd. 1, S. 437; Gerhard Dilcher, Bu¨rgerrecht und Stadtverfassung im europa¨ischen Mittelalter, Ko¨ln 1996, S. 69; Werner Betz, Lehnwo¨rter und Lehnpra¨gungen im Vor- und Fru¨hdeutschen, in: Deutsche Wortgeschichte, Bd. 1, hg. v. Friedrich Maurer/Heinz Rupp, Berlin 31974, S. 135–163; Peter Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, Bd. 3, Mu¨nchen 1996, § 16.4, S. 405–406. 4 Georg Ludwig von Maurer, Geschichte der Sta¨dteverfassung in Deutschland, Erlangen 1869, S. 191–251; Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868, Bd. 1, S. 300–331. 5 Josef Eutych Kopp, Geschichte der eidgeno¨ssischen Bu¨nde. 12 Bu¨cher in 5 Bde., Leipzig 1871; Wilhelm Oechsli, Die Benennung der alten Eidgenossenschaft und ihrer Glieder, in: Jahrbuch fu¨r Schweizerische Geschichte 41 (1916), S. 51–230 und 42 (1917), S. 87–258. 6 Urs Martin Zahnd, Das Ausgreifen aufs Land, in: Berns mutige Zeit. Das 13. und 14. Jahrhundert neu entdeckt, hg. v. Rainer C. Schwinges, Bern 2003, S. 469–509. Roland Gerber, Gott ist Burger zu Bern, Weimar 2001, S. 118–184, S. 402–420. Vgl. Dorothea Christ, Hochadelige Eidgenossen. Grafen und Herren im Burgrecht eidgeno¨ssischer Orte, in: Neubu¨rger im spa¨ten Mittelalter. Migration und Austausch in der Sta¨dtelandschaft des alten Reiches (1250–1550), hg. v. Rainer C. Schwinges, Berlin 2002,

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des Instruments durch la¨ndliche Kommunen als „Landrechte“ hilfreich und verkennt Eigenheiten anderer Regionen, die bei einer Einordnung des Pha¨nomens beru¨cksichtigt werden mu¨ssen.7 Eine vertiefte Bescha¨ftigung mit der Terminologie muss deshalb den regionalen und zeitlichen Besonderheiten der Burgrechte Rechnung tragen, und die stets betonte, aber nicht konsequent untersuchte thematische Na¨he von Burgrecht, Bu¨rgerrecht und Bu¨ndnis muss zur Sprache kommen. Burgrechte waren zuna¨chst Bu¨rgeraufnahmen mit individuell ausgehandelten Bedingungen und Einschra¨nkungen. Ins Bu¨rgerecht einer Stadt konnten sowohl natu¨rliche als auch juristische Personen aufgenommen werden. Die Urkunde zum Vorgang wurde als ein Vertrag unter formell gleichgestellten, rechtsfa¨higen Partnern ausgestellt und ebenfalls Burgrecht genannt. Was unterscheidet nun Burgrechte, Bu¨nde und Bu¨ndnisse? Wieso wa¨hlten die Beteiligten die Form Burgrecht und nicht eine der vielen Alternativen? Zur Auswahl standen sowohl Heiratsverbindungen sta¨dtischer Eliten, wirtschaftliche Kooperationen als auch weitere Vertragsformen und Bu¨ndnisse.

II. Burgrechte und die Konstituierung von Raum

Aus rechtlicher Sicht verbinden Burgrechte zwei Vertragspartner und sind nur fu¨r diese gu¨ltig. Weil aber Sta¨dte, Ko¨rperschaften und Herrschende im eigenen und gemeinsamen Interesse zu handeln befugt sind, wirken sich ihre Vertra¨ge auf ihr Umfeld aus. Bezu¨ge zwischen Vertragsklauseln und seiner konkreten Wirkung ermo¨glichen, die politischen Ra¨ume zu erfassen – sei es, dass das Burgrecht diese aufnimmt oder sie erst entstehen la¨sst. Diese Ra¨ume werden in geographischen Bezeichnungen, als politische, rechtliche ¨ ffentlichkeit oder als Kommuund wirtschaftliche Ra¨ume, als Ra¨ume spezifischer O nikationsra¨ume zwischen Bu¨ndnispartnern oder Außenstehenden erkennbar. Der geographische Raum wird in den Burgrechten auf zwei Arten konstituiert. Zum einen erscheint die genaue gegenseitige Zuscheidung von Rechtsbezirken, zum andern werden mit den „Hilfskreisen“ die Reichweite der milita¨rischen Hilfeleistung festgelegt.8 Die Rechtsbezirke legen personal und institutionell die Gerichtsorte fest.

S. 99–123; Guy P. Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identita¨t, Basel 22007, S. 76–83, zeigt, wie regionale Geschichte in die nationale Schweizer Geschichtsschreibung einfloss und auf erstere zuru¨ckwirkte, vgl. dazu: Sascha Buchbinder, Der Wille zur Geschichte. Schweizergeschichte um 1900 – die Werke von Wilhelm Oechsli, Johannes Dierauer und Karl Da¨ndliker, Zu¨rich 2002, S. 71. 7 Zur Zentral- und Ostschweiz siehe Andreas Meyerhans, Die Appenzellerkriege und ihre Bedeutung fu¨r die Herausbildung des eidgeno¨ssischen Landortes Schwyz, in: Die Appenzellerkriege – eine Krisenzeit am Bodensee?, hg. v. Peter Niederha¨user/Alois Niedersta¨tter, Zu¨rich 2006, S. 150–180. Zur Westschweiz siehe Cuendet, Traite´s (wie Anm. 2). 8 Regula Schmid, „Vorbehalt“ und „Hilfskreis“. Grenzsetzungen in kommunalen Bu¨ndnissen des Spa¨tmittelalters, in: Die Grenzen der Netzwerke, hg. v. Kerstin Hitzbleck/Klara Hu¨bner, Ostfildern

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Sie enthalten damit zumindest implizit eine rechtliche Anerkennung des status quo.9 Die Hilfskreise zeigen den milita¨rischen Aktionsraum an, den die Burgrechtspartner als ihre legitime Einflussspha¨re betrachten (oder den sie beanspruchen) und innerhalb derer sie die Unterstu¨tzung des Partners erwarten. Der Umfang der milita¨ri¨ ltere Vertra¨ge schen Hilfeleistung wird allerdings in den Vertra¨gen eingeschra¨nkt: A und konkurrierende Herrschaftsverha¨ltnisse sind als Vorbehalte benannt und teilweise hierarchisch aufgelistet. So bilden die Burgrechte keinen eigenen neuen Raum, u¨berlagern aber geographisch fassbare Bu¨ndnisra¨ume mit einer neuen Schicht an Verbindlichkeiten.10 Nicht nur die Sta¨dte waren darauf angewiesen, alles ihnen Zugeho¨rende mo¨glichst eindeutig zu benennen.11 Auch fu¨r Adlige oder Klo¨ster war es wichtig, den Umfang ihrer Herrschaftsanspru¨che genau bezeichnen zu ko¨nnen, wenn sie einen Vertrag mit einer Stadt schlossen. Graf Rudolf IV. von Greyerz beispielsweise ging 1401 ein Burgrecht mit der Stadt Bern ein.12 Dabei war nicht die ganze Grafschaft mit eingeschlossen, sondern nur der Graf als Oberherr des Landes Saanen sowie die Landleute von Saanen. Die genaue Bezeichnung fu¨r wen der Vertrag Gu¨ltigkeit haben sollte, schra¨nkte auch die Mo¨glichkeiten der politischen Einflussnahme mittels des Burgrechtes ein. Allerdings blieben die Formulierungen soweit flexibel, dass sie nicht bei jeder territorialen Vera¨nderung der Vertragspartner angepasst werden mussten.13 Das Beispiel des Berner Seelands – dem Gebiet zwischen den Sta¨dten Bern, Biel und Murten – sei herangezogen um zu demonstrieren, wie stark Burgrechte politische Ra¨ume zu gliedern vermochten.14 In der ersten Ha¨lfte des 14. Jahrhunderts trafen sich in diesem Raum die Interessen der Savoyer und Habsburger sowie der Grafen 2014, S. 175–196. Zu den Rechtsbezirken siehe Emil Usteri, Das o¨ffentlich-rechtliche Schiedsgericht in der Schweizerischen Eidgenossenschaft des 13. – 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Institutionengeschichte und zum Vo¨lkerrecht, Zu¨rich 1925, S. 19–51. 9 Zum Raumaspekt in Burgrechtsvertra¨gen, im Gegensatz zu den Landrechten la¨ndlicher Kommunen, siehe Wilhelm Bender, Zwinglis Reformationsbu¨ndnisse. Untersuchungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Burgrechtsvertra¨ge eidgeno¨ssischer und oberdeutscher Sta¨dte zur Ausbreitung und Sicherung der Reformation Huldrych Zwinglis, Zu¨rich 1970, S. 40–47. Vgl. Dorothea Christ, Stabilisierende Konflikte und verbindende Abgrenzungen: Die Eidgenossen und ihre Bu¨ndnisse im Spa¨tmittelalter, in: Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), hg. v. Carl A. Hoffmann/Rolf Kiessling, Konstanz 2009, S. 139–160, hier S. 143. 10 Barbara Schmid/Regula Schmid, Die Allgegenwart des Raumes in den Kulturwissenschaften und die Ordnung der Dinge, in: Ausmessen – Darstellen – Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Ra¨umen in Mittelalter und fru¨her Neuzeit, hg. v. Ursula Kundert/Barbara Schmid/Regula Schmid, Zu¨rich 2007, S. 9–22, hier S. 11–12. 11 Vgl. Guy P. Marchal, „Von der Stadt“ und bis ins „Pfefferland“. Sta¨dtische Raum- und Grenzvorstellungen in Urfehden und Verbannungsurteilen oberrheinischer und schweizerischer Sta¨dte, in: Grenzen und Raumvorstellungen (11. – 20. Jahrhundert), hg. v. Guy P. Marchal, Zu¨rich 1996, S. 225–263. 12 Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, Kanton Bern (SSRQ BE), Aarau 1942, II/3, S. 27, Burgrechtsvertrag vom 30. 7. 1401: Wir, graff Rudolf von Gryers, ze einem teile, und wir der schultheis, die rete und burger gemeinlich der stat Berne, ze dem andren Teile, tun kunt (...) nu und hie nach, das wir ze beiden teilen fur unser luite von Sanon, mit dero gunst und willen wir och dis getan haben, einer getruwen buntnusse und burgrechtes uberkomen sint, dasselb burgrecht wir och in ir stat Berne an uns genomen und emphangen haben (...). Entgegen Zahnd, Ausgreifen (wie Anm. 6), S. 473. 13 Vgl. Peter Bierbrauer, Freiheit und Gemeinde im Berner Oberland 1300–1700, Bern 1991, S. 96–128. 14 Einfu¨hrung in die historische Ausgangslage bei Zahnd, Ausgreifen (wie Anm. 6), S. 477–504; Gerber, Gott (wie Anm. 6), S. 381–385; Richard Feller, Geschichte Berns, Bd. 1, Bern 41974, S. 117–199; Pascal

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von Neuenburg und der Neu-Kiburger. Nach der Doppelwahl von 1314 gewannen die Habsburg freundlichen Kra¨fte in der Region an Boden. 1319 ernannte Herzog ¨ sterreich Hartmann von Kiburg zum Schirmherrn und Pfleger der Leopold I. von O Stadt Bern, gegen deren Willen. Noch in neueren wissenschaftlichen Darstellungen wird hervorgehoben, dass dadurch ein scheinbar unu¨berwindbarer Gegensatz von Bern und Habsburg entstand.15 Dieser dichotomischen Vorstellung widerspricht aber die Bu¨ndnisrealita¨t. Sowohl Bern als auch die Habsburg-freundliche Partei mit Beteiligung von Freiburg verfu¨gten in diesem Raum u¨ber ein ausgesprochen dichtes, sich teilweise u¨berlagerndes Netz an Bu¨ndnissen und Burgrechten. Die Zeit von 1318 bis zu den kriegerischen Auseinandersetzungen im Gu¨mmenenkrieg 1331/33 und im Laupenkrieg im Jahre 1339 und daru¨ber hinaus waren durch Konflikte gepra¨gt. Aus dem eng begrenzten heutigen Berner Seeland sind fu¨r die Jahre zwischen 1324 und 1338 immerhin acht neue sta¨dtische Burgrechte mit hochadligen Partnern u¨berliefert.16 Die latente Konkurrenzsituation fu¨hrte zum Krieg zwischen Bern und seinen Verbu¨ndeten und Verburgrechteten einerseits und einer breit abgestu¨tzten Koalition des Adels und Freiburgs andererseits, darunter insbesondere die auch mit Bern verburgrechteten Grafen von Kiburg, von Neuenburg und Savoyen. Die Burgrechte Berns mit diesen Partnern vermochten den u¨bergeordneten Interessen und dynastischen Bindungen nicht Stand zu halten: So stellte Graf Rudolf von NeuenburgNidauFreiburgern 1338 urkundlich in Aussicht, dass sein Sohn das erst seit 1336 in Bern bestehende Burgrecht auf ihr Verlangen hin aufgeben werde. Solche Versprechen wurden nicht leichtfertig gegeben. Die Aufgabe dieseses Burgrechtes, das eine Mindestlaufzeit von zwanzig Jahren hatte, kostete den Grafen das hinterlegte Udelgeld von stolzen 400 Pfund, welches bei vorzeitiger Aufgabe der Stadt Bern zufiel.17

Ladner, Adel und Sta¨dte in Kleinburgund wa¨hrend des 14. Jahrhunderts, in: Burgdorfer Jahrbuch 52 (1985), S. 84–93; Karl H. Flatt, Die Errichtung der bernischen Landeshoheit u¨ber den Oberaargau, Bern 1969, S. 37–59. Bu¨ndnistexte in: Die Urkunden und Akten der oberdeutschen Sta¨dtebu¨nde, Bd. 1: Vom 13. Jahrhundert bis 1347, bearb. v. Konrad Ruser, Go¨ttingen 1979. 15 Zahnd, Ausgreifen (wie Anm. 6), S. 477–479. 16 Receuil Diplomatique du Canton de Fribourg (RD) Fribourg 1839–1877, Bd. 2, Nr. 100, S. 82–84: Burgrecht des Grafen Edouard de Savoie in Freiburg (1324); Burgrechtserneuerung zwischen Louis de Savoie, Baron de Vaud und Freiburg (1326) RD 2, Nr. 102, S. 90–95; Burgrecht des Bischofs Johannes von Langres fu¨r das Bistum Basel mit Bern (1330), FRB 5, Nr. 695, S. 733–735; Burgrecht des Aimo de Savoie mit Bern (1330), Fontes Rerum Bernensium (FRB), Berns Geschichtsquellen, Bern 1883–1956, Bd. 5, Nr. 720, S. 762–763; Burgrecht des Grafen Eberhard von Kyburg in Freiburg (1331) RD 2, Nr. 106, S. 105–109; Burgrechtserneuerung zwischen Louis de Savoie und Freiburg (1334), RD 2, Nr. 113, S. 130–132; Burgrecht zwischen Louis de Savoie und Bern (1334), FRB 6, Nr. 136, S. 125–126; Burgrechtserneuerung des Grafen Eberhard von Kyburg in Freiburg (1336), RD 2, Nr. 119, S. 152; Burgrecht von Rudolf und Jakob, So¨hnen des Grafen Rudolf von Neuenburg-Nidau in Bern (1336), FRB 6, Nr. 266, S. 254–256; Graf Peter von Aarberg: Versprechen an Freiburg zur Aufgabe des Burgrechts in Bern, FRB 6, Nr. 398, S. 384 und Burgrecht in Freiburg (1338), RD 3, Nr. 133, S. 2–4. 17 FRB (wie Anm. 16), Bd. 6, Nr. 397, S. 383–384: (...) daz der sun daz burgrecht und die gebu¨ntnissi, so er mit der stat von Berne hat, absaget und ufgit inwendig funf tagen dar nach, so der (..) schultheitz und der rat von Friburg uns ez kundent (...). Zum Vergleich: Die Urner erhielten fu¨r ihren Zuzug bei der Schlacht von Laupen 1339 von Bern 250£, siehe Quellenwerk zur Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft (QW), I, 3/1 Nr. 295.

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Dasselbe versprach Graf Peter von Aarberg,kurz zuvor ein Burgrecht mit Freiburg eingegangen war.18 Der Laupenkrieg 1339 ging eher unerwartet zu Gunsten Berns aus. Die Friedensschlu¨sse zwischen den verschiedenen Beteiligten wurden zwischen 1340 und 1343 geschlossen und die Sta¨dte knu¨pften sogleich ein neues Bu¨ndnisnetz, das den vera¨nderten Bedingungen Rechnung trug. Im Seeland schlossen sich die Sta¨dte Freiburg, Bern, Biel, Murten und Laupen in einer Reihe neuer Bu¨ndnisse enger zusammen, es wurde eine neue Schicht u¨ber die a¨lteren Verbindungen gelegt. Die adligen Herrschaftstra¨ger blieben ihrerseits im Rahmen der bisherigen Burgrechte aktiv und schlossen zusa¨tzliche Bu¨ndnisse mit den beteiligten Sta¨dten ab. Bereits im Ma¨rz 1340 diktierten Freiburg, die Grafen von Neuenburg-Nidau und von Aarberg der Stadt Murten eine neue Defensivallianz.19 Die Bu¨ndnisse sind allerdings von unterschiedlicher Qualita¨t: Diejenigen Murtens liefen auf reine Schutzversprechen hinaus und die Vertra¨ge mit Bern und Biel wurden 1351 bzw. 1354 nachgebessert.20 Die Beziehung der bisher verfeindeten Sta¨dte Bern und Freiburg erhielt 1341 auf der Grundlage des Bu¨ndnisses von 1271 eine neue Intensita¨t, indem dieses inhaltlich auf die Ebene eines Burgrechts gestellt wurde und die Zustimmung der Gegenpartei fu¨r Bu¨ndnisse und Burgrechtsvergaben verlangte. Alle Bu¨ndnisse im Raum (Abb. 1) wurden jeweils auf den entsprechenden bilateralen Vorga¨ngern aufgebaut, auch wenn neuere, formularartige Vertra¨ge bestanden. Außer den fixen Formulierungen mit rechtlicher Relevanz gab es kaum Gemeinsamkeiten oder gar Formulare. Die bald nach dem Krieg 1339 geschlossenen Bu¨ndnisse und Burgrechte verliefen erneut nicht parallel zu den traditionellen Ma¨chtekonstellationen. Da weiterhin versucht wurde, Konkurrenten und Gegner u¨ber die Vertra¨ge in die eigene Politik einzubinden, entstand wieder ein verha¨ltnisma¨ßig engmaschiges Netz an Burgrechten und Bu¨ndnissen – und damit gegenseitigen Verpflichtungen. Diese enge regionale Verflechtung der Partner u¨ber die politischen „Sollbruchstellen“ hinaus ist typisch fu¨r das westliche Schweizer Mittelland des 14. Jahrhunderts. Die Konflikte blieben im Seeland trotz (oder gerade wegen) verdichteter Allianzen latent. Deshalb schlossen die namhaften Kra¨fte der Region 1350 einen Landfriedensbund, der 1364 und 1373 erneuert wurde.21 Offenbar hatten die zahlreichen Burgrechte die Stabilita¨t letztlich eher gefa¨hrdet als garantiert. Im Laufe der 1370er Jahre verscha¨rften sich die Gegensa¨tze erneut. Im Bezug auf die Burgrechte war bis dahin kein Verdichtungsschub zu beobachten.22 Zustimmungen zu Burgrechten in Bern und Freiburg mussten wie erwa¨hnt ab 1368 gegenseitig schriftlich erteilt werden.23 Diese Klausel umgingen die Berner ab 1377. Weil sie 18 FRB (wie Anm. 16), Bd. 6, Nr. 398, S. 384. 19 Aus Ruser, Urkunden 1 (wie Anm. 14), Nr. 92, S. 106–107, vgl. SSRQ (wie Anm. 12), Kanton Freiburg,

Aarau 1925, I, 1, Nr. 27.

20 FRB (wie Anm. 16), 7, Nr. 649, S. 618–619, bzw. SSRQ FR (wie Anm. 19), I, 1, Nr. 33. Vgl. Die Urkun-

den und Akten der oberdeutschen Sta¨dtebu¨nde, Bd. 2: Sta¨dte und Landfriedensbu¨ndnisse von 1347 bis 1380, bearb. v. Konrad Ruser, Go¨ttingen 1988, Nr. 15 bzw. 27-1. 21 Ruser, Urkunden 2 (wie Anm. 20), Bd. II, Nr. 9 (25. 1. 1350), Nr. 31 (16. 1. 1350), Nr. 41 (2. 12. 1373). 22 Vgl. Christ, Stabilisierende Konflikte (wie Anm. 9), S. 140. 23 RD (wie Anm. 16), Bd. I, Nr. 29, S. 106: Neutra civitatum aliquem habentem civitatem, castrum, vel munitionem, aut eum cui aliquod castrum seu munitio sit commissa, debet recipere in burgensem vel

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wussten, dass die Freiburger ihre Einwilligung nicht geben wu¨rden, ließen sie ihre Partner Burgrechte mit der Stadt Laupen eingehen, die seit 1324 unter bernischer Kontrolle stand.24 Mit dem Frieden nach dem Burgdorfer Krieg 1384 wurden auch die Grafen von Kiburg zum Burgrecht in Laupen geno¨tigt. Ein Novum war dabei,

Abb. 1: Sta¨dtebu¨ndnisse 1341–1344 Quelle: Entwurf des Autors

dass der Friedensschluss gleichzeitig eine Burgrechtsurkunde beinhaltete.25 Das Haus Kiburg wurde mit diesen Burgrechten politisch neutralisiert und das Gleichgewicht der Kra¨fte in der Region sukzessive zugunsten Berns vera¨ndert. In diesem Fall darf man ohne Abstriche von planma¨ßiger und gelungener sta¨dtischer Territorialisierung sprechen.26 ¨ echtlandes zeigt, wie im Laufe des 14. Jahrhunderts ein Das Beispiel des ganzen U dichtes Geflecht von Loyalita¨ten, Bu¨ndnissen und Burgrechten ein labiles Gleichgewicht in der Region ermo¨glichte. Adel, Sta¨dte und Kirche bedienten sich der verschiedenen Vertragstypen zur Absicherung ihrer machtpolitischen Basis bzw. zum mo¨glichst konfliktfreien Ausbau ihrer eigenen Positionen. conjuratum, vel aliquam inire confederationem cum aliquibus vel cum aliquo sine consilio et voluntate alterius civitatis, quod consilium ipsa civitas per patetes litteras suas daret. 24 Burgrecht der Gra¨fin Elisabeth von Neuenburg in Laupen: FRB (wie Anm. 16), Bd. 9, Nr. 1086, S. 524–525. 25 FRB (wie Anm. 16), Bd. 10, Nr. 513, S. 255–260; S. 256: (...) ze einem phundement und grund der liebi so haben wir graff Berchtold, graff Egen, graff Hartman und grefin Anna von Kiburg von des getru¨wen insechens wegen, so wir hand zu dem lande von Bu¨rgenden, u¨ns selben, unsern erben und nachkomen ein ewig iemerwerende burgerrecht und udel emphangen von dem vogte, dien burgern und der fryen stat ze Louppen (...). (...) die selb stat Louppen von dem heiligen riche och empholen und ingeantwurt ist den egenannten herren der stat ze Berne. 26 Zahnd, Ausgreifen (wie Anm. 6), S. 483–484.

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In dieser Darstellung wurden die Vertra¨ge der Adligen hauptsa¨chlich aus dem Blick der in Burgrechten formalisierten Beziehungen betrachtet. Sie tra¨gt damit den wirtschaftlichen und dynastischen Argumenten des Adels nur bedingt Rechnung. Trotzdem wird anhand der Vertra¨ge der Adligen sichtbar, wie sich Adelsha¨user in die wandelnden Verha¨ltnisse einbrachten. Dabei darf nicht u¨bersehen werden, dass außerhalb der vorgestellten Beispiele der Eintritte in das Burgrecht von Laupen die u¨berwiegende Zahl der Burgrechte Adliger auf deren Initiative hin geschlossen wurden. Man ko¨nnte der ga¨ngigen These, dass mit den Burgrechten die Stadt Zugriff auf adlige Herrschaften bekam, genauso gut entgegen halten, dass die Stadt entgegen ihren eigentlichen Interessen zum Handlanger dieses Adels gemacht und in dynastische Konflikte verwickelt wurde. Das Versta¨ndnis der Burgrechte als sta¨dtisches Instrument muss also bereits aus diesem politischen Blickwinkel relativiert werden. Adlige, Klo¨ster und la¨ndliche Kommunen profitierten als Burgrechtspartner ebenso von den Vertra¨gen wie die sta¨dtischen Tra¨gergruppen. Der politische Raum, der sich durch die Vertra¨ge bildete, u¨berzog also nicht einseitig von der Stadt ausgehend den geographischen Bezugsrahmen, sondern verdichtete sich von Seiten aller Beteiligter aufgrund der Intensivierung der politischen Kommunikation.27 In diesem Punkt gehe ich mit Jo¨rg Oberste einig, dass das sta¨dtische Bu¨ndnishandeln innerhalb formalisierter Beziehungen raumbildend wirkte. Das Bu¨ndnishandeln macht allerdings nicht die Stadt selbst aus, sondern den politischen Raum, in dem sich sta¨dtische Akteure – aber nicht nur diese – bewegen. Eva-Marie Distler bezeichnete in ihrer rechtshistorischen Untersuchung zu den Sta¨dtebu¨nden die sogenannte Burgundische Eidgenossenschaft zwar als „wichtige Bu¨ndnisregion“, aber, in Aufnahme einer schon seit la¨ngerem u¨berholten Sicht, auch als „Sonderfall“.28 Die Reduktion der Eidgenossenschaft auf die Innerschweizer Orte ist heute u¨berwunden.29 Die Region bildete im Mittelalter keinen Sonderfall. Sie stellt aber einen eigenen Untersuchungsraum dar, der divergierende und damit versto¨rende Resultate liefert. Distler irrt, wenn sie betont, dass die Eidgenossenschaft bereits um 1400 entfeudalisiert gewesen sei.30 Einerseits trug gerade die Einbindung (nicht Eliminierung) kleinerer Herrschaftstra¨ger enorm zum Erfolgsmodell der „Bu¨ndnis27 Vgl. Jo¨rg Oberste, Einfu¨hrung: Verdichtete Kommunikation und sta¨dtische Kultur, in: Kommunika-

tion in mittelalterlichen Sta¨dten, hg. v. dems., Regensburg 2007, S. 7–10; bzw. Jo¨rg Oberste, Einfu¨hrung: Sta¨dtische Repra¨sentation und die Fiktion der Kommune, in: Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. dems., Regensburg 2008, S. 7–12. 28 Eva-Marie Distler, Sta¨dtebu¨nde im deutschen Spa¨tmittelalter. Eine rechtshistorische Untersuchung zu Begriff, Verfassung und Funktion, Frankfurt a. M. 2006, S. 50; Paul Widmer, Die Schweiz als Sonderfall. Grundlagen, Geschichte, Gestaltung, Zu¨rich 22008, S. 39–100, stu¨tzt sich bei seinen weit ausholenden Erkla¨rungen des Sonderfalles fu¨r das Mittelalter vor allem auf Peter Blickle, Das Gesetz der Eidgenossen, in: HZ 225 (1992), S. 561–586. 29 Guy P. Marchal, Die Urspru¨nge der Unabha¨ngigkeit (401–1394), in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Bd. I, Basel 1982, S. 105–210; Nicolas Morard, Auf der Ho¨he der Macht (1394–1536), in: ebd., S. 211–352. Zuletzt bei Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, Baden 2010, S. 38–44. 30 Distler, Sta¨dtebu¨nde (wie Anm. 28), S. 52: „Spa¨testens um 1400 haben in der Innerschweiz die kleinen ¨ bte, Grafen und Bischo¨fe ihre Herrschaftsrechte verloren; sie war daher Adeligen, unbedeutendere A wie kaum eine andere Region Europas entfeudalisiert. Damit begann sie, sich aus dem Reichsverband zu lo¨sen. Von den Sta¨dtebu¨nden im Reich unterschied sich die Schweizer Eidgenossenschaft vor allem dadurch, dass durch starken a¨ußeren Druck Bauern- und Bu¨rgergemeinden eine immer engere Verbin-

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landschaften“ unter ausdru¨cklichem Einbezug der la¨ndlichen Kommunen bei. Andererseits geba¨rdeten diese sich zunehmend wie Sta¨dte: ihr Landrecht galt mit wenigen Ausnahmen territorial und die oligarchischen Herrschaftsstrukturen der La¨nder boten klare Ansprechpartner und Tra¨gergruppen. Gerade dadurch wurden sie fu¨r Sta¨dte und Adlige ideale Bu¨ndnispartner, mit denen sich das regionale Bu¨ndnisgewebe versta¨rken und gefa¨hrdete Besitzrechte sichern ließen, oft zum Preis der Herrschaftsrechte.31 La¨nder wurden von Sta¨dten und Adligen erst in zweiter Linie als Konkurrenten betrachtet; oft erst, wenn sie von diesen u¨bervorteilt worden waren. Gerade deshalb nahmen Burg- und Landrechte im Diskurs u¨ber die territoriale Geltung von Recht einen zentralen Platz ein. Mit ihnen konnten auch die La¨nder eigene Rechtsanspru¨che mit Hilfe der Stadt sichern und potentiell ausbauen. Ein Gegenbeispiel bilden die beiden Sta¨dte Freiburg und Bern. 1243 hatten sie ein erstes Bu¨ndnis geschlossen, das in den Jahren 1271, 1341, 1403 und 1454 erneuert, erweitert und intensiviert wurde.32 Ab 1403 wurde der Vertrag „Burgrecht“ genannt, obwohl die inhaltlichen Vorla¨ufer diesen Begriff nicht benutzt hatten und er in seinem urspru¨nglichen Wortsinn eigentlich keine Anwendung auf Sta¨dtebu¨nde finden konnte. Fortan nannten sich die beiden Sta¨dte in den Anreden gegenseitig „unser lieben Mitburgere“, sofern sie nicht gerade gegeneinander Krieg fu¨hrten. Die gegenseitige Privilegierung ging so weit, dass bei der Wiederaufnahme des Burgrechts nach dem Savoyerkrieg 1448/49 dafu¨r die Formel „als ob wir in einer ringmur sament gesessen weren“ benutzt wurde.33 Die beiden Sta¨dte regelten die Niederlassung fu¨r ihre Bu¨rger in der jeweils anderen Stadt in sehr großzu¨giger Weise und begrenzten das Schiedsgerichtswesen auf Streitfa¨lle auf der Sta¨dteebene, die von keinem ordentlichen Gericht verhandelbar waren.34 Die intensive Zusammenarbeit schlug sich rechtlich in zahlreichen Bestimmungen in den Stadtbu¨chern nieder. Die Freiburger sicherten den Bernern die jeweils gleichen Rechte zu und umgekehrt. Die Burgrechte bildeten einen bedeutenden Stabilita¨tsfaktor, denn sie u¨berdauerten die meisten Herrschaftswechsel und innersta¨dtischen Konflikte schadlos.35 dung eingingen, meistens gegen die landesherrliche, teilweise auch gegen die Reichsgewalt gerichtet.“ Vgl. Martina Stercken, Herrschaftsinstrument, Statussymbol und Legitimation. Gebrauchsformen habsburgischer Privilegien im 13. und 14. Jahrhundert, in: Stadtgru¨ndung und Stadtplanung – Freiburg im Mittelalter, Fondation et planification urbaine – Fribourg au moyen aˆge, hg. v. Hans-Joachim Schmidt, Mu¨nster 2010, S. 245–268. 31 Guy P. Marchal, Sempach 1386. Von den Anfa¨ngen des Territorialstaates Luzern, Basel 1986, S. 156; Maissen, Geschichte (wie Anm. 29), S. 39–40. 32 RD (wie Anm. 16) I, Nr. 7, S. 11–13; II, Nr. 29, S. 105–109; III, Nr. 154, S. 50–54; VI, Nr. 352, S. 27–40. SSRQ BE (wie Anm. 12), I, 4/1, Nr. 164k, S. 362–364. 33 Zu den Beispielen siehe Heinrich Speich, „(...) als ob wir in einer Ringmur sament gesessen weren“. Burgrechte zwischen Freiburg und Bern als flexible Bu¨ndnisform, in: Bu¨ndnisdynamik. Tra¨ger, Mittel und Ziele politischer Bu¨nde im Mittelalter, hg. v. Klara Hu¨bner/Regula Schmid/Heinrich Speich, Mu¨nster 2015 (im Druck). 34 Vgl. die „vier rechtlichen Elemente“, welche die „ausgebildete mittelalterliche Stadt als Typus“ charakterisieren bei Dilcher, Bu¨rgerrecht (wie Anm. 3), S. 71–84. Die Burgrechte dehnen diese Elemente u¨ber die Stadtgrenzen hinaus aus und erkla¨ren sie im interurbanen Rechtsraum fu¨r verbindlich. 35 Fu¨r Bern: Roland Gerber, Sta¨dtebau und sozialer Wandel. Die Abha¨ngigkeiten von Ratsherrschaft und Stadtgestalt im spa¨tmittelalterlichen Bern, in: Sta¨dteplanung – Planungssta¨dte, hg. v. Bruno Fritzsche/Hans-Jo¨rg Gilomen/Martina Stercken, Zu¨rich 2006, S. 81–100, hier S. 82–85.

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Vom 13. bis 17. Jahrhundert wurden die Vertra¨ge erneuert, angepasst, intensiviert und konkretisiert. Das passierte nicht regelma¨ßig. Abgelaufene Burgrechte, die nicht erneuert wurden, waren eher selten; gerade in Zeiten herrschaftlicher Unsicherheiten tendierten die Beteiligten gerne zur Verla¨ngerung. Vor, wa¨hrend und unmittelbar nach kriegerischen Auseinandersetzungen wurden die Vertra¨ge erneuert und den aktuellen Konstellationen angepasst. Burgrechte wurden von den Partnern eingesetzt, um ihre Positionen rechtlich abzusichern oder auszubauen. Die meisten Burgrechte beinhalteten deshalb milita¨rische Hilfszusagen, Teilhabe an der gegenseitigen Rechtsposition und versprachen wirtschaftliche Vorteile. Diese Akkumulation von Elementen war dazu pra¨destiniert, die Beziehungen langfristig und bis in den Alltag hinein zu beeinflussen. Das Beispiel Bern–Freiburg zeigt deutlich, dass die Burgrechte – viel sta¨rker als andere Bu¨ndnisse – die Koha¨sion der beiden Sta¨dte nachhaltig gefo¨rdert haben.36

1. Wirtschaftsra¨ume Weshalb waren Burgrechte so attraktiv? Bu¨ndnisse boten und noch in sta¨rkerem Maße Burgrechte nicht stadtsa¨sssigen Grundherren die Mo¨glichkeit zur wirtschaftlichen Vernetzung. Erfolgreiche Landwirtschaft mit steigendem Ertrag setzte im spa¨ten Mittelalter nicht mehr auf Subsistenz, sondern auf eine der Landschaft ange¨ berschu¨sse basierte. Optimale passte Produktionsweise, die auf dem Austausch der U Bedingungen bezu¨glich Marktzugang, Kreditvergabe, Rechtssicherheit und Gu¨tertransport boten die Sta¨dte mit ihren Ma¨rkten. Burgrechtsvertra¨ge trugen den individuellen Bedu¨rfnissen und dem politischen Gewicht der Beteiligten Rechnung. Dem Wunsch der Besitzer der Grundherrschaften nach formalisierten Beziehungen und damit Marktvorteilen kamen die Sta¨dte gerne nach, ihr Einfluss auf die entsprechenden la¨ndlichen Ressourcen wuchs u¨berproportional zu den gewa¨hrten Vorteilen.37 Die adligen und klo¨sterlichen Grundbesitzer wurden o¨konomisch enger an die Stadt und ihre Funktionen als wirtschaftlicher Zentralort angebunden. Die sta¨dtische Kontrolle erfasste sukzessive auch die la¨ndliche gewerbliche Produktion.38 Das „Ausgreifen“ sta¨dtischer Zoll- und Gerichtshoheit in die Landschaft wurde zwar von den betroffenen Rechtsinhabern als Einmischung und Schma¨lerung ihrer eigenen Position empfunden, diente aber auch ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen, indem sie andernorts von ebendiesen Vereinheitlichungen profitieren konnten.

36 Dass solche Vertra¨ge nicht immer langfristig im beiderseitigen Interesse waren, belegen die Auseinan-

dersetzungen zwischen Bern und der Landschaft Saanen, vgl. Scott, City-State (wie Anm. 1), S. 3.

37 Vgl. Stefan Sonderegger, Landwirtschaftliche Spezialisierung in der spa¨tmittelalterlichen Nordost-

schweiz, in: Zwischen Land und Stadt. Wirtschaftsverflechtungen von la¨ndlichen und sta¨dtischen Ra¨umen in Europa 1300–1600 (Jahrbuch fu¨r Geschichte des la¨ndlichen Raumes 2009), hg. v. Markus Cerman/Erich Landsteiner, Innsbruck 2009, S. 139–160. 38 Vgl. Rolf Kiessling, Zur Kommerzialisierung la¨ndlicher Regionen im 15./16. Jahrhundert. Das Beispiel Ostschwaben, in: Zeitschrift fu¨r Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59/2 (2011), S. 14–36, hier S. 15–18.

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Diese allgemeinen Beobachtungen konkretisiert der Fall der engen politischen Kooperation von Bern und Freiburg im Rahmen des Burgrechtes. Sie wirkte sich direkt auf den gemeinsamen Wirtschaftsraum aus. Die gegenseitigen Zo¨lle wurden erlassen oder reduziert, die Besteuerung der Bu¨rger der jeweils anderen Stadt eingeschra¨nkt.39 Nach der Wiederaufnahme des Burgrechtes im Jahr 1454 gingen die beiden Sta¨dte noch weiter als vorher und bildeten Ansa¨tze eines gemeinsamen „Binnenmarktes“ aus: Die Freiburger stellten 1456 „Kraft des Inhaltes des Burgrechts“ das Berner Tuch in ihrem Herrschaftsbereich dem eigenen gleich.40 Die Stadt schottete sonst den Heimmarkt fu¨r Textilien rigoros ab und stellte an die eigene Produktion hohe Qualita¨tsanspru¨che. Freiburger Tuch wurde im Gegenzug im gleichfalls geschu¨tzten Berner Markt absetzbar. Bern wies 1462/73 seine Sta¨dte und Landschaften an, dieser Regelung Nachachtung zu verschaffen.41 Die wirtschaftlichen Vorteile der gegenseitigen Bevorzugung mittels der Burgrechte wurden also nicht nur politisch propagiert, sondern auch durch gezielte fiskalische und wirtschaftspolitische Maßnahmen gefo¨rdert, die wohl nicht unbestritten waren. Wert und Intensita¨t der Beziehung lassen sich am Beispiel Freiburgs und Berns bis in die allta¨glich spu¨rbaren Auswirkungen hinein verfolgen42. ¨ ffentlichkeiten 2. Raum neuer O Fu¨r Burgrechte wurde stets eine Mindestlaufzeit vereinbart, innert derer das Burgrecht von keiner Seite aufgegeben werden durfte. Nach diesen zehn oder auch mehr Jahren stand es den Vertragspartnern frei, das Burgrecht zu erneuern oder aufzuku¨ndigen. „In perpetuum/auf ewig“ geschlossene Vertra¨ge mussten durch gegenseitige Eide regelma¨ßig erneuert werden. Die Vertra¨ge zwischen Bern und Freiburg von 1243 und 1271 sollten alle zehn Jahre, ab 1341 jedes Jahr beschworen werden. Zur Eidleistung der schwurfa¨higen Einwohnerschaft wurden Gesandtschaften der jeweils anderen Stadt eingeladen und u¨ppig bewirtet. Nach 1403 wurden die Burgrechte alle drei Jahre beschworen.43 Die sta¨ndigen Kontakte schufen eine neue Intensita¨t der Kommunikation. Es war aufgrund des Burgrechts notwendig, in zahlreichen Fragen einen sta¨ndigen Austausch zu pflegen, und dieser konnte zur Intensivierung der perso¨nlichen Beziehungen genutzt werden.44 Die Einbindung von Rat und Bevo¨lkerung in Beschwo¨rungen und bei Gescha¨ftsvorteilen fu¨hrte zu einem Konsens der ¨ ffentlichkeit, welche dessen Vorteile nicht mehr missen am Burgrecht interessierten O 39 Speich, als ob (wie Anm. 33). 40 SSRQ FR (wie Anm. 19), I/6, Nr. 430, S. 344/345. 41 SSRQ BE (wie Anm. 12), I/8/2, Nr. 212, S. 558. 42 Sonderegger, Spezialisierung (wie Anm. 37), bes. S. 142–146, betrachtet die Verflechtungen zwischen

Stadt und Umland exemplarisch fu¨r die Landwirtschaft St. Gallens. Fu¨r die westliche Schweiz stehen diese Untersuchungen noch aus. 43 SSRQ BE (wie Anm. 12), I/2, Stadtsatzungen, Nr. 272, S. 129, vgl. Speich, als ob wir (wie Anm. 33). 44 Vgl. Franz-Josef Arlinghaus, Raumkonzeptionen der mittelalterlichen Stadt. Zur Verortung von Gericht, Kanzlei und Archiv im Stadtraum, in: Sta¨dteplanung – Planungssta¨dte (wie Anm. 35), S. 101–123.

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wollte.45 Die Ra¨te konnten deshalb auch bei politischem Druck nicht mehr zum status ante zuru¨ckkehren. Der Burgrechtsvertrag von 1403 zwischen Bern und Freiburg blieb in der Folge bestehen, und blieb mit Unterbru¨chen und zusa¨tzlichen Bestimmungen versehen u¨ber die Reformation hinweg bis zum Ende des Ancien Re´gime im Jahre 1798 in Kraft.46 Die wirtschaftlichen Vorteile, die Burgrechte Adligen boten, wurden natu¨rlich auch von den Sta¨dten fu¨r ihre Zwecke genutzt: in wirtschaftlichen, fiskalischen, politischen und auch milita¨rischen Fragen wurden die Beziehungen zwischen Adligen und Sta¨dten formalisiert und langfristig zu Gunsten der Sta¨dte angepasst. Auch als Ort, an dem die Beziehungen zusammenliefen trat die Stadt zunehmend in den Vordergrund, nicht zuletzt wegen der steigenden Verschriftlichung in Rechts- und Wirtschaftsangelegenheiten. Das alles a¨ndert nichts an der Feststellung, dass die Vera¨nderungen nicht allein von den Sta¨dten ausgingen. Die Einbindung von Bern und Freiburg in das Bu¨ndnisgeflecht der Eidgenossenschaft ist zwar langfristig gelungen, doch ko¨nnte man nun mit ho¨herer Berechtigung argumentieren, die Innerschweizer Eidgenossenschaft sei u¨ber das Scharnier Bern der Burgundischen Eidgenossenschaft beigesellt worden. In den Konflikten des 15. Jahrhunderts, namentlich dem Raronhandel, dem Alten Zu¨richkrieg und den Burgunderkriegen profitierten die westlichen Partner und insbesondere Bern u¨berdurchschnittlich, weil sie die vielen vorhandenen Burgrechtsvertra¨ge zweckgerichtet zu nutzen verstanden.

3. Kommunikationsra¨ume Sind Herrschaftsra¨ume, Wirtschaftsra¨ume, Bu¨ndnisra¨ume und Kommunikationsra¨ume identisch oder gibt es doch Abstufungen in Ausdehnung, Wirkung und Qualita¨t? An die Pra¨misse von Jo¨rg Oberste, dass verdichtete Kommunikation ein spezifisches Kennzeichen mittelalterlicher Urbanita¨t darstelle47, la¨sst sich die Frage anknu¨pfen, wie die gegenseitige Verburgrechtung der beiden Sta¨dte Bern und Freiburg hier einzuordnen ist: Ist Oberstes Annahme hier u¨berhaupt anwendbar? Blieben die zwei sta¨dtischen Ra¨ume getrennt, bildeten sie einen urbanen Raum oder waren es zwei urbane Zentren eines gemeinsamen Raumes? oder ko¨nnte man sogar im Sinne von Franz Irsigler von einer Sta¨dtelandschaft sprechen?48 45 Vgl. Rudolf Schlo ¨ gl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Poli-

tischen in der vormodernen Stadt, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl, Konstanz 2004, S. 36. 46 Siehe Christ, Stabilisierende Konflikte (wie Anm. 9), S. 140. 47 Oberste, Verdichtete (wie Anm. 27), S. 7. 48 Zu Sta¨dtetypologien siehe Franz Irsigler, Sta¨dtelandschaften und kleine Sta¨dte, in: Sta¨dtelandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Studien zum Pha¨nomen der Kleinsta¨dte wa¨hrend des Spa¨tmittelalters und der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Helmut Flackenecker/Rolf Kiessling, Mu¨nchen 1999, ¨ berlegungen zur Konstruktion und Interpretation mittelalterlicher Stadttypen, S. 13–38, oder ders., U in: Vielerlei Sta¨dte. Der Stadtbegriff, hg. v. Peter Johanek/Franz-Joseph Post (StF A 61), Ko¨ln/Weimar/Wien 2004, S. 107–119. Dagegen Tom Scott, Die oberrheinischen Mittel- und Kleinsta¨dte im

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Urbane Ra¨ume sind nicht die einzigen Orte, an denen verdichtete Kommunikation stattfand. In ihnen la¨sst sich allenfalls Kommunikation verdichtet nachweisen. Bu¨ndnisse und vor allem Burgrechte weisen einen Weg aus der definitorischen Sackgasse: Indem der Kommunikationsraum auf den Geltungsbereich der Bu¨nde ausgedehnt wird und damit eine polyzentrische Sichtweise auf die genuin sta¨dtischen Kommunikationsforen eingenommen wird, la¨sst sich Oberstes These sinnstiftend umwerten: Verdichtung der Kontakte ist ein spezifisches Kennzeichen urbaner Kommunikation. Urbane Kommunikation schließt das Hinterland der Zentren mit ein. Gerade die weitgehende Wirkung der Burgrechte in der Fla¨che bedingte eine versta¨rkte Kommunikation mit und zwischen den Zentren. Die beiden Sta¨dte Bern und Freiburg lassen sich dadurch trotz ihrer unterschiedlichen inneren Strukturen mittels Burgrecht in einen u¨bergeordneten Kommunikationsraum einbetten, der das jeweilige politische und wirtschaftliche Umland mit einschloss.49

III. Das Axiom der Territorialisierung Diese Definition des sta¨dtischen Kommunikationsraums la¨sst sich nun auch fu¨r das Axiom der Territorialisierung fruchtbar machen. Territorialisierungsprozesse gingen bei Abwesenheit potenter Landesfu¨rsten nicht von Sta¨dten aus, sondern bestenfalls von sta¨dtischen Tra¨gerschichten. Diese operierten zudem nicht im herschaftsleeren Raum. Bu¨ndnisse und Burgrechte zeigen allerdings auch hier alternative Lo¨sungen zur sta¨dtischen Sichtweise. Hunderte von Burgrechten, die im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts im Schweizerischen Mittelland entstanden, wurden auf Initiative von Adligen, Klo¨stern und La¨ndern geschlossen. Ohne deren Willen und Mitarbeit wa¨re eine sta¨dtische Dominanz nicht umsetzbar gewesen. Es gilt also zu fragen, welche Interessen zum Beispiel Adlige mit den Vertra¨gen langfristig verfolgten. Aufgrund der Burgrechte hatte die Stadt zwar Zugriff auf feste Pla¨tze und Herrschaftszentren des Adels, umgekehrt erhielten die Adligen Zugang zu sta¨dtischen Privilegien, Kapital und Wirtschaftskraft und sie konnten aus der Stadt heraus und mit der Stadt als Rechtsgarant und Partner operieren und dadurch ihre Stellung in der Stadt selbst ausbauen.50 Langfristig wurden damit Sta¨dte zu bevorzugten Orten der Bu¨ndniskommunikation. 15. und 16. Jahrhundert zwischen Dominanz und Konkurrenz, in: Sta¨dtelandschaft – Re´seau urbain – Urban Network. Sta¨dte im regionalen Kontext in Spa¨tmittelalter und fru¨her Neuzeit, hg. v. Holger Th. Gra¨f/Katrin Keller (StF A 62), Ko¨ln/Weimar/Wien 2004, S. 47–64, hier S. 50 sowie S. 54–55. 49 Schlo ¨ gl, Vergesellschaftung (wie Anm. 45), S. 23 sowie S. 35. Der Bu¨ndnisraum wird dadurch zum interurbanen „Anwesenheitsraum“, vgl. ebd., S. 60. 50 Fu¨r Bern: Franc¸ois De Capitani, Adel, Bu¨rger und Zu¨nfte im Bern des 15. Jahrhunderts, Bern 1982, S. 84–88; Regula Schmid, Reden, Rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln wa¨hrend des Berner Twingherrenstreits 1469–1471, Zu¨rich 1995, S. 96–101. Fu¨r Freiburg: Bernhard de Vevey/Yves Bonfils, Le Premier livre des bourgeois de Fribourg (1341–1416), in: Archives de la socie´te´ d’histoire du canton de Fribourg XVI, Fribourg 1941, S. 9–32; Ferdinand Buomberger, Bevo¨lkerungs- und Vermo¨gensstatistik in der Stadt und Landschaft Freiburg um die Mitte des 15. Jahrhunderts, Bern 1900, S. 47–64 sowie S. 139–143.

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Anstelle eines Territorialisierungsbegriffs, der axiomatisch sta¨dtisches Ausgreifen aufs Land und dessen Aneignung verku¨ndet, wird hier das Konzept einer Stufe ho¨herer Verflechtung vorgezogen: Die Teilhabe an der gegenseitigen Rechtsposition war auf Langfristigkeit ausgelegt und erlaubte den landsa¨ssigen Adligen und deren Leute selektiven Zugriff auf die sta¨dtischen Ressourcen.51 Dazu za¨hlten insbesondere milita¨risches Aufgebot, Marktzugang, Rechtssicherheit sowie Steuer- und Zollvorteile. Aus diesem selektiven gegenseitigen Zugriff zwischen la¨ndlichen Herrschaftstra¨gern und Stadt entwickelten sich auch Konflikte, die teilweise bis zum Ende des Ancien Re´gime latent blieben.52 Die Notwendigkeit engerer Zusammenarbeit blieb aber unumstritten. Der Blick auf die Burgrechte als Instrument, das die Interessen von Stadt und Adel bediente, ist geeignet, die mit dem Axiom der „Territorialisierung“ verbundene, einseitig von der Stadt her gesehene Dynamik der politischen Raumerfassung aufzuweichen. Dies ero¨ffnet aber weitere Fragen, welche hier abschließend als Forschungsdesiderate formuliert werden: 1. Es mu¨ssten die dra¨ngenden Fragen zum Spannungsfeld zwischen Bu¨ndnishandeln und Souvera¨nita¨t der Bu¨ndnispartner wa¨hrend der fru¨hen Neuzeit vertieft betrachtet werden. Das la¨sst sich beispielsweise am Burgrecht der Landschaft Saanen mit Bern von 1403 verfolgen. Dieses sorgte 1445, 1528 und 1642–44 fu¨r politische Unruhen. Bern musste der Landschaft Saanen mehrfach auf Grund des Burgrechtsinhaltes Zugesta¨ndnisse machen, die anderen la¨ndlichen Kommunen versagt blieben. 2. Das Fortleben der spa¨tmittelalterlichen Bu¨ndniskonjunkturen in der Fru¨hen Neuzeit mu¨sste auch unter den Pra¨missen von Staatsbildung und gewandelten (konfessionell unterschiedlichen) Moralvorstellungen untersucht werden. Dazu ko¨nnten beispielsweise Zwinglis konfessionelle (christliche) Burgrechte oder die konfessionellen Bu¨ndnissysteme des spa¨ten 16. Jahrhunderts dienen.53 3. Eine vertiefende Studie mu¨sste sich den Orten der Bu¨ndnisse widmen: Wo wurden Bu¨ndnisse erarbeitet, beschworen, konsultiert oder aufbewahrt? Wo fanden Schiedsgerichte statt, welche Orte erscheinen in Konflikten und welche begrenzen den physischen Raum der Hilfeleistung? Daraus wu¨rde eine Bu¨ndnistopographie resultieren, die den Wirkungsraum der Bu¨ndnisse bezeichnen und qualitativ verdichtetes Bu¨ndnishandeln nachweisen und buchsta¨blich verorten ko¨nnte.

51 Exemplarisch bei Gert Wunder, Die Bu¨rger von Hall. Sozialgeschichte einer Reichsstadt 1216–1802,

Sigmaringen 1980, S. 57–87.

52 Z. B. blieben die Auswirkungen des Burgrechtes zwischen Bern und Saanen bis ins 17. Jahrhundert

umstritten, siehe Bierbrauer, Freiheit (wie Anm. 13), S. 289–314.

53 Ansatzweise bei Wilhelm Bender, Zwinglis Reformationsbu¨ndnisse. Untersuchungen zur Rechts-

und Sozialgeschichte der Burgrechtsvertra¨ge eidgeno¨ssischer und oberdeutscher Sta¨dte zur Ausbreitung und Sicherung der Reformation Huldrych Zwinglis, Zu¨rich 1970. Allg. siehe Thomas A. Brady jr., Turning Swiss, Cities and Empire, 1450–1550, Cambridge 1985, S. 223–225. Vgl. Martin Luther, Ein Sermon von dem hochwu¨rdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (1519), in: Luthers Werke in Auswahl, Bd. 1, hg. v. Otto Clemen, Berlin 61966, S. 196–212; Albert Mu¨ller-Schmid, Der Goldene Bund 1586, Zug 1965, S. 37–43.

Territorialisierung durch Burgrechte?

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Zusammenfassend sind Bu¨ndnisse und in noch ho¨herem Maße Burgrechte als „gemeinsame Ra¨ume gegenseitiger Verbindlichkeiten“ zu bezeichnen. Die Bedeutung von Burgrechten fu¨r Sta¨dte, Adel, Klo¨ster und la¨ndliche Kommunen la¨sst sich ¨ berarbeitungen und ihren langfristigen Wirkungen, aber nicht aus ihren vielfachen U zuletzt auch aus ihrem Potential fu¨r Konflikte zwischen Beteiligten erschließen. Territorialisierung ist auf jeden Fall kein Alleingang sta¨dtischer Akteure; dazu waren immer Partner no¨tig.

¨ DTISCHE HERRSCHAFT IM HOCHSTIFT STA Handlungsra¨ume des Osnabru¨cker Rates im spa¨tmittelalterlichen Territorium von Karsten Igel

Ein bishero im Ro¨mischen Reich unbekhandt gewesenes genus civitatis wollten sie aus ihrer Stadt machen – warfen 1729 die aufgebrachten Ra¨te des neuen Landesherrn Clemens August von Bayern dem Osnabru¨cker Rat vor, statt sich einfach darauf zu beschra¨nken eine „Residenz- und Munizipalstadt“ zu sein.1 Anlass waren Verhandlungen der Stadt, nach dem Tod ihres Bischofs Ernst August II. von BraunschweigLu¨neburg weiterhin hannoversche Truppen zur Sicherheit in Osnabru¨ck zu belassen – mo¨glichst unter Befehl des Stadtrates.2 Die Erregung war aus Sicht der kurfu¨rstlichen Ra¨te also kaum u¨bertrieben, zumal im Vergleich mit den Erfahrungen im benachbarten Mu¨nster, dessen Bischofsstuhl wie der von Paderborn 1719 an Clemens August gefallen war und das schon 1661 sa¨mtliche sta¨dtischen Freiheiten verloren hatte.3 Und anders als Ko¨ln, wo Clemens August als Erzbischof immerhin Zugriff auf die Hohe Gerichtsbarkeit und damit einen Fuß im Stadttor hatte,4 war Osnabru¨ck keine Freie oder Reichsstadt, sondern als Hauptstadt Teil des Landes. Das Ansinnen der Reichsstandschaft hatte der Osnabru¨cker Rat zwar im Laufe der Verhandlungen zum Westfa¨lischen Frieden ins Auge gefasst, angesichts der notwendigen hohen Bestechungsgelder und anderen Unwa¨gbarkeiten aber fallen gelassen. Statt dessen zielte der Rat auf die reichsrechtliche Absicherung der alten Privilegien, die mehr Freiheit boten, als manche Reichsstadt hatte, und zudem die Reichssteuern sparte. 1 Zitiert nach Ronald G. Asch, Osnabru¨ck zwischen Westfa¨lischem Frieden und Siebenja¨hrigem Krieg,

in: Geschichte der Stadt Osnabru¨ck, hg. v. Gerd Steinwascher, Belm 2006, S. 229–266, hier S. 258.

2 Vgl. ebd., S. 257f. Zur besonderen Osnabru¨cker Situation mit der alternierenden Herrschaft von katho-

lischen und protestantischen Bischo¨fen Mark Alexander Steinert, Die alternative Sukzession im Hochstift Osnabru¨ck. Bischofswechsel und das Herrschaftsrecht des Hauses Braunschweig-Lu¨neburg in Osnabru¨ck 1648–1802 (OsnGQF 47), Osnabru¨ck 2003. 3 Siehe Erwin Gatz, Clemens August, Herzog von Bayern, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches. 1648–1803, hg. v. Dems., Berlin 1990, S. 63–66; Norbert Reimann, Die Haupt- und Residenzstadt an der Wende zum 18. Jahrhundert, in: Geschichte der Stadt Mu¨nster, Bd. 1, hg. v. Franz-Josef Jakobi, Mu¨nster 1993, S. 325–363, hier S. 325–333. 4 Zu Ko¨ln siehe Gerd Schwerhoff, Die goldene Freiheit der Bu¨rger: Zu den Bedeutungsebenen eines Grundwertes in der stadtko¨lnischen Geschichte (13. – 17. Jahrhundert), in: Stadtregiment und Bu¨rgerfreiheit. Handlungsspielra¨ume in deutschen und italienischen Sta¨dten des Spa¨ten Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit (Bu¨rgertum 7), hg. v. Klaus Schreiner/Ulrich Meier, Go¨ttingen 1994, S. 84–119, hier S. 90–98.

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Karsten Igel

Ein Ansinnen, das schließlich im Osnabru¨cker Friedensinstrument von 1648 und mit der Nu¨rnberger Capitulatio Perputa von 1650 als immerwa¨hrendes Grundgesetz des Hochstifts Osnabru¨ck gelang.5 Festgeschrieben wurde hier eine Freiheit, die Osnabru¨ck seit dem Spa¨tmittelalter besaß. So irrten die Ra¨te Clemens Augusts letztlich in ihrer Erregung, denn ein Sonderfall innerhalb des Reiches war Osnabru¨ck la¨ngst.6 Zentrales Interesse des Stadtrates war es, diesen Status zu wahren und die besta¨ndigen Versuche der wechselnden Landesherren, einzelne Steine aus der schu¨tzenden Verfassungsmauer zu schlagen, abzuwehren.7 Außergewo¨hnlich war nicht nur der hohe Grad von Autonomie und Autokephalie, den Osnabru¨ck bis an das Ende des Alten Reiches retten konnte, ohne eben Reichsstadt oder Freie Stadt zu sein.8 Denn wa¨hrend der Landesherr auf Eingriffsmo¨glichkeiten in die Geschicke der Stadt weitgehend verzichten musste,9 so musste er selbst die Mitsprache der Hauptstadt in den Angelegenheiten des Landes, zumal der Besteuerung, erdulden.10 Der noch im 18. Jahrhundert merkliche Status von Osnabru¨ck fußte auf den spa¨tmittelalterlichen Verha¨ltnissen, als die Stadt dank der fu¨r sie gu¨nstigen Macht-

5 Dazu Gerd Steinwascher, Osnabru¨ck und der Westfa¨lische Frieden. Die Geschichte der Verhand-

lungsstadt 1641–1650 (OsnGQF 42), Osnabru¨ck 2000, S. 279–354; Wolfgang Seegru¨n/Gerd Steinwascher, 350 Jahre Capitulatio perpetua Osnabrugensis (1650–2000) (OsnGQF 41), Osnabru¨ck 2000. 6 So Gerhard Dilcher, vgl. Karl S. Bader/Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bu¨rger und Bauer im alten Europa (Enzyklopa¨die der Rechts- u. Staatswiss.: Abteilung Rechtswiss.), Berlin 1999, S. 756f. 7 Zur U ¨ bersicht Asch, Osnabru¨ck (wie Anm. 1); Christine van den Heuvel, Osnabru¨ck am Ende des Alten Reichs und in hannoverscher Zeit, in: Geschichte der Stadt Osnabru¨ck (wie Anm. 1), S. 313–444, hier S. 314–341. 8 Zur Begrifflichkeit der Freien Stadt siehe Peter Moraw, Reichsstadt, Reich und Ko¨nigtum im spa¨ten Mittelalter, in: ZHF 6 (1979), S. 413; ders., Zur Verfassungsposition der Freien Sta¨dte zwischen Ko¨nig und Reich, besonders im 15. Jahrhundert, in: Res publica. Bu¨rgerschaft in Stadt und Staat. Tagung der Vereinigung fu¨r Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. Ma¨rz 1987 (Beih. zu „Der Staat“ 8), Redaktion Gerhard Dilcher, Berlin 1988, S. 11–39; Eberhard Isenmann, Reichsstadt und Reich an der Wende vom spa¨ten Mittelalter zur fru¨hen Neuzeit, in: Mittel und Wege fru¨her Verfassungspolitik (Spa¨tmittelalter und Fru¨he Neuzeit 9: Kleine Schriften 1), hg. v. Josef Engel, Stuttgart 1979, S. 9–223, hier S. 24–31; ders., Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Ko¨ln/Weimar/Wien 2012, S. 289–293; zu Kathedralstadt und Bischof siehe auch J. Jeffrey Tyler, Lord of the sacred City. The Episcopus Exclusus in late medieval and early modern Germany (Studies in medieval and reformation thought 72), Leiden/ Boston/Ko¨ln 1999. 9 Allerdings konnte Ernst August I. ab 1665 die Einrichtung einer Garnison in der Stadt durchsetzen, vgl. Asch, Osnabru¨ck (wie Anm. 1), S. 235f., sowie ders., Von „Brummba¨rten“, „Ketzermachern“ und „Tellerleckern“ oder Konflikt und Konsens in Zeiten des Niedergangs. Die Stadt Osnabru¨ck zwischen Westfa¨lischem und Siebenja¨hrigem Krieg, in: OsnMitt 108 (2003), S. 97–119. 10 Vgl. Bader/Dilcher, Land und Stadt (wie Anm. 6), S. 756; Harriet Rudolph, „Eine gelinde Regierungsart“. Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium. Das Hochstift Osnabru¨ck (1716–1803) (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 5), Konstanz 2001, S. 53–55; grundsa¨tzlich dazu Christine van den Heuvel, Beamtenschaft und Territorialstaat. Beho¨rdenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabru¨ck 1550–1800 (OsnGQF 24), Osnabru¨ck 1984; sie verweist aber auch auf den tiefen Einschnitt in die sta¨dtische Autonomie im Blick auf die Milita¨rhoheit unter Ernst August I., vgl. ebd., S. 114–116.

Sta¨dtische Herrschaft im Hochstift Osnabru¨ck

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verha¨ltnisse eine dominante Position innerhalb des Hochstifts einnehmen konnte.11 Anders als Soest (oder zuna¨chst auch Ko¨ln) stand Osnabru¨ck keinem allzu machtvollen Bischof als Landes- und Stadtherrn gegenu¨ber. Und anders als das in vielen Facetten a¨hnliche Mu¨nster vertrat Osnabru¨ck im Hochstift den dritten Stand weitgehend allein.12 Von den beiden na¨chst gro¨ßeren Sta¨dten des Landes konnte Wiedenbru¨ck kaum eine merkliche Rolle gegenu¨ber der Hauptstadt spielen und die Quakenbru¨cker Burgmannen waren Teil der Ritterschaft.13 Das in vielem vergleichbare Mu¨nster konnte sich zwar auf zwo¨lf weitere Sta¨dte des Oberstifts stu¨tzen, die sich 1370 erstmals in der Landesvereinigung mit Domkapitel und Mitgliedern der Ritterschaft zusammengeschlossen hatten, musste im Zweifelsfall aber auch deren politische Lage beru¨cksichtigen und war so in der Handlungsfreiheit eingeschra¨nkter, wie es sich im Zuge der Soester Fehde und der Mu¨nsterschen Stiftsfehde um die Mitte des 15. Jahrhunderts zeigte.14 Andererseits warf die geringere Gro¨ße des Osnabru¨cker Hochstifts auch Probleme auf: Die finanziell schwache Stellung der Bischo¨fe fu¨hrte vor allem im 14. Jahrhundert zu einer regelrechten Verpfa¨ndungspolitik, in deren Folge die Stiftsschlo¨sser immer wieder in die Hand der benachbarten und bis um 1400 u¨berma¨chtigen Grafen von Tecklenburg gelangten.15 Die preka¨re Situation des Hochstifts, das so Gefahr lief, unter die Oberhoheit Tecklenburgs zu geraten, forderte die milita¨rischen und finanziellen Ressourcen der Stadt als potenteste

11 Als U ¨ bersicht zum spa¨tmittelalterlichen Osnabru¨ck: Dietrich W. Poeck, Osnabru¨ck im spa¨ten Mittel-

alter, in: Geschichte der Stadt Osnabru¨ck, hg. v. Gerd Steinwascher, Belm 2006, S. 87–160; angesichts der tiefen Quellenerschließung ist immer noch Hermann Rothert, Geschichte der Stadt Osnabru¨ck im Mittelalter. Erster Teil, in: OsnMitt 57 (1937), S. 1–325, sowie ders., Geschichte der Stadt Osnabru¨ck im Mittelalter. Zweiter Teil, in: OsnMitt 58 (1938), S. 1–433, heranzuziehen, insbesondere zur sta¨dtischen Außenpolitik und zum Verha¨ltnis zu Bischof und Hochstift. Im Blick auf das Domkapitel fu¨r die fru¨he Phase Renate Schindler, Studien zum Osnabru¨cker Domkapitel bis zum Jahre 1350, Diss. masch., Bonn 1996. 12 Zu Soest: Wilhelm Janssen, Soest – „Hauptstadt“ des Erzstifts Ko¨ln rechts des Rheins, in: Soest. Geschichte der Stadt. Band 1: Der Weg ins sta¨dtische Mittelalter. Topographie, Herrschaft, Gesellschaft, hg. v. Wilfried Ehbrecht in Verbindung mit Gerhard Ko¨hn und Norbert Wex (Soester Beitr. 52), Soest 2010, S. 243–288; Heinz-Dieter Heimann, Die Soester Fehde, in: Soest. Geschichte der Stadt. Band 2: Die Welt der Bu¨rger. Politik, Gesellschaft und Kultur im spa¨tmittelalterlichen Soest, hg. v. Heinz-Dieter Heimann in Verbindung mit Wilfried Ehbrecht und Gerhard Ko¨hn (Soester Beitr. 35), Soest 1996, S. 173–260; zu Ko¨ln: Manfred Groten, Ko¨ln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (StF A36), Ko¨ln/Weimar/Wien 1998, S. 112–123; Schwerhoff, Freiheit (wie Anm. 4), S. 58–92. 13 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 64. 14 Zur U ¨ bersicht Ursula Meckstroth, Das Verha¨ltnis der Stadt Mu¨nster zu ihrem Landesherrn bis zum Ende der Stiftsfehde (QFGMu¨nst NF 2), Mu¨nster 1962, S. 1–196; Rudolfine von Oer, Zur Stellung der Sta¨dte in der landsta¨ndischen Verfassung des Hochstifts Mu¨nster vor dem 30ja¨hrigen Krieg. Innersta¨dtische und zwischensta¨ndische Konflikte um Verteidigungslasten, in: Mentalita¨ten und Lebensverha¨ltnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Festschrift fu¨r Rudolf Vierhaus, Go¨ttingen 1982, S. 108–120; zu den beiden Konflikten mit Quellenedition: Joseph Hansen, Westfalen und Rheinland im 15. Jahrhundert. Erster Band: Die Soester Fehde (PublPrStA 34), Leipzig 1888; ders, Westfalen und Rheinland im 15. Jahrhundert. Zweiter Band: Die Mu¨nsterische Stiftsfehde (PublPrStA 42), Leipzig 1890. 15 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 213–224; Klaus Scholz, Das Spa¨tmittelalter, in: Westfa¨lische Geschichte, Bd. 1: Von den Anfa¨ngen bis zum Ende des Alten Reichs, hg. v. Wilhelm Kohl, Du¨sseldorf 1983, S. 403–468, hier S. 410f. sowie S. 438–440.

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Kraft innerhalb des Landes bis an ihre Grenzen. Fu¨r den Osnabru¨cker Rat folgte aus den Belastungen wie aus der wirtschaftlich und politisch fu¨r die Stadt notwendigen engen Bindung an das Hochstift spa¨testens seit dem 15. Jahrhundert die Forderung nach einer sta¨rkeren Beteiligung an der territorialen Herrschaft. Ziel war nicht nur eine Beteiligung an den Wahlkapitulationen, sondern auch Einfluss auf die Wahl des Bischofs nehmen zu ko¨nnen.16 Die Mo¨glichkeiten hierzu waren in einem eng verflochtenen Feld verschiedener Gruppen und Akteure auszutarieren. Im Domkapitel – als erstem Stand und seit dem 13. Jahrhundert alleinig zur Bischofswahl berechtigte Korporation – war in erster Linie die Osnabru¨cker Ritterschaft vertreten, daneben einzelne Abko¨mmlinge westfa¨lischer Dynasten wie der Grafen von Diepholz und schließlich noch immer Mitglieder der Osnabru¨cker Geschlechter, auch wenn das Kapitel sich seit dem fru¨hen 15. Jahrhundert zunehmend gegenu¨ber den bu¨rgerlichen Familien abzugrenzen suchte.17 Die Wahl des zumeist aus westfa¨lischen Dynastenfamilien stammenden Bischofs barg die Chance, Bu¨ndnisse zu schließen, einen starken oder schwachen Herrn zu ku¨ren. Der Erfolg solcher „politischen“ Versuche hing freilich an vielen seidenen Fa¨den, Koalitionen waren flu¨chtig und im Falle eines Bischofs als Knotenpunkt hingen sie nicht zuletzt an seiner Lebensspanne und den Unwa¨gbarkeiten einer Neuwahl, samt der pa¨pstlichen Besta¨tigung. Aus der Gegenperspektive zielten die Dynasten auf die Bischofsstu¨hle, um ihre Einflussra¨ume zu erweitern. In Westfalen galt dies im 15. Jahrhundert insbesondere fu¨r die Grafen von Diepholz, Hoya und Moers, die zwischen 1410 und 1482 durchweg den Osnabru¨cker Bischofsstuhl besetzten, und von denen die letzteren beiden das benachbarte Hochstift Mu¨nster in die langja¨hrige Stiftsfehde zogen.18 Im Wechselspiel gegenseitiger Interessen boten die Dynasten und die jeweiligen Stiftssta¨nde, vor allem die Domkapitel und die (Kathedral-)Sta¨dte, sich gegenseitig als potentielle Bu¨ndnispartner an.19

16 Zur Entwicklung der Bischofswahl und der Wahlkapitulationen vgl. Michael Kissener, Sta¨ndemacht

und Kirchenreform. Bischo¨fliche Wahlkapitulationen im Nordwesten des Alten Reichs (Go¨rrGes NF 67), Paderborn/Mu¨nchen/Wien/Zu¨rich 1993, S. 25–31, S. 42–45 sowie S. 98–105; Bernd-Ulrich Hergemo¨ller, Pfaffenkriege im spa¨tmittelalterlichen Hanseraum. Quellen und Studien zu Braunschweig, Osnabru¨ck, Lu¨neburg und Rostock, 2 Bde. (StF C 2), Ko¨ln/Wien 1988, hier Bd. 1, S. 83–111. Fu¨r die fru¨he Phase auch Schindler, Domkapitel (wie Anm. 11), S. 49–52, sowie Karsten Igel, Gemeindebildung in der Kathedralstadt. Osnabru¨ck im 12. und fru¨hen 13. Jahrhundert, in: OsnMitt 117 (2012), S. 9–37, hier S. 18–21 sowie S. 35f. 17 Dazu Lambert Huys, Das Verha¨ltnis von Stadt und Kirche in Osnabru¨ck im spa¨ten Mittelalter (1225–1500), Leipzig 1936, S. 5f.; Christian Hoffmann, Ritterschaftlicher Adel im geistlichen Fu¨rstentum. Die Familie von Bar und das Hochstift Osnabru¨ck (OsnGQF 39), Osnabru¨ck, 1996, S. 52–55. 18 Zur U ¨ bersicht: Scholz, Spa¨tmittelalter (wie Anm. 15), S. 434–439; Hermann Rothert, Westfa¨lische Geschichte. Erster Band: Das Mittelalter, Neudruck Osnabru¨ck 1986, S. 366–391; Hansen, Stiftsfehde (wie Anm. 14), S. 1–139. 19 Dies sei hier erst einmal auf den westfa¨lischen Raum mit seiner besonders hohen Dichte der geistlichen Herrschaften bezogen. Daru¨ber hinaus finden sich Ansa¨tze bspw. in den Arbeiten von Dorothea M. Schaller-Hauber, Der Straßburger Bistumsstreit 1393/94. Ein Beispiel zum Bischofswahlrecht des Domkapitels im Spa¨tmittelalter, Ostfildern 2011; Maximilian Gloor, Politisches Handeln im spa¨tmittelalterlichen Augsburg, Basel und Straßburg (Heidelberger Vero¨ffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde 15), Heidelberg 2010.

Sta¨dtische Herrschaft im Hochstift Osnabru¨ck

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Welche Rolle die Stadt Osnabru¨ck in den herrschaftlichen Verflechtungen innerhalb des eigenen Hochstifts aber auch daru¨ber hinaus im weiteren westfa¨lischen Raum zu spielen vermochte, la¨sst sich exemplarisch an den Entwicklungen der ersten Ha¨lfte des 15. Jahrhunderts nachvollziehen, als es mit der Dombelagerung von 1424 und der Osnabru¨cker Stiftsfehde von 1441 mit ihren Folgen jeweils zu Zuspitzungen und Zusammensto¨ßen der verschiedenen herrschaftlichen Interessen kam. Grundlage fu¨r das sta¨dtische Vorgehen und die unabha¨ngige Position der Kommune war die sehr offene Verfasstheit zwischen Stadt, Bischof und Territorium. Aus ihr entwickelten sich Handlungsra¨ume jenseits der Stadtmauern, sie warf aber ebenso Anforderungen auf, um die sta¨dtische Position dauerhaft zu sichern. Das Verha¨ltnis von Stadt und Bischof, in das auch das Reich als Bezugsebene hineinspielte, ist daher zuvor ein wenig ausfu¨hrlicher zu beleuchten.20

I. Zwischen Bischof und Reich – Positionierung im Territorium

Als eyn vry stad bezeichnete 1430 der Ritter und Osnabru¨cker Bu¨rger Cord von Langen die Stadt in einer Klageschrift an den Rat.21 Eine Benennung, die sich als Selbstbezeichnung durch den Rat nicht findet. Vielmehr betonte er in der Ansprache des Bischofs als „unseres Herrn“ die Zugeho¨rigkeit zum Hochstift als Teil der Sta¨nde.22 Faktisch hatte Cord von Langen allerdings durchaus Recht. Die Blutgerichtsbarkeit, die auch ihm drohte, hatte der Rat wie das Willku¨rrecht spa¨testens seit der Zeit um 1300 vollsta¨ndig in der Hand.23 Grundlage fu¨r beides war das 1171 von Friedrich Barbarossa verliehene ius de non evocando, nach dem Osnabru¨cker Bu¨rger nach eigener sta¨dtischer Rechtsgewohnheit nur vor dem eigenen sta¨dtischen Gericht oder dem 20 Ausgeblendet bleiben hier innersta¨dtische Konflikte, die mitunter in weitra¨umigere Fehden und

Rechtsha¨ndel verflochten waren oder kurzzeitig die u¨berkommene Ratsherrschaft infrage stellte. Im Verlauf der ersten Ha¨lfte des 15. Jahrhunderts ist dabei besonders an den langja¨hrigen Konflikt mit dem ritterbu¨rtigen Bu¨rger Cord von Langen sowie den Rampendahl-Aufruhr von 1430/31 zu denken, vgl. Willi Wachter, Cord von Langes Kampf mit Osnabru¨ck und Dortmund um das Recht. Ein Beitrag zum Faustrecht und Femewesen des 15. Jahrhunderts, in: OsnMitt 61 (1941), S. 1–83; HansBernd Meier, Unruhen und Aufstand in Osnabru¨ck im 15. und 16. Jahrhundert, in: OsnMitt 89 (1983), S. 60–121; Poeck, Osnabru¨ck (wie Anm. 11), S. 124–126. 21 Zitiert nach Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 60; ebenso adressierte 1467 der Edelherr Bernhard VII. zur Lippe einen Brief an den Osnabru¨cker Rat frigenstait, so Ossenbrugge benompt is, vgl. ebd. 22 So im dicht u¨berlieferten Briefverkehr des Rates der vierziger und fu¨nfziger Jahre des 15. Jahrhunderts, NLA, StaatsA Osnabru¨ck Dep 3b IV Nr. 354. Bei dem als Altsta¨dter Bu¨rgerbuch betitelten Band, handelt es sich in der Erstanlage der 1440er Jahre um das Briefbuch des Osnabru¨cker Rates mit den Kopien mehrerer Hundert ein- und ausgehender Briefe. Als Briefbuch benannt und benutzt wurde es bereits von Hansen, Stiftsfehde (wie Anm. 14), mit der Edition einiger Briefe sowie von Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11). 23 So sanktionierte der Osnabru¨cker Rat zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einer Willku¨r Aufsta¨nde gegen ihn mit der Todesstrafe: Das a¨lteste Stadtbuch von Osnabru¨ck. Das Legerbuch des Bu¨rgermeisters Rudolf Hammacher zu Osnabru¨ck, hg. v. Erich Fink (OsnGQ 4), Osnabru¨ck 1927, S. 17f.

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Ko¨nig selbst angeklagt werden durften. Bezogen hatte sich das Privileg urspru¨nglich wohl ausschließlich nur auf die niedere Gerichtsbarkeit, in seiner offenen Formulierung bot es jedoch ausreichend Deutungsspielraum, um aus ihm weitestgehende Rechte abzuleiten, sofern die Kommune sie denn durchsetzen konnte. Behaupten ließen sich darauf sowohl die volle hohe und niedere Gerichtsbarkeit, wie auch die Freiheit eigensta¨ndiger Rechtssetzung. Da die Bu¨rgerschaft das Privileg zudem ohne eine erkennbare Vermittlerfunktion des Bischofs erhalten hatte, spannte es eine unmittelbare Beziehung zwischen der Stadt und dem Herrscher bzw. dem Reich auf.24 Gleiches gilt fu¨r das zweite so genannte Barbarossa-Privileg, auf dem die Stadt ihr eigensta¨ndiges Befestigungsrecht gru¨ndete. Tatsa¨chlich scheint der Osnabru¨cker Rat sich das Privileg erst 1280 am Wiener Hof Rudolfs von Habsburg mit einer unbesehenen Besta¨tigung erschlichen zu haben. Kaum zufa¨llig geschah dies, als die Stadt in einem Konflikt mit ihrem Bischof Konrad II. v. Rietberg stand. Das fingierte Privileg bot sich als probates politisches Mittel zur Betonung der sta¨dtischen Autonomie an.25 Konflikt und Konsens lagen aber auch in Osnabru¨ck im Zusammenspiel der Stadt mit jenem Bischof Konrad II. nicht weit auseinander. Nachdem noch im Februar ¨ ber1282 Bischof und Domkapitel einen Vertrag zum Schutz der Geistlichkeit vor U 26 griffen der Laien geschlossen hatten, boten im Sommer 1282 die klammen Kassen der Grafen von Tecklenburg Konrad II. die Gelegenheit, deren Hauptfeste in Pfand zu nehmen. Eine Schwa¨chung der noch bedrohlich ma¨chtigen Grafen und ehemaligen Osnabru¨cker Stadtvo¨gte du¨rfte ebenso im sta¨dtischen Interesse gelegen haben.27 Konrad II. von Rietberg war seinerseits auf die finanzielle Unterstu¨tzung aus der Stadt angewiesen, aber – nun erkennbar – auch auf deren Zustimmung. So erfolgten ab 1282 mehrere Verka¨ufe von Land seitens des Bischofs mit Konsens von Kapitel, Ministerialen und Bu¨rgern, um die Kosten fu¨r die Pfandsumme und fu¨r sa¨umige Zahlungen an die Kurie decken zu ko¨nnen.28 Nachdem die Tecklenburg 1291 zuru¨ck in

24 Zur Bedeutung des Privilegs siehe Ferdinand Opll, Stadt und Reich im 12. Jahrhundert (1125–1190)

(Forsch. z. Kaiser- u. Papstgesch. d. Mittelalters 6), Wien/Ko¨ln/Graz 1986, S. 128–131, sowie Igel, Gemeindebildung (wie Anm. 16), S. 25–29. 25 Siehe Igel, Gemeindebildung (wie Anm. 16), S. 29f. Zu Konrad II. v. Rietberg siehe Bernd-Ulrich Hergemo¨ller/Gundela Boreth, Konrad von Rietberg, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches. 1198 bis 1448, hg. v. Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 527f.; zu den zeitgeno¨ssischen westfa¨lischen Wehrbu¨nden, an denen sich Osnabru¨ck seit 1277 neben Dortmund, Mu¨nster und Soest beteiligte vgl. Ju¨rgen Karl W. Berns, Propter communem utilitatem. Studien zur Bu¨ndnispolitik der westfa¨lischen Sta¨dte im Spa¨tmittelalter (Studia humaniora 16), Du¨sseldorf 1991, S. 57–64. 26 Die Urkunden der Jahre 1281–1300 und Nachtra¨ge, hg. v. Max Ba¨r (OsnUB 4), Osnabru¨ck 1902, Nr. 47 vom 16. Februar 1282; dazu Schindler, Domkapitel (wie Anm. 16), S. 136–140. 27 Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 42f.; Schindler, Domkapitel (wie Anm. 16), S. 139f.; die Stadt hatte schon eine entscheidende Rolle bei der Ablo¨sung der tecklenburgischen Vogtei u¨ber Stadt und Hochstift gespielt, vgl. ebd., S. 78–80, sowie Diana Zunker, Adel in Westfalen. Strukturen und Konzepte von Herrschaft (1106–1235) (HStud 472), Husum 2003, S. 224f. 28 OsnUB 4 (wie Anm. 26), Nr. 68 und Nr. 69, beide vom 18. Juli 1282 mit ausdru¨cklicher Erwa¨hnung der Verwendung fu¨r den Pfand der Tecklenburg, sowie Nr. 101 vom 11. August 1283; Nr. 106 vom 4. Oktober 1283; Nr. 108 und Nr. 109 vom 15. Oktober 1283; Nr. 110 vom 21. Oktober 1283; Nr. 11 vom 3. November 1283; als Ka¨ufer traten je einmal das Domkapitel und das vom Rat verwaltete Heiliggeist-Hospital, in den u¨brigen Fa¨llen Osnabru¨cker Bu¨rger auf; dazu auch Schindler, Domkapitel (wie Anm. 16), S. 149–151. Hinweise auf einen bu¨rgerlichen Konsens bei bestimmten bischo¨flichen

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die Ha¨nde der Grafen gelangt und das Geld verloren war,29 brach der Konflikt zwischen Stadt und Bischof allerdings neuerlich hervor. Im Ma¨rz 1295 verbu¨ndete sich die Stadt mit dem Grafen Otto v. Ravensberg auf die Lebenszeit des Bischofs und das Domkapitel schloss sich Ende des folgenden Jahres dem Bund an. Angesichts ¨ bermacht erkannte Konrad II. im Ma¨rz 1297 in mehreren Vertra¨gen die Rechte der U der Sta¨nde an, auch ihr Recht, sich gegen ihn als Landesherrn zu verbu¨nden. Weitere Auswirkungen hatte dies nicht mehr, der unterworfene Bischof starb wenige Wochen darauf.30 Deutlich war aber, dass die Stadt sich nicht nur la¨ngst aus der bischo¨flichen Stadtherrschaft gelo¨st hatte, sondern zu einer der bestimmenden Kra¨fte im Herrschaftsgefu¨ge des Hochstifts geworden war.31 Zum Nachfolger Konrads II. wa¨hlte das Domkapitel den Bruder des Grafen Otto v. Ravensberg, Ludwig, bis 1294 Propst des Johannisstiftes in der Neustadt Osnabru¨ck und dann Dompropst von Minden.32 Mit ihm hatte die Stadt schon 1295 gemeinsam Fehde gefu¨hrt und seine Wahl erscheint fast konsequent aus den vorherigen Bu¨ndnissen, ohne dass allerdings etwas auf eine irgendwie geartete Mitwirkung des Rates deuten wu¨rde.33 Als Bundesgenossen gingen Stadt und Bischof mit weiteren Verbu¨ndeten gegen Graf Simon I. zur Lippe vor, der 1302 in sta¨dtische Haft gesetzt wurde.34 Gemeinsam widerstanden sie auch 1308 auf dem Haler Feld – vom Domkapitel und der Mehrheit der Ritterschaft im Stich gelassen – einem u¨berma¨chtigen Bu¨ndnis des Bischofs von Mu¨nster, der Grafen von Tecklenburg und von der Mark sowie weiterer westfa¨lischer Herren einschließlich der Stadt Mu¨nster.35 So fanden sich die beiden seit 1246 immer wieder verbu¨ndeten Sta¨dte in feindlichen Lagern wieder,36 fu¨r beide erwies sich die Bindung zum bischo¨flichen Territorium im Zweifelsfall als wichtiger.37 Rechtsgescha¨ften deuten sich aber schon in der zweiten Amtszeit Bischof Engelberts II. v. Isenberg (1239–1250) an, vgl. ebd., S. 92. 29 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 43–45; dazu auch Christel Maria von Graevenitz, Die Landfriedenspolitik Rudolfs von Habsburg (1273–1291) am Niederrhein und in Westfalen (RhArch 146), Ko¨ln/Weimar/Wien 2003, S. 245. 30 Schindler, Domkapitel (wie Anm. 16), S. 153–156. 31 Wohl kaum zufa¨llig wurde auch in diesem Jahr das Stadtbuch als Willku¨r- und Rechtsbuch angelegt, Fink, Stadtbuch (wie Anm. 23), S. XIIIf. 32 Bernd-Ulrich Hergemo ¨ ller/Gundela Boreth, Ludwig von Ravensberg, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 528f. 33 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 45 und S. 187. 34 Im Gegenzug zu seiner Freilassung musste er 1305 Stadt und Bischof Frieden geloben sowie eine Entscha¨digung von 4000 Mark zahlen, vgl. ebd., S. 188f.; Ulrich Meier, „Der Eckstein ist gekommen ...“ Die Konsolidierung der Herrschaft Lippe im 13. Jahrhundert, in: Lippe und Livland. Mittelalterliche Herrschaftsbildung im Zeichen der Rose, hg. v. Jutta Prieur (Sondervero¨ff. des Naturwiss. u. HV fu¨r d. Land Lippe e. V. 82), Bielefeld 2008, S. 46–64, hier S. 62. Vermutlich schon fu¨r Simon I. zur Lippe wurde der sogenannte Johanniskasten im Osnabru¨cker Bucksturm gefertigt, in dem dann auch in den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts Graf Johann v. Hoya mehr als sechs Jahre gefangen gehalten wurde. Freundliche Mitteilung von Bruno Switala, Osnabru¨ck. 35 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 189–193. 36 Zu den Sta¨dtebu¨nden zwischen Mu¨nster und Osnabru¨ck siehe Berns, Bu¨ndnispolitik (wie Anm. 25), S. 24–67. 37 Mu¨nster suchte in den folgenden Jahren Osnabru¨ck die weitere enge Verbundenheit zu versichern. So in einem Brief von etwa 1310, abgedruckt in: Urkundenbuch der Stadt Osnabru¨ck 1301–1400,

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Faktisch konnte Osnabru¨ck seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert vo¨llig frei agieren und war fu¨r den jeweiligen Bischof unverzichtbarer, weil innerhalb des Hochstifts potentester Bundesgenosse.38 Spa¨testens seit den 1280er Jahren scheint eine Mitbestimmung der Stadt in den bischo¨flichen Angelegenheiten u¨blich geworden zu sein. Wie weit der Rat versuchte, zumindest informell Einfluss auf die Wahl des Bischofs zu nehmen, la¨sst sich fu¨r das 14. Jahrhundert aber kaum den Quellen entnehmen. Im Jahr 1349 unterstu¨tzten Ritterschaft und Stadt die an Papst Clemens VI. gerichtete Bitte des Domkapitels, den Domdekan Konrad v. Essen zum Bischof zu erheben.39 Die Sta¨nde mussten sich jedoch mit dem pa¨pstlichen Kandidaten Johann Hoet abfinden,40 der sich politisch nicht durchsetzen konnte und – nachdem seine Ma¨nner einen Bu¨rger und dessen Knecht auf der Iburg hingerichtet hatten – sich 1356 einer Su¨hne der Stadt regelrecht unterwerfen musste: Neben einer Buße von 100 Mark gewa¨hrte er den Bu¨rgern das Recht, sich im Hochstift auf frischer Tat selbst zu helfen, zudem musste er im Rathaus den versammelten Rat fo¨rmlich um Verzeihung bitten.41 Mit dem bischo¨flichen Canossa-Gang waren die tatsa¨chlichen Machtverha¨ltnisse im Land bloßgestellt, zugleich fehlte aber nun die starke Perso¨nlichkeit im Zentrum des Hochstifts, auf die sich die Interessen der Parteien fokussieren konnten.42 Zu Beginn des Episkopats Dietrichs v. Horne (1376–1402) fanden sich dann fast sa¨mtliche Stiftsschlo¨sser in der Hand des Grafen Otto v. Tecklenburg, der laut Ertwin Ertmann den Bischof aufforderte, sich auf sein geistliches Amt zuru¨ckzuziehen und den Tecklenburger Grafen seine Herrschaftsrechte und Einnahmen zu u¨berlassen, wofu¨r der Bischof eine ja¨hrliche Zahlung erhalten sollte.43 Das Hochstift wa¨re

hg. v. Horst-Ru¨diger Jarck (OsnUB 6), Osnabru¨ck 1989, Nr. 98. Der Osnabru¨cker Rat wiederum verschwieg die Stadt Mu¨nster in der Auflistung der Feinde, als am Jahrestag der Schlacht eine große Geda¨chtnisstiftung eingerichtet wurde: Fink, Stadtbuch (wie Anm. 23), S. 88–90, in der Stiftung dankte der Rat fu¨r die Unterstu¨tzung durch die Patrone Osnabru¨cks: Petrus und Paulus sowie Crispin und Crispinian. Die Einbeziehung von Paulus, Haupt-Patron von Bistum und Stadt Mu¨nster, betonte zugleich aber auch gegenu¨ber Mu¨nster die Gerechtigkeit des Krieges. 38 Zum milita¨rischen Potential der Stadt siehe Heinrich Blo ¨ mker, Die Wehrverfassung der Stadt Osnabru¨ck bis zum Westfa¨lischen Frieden, in: OsnMitt 53 (1932), S. 1–116; Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 113–133; Volker Schmidtchen, Das Wehr- und Wachtwesen niedersa¨chsischer Sta¨dte in Spa¨tmittelalter und fru¨her Neuzeit am Beispiel von Osnabru¨ck und Lu¨neburg, in: Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bu¨rgertums in Norddeutschland 1150–1650, hg. v. Cord Meckseper, StuttgartBad Cannstatt 1985, Bd. 4, S. 287–300, hier S. 289–294. 39 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 205; Schindler, Domkapitel (wie Anm. 16), S. 200–203. 40 Bernd-Ulrich Hergemo ¨ ller/Imke Lange, Johann Hoet, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 529f. 41 OsnUB 6 (wie Anm. 37), Nr. 631 vom 11. April 1356: [...] Vortmer so sole wy gan uppe dat hus des stades van Osembrugghe vor den raet tho Osemruggh unde biddenze umme den unmot, de ze tho uns hebbet, dat ze den varen laten unde laten uns dat verdeynen [...], vgl. auch Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 206f. 42 Ab 1361 wurde Dietrich von der Mark dem Bischof als Stiftsverweser an die Seite gestellt, vgl. ebd., S. 210–212. 43 Nach Heinrich Schmidt, Bischof und Kirche im Spiegel norddeutscher Bischofschroniken des spa¨ten Mittelalters, in: Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Beitra¨ge zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung fu¨r Rolf Scha¨fer zum 70. Geburtstag, hg. v. Ulrich Ko¨pf, Tu¨bingen 2001, S. 29–54, hier S. 29f.; Bernd-Ulrich Hergemo¨ller, Dietrich von Horne, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 530f.

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faktisch Teil der Grafschaft Tecklenburg geworden, die Stadt ha¨tte sich umkreist von einem ma¨chtigen Dynasten wiedergefunden, auf dessen Herrschaft sie weit weniger Einfluss ha¨tte nehmen ko¨nnen als auf jene des Bischofs. Wie weit die reichsunmittelbaren Privilegien der Stadt dann noch ihr Pergament wert gewesen wa¨ren, muss dahin gestellt bleiben.44 Es sollte jedoch anders kommen, ein Vierteljahrhundert spa¨ter spielten die Tecklenburger kaum mehr eine ernsthafte Rolle im no¨rdlichen Westfalen, geschweige, dass sie Osnabru¨ck gefa¨hrlich werden konnten. Die gemeinsame Interessenslage ließen Stadt, Bischof und Domkapitel zusammenru¨cken und wiederum war es die milita¨rische und finanzielle Potenz der Stadt, die dem Hochstift ¨ berleben sicherte und schließlich im Bu¨ndnis mit Stift und Stadt Mu¨nster die das U Niederwerfung der Grafschaft Tecklenburg ermo¨glichte.45 Die Stadt stritt zwar gemeinsam und eintra¨chtig mit ihrem Bischof, sie gab ihm aber zugleich zu spu¨ren, welch starke Rolle Rat und Bu¨rgerschaft als gleichrangige Bu¨ndnispartner beanspruchten. Spa¨testens 1388 verweigerte der neugewa¨hlte Rat dem Bischof die Huldigung, wogegen sich Dietrich v. Horne an das Domkapitel wandte, das die von alters her bestehende Pflicht zur Huldigung besta¨tigte. Doch tatsa¨chlich scheint sie von da an nicht mehr erfolgt zu sein.46 Mit der Verweigerung der Huldigung war die Stadt auch aus dem Anschein einer bischo¨flichen Stadtherrschaft herausgetreten und stand faktisch als freie Stadt da. Nur bezeichnete sie sich nicht als solche, sondern benannte den Bischof weiterhin als ihren Herrn.47 Die Benennung blieb so die einzige Anerkennung des Bischofs als Herrn, die notwendig war, wollte der Rat auch weiterhin als Glied des Landes Einfluss auf dessen Geschicke nehmen. „Herr“ meinte damit mehr Landesherr, geistlicher Herr von Stadt und Dio¨zese, weniger Stadtherr, und war so Bekenntnis, Teil des Hochstifts zu sein. So konnte der Osnabru¨cker Rat mit dem Barbarossa-Privileg von 1171 zwar eine reichsunmittelbare Stellung behaupten, angesichts der unangefochtenen Position innerhalb des Hochstifts spielten Ko¨nig oder Reich jenseits der beiden grundlegenden Privilegien aber kaum eine Rolle als Legitimationsebene. Eine Einladung zu einem Reichstag ist erstmals 1430 nach Nu¨rnberg belegt, ebenso forderte Kaiser

44 Zum Vergleich ist an die Bedra¨ngung Dortmunds durch die Grafen von der Mark zu denken, vgl. Hans

Georg Kirchhoff, Die große Dortmunder Fehde 1388/89, in: Dortmund. 1100 Jahre Stadtgeschichte. Festschrift, hg. v. Gustav Luntowski/Norbert Reimann, Dortmund 1982, S. 107–128; Scholz, Spa¨tmittelalter (wie Anm. 15), S. 453. 45 Zu den Ereignissen eingehender Wolfgang Bockhorst, Geschichte des Niederstifts Mu¨nster bis 1400 (VHKomWestf 22, 17), Mu¨nster 1985, S. 91–100, sowie Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 221–223; Scholz, Spa¨tmittelalter (wie Anm. 15), S. 434. 46 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 62f.; Olaf Spechter, Die Osnabru¨cker Oberschicht im 17. und 18. Jahrhundert. Eine sozial- und verfassungsgeschichtliche Untersuchung (OsnGQF 20), Osnabru¨ck 1975, S. 6. Die Ko¨lner Bu¨rgerschaft huldigte noch 1488 dem Erzbischof, allerdings wohl auch, da die Autonomie der Stadt zu dieser Zeit nicht infrage stand, vgl. Schwerhoff, Freiheit (wie Anm. 4), S. 92. 47 Ein im Prinzip a¨hnliches Verha¨ltnis zwischen Stadt und Territorium zeigte sich in Braunschweig, auch wenn weiterhin dem welfischen Landesherrn gehuldigt wurde: Bernd Schneidmu¨ller, Reichsna¨he – Ko¨nigsferne: Goslar, Braunschweig und das Reich im spa¨ten Mittelalter, in: NdsJb 64 (1992), S. 1–52, hier S. 29–42; fu¨r Braunschweig liegt aus dem Jahr 1345 die Selbstbezeichnung als „Freie Stadt“ vor, vgl. ebd., S. 40, sowie Moraw, Verfassungsposition (wie Anm. 8), S. 19 mit Anm. 23.

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Sigismund Osnabru¨ck auf, mit einem sta¨dtischen Kontingent am Feldzug gegen die Hussiten teilzunehmen.48 Ein Ansinnen, dem die Stadt jedoch keineswegs nachkam, ebenso wie einer weiteren Einladung Albrechts II. zum Reichstag von 1438.49 Die Einladung zum Entsatz des von Karl dem Ku¨hnen belagerten Neuss erhielten Bischof und Stadt gemeinsam, und gemeinsam ließen sich Bischof und Sta¨nde von Friedrich III. besta¨tigen, dass daraus keinerlei Heeresfolge gegenu¨ber dem Reich abzuleiten sei, wie es schon Karl der Große dem Osnabru¨cker Bistum zugesichert habe. Die Stadt trat hier explizit als Teil des Hochstifts auf, um Teil an dessen Privilegien zu haben. Bis die Besta¨tigung eintraf, der Osnabru¨cker Heereszug aufbrach und tatsa¨chlich vor Neuss erschien, war freilich schon alles vorbei.50 Ein Wandel zeigte sich im 16. Jahrhundert, nachdem nicht nur das Reich sich in seiner Verfasstheit zu verdichten begonnen hatte, sondern gleiches sich auch im bischo¨flichen Territorium bemerkbar machte.51 Ein Jahr nachdem der Rat in Abstimmung mit dem Bischof, aber eigensta¨ndig, die Reformation eingefu¨hrt hatte,52 ließ er 1544 den großen, spa¨ter Kaiserpokal genannten, Kelch des Ratssilbers umarbeiten. Von nun an kro¨nte ihn Karl der Große als Gru¨nder der Stadt, am Schaft wurde ein Reichsadler angebracht und so ein ikonografischer Bezug zum Reich hergestellt.53 Vielleicht schon ebenfalls zu dieser Zeit wurde der Arnsberger Adler unter dem Schlussstein des o¨stlichen Langhausjochs der als Ratskirche fungierenden Marienkirche in einen Reichsadler umgefa¨rbt.54 Dem Osnabru¨cker Rat, der zum Wormser Reichstag von 1521 nicht nur eingeladen worden war, sondern ihn tatsa¨chlich auch beschickt hatte,55 schien es nun – anders als noch im 15. Jahrhundert – opportun, eine unabha¨ngig vom Hochstift bestehende, faktische Reichsstandschaft zu betonen, ohne aber sich als Reichsstadt zu betrachten und aus dem Hochstift lo¨sen zu wollen. Mit dem Hinweis auf eine faktische Stellung als Reichsstadt versuchte der Rat schließlich auch ab 1646 seine eingangs gestreifte Forderung nach einer Reichsstandschaft voran-

48 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 246, sowie ders., Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 63. Eine

Einladung erging bspw. auch an Go¨ttingen vgl. Die Urkunden Kaiser Sigmunds 1410–1437, verz. v. Wilhelm Altmann (RegImp 11), Bd. 2 (1424–1437), Innsbruck 1896–1900, S. 125f. 49 Albrecht II. (1438–1439), bearb. v. Gu¨nther Ho ¨ dl (RegImp 12), Wien/Ko¨ln/Graz 1975, S. 22f. 50 Vgl. Carl Stu ¨ ve, Der Zug der Osnabru¨cker nach Neuss im Jahre 1475, in: OsnMitt 17 (1892), S. 165–180; Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 296. 51 Siehe van den Heuvel, Beamtenschaft (wie Anm. 10), S. 55–68. 52 Zur Einfu¨hrung der Reformation vgl. Heide Stratenwerth, Die Reformation in der Stadt Osnabru¨ck (VInstEurG 61), Wiesbaden 1971, S. 97–108. 53 Vgl. Thorsten Heese, Kaiser-Pokal der Stadt Osnabru¨ck, in: Goldene Pracht. Mittelalterliche Schatzkunst in Westfalen, hg. v. Bistum Mu¨nster/Landschaftsverband Westfalen-Lippe/Westfa¨lische Wilhelms-Universita¨t Mu¨nster, Mu¨nchen 2012, S. 281–284. 54 Eine genaue Datierung ist leider bislang nicht mo¨glich, sondern nur grob zwischen das 16. und 19. Jahrhundert zu setzen. – Zur Baugeschichte des Gewo¨lbes vgl. Henrik Karge, Die gotische Marienkirche von Osnabru¨ck. Baugeschichtliche, historische und kunsthistorische Stellung, in: Die Marienkirche in Osnabru¨ck. Ergebnisse archa¨ologischer, bau- und kunsthistorischer Untersuchungen, hg. v. Karl Georg Kaster/Wolfgang Schlu¨ter, Bramsche 2001, S. 127–241, hier S. 182–208, allerdings geht er nicht auf die Schlusssteine ein. 55 Vgl. Johann Carl Bertram Stu¨ve, Zur Geschichte der Stadtverfassung von Osnabru¨ck, in: OsnMitt 8 (1866), S. 59.

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zutreiben.56 Wa¨hrend die Stadt diesen Weg in den beiden Jahrhunderten zuvor wohl nicht beschreiten wollte, war er ihr nun aber versperrt.

II. 1424 – Der belagerte Dom

Ihre wirtschaftliche Kraft und milita¨rische Sta¨rke hatten die Stadt Osnabru¨ck im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts im Zusammenspiel mit Bischof Dietrich v. Horne ¨ berlebensgarantin des Hochstifts werden lassen. Das sta¨dtische Engaletztlich zur U gement blieb nicht ohne finanzielle Auswirkungen, die Schuldenlast der Stadt veranlasste den Rat noch einmal, den schon zuvor schwelenden Streit um die Steuerfreiheit geistlichen Grundbesitzes zu verscha¨rfen.57 Aber ebenso folgten daraus politische Forderungen, der Rat wollte nun versta¨rkt an den herrschaftlichen Belangen des Landes beteiligt werden, u¨ber vermutlich fru¨her schon erfolgte Absprachen hinaus Einfluss auf die Wahl und vertragliche Bindung des Bischofs nehmen. Schon die Bischo¨fe Heinrich v. Holstein und Otto v. Hoya hatten 1402 bzw. 1410 ihre Wahlkapitulationen in Gegenwart der Dienstmannschaft, dreier Drosten, der Osnabru¨cker Bu¨rgermeister und zweier Bu¨rger als Zeugen geleistet – noch war die Stadt aber nicht an der Aushandlung des Wahlvertrages beteiligt worden.58 Die Beteiligung an der Wahl und der Wahlkapitulation sollte dann 1424 zum casus belli zwischen den Stiftssta¨nden werden. Vermutlich in Anbetracht der zu erwartenden Sedisvakanz – Otto v. Hoya ging wohl auf die Siebzig zu oder hatte dieses Lebensjahr bereits u¨berschritten59 – schlossen Domkapitel, Dienstmannen, Stadt Osnabru¨ck sowie Burg- und Ratsmannen von Quakenbru¨ck im November 1422 einen gegenseitigen Schutzvertrag, der im folgenden Jahr unter Einbeziehung der Burgmannen weiterer Stiftsburgen noch einmal auf zehn Jahre erneuert wurde.60 Der

56 Siehe Steinwascher, Osnabru¨ck (wie Anm. 5), S. 289–291, dabei wurden neben den Privilegien gerade

auch die Einladungen zu Reichstagen angefu¨hrt, jene von Sigismund (1430) und Karl V. (1520) wurden der Denkschrift beigelegt. 57 Zum Steuer- und Rentenstreit noch immer Huys, Stadt und Kirche (wie Anm. 17), S. 14–23; sowie Hergemo¨ller, Pfaffenkriege 1 (wie Anm. 16), S. 83–88; ausfu¨hrlich auch am Beispiel der Neustadt Osnabru¨ck und des dortigen Kollegiatstiftes St. Johann: Tobias Crabus, Das Johannisstift in der Osnabru¨cker Neustadt. Ein westfa¨lisches Kollegiatstift und seine Stellung in der Welt zwischen 1011 und dem Beginn des 15. Jahrhunderts. URN: urn:nbn:de:hbz:6–94479377238. URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6-94479377238. Datum der Einsichtnahme: 27. 3. 2011, S. 490–496. 58 Siehe Kissener, Sta¨ndemacht (wie Anm. 16), S. 42–45; Hergemo ¨ ller, Pfaffenkriege 1 (wie Anm. 16), S. 89f.; Huys, Stadt und Kirche (wie Anm. 17 ), S. 31–35. 59 Alois Schro ¨ er/Bernd-Ulrich Hergemo¨ller, Otto von Hoya, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 532f. 60 Eingesetzt wurde unter anderem ein Schiedsgericht (Sateslude) von zwo¨lf Personen, das nach Mehrheit entscheiden sollte und vier Domherren, vier Vertreter der Stadt Osnabru¨ck und je zwei der Dienstmannschaft und Quakenbru¨cks umfasste, vgl. Hergemo¨ller, Pfaffenkriege 1 (wie Anm. 16), S. 90f., gedruckt bei Johann Georg Justus Friderici/Johann Carl Bertram Stu¨ve, Geschichte der Stadt Osnabru¨ck aus Urkunden, Bd. 2, Osnabru¨ck 1817, Urkundenanhang Nr. 133.

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Ernstfall trat am 5. Oktober 1424 mit dem Tod Ottos v. Hoya ein. Die Ereignisse der ¨ berlieferung nur in Umrissen erkenfolgenden vierzehn Tage lassen sich aus der U nen. Es kam aber wohl zuna¨chst zu¨gig zu Verhandlungen aller Stiftssta¨nde mit dem designierten Elekten, dem jungen Domherrn Johann v. Diepholz, mit dem Ziel einer gemeinsam beschlossenen Wahlkapitulation vor der Wahl. Wie weit die Gespra¨che gediehen waren und eine verbindliche Form erreicht hatten, bleibt unklar. An einem bestimmten Punkt kam es aber zum Bruch. Auslo¨ser ko¨nnte ein Versprechen gewesen sein, das Dienstmannschaft und Stadt zuvor vom Domkapitel erhalten hatten, wie ein anonymer Magistratsbericht – vermutlich aus der Mitte des 17. Jahrhunderts – berichtet.61 Danach hatte das Kapitel den beiden anderen Sta¨nden angesichts der vorherigen Kriegsleistungen gelobt, [...] ohne derselbigen mitrade und vollbordt keinen herren zuerwelen [...], und auff den fall solches nicht gehalten wurde, die Ritterschafft (und Raeth) mit einander dagegen sich beschweren [...].62 Jedenfalls scheinen das Domkapitel und der ihm entstammende Elekt zu dem Schluss gekommen zu sein, auf eine Beteiligung der anderen Sta¨nde an der Wahl zu verzichten und so einen Pra¨zedenzfall zu vermeiden, der eine dauerhafte Schwa¨chung des Kapitels bedeutet ha¨tte. So kam es am 18. Oktober 1424 zur geheimen Wahl Johanns v. Diepholz, die erst mit der Altarsetzung und dem vom Glockengela¨ut begleiteten te deum o¨ffentlich wurde. Damit war die Stille gebrochen, aber vo¨llig geheim geblieben war die Wahl, zu der sich die gesamte Geistlichkeit im Dom versammelte, wohl schon zuvor nicht. Der Osnabru¨cker Rat zeigte sich in seiner schnellen Reaktion gut vorbereitet. Innerhalb ku¨rzester Zeit war der Osnabru¨cker Dom nicht nur von außen verschlossen, sondern die Bu¨rgerschaft nahm in voller Bewaffnung samt Geschu¨tzen die Belagerung des Domes und der eingeschlossenen Geistlichen auf – hinzugerufen wurde die Dienstmannschaft in Berufung auf das Bu¨ndnis von 1423. Die Belagerung war in erster Linie eine wirkungsma¨chtig inszenierte Demonstration der sta¨dtischen Macht und ihres milita¨rischen Potentials.63 Die Belagerten knickten denn auch schnell ein und bereits am 20. Oktober wurden vier Vertra¨ge zwischen den Konfliktparteien geschlossen: Der Elekt verzichtete gegenu¨ber der Stadt auf Heergewedde und Gera¨t sowie den Judenschatz und erhielt dafu¨r den Stadtzoll zuru¨ck.64 Ebenso stimmte der Elekt einer Wahlkapitulation zu, in der alle drei Sta¨nde als seine Wa¨hler bezeichnet wurden. Daru¨ber hinaus versprach er in einem dritten Vertrag der Stadt, dass die Ereignisse um seine Wahl keine nachteiligen Folgen fu¨r sie haben sollten und er sich fu¨r die Abwendung geistlicher wie weltlicher Strafen bei Papst, Kaiser und allen anderen Instanzen einsetzen wolle. Schließlich versicherte das Domkapitel dem Rat, dass es einst 61 Die Vorlage des Berichtes ist unbekannt, die weiteren Ereignisse des Oktobers 1424 sprechen aber fu¨r

seinen Wahrheitsgehalt, vgl. Hergemo¨ller, Pfaffenkriege 1 (wie Anm. 16), S. 92f.; Karsten Igel, Von Belagerung bis Mord. Gewalt und Konflikt in spa¨tmittelalterlichen Sakralra¨umen, in: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, hg. v. Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Hamburg 2008, S. 200–220, hier S. 206–210. 62 Hergemo ¨ ller, Pfaffenkriege 2 (wie Anm. 16), S. 79. 63 Zur Inszenierung vgl. Igel, Belagerung (wie Anm. 61), S. 208–211. 64 Vom Zoll waren die Bu¨rger selbst aber ohnehin befreit und die Stadt zog ihre Einnahmen aus den lukrativeren Akzisen, vgl. Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 61f.; Ilse Eberhardt, Van des stades wegene utgegeven unde betalt. Sta¨dtischer Alltag im Spiegel der Stadtrechnungen von Osnabru¨ck 1459–1519 (OsnGQF 37), Osnabru¨ck 1996, S. 30–44.

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die Beteiligung an der Bischofswahl angesichts der sta¨dtischen Mithilfe bei der Ru¨ckgewinnung der Stiftsschlo¨sser zugesichert habe und dies erneut zusichere sowie eine vollsta¨ndige Strafbefreiung fu¨r alle zwischen dem 18. und 20. Oktober vorgefallenen Handlungen.65 Indes, das pa¨pstliche Interdikt fiel noch am 20. Oktober mittels des ko¨lnischen Erzbischofs u¨ber die Stadt. Zudem lag u¨ber den vier Vertra¨gen der Makel ihres Zustandekommens und damit ihrer Gu¨ltigkeit, die tatsa¨chlich im Juli 1425 von kurialer Seite aufgehoben wurde.66 Eine neue Aushandlung war erforderlich und im Falle der Rechtstausche zwischen Elekt und Stadt auch unproblematisch, die Wahlkapitulation vom 20. Oktober konnte aus der Sicht von Bischof und vor allem Domkapitel aber kaum in ihrer Form fortbestehen. Der neue Vertrag vom 28. November 1425 benannte – ganz entsprechend der tatsa¨chlichen Geschehnisse – nun nicht mehr Kapitel, Dienstmannschaft und Rat als Wa¨hler Johanns, sondern allein das Domkapitel, womit keine Pra¨zedenz mehr aus dem Vertrag zugunsten von Rat und Ritterschaft gefolgert werden konnte. Die weiteren Vereinbarungen des Oktobers 1424 finden sich aber auch im neuen Vertrag nur leicht abgewandelt wieder.67 Mit der zweiten Wahlkapitulation Johanns v. Diepholz war der Form nach die alleinige Stellung des Domkapitels als Wahlgremium und Vertragspartner des Bischofs wiederhergestellt, faktisch a¨nderte sich aber nur wenig an den Zusicherungen vom Oktober 1424. Die Fassade der domkapitularischen Vorrechte blieb gewahrt, der Rat hatte aber dennoch einen Etappensieg erlangt.68 Entsprechend erhielt Johann v. Diepholz, der sich zuna¨chst als Administrator betitelte, 1429 auch die pa¨pstliche Erhebung zum Bischof.69 Offen blieb weiterhin die Situation zwischen Domkapitel und Rat angesichts der zuku¨nftigen Bischofswahlen, da auch der zwischen beiden Parteien wa¨hrend der Belagerung geschlossene Vertrag von kirchlicher Seite durch Kardinal Gabriel von Siena fu¨r ungu¨ltig erkla¨rt worden war. Omino¨s ist hier eine Passage in dem am 2. September 1425 geschlossenen Bu¨ndnis zwischen Geistlichkeit, Dienstmannschaft und Stadt, mit dem sich alle Parteien der Unterstu¨tzung des neuen Bischofs verschrieben. Benannt wird darin auch „jener Brief“, der von Domkapitel und Geistlichkeit an Dienstmannschaft und Stadt gesandt worden sei und nun weiterhin bei der Stadt verbleiben und so gu¨ltig bleiben solle, wie er es

65 Dazu Hergemo ¨ ller, Pfaffenkriege 1 (wie Anm. 16), S. 98, sowie ders., Pfaffenkriege 2 (wie Anm. 16),

S. 49–53; Kissener, Sta¨ndemacht (wie Anm. 16), S. 101f.; Fink, Stadtbuch (wie Anm. 23), S. 170–173. 66 Hergemo ¨ ller, Pfaffenkriege 1 (wie Anm. 16), S. 99f. 67 Hergemo ¨ ller, Pfaffenkriege 2 (wie Anm. 16), S. 57–60. So sollten Stadt und Ritterschaft bei

Amtseinsetzungen in den Stiftsburgen nicht mehr unmittelbar beteiligt werden, sie erhielten aber ein Vetorecht und damit faktisch eine Mitbestimmung, wa¨hrend das Domkapitel der Form nach bestimmende Institution blieb. 68 Dies entgegen den U ¨ berlegungen von Kissener, Sta¨ndemacht (wie Anm. 16), S. 100–102; die Vertra¨ge von 1424 und 1425 unterscheiden sich in ihrem Aufbau zwar in der Tat deutlicher als es in den Ausfu¨hrungen von Hergemo¨ller, Pfaffenkriege 2 (wie Anm. 16), S. 57–60, durchklingt, inhaltlich du¨rfte aber auch die neue Kapitulation den Interessen der Stadt voll entsprochen haben. 69 Bernd-Ulrich Hergemo ¨ ller, Johann von Diepholz, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 533f.

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bis dahin gewesen sei.70 Damit konnte eigentlich nur die vor Oktober 1424 erfolgte Zusicherung einer Beteiligung von Stadt und Dienstmannschaft an der Bischofswahl gemeint sein. Sie bestand damit weiterhin fort, ohne in dem Vertrag fixiert und somit auf ein festes Verfahren festgeschrieben zu sein.71 Hier musste sich nun zuku¨nftig zeigen, wie weit der Rat Einfluss auf die Bischofswahl wu¨rde nehmen ko¨nnen. Die Gelegenheit dazu sollte noch kommen, und die Dombelagerung von 1424 hatte schon einmal nachdru¨cklich demonstriert, welche Mittel die sta¨dtische Seite im Zweifelsfalle einzusetzen bereit war.

III. 1441 – Die Osnabru¨cker Stiftsfehde und ihre Folgen

Bei der na¨chsten, auf den Tod des noch nicht vierzigja¨hrigen Bischofs Johann von Diepholz folgenden Wahl 1437 ist eine unmittelbare Beteiligung von Dienstmannschaft und Stadt nicht erkennbar. Der zum Administrator, Verwalter des Bistums, erwa¨hlte Erich v. Hoya ero¨ffnete aber auch der Stadt neue Optionen, die mit dessen Bru¨dern Graf Johann v. Hoya und dem Mindener Bischof Albert v. Hoya bis dahin in Fehde lag. Den Weg zum Frieden und zur Befreiung des in Mindener Gefangenschaft sitzenden Bu¨rgermeisters Hinrich v. Leden konnte nun Erich auf dem Osnabru¨cker Bischofsstuhl sitzend ero¨ffnen.72 Mit dem Haus Hoya bot sich zudem ein ma¨chtigerer Bu¨ndnispartner und damit die Hoffnung auf eine weitra¨umigere Friedenswahrung. Zugleich zeigte sich die Stadt in dieser Situation aber auch keineswegs frei in ihrem Handeln, sie musste den politischen Zwa¨ngen folgen und ein potenter Bu¨ndnispartner konnte leicht zu einer u¨berma¨chtigen Bedrohung werden. Das Domkapitel selbst war schon zuvor in eine Diepholzer und eine Hoyasche Partei zerfallen und Erich v. Hoya verdankte seine Wahl seinen u¨ber die bis dahin u¨blichen Wahlkapitulationen hinaus gehenden Zusagen.73 An die geschlossenen Vertra¨ge dachte er sich – diese als Simonie verwerfend – aber gar nicht zu halten und erlangte bald einen entsprechenden pa¨pstlichen Dispens.74 Vielmehr suchte er seine Herrschaft auf seine Bru¨der und die Verbu¨ndeten innerhalb des Hochstifts zu gru¨nden. Die sta¨rkere Diepholzer Partei belegte daraufhin den Dekan Hugo v. Schagen und die u¨brigen Hoyaschen Parteiga¨nger mit der Exkommunikation angesichts der Verschleuderung von

70 Hergemo ¨ ller, Pfaffenkriege 2 (wie Anm. 16), S. 55f.: Ouch umb alsulghen brieff, den de Capitele und

gemeynen papheyt vurscreven hebben ghegeven der manschap und gemeynen Stat Osenbrucge, So sal de brieff by der Stat vurgenant blyven lycgen und en sal mit dessem scheyde nicht mer to gelaten noch gevolbort syn dan he wente an dessen dach togelaten und gevolbort ys. 71 Dazu weder etwas bei Hergemo ¨ ller, Pfaffenkriege 1 (wie Anm. 16), noch Kissener, Sta¨ndemacht (wie Anm. 16), S. 100–102. 72 Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 248–251; zur Person Erichs siehe Bernd-Ulrich Hergemo ¨ ller, Erich von Hoya, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 535. 73 Siehe Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 251–253; Kissener, Sta¨ndemacht (wie Anm. 16), S. 102f. 74 Ebd.

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Kirchengut, wogegen diese wiederum an das Basler Konzil appellierten. Zur weiteren Zuspitzung fu¨hrte 1439 die Wahl Konrads v. Diepholz, des ju¨ngeren Bruders des verstorbenen Bischofs, zum Dompropst.75 Am Aschermittwoch des folgenden Jahres fiel die Diepholzer Partei, angefu¨hrt vom Senior Johann v. Varendorf, unter Berufung auf das Verbot fu¨r Gebannte, am Gottesdienst teilzunehmen, mit ihren bewaffneten Knechten u¨ber den im Gestu¨hl sitzenden Dekan und seine Anha¨nger her: Er und drei ¨ brigen der Hoyaschen Partei weitere Domherren wurden ins Gefa¨ngnis gesetzt, die U konnten durch Kapellen und Fenster der Domkirche entkommen.76 Der Osnabru¨cker Rat versuchte nach dem blutigen Eklat vom Aschermittwoch 1440 zuna¨chst gemeinsam mit dem Grafen Johann v. Hoya einen Ausgleich zwischen den Parteien zu schaffen. Nachdem sich die von ihnen vermittelte Su¨hne als nicht tragfa¨hig erwies,77 standen sich zu Beginn des folgenden Jahres die Mehrheit des Domkapitels und der Administrator endgu¨ltig feindlich gegenu¨ber. Versuche des Rates, noch einmal zu vermitteln, scheiterten, vielmehr musste sich die Stadt selbst durch das Vorgehen Erichs v. Hoya, mehr aber noch seines gra¨flichen Bruders, in ihren eigenen Interessen bedroht sehen – griff letzterer doch versta¨rkt gewaltta¨tig in die Verha¨ltnisse des Landes ein. Im Juni 1441 sagte Graf Johann v. Hoya der Stadt dann offen die Fehde an, womit auch das Band zwischen ihr und ihrem Bischof Erich endgu¨ltig zerschnitten war.78 Die folgenden Ereignisse betitelte der Rat selbst in einer gesonderten Kriegsrechnung als des stichtes lantvede.79 Nach einem ersten erfolglosen Zug stand die mit Johann v. Varendorp, dem Dompropst Konrad v. Diepholz und der Mehrheit des Kapitels verbu¨ndete sta¨dtische Streitmacht im September 1441 vor Stadt und Schloss Fu¨rstenau. Die Erstu¨rmung trug den Osnabru¨ckern Johann v. Hoya als wichtigste Beute ein. Mit dem Verschwinden des Grafen im sta¨dtischen Gefa¨ngnis brach der Widerstand – die u¨brigen Stiftsburgen fielen bis zum Januar 1442 in die Ha¨nde von Stadt und Kapitel, wa¨hrend die Mehrheit der Ritterschaft dem Haus Hoya verbunden blieb. Auch Erich v. Hoya konnte sich nicht mehr auf dem Osnabru¨cker Stuhl behaupten, einvernehmlich mit Kapitelsmehrheit und Rat betrieb der Ko¨lner Erzbischof Dietrich v. Moers seine Absetzung durch das Basler Konzil und zugleich die Einsetzung des Mu¨nsterischen Bischofs Heinrich v. Moers, Dietrichs Bruder, als Administrator des Bistums Osnabru¨ck.80 An die Stelle Hoyas war mit Moers jenes andere Haus getreten, das im mittleren Drittel des 15. Jahrhunderts mit der Besetzung der nordwestdeutschen Bistu¨mer nach Dominanz im niederrheinischwestfa¨lischen Raum strebte.81 Der neue starke Ko¨lner Verbu¨ndete nutzte der Stadt zuna¨chst, als sie 1442 und 1443 durch zwei von Erich v. Hoya veranlasste kaiserliche 75 Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 251. 76 Vgl. Igel, Belagerung (wie Anm. 61), S. 203–205; Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 252. 77 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 252f. 78 Ebd, S. 253f. 79 NLA, StaatsA Osnabru¨ck Dep, 3a 1 IV Nr. 174, 5. 80 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 259–264. Seinen Eid leistete er aber nur in Gegenwart

von Kapitel und Rat, die u¨berwiegend zugunsten Hoyas gesinnte Dienstmannschaft blieb abwesend. Zur Person des Bischofs vgl. Michael F. Feldkamp, Heinrich Graf von Moers, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 485. 81 Vgl. Scholz, Spa¨tmittelalter (wie Anm. 15), S. 413f.

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Mandate ultimativ aufgefordert wurde, den Grafen Johann v. Hoya freizulassen, die Stiftsschlo¨sser zuru¨ckzugeben und Erich in seinem Amt als Osnabru¨cker Administrator nicht mehr zu behindern. Beide Mandate wurden dank Dietrichs Einfluss aufgehoben, sie zeigten aber, dass in der Stadt der eigentliche Kontrahent gesehen wurde. Zu einem Friedenschluss kam es allein mit dem Mindener Bischof Albert v. Hoya. Denn so wie Erich v. Hoya sich weigerte, auf seine Anspru¨che zu verzichten, verweigerte der Osnabru¨cker Rat seinem Bruder Johann die Freilassung.82 Die Freude u¨ber die ko¨lnische Verbindung wa¨hrte aber nur wenige Jahre: Nachdem sich das Verha¨ltnis zwischen Kaiser und Erzbischof abgeku¨hlt hatte, fehlte der Fu¨rsprecher, und Osnabru¨ck verfiel ab 1445 ob der Gefangenschaft des Grafen Johann v. Hoya der Reichsacht.83 Weit schwerer wog jedoch der Ausbruch der Soester Fehde im selben Jahr, Osnabru¨ck fand sich unversehens zwischen der seit alters her verbu¨ndeten Stadt und dem eigenen Landesherrn wieder. Anders als Mu¨nster konnte sich die Hasestadt nicht gegen ihren Administrator Heinrich v. Moers stellen, der seinen Bruder im Kampf gegen Soest zu unterstu¨tzen suchte, solange der Konflikt mit Hoya weiter schwelte, und mu¨hte sich um eine neutrale Haltung.84 Schlimmer noch, der Ko¨lner Erzbischof dra¨ngte nun selbst auf die Freilassung des Grafen und bot das gegen Soest ziehende bo¨hmisch-sa¨chsische Heer 1447 auch als Drohkulisse zur Disziplinierung von Mu¨ns¨ berter und fu¨r die Exekution der Reichsacht gegen Osnabru¨ck auf. Angesichts der U macht des 15 000 Mann za¨hlenden Heeres wurde Johann v. Hoya nach sechs Jahren, ohne Lo¨segeld und Urfehde zu leisten, aus sta¨dtischer Haft entlassen. Die Stadt stand wieder weitgehend alleine, weder war auf die Hoya verbundene Ritterschaft noch auf den Administrator Heinrich v. Moers und die Verbindung zu seinem Haus zu bauen.85 Mit dem Tod Heinrichs v. Moers bot sich im Jahr 1450 die Gelegenheit, die Karten neuerlich zu mischen. Erledigt waren zugleich die Bischofsstu¨hle von Mu¨nster und Osnabru¨ck, die nun wiederum im Fokus der verschiedenen Interessen standen. Verlierer war zuna¨chst der Ko¨lner Erzbischof Dietrich v. Moers, der mit dem Tod seines Bruders einen wichtigen Verbu¨ndeten verloren hatte und dem an eine ihm genehme Wiederbesetzung gelegen sein musste. Fu¨r Johann v. Hoya bot sich neuerlich die Gelegenheit, im westfa¨lischen Raum weiter Fuß zu fassen. Aus der Perspektive des Osnabru¨cker Rates lassen sich die Ereignisse und die sta¨dtischen Interessen gut aus dem u¨berlieferten Briefbuch nachvollziehen, das den Briefverkehr der 1440er und 1450er Jahre umfasst.86 Im Mai 1450 sandten Rat und Domkapitel zuna¨chst gemeinsam Briefe an den Rat von Wiedenbru¨ck, den Abt von Marienfeld, den Grafen Otto v. Diepholz und andere, um u¨ber den Tod des Administrators und das weitere Vorgehen zu unterrichten.87 Im Juni empfahl der Rat dem Mu¨nsteraner Kapitel die Wahl

82 Zu den Ereignissen Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 267–269. 83 Ebd., S. 271–276. 84 Siehe Meckstroth, Mu¨nster (wie Anm. 14), S. 124–130; Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 275. 85 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 277f. 86 NLA, StaatsA Osnabru¨ck Dep, 3b IV Nr. 354; vgl. auch oben Anm. 22. 87 NLA, StaatsA Osnabru¨ck Dep, 3b IV Nr. 354, fol. 92v und 93r.

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des Osnabru¨cker Dompropstes Konrad v. Diepholz zum dortigen Bischof.88 Damit unterstu¨tzte er einerseits einen eigenen Verbu¨ndeten, andererseits wa¨re Konrad damit nicht mehr notwendig als naheliegender Kandidat fu¨r den Osnabru¨cker Bischofsstuhl in Frage gekommen, sollten beide Dio¨zesen nicht wieder unter einem Hut vereinigt werden. In der Folge vollzog der Osnabru¨cker Rat aber eine vollsta¨ndige und wohl u¨berraschende Wende zu seiner vorherigen Politik. Hatte im Oktober 1424 das Domkapitel seine Sache ohne die u¨brigen Sta¨nde betrieben, so ergriff nun im Sommer 1450 der Osnabru¨cker Rat allein das Ruder. Anfang Juli schickte das Domkapitel ein Protestschreiben, das aus Sorge um die eigene Sicherheit in die Grafschaft Ravensberg ausgewichen war, an den Rat.89 Dieser hatte zwischenzeitlich eigensta¨ndig – und nicht wie ausgemacht gemeinsam mit dem Domkapitel – die Stiftsburgen besetzt, im Zweifelsfall auch mit Gewalt gegen die Knechte der Amtsma¨nner. In diesem Augenblick der Sedisvakanz bestand nun tatsa¨chlich eine sta¨dtische Herrschaft u¨ber das Hochstift. Zudem befand sich der Rat schon in Verhandlungen u¨ber die Neubesetzung des Bischofsstuhls – und dies konnte dem Kapitel, zumal im Blick auf den Verhandlungspartner, zuna¨chst schwerlich gefallen: Es war wiederum der Graf Johann v. Hoya, der noch drei Jahre zuvor in sta¨dtischer Haft gesessen hatte und ohne die milita¨rische Drohung im Zuge der Belagerung von Soest dies mo¨glicherweise auch 1450 noch getan ha¨tte. Aber nicht Erich v. Hoya, der nun mit Unterstu¨tzung seines Bruders nach dem Mu¨nsterischen Stuhl trachtete und damit die Mu¨nsterische Stiftsfehde lostrat,90 sondern der dritte der Bru¨der, Albert, amtierender Bischof von Minden, sollte nun auch Osnabru¨cker Administrator werden. Damit konnte die Stadt die in großen Teilen noch immer Hoya wohl gesinnte Ritterschaft auf ihre Seite ziehen und hoffte vermutlich, auf diesem Wege eine Ausso¨hnung mit Johann v. Hoya und damit endlich Frieden im Land schaffen zu ko¨nnen. Das Domkapitel wie auch der Ko¨lner Erzbischof, dem die Wahl kaum gefallen mochte, pochten freilich auf das Recht der freien Bischofswahl.91 Die freie Wahl wurde dem Domkapitel schließlich zugesichert, solange sie denn dem bereits vorbestimmten Kandidaten Albert v. Hoya gelten wu¨rde. Die Form blieb also wiederum gewahrt, auch wenn allen klar gewesen sein du¨rfte, dass der Rat hier die eigentlich treibende Kraft blieb. Gemeinsam nahmen Domkapitel und Rat die Verhandlungen mit dem Kandidaten auf, die zur Wahl Alberts fu¨hrte.92 Freilich wurden Stadt und Land mit dem neuerlichen Bu¨ndnis mit dem Haus Hoya wiederum nicht glu¨cklich: Weder erreichte Albert eine Verso¨hnung der Stadt mit seinem gra¨flichen Bruder, noch konnte er als Osnabru¨cker Elekt die pa¨pstliche 88 Ebd. fol. 92v; gedruckt bei Hansen, Mu¨nsterische Stiftsfehde (wie Anm. 14), S. 22, Nr. 14: Brief vom

4. Juni 1450, dazu auch ebd., S. 11*. 89 NLA, StaatsA Osnabru¨ck Dep, 3b IV Nr. 354, fol. 93r. 90 Hansen, Mu¨nsterische Stiftsfehde (wie Anm. 14), S. 12*–18*. 91 Nach Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 281f. 92 Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 283f.; Hansen, Mu¨nsterische Stiftsfehde (wie Anm. 14),

S. 18*–20*; Kissener, Sta¨ndemacht (wie Anm. 16), S. 103f.; angestrebt wurde auch eine Vereinigung der beiden Hochstifte Osnabru¨ck und Minden, die wohl dem Osnabru¨cker Rat und dem Domkapitel eine Dominanz in einem gro¨ßeren Raum eingebracht ha¨tte – in den folgenden Jahren ist davon aber keine Rede mehr gewesen.

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Besta¨tigung erlangen.93 Der Rat hatte die Stadt so 1450 zwar faktisch zur eigentlichen Herrschaftstra¨gerin im Hochstift gemacht, war damit aber politisch gescheitert. Die Lo¨sung kam denn auch von außen, als 1454 statt der pa¨pstlichen Anerkennung Alberts Papst Nikolaus V. nun Rudolf v. Diepholz auf den Osnabru¨cker Stuhl setzte.94 Nach seinem raschen Tod im folgenden Jahr kam es in einmu¨tiger Haltung mit der Stadt schließlich zur Wahl des langja¨hrigen Dompropstes Konrad v. Diepholz durch das Domkapitel.95 Mit der Wahl Konrads III. begann eine Phase, die sta¨rker von Konsens zwischen den Sta¨nden und ihrem Bischof gepra¨gt war und die langen Amtszeiten Konrads (1454–1482) und seines Nachfolgers Konrads IV. v. Rietberg (1482–1508) u¨berdauerte.96 Das Fundament der friedvolleren Zeit lag aber nicht allein im langen Episkopats Konrads III., sondern mehr noch in der Wahl seiner Vertrauten. Schon bald fand sich mit Ertwin Ertmann ein junger Ratsherr in seinem Umfeld, der anscheinend durch seine juristische Bildung und diplomatischen Fa¨higkeiten herausstach. Als Bevollma¨chtigter des Bischofs trat er erstmals 1457 auf, spa¨testens 1468 fu¨hrte er den Titel eines bischo¨flichen Rats. Zugleich bekleidete er von 1477 bis kurz vor seinem Tode im Jahr 1505 das Amt des ersten Bu¨rgermeisters der Stadt. Die wichtigsten und machtvollen Positionen in der Stadt waren so gut ein Vierteljahrhundert in einer Person vereinigt. Entsprechend eng waren Politik von Rat und Bischof verflochten und Ertmann dru¨ckte dies auch in seiner Chronik der Osnabru¨cker Bischo¨fe aus. Die Stadt ist darin selbstversta¨ndlicher Teil der verfassten und geistlichen Ordnung von Hochstift und Dio¨zese und keine unabha¨ngig davon zu schildernde Protagonistin. Entsprechend wurde das Verhalten seiner Amtsvorga¨nger, die sich wie im Oktober 1424 u¨ber diese Ordnung erhoben hatten, ausgesprochen kritisch gewu¨rdigt. Betont wurde dagegen die Eintracht von Bischof und Stadt als Ideal.97

93 Hans-Georg Aschoff, Albert von Hoya, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie

Anm. 25), S. 318f.

94 Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 285; Paul Berbe´e, Rudolf Graf von Diepholz, in: Die

Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 127f.

95 Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 286f.; Michael F. Feldkamp, Konrad Graf von Diepholz, in:

Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen Reiches (wie Anm. 25), S. 126f. 96 Zur Person siehe Alois Schro ¨ er, Konrad Graf von Rietberg, in: Die Bischo¨fe des Heiligen Ro¨mischen

Reiches (wie Anm. 25), S. 584.

97 Zu Ertmann siehe Hermann Forst, Regesten und Urkunden zur Lebensgeschichte des Bu¨rgermeisters

Ertwin Ertmann, in: OsnMitt 16 (1891), S. 135–172; Rothert, Osnabru¨ck 1 (wie Anm. 11), S. 287–311; Christian Hoffmann, Grenzen von Aufstieg und Etablierung in der altsta¨ndischen Gesellschaft: Die Familie Ertmann in Osnabru¨ck, in: OsnMitt 101 (1996), S. 11–63. Er stammte allerdings nicht – wie langla¨ufig tradiert – aus einer einfachen Handwerkerfamilie, vgl. Karsten Igel, Stadt-Raum und Sozi¨ berlegungen zu Quellen, Methoden und Problemen an den Beispielen Greifswald und alstruktur. U Osnabru¨ck, in: HansGbll 122 (2004), S. 1–53, hier S. 24–28. Insbesondere auch zu seiner Rolle als ¨ ber das Versta¨ndnis von der Geschichte in Ertwin ErtGeschichtsschreiber vgl. Heinrich Schmidt, U manns Chronik der Bischo¨fe von Osnabru¨ck, in: OsnMitt 69 (1960), S. 6–38; Gerhard Diehl, Exempla fu¨r eine sich wandelnde Welt. Studien zur Norddeutschen Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert (Vero¨ff. des Instituts fu¨r Historische Landesforschung der Universita¨t Go¨ttingen 38), Bielefeld 2000, S. 60–87; Oliver Plessow, Die umgeschriebene Geschichte. Spa¨tmittelalterliche Historiographie in Mu¨nster zwischen Bistum und Stadt (Mu¨nstersche Hist. Forsch. 14), Ko¨ln/Weimar/Wien 2006, S. 179–184.

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IV. Zum Schluss: Osnabru¨ck – ein Sonderfall?

Die geschilderten Ereignisse des 15. Jahrhunderts zeigten den Osnabru¨cker Rat in einem weiten und, wenn notwendig erscheinend, konsequenten Ausspielen der sich ihm ero¨ffnenden Handlungsra¨ume im bischo¨fliche Territorium. Es war jedoch kaum ein planvolles, nach langfristigen Zielen trachtendes Agieren, gar hin zur sta¨dtischen Herrschaft u¨ber das Hochstift.98 Der Rat reagierte mehr auf die sich stellenden Herausforderungen und sich ihm ero¨ffnenden Optionen. Allerdings zeigten sich andeutungsweise bereits im 13. Jahrhundert, unu¨bersehbar im 14. und 15. Jahrhundert, Maximen sta¨dtischen Handelns innerhalb und jenseits des Hochstifts. Im Vordergrund stand natu¨rlich die Sicherung der eigenen Autonomie, die von einer bischo¨flichen Stadtherrschaft losgelo¨ste Position Osnabru¨cks im Hochstift und im Reich. Sie war aber eben nicht verbunden mit einer Loslo¨sung aus dem bischo¨flichen Territorium.99 Denn so sehr dem Rat daran gelegen war, seine politische Unabha¨ngigkeit zu wahren und er dies mit dem Verweigern der Huldigung gegenu¨ber dem Bischof auch betonte, so sehr musste ihm auch daran gelegen sein, fu¨hrendes Glied des Landes zu sein und das Fortleben des Hochstifts als eigensta¨ndiges Territorium zu sichern. Denn nur innerhalb des bischo¨flichen Herrschaftsraums war die Freiheit von jeglicher Stadtherrschaft, bischo¨flicher wie ko¨niglicher, auf Dauer haltbar. Und nicht zu unterscha¨tzen ist die Bedeutung des Hochstifts als sta¨dtisches Hinterland, dank dessen Osnabru¨ck wirtschaftlich blu¨hte – auch dies erforderte die Fa¨higkeit, politischen Einfluss auf das Territorium nehmen zu ko¨nnen. Darin ist Osnabru¨ck sicherlich kein Sonderfall, aber ein illustratives Beispiel. Als Freie Stadt, die keine sein wollte, widersetzt sich Osnabru¨ck wie andere Sta¨dte auch dem Alternativschema immediate versus mediate Stadt. Die bunte Zone zwischen den beiden Polen wurde schon von Peter Moraw charakterisiert: „die nach dem Beispiel der Freien Sta¨dte (zum Teil wohl auch der Reichssta¨dte) aus den werdenden Territorien herausstrebenden Sta¨dte, die dabei zuna¨chst mehr oder weniger Erfolg, auf die Dauer beinahe keinen Erfolg aufwiesen ...“100 Aber noch bei ihm klingt die bu¨rgerliche Siegeserza¨hlung durch, nach der die vollsta¨ndige Emanzipation das teleologische Ziel der bu¨rgerlichen Kommune sein musste.101 Wer nicht die Anerkennung als Freie oder Reichsstadt erlangte, war letztlich gescheitert.102 Aber wollten sie 98 So andeutend Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 65: „... so ha¨tte Osnabru¨ck – in verla¨ngerte

Perspektive gesehen – sich schließlich zu einer Art von Stadtstaat nach italienischem Vorbild ... ausweiten ko¨nnen ...“ 99 Schon Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 65, betonte zugleich auch die notwendige Bindung der Stadt an ihr Umland. 100 Moraw, Verfassungsposition (wie Anm. 8), S. 19. 101 So auch noch Kissener, Sta¨ndemacht (wie Anm. 16), S. 42f. zu Osnabru¨ck: „Vor allem die Stadt Osnabru¨ck suchte diesen Weg zu beschreiten, da sie ... durch zahlreiche Privilegien eine fast reichsunmittelbare Stellung erlangt hatte, ohne aber die erstrebte Rechtsstellung tatsa¨chlich zu erreichen.“ 102 Kritisch dazu letztlich schon Schneidmu ¨ ller, Reichsna¨he (wie Anm. 47), S. 31–41, im Blick auf das in Vielem vergleichbare Braunschweig, was ihn zum Fazit fu¨hrte: „Vielmehr erschien die Position einer Reichsstadt bu¨rgerlicher Rationalita¨t weniger erstrebenswert als die tatsa¨chlich erlangte Verfassungsstellung“, ebd., S. 40.

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sich denn u¨berhaupt lo¨sen? Die Bindung Osnabru¨cks zum Territorium ero¨ffnete der Stadt, ihren Bu¨rgern und Geschlechtern dagegen Raum fu¨r herrschaftliches und wirtschaftliches Handeln, sie bot einen Schutzraum vor einer dauerhaften, u¨berma¨chtigen weltlichen Herrschaft von außen. So stellt sich ausgehend von Osnabru¨ck auch die Frage nach dem sta¨dtischen Verha¨ltnis zum Umland – Stadt im Territorium oder sta¨dtisches Territorium? Fu¨r Osnabru¨ck gilt wiederum beides nicht. Die Stadt blieb zwar Teil des Hochstift, war aber nicht dessen Herrschaftsstruktur unterworfen, noch konnte und mochte wohl auch nicht der Rat das Hochstift der Stadt unterwerfen, auch wenn die Ereignisse des Sommers 1450 zu diesem Gedanken verlocken mo¨chten.103 Die Stadt spielte aber ihre Machtressourcen aus und versuchte ihre Einflussra¨ume auszudehnen, um innerhalb des Hochstifts gegenu¨ber den anderen Sta¨nden an Dominanz zu gewinnen und die poltischen Entwicklungen bestimmen zu ko¨nnen. Osnabru¨ck u¨bte also nicht sta¨dtische Herrschaft u¨ber, aber durchaus im Hochstift aus. Nicht der Versuch direkter, sondern die zumindest zeitweilige Durchsetzung indirekter Herrschaft kennzeichnete das sta¨dtische Agieren im Verlauf des 15. Jahrhunderts. Mit der kurz angedeute¨ ra im letzten Viertel des Jahrhunderts fand dies seine fast ideale Austen Ertmann-A formung. Trotz Ertmanns Kritik am machtvollen Handeln seiner Vorga¨nger im sta¨dtischen Amt, mit seiner Person lagen auch die wichtigen politischen Fa¨den des Landes in der Hand der gebildeten sta¨dtischen Elite.104 Auch dies sicherlich kein Osnabru¨cker Einzelfall. Ein Sonderfall war Osnabru¨ck letztlich darin, dank der singula¨ren reichsrechtlichen Absicherung seine besondere Position mit nur wenigen Abstrichen bis zum Ende des Reichs bewahren zu ko¨nnen. Damit beschreibt Osnabru¨ck allerdings auch die Offenheit des alten Reichs fu¨r vielerlei Verfassungsformen und ist in diesem Sinne vielleicht zugleich ein typischer Fall, der dessen Verfasstheit in vielerlei denkbare politische Ra¨ume kennzeichnet.

103 Vgl. Rothert, Osnabru¨ck 2 (wie Anm. 11), S. 64f. 104 Die beanspruchte Stellung innerhalb von Stadt und Land dokumentierte der Osnabru¨cker Rat, ange-

fu¨hrt von Ertwin Ertmann, um 1500 auch in einem umfangreichen Bauprogramm. Dazu Karsten Igel, Rebuildung the City Centre, in: Negotiating the political in northern European urban society, c.1400–1600, ed. by Sheila Sweetinburgh (Medieval and Renaissance texts and studies 434), Tempe (Arizona)/Turnhout 2013, S. 45–69.

KONTROLLIERTE VERBREITUNG ODER VERBREITETE KONTROLLE? Nachrichtenboten als mobile Zeichentra¨ger der spa¨tmittelalterlichen Stadtherrschaft von Klara Hu¨bner

Die Mo¨glichkeit, der eigenen Herrschaft u¨ber geographische Distanz hinweg Ausdruck zu verleihen, in dem man eine eigens dafu¨r bestellte und entsprechend ausgeru¨stete Person – einen Boten – mit Anweisungen aussandte, ist keine Erfindung des Spa¨tmittelalters. Neu ist hingegen, dass die Herrschaft u¨ber Kommunikation zu einem verbreiteten Bildmotiv in der ko¨niglichen Chronistik wird, wo sie zuna¨chst benutzt wird, um die Informiertheit eines Ko¨nigs oder Kaisers besonders hervorzuheben. Dies gilt bereits fu¨r den 1196 verfassten liber ad honorem augusti des Petrus von Eboli, in dessen Comic-Strip zum Leben und Wirken Heinrichs VI. auch Darstellungen mit cursores allemaniae auftauchen, die den Dynasten regelrecht mit Briefen u¨berha¨ufen. Seinem Gegenspieler Tankred von Lecce wird hingegen nur ¨ bergabe eines Briefes zugestanden.1 Die Idee des guten, weil gut informierten die U Ko¨nigs wird aber erst in den Chroniken des 14. Jahrhunderts konsequent wiederholt. So etwa in den reich illuminierten Grandes Chroniques de France vom Ende des 14. Jahrhunderts, in denen alle bedeutsamen „franzo¨sischen“ Herrscher zwischen Karl Martell und Karl V. beim Entgegennehmen von Briefen abgebildet werden.2 Im 15. Jahrhundert gewinnt diese Darstellung immer mehr Symbolkraft: Ein guter Herrscher ist jener, der seine Informiertheit in tatkra¨ftiges Handeln umsetzen kann. Entsprechend ha¨ufig erscheint das Bildmotiv der Briefu¨bernahme nun im Kontext politischer Wendepunkte. Die Autobiographie Maximilians I., der zu Beginn des

1 Petrus de Ebulo – Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Codex 120 II der Burgerbibliothek

¨ bersetzung von Gereon Becht-Jo¨rdens, Bern. Eine Bilderchronik der Stauferzeit, Textrevision und U hg. v. Theo Ko¨lzer/Marlis Sta¨hli, Stuttgart 1994, fol. 125. 2 Zur Darstellung von Boten bei der U ¨ bergabe von Briefen in den Grandes Chroniques de France (BNF, FR 2813): So werden Karl Martell (fol. 80), Karl der Kahle (fol. 149), Karl der Dicke (fol. 164), Ludwig VI. (fol. 195v), Heinrich I. von Zypern (fol. 278v) und Karl V. (fol. 467) beim Empfang eines Boten dargestellt. Aus der umfassenden Literatur zur Darstellung ko¨niglicher Repra¨sentation in der Chronik Karls V. siehe auch: Cornelia Logemann, Des Ko¨nigs neue Ra¨ume: Genealogie und Zeremoniell in den „Grandes Chroniques de France“ des 14. Jahrhunderts, in: Ausmessen, Darstellen, Inszenieren. Raumkonzepte und die Widergabe von Ra¨umen im Mittelalter und fru¨her Neuzeit, hg. v. Ursula Kundert/Barbara Schmid/Regula Schmid, Zu¨rich 2007, S. 41–72.

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16. Jahrhunderts verfasste Weisskunig, ist hierfu¨r paradigmatisch.3 Die Entgegennahme von Briefen wurde vom Verfasser Trautzsauerwein motivisch immer dann eingesetzt, wenn es galt, dem jungen Kaiser die Aura des entschlussfreudigen Regenten zu verleihen. Dieses Narrativ erfreute sich zur selben Zeit auch in der Chronistik des Schweizer Raumes großer Beliebtheit, wo sta¨dtische Entscheidungstra¨ger wa¨hrend des Aushandelns und bei der Umsetzung gemeinsamer Entscheide abgebildet wurden. Gleichzeitig bildet es aber auch die Komplexita¨t der politischen Abla¨ufe zwischen den Eidgenossen ab. Den diesbezu¨glich unmittelbarsten Einblick gewa¨hrt wohl die Luzerner Chronik Diebold Schillings des Ju¨ngeren aus dem Jahre 1513. Als Parteiga¨nger Maximilians I. und langja¨hriger Gesandter war er nicht nur mit den Ritualen der Diplomatie und ihrer bildlichen Kodifizierung vertraut, sondern kannte ihre realen Auswirkungen:4 Konsens und Dissens zwischen den Verbu¨ndeten stellte er ebenso dar wie allfa¨llige Neuverhandlungen und kriegerische Konflikte – fu¨r den Fall, dass die Diplomatie keine Lo¨sung gebracht hatte;5 und dazwischen immer wieder Nachrichtenboten und Gesandte als Mittelsma¨nner in einem Bu¨ndnissystem, das auf einen regelma¨ßigen Informationsaustausch angewiesen war, ja von ihm zusammengehalten wurde. Damit bildet Schilling Realita¨ten ab. Die Bemu¨hungen um konsensuelles Handeln zwischen dem Alten Zu¨richkrieg (1437–46), den Burgunderkriegen und ihrem Nachklang (1473–77), die dann in die beinahe gescheiterte Einigung, das Stanser Verkommnis von 1481, mu¨ndeten, haben nicht nur in der Chronistik Spuren hinterlassen.6 Die Rechnungsbu¨cher der wichtigsten sta¨dtischen Eidgenos-

3 Vgl. Der Weiß Kunig. Eine Erza¨hlung von den Thaten Kaiser Maximilian des Ersten, von Marx

Treitzsaurwein auf dessen Angeben zusammengetragen (...), ND des Textes von 1755, Leipzig 2006.

4 Zu den politischen Ritualen in der spa¨tmittelalterlichen Eidgenossenschaft allgemein; Regula

Schmid, Reden, rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln wa¨hrend des Berner Twingherrenstreites 1469–1471, Zu¨rich 1995; dies., „Liebe Bru¨der“: Empfangsrituale und politische Sprache in der spa¨tmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, hg. v. Peter Johanek/Angelika Lampen (Sta¨dteforschung A 75), Ko¨ln/Weimar/Wien 2009, S. 85–111; Michael Jucker, Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgeno¨ssischen Tagsatzungen im Spa¨tmittelalter, Zu¨rich 2004; ders., „Und willst du nicht mein Bruder sein, so ...“. Freundschaft als politisches Medium in Bu¨ndnissen und Korrespondenzen der Eidgenossenschaft (1291–1501), in: Freundschaft oder „amitie´“? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15. – 17. Jahrhundert), hg. v. Klaus Oschema (ZHF, Beih. 40), Berlin 2007, S. 159–190. 5 In seinem Umgang mit dem Werden der Eidgenossenschaft, die? er als ein Ringen um Konsens erza¨hlt, geho¨rt Diebold Schilling diesbezu¨glich zu den differenziertesten Chronisten seiner Zeit. Vgl.: Luzerner Bilderchronik des Diebold Schilling (1513), hg. v. Alfred A. Schmid, Luzern 1981. 6 Zu den besagten Konflikten und der Einigung in Stans, grundlegend: Ein „Bruderkrieg“ macht Geschichte. Neue Zuga¨nge zum Alten Zu¨richkrieg, hg. v. Peter Niederha¨user, Zu¨rich 2006; Alois Niedersta¨tter, Der alte Zu¨richkrieg. Studien zum o¨sterreichisch-eidgeno¨ssischen Konflikt sowie zur Politik Ko¨nig Friedrichs III. in den Jahren 1440 bis 1446 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 14), Wien 1995; vgl. Karl der Ku¨hne von Burgund: Fu¨rst zwischen europa¨ischem Adel und der Eidgenossenschaft, hg. v. Klaus Oschema/Rainer C. Schwinges, Zu¨rich 2009; Arnold Esch, Alltag der Entscheidung. Berns Weg in den Burgunderkrieg, in: Alltag der Entscheidung. Beitra¨ge zur Geschichte der Schweiz an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Festschrift zum 60. Geburtstag von Arnold Esch), Bern/Stuttgart/Wien 1998, S. 11–86; zu Stans siehe v. a. Ernst Walder, Das Stanser Verkommnis. Ein Kapitel eidgeno¨ssischer Geschichte (Beitra¨ge zur Geschichte Nidwaldens 44), Stans 1994; Ferdinand Elsener, Rechtsgeschichtliche Anmerkungen zum Stanser

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sen7 dokumentieren diese Entwicklung u¨ber den teilweise exorbitant hohen Aufwand fu¨r Gesandtschaften und Informationsaustausch, allerdings auch durch ein ent¨ bermittlern mit unterschiedlichen Zusta¨ndigkeiten und sprechendes System von U Funktionen.8 Die Herrschaftsrelevanz des Informationsaustausches zeigt sich aber auch daran, dass in den Rechnungsbu¨chern auch die Dienstleister kleinerer Bu¨ndnispartner erfasst wurden. Einen la¨ngerfristigen Einblick in die Funktionsweise sta¨dtischen Nachrichtenwesens ermo¨glichen praktisch nur die seriell u¨berlieferten Quellen in den Sta¨dten, selbst wenn den Herrschaftstra¨gern um 1500 nicht institutionali¨ bermittlung zur Verfu¨gung standen: Die Dienerschaft des eigesierte Formen der U nen Familienverbandes, reisende Kaufleute und Kleriker, fahrende Studenten oder Spielleute.9 ¨ bermittler allerIhre Prominenz in Akten und Chronistik verdanken offizielle U ¨ dings nicht nur dem Uberlieferungszufall, sondern der von Diebold Schilling so trefflich eingefangenen ra¨umlichen Pra¨senz; als Gesandtenbegleiter, in der Nachrichtenverbreitung und im Umfeld des politischen Zeremoniells galten Weibel, Reiter und La¨ufer immer auch als symbolische Vertreter ihrer Obrigkeit. Spa¨testens seit den 1420er Jahren manifestierte sich dies auch visuell: Durch eine farbige Amtstracht und Amtsinsignien aus Silber oder Gold, einen Spieß oder Amtsstab, eine Brieftasche und den entsprechendem Hut. Ihr realer Aufgabenbereich machte sie aber zum verla¨ngerten Arm ihrer Auftraggeber. Dies zumindest offenbaren ihre Amtseide, allerdings auch der Umstand, dass manche von ihnen aufgrund sozialer Beziehungen zu Ratsherren bzw. dank spezifischer Kenntnisse eine Sonderstellungen innerhalb der Stadtverwaltung eingenommen haben, die weit u¨ber den Rahmen ihrer verschriftlichten Funktion hinausgingen.10 ¨ bergang zwischen den Vorgaben des Amtes und perso¨nlichen Dieser fließende U Interessen von Dienstleister und Auftraggebern macht die spa¨tmittelalterliche Informationsvermittlung zu einem vielschichtigen Instrument, das mit den anonymisierten Kurieren der Fru¨hen Neuzeit nicht viel gemein hatte. Letzteren blieb der direkte Verkommnis von 1481, in: 500 Jahre Stanser Verkommnis. Beitra¨ge zu einem Zeitbild, Stans 1981, S. 121–181. 7 In den Landorten tauchen Rechnungsquellen erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts auf, ausfu¨hrlicher siehe: Oliver Landolt, „Non prosunt consilia, si dessunt necessaria“. Finanzen und Finanzverwaltung im spa¨tmittelalterlichen Land Schwyz, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 97 (2005), S. 75–93. 8 Klara Hu ¨ bner, Minderer Gesandter oder einfacher Brieftra¨ger? Auswahlkritierien fu¨r Nachrichtenu¨bermittler und ihre Zusta¨ndigkeiten in den spa¨tmittelalterlichen Sta¨dten des Westschweizer Raumes, in: Spezialisierung und Professionalisierung. Tra¨ger und Foren Sta¨dtischer Außenpolitik wa¨hrend des Spa¨ten Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Christian Jo¨rg/Michael Jucker (Trierer Beitra¨ge zu den historischen Kulturwissenschaften 1), Wiesbaden 2010, S. 191–202. 9 Zur Vielfalt der Mo¨glichkeiten siehe etwa Claudius Sieber-Lehmann, Spa¨tmittelalterlicher Nationalismus (VMPI 116), Go¨ttingen 1995, S. 354f. 10 Mehr dazu bei: Hu ¨ berlie¨ bner, Minderer Gesandter (wie Anm. 8), S. 199ff., Trotz der lu¨ckenhaften U ferung la¨sst sich solches etwa fu¨r den Berner Weibel Anthoni Wantfluh belegen, der seine Stellung der Zusprache durch die Berner Kaufleute- und Ratsfamilie von Diesbach verdankte, fu¨r die er zuvor als Diener ta¨tig gewesen war; siehe auch dies., Im Dienste ihrer Stadt. Boten- und Nachrichtenorganisationen in den schweizerisch-oberdeutschen Sta¨dten des spa¨ten Mittelalters (Mittelalter-Forschungen 30), Ostfildern 2012, S. 87–90.

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Zugang zu ihren Auftraggebern meistens verschlossen. Ganz anders die Weibel, Reiter oder La¨ufer der Eidgenossen, welche die politischen Entscheidungsprozesse ihrer Auftraggeber zwar nicht aktiv beeinflussen durften, als Angeho¨rige der Stadtverwaltung aber Umgang mit den eigenen Entscheidungstra¨gern sowie den Gesandten der u¨brigen Verbu¨ndeten hatten.11 Beides waren im 15. Jahrhundert u¨berschaubare Personenkreise, in denen die politischen Positionen zwar bekannt waren, die aber beide Wert auf Diskretion legten. Was der Stadt und des Rates war, sollte auch in der Stadt bleiben. Zuwiderhandeln wurde mit zeitlich beschra¨nktem Ausschluss aus den Ratsgremien bestraft. So jedenfalls sah es eine Solothurner Satzung aus dem Jahre 1478 vor, mit welcher die Stadtfu¨hrung gegen alle Personen vorgehen wollte, die Ratsinterna außerhalb der Ratsstube verbreiteten.12 Solches galt auch fu¨r niedere Amtstra¨ger, die nicht nur Zeichentra¨ger und Vertrauensleute waren, sondern stets auch als Augen und Ohren ihrer Auftraggeber galten. Die Berner La¨ufer wurden in ihrem Eid von 1481 deshalb zur gegenseitigen Kontrolle mit Meldepflicht angehalten.13 Deutlicher kann nicht ausgedru¨ckt werden, dass den ratsinternen Informationen ho¨herer Stellenwert zugesprochen wurde als etwa jenen Neuigkeiten, die in den wohlbekannten Ra¨umen des sta¨dtischen Informationsaustausches kursierten; den Kirchen, Marktpla¨tzen und Gastha¨usern.14 Die Nachrichtenu¨bermittler des Rates hatten also auch innerhalb der Stadtmauern eine herausragende Stellung inne; als Zeichentra¨ger und Vertrauensleute ihrer Obrigkeit. Beides machte sie auch außerhalb der Stadt zu einem weithin sichtbaren Instrument der Herrschaftspra¨senz, was zumindest im Bezug auf die sta¨dtischen Untertanengebiete durchaus gewollt war. Diese obrigkeitliche Sicht vermittelt etwa die 1545 in Bern errichtete Brunnenfigur eines Fußboten, die noch heute auf dem Berner La¨uferplatz steht.15 Dies war auch der erste Ausdruck des bernischen Machtanspruchs,

11 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 189–194, allgemein: Bernhard Stettler, Die Eidgenossenschaft

im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, Zu¨rich 2004, S. 359–392; Michael Jucker, Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgeno¨ssischen Tagsatzungen im Spa¨tmittelalter, Zu¨rich 2004, S. 79–85. 12 Rechtsquellen des Kantons Solothurn Bd. 2: Mandate Verordnungen Satzungen des Standes Solothurn von 1435 bis 1604, hg. v. Charles Studer (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen Abt. 10, Teil 1, Bd. 2. Im Folgenden SSRQ SO 2), Aarau 1987, Nr. 26, S. 74. 13 StaatsA Bern, Eidbuch II (1481), A I 630, fol. XXXI/II: (...) Verna¨m ouch ir deheiner, dass mancher unnder inen, oder den zulo¨fferrenn, sachen wuss oder handelt, oder ta¨te, die zu eren einer statt Bernn nitt dienten, die so¨llen sy in geheimbs an unnseren schultheissen, oder stattschriber bringen, und das nit bergen, noch ha¨len (...). 14 Vgl. Stefanie Ru ¨ ther, Geleit, Gesandte und Geru¨chte – mediale Strategien auf dem Weg zum spa¨tmittelalterlichen Friedensschluss am Beispiel des ersten Su¨ddeutschen Sta¨dtekriegs, in: Friedensschlu¨sse. Medien und Konfliktbewa¨ltigung vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Bent Jo¨rgensen (Documenta Augustana 18), Augsburg 2008, S. 55–82. 15 Klara Hu ¨ bner, „Nu¨we mer us Lamparten“. Entstehung, Organisation und Funktionsweise spa¨tmittelalterlicher Botenwesen am Beispiel Berns, in: Gesandtschafts- und Botenwesen im spa¨t- mittelalterlichen Europa, hg. v. Klaus Wriedt/Rainer C. Schwinges (VuF 60), Ostfildern 2003, S. 265–287, S. 265; Paul Hofer, Die Stadt Bern. Bd. 1; Stadtbild, Wehrbauten, Stadttore, Anlagen, Denkma¨ler, Bru¨cken, Stadtbrunnen, Spita¨ler, Waisenha¨user (Die Schweizer Kunstdenkma¨ler 28), Basel 1952, S. 320, 322.

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den jeder Passant zu Gesicht bekam, der die Stadt von Westen her betrat. Die Na¨he zum westlichen Stadteingang unterstrich nicht nur den ra¨umlichen Anspruch der Berner Obrigkeit, sondern war auch machtpolitisches Statement. Die Darstellung des mobilen Amtstra¨gers, welcher nicht nach seiner Brieftasche, sondern nach dem am Gu¨rtel ha¨ngenden Dolch greift, stand im Zusammenhang mit der Eroberung der Waadtla¨nder Gebiete im Westen der Stadt, welche die Stadt 1536 in einem Handstreich eingenommen hatte. Die martialische Haltung des steinernen Boten sollte vor allem die Entschiedenheit der Stadtfu¨hrung unterstreichen, dieses Gebiet gegen die Ru¨ckgabeforderungen der Eidgenossen zu verteidigen, die diese Eroberung alles andere als gutgeheißen hatten.16 Die symbolische Drohung des Berner Fußla¨ufers wurde von den Zeitgenossen verstanden. Doch wieviel Herrschaft ließ sich u¨ber spa¨tmittelalterliche Nachrichtenu¨bermittlung wirklich u¨ber die Stadtmauern hinaustragen und welcher Art war sie? Stand die Information von „Ra¨umen“ u¨berhaupt im Interesse einzelner Stadtfu¨hrungen und wenn ja, gibt es einen Bezug zwischen der Wahl des Amtstra¨gers, seiner Nachricht und der machtpolitischen Absicht seiner Auftraggeber? Der Zusammenhang zwischen Herrschaft und Informationsverbreitung galt lange Zeit als Stiefkind der stadtgeschichtlichen Forschung, was sowohl auf den Mangel an Quelleneditionen zuru¨ckzufu¨hren ist als auch auf die von der modernen Post¨ bermittler. Eine Antwort la¨sst sich daher prakgeschichte vorgepra¨gte Bild passiver U tisch nur durch die Auswertung der Rechnungsbu¨cher als serielle Quellengattung erzielen. Darin erscheint der europa¨ische Raum des Spa¨tmittelalters zuna¨chst einmal als Gefu¨ge aus unza¨hligen, nebeneinander bestehenden und einander u¨berlagernden Informationssystemen, deren Zentren und Ziele vornehmlich Ho¨fe oder Sta¨dte waren. Verbunden waren sie u¨ber Zeichentra¨ger, die weit u¨ber die geographischen Grenzen der eigenen Herrschaftsbereiche Pra¨senz markierten.17 Selbst Sta¨dte, die keine großen Territorien besaßen, konnten so als Informationsdrehscheiben in andere Herrschaftsra¨ume hineinwirken. Wichtiger als ihre Finanzkraft war hierfu¨r die Lage in u¨berregionalen Verkehrsnetzen mit guter Infrastruktur. Voraussetzung war allerdings auch eine u¨berdurchschnittliche außenpolitische Aktivita¨t, etwa in Bu¨ndnissystemen, welche der Institutionalisierung des Nachrichtenwesens Vorschub leistete. 16 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 225. 17 Der Netzcharakter der spa¨tmittelalterlichen U ¨ bermittlung wurde in der ju¨ngsten Forschung bereits

mehrfach betont, vgl. Pierre Monnet, Courriers et messages: un re´seau de communication a` l’e´chelle ˆ ge, in: Information et socie´te´ en Occident a` la fin urbaine dans les pays d’Empire a` la fin du Moyen A ˆ ge, hg. v. Claire Boudreau/Claude Gauvard/Michel He´bert u.a., Paris 2004, S. 281–308; du Moyen A ˆ ge, ders., De la rue a` la route: messages et ambassades dans les ville allemandes de la fin du Moyen A in: Die Strasse. Zur Funktion und Perzeption o¨ffentlichen Raums im spa¨ten Mittelalter, hg. v. Gerhard Jaritz (Forschungen des Instituts fu¨r Realienkunde des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit 6), Wien 2001, S. 71–90; Wolfgang Wu¨st, Reichssta¨dtische Kommunikation in Franken und Schwaben. Nachrichtennetze fu¨r Bu¨rger, Ra¨te und Kaufleute im Spa¨tmittelalter, in: ZbayLG 62/3 (1999), S. 681–707; ders., Netzwerke in Franken. Zwischenstaatliche Kommunikation in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit, in: Nachdenken u¨ber fra¨nkische Geschichte, hg. v. Erich Schneider (Vero¨ffentlichungen der Gesellschaft fu¨r Fra¨nkische Geschichte, Darstellungen aus der fra¨nkischen Geschichte 9), Neustadt a. d. A. 2005, S. 107–128.

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Mittlerweile gilt als erwiesen, dass sich in solchen „Binnenra¨umen“ gegenseitig anerkannter Herrschaft Nachrichten auf reziproker Basis und daher auch schneller verbreiteten, als in „Außenra¨umen“, wo politische Bindungen und perso¨nliche Beziehungen fehlten.18 Doch was charakterisierte die Nachrichtenzirkulation in den Binnenra¨umen? Zuna¨chst einmal die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung, die vom Inhalt und der Dringlichkeit der Nachricht abha¨ngig war. Auch hier kann man aber von einer einfachen Regel ausgehen: Je sta¨rker Sender und Empfa¨nger vom Geschehen betroffen waren, umso schneller verbreiteten sie die Informationen. Dabei war es gleichgu¨ltig, ob es um u¨berregionale Neuigkeiten wie Herrschertode, Ko¨nigswahlen oder Seuchen ging oder lokale Nachrichten wie Gerichtsentscheide oder Stellungs¨ ffentlichkeiten, fu¨r die sie bestimmt befehle.19 Unterschiede bestanden nur in den O ¨ bermittlern, die sie u¨berbrachten. Auch im Spa¨tmittelalter veraltewaren und den U ten Neuigkeiten schnell, weshalb sich nur dann mit Hilfe von Information herrschen ließ, wenn Empfa¨nger regelma¨ßig versorgt wurden. Eine entsprechend ausgeru¨stete Kanzlei war dafu¨r ebenso notwendig, wie ein personell gut ausgeru¨stetes Nachrichtenwesen. Doch auch dann war die auf Fußboten und Reitern aufgebaute Kommunikation nur in einem Umfeld von 50 bis 100 Kilometern Reisedistanz um das Herrschaftszentrum wirklich effizient. Dies wird aus dem Vergleich der Westschweizer Sta¨dte Bern, Freiburg und Solothurn deutlich. Im Zeitraum zwischen 1379 und 1525 lagen die meisten Zielorte der offiziellen Boten in allen drei Sta¨dten in einer Laufdistanz von ein bis maximal zwei Tagen.20 Dies war nicht ungewo¨hnlich; auch in Frankfurt wurden offizielle Boten zur selben Zeit vorwiegend ins nahe gelegene Mainz, in die Wetterau oder die Landgrafschaft Hessen geschickt. In diesem Fall handelte es sich ebenfalls um Orte, die Frankfurt entweder schon la¨nger als Untertanengebiete oder als Bu¨ndnispartner ansah.21 Letzteres war auch in der Westschweiz Voraussetzung fu¨r den regelma¨ßigen reziproken Nachrichtenaustausch. Die Beziehungen der drei Sta¨dte lassen sich bis ins fru¨he 13. Jahrhundert zuru¨ckverfolgen. Die Basis bildeten zahlreiche, regelma¨ßig erneuerte Bu¨ndnisse, deren dichtes Gefu¨ge als „burgundische Eidgenossenschaft“ umschrie-

18 Dies verdeutlicht Harm von Seggern detailreich an der unterschiedlich schnellen Verbreitung zweier

Nachrichten mit raumu¨bergreifendem Charakter: Der Hochzeit Karls des Ku¨hnen mit Margaretha von York (1468) und seiner misslungenen Ko¨nigskro¨nung in Trier (1473), siehe: Harm von Seggern, Herrschermedien im Spa¨tmittelalter. Studien zur Informationsu¨bermittlung im burgundischen Staat unter Karl dem Ku¨hnen (Kieler historische Studien 41), Ostfildern 2003, S. 273–277 sowie S. 312–329. 19 Vgl. Roland Scha¨ffer, Zur Geschwindigkeit des „staatlichen“ Nachrichtenverkehrs im Spa¨tmittelalter, in: Zeitschrift des Historischen Vereins fu¨r Steiermark 76 (1985), S. 101–121. 20 Statistisch u¨berwiegt der Zwei-Tages-U ¨ bermittlungsrhythmus fu¨r die Distanz Bern-Freiburg i. Ue. In den fu¨r das 15. Jahrhundert erfassten Freiburger Rechnungsquellen (1402–1410, 1430–1452, 1470–1485, 1490–1526) werden 435-mal Botenga¨nge mit diesem Zeithorizont erwa¨hnt, siehe: Hu¨bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 199–205. 21 Pierre Monnet, Wan es stet ubel in disin landen mit grossem kriege ... Die Außenbeziehungen der Reichsstadt Frankfurt am Main im Spa¨tmittelalter, in: Die Wahrnehmung und Darstellung von Kriegen im Mittelalter und in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Horst Brunner (Imagines medii aevi 6), Wiesbaden 2000, S. 199–222, S. 214.

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ben wird.22 Entgegen der gegenseitigen Anerkennung ihrer Rechtsbereiche waren sie alles andere als politisch gleichrangig – trotz u¨berschwa¨nglicher Gleichheitsbeteuerungen in den Urkunden. Es handelte sich dabei um regionale Partnerschaften. Weder Solothurn noch Freiburg verfu¨gten u¨ber die finanziellen Ressourcen des territorial u¨berlegenen Bern, dass sie aufgrund ihrer beschra¨nkten Wirtschaftskraft und außenpolitischen Wirkung als Juniorpartner verstand. Diese Einstellung pra¨gte nicht nur die gegenseitige diplomatische Zusammenarbeit, sondern dru¨ckt sich auch in der Richtung aus, in welcher Informationen geflossen sind. Sowohl Solothurn als auch Freiburg waren seit dem 14. Jahrhundert ha¨ufigstes Ziel Berner Boten. Umgekehrt la¨sst sich a¨hnliches beobachten: Seit den 1440er Jahre schickte der Solothurner Rat seine Nachrichten ebenfalls am ha¨ufigsten nach Bern. Den Freiburger Rechnungsquellen kann man indes entnehmen, dass die Stadt zwischen 1400 und 1450 sta¨rker in den Westen ausgerichtet war. Erst mit dem Savoyerkrieg von 1448 richtete die Freiburger Stadtfu¨hrung ihre Nachrichtenu¨bermittlung nach Osten, in erster Linie ¨ bermacht als u¨berregionales Nachrichtenzennach Bern aus.23 Dieses wusste seine U trum geschickt auszunutzen. So informierte die Stadt ihre kleineren Nachbarn auch dann, wenn zwischen den Orten gerade schwerwiegende politische Differenzen bestanden.24 Am deutlichsten zeigt sich das Ausmaß herrscherlicher Ambition mittels der Informationsverbreitung allerdings am Umgang einer Stadt mit ihrem Territorium; schließlich liegen nach Ausweis der Stadtrechnungen etwa zwei Drittel aller abgerechneten Botenziele in diesem Bereich. Im Gegensatz zum Kontakt zu den Verbu¨ndeten, bei welchem zumeist Gewohnheit vor dem Zeremoniell stand, kam es bei der Nachrichtenverbreitung im eigenen Territorium deutlich ha¨ufiger auf die Wahl des richtigen Amtstra¨gers an. In Sta¨dten mit großem Umland, konnte dieser Anspruch bisweilen zu einer Spezialisierung der Amtstra¨ger auf Ziele, Nachrichten mit bestimmtem Inhalt, Ra¨ume oder Trassen fu¨hren. 1476 wurde in Nu¨rnberg zwischen vier unspezifischen Botenla¨ufern, vier Fronboten, drei Landboten sowie weiteren sieben Boten unterschieden, deren Hauptaufgabe darin bestand, einzig das eigene Untertanengebiet mit den Nachrichten des Rates zu versorgen.25 Selbst wenn die Organisation der Informationsverbreitung in Schweizer Sta¨dten diesen Differenzierungsgrad nie erreicht hat, war auch hier klar, welche Dienstleute zu den Verbu¨ndeten und welche ins Stadtgebiet geschickt wurden. Ersteres oblag in allen drei Sta¨dten vorwiegend La¨ufern, wa¨hrend Reiter vor allem aus repra¨sentativen Gru¨nden in der Gesandtenbegleitung eingesetzt wurden. Ging es jedoch darum, in der eigenen Landschaft zentralo¨rtliche Pra¨senz zu entfalten, wurden Weibel ausgesandt. Fu¨r diese Aufgabe waren sie besonders geeignet, zumal ihre Eide nicht nur

22 Urs M. Zahnd, Art. Burgundische Eidgenossenschaft, in HLS online (http://www.hls-dhs-dss.ch/tex-

tes/d/D27284.php, 26. 1. 2015).

23 Vgl. dazu Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 221–228. 24 Zum vielschichtigen, allerdings auch wechselvollen Verha¨ltnis zwischen Bern und Fribourg siehe auch:

Jean-Jacques Joho, Histoire des relations entre Berne et Fribourg jusqu’en 1308, Neuchaˆtel 1955, S. 10–52. 25 Monnet, Außenbeziehungen (wie Anm. 21), S. 214.

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ordnungsrechtliche Aufgaben enthielten, sondern ihnen auch die Rolle offizieller Ausrufer zuwiesen. Ihr Aufgabenkanon konnte jedoch auch richterliche Funktionen umfassen. Als ausfu¨hrendes Organ ihrer Obrigkeit werden sie meistens schon in den fru¨hen Stadtrechten erwa¨hnt. Sowohl die Berner Handfeste aus den 1270er Jahren als auch das a¨ltere, 1249 kodifizierte Freiburger Stadtrecht, besta¨tigen die freie Wahl der Weibel durch die Stadtgemeinde.26 Nur die Freiburger Handfeste erwa¨hnt allerdings auch ihre Pflicht, der stat botschaft zu u¨bermitteln und zwar in allen enden umbe die stat inderhalb einer tagweide.27 Ihre Rolle als direkte Vertreter obrigkeitlicher Ordnungsvorstellungen wird auch von den Rechnungsquellen des 15. Jahrhunderts besta¨tigt.28 In allen drei Sta¨dten galten Weibel als Dienstma¨nner mit der gro¨ßten physischen und symbolischen Pra¨senz innerhalb und außerhalb der Stadtmauern. Davon zeugt neben der fru¨hen Verschriftlichung ihrer Zusta¨ndigkeiten auch ihre Anzahl. Stets bildeten sie die gro¨ßte Gruppe unter den mit Außenkontakten betreuten niederen Amtstra¨gern. Es wa¨re indes vereinfachend, daraus auf die pauschale Bevorzugung der Weibel bei den Kontakten mit dem Territorium zu schließen. Im Gegenteil; nach Ausweis ihrer Eide geho¨rte die innere Ordnung der Sta¨dte zu ihren Hauptaufgaben, weshalb ihr Auftragsradius auch den bereits angesprochenen geographischen Beschra¨nkungen unterlag. Doch Weibel waren vor allem teuer. Darauf deuten jedenfalls die Solothurner Stadtrechnungen hin. Bis 1470 wurden sie hier fu¨r den Kontakt mit den Vogteien ihres Herrschaftsgebietes bevorzugt. Dies geschah vor allem bei Gerichtsfa¨llen, Kornlieferungen oder bei der Verteilung von Kriegsaufgeboten.29 ¨ nderung der Praxis kam es 1474, als die Stadt das Amt der „billigeren“ StadtZur A la¨ufer schuf, die fortan die Mehrheit dieser Aufgaben u¨bernahmen. Gerade umgekehrt verhielt es sich mit den Kontakten zur Landschaft in Freiburg. Schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts war hier jede Form von Informationsverbreitung an die rund 200 Orte des Untertanengebietes vorwiegend Sache der Weibel (sontiers). Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden von ihnen rund 80 % der abgerechneten Botenga¨nge mit dem Ziel sur le pays ausgefu¨hrt.30 Auch ihre Funktion als „Sprachrohr“ der Obrigkeit ist hier im Gegensatz zu Solothurn mehrfach belegt. So etwa im Falle des Weibels Jehan de Pre, der 1469 ins Herrschaftsgebiet der Stadt ausgesandt wurde, um die Dorfleute mu¨ndlich u¨ber die neuesten Entwicklungen in 26 Hermann Rennefahrt, Die Rechtsquellen des Kantons Bern. Teil I: Stadtrechte, Bd. 5: Das Stadt-

recht von Bern V. Verfassung und Verwaltung des Staates Bern (SSRQ BE 5), Aarau 1959, S. 1–24; zur Geschichte der Berner Handfeste: Rainer C. Schwinges, Erfolgreich gefa¨lscht – die Goldene Handfeste, in: Berns mutige Zeit. Das 13. und 14. Jahrhundert neu entdeckt, hg. v. Dems., Bern 2003, S. 230–232; Hans Strahm, Die Berner Handfeste, Bern 1953. 27 Es handelt sich dabei um eine deutsche U ¨ bersetzung der urspru¨nglich lateinischen Fassung der Freiburger Handfeste von 1249, die in der zweiten Ha¨lfte des 15. Jahrhunderts angefertigt wurde. Der Originaltext lautet: Ianitores et preco ville missigia burgensium infra dietam unam circa villam facere debent, ita quod eodem die ad domos suas possint redire et illi, a quibus mittuntur, debent eis in expensis ¨ chtland. Einleitung und Edition, in: providere, in: Pascal Ladner, Die Handfeste von Freiburg im U Die Freiburger Handfeste von 1249. Edition und Beitra¨ge zum gleichnamigen Kolloquium 1999, hg. v. Hubert Fo¨rster (Scrinium Friburgense 16), Freiburg i. Ue. 2003, S. 11–247, hier S. 178–179, Art. 112. 28 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 90–100. 29 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 223f. 30 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 224f.

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Sachen Burgund zu unterrichten.31 Anders in Bern: Hier wurden Weibel vor allem als verla¨ngerter Arm des Stadtgerichts angesehen, wodurch sie in der Landschaft nur dann als sta¨dtische Ordnungsmacht auftraten, wenn es galt, Gefangene zu u¨berfu¨hren, Schulden einzutreiben oder Harnischschauen zu organisieren. Informationen an die Amtssitze wurden hier beinahe ausschließlich von Stadt¨ ffentlichmachung dieser Nachrichten wurde anschliela¨ufern u¨bernommen. Die O ßend den Landvo¨gten und ihrem Personal u¨berlassen. Da diese Vo¨gte ha¨ufig selbst Berner Ratsherren waren, lag die Umsetzung in ihrem eigenen Interesse.32 Wa¨hrend die Landsleute diese La¨ufer hauptsa¨chlich als Informationsu¨bermittler verstanden, war die Wahrnehmung der sta¨dtischen Weibel weitaus differenzierter. Dies zeigte sich etwa in den zahlreichen kleineren und gro¨ßeren Aufsta¨nden des 15. und fru¨hen 16. Jahrhunderts, bei denen sich die Rebellen auch gegen die Berner Weibel richteten.33 Die herrschaftliche Wirkung von La¨ufern wurde auch von den Zeitgenossen als beschra¨nkt empfunden. Allerdings verlieh ihnen der zunehmende Umfang der sta¨dtischen Briefproduktion – der sich im Falle Berns mit den Burgunderkriegen zu einer regelrechten Informationspolitik verdichtete – neue Prominenz.34 Selbst die Kanzleien mittelgroßer Sta¨dte, zu denen auch Bern geza¨hlt werden muss, waren nach 1470 in der Lage, in einer einzigen Woche mehrere hundert Briefe zu verfassen und u¨ber La¨ufer verschicken zu lassen35. Die Informationsmenge wurde zunehmend zum Durchsetzungsmittel politischer Absichten, ganz im propagandistischen Sinne. Seine extremste Form stellte der Briefkrieg dar, welcher zwischen 1476 und 1480 auch im eidgeno¨ssischen Raum zwischen dem Grafen Oswald III. von Thierstein und der Stadt Basel nachweisbar ist.36 Es handelte sich dabei um eine schriftlich gefu¨hrte Fehde, bei welcher die Kontrahenten versuchten, durch die massenhafte Verbreitung drucktechnisch oder handschriftlich vervielfa¨ltigter Briefe, die Eliten ganzer Landstriche von ihrer jeweiligen Position zu u¨berzeugen. Auch wenn es dem Thiersteiner nicht gelang, seine territorialen Forderungen gegenu¨ber Basel durchzusetzen, zeigt sein Beispiel jedoch, dass praktisch jeder Herrschaftstra¨ger, der genu¨gend Nachrichtenboten organisieren konnte, auf diese Weise zumindest fu¨r kurze Zeit große Raumpra¨senz entfalten konnte.

31 Item a jehan de pres soutier trammis sus la pays faire certains q(o)mandements entre deux foys – vii s,

in: Stadtarchiv Fribourg, CT 134a (1469/II), S. 26.

32 Vgl. Simon Teuscher, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilita¨t und Politik in der Stadt Bern um

1500 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Fru¨her Neuzeit 9), Ko¨ln/ Weimar/Wien 1998. 33 Zu den Aufsta¨nden in der Berner Landschaft und allgemein: Peter Bierbrauer, Freiheit und Gemeinde im Berner Oberland 1300–1700 (ArchHVBern 74), Bern 1991; Peter Blickle, Unruhen in der sta¨ndischen Gesellschaft 1300–1800, Mu¨nchen 1988. 34 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 214ff. 35 Fu¨r das Aufzeichnen der politischen und verwaltungstechnischen Schritte, die es braucht, bevor eine Stadt in den Krieg zieht, immer noch unerreicht: Esch, Alltag der Entscheidung (wie Anm. 6), S. 11–86. 36 Dorothea A. Christ, „... dannen die geschrifften kein ende wu¨rden haben“. Ein Briefkrieg Graf Oswalds von Thierstein mit der Stadt Basel (1476–1480), in: Basler Zeitschrift fu¨r Geschichte und Altertumskunde 95 (1995), S. 33–56.

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Die Unscheinbarkeit von Fußla¨ufern ero¨ffnete ihren Auftraggebern allerdings noch weitere Einsatzmo¨glichkeiten. Da sie weniger auffielen und anscheinend auch als harmloser empfunden wurden, scheinen sie fu¨r informelle Auftra¨ge geradezu pra¨destiniert gewesen zu sein.37 Zudem waren La¨ufer ha¨ufiger unterwegs als die repra¨sentativeren Weibel oder Reiter. Dadurch kamen sie auch in Herbergen sta¨rker mit ¨ ffentlichkeit in Kontakt. Ihre halbden Meinungen und Geru¨chten der damaligen O o¨ffentliche Stellung – als einzige unter den mit Außenkontakten betrauten Amtstra¨gern durften sie Auftra¨ge von Privatleuten entgegennehmen – gab den sta¨dtischen Entscheidungstra¨gern die Freiheit, sie auch mal ohne Insignien und Amtskleidung auszuschicken.38 So wurden Berner Stadtla¨ufer in den seit 1400 regelma¨ßig durchge¨ mterbefragungen auch als Beobachter eingesetzt. Diese ließ der Berner Rat fu¨hrten A in regelma¨ßigen Absta¨nden durchfu¨hren, um die allgemeine Stimmung zu ermitteln. ¨ mter befragte, wurden Wa¨hrend man in den Anfangszeiten nur das Personal der A Ende des 15. Jahrhunderts alle Ma¨nner u¨ber 14 Jahren zusammengerufen und zu territorial relevanten Sachfragen konsultiert, am ha¨ufigsten zur Bu¨ndnispolitik und der finanziellen und personellen Beteiligung an Kriegszu¨gen.39 Um 1500 betrafen solche geordneten Zusammenku¨nfte immer ha¨ufiger die Reisla¨uferei oder finanzielle Beteiligungen an der Einnahme aus Pensionsgeldern, die vorwiegend in die Taschen vermo¨gender Stadtbu¨rger flossen – beides Themen mit beachtlichem Konfliktpotential. Dass dabei La¨ufer als Beobachter auftraten, wurde von den Landleuten anerkannt, war letzteres doch eine offizielle Funktion, der im Gegensatz zu Konfliktzeiten nicht der Deckmantel des Heimlichen anhing, selbst wenn es auch hierbei eigent¨ bermittler waren verlich nur um die Kontrolle der Untertanenmeinung ging. Die U pflichtet, ihren Auftraggebern mu¨ndlich u¨ber die Stimmung, auffa¨llige Personen oder Vorfa¨lle Bericht zu erstatten.40 Doch genauso wie die Sta¨dte trotz reger Informationskontakte niemals u¨ber alle Vorkommnisse in den Untertanengebieten Bescheid wissen konnten, ließ sich auch die Verbreitung klandestiner Nachrichten nicht unterbinden. Daher wurden Weibel oder La¨ufer auch schon mal als Kundschafter ausgeschickt, was in Friedenszeiten auf die Abkla¨rung eines Sachverhaltes vor Ort hinauslief. Am ha¨ufigsten kam dies bei der Verbreitung von Geru¨chten vor, die in den Solothurner Rechnungsquellen unter der Bezeichnung gru¨sch auftauchten.41 Zumeist handelte es sich um mu¨ndliche Informationen, denen allerdings dann besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden musste, wenn sie die Integrita¨t des Territoriums oder eigene politisch-milita¨rische Absichten gefa¨hrdeten. Dies ist etwa 1460 fu¨r Solothurn belegt, als in der Bas37 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 261–263. 38 Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 136ff. 39 Zu den Berner A ¨ mterbefragungen allgemein: Catherine Schorrer, Berner A ¨ mterbefragungen. Unter-

tanenrepra¨sentation und -mentalita¨t im ausgehenden Mittelalter, in: Berner Zeitschrift fu¨r Geschichte ¨ mterbefragungen 1495–1422, in: und Heimatkunde 51 (1989), S. 217–253; Christian Erni, Bernische A ArchHVBern 39 (1948), S. 1–124. 40 Zu den verbrieften und nicht verbrieften Aufgaben von Nachrichtenboten, siehe: Hu ¨ bner, Im Dienste (wie Anm. 10), S. 129–136. 41 Zu Geru¨chten allgemein: Martin Bauer, Die „Gemain Sag“ im spa¨ten Mittelalter. Studien zu einem ¨ ffentlichkeit und seinem historischen Auskunftswert, Erlangen 1981. Faktor mittelalterlicher O

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ler Landschaft das Geru¨cht umging, eidgeno¨ssische Kontingente wollten die Stadt Liestal erobern.42 Doch ra¨umliche Kontrolle mittels Information ließ sich auch u¨ber die Weiterleitung solcher Informationen an nahra¨umliche Verbu¨ndete manifestieren. Vor allem in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts haben Solothurn, Basel und Bern regelma¨ßig Informationen zu Geru¨chten ausgetauscht. So wurde der Solothurner La¨ufer Henman Zeiss 1482 von gru¨schen wegen nach Bern gesandt, nachdem der ¨ bermittler erhalten hatte.43 Beide Solothurner Rat diese Nachricht von einem Basler U Male ging es um die territorienu¨bergreifende Problematik der Reisla¨uferei. Zusammenfassend la¨sst sich festhalten, dass die Nachrichtenu¨bermittlung u¨ber offizielle Boten auch fu¨r spa¨tmittelalterliche Sta¨dte ein mediales Herrschaftsmittel war. Sowohl der transportierte Nachrichteninhalt, die symbolische Bedeutung des ¨ bermittlers als auch die realen Mo¨glichkeiten seines Amtes kamen dabei zum TraU gen. Dies machte die niederen Amtstra¨ger Weibel, Reiter und La¨ufer, trotz ihres eingeschra¨nkten politischen Mitspracherechts zu Agenten ihrer Obrigkeit im und außerhalb des sta¨dtischen Raumes. Dieser Anspruch funktionierte allerdings nur dort, wo ihre sta¨dtischen Auftraggeber als Ordnungsmacht auch anerkannt waren, d. h. am ehesten im eigenen Stadtgebiet oder bei den Verbu¨ndeten. Will man dies ra¨umlich fassen, bietet sich der im Freiburger Stadtrecht von 1249 genannte Begriff der Tagweide an, mit welcher jene Distanz umschrieben wird, die ein Weibel in einem Tag zuru¨cklegen konnte. In diesem Raum entluden sich die intensivsten Herrschaftsambitionen der Stadt, hier wurden auch die teilweise subtilen Unterschiede zwischen den ausgesandten Amtstra¨gern am empfindlichsten wahrgenommen. Hier konnten Sta¨dte auch am sta¨rksten u¨ber Informationen herrschen: So u¨ber das regelma¨ßige Weiterleiten von Nachrichten, die indirekte Kontrolle durch die sta¨ndige Pra¨senz ihrer mobilen Vertreter im Raum, im Notfall aber auch durch das Versenden von Massenbriefen. Auf diese Weise trugen Boten aktiv zur Visualisierung der Herrschaft im Raum bei.

42 Bruno Amiet, Die Solothurnische Territorialpolitik von 1344–1533, in: Jahrbuch fu¨r Solothurnische

Geschichte 1 (1928), S. 1–211, hier S. 136, Anm. 6.

43 Stadtarchiv Solothurn, BB 25/26 (1482), S. 118f.

INFORMELL = INOFFIZIELL? Die Bedeutung sta¨dteu¨bergreifender Kontakte fu¨r die Außenpolitik wa¨hrend der Burgunderkriege* von Bastian Walter-Bogedain

I. Einleitung

Am 5. April 1473 wandte sich der damals amtierende Basler Bu¨rgermeister Hans von Ba¨renfels in einem kurzen Brief an seinen Straßburger Kollegen und dortigen Stettmeister Hans Rudolf von Endingen.1 Darin berichtete er von Truppenbewegungen im Herzogtum Savoyen, bat ihn ebenfalls um Neuigkeiten fragte zuletzt, waß gefellens die Rete in Straßburg ha¨tten. Die Antwort aus Straßburg erfolgte prompt: Bereits einen Tag spa¨ter, datiert auf den 6. April, findet sich ein in der ersten Person Singular gehaltenes Schreiben des Straßburger Stettmeisters an seinen Basler Kollegen, in dem er ihm mitteilte, dass die Straßburger Ra¨te bisher noch nichts beschlossen ha¨tten, ihm fu¨r die gegebenen Informationen u¨ber die Truppenbewegungen dankte und ihm versicherte, auch er werde ihm Neuigkeiten mitteilen, sobald er sie erfahre.2 Am Ende seines Briefes gab er an, er sei zum Hauptmann der Straßburger Truppen bestimmt worden, die nun gegen den lothringischen Herzog vorgehen wollten. All das klingt nicht weiter ungewo¨hnlich, doch fu¨hrt der Briefwechsel der beiden Ra¨te mitten in das Zentrum des vorliegenden Beitrags. Denn der Straßburger Endingen hielt sich zum Zeitpunkt seiner vorgeblichen Antwort nicht mehr in seiner Heimatstadt auf, sondern war bereits seit dem 4. April 1473 auf dem Feldzug nach Lothringen unterwegs. Damit kann es nicht Endingen selbst gewesen sein, der die Antwort an den Basler verfasste – doch wer dann? Auf dieses Beispiel wird noch zuru¨ckzukommen sein, doch soll zuna¨chst der Kontext des betrachteten Zeitraums kurz umrissen werden. Zum Zeitpunkt des erwa¨hnten Briefwechsels, dem Fru¨hjahr des Jahres 1473, na¨herten sich die Eidgenossen mit Bern an der Spitze den oberrheinischen Reichssta¨dten, von denen insbeson* Ich danke Nils Bock M. A. (Mu¨nster), Dr. Klara Hu¨bner (Fribourg), Prof. Dr. Jochen Johrendt (Wup-

pertal) und PD Dr. Michael Jucker (Luzern) fu¨r zahlreiche Gespra¨che und fruchtbare Diskussionen, ohne die der vorliegende Beitrag nicht zustande gekommen wa¨re. 1 Archives Municipales et Communautaires de Strasbourg (im Folgenden AMS), AA 264, fol. 9. 2 AMS AA 264, fol. 11.

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dere Straßburg und Basel zu erwa¨hnen sind, einander stetig an.3 Die Ursache fu¨r ihre Anna¨herung war die aggressive Politik des burgundischen Herzogs Karls des Ku¨hnen und seiner Amtstra¨ger, die seit 1469 ihren Einfluss am Oberrhein stetig auszubauen versuchten und infolgedessen auch den Berner Bu¨ndnispartner, die Reichsstadt Mu¨lhausen im Sundgau, hart bedra¨ngten.4 Der Grund dafu¨r lag im Vertrag von St. Omer, einem Vertrag, der im Mai 1469 zwischen dem burgundischen Herzog Karl dem Ku¨hnen und dem o¨sterreichischen Herzog Sigmund geschlossen worden war, und in dem letzterer dem Erstgenanten große Teile seiner Besitzungen am Oberrhein, unter anderem auch den erwa¨hnten Sundgau, verpfa¨ndet hatte.5 Im Gegenzug dafu¨r hatte Karl der Ku¨hne dem stets in Finanzno¨ten steckenden Sigmund neben einer großen Geldsumme Waffenhilfe im Falle eines Krieges gegen die Eidgenossen versprochen. Und das war der Punkt, an dem sich die Interessen der Eidgenossen mit Bern an der Spitze und die der oberrheinischen Reichssta¨dte Straßburg und Basel trafen. Alle drei sahen ihren politischen Einfluss in den verpfa¨ndeten Gebieten schwinden, und alle drei hatten ein unbedingtes Interessen am Verbleib des Sundgaus mit der Reichsstadt Mu¨lhausen in dessen Zentrum im Reich. Sie setzten alles daran, die neuen burgundischen Machthaber aus den verpfa¨ndeten Gebieten zu verdra¨ngen. Vor allem in den Jahren 1473 und 1474 fanden daher fast wo¨chentlich Versammlungen von Vertretern der Sta¨dte statt, die intensiv an der Lo¨sung der Probleme mit Burgund sowie an Entwu¨rfen fu¨r ein Bu¨ndnis zwischen sich arbeiteten.6 Ende Ma¨rz 1474 war es schließlich soweit: Die Eidgenossen verbu¨ndeten sich mit den oberrheinischen Reichssta¨dten gegen den burgundischen Herzog Karl den Ku¨hnen, und da sie auch noch den franzo¨sischen Ko¨nig Ludwig XI. und den o¨sterreichischen Herzog Sigmund fu¨r dieses Bu¨ndnis gewinnen konnten, bedeutete dies in letzter Konsequenz

3 Zu diesem Anna¨herungsprozess aus Sicht der genannten drei Sta¨dte vgl. Bastian Walter, Informatio-

nen, Wissen und Macht. Tra¨ger und Techniken sta¨dtischer Außenpolitik: Bern, Straßburg und Basel im Kontext der Burgunderkriege (1468–1477) (VSWG 218), Stuttgart 2012. 4 Zu den Problemen der Reichsstadt Mu¨lhausen im Untersuchungszeitraum vgl. Philippe Mieg, Les difficulte´s de Mulhouse a` l’e´poque de son alliance avec Berne et Soleure. I. Les preliminaires de l’alliance et la Guerre des Six Deniers (1465–1466), in: Bulletin du muse´e historique de Mulhouse 73 (1965), S. 31–84; ders., II. La reprise de la lutte avec la noblesse autrichienne (1466–1468), in: ebd., 74 (1966), S. 5–109; ders., III. La campagne des suisses et les suites du traite´ de Waldshut (1468–1469), in: ebd., 75 (1967), S. 39–118; ders., IV. Les tentatives d’annexion de Pierre de Hagenbach (1469–1474), in: ebd., 76 (1968), S. 47–154. Allgemein zum Vorfeld der Burgunderkriege vgl. Claudius Sieber-Lehmann, Spa¨tmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft (VMPI 116), Go¨ttingen 1995; Arnold Esch, Karl der Ku¨hne und die Burgunderkriege aus der Sicht Berns, in: Karl der Ku¨hne von Burgund: Fu¨rst zwischen europa¨ischem Adel und der Eidgenossenschaft, hg. v. Klaus Oschema/Rainer C. Schwinges, Zu¨rich 2009, S. 203–222; Karl Bittmann, Ludwig XI. und Karl der Ku¨hne. Die Memoiren Philippe de Commynes als historische Quelle (VMPI 9/II/1 und 2), Go¨ttingen 1970 (wo nicht anders vermerkt, wird diesen Darstellungen gefolgt). 5 Zum Vertrag von Saint-Omer vgl. Louis Stouff, Les Origines de l’annexion de la Haute-Alsace a` la Bourgogne en 1469. E´tude sur les terres engage´es par l’Autriche en Alsace depuis le XIVe sie`cle, spe´cialement la seigneurie de Florimont, Dijon u. a. 1900; ders., Les Possessions Bourguignonnes dans la valle´e du Rhin sous Charles le Te´me´raire. D’apre´s l’informations de Poinsot et de Pillet, commissaires du Duc de Bourgogne 1471, Paris 1904. 6 Zu den diesbezu¨glich abgehaltenen Versammlungen und den zu diesen abgeordneten Diplomaten der erwa¨hnten Sta¨dte vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 27–151.

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Krieg gegen Karl den Ku¨hnen und seine Verbu¨ndeten.7 Tatsa¨chlich brach dieser noch im Oktober desselben Jahres aus und fu¨hrte drei Jahre spa¨ter mit dem Tod des Herzogs letztlich zum Verschwinden Burgunds von der politischen Landkarte Europas im Spa¨tmittelalter. Wichtig scheint im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags jedoch das Folgende: Als sich im Fru¨hjahr 1474 Straßburg, Basel und Bern gegen den burgundischen Herzog verbu¨ndeten, bedeutete dies nicht einen Wendepunkt in den Beziehungen der Sta¨dte untereinander, die sich nun als Bu¨ndnispartner begriffen. Dem Bu¨ndnisabschluss vorausgegangen waren neben den erwa¨hnten Gespra¨chen eine hohe Anzahl von untereinander geschriebenen Briefen8, mit denen die spa¨teren Bu¨ndnispartner das Ziel verfolgt hatten, Vertrauen zwischen sich aufzubauen und zu etablieren.9 Da viele Ra¨te aus Familien stammten, die noch im Untersuchungszeitraum am Handel partizipierten und daher ein gemeinsames merkantiles Interesse besaßen, bedurfte der Aufbau von Vertrauen vermutlich keiner allzu großen Anstrengung.10 Diese wirtschaftlichen Kontakte hatten bereits in den Jahrzehnten zuvor zur Bildung von Handelsgesellschaften, wie der in den 1420er Jahren gegru¨ndeten „Diesbach-Watt-Gesellschaft“, gefu¨hrt, an denen teilweise Kaufleute aus allen drei Sta¨dten beteiligt gewesen waren.11 Aus wirtschaftlichen Verbindungen entstanden perso¨nliche Beziehungen, die spa¨ter mitunter durch Heiraten verankert wurden oder in gemeinsamen Pilgerfahrten ihren Ausdruck fanden.12 7 Zu den interessanten Verhandlungen, die letztlich zum Zusammengehen der Eidgenossen mit dem

franzo¨sischen Ko¨nig Ludwig XI. fu¨hrten vgl. Bastian Walter, Die Verhandlungen zur Ewigen Richtung (1469–1474/75). Das Schiedsgericht und die Diplomatie zwischen der Eidgenossenschaft, Frankreich und dem Hause Habsburg, in: Rechtsformen internationaler Politik 800–1800. Theorie, Norm und Praxis, hg. v. Michael Jucker/Martin Kintzinger/Rainer C. Schwinges (ZHF, Beih. 45), Berlin 2011, S. 109–147; ders./Martin Kintzinger): „Qui desiderat pacem praeperat bellum“. Krieg, Frieden und internationales Recht im Spa¨tmittelalter, in: Dis/kurs 1 (2008), S. 39–54. 8 Zu Korrespondenzwesen und Kommunikationspraxis in der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert vgl. die exzellenten Ausfu¨hrungen von Michael Jucker, Trust and Mistrust in Letters. Late Medieval diplomacy and its Communicational Practices, in: Strategies of Writing. Studies on Text and Trust in the Middle Ages, hg. v. Marco Mostert/Petra Schulte (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), Utrecht 2008, S. 213–236; ders., Vertrauen, Symbolik, Reziprozita¨t. Das Korrespondenzwesen eidgeno¨ssischer Sta¨dte als kommunikative Praxis, in: ZHF 34 (2007), S. 189–213; ders., Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgeno¨ssischen Tagsatzungen im Spa¨tmittelalter, Zu¨rich 2004. 9 Zum Vertrauen im betrachteten Zeitraum vgl. Jucker, Vertrauen (wie Anm. 8); ders., Gesandte (wie Anm. 8), S. 195–225; ders., Trust and Mistrust (wie Anm. 8), S. 213–236; allgemein zum Vertrauen im ¨ berlegungen, in: Mittelalter vgl. Dorothea Weltecke, Gab es Vertrauen im Mittelalter? Methodische U Vertrauen. Historische Anna¨herungen, hg. v. Ute Frevert, Go¨ttingen 2003, S. 66–89. 10 Dazu vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 147–151. 11 Zur Diesbach-Watt-Gesellschaft vgl. Hektor Ammann, Die Diesbach-Watt-Gesellschaft. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte des 15. Jahrhunderts (Mitteilungen zur Vaterla¨ndischen Geschichte 37/1), St. Gallen 1928; ders. Elsa¨ssisch-schweizerische Wirtschaftsbeziehungen im Mittelalter, in: ElsaßLothringisches Jahrbuch 7 (1928), S. 36–61. 12 Vgl. beispielsweise den Bericht der Pilgerfahrt des Basler Bu¨rgermeisters Hans Rot ins Heilige Land, die er u. a. gemeinsam mit Nikolaus von Diesbach unternahm, August Bernoulli, Hans und Peter Rot’s Pilgerreisen, in: Beitra¨ge zur vaterla¨ndischen Geschichte 11 (1882), S. 329–408; zur Bedeutung der Kontakte zwischen Ha¨ndlern vgl. Mark Ha¨berlein, Bru¨der, Freunde und Betru¨ger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Colloquia Augustana 9), Berlin 1998; ders., Handelsgesellschaften, Sozialbeziehungen und Kommu-

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Vor diesem Hintergrund ist die Nutzung dieser Kontakte durch die Fu¨hrungsgremien nicht verwunderlich, besaßen diese damit doch zusa¨tzliche Mo¨glichkeiten zur Aufnahme von Kontakten, und es fiel ihnen leichter, ihre(n) Kommunikationspartner zu beeinflussen und an fu¨r sie wichtige Informationen zu gelangen, was wesentlich zur Sta¨rkung des Vertrauens unter den (spa¨teren) Bu¨ndnispartnern beitrug. Kurzum: Auf diese Weise wurde ihr Bu¨ndnis vorbereitet und nach seinem Abschluss gleichermaßen gesta¨rkt. Bei alldem stellt sich die Frage, ob man informell mit inoffiziell gleichsetzen kann oder muss.13 Worum wird es also im folgenden Beitrag gehen? Wa¨hrend im ersten Teil versucht wird, mo¨glichen Hinweisen auf informelle Kontakte nachzugehen, sollen im zweiten Teil einige Beispiele fu¨r derartige Kontakte zwischen einzelnen Ra¨ten aus Bern, Straßburg und Basel behandelt werden. Im dritten Teil wird daraufhin mit dem Beispiel der adligen Berner „Stube zum Narren und Distelzwang“ ein etwaiges Forum fu¨r informelle Kontakte vorgestellt. In der Zusammenfassung schließlich werden die gewonnenen Ergebnisse gebu¨ndelt.

nikationsnetze in Oberdeutschland zwischen dem ausgehenden 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Kommunikation und Region, hg. v. Carl A. Hoffmann/Rolf Kiessling (Forum Suevicum. Beitra¨ge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 4), Konstanz 2001, S. 305–327. 13 Es existieren bislang nur wenige Studien zur Bedeutung von Informalita¨t im Mittelalter; Ausnahmen bilden dabei Colin Richmond, Ruling Classes and Agents of the State, Formal and Informal Networks of Power, in: Journal of Historical Sociology 10 (1997), S. 1–26; die Bedeutung von informellen Kontakten fu¨r die Diplomatie betonen auch Simon Teuscher, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilita¨t und Politik in der Stadt Bern um 1500 (Norm und Struktur 9), Ko¨ln/Wien 1998; ders., Politics of Kinship in the City of Bern at the End oft he Middle Ages, in: Kinship in Europe. Approaches to LongTerm Development (1300–1900), hg. v. David Sabean/Simon Teuscher/Jon Mathieu, New York/ Oxford 2007, S. 76–90; Andreas Wu¨rgler, Individuelle und kollektive Akteure in den Außenbeziehungen der Alten Eidgenossenschaft, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalita¨t im historischen Wandel, hg. v. Hillard von Thiessen/Christian Windler (Externa 1), Ko¨ln u. a. 2010, S. 82–92; Michael Jucker, Geheimnis und Geheimpolitik. Methodische und kommunikative Aspekte zur Diplomatie des Mittelalters, in: Spezialisierung und Professionalisierung. Tra¨ger und Foren sta¨dtischer Außenpolitik wa¨hrend des spa¨ten Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Christian Jo¨rg/Michael Jucker (Trierer Beitra¨ge zu den historischen Kulturwissenschaften 1), Wiesbaden 2010, S. 79ff.; Bastian Walter, „Bons amis“ et „agents secrets“. Les re´seaux de communication informels entre allie´s, in: Ligues urbaines et espace a` la fin du Moyen Age: Sta¨dtebu¨nde und Raum im Spa¨tmittelalter, hg. v. Laurence Buchholzer/Olivier Richard (Collections de l’Universite´ de Strasbourg, Sciences de l’histoire), Strasbourg 2012, S. 179–200; ders., Informelle Kontaktnetze in der Eidgenossenschaft und am Oberrhein im Vorfeld und wa¨hrend der Burgunderkriege (1468–1477), in: Grenzen des Netzwerks, hg. v. Kerstin Hitzbleck/Klara Hu¨bner, Ostfildern 2013 (im Druck); ders., Informationen, S. 185–213; vgl. auch Informelle Strukturen bei Hof: Ergebnisse des gleichnamigen Kolloquiums auf der Moritzburg bei Dresden, 27. bis 29. September 2007, hg. v. Reinhardt Butz (Vita Curialis 2), Berlin 2009.

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II. Alternative Abfassungsorte oder: Erste Hinweise auf informelle Kontakte

Ich komme damit zum ersten Punkt meines Beitrags, den mo¨glichen Hinweisen auf informelle Kontakte.14 Um sich diesen Kontakten zu na¨hern, hilft es, zuna¨chst den Blick nach Bern zu richten. Dass die erhaltenen Quellenbesta¨nde nur wenige Hinweise auf sie enthalten, fu¨hrte dazu, dass eine Analyse ihrer Bedeutungszusammenha¨nge und ihres Funktionierens bisher nur in Ansa¨tzen in der bisherigen Forschung durchgefu¨hrt wurde. Hinzu kommen zahlreiche methodische Probleme: So wurden in Bern in die Missivenbu¨cher nur Entwu¨rfe der Briefe eingetragen, an deren Inhalt der Rat besonders interessiert war und ein gesteigertes Interesse hatte. Wa¨hrend der gro¨ßte Teil von diesen auf Beschluss des gesamten Ratsgremiums abgefasst wurde, wie die unter ihnen stehenden Zusa¨tze (coram toto consilio) verraten, scheinen einige Briefe jedoch dezidiert im Auftrag einzelner Ratsherren geschrieben worden zu sein, wie ebenfalls aus den unter ihnen stehenden Zusa¨tze hervorgeht.15 Gerade in Konfliktzeiten wie der betrachteten heißt es sehr ha¨ufig, dass sie beispielsweise coram Sculteto N. N. und damit im Auftrag des jeweils amtierenden Schultheißen oder anderer Ra¨te abgefasst worden seien. Wa¨hrend die Mehrheit der Briefe an auswa¨rtige Ratsgremien gerichtet war, schrieb man einige gezielt an einzelne auswa¨rtige Ra¨te, was als erster Hinweis auf informelle Kontakte bewertet werden kann. Ein weiterer Hinweis auf informelle Kontakte der Berner Ra¨te findet sich ebenfalls unter den Briefentwu¨rfen in den Missivenbu¨chern, und zwar bei den dort genannten Abfassungsorten.16 Denn da der Stadtschreiber und die Kanzleimitarbeiter die auf den Ratssitzungen beschlossenen Briefe u¨blicherweise in der Kanzlei anfertigten, enthielten diese keine Angaben u¨ber Orte, an denen sie geschrieben worden waren. Daher muss man aufmerksam werden, wenn unter den Schreiben alternative Abfassungsorte genannt werden. Der erste in diesem Zusammenhang vorzustellende Brief ist an den Markgrafen Rudolf von Baden-Hachberg gerichtet, der im vorliegenden Beitrag noch ha¨ufiger auftauchen wird. Er wurde Ende November 1469 vom Berner Stadtschreiber Fricker im Auftrag des damals amtierenden Schultheißen Nikolaus von Scharnachtal verfasst.17 Als Abfassungsort fungierte ho¨chstwahrscheinlich das Wirtshaus „Zur roten Glocke“, das dem wohlhabenden Berner Bu¨rger Jakob Lombach geho¨rte. Zu dieser Ansicht gelangt man, liest man die Angabe unter dem Brief, nach der dieser im Auftrag des amtierenden Schultheißen in domo Lombach abgefasst wurde. Der Inhalt des Schreibens ist insofern interessant, als der Berner Schultheiß den hochrangigen Herrschaftstra¨ger darum bat, sich fu¨r die Belange des Berner Bu¨ndnispartners Mu¨lhausen beim burgundischen Landvogt in den verpfa¨ndeten Gebieten, Peter von Hagenbach, einzusetzen. Das Wirtshaus als Abfassungsort deutet auf einen weiteren interessanten Aspekt hin. Denn es scheint u¨blich

14 Dazu vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 186ff. 15 Ein Beispiel von vielen findet sich im StaatsA Bern, Dt. Missiven A, fol. 307. 16 Dazu vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 186. 17 StaatsA Bern, Dt. Missiven A, fol. 641; vgl. dazu Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 187.

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gewesen zu sein, dass sich die Ra¨te nach ihren Sitzungen in Wirtsha¨usern zu informellen Gespra¨chen zusammensetzten, um bei einem so genannten schlaftrunck noch weiter zu diskutieren.18 Nicht das Wirtshaus, sondern sein eigenes Wohnhaus diente dem Berner Rat Nikolaus v. Diesbach Ende Februar 1475 als Abfassungsort seines Briefs, den er vom Stadtschreiber Fricker an den Bischof von Sitten, schreiben ließ.19 Darauf deutet die Formulierung unter dem Briefentwurf hin, nach der er coram Sculteto von Diesbach in domo sua abgefasst wurde. In ihm berichtete Diesbach dem geistlichen Herrschaftstra¨ger von den neuesten Ereignissen im Krieg der Eidgenossen gegen Karl den Ku¨hnen und dessen Verbu¨ndeten. Zahlreiche Formulierungen deuten an, dass die beiden schon zuvor in Kontakt miteinander gestanden und dies auch fu¨r die Zukunft geplant haben mu¨ssen. So versprach Diesbach, die bischo¨flichen Anliegen auf einer Versammlung mit den eidgeno¨ssischen und oberrheinischen Bu¨ndnispartnern zu vertreten und ihm die Ergebnisse der Gespra¨che mitzuteilen. Aber auch er selbst bat den Bischof, ihn gleichermaßen u¨ber Neuigkeiten im Bistum Sitten zu informieren.20 Ein weiteres, Anfang 1470 im Hause Diesbachs von Stadtschreiber Fricker angefertigtes Schreiben stellt eine Antwort an Mu¨lhausen dar.21 In ihm versicherte Diesbach den Ra¨ten des Bu¨ndnispartners, dass er um ihre Probleme mit den neuen burgundischen Machthabern wisse und sich fu¨r ihre Anliegen einzusetzen gedenke. Wie zahlreiche Streichungen, Bemerkungen und Einschu¨be im Entwurf des Briefs im Berner Missivenbuch zeigen, war dieser anscheinend Gegenstand von intensiven Diskussionen zwischen dem Stadtschreiber und Diesbach. Die vorgestellten Beispiele von alternativen Abfassungsorten ließen sich problemlos erweitern und beweisen, dass es fu¨r einzelne Berner Ra¨te mit Hilfe des Stadtschreibers mo¨glich war, informelle Kontakte zu knu¨pfen und zu pflegen.22 Damit komme ich zum zweiten Teil, in dem es um die informellen Kontakte zwischen einzelnen Ra¨ten aus den untersuchten Sta¨dten gehen soll.

18 Zum „schlaftrunck“ vgl. Teuscher, Bekannte (wie Anm. 13), S. 196; einige Beispiele fu¨r Wirtsha¨user

als Orte politischer Versammlungen der Eidgenossen nennen auch Jucker, Geheimnis (wie Anm. 9), S. 79f.; Andreas Wu¨rgler, Boten und Gesandte an den eidgeno¨ssischen Tagsatzungen. Diplomatische Praxis im Spa¨tmittelalter, in: Gesandtschafts- und Botenwesen im spa¨tmittelalterlichen Europa, hg. v. Rainer C. Schwinges/Klaus Wriedt (VuF 60), Sigmaringen 2003, S. 294f. 19 StABe Dt. Missiven C, fol. 386; vgl. dazu Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 187. 20 Zur politischen Ausrichtung des Wallis im Kontext der Burgunderkriege vgl. Alfred Grand, Der Anteil des Wallis an den Burgunderkriegen, Brig 1913. 21 StaatsA Bern, Dt. Missiven A, fol. 656–658; vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 187f. 22 Zu den informellen Kontakten der Stadtschreiber vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 195–205; ders., „Bons amis“ (wie Anm. 13).

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III. Informelle Kontakte zwischen Ra¨ten

1. Liebster frund: Kontakte zwischen Bern und Basel Einen auf den ersten Blick als informell zu charakterisierenden Kontakt zwischen Ra¨ten aus Bern und Basel offenbart ein Schreiben, das Ende Mai 1470 wegen herrn Niclausen von Diespachs an den ehemaligen Oberzunftmeister Basels, Hans Bremenstein, geschrieben wurde.23 Wie die Familie von Diesbach war auch die des Baslers Jahrzehnte zuvor im Tuchhandel ta¨tig gewesen und Bremenstein selbst einer der wichtigsten Basler Diplomaten bezu¨glich der Probleme der Reichsstadt Mu¨lhausen und fu¨r Gespra¨che mit den Eidgenossen.24 Auf den diesbezu¨glich gefu¨hrten Versammlungen war er ha¨ufig mit den Mitgliedern der Berner Fu¨hrungsgruppe, so unter anderem auch mit Nikolaus von Diesbach zusammengetroffen, um u¨ber das gegen Burgund gerichtete Bu¨ndnis zu diskutieren. Da der Brief in der ersten Person Singular geschrieben wurde, wurde er vom Unterschreiber der Berner Kanzlei, dem noch vorzustellenden Diebold Schilling, im Namen von Nikolaus v. Diesbach angefertigt. In ihm bedankte sich Diesbach zuna¨chst bei seinem sundern geliebten frunde Bremenstein fu¨r dessen letzten Brief, der den Problemen Mu¨lhausens geschuldet gewesen sei, was ein Hinweis auf einen schon zuvor herrschenden Informationsaustausch ist. Das deutet bereits an, dass die beiden schon zuvor Briefe ausgetauscht haben mu¨ssen. Diesbach gab u¨berdies an, er habe kurz zuvor gemeinsam mit einem Ratskollegen und dem Solothurner Stadtschreiber auf einer Versammlung mit Mu¨lhausener Abgeordneten gesprochen und ihnen empfohlen, sich den burgundischen Amtstra¨gern gegenu¨ber freundlich zu verhalten, da man auf diese Weise eher zur Lo¨sung ihrer Schwierigkeiten beitragen ko¨nne. Zuletzt versicherte Diesbach, dass sich die Ra¨te in Basel sicher sein ko¨nnen, dass Bern seinen Bu¨ndnispartner im Sundgau nicht vergesse. Interessanterweise findet sich im Berner Missivenbuch fu¨r denselben Tag auch ein „offizielles“ Schreiben des gesamten Berner Rats an die Basler Fu¨hrungsgruppe.25 Dieses enthielt jedoch weniger vertrauliche Details als der Brief von Diesbach an Bremenstein. Ebenfalls zu den auf den ersten Blick als informell zu charakterisierenden Kontakten geho¨ren auch die folgenden zwei Briefe Diesbachs, die in seinem Auftrag vom Unterschreiber der Berner Kanzlei, Diebold Schilling, an den Basler Rat und Dreizehner Heinrich Zeigler geschrieben wurden. Auch Zeiglers Familie weist Parallelen zu der von Diesbach auf, war sie doch ebenfalls in den 1420er Jahren durch Handel mit Tuch reich geworden. Vertreter der Familie Zeigler lassen sich zudem ab den 1430er Jahren kontinuierlich im Basler Rat belegen.26 Im ersten von diesen

23 StaatsA Bern, Dt. Missiven A, fol. 731f.; dazu vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 188f. 24 Zu Hans Bremenstein und seinen diplomatischen Missionen vgl. Walter, Informationen (wie

Anm. 3), S. 134–137.

25 StaatsA Bern, Dt. Missiven A, fol. 734. 26 Zur Bedeutung Heinrich Zeiglers und seiner im Vorfeld der Burgunderkriegen geleisteten Aufgaben

vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 130–134.

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bedankte sich Diesbach Ende Ma¨rz 1473 zuna¨chst bei seinem lieben guoten fru´nd Zeigler fu¨r dessen Briefe, die ihm durch seinen Verwandten und Mitrat Nikolaus von Scharnachtal u¨bergeben worden seien und an denen er den guten Willen des Baslers erkenne.27 Aufgrund von Verhandlungen, von denen Zeigler wisse, habe er eben jenen Scharnachtal damit beauftragt, seine Anliegen in grosser geheimd bei den damals in Luzern versammelten Eidgenossen vorzubringen. In diesem Zusammenhang gab er an, er habe die von Zeigler gegebenen Informationen mit seinen Mitra¨ten diskutiert, die ihm zur Antwort geraten ha¨tten. Daran deutet sich erstmalig an, dass es mitunter schwer fa¨llt, informell mit inoffiziell gleichzusetzen. Vielmehr scheint es eine gezielte Nutzung der Kontakte einzelner Ra¨te seitens der Fu¨hrungsgremien gegeben zu haben. Dass der Berner das in seinem Brief explizit ansprach, ko¨nnte darauf hindeuten, dass dies auch im Interesse des Baslers lag. In den folgenden Zeilen wurde Diesbach expliziter: So mu¨sse man dafu¨r Sorge tragen, dass einige kleinere Sta¨dte am Rhein nicht von der sich formierenden eidgeno¨ssisch-oberrheinischen Koalition abfielen und keine fremden, in diesem Fall burgundische Truppen, in sie verlegt wu¨rden. Dies mo¨ge Zeigler bedenken und sich bei anderen dafu¨r einsetzen. Er ko¨nnte sich sicher sein, dass auch er und seine Mitra¨te gleichermaßen verfahren wu¨rden und bat ihn zuletzt ebenfalls um Neuigkeiten. Drei Tage spa¨ter wandte sich der Berner erneut in einem Brief an seinen Basler Amtskollegen und informierte ihn daru¨ber, dass er seit seinem letzten Brief zahlreiche Neuigkeiten erfahren habe, die von erheblichem Interesse fu¨r die eidgeno¨ssisch-oberrheinische Koalition seien.28 So habe der franzo¨sische Ko¨nig einen Waffenstillstand mit dem Herzog von Burgund geschlossen, von dem er jedoch noch keine genauere Kenntnis habe. Dies verku¨nde er seinem Basler Kollegen als seinem liebsten fru´nd, bat ihn, es an die end in geheimd gelangen zu lassen, wo es ihm notwendig erscheine. Gleichzeitig forderte er ihn auf, die vorangegangenen Gespra¨che nicht zu vergessen und falls auch er etwas Wichtiges erfahre, ihm das in geheimbd zu u¨bermitteln. An den vorgestellten Briefen Diesbachs ist der zeitliche Kontext ihrer Abfassung interessant. Denn kurz zuvor war es in Basel zwischen den oberrheinischen Reichssta¨dten und den Eidgenossen zu den entscheidenden Verhandlungen u¨ber die Auslo¨sung der verpfa¨ndeten Gebiete gekommen, an denen nachweislich neben dem im Brief erwa¨hnten Nikolaus von Scharnachtal auch der Basler Heinrich Zeigler als Diplomaten teilgenommen hatten. Resultat der Gespra¨che war ein erster Entwurf des rund ein Jahr spa¨ter geschlossenen Bu¨ndnisses zwischen den Eidgenossen und den oberrheinischen Reichssta¨dten. Auf diese Weise lassen die Briefe ein Kontaktnetz hervortreten, an dem sowohl einzelne Berner als auch Basler Ra¨te mitarbeiteten. ¨ bergabe dieser Briefe neben den Verhandlungen erfolgte, wurden Wenngleich die U diese jedoch durch sie vermutlich erheblich gelenkt und bestimmt.

27 StaatsA Bern, Dt. Missiven C, fol. 49 (siehe Quellenanhang 1). Zu diesem Briefwechsel vgl. in Ansa¨t-

zen: Bastian Walter, Von sta¨dtischer Spionage und der Bitte, Briefe zu zerreißen. Alternative Kommunikationsnetze von Sta¨dten wa¨hrend der Burgunderkriege, in: Dis/kurs 2 (2008), S. 156–168; ders., „Bons amis“ (wie Anm. 13), S. 181–184; ders., Informationen (wie Anm. 3), S. 190ff. 28 StaatsA Bern, Dt. Missiven C, fol. 51 (siehe Quellenanhang 2).

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2. Lieber Vetter: Kontakte zwischen Straßburg und Bern Standen gerade perso¨nliche Kontakte zwischen Ra¨ten aus unterschiedlichen Sta¨dten und ihre gezielte Nutzung fu¨r die sta¨dtische Politik im Vordergrund, ero¨ffnet der folgende Brief eine weitere Perspektive.29 Beim Verfasser des nun vorzustellenden Briefes handelte es sich um den in der Berner Kanzlei als Unterschreiber angestellten Großrat Diebold Schilling. Der spa¨tere Chronist der Burgunderkriege verfasste sein an den Straßburger Kaspar Barpfennig gerichtetes Schreiben Anfang Januar 1476.30 Nach kurzen einleitenden Grußworten kommt Schilling gleich auf sein Anliegen zu sprechen. So hatte er Barpfennig in seinem letzten Brief anscheinend darum gebeten, etwas nuwer meren zu schreiben, was noch nicht geschehen war. Nach Meinung von Diebold Schilling war das bedauerlich, zumal er ihm anscheinend zahlreiche Informationen aus Bern u¨bermittelt haben muss. Darauf folgen Darstellungen aktueller politischer Ereignisse aus Berner Perspektive, die Paraphrase zahlreicher an Bern geschriebener Briefe. Daraufhin gab Schilling an, man heiße es in Bern gut, dass sich die Straßburger Ra¨te wegen der zunehmenden burgundischen Bedrohung dazu entschlossen ha¨tten, die Befestigungen zu versta¨rken.31 Straßburg ko¨nne sich der Unterstu¨tzung der Aarestadt sicher sein, das ho¨re er ta¨glich von seinen Ra¨ten. Zuletzt bat Schilling seinen Verwandten noch um Ausrichtung von Gru¨ßen an die Straßburger Amtsleute Peter Schott und Hans von Berse, die ihm bei einem der vorangegangenen Kriegszu¨ge vil guots getan ha¨tten und wiederholte seine Bitte nach Neuigkeiten aus Straßburg. Auch an diesem Brief wird deutlich, wie schwer eine Trennlinie zwischen informell/inoffiziell und formell/offiziell zu ziehen ist. Denn auffa¨lligerweise befindet sich das von Schilling mo¨glicherweise fu¨r ihre Privatkorrespondenz vorgesehene Schreiben heute im Archiv von Straßburg. Mit Sicherheit ging Barpfennig davon aus, dass der Inhalt des Schreibens seines Verwandten interessant fu¨r die sta¨dtische Fu¨hrungsgruppe seiner Heimatstadt war und u¨bermittelte es ihr daher umgehend. Gleiches ist auch bei Schilling zu vermuten. Auch er teilte mit Sicherheit die Inhalte der Briefe seines Verwandten dem Berner Fu¨hrungsgremium mit, weil sie wichtig fu¨r das weitere außenpolitische Vorgehen waren. Ho¨chstwahrscheinlich war das bereits bei der Abfassung der Briefe intendiert, und man kann davon ausgehen, dass die Fu¨hrungen um die verwandtschaftlichen Netze und erweiterten Kontakte ihrer Bu¨rger, Kollegen und Schreiber wussten und mit der Beschaffung von Informationen beauftragten.

29 AMS, AA 292, fol. 33. Zu diesem Briefwechsel vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 194f. 30 Zur Familie Barpfennig vgl. Philippe Dollinger, Un grand Ammeister Strasbourgeois, Rulin Bar-

pfennig (v. 1360–1436), in: Revue d’Alsace 112 (1986), S. 63–82.

31 Zum Ausbau der Befestigungen in Straßburg im Kontext der Burgunderkriege vgl. Franc¸ois Rapp,

Strasbourg et Charles le Hardi, L’ampleur et le prix de l’effort militaire, in: Cinq-centie`me anniversaire de la bataille de Nancy (1477). Actes du colloque organise´ par l’Institut de recherche re´gionale en sciences sociales, humaines et e´conomiques de l’Universite´ de Nancy II, Nancy 1979, S. 395–414; ders., Les villes du Saint Empire et les proble`mes militaires, l’exemple de Strasbourg, in: Journal des Savants 1996, S. 379–417.

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3. Lieber Hans Rudolff: Kontakte zwischen Basel und Straßburg Doch auch zwischen Straßburger und Basler Ra¨ten lassen sich informelle Kontakte nachweisen, wie das in der Einleitung erwa¨hnte Schreiben des Basler Bu¨rgermeister Ba¨renfels an seinen Amtskollegen Endingen in Straßburg von Anfang April 1473 beweist.32 In diesem hatte er ihn gebeten, ihn zu wissen lassen, waß gefellens die Rete in Straßburg ha¨tten. Mit Sicherheit ging es auch hier um die Verbindung der oberrheinischen Reichssta¨dte mit den Eidgenossen und Mu¨lhausen. Auf zahlreichen Versammlungen waren auch der Basler Bu¨rgermeister Hans von Ba¨renfels und der Straßburger Hans Rudolf von Endingen gewesen.33 Der Basler trat in seinem Brief auf diese Weise in Informationsvorleistung, doch konnte Endingen den Brief von Ba¨renfels nicht perso¨nlich entgegennehmen, da er sich bereits auf dem Weg Richtung Lothringen befand. Dass sich trotzdem eine anscheinend von ihm geschriebene Antwort findet, in welcher der vorgebliche Endingen mitteilte, dass die Straßburger Ra¨te noch nichts beschlossen ha¨tten und Ba¨renfels fu¨r seine Informationen dankte, bedarf also einer Erkla¨rung. Diese bietet das Schreiben des damals amtierenden Straßburger Ammeisters Konrad Riffe an Endingen, das am gleichen Tag abgefasst wurde.34 Darin gab Riffe an, am Tag nach seinem Auszug aus der Stadt sei ein Brief in der Kanzlei angekommen, der an ihn, Endingen, perso¨nlich gerichtet gewesen sei. Da er aber bereits mit den sta¨dtischen Truppen abgeritten sei, habe man das Schreiben in der Kanzlei uffgebrochen [...,] gelesen [und] ein antwort daruff geschrieben, die man ihm als Kopie mitsende, was tatsa¨chlich auch geschah.35 Dieser Briefwechsel belegt abermals, wie schwer die Grenze zwischen inoffizieller und offizieller Kommunikation zu ziehen ist. Als der Basler Bote den Brief von Ba¨renfels an seinen Straßburger Kollegen in der dortigen Kanzlei ablieferte, war ¨ ffnung des Briefs durch die Ra¨te und den Stadtschreiber als auch das sowohl eine O Verfassen einer Antwort an Ba¨renfels problemlos mo¨glich. Damit ist jedoch ein weiterer wichtiger Aspekt der Kommunikation im Untersuchungszeitraum angesprochen: Das noch sehr rudimenta¨r entwickelte Briefgeheimnis.36 Wollten Sender an einen bestimmten Empfa¨nger schreiben, mussten sie das explizit in der Adresszeile auf der Vorderseite des Briefs vermerken. So erkla¨ren sich die in einigen Briefen dort auftauchenden Zusa¨tze, nach denen sie dem jeweiligen Empfa¨nger perso¨nlich u¨bergeben in sin hant werden sollten.37 Derartige Adresszusa¨tze finden sich versta¨rkt im Zuge von Konflikten, in denen Geheimhaltung eine wichtige Rolle spielte. Zudem offenbart sich eine in Straßburg schon in Ansa¨tzen zu greifende Trennung von Amt 32 AMS, AA 264, fol. 9. Zu diesem Briefwechsel vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 182f. 33 Dazu vgl. Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 191–194. 34 AMS, AA 264, fol. 12. 35 AMS, AA 264, fol. 11. 36 Zum Briefgeheimnis vgl. Cornelia Bohn, Ins Feuer damit. Soziologie des Briefgeheimnisses, in:

¨ ffentlichkeit, hg. v. Aleida Assmann/Jan Assmann, Mu¨nchen 1997, S. 41–51. Geheimnis und O

37 AMS, AA 292, fol. 5 und ebd., AA 292, fol. 23; vgl. dazu beispielsweise auch den Brief an den Straß-

burger Stettmeister Hans Rudolf von Endingen, dessen Verfasser das Folgende in der Adresszeile vermerkte: Dem strengen hern Hans Rudolff von Endingen, Ritter, myme lieben broider und besunderen guten frunde sol diser breyff (AMS, AA 292, fol. 15).

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und Person: Die Mitarbeiter in der dortigen Kanzlei gingen davon aus, dass Briefe, die an den Bu¨rgermeister gerichtet waren, fu¨r den gesamten Rat von Interesse waren und daher auch von diesen sozusagen stellvertretend beantwortet werden konnten. Das wiederum hat Folgen fu¨r die Trennung zwischen offizieller/formeller und inoffizieller/informeller Kommunikation, die vor diesem Hintergrund nur schwerlich aufrechtzuerhalten ist.

IV. Ein ‚Forum‘ fu¨r informelle Kontakte? Die „Stube zum Narren und Distelzwang“ in Bern

Standen gerade die mittels Briefen gepflegten perso¨nlichen Kontakte einzelner Ra¨te im Vordergrund, soll nun anhand der Berner „Stube zum Narren und Distelzwang“ ein mo¨gliches „Forum“ fu¨r informelle Kontakte vorgestellt werden.38 Im 15. Jahrhundert gab es in Bern insgesamt vierzehn Gesellschaften mit dem Diestelzwang an der Spitze, zumal sich aus dessen Mitgliedern die politische Fu¨hrung der Stadt rekrutierte, an deren Spitze der Distelzwang stand, da dessen Mitglieder die gro¨ßten Vermo¨gen besaßen und die meisten der Kleinra¨te und Schultheißen der Stadt stellten. Dies rechtfertigt eine Betrachtung der Stube und ihrer gesellschaftlichen und politischen Funktionen. Jedes Mitglied verpflichtete sich dazu, lieb und leid, gewinn und verlust [...] syg es in Reyßzu¨gen, Stubenbu¨wen, gemeinen wercken, wachten und anders39 mitzutragen. Bei Ku¨ndigung der Mitgliedschaft hatten die Stubengesellen zu schwo¨ren, dass sie nichts in der Stube Gesagtes oder Geho¨rtes weitertragen durften.40 Eine Mitgliederliste, die im Jahr 1476 vom bereits erwa¨hnten Berner Unterschrei¨ mter ber und Großrat Diebold Schilling angefertigt wurde, der u¨berdies wichtige A in der Stube zum Distelzwang bekleidete, la¨sst es zu, zwischen verschiedenen Arten von Mitgliedern zu unterscheiden.41 An erster Stelle finden sich dort die so genannten Stubengesellen aufgelistet, die nur dort Mitglied waren und auf die sogenannten Zustubengesellen folgen, die noch in anderen Gesellschaften Mitglied waren. Im behandelten Zeitraum la¨sst sich eine Zunahme der Mitgliederzahlen im Distelzwang auf neunzig Personen feststellen. Das galt vor allem fu¨r die Zahl der weltlichen Stubengesellen, die 1477 ihren Ho¨hepunkt erreichte. Wa¨hrend jedoch die Zahl der aus den alteingesessenen Berner Familien stammenden Stubengesellen konstant zwischen 15 und 25 lag, nahm die Zahl der Zustubengesellen außerhalb des Berner Territoriums 38 Zur „Stube zum Narren und Distelzwang“ vgl. Eduard v. Wattenwyl v. Diesbach, Die Gesellschaft

zum Distelzwang, in: Berner Taschenbuch 14 (1865), S. 174–200; Franc¸ois de Capitani, Adel, Bu¨rger und Zu¨nfte im Bern des 15. Jahrhunderts (Schriften der Berner Burgerbibliothek 16), Bern 1982, S. 64–66 und S. 81–88; Roland Gerber, Gott ist Burger zu Bern. Eine spa¨tmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 39), Weimar 2001, S. 355–359; Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 205–211. 39 Wattenwyl v. Diesbach, Gesellschaft zum Distelzwang (wie Anm. 38), S. 177. 40 Vgl. Gerber, Gott (wie Anm. 38), S. 356f. 41 Abgedruckt bei De Capitani, Adel (wie Anm. 38), S. 117f.

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im Untersuchungszeitraum sta¨ndig zu. Diese mussten wie die normalen Mitglieder schwo¨ren, dem Wohl des Distelzwangs zu dienen und besaßen dort von fru bis spat ein Gastungsrecht.42 Als sich die Mitglieder des Diestelzwangs wa¨hrend der Burgunderkriege zur Errichtung eines Neubaus des Stubengeba¨udes entschlossen, wurden sie interessanterweise auch von außerhalb des Basler Territoriums lebenden Adligen wie beispielsweise dem Propst von Beromu¨nster, Jost von Silchen, unterstu¨tzt.43 Daran deutet sich bereits an, dass neben nahezu allen politisch einflussreichen Kleinra¨ten auch hohe geistliche und weltliche Personen Mitglieder im Distelzwang waren, die nicht in Bern lebten, gro¨ßtenteils aber das Berner Bu¨rgerrecht besaßen, was fu¨r die Bedeutung des Distelzwangs als ein ‚Forum‘ fu¨r informelle Kontakte sprechen kann, zumal in der erwa¨hnten Mitgliederliste an erster Stelle die mit der Stadt Bern in einem Burgrecht oder sonstigen Bu¨ndnis verbundenen Adligen aufgefu¨hrt werden. Diese Tatsache spricht die Rolle der Stube als mo¨gliches ‚Forum‘ fu¨r informelle Kontakte an und offenbart sich auch insofern in der angesprochenen Mitgliederliste, als diese an erster Stelle der Mitglieder zuna¨chst die mit Bern in einem Burgrecht oder einem sonstigen Bu¨ndnis stehenden Adligen auffu¨hrt.44 Neben dem erwa¨hnten Markgrafen Rudolf von Baden-Hachberg finden sich beispielswese auch die Grafen von Valangin und von Greierz (Gruye`re).45 Auf diese folgten hohe geistliche Wu¨rdentra¨ger aus dem Berner Territorium. Mit diesen hochrangigen Personen aus der Stadt bzw. ihrem Umland unterhielt die sta¨dtische Fu¨hrung enge perso¨nliche, wirtschaftliche und politische Beziehungen, die ha¨ufig eine lange Tradition aufwiesen und in konfliktreichen Zeiten wichtig werden konnten. Beispielsweise schloss Markgraf Rudolf von Baden-Hachberg 1458 mit Bern ein Burgrecht ab, das noch im Untersuchungszeitraum Geltung beanspruchte. Dieses beinhaltete im Fall eines Kriegs, dass er seine Besitzungen fu¨r Berner Truppen o¨ffnen und ungesto¨rten Handel ermo¨glichen sollte. Das Burgrecht enthielt u¨berdies die gegenseitige Verpflichtung, gegen die Feinde des anderen vorzugehen sowie beratend zur Seite zu stehen.46 Daran wird deutlich, dass vor allem die im Eid genannte Verpflichtung, den Schaden von Bern abzuwenden, adlige Stubenmitglieder mitunter in Loyalita¨tskonflikte bringen konnte. Baden-Hachberg lebte im oberrheinischen Grenzraum zwischen dem Reich und Frankreich und hatte schon zuvor zwi42 Wattenwyl v. Diesbach, Gesellschaft zum Distelzwang (wie Anm. 38), S. 178. 43 Zu ihm und seiner Bedeutung fu¨r die Politik der Berner Fu¨hrungsgruppe vgl. Walter, Verhandlungen

(wie Anm. 7); ders./Kintzinger, Krieg (wie Anm. 7).

44 De Capitani, Adel (wie Anm. 38), S. 117; dazu vgl. auch Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 206f. 45 Zur Politik der Grafen von Greyerz im Kontext der Burgunderkriege vgl. Marcelle Despond, Les

comtes de Gruye`re et les guerres de Bourgogne, in: Annales Fribourgeoises 13/1 (1925), S. 145–207, 276–286, und 13/2 (1925), S. 43–48, 70–96, 111–118. 46 Abgedruckt bei Traite´s d’Alliance et de Combourgeoisie de Neuchaˆtel avec les Villes et Cantons suisses 1290–1815, hg. v. Jules Jeanjaquet (Publications de la Socie´te´ d’histoire et arche´ologie du Canton de Neuchaˆtel NS 1), Neuchatel 1923, S. 107–115; zu diesem Beispiel vgl. auch Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 209; Nils Bock/Georg Jostkleigrewe/Bastian Walter, Politische Grenzen als Faktum und Konstrukt. Einfu¨hrung, in: Faktum und Konstrukt. Politische Grenzen im Mittelalter, hg. v. Dens. (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme – Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 35), Mu¨nster 2011, S. 9ff.

Die Bedeutung sta¨dteu¨bergreifender Kontakte fu¨r die Außenpolitik

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schen Burgund und den Eidgenossen vermittelt. In erster Linie betraf das vor allem den Konflikt zwischen dem burgundischen Herzog und dem Berner Bu¨ndnispartner Mu¨lhausen. Fu¨r ihn wurde es schwierig, als im November 1474 der Krieg mit Burgund ausbrach, da sein Sohn und Nachfolger Philipp aufseiten Karls des Ku¨hnen und damit gegen die Eidgenossen ka¨mpfte. Das hatte zur Folge, dass sich Rudolf von Baden-Hachberg mehrfach sowohl vor den Basler als auch vor den Berner Ra¨ten erkla¨ren musste, um sie von seiner Loyalita¨t zu u¨berzeugen.47 Vor vergleichbaren Loyalita¨tskonflikten stand die Westschweizer Familie von Greierz (Gruye`re), die traditionell sowohl enge Beziehungen nach Savoyen als auch nach Bern unterhielt, mit der sie seit langem Burgrechte abgeschlossen hatte. Graf Franz I. von Greierz war zum einen Marschall von Savoyen, zum anderen einer der wichtigsten Vermittler im Konflikt der savoyischen Herzogin und den von Bern angefu¨hrten Eidgenossen.48 Aufgrund ihres Prestiges und ihrer weitreichenden Kontakte zu weiteren Herrschaftstra¨gern fungierten die adligen Mitglieder der Stube ha¨ufig als Fu¨rsprecher und Informanten und waren wichtige Kontaktpersonen fu¨r die Berner Fu¨hrung. Mit ihrer Hilfe war diese in der Lage, an Informationen zu gelangen, die sie sonst nur schwer erhalten ha¨tte. Es war dieser Wissensvorsprung, der maßgeblich zur Etablierung der herausgehobenen Stellung der Berner Ra¨te und ihrer Verbu¨ndeten in dem gegen den burgundischen Herzog gerichteten Prozess beitrug. Auf diese Weise versuchten die Berner, die Adligen enger an sich zu binden und hofften auf eine Erho¨hung ihres politischen Einflusses. Kamen diese nach Bern, wurden die Adligen auf der Stube bewirtet, die ihren Mitgliedern auf diese Weise erweiterte Mo¨glichkeiten zu informellen Gespra¨chen und zum Informationsaustausch bot. Es ist zu vermuten, dass auch die (Herren-)Stuben in Basel und Straßburg vergleichbare Funktionen besaßen, doch la¨sst sich dies aufgrund der reduzierten Quellenbasis nicht nachweisen.49

V. Zusammenfassung Ihre weitreichenden Kontakte sowie die Beziehungen ihrer Amtstra¨ger boten den sta¨dtischen Fu¨hrungsgruppen ein bedeutsames Instrumentarium zur Beschaffung ¨ bermittlung von Informationen und erweiterte Mo¨glichkeiten zur Beeinflusund U ¨ berzeugungsarbeit neben der offiziellen Kommunikation, die wahrsung und U 47 Vgl. dazu Bock/Jostkleigrewe/Walter, Politische Grenzen (wie Anm. 46), S. 9–11; vgl. auch Sie-

ber-Lehmann, Spa¨tmittelalterlicher Nationalismus (wie Anm. 4), S. 321; Walter, Informationen (wie Anm. 3), S. 94f. 48 Dazu vgl. Despond, Les comtes (wie Anm. 45); Ursula Birchler, Art. Greyerz, Franz I. von, in: Historisches Lexikon der Schweiz Online (http://hls-dhs-dss.ch/textes/d/D29229.php, zuletzt abgerufen am 10. 3. 2012). 49 Stefan Selzer, Trinkstuben als Orte der Kommunikation. Das Beispiel der Artusho¨fe im Preußenland (ca. 1350–1550), in: Geschlechtergesellschaften, Zunfttrinkstuben und Bruderschaften in spa¨tmittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten, hg. v. Gerhard Fouquet/Matthias Steinbrink/Gabriel Zeilinger (Stadt in der Geschichte 30), Ostfildern 2003, S. 73–99; Katharina Simon-Muscheid, ZunftTrinkstuben und Bruderschaften: Soziale Orte und Beziehungsnetze im spa¨tmittelalterlichen Basel, in: ebd., S. 147–162; Gerhard Fouquet, Trinkstuben und Bruderschaften – soziale Orte in den Sta¨dten des Spa¨tmittelalters, in: ebd., S. 9–30.

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scheinlich weitaus intensiver genutzt wurden, als es die erhaltenen Quellenbesta¨nde erahnen lassen, und man kann davon ausgehen, dass die Kontakte gerade in Konfliktzeiten intensiviert wurden. Denn gerade fu¨r die in Bu¨ndnisgespra¨chen befindlichen Kommunikationspartner war es wichtig, Kontakte zu Personen an zentralen Schaltstellen aufzubauen und zu intensivieren. Mit ihrer Hilfe fiel es ihnen leichter, eine gemeinsame Politik zu planen, zu koordinieren und durchzusetzen sowie das Vertrauen untereinander zu versta¨rken. Gerade bei perso¨nlichen Briefen zwischen einzelnen in unterschiedlichen Sta¨dten agierenden Ra¨ten ist es nicht einfach, informelle Kontakte mit inoffiziellen Kontakten gleichzusetzen. Vielmehr gingen diese beiden politischen Kommunikationsarten Hand in Hand. Wa¨hrend die Pflege der informellen Kontakte zwischen Ra¨ten aus unterschiedlichen Sta¨dten gro¨ßtenteils u¨ber Briefe lief, fungierte die vorgestellte Stube zum Narren und Distelzwang als Forum fu¨r Kontakte, bei denen perso¨nliche Gespra¨che im Vordergrund standen, schließlich kamen dort die einflussreichsten Personen aus Bern selbst und den angrenzenden Territorien zusammen, wo sie zusa¨tzliche Mo¨glichkeiten zu Gespra¨chen neben dem Verhandlungstisch hatten und politische Kontakte pflegten und vertiefen konnten. Das erleichterte ihnen, Gruppen zu bilden sowie eine gemeinsame (Außen-) Politik zu koordinieren. Damit wirkte die Stube wie ein Scharnier zwischen der sta¨dtischen Innen- und Außenpolitik und war so ein Knotenpunkt fu¨r den Fluss von Informationen von außen nach Bern bzw. von dort nach außen. Die aus diesen Informationen getroffenen politischen Entscheidungen wurden im Distelzwang vorab auf informellen Wegen diskutiert und verdichtet, um dann spa¨ter beispielsweise auf einer Sitzung des Kleinen Rats von Bern oder einer Versammlung der eidgeno¨ssisch-oberrheinischen Koalition als „offiziell“ pra¨sentiert und gutgeheißen zu werden.

Die Bedeutung sta¨dteu¨bergreifender Kontakte fu¨r die Außenpolitik

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Quellenanhang

Transkription zweier Briefe des Berner Rats Nikolaus von Diesbach an seinen Basler Kollegen Heinrich Zeigler [StaatsA Bern AIII, Deutsches Missivenbuch C, fol. 49 (1) und fol. 51 (2)].

[1] An Hennrich Zeigler von herr Niclaussen von Diespach wegen Min fru´ntlich willig dienst vnd was ich in allen sachen eren vnd tru´wen vermag bevor. Besunder lieber vnd guoter frund, ich han uwer schriben mit sampt den ingeleiten copien minem swager herrn Niclaussen von Scharnachtal, Ritern, vnd mir von u´ch gesant, verstanden vnd erkonnen dabi uwern guoten getruwen willen vnd vffrechten grund, den ir zuo einer statt von Bernn vnd iren verwanten50 tragend. Die selben vnd ouch ich das billich vmb u´ch beschulden so¨llend. Vnd als dann der vermelt min swager von Scharnachtal in der selben stund als uwer brieff har komen sind, von der gehandleten sach wegen zuo Basel uch wissende, von minen herren uff den tag gen Lutzern zuo gemeiner eidgnossen treffenlichen botten abgeuertiget ist, hatt er die mit im gefu¨rt, in meynung, semlichs in grosser geheimd, damit ir in keinen dingen vermelt wird, an etlich von eidgnossen, da es ouch wol verswigen ist, ze bringen. Der wirt das ouch, des ich keinen zwivel han, nach dem besten furnemen. So han ich ouch das an etlich min herren die Ra¨tte bracht, die habend minen guoten willen vnd getruwe warnung von uch zuo grossen geuallen vnd mich daruff geheissen vnd geratten, uch ze antwurten, das mich ouch selber bedrucken will. Nach dem dann die vier stett am Rin zuo disen dingen gar guoten willen vnd man in fursorgen sin muos, das etwas fro¨mds volcks darin geleit, das ir dann mit uwer vernunft vnd hilff anderer, die uch guot beduncken, nach dem besten handlend, damit semlichs versechen vnd verhalten wird. So wellend mine herren dester fu¨rr tag vnd nach sich ouch gern den eidgnossen arbeiten vnd sich dar in nit sparen noch beturen lasß, das si vnd ich hoffent, die andern sachen, damit man yetzt vmb gatt, werdent ouch zuo guoten end gefurdt. Vnd was uch furrer begegnen vnd der oder ander dingen halb zuo kom wurde, wellend mir nit verhalten. Desglich ich gern uch zuo allen ziten ouch tuon vnd vmb uch mit bereiten willen vnd guotem hertzen verdienen will. Datum an Zinstag nach Letare LXXIII51

[2] An Heinrich Zeigler ze Basel von mins herren von Diespach wegen Min fruntlich willig dienst vnd was ich in allen sachen eren vnd truwen vermag beuor. Besunder lieber guoter vnd getruwer frund. Sider dem nechsten schreiben uch von 50 Am Rand: darzuo minen herrn von Basel vnd andern richstetten. 51 30. Ma¨rz 1473.

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mir von beuelchens wegen minen herren beschechen, sind mich aber etlich nuwe mere angelangt, vnd mir darumb brieff geschriben. Also, das der kung von Franckenrich ein statt in der Graffschaft Armeinag gewunnen, dar inn by xve mannen vnd ouch den graffen von Armeinag den Banckeneten, einen graffen vnd wider vernampt vmb bracht vnd hatt da gegen ouch by zweyhundert mannen verlorn. Vnd wirt mir in einem brieff geschriben, das ein bestand zwischen dem kung vnd dem hertzogen bis aller heiligen tag vnd in dem andern tag bis meyen gemacht so¨ll werden, dauon aber ich noch kein wissenheit. Vnd sol semlich niderleg beschechen sin vff dem V tag dis vergangnen monatz mertzen. So sind ouch minen herren etlich geschriben von den von Friburg zuo komen, als ir in der ingeleiten coppie vernemend. Verkund ich uch alles als minem liebsten frund uch des ouch, ze haltende wisß vnd an die end in geheimd, da uch guot bedunck, ze bringen. Vnd bitten uch den vordrigen gescheften nach ze synnen vnd u¨wern hochen flis ze bruchen, damit die vier stett am Rine irs guoten fuorgesatzten willen nit abgewist vnd kein fro¨md volcks darin geleit. So bin ich in vertruwen, die sachen werden in masß gefurdert, das es alles zuo guoten kom. Vnd was uch begegne wellen mir in geheimd verkunden, desglich wil ich zuo allen ziten ouch tuon vnd das vmb uch verdienen. Datum an fritag nach Letare, anno LXXIII52

52 3. April 1473.

„HIE BASEL – HIE SCHWEIZERBODEN“? Konstruktionen (supra)urbaner Ra¨ume der Stadt Basel im 16. Jahrhundert von Marco Tomaszewski

Wie wird eine Stadt in u¨bersta¨dtische Ra¨ume eingeordnet? Den Baslern, die 1901 den fu¨nfhundertsten Jahrestag des Beitritts zur Eidgenossenschaft feierten, schien die Antwort auf diese Frage klar: „Hie Basel – Hie Schweizerboden!“ war das Motto des Jubila¨ums.1 Diese knappe, aber eindeutige Formel war um die Jahrhundertwende sehr beliebt. Sie stand auf Postkarten, die anla¨sslich des Jubila¨ums gedruckt wurden, war Titel eines Gedichtba¨ndchens,2 eines Marsches des Komponisten Karl Schell und findet sich in abgewandelter Form auch auf dem Verku¨ndigungsbalkon des 1901 errichteten Turmes des Basler Rathauses.3 Der Spruch schien der Chronik Heinrich Brennwalds zu folgen, nach der die Basler Kinder beim Einzug der eidgeno¨ssischen Gesandten zur feierlichen Beschwo¨rung des Bundes 1501 gerufen haben sollen: Hie Schwiz grund und boden und die stein in der besezi!4 Mit der Formel „Hie Basel – Hie Schweizerboden“ wurde die Stadt eindeutig in einen supraurbanen Raum eingeordnet. Vor dem Hintergrund des modernen Nationalismus brachte die Parole damit um 1900 Basels Zugeho¨rigkeit zur Schweiz 1 Vgl. aber gleichzeitig die zuru¨ckhaltende Bewertung des Beitritts z. B. bei Rudolf Wackernagel,

Humanismus und Reformation in Basel (Geschichte der Stadt Basel Band 3), Basel 1924, S. 1ff.

2 Paul Reber/Karl Jauslin, Hie Basel – hie Schweizerboden! Bilder aus dem Leben der Eidgenossen,

Basel 1901.

3 „1501–1901. Hie Schweiz Grund und Boden.“ Vgl. Georg Germann, Der Bau der Jahrhundertwende,

in: Das Basler Rathaus, hg. v. Staatskanzlei des Kantons Basel-Stadt, Basel 1983, S. 64–81, hier S. 65.

4 Heinrich Brennwald, Schweizerchronik, Bd. 2, hg. v. Rudolf Luginbu ¨ hl, Basel 1910, S. 492: Aber uff

den gedachten tag kamend aller Eignossen boten dahin, und als die in ritend, zugend inen die von Basel o engegen, furtend si in ir stat mit grossen frœden und eren. Es schruwent och die kleinen kind: ‚Hie Schwiz grund und boden und die stein in der besezi!‘ Also verzog es sich bis uff keiser Heirichs tag, so der loblichen stat Basel patron ist, da sang man ein loblich amt von der helgen trifaltikeit, und zugend dem nach alle zu¨nft mit trumen und pfifen uff den kornmerkt, da gemeiner Eignossen boten uff einer bru¨gi o stundent und bi inen burgermeister und ret von Basel. Also ward des ersten der selb puntbrief gelesen. o o Also hubend si ire vinger uff und schwurend den gemeinen Eidgnossen, den in allen puncten und articlen ze halten. Neben diesem Chronikeintrag aus Zu¨rich, der zwischen 1508 und 1516 entstand, gibt es meines Wissens keinen weiteren Beleg fu¨r den Ausspruch. Zur Beteiligung der (ma¨nnlichen) Jugend bei derartigen Zeremonien vgl. Regula Schmid, ‚Liebe Bru¨der‘. Empfangsrituale und politische Sprache in der spa¨tmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, Ko¨ln/Weimar/Wien 2009, hg. v. Peter Johanek/Angelika Lampen (Sta¨dteforschung A 75), S. 85–111, S. 92.

310

Marco Tomaszewski

wie auch seine Lage an der ‚natu¨rlichen‘ Rheingrenze auf den Punkt. Mittlerweile herrscht jedoch Konsens daru¨ber, dass sowohl Nationen als auch scheinbar natu¨rliche Raumordnungen soziale Konstruktionen sind und damit historisiert und kontextualisiert werden mu¨ssen.5

I. Konstruktion von Raum

Folgt man der Raumsoziologie, gibt es keine physischen Ra¨ume, die als ‚Container‘ oder als Handlungsbu¨hne historischer Akteure fungieren. Supraurbane Ra¨ume, wie im Fall Basels die ‚Nation‘ Schweiz oder die vormoderne Eidgenossenschaft sind daher immer konstruiert und werden durch materielle und symbolische Komponenten gekennzeichnet.6 Raum wird, mit den Begriffen aus dem urspru¨nglichen Tagungsprogramm, erst durch Mo¨blierungen, Imaginationen und Interaktionen gebildet. Mo¨blierungen als Platzierungen sozialer Gu¨ter wie Bauwerke, Artefakte oder Lebewesen an bestimmten Orten, lassen sich raumsoziologisch mit dem Begriff des spacing bezeichnen. Diese Mo¨blierungen werden durch Vorstellungs-, Wahrnehmungsund Erinnerungsprozesse (Imaginationen und Interaktionen) zu Ra¨umen synthetisiert.7 Dabei kann ein Ort zum Bestandteil unterschiedlicher Ra¨ume werden, die alle gleichzeitig existieren und von denen manche nur von bestimmten Gruppen wahrgenommen werden.8 Ra¨ume sind als in kommunikativen Handlungen erzeugte Objektivierungen Teil einer kommunikativ konstruierten Wirklichkeit und Kultur.9 Das in Kommunikation objektivierte Wissen u¨ber Ra¨ume wandelt sich dabei im Laufe der Zeit. Beim Jubila¨um 1901 stand die Zugeho¨rigkeit Basels zur Schweiz im Mittelpunkt. Doch in welchen Ra¨umen wurde Basel im Jahrhundert des Beitritts zur Eidgenossenschaft verortet? 5 Vgl. zum Nationalismus u. a. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines fol-

genreiches Konzepts, Berlin 1998; Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995; Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realita¨t seit 1780, Bonn 2005, sowie jetzt Caspar Hirschi, The Origins of Nationalism. An Alternative History from Ancient Rome to Early Modern Germany, Cambridge 2012. Zum Raumdeterminismus vgl. Michael Jucker, Kommunikation schafft Ra¨ume, Die spa¨tmittelalterliche Eidgenossenschaft als imaginierter und realer Ort, in: Virtuelle Ra¨ume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, hg. v. Elisabeth Vavra, Berlin 2005, S. 13–34. 6 Vgl. Martina Lo ¨ w, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 15. 7 Ebd., S. 225. 8 Vgl. Martina Lo ¨ w/Silke Steets/Sergej Stoetzer, Einfu¨hrung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen 2007, S. 9f. Zur Raumwahrnehmung vgl. Axel Gotthard, In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne, Frankfurt a. M. 2007, S. 71. 9 Vgl. Hubert Knoblauch, Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte (Materiale Soziologie 5), Berlin/New York 1995, S. 21: „Kultur besteht also nicht nur aus Wissen, sondern auch aus in kommunikativen Handlungen erzeugten Objektivierungen, die gewissermaßen eine Welt zwischen dem handelnden Subjekt und dem Alter Ego bilden.“ Vgl. Peter L. Berger/ Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1990.

Konstruktionen (supra)urbaner Ra¨ume der Stadt Basel im 16. Jahrhundert

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II. Die Eidgenossenschaft als supraurbaner Raum

Die Konstruktion der Nation „Schweiz“ als supraurbanem Raum und die Einordnung Basels darin ist eine spezifisch moderne. Selbst wenn die Zeitgenossen im 16. Jahrhundert die Stadt als Teil dieses supraurbanen Raums wahrnahmen, dann auf andere Weise als die Zeitgenossen der Jubila¨umsfeiern 1901. Als Basel 1501 der Eidgenossenschaft beitrat, bestand bereits eine eidgeno¨ssische Identita¨t sowie eine territoriale Vorstellung vom Gebiet der Eidgenossenschaft.10 Der Beitritt wurde durch einen o¨ffentlichen Eid der gesamten Basler Bu¨rgerschaft vollzogen. Zu diesem Ereignis geho¨rten neben dem eigentlichen Eid weitere rituelle und symbolische Bestandteile. Durch die Datierung auf den Heinrichstag am 13. Juli brachte die Basler Obrigkeit den Beitritt in direkte Verbindung zum Schutzheiligen der Stadt, Kaiser Heinrich II. Der Heilige war urspru¨nglich stark auf den Bischof als Stadtherrn bezogen. Indem die Basler Obrigkeit den Heinrichskult aber seit dem 15. Jahrhundert immer mehr fu¨r sich beansprucht und ihn damit von der urspru¨nglichen Tradition des Bischofs gelo¨st hatte, konnte sie zwei Dinge erreichen, die miteinander verwoben waren. Zum einen besetzte sie damit Rituale und Symbole, die zuvor dem Bischof als Stadtherrn zu Eigen waren und meldete so implizit Anspru¨che auf bischo¨fliche Rechte in und außerhalb der Stadtmauern an. Zum anderen stand Heinrich II. einigen Interpretationen zufolge fu¨r eine Reichsverfassung, die im Sinne der Quaternionen alle Sta¨nde am Reich beteiligte.11 Der Bezug zu Heinrich II. als Stadtpatron konnte also zugleich die Stellung Basels als ma¨chtige und souvera¨ne Stadt sowie in Verbindung mit dem Beitritt zur Eidgenossenschaft die Emanzipation vom Bischof als Stadtherrn symbolisieren, was durch die Wahl des Ortes der Eidesleistung noch unterstrichen wurde.12 Man versammelte sich nicht auf dem Mu¨nsterplatz,

10 Vgl. Guy P. Marchal, Die ‚Alten Eidgenossen‘ im Wandel der Zeiten. Das Bild der fru¨hen Eid-

genossen im Traditionsbewußtsein und in der Identita¨tsvorstellung der Schweizer vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, in: Innerschweiz und fru¨he Eidgenossenschaft. Jubila¨umsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Bd. 2: Gesellschaft, Alltag, Geschichtsbild, hg. v. Historischer Verein der Fu¨nf Orte, Olten 1990, S. 309–406; Roger Sablonier, Schweizer Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Staatlichkeit, Politik und Selbstversta¨ndnis, in: Die Entstehung der Schweiz. Vom Bundesbrief 1291 zur nationalen Geschichtskultur des 20. Jahrhunderts, hg. v. Josef Wiget, Schwyz 1999, S. 9–42. 11 Vgl. Bernd Schneidmu ¨ ller, Heinrich II. und Kunigunde. Das heilige Kaiserpaar des Mittelalters, in: Kunigunde – consors regni. Vortragsreihe zum tausendja¨hrigen Jubila¨um der Kro¨nung Kunigundes in Paderborn (1002–2002), hg. v. Stefanie Dick/Jo¨rg Jarnut/Matthias Wemhoff (MittelalterStudien 5), Mu¨nchen 2004, S. 29–48; Carl Pfaff, Kaiser Heinrich II. Sein Nachleben und sein Kult im mittelalterlichen Basel, Basel/Stuttgart 1963, S. 105f.; Ernst Schubert, Die Quaternionen. Entstehung, Sinngehalt und Folgen einer spa¨tmittelalterlichen Deutung der Reichsverfassung, in: Zeitschrift fu¨r Historische Forschung 20 (1993), Nr. 1, S. 1–63. 12 Vgl. Christoph Friedrich Weber, Dauer und Wandel, Identita¨t und Schriftgebrauch in der symbolischen Kommunikation des Spa¨tmittelalters. Das Beispiel der o¨ffentlichen Begegnungen im Basler Herrschaftsverband, in: Integration und Konkurrenz. Symbolische Kommunikation in der spa¨tmittelalterlichen Stadt, hg. v. Stefanie Ru¨ther (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 21), Mu¨nster 2009, S. 19–35, hier S. 35: Wa¨hrend die ‚ungefa¨hrlichen‘ Elemente (Heinrichskult) der Tradition u¨bernommen wurden, vollzog man mit dem Wechsel des Ortes eine „bewusste Abkehr von den rituellen Formen, die besonders eng mit der Bischofsherrschaft verbunden waren.“

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Marco Tomaszewski

sondern auf dem Kornmarkt. Hier entstand dann auch drei Jahre spa¨ter der Neubau des Basler Rathauses, an dem durch eine Wappenfassade sowie durch Wappenscheiben der eidgeno¨ssischen Orte spacing im Sinne der Eidgenossenschaft betrieben und zugleich die wachsende Distanz zum Stadtherrn unterstrichen wurde.13 Das Rathaus scheint sowohl fu¨r die Zugeho¨rigkeit zum eidgeno¨ssischen Raum wie auch fu¨r das Selbstbewusstsein des Rates eine große Bedeutung gehabt zu haben. Die formale, wenn auch rechtlich nicht einwandfreie Loslo¨sung vom Stadtherrn erfolgte sicher nicht von ungefa¨hr am 12. Ma¨rz 1521 und damit genau an dem Tag, an dem sich der Große Rat zum ersten Mal im neuen Rathaus versammelte.14 Schon vor dem Beitritt gab es in der Basler Bevo¨lkerung Sympathien fu¨r die Eidgenossenschaft, die sich in Streitigkeiten und gegenseitigen Beschimpfungen zwischen Befu¨rwortern der Eidgenossen und Gegnern a¨ußerten.15 Die Sympathien du¨rften nach dem Beitritt durch Erlebnisse wie den Eidesbeschwo¨rungen, Fastnachtsund Kirchweihbesuchen sowie Kriegszu¨ge in weiten Teilen der Bevo¨lkerung zu einer starken Identifizierung mit der Eidgenossenschaft gefu¨hrt haben.16 Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Identifizierung von vielen Beteiligten gar nicht prima¨r ra¨umlich, sondern eher in Bezug auf eine soziale Gruppe erfahren wurde.17

III. Urbane Ra¨ume außerhalb der Stadt

Der Rat von Basel hatte seit dem 15. Jahrhundert die Herrschaft u¨ber Gebiete inne, die außerhalb der Stadt lagen.18 Der Herrschaftsbereich des Rates wurde einerseits durch Grenzsteine markiert und somit einem Territorium zugeschrieben. Gleichzei-

13 Vgl. Ulrich Barth, Baugeschichte, in: Das Basler Rathaus, hg. v. Staatskanzlei des Kantons Basel-Stadt,

Basel 1983, S. 7–24, S. 9.

14 Vgl. ebd., S. 10. 15 Vgl. Claudius Sieber-Lehmann/Thomas Wilhelmi, In Helvetios – wider die Kuhschweizer. Fremd-

und Feindbilder von den Schweizern in antieidgeno¨ssischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532, Bern 1998; Claudius Sieber-Lehmann, Neue Verha¨ltnisse. Das eidgeno¨ssische Basel zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Identita` territoriali e cultura politica nella prima eta` moderna/Territoriale Identita¨t und politische Kultur in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Marco Bellabarba/Reinhard Stauber, Bologna/ Berlin 1998, S. 271–299. 16 Vgl. Edgar Bonjour/Albert Bruckner, Basel und die Eidgenossen. Geschichte ihrer Beziehungen zur Erinnerung an Basels Eintritt in den Schweizerbund 1501, Basel 1951, S. 160–169. 17 Vgl. Axel Gotthard, Raum und Identita¨t in der fru¨hen Neuzeit – eine Problemskizze, in: Kultur und Region im Zeichen der Globalisierung. Wohin treiben die Regionalkulturen? hg. v. Sefik ¸ Alp Bahadir/ Peter Ackermann, Neustadt a. d. Aisch 2000, S. 335–368, hier S. 338. 18 Vgl. u. a. Juliane Ku ¨ mmel, Ba¨uerliche Gesellschaft und sta¨dtische Herrschaft im Spa¨tmittelalter. Zum Verha¨ltnis von Stadt und Land im Fall Basel/Waldenburg 1300–1535 (Konstanzer Dissertationen 20), Konstanz 1983; Nikolaus Landolt, Untertanenrevolten und Widerstand auf der Basler Landschaft im 16. und 17. Jahrhundert, Liestal 1996. Analog zu diesem wachsenden Einfluss des Rates bzw. der sta¨dtischen Obrigkeit auf den urbanen Raum außerhalb der Mauern seit dem 15. Jahrhundert versuchte er in derselben Zeit auch seinen Einfluss auf die suburbanen Ra¨ume auszuweiten, was in der Reformation schließlich weitgehend gelang.

Konstruktionen (supra)urbaner Ra¨ume der Stadt Basel im 16. Jahrhundert

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tig bedeutete sta¨dtische Herrschaft im Umland jedoch auch Herrschaft u¨ber Personen, die als Untertanen galten. Diese war nicht in jedem Fall territorialisiert, sondern existierte weiter, wenn die betreffenden Personen sich nicht mehr auf Basler Territorium befanden.19 In diesem Spannungsfeld zwischen Territorial- und Personalprinzip waren Grenzen in der Vormoderne nicht eindeutig und aufgrund unklarer Rechtsverha¨ltnisse oft umstritten.20 Rudolf Luginbu¨hl hat diese Verha¨ltnisse am Beispiel des Ortes Wiesen sehr anschaulich gemacht: „So geho¨rte, [...] in Wiesen die ho¨here Gerichtsbarkeit Basel, die niedere Solothurn; kirchgeno¨ssig war es nach Trimbach, [...], so daß das Volk witzelte: Die Wiesener geho¨ren nach Trimbach zur Kirche, nach Olten vor Gericht und nach Basel an den Galgen.“21 Deutlich wird die Problematik in Konflikten der Stadt Basel mit Solothurn sowie dem Fu¨rstbistum Basel. Solothurn erhob beispielsweise 1531 durch die Errichtung eines Galgens auf umstrittenem Gebiet Anspruch auf die hohe Gerichtsbarkeit dieses Gebiets, was zum unblutigen ‚Galgenkrieg‘ zwischen Basel und Solothurn fu¨hrte. Der sta¨dtische Raum außerhalb der Mauern wurde von den Obrigkeiten durch spacing in Form von Mo¨blierungen wie Galgen oder Grenzsteinen definiert. Dabei handelte es sich in den dargestellten Beispielen um rechtliche beziehungsweise politische Ra¨ume, die nicht so eindeutig territorial festgelegt waren, wie es das obrigkeitliche spacing vermittelte, weil Herrschaft nicht nur ra¨umlich definiert war.

IV. Gelehrte Konstruktionen: Ra¨ume in der Chronistik

Eine andere ra¨umliche Einordnung Basels zeigt sich in den beiden gedruckten historiographischen Werken, die sich im spa¨teren 16. Jahrhundert explizit mit Basel und seinem Umland bescha¨ftigten, der Eidgeno¨ssischen Chronik von Johannes Stumpf aus dem Jahr 1548 sowie der Basler Chronik von Christian Wurstisen aus dem Jahr 1580.22 Deren Raumversta¨ndnis und Verortung der Stadt muss im Kontext der eidgeno¨ssischen Humanisten gesehen werden, die anstatt der traditionellen, aber nun als 19 Vgl. Sieber-Lehmann, Neue Verha¨ltnisse (wie Anm. 15), S. 277f. Zum Verha¨ltnis von Personal- und

Territorialprinzip, insbesondere auch dem sogenannten Nachjagerecht vgl. Claudia Ulbrich, Leibherrschaft am Oberrhein im Spa¨tmittelalter (VMPI 58), Go¨ttingen 1979, S. 154ff. Vgl. die umstrittenen Burgrechte der Basler Obrigkeit mit Untertanen des Bischofs 1525, unten Anm. 31. 20 Vgl. Andre´ Krischer, Grenzen setzen. Macht, Raum und die Ehre der Reichssta¨dte, in: Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Christian Hochmuth/Susanne Rau (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 13), Konstanz 2006, S. 135–155, hier S. 135. 21 Rudolf Luginbu ¨ hl, Der Galgenkrieg 1531, in: Basler Zeitschrift fu¨r Geschichte und Altertumskunde 5 (1906), S. 66–95, hier S. 66. Vgl. Ulbrich, Leibherrschaft (wie Anm. 19), S. 169ff. 22 Johannes Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten Landen vnd Vo¨lckeren Chronik wirdiger thaaten beschreybung [...], (2 Bde.), Zu¨rich 1548; Christian Wurstisen, Basler Chronick (Faksimile der Ausgabe Basel 1580), hg. v. Andreas Burckhardt, Gene`ve 1978.

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unwissenschaftlich geltenden Gru¨ndungssagen die durch antike Autorita¨ten u¨berlieferten Ureinwohner und beschriebenen Gebiete in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen ru¨ckten, um die Eidgenossenschaft zu legitimieren.23 Das fu¨hrte zu geographisch und topographisch genauen Beschreibungen und Begrenzungen dieser Gebiete. Die Gegend um Basel war aus dieser Perspektive das Land der Rauracher, das zwischen dem der Helvetier im Su¨den und dem der Sundgauer im Norden lag. Stumpf betonte ¨ hnlichkeit der Rauracher und Helbei seiner Beschreibung die Freundschaft und A vetier.24 Die Grenzen des Raurachergebiets wurden dabei sehr genau angegeben. Wurstisen, der sich unter anderem auf Stumpf stu¨tzte, bemerkte gleichzeitig, dass der Begriff Rauracher seinen Zeitgenossen im allgemeinen nicht bekannt war: Das Landt umb den Berg Juram [...] welches wir Rauracer gegne heissen / hat dieser zeit kein besondern Alemannischen oder Teutschen nammen / wie andere beyligende Landtschafften / als das Suntgow / Ergow / Breißgow etc. wiewol es nicht ein unachtbar Theil der Obern Teutschen Landen ist. Daher kompts / das viel Leute darin erzogen und geboren / von dem Nammen ihres Vatterlandts in gemein befragt / kein Bescheide zu geben wu¨ssen. Den Gelehrten ist der alte Namm / Raurici oder Rauraci / auß den alten Schribenten / Iulio Caesare, Plinio, Ptolemaeo, Marcellino; Antonij Itinerario etc. wol bekannt.25 Die Zugeho¨rigkeit zum Stamm der Rauracher und die Stadt als Teil des Rauracherlandes waren also gelehrte Konstruktionen, die im Alltag der Bevo¨lkerung wohl keine Rolle spielten.26 Dass dieses Rauracherland politisch auf verschiedene Herrschaften aufgeteilt war, wurde nicht weiter thematisiert, sondern schien selbstversta¨ndlich: Des gantzen Landts Geistliche Jurisdiction geho¨ret dem Bistumb Basel; aber die Weltliche Oberkeit ist zertheilt. Was gegen Auffgang oberhalb o Basel am Rhein ligt / geho¨ret zu mehrem theil dem hauß Oesterreich, Was o o aber gegen Niedergang dem Burgund zu ligt / dem Bischoff zu Basel / Was o in mitten / ist den Stetten / Bern / Basel und Solothurn zusta¨ndig.27 23 Thomas Maissen, Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer

natio, in: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europa¨ischer Humanisten, hg. v. Johannes Helmrath/Ulrich Muhlack/Gerrit Walther Go¨ttingen 2002, S. 210–249, hier S. 218. 24 Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgnoschafft (wie Anm. 22.), Bd. 2, fol. 371v: Sitmals die Rauracer an Helvetiam stossende / den obbeschribnen Alpvo¨ckern nit allein mit nachpurschafft / sonder auch eins o teils den Helvetiern diser zeyt mit ewiger pu¨ndtnuß zugethon sind. 25 Wurstisen, Basler Chronick (wie Anm. 22), S. i. 26 Gerade diese Ebene fru¨hneuzeitlicher Raumwahrnehmungen ist bisher schlecht erforscht, vgl. Axel Gotthard, Vormoderne Lebensra¨ume. Anna¨herungen an die Heimaten des fru¨hneuzeitlichen Mitteleuropa¨ers, in: HZ 276 (2003), S. 37–73, S. 52 und S. 65. 27 Wurstisen, Basler Chronick (wie Anm. 22), S. iiij. Bei Stumpf sind zu Beginn des zwo¨lften Buches „von den Rauracern unnd irer landtschafft / yetz Basler gelegenheit [...] die waapen der Fu¨rsten / herren und stetten / so diser zeyt der Rauracer landschafft beherrschend“ abgebildet, vgl. Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgnoschafft (wie Anm. 22), fol. 370r. Vgl. auch Guy P. Marchal, ‚Von der Stadt‘ und

Konstruktionen (supra)urbaner Ra¨ume der Stadt Basel im 16. Jahrhundert

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Wurstisen setzt, ungeachtet der seit 1529 in der Stadt Basel und in weiten Teilen des Bistums erfolgten Reformation, das Rauracherland mit dem Gebiet des geistlichen Bistums Basels gleich. Diese Verbindung von Bistumsgeschichtsschreibung und historischer Landesbeschreibung war im 16. Jahrhundert durchaus charakteristisch. Durch das in der Dio¨zesangliederung vorherrschende Territorialprinzip bot es sich geradezu an, Landes- oder wie hier ‚Stammes‘-Geschichte als Bistumsgeschichte zu schreiben, nachdem diese „aus ihrer institutionellen Befangenheit gelo¨st und frei verfu¨gbar geworden war.“28 Die Macht des Bistums Basel war im 16. Jahrhundert ziemlich geschwa¨cht und glaubt man einigen Historikern, warteten vor allem die Sta¨dte Basel und Bern in dieser Zeit geradezu auf den Untergang des Fu¨rstbistums.29 Laut Paul Burckhardt „traten bereits die Umrisse eines großen reformierten Jurakantons Basel an Stelle des zerfallenden Bistums hervor.“30 Vor diesem Hintergrund la¨sst sich Wurstisens Gleichsetzung von Bistum und Rauracherland auch als Strategie lesen, mit der historisch-geographischen Zuordnung zum Stamm der Rauracher der geistlichen Begru¨ndung dieses politisch geteilten Gebietes eine weitere Komponente hinzuzufu¨gen. Diese Sicht konnte durchaus die Anspru¨che der Stadt auf die politische Vorherrschaft legitimieren. Zur Entstehungszeit der Chronik des spa¨teren Basler Stadtschreibers Wurstisen fing das Bistum an, sich gegen den im Laufe des 16. Jahrhunderts erfolgten Machtverlust entschieden zu wehren. Der seit 1575 regierende Bischof Christoph Blarer von Wartensee versuchte, die Position des Bistums gegenu¨ber der Stadt zu sta¨rken und vor allem, rechtlich nicht einwandfreie Herrschaftsrechte, die die Stadt erworben hatte, ru¨ckga¨ngig zu machen. Ein Streitpunkt waren dabei Burgrechte, die Basel wa¨hrend des Bauernkriegs 1525 mit einigen Orten des Bistums abgeschlossen hatte.31 Im einzigen erhaltenen Schirmbrief bezeichnen sich Rat und Ha¨up-

bis ins ‚Pfefferland‘. Sta¨dtische Raum- und Grenzvorstellungen in Urfehden und Verbannungsurteilen oberrheinischer und schweizerischer Sta¨dte, in: Grenzen und Raumvorstellungen (11. – 20. Jh.)/ Frontie`res et conceptions de l’espace (11e–20e sie`cles), hg. v. dems. (Clio Lucernensis 3), Zu¨rich 1996, S. 225–266, S. 255, der an anderen Beispielen die These entwickelte: „Ein kausaler Zusammenhang zwischen diesen geographisch-topographischen Grenzwahrnehmungen und der Bildung politischer Grenzen besteht offensichtlich nicht.“ 28 Markus Mu ¨ ller, Die humanistische Bistumsgeschichtsschreibung, in: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus, hg. v. Franz Brendle/Dieter Mertens/Anton Schindling/ Walter Ziegler (Contubernium 56), Stuttgart 2001, S. 167–187, S. 186. 29 Vgl. Wilhelm Brotsch, Der Kampf Jakob Christoph Blarers von Wartensee um die religio¨se Einheit im Fu¨rstbistum Basel, Freiburg (Schweiz) 1956, S. 9: „Zusammenfassend ko¨nnen wir feststellen, daß das Fu¨rstbistum seit dem 14. Jahrhundert immer mehr an Macht und Ansehen verlor. Die Bischo¨fe hatten zahlreiche Gu¨ter und Herrschaften verpfa¨ndet und steckten trotzdem tief in Schulden. Die neugla¨ubigen Sta¨dte Bern und Basel hatten sich teils durch Burgrechte, teils durch ein Vorkaufsrecht zeitig einen Teil der zu erwartenden Konkursmasse zu sichern gewußt. Sie konnten umso sicherer den Untergang des bischo¨flichen Staates erwarten, als die Untertanen des Bischofes zum gro¨ßten Teil neugla¨ubig waren.“ Vgl. Johann B. Villiger, Das alte Bistum Basel. Geschichte, in: Helvetia Sacra I (Schweizerische Kardina¨le. Das Apostolische Gesandtschaftswesen in der Schweiz. Erzbistu¨mer und Bistu¨mer I), Bern 1972, S. 127–140, S. 135. 30 Paul Burckhardt, Geschichte der Stadt Basel. Von der Zeit der Reformation bis zur Gegenwart, Basel 1942, S. 39. 31 Vgl. Hans Berner, „die gute correspondenz“. Die Politik der Stadt Basel gegenu¨ber dem Fu¨rstbistum Basel in den Jahren 1525–1585, Basel/Frankfurt a. M. 1989, S. 18 und 153ff.

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ter der Stadt als beschirmere des bistumbs unnd der hochwirdigen stifft zu Basel,32 ein Beleg fu¨r den Anspruch der Stadt auf das Gebiet des Bistums. Nur fu¨nf Jahre nach Erscheinen von Wurstisens Basler Chronik wurden diese Anspru¨che jedoch durch den Badener Vertrag, der den Status quo zwischen Bischof und Stadt sicherte, obsolet.33

V. Zusammenfassung

„Hie Basel – Hie Schweizerboden!“ Diese Parole von 1901 zum fu¨nfhundertsten Jahrestag des Beitritts Basels zur Eidgenossenschaft dru¨ckt durch die Zuspitzung auf die Nation Schweiz einerseits eine sehr moderne Perspektive aus. Andererseits ist die Fokussierung auf die Eidgenossenschaft nur eine Mo¨glichkeit, Basel im Raum zu positionieren. Ra¨umliche Verortungen einer Stadt sind Konstruktionen und daher vielfa¨ltig. Die Stadt Basel konnte im 16. Jahrhundert erstens als Teil der Eidgenossenschaft durchaus ra¨umlich wahrgenommen werden. Die Obrigkeit versuchte, durch spacing und Synthese mittels Artefakten, Ritualen und Symbolen die Stadt im Raum der Eidgenossenschaft zu positionieren und damit auch, die Autonomie vom Stadtherrn zu unterstreichen. Dies fu¨hrte auch zur Konstitution bestimmter Identita¨ten in der Bevo¨lkerung, wobei zu beachten ist, dass Identita¨ten und politische Einflussbereiche nicht nur ra¨umlich gedacht wurden. Zweitens war die Stadt eingebettet in einen weitla¨ufigeren sta¨dtischen Herrschaftsbereich, der jedoch nicht eindeutig ra¨umlich nach dem Territorial-, sondern auch noch nach dem Personalprinzip strukturiert war. Raumbildung durch spacing konnte deshalb zu Konflikten fu¨hren, wenn dabei personale Herrschaftsrechte beru¨hrt wurden. In gelehrten Konstruktionen wurde Basel drittens in humanistischer Tradition als Teil des Rauracherlandes betrachtet. Die Gleichsetzung mit dem spa¨teren Bistum ermo¨glichte dabei auch die Legitimation von Herrschaftsanspru¨chen.

32 Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, Bd. 2,

hg. v. Emil Du¨rr/Paul Roth, Basel 1933, Nr. 126, S. 96f.; Rudolf Thommen, Urkundenbuch der Stadt Basel, Bd. 10, Basel 1908, Nr. 47. 33 Vgl. Burckhardt, Basel (wie Anm. 30), S. 42: Der neue Bischof pochte geschickt auf seine alten Rechte, die die Stadt teilweise einfach okkupiert hatte und Basel erkaufte sich letztlich den status quo, erhielt dadurch aber die „vo¨llige Befreiung von jeder bischo¨flichen Gewalt und der bleibende Besitz der verpfa¨ndeten Rechte und Landschaften“.

KLANGRA¨ UME Zu den akustischen Revolten des fru¨hen 16. Jahrhunderts* von Daniela Hacke

I. Einleitung

Die außerordentlich popula¨re Flugschrift „Practica vber die grossen vnd manigfeltigen Coniunction der Planeten“ erschien 1523 in Nu¨rnberg und stammt aus der Feder des Astrologen Leonhard Reynmann. In der Forschung wird sie der Krisenprophetie zugeordnet – weshalb, la¨sst sich rasch erkla¨ren; sie prognostizierte eine Sintflut, wie viele andere Schriften der Zeit. Astrologen und Astronomen hatten fu¨r das Jahr 1524 eine große Konjunktion der Planeten Jupiter und Saturn im Zeichen des Fisches errechnet. Beide Planeten galten als „superior planets“, denen man, da sie sich nur selten auf ihrer Umlaufbahn begegneten, großen Einfluss auf die Geschicke der Welt zuschrieb.1 Saturn stand fu¨r Missgeschicke des Staates; traf dieser Planet auf Jupiter, dem man Macht u¨ber religio¨se Angelegenheiten zutraute, weitete sich das Unglu¨ck auch auf die Kirche aus. Aus dieser großen Konjunktion konnte nichts Gutes erwachsen. Die Katastrophe trifft die Erde folglich mit voller Wucht: Wassermengen ergießen sich strahlenfo¨rmig aus dem Fisch, der die obere Bildha¨lfte dominiert und begraben ganze Landschaften und Sta¨dte unter sich. Damit nicht genug. Reynmanns Holzschnitt prognostiziert nicht allein eine Sintflut, sondern zudem eine Erhebung gegen die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten. Dieser irdische Konflikt ist im unteren Bildteil dargestellt. Hier stehen sich die Kontrahenten gegenu¨ber: rechts die drei christlichen Sta¨nde, Kaiser, Papst und kirchliche Wu¨rdentra¨ger, die vor den auf der linken Seite abgebildeten bewaffneten Aufsta¨ndischen zuru¨ckzuweichen scheinen, die entschlossen zum Kampfe dra¨ngen und gegen die gesellschaftliche Ordnung rebellieren. Durch die Verbreitung dieser und anderer Flugschriften wurden nicht nur Sintflutprognosen popularisiert und astrologische Debatten mit neuer Intensita¨t gefu¨hrt, sondern in diesem Kontext fand auch * Mein Dank geht an Prof. Dr. Thomas Lau und Prof. Dr. Volker Reinhardt fu¨r die Einladung zur Ring-

vorlesung nach Fribourg und an Prof. Dr. Thomas Lau fu¨r die gute Zusammenarbeit und die inspirierende Diskussion, die die Entstehung dieses Aufsatzes begleitete. 1 Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford 1994, S. 124.

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die Befu¨rchtung eines bevorstehenden Aufstands gegen die weltliche Ordnung große Verbreitung.2 Als sich 1524 Bauern und Sta¨dter gegen die Obrigkeiten erhoben, kam dieses Ereignis weder unerwartet noch unvermittelt. Dem historiographischen Gru¨ndungsmythos zufolge begann die Aufstandsbewegung im Fru¨hsommer 1524 in der Grafschaft Stu¨hlingen im Su¨dschwarzwald; dort hatten sich die Bauern erhoben, da sie sich weigerten, zur Erntezeit Schneckenha¨user zu sammeln, damit die Gra¨fin Garn auf diese wickeln ko¨nne. Die Stu¨hlinger Bauern blieben nicht lange allein; ihr Aufstand blieb keine Einzelaktion, sondern hatte bald seine Entsprechung in weiteren Teilen des Reiches. Zentrum war zuna¨chst das Gebiet zwischen Basel und dem Bodensee no¨rdlich des Rheins, von dort breiteten sich die Aufsta¨nde wie ein „Fla¨chenbrand“ (Bernd Moeller) u¨ber den Su¨dwesten des Reiches aus, erfassten aber auch die no¨rdlichen Gebiete der Eidgenossenschaft und die Alpenla¨nder. Lediglich Nord- und Westdeutschland blieben von den Aufsta¨nden unberu¨hrt. In der Geschichtswissenschaft za¨hlen die Bauernkriege als eine der gro¨ßten Aufsta¨nde der Vormoderne mit zu den Kernthemen der Geschichte; sie werden in einem Atemzug mit der Franzo¨sischen und der Russischen Revolution genannt und dies, obwohl die Erhebungen der Bauern und Sta¨dter erfolglos waren. Die Aufsta¨ndischen verloren ihren Kampf gegen die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten; dennoch sind die sogenannten Bauernkriege von 1524–1526 deutsche Erinnerungsorte par excellence. Sie sind ma¨chtige Symbole, zum Beispiel fu¨r den Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit und verko¨rpern die Vision einer gerechteren Gesellschaftsordnung.3 Schon Zeitgenossen bezeichneten die Ereignisse als „Bauernkriege“; verfestigt hat sich der Begriff allerdings erst in der Historiographie des 19./20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung verschleiert, dass sich den aufsta¨ndischen Bauern auch Knappen aus Tirol und Salzburg, Sta¨dter aus Meran und Bozen und Bu¨rger der Bischofssta¨dte Bamberg, Wu¨rzburg, Salzburg, Chur und weiteren anschlossen. Im Verlaufe der Unruhen schienen die Grenzen zwischen sta¨dtischen und la¨ndlichen Ra¨umen durchbrochen zu werden. Von der historischen Forschung ist zur pra¨ziseren Beschreibung des Pha¨nomens daher auch der Begriff der „Revolution des Gemeinen Mannes“ vorgeschlagen worden. Er kombiniert einen Quellenbegriff – der Gemeine Mann – mit einem Wissenschaftsbegriff, der Revolution. Seine Sta¨rke ist zugleich seine Schwa¨che, denn die konzeptionelle Figur, die diesem Entwurf zugrunde liegt, geht von vergleichbaren kommunalen Strukturen zwischen Stadt und Land und von einer vergleichbaren politisch-gesellschaftlichen Organisationsform von Landgemeinden und

2 Zur Bedeutung der Flugschrift von Reynmann vgl. Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und

Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528, Tu¨bingen 1990, sowie Scribner, For the Sake (wie Anm. 1), S. 124–125. 3 Tom Scott, The German Peasants’ War. A History in Documents, New York 1991, sowie Rolf Kiessling, Der Bauernkrieg in Oberschwaben. Beobachtungen zu einer regionalen Erinnerungskultur, in: Der Bauernkrieg in Oberschwaben, hg. v. Elmar L. Kuhn, Tu¨bingen 2000, 513–536, sowie ders., Der Bauernkrieg, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, hg. v. Etienne Francois/Hagen ¸ Schulze, Mu¨nchen 2009, S. 137–153.

Klangra¨ume. Zu den akustischen Revolten des fru¨hen 16. Jahrhunderts

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Stadtgemeinden aus. Zudem seien die Aufsta¨ndischen durch die gemeinsame Sehnsucht nach einer gerechteren, christlicheren Welt geeint gewesen.4 Andere Historiker beurteilen die Dinge sehr viel nu¨chterner. Sie bezweifeln zum einen die Strukturgleichheit zwischen Stadt und Land und betonten die sozialen Unterschiede innerhalb der ba¨uerlichen Welt. Auch scha¨tzen sie die Ziele der Erhebungen sehr viel nu¨chterner ein: Von einer revolutiona¨ren Bewegung seien die Aufsta¨nde weit entfernt gewesen, da die Aufsta¨ndischen weniger nach einer radikalen ¨ nderung der gesellschaftlichen Ordnung strebten, sondern sich gegen steigende A Abgaben und den Versuch der Grundherren, sie in die Leibeigenschaft zu dra¨ngen, gewaltsam zur Wehr setzten. Legitimationsgrundlage ihres Handelns war das Go¨ttliche Recht, das biblisch fundiert war. Es sollte den alten Rechtszustand wiederherstellen und nur bisweilen auch adelige Herrschaft und kirchliche Ausbeutung beseitigen. Auch wurde die lokale Gebundenheit der einzelnen Aufsta¨nde betont, die – mit der Ausnahme der Aufstandsbewegung in Oberschwaben – nicht herrschaftsu¨bergreifend organisiert waren.5 Gegen die Aufsta¨ndischen wurde entschieden und mit Ha¨rte vorgegangen. Im Schwa¨bischen Bund schlossen sich die geistlichen und weltlichen Fu¨rsten, Adlige und Reichssta¨dte zusammen, um die feudale Ordnung zu verteidigen. Wo die Aufsta¨ndischen einlenkten, wurden Vertra¨ge geschlossen, ansonsten entschied die milita¨risch u¨berlegene Partei die Schlachten fu¨r sich. Zeitgenossen scha¨tzten, dass mehr als hunderttausend Aufsta¨ndische auf den Schlachtfeldern den Tod gefunden ha¨tten.6 Die Zahl lief um im Reich und ließ so manch einen erschaudern. Albrecht Du¨rer, Maler und Bu¨rger der Stadt Nu¨rnberg, erwachte am 8. Juni 1525 zitternd am Leib, nachdem er in der Nacht ein gra¨ssliches „Gesicht“ gesehen und eine schlimme Vorahnung gehabt hatte. Du¨rer setzte sich vor ein Blatt und nahm Tusche und Pinsel zur Hand. Zu Papier brachte er ein Aquarell, in dem zwischen Bild und Text eine enge Verbindung besteht. Der Text ku¨ndet von der Angst des Tra¨umers, die dessen Ko¨rper im Angesicht des Weltuntergangs am Morgen nach der Traumnacht erzittern la¨sst. Das Aquarell zeigt, was noch kommen wird: große Wassermengen, die sich vom Himmel u¨ber das Land ergießen und ganze Landschaften und Sta¨dte unter sich begraben. Der Text entha¨lt Elemente des Traumes, geht aber dort, wo von den Gera¨uschen, der Geschwindigkeit des Wassers und den Entfernungen zu lesen ist, auch u¨ber sie hinaus.7 Als Du¨rer

4 Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil,

Mu¨nchen 1985; ders., Die Revolution von 1525, Mu¨nchen 1975, sowie Revolte und Revolution in Europa, hg. v. dems., Mu¨nchen 1975. Weiterentwicklung dieses Konzepts in ders., Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Mu¨nchen 2000. 5 David W. Sabean, Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie der sozialen Verha¨ltnisse im su¨dlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525, Stuttgart 1972, sowie Tom Scott, Freiburg and the Breisgau. Town-Country Relations in the Age of Reformation and Peasants’ War, Oxford 1986. Zum go¨ttlichen Recht weiterhin grundlegend: Winfried Becker, „Go¨ttliches Wort“, „Go¨ttliches Recht“, „Go¨ttliche Gerechtigkeit“. Die Politisierung theologischer Begriffe?, in: Revolte und Revolution in Europa, hg. v. Peter Blickle, Mu¨nchen 1975, S. 232–261. 6 Peter Blickle, Der Bauernkrieg, Mu¨nchen 2006, S. 11. 7 Zum Traumgesicht vgl. die Interpretation von Hartmut Bo ¨ hme, Albrecht Du¨rers Traumgesicht

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seinen Traum zu Papier brachte, waren kurz zuvor Thomas Mu¨ntzer, ein radikaler Reformator in Mu¨hlhausen hingerichtet, die freie Reichsstadt eingenommen und die Bauern im nahen Frankenhausen geschlagen worden. Lorenz Fries, Wu¨rzburger Chronist, sprach von der Sindflut, nit des wassers, sondern ain sindflus des bluts.8 Dies fu¨hrt erneut zu der von Leonhard Reynmann prognostizierten Sintflut. Werfen wir einen zweiten Blick auf die Flugschrift (Abb. 1). Erho¨ht und damit ein wenig dem aktuellen Geschehen entru¨ckt, doch eindeutig den aufsta¨ndischen Bauern zuzuordnen, lassen sich im mittleren Bildteil ein Trommler und ein Pfeifer ausmachen; sie spielen den entschlossenen Bauern zum Kampf auf. Dieser in der Geschichtswissenschaft in Vergessenheit geratene Zusammenhang zwischen Akustik und Widerstand war Zeitgenossen des Bauernkriegs noch gela¨ufig; sie sprachen von den Bauernerhebungen als „Bauernla¨rm“9 und markierten damit wohl das illegitime Moment der Aufsta¨nde. Zugleich erscheinen Trommler und Pfeifer auf dem Titelholzschnitt nur wenig in die eigentliche Widerstandsbewegung integriert; sie agieren vielmehr aus dem Hintergrund, so dass sich nach dem kurzen Blick auf die Darstellung zwei Fragen aufdra¨ngen: erstens ob Kla¨nge und To¨ne tatsa¨chlich mehr waren als reines Beiwerk von Kampfhandlungen und wenn ja, welche Bedeutung der Erzeugung eines Klanges im Rahmen der Widerstandsbewegungen im Reich zukam. Methodisch scheint es sinnvoll, bei der Hinwendung zur akustischen Dimension des Bauernkriegs zwei Aspekte zu unterscheiden, na¨mlich erstens die Erzeugung von Kla¨ngen und To¨nen, die in der Vormoderne mit Herrschaftsrechten belegt waren und zweitens die Wahrnehmung des Klangs durch Bauern und Sta¨dter. Klangerzeugung war ein durch viele Maßnahmen geschu¨tztes Privileg der herrschenden Feudalklasse ¨ ber den gna¨digen Herrn von und ku¨ndete von dem Recht auf Herrschaftsausu¨bung. U Tirol wird in den Weistu¨mern geschrieben, er herrsche nicht nur u¨ber Wald, Wasser, Weide, Jagd und Wildbann, Dienste und Abgaben, sondern auch u¨ber das heilegeschreye, den storm (= Sturmleuten), ... (und) den glockenklancke.10 In einigen Fa¨llen werden akustische Zeichen selbst als das metaphorische Maß fu¨r die ra¨umliche Ausdehnung einer Herrschaft benannt, beispielsweise wenn es in den Weistu¨mern heißt, es werde Recht gesprochen, so weit der Glockenklang vernommen wird. Der Klangraum der Glocken wurde zu einem Symbol des grundherrlichen Machtbereiches und zum Symbol fru¨hneuzeitlicher Herrschaft. Klangra¨ume waren damit ganz buchsta¨blich Herrschaftsra¨ume. Wer in diese Herrschaftsra¨ume eindrang, indem er sich der Klangerzeugung bema¨chtigte, handelte wie ein Herr und griff nach den Herrschaftsprivilegien. Die Klangwelt konstituierte damit ein grundlegendes Herrschaftsinstrument der Vormoderne. Klang wurde nicht nur erzeugt, sondern musste auch wahrgenommen, gedeutet und interpretiert werden. Ho¨ren war (und ist) nicht nur eine angeborene Fa¨higkeit, von 1525, in: Grenzu¨berschreitungen. Friedenspa¨dagogik, Geschlechter-Diskurs, Literatur-SpracheDidaktik. Festschrift fu¨r Wolfgang Popp, hg. v. Gerhard Ha¨rle, Essen 1995, S. 17–35. 8 Lorenz Fries, Die Geschichte des Bauernkriegs in Ostfranken, Wu¨rzburg 1883, Bd. 1,3. 9 Manfred Bensing/Siegrid Hoyer, Der deutsche Bauernkrieg 1524–1526, Berlin 1965, S. 5. 10 Doris Stockmann, Der Kampf um die Glocken im deutschen Bauernkrieg. Ein Beitrag zum o¨ffentlich-rechtlichen Signalwesen im Spa¨tmittelalter, in: Beitra¨ge zur Musikwissenschaft 16 (1974), S. 163–193, hier S. 168.

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Abb. 1: Leonhard Reynmann, Practica vber die grossen vnd manigfeltigen Coniunction der Planeten, Nu¨rnberg 1523, Titelblatt Quelle: Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 4096#Beibd. 10

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sondern eine kulturelle Leistung. Dieser Aspekt der akustischen Interpretationsleistung kommt in dem Begriff der „Hearing Cultures“ zum Ausdruck, den der Musikethnologe Veit Erlmann in die Geschichte der Sinne eingefu¨hrt hat. Erlmann konzeptionalisiert die Prozesse der Wahrnehmung und der Rezeption als grundlegende Bestandteile einer Soundhistory und argumentiert fu¨r ein komplexeres Versta¨ndnis der Kultur vergangener Gesellschaften. Kultur wird von Veit Erlmann nicht ausschließlich als ein Text verstanden, den es zu lesen, zu entziffern und zu deuten gilt, sondern der im Sinne der Frage – „but what of the ethnographic Ear“ – als ein Zusam¨ ußerungen und – so mo¨chte ich erga¨nzen – von Kla¨ngen menspiel von Stimmen und A und To¨nen durch die Hearing Cultures zu interpretieren ist.11 Diese Anregung, Texte – u¨berwiegend fru¨hneuzeitliche Quellen – auf ihre Soundqualita¨ten zu befragen, mo¨chte ich im Folgenden aufgreifen und beispielhaft an den Bauernkriegsaufsta¨nden erproben. Wenn man den Bauernkrieg als eine Klanglandschaft bzw. einen Klangraum begreift, la¨sst sich in zweierlei Hinsicht von den „akustischen Revolten“ des 16. Jahrhunderts sprechen: Erstens indem man die Bedeutung der Akustik fu¨r die Kommunikation und die Organisation der Aufsta¨nde freilegt und damit das fru¨hneuzeitliche Kommunikations- und Zeichensystem rekonstruiert, das aus den Aufsta¨nden ganz buchsta¨blich akustische Erhebungen machte; zweitens la¨sst sich die Erzeugung von Kla¨ngen und To¨nen auf einer abstrakteren Ebene als ¨ bernahme von herrschaftlichen ein rebellisches Moment bezeichnen, das auf die U Privilegien verweist, die sich auf die Klangwelt der Vormoderne erstreckten. Da es in der Natur des Klanges lag, dass sich der Klangraum nicht pra¨zise begrenzen ließ, sondern sta¨dtische und teilweise selbst territoriale Grenzen u¨berschritt, wird auf den folgenden Seiten die These entwickelt, dass uns in der Fru¨hen Neuzeit ein grenzu¨berschreitendes bzw. „entgrenzendes“ Herrschaftsversta¨ndnis begegnet, wenn die Geschichte des Bauernkriegs als „Sound History“ konzipiert wird – Klangraum und ¨ berlegungen liegt eine weiHerrschaftsraum waren selten deckungsgleich. Diesen U tere elementare theoretische Annahme zugrunde, na¨mlich dass sich Ra¨ume durch 11 Veit Erlmann, But What of the Ethnographic Ear? Anthropology, Sound, and the Senses, in: Hea-

ring Cultures. Essays on Sound, Listening and Modernity, hg. v. dems, Oxford 2004, S. 1–20, hier S. 3. Als Einstieg in die „Hearing Cultures“ vgl. Hearing History. A Reader, hg. v. Mark M. Smith, Athens/ ¨ berlegungen einer „Sound History“ vgl. Jan-Friedrich MissfelLondon 2004. Zu den methodischen U der, Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte, in: Geschichte & Gesellschaft 38 (2012), S. 21–47 mit weiterfu¨hrenden Literarturangaben, sowie Mark M. Smith, Echoes in Print. Method and Causation in Aural History, in: The Journal of the Historical Society 2 (2002), S. 317–336. Weiterfu¨hrende Forschungsu¨berblicke stammen von Daniel Morat, Zur Geschichte des Ho¨rens. Ein Forschungsbericht, in: Archiv fu¨r Sozialgeschichte 51 (2011), S. 695–716; ders., Sound Studies – Sound Histories. Zur Frage nach dem Klang in der Geschichtswissenschaft und der Geschichte in der Klangwissenschaft, in: kunsttexte.de/Auditive Perspektiven 4 (2010), http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010-4/morat-daniel-3/PDF/morat.pdf; ders., Zur Historizita¨t des Ho¨rens. Ansa¨tze fu¨r eine Geschichte auditiver Kulturen, in: Auditive Medienkulturen. Techniken des Ho¨rens und Praktiken der Klanggestaltung, hg. v. Jens Schro¨ter/Axel Volmar, Bielefeld 2013, S. 131–144. Vgl. des weiteren Ju¨rgen Mu¨ller, „The Sound of Silence“. Von der Unho¨rbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Ho¨rens, in: HZ 292 (2011), S. 1–29, sowie Sophia Rosenfeld, On Being Heard. A Case fu¨r Paying Attention to the His¨ berblick bei Mark M. torical Ear, in: American Historical Review 116 (2011), S. 316–334, sowie den U Smith, Sensing the Past: Seeing, Hearing, Smelling, Tasting and Touching in History, Berkley 2000, S. 41–58.

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Kommunikationsprozesse und Handlungen immer wieder neu konstituieren, demnach ein absoluter Raum inexistent ist. Damit lassen sich „Klangra¨ume“ als Kla¨nge in Ra¨umen aber auch als Ra¨ume verstehen, die sich durch Kla¨nge konstituieren.12 Dementsprechend za¨hlt es zur Spezifik des akustischen Raums, dass er sich immer wieder neu bilden konnte. Ein Klangraum war nicht an gegebene, an tatsa¨chliche materielle Ra¨ume gebunden, sondern er war im Unterschied zu diesen „beweglich“ oder – man denke nur an die umherziehenden aufsta¨ndischen „Haufen“ – ein mobiles Element in einer gro¨ßeren Klanglandschaft. Klangra¨ume konnten daher auch aufeinandertreffen, sich begegnen oder einander in sta¨dtischen und la¨ndlichen Ra¨umen durchdringen. Der Beitrag mo¨chte somit fu¨r die unterschiedlichen Klanglandschaften des Bauernkrieges sensibilisieren und sie als ein integratives Moment von Herrschaftsausu¨bung aber auch von Widerstandskulturen begreifen.13 Damit soll nicht zuletzt der Blick fu¨r die historische Relevanz von Klangsystemen der Vormoderne gescha¨rft werden.

II. Klangra¨ume als Herrschaftsra¨ume Dass die disparaten Aufsta¨nde, die im Sommer 1524 spontan ausbrachen, zu einer akustischen Erhebung werden konnten, hat viel mit der Organisation der Aufsta¨nde zu tun, die in den ersten Monaten der Widerstandsbewegung entstand. Von Beginn an spielten bei der Organisation der Erhebungen die akustischen Zeichen eine grundlegende Rolle. Die aufsta¨ndischen Bauern und Sta¨dter konnten sich auf ein ausgeklu¨geltes akustisches Kommunikationssystem stu¨tzen, das den Alltag der Vormoderne strukturierte. Es gab nicht nur unterschiedliche Instrumente (Trommeln, Pfeifen, und Glocken), die bei verschiedenen Anla¨ssen (Gerichtstag, Markttag, Tag der Abgaben fu¨r den Grundherrn et. al.) zum Einsatz kamen, sondern unterschiedliche akustische Zeichen erklangen an unterschiedlichen Zeiten des Tages (die Fru¨hglocke, die Abendglocke, die Elfuhrglocke, das Versperla¨uten, die Nachtglocke usw.). Das akustische Kommunikationssystem war differenzierter als man zuna¨chst vermuten wu¨rde, denn es gab nicht nur unterschiedliche Glocken – kleine, große, leichte, schwere –, sondern auch die Anzahl der fu¨r einen Anlass reservierten akustischen Zeichen variierte, ebenso ihre Intensita¨t oder Sta¨rke. All dies war Gegenstand gesetzlicher Normierungen: In den Weistu¨mern wurde genauestens beschrieben, wie eine Glocke zu to¨nen hatte:

12 Anregend: Martina Lo ¨ w, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, sowie der Bericht der Tagung Ver-

kla¨rung, Vernichtung, Verdichtung: Raum als Kategorie einer Kommunikationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Mu¨hlheim an der Ruhr 2003 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=213). 13 Vgl. Rainer Wohlfeil, Bauernkrieg: Symbole der Endzeit?, in: Rottenburger Jahrbuch fu¨r Kirchengeschichte 20 (2001), S. 53–71, der sich seinerseits auf die Beitra¨ge der Musikethnologin Doris Stockmann stu¨tzt: Stockmann, Der Kampf um die Glocken (wie Anm. 10), S. 163–193, sowie dies., Der Kampf um die Glocken im deutschen Bauernkrieg, in: Der arm man 1525. Volkskundliche Studien, hg. v. Hermann Strobach, Berlin 1975, S. 309–340.

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von syben biz acht uhren zwey stark zeichen vnd hernach vmb neun uhren mit allen klokhen zusammen leuthen; von 9 bis 10 uhr ein ganze stund leuten; von morgen den sibnen bis vmb neun uhren vor mittag drey starkhe zaichen lautten; sol ... luten die glogken dristunt zu gericht ... 14 Wer diese Zeichen zu lesen verstand, wusste, was von ihm erwartet wurde. Dabei war der semantische Inhalt der akustischen Zeichengebung naturbedingt begrenzt: In der ersten Phase der Aufstandsbewegung diente die Glocke – wie auch die Trommel – als Mittel, um die Gemeinde zusammenzurufen, was dann zur rottierung fu¨hrte. Diese spontanen Treffen, auf denen u¨ber Beschwerden den Grundherren gegenu¨ber debattiert und u¨ber das weitere Vorgehen gesprochen wurde, waren vielfach die organisatorische Grundlage der Revolten. Diese Bereitschaft zum Widerstand zeigte sich bereits in dem Griff nach den Glocken; zwar wurde auch sonst in den sta¨dtischen und la¨ndlichen Grundherrschaften mithilfe der Glocke eine Versammlung einberufen – allerdings la¨uteten die Herren bzw. ihre Amtleute oder das Stadtregiment, nicht aber die Untertanen. Gleiches galt fu¨r das Schlagen der Trommeln. Folgerichtig wurde in solchen Fa¨llen von der Obrigkeit beklagt, die Aufsta¨ndischen wu¨rden la¨uten, als seien sie die Herren. Und wer in der Vormoderne in irgendeiner Weise ein Herr war, konnte „Herrschaft“ ausu¨ben.15 Diese Auseinandersetzungen um die Glocken spielten in nahezu allen Zentren des Bauernkriegs in der einen oder anderen Form eine entscheidende Rolle. Zeitgenossen waren sich des Zusammenhangs zwischen Aufruhr und Akustik bewusst, weswegen in einem Atemzug von den Conspirationes, ufflauf, ufrur und hauffung und dem verbotenen Gela¨ut einer Glocke gesprochen wurde. Doch wie klang der Widerstand? Nicht zwangsla¨ufig gleich immer nach Gewalt; die Aneignung des Glockenklangs konnte Ergebnis eines la¨ngeren Prozesses sein. In dem Sta¨dtchen Ohrdruf, am Nordrand des Thu¨ringer Waldes gelegen, kam es im April 1525 zu Unstimmigkeiten zwischen Rat und Gemeinde.16 Nach der Vesper begaben sich acht namentlich bekannte Bu¨rger und weitere Verbu¨ndete vor das Haus des Bu¨rgermeisters und begehrten, das man solt die großen glocken leuten, das die gemein zusammen keme. Der Bu¨rgermeister kam dieser Bitte nicht nach; als am Ostermontag die Ratsherren durch das Sta¨dtchen spazierten, traten abermals fu¨nf Ma¨nner aus der Gemeinde an sie heran und baten erneut, die glocken zu leuten, uf das die gemein mo¨chte zusamen komen, sie hetten etwas mit einem rat und der gemein zu reden.17 Als es zur Gemeindeversammlung kam, wurden sechs Mann als Unterha¨ndler bestimmt; sie sollten mit dem Rat verhandeln und dessen Haltung dem Grundherrn gegenu¨ber in Erfahrung bringen. Die Ohrdrufer klagten – wie auch anderswo im Reich – u¨ber die Lasten und Pflichten, 14 Stockmann, Der Kampf um die Glocken (wie Anm. 10), S. 171. 15 Vgl. Reinhart Koselleck, Herrschaft, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur

politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, hg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Stuttgart 1982, S. 1–102, hier S. 13. 16 Vgl. Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, Bd. 2, hg. v. Walter Peter Fuchs (unter Mitarbeit von Gu¨nter Franz), Jena 1942, S. 423–431. Dieser Konflikt wird ebenfalls geschildert von Stockmann, Der Kampf um die Glocken (wie Anm. 10), S. 171ff. 17 Vgl. Akten zur Geschichte des Bauernkriegs (wie Anm. 16), S. 425.

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die ihnen von ihrem Grundherrn abverlangt wurden. Der Rat weigerte sich zuna¨chst, lenkte aber ein, als sich zwei Bu¨rger auf den Kirchturm schlichen und die Glocken erklingen ließen. Dieses Gela¨ut klang nach Triumph und auch der Rat erkla¨rte sich bereit, dem Fu¨rsten die Beschwerden vorzutragen. Glockenklang konnte bei den Versuchen der Machtu¨bernahme zudem als Drohung fungieren; als sich der Rat weigerte, weiteren Forderungen der Gemeinde nachzukommen, drang eine Menge, gut 30 Mann, in die Ratsstuben ein; nur ein Ratsherr war anwesend. Diesem wurde vorgehalten: so der burgermeister nicht wolt, so wollten sie an die glocken schlagen, das her omnes zusammen kehem. Die Glocke sprach in dieser Phase verha¨rteter Fronten mit anderer Sprache; sie klang nach Drohung und Gewalt, insbesondere als einer der 30 Mann hinzufu¨gte, mir leit auch nit viel dran, es wirt aber ein schlagen draus.18 Das „schlagen“ war einerseits eine Anspielung auf das ungewisse Schicksal der Ratsherren, zugleich war es ein Wortspiel, da es die Art und Weise bezeichnete, mit der die Glocke zum Klingen gebracht werden sollte. Glocken entlockte man nicht nur durch das Schwingen ihren Klang; sie konnten auch – in Rhythmus und Intensita¨t variierend – mit einem Hammer oder einem Klo¨ppel einoder beidseitig „geschlagen“ werden. Der dadurch erzeugte Ton klang anders als der Ton einer schwingenden Glocke. Auch die Botschaft war eine andere: Eine in dieser Art zum klingen gebrachte Glocke rief nicht zur Versammlung auf, sondern sie wurde zur Sturmglocke. Sie warnte die Gemeinde vor einer Gefahr und Bedrohung und rief alle Wehrfa¨higen zur Folgepflicht mit Waffen auf. Diese Traditionen des La¨utens oder Klopfens variierten in der Vormoderne von Gemeinde zu Gemeinde. Dem franzo¨sischen Historiker Alain Corbin zufolge blieb dieses Klangspezifikum in Frankreich bis ins 19. Jahrhundert erhalten. Corbin hat in diesem Zusammenhang von einem „Affektsystem“ gesprochen, da die Glocken geho¨rt und bewertet wurden. „Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals Teil eines Prozesses, in dem die Identita¨t, die individuelle wie die kommunitarische, hergestellt wurde.“19 Klang und Identita¨t hingen in der Vormoderne offenbar eng zusammen, so dass sich u¨berspitzt formulieren ließe: Lass’ mich ho¨ren, wie du klingst und ich sage dir, wer ich bin! Spinnt man diesen Gedanken einer von Gemeinde zu Gemeinde variierenden klanglichen Identita¨t fort, dann ließe sich auch von den akustischen Revolten behaupten, dass sie in der Klanglandschaft der Vormoderne jeweils spezifisch la¨rmten. Eine akustische Revolte to¨nte wie ihre Gemeinde. Als es in Do¨rfern rund um Ohrdruf, die zur selben Grundherrschaft za¨hlten, aber auch in weit entlegenen Grundherrschaften, zu Aufsta¨nden kam, wurde die Kommunikation mit akustischen Zeichen durch ein anderes Medium erga¨nzt: Boten mit Briefen wurden ausgetauscht. Dieser schriftliche, horizontale Informationsfluss zwischen den Gemeinden steht nicht nur fu¨r die Ausbreitung der Aufstandsbewegung; er verdeutlicht zugleich die Grenzen der akustischen Kommunikation, die es an geographischer Entfernung und an Differenziertheit nicht mit der Sprache aufnehmen

18 Vgl. ebd., S. 427. 19 Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. La¨ndliche Gefu¨hlskultur und symbolische Ordnung im

Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1995, S. 15.

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konnte. Auch der Rat von Ohrdruf suchte mithilfe kommunikativer Vorsto¨ße nach Verbu¨ndeten, aber seine Bemu¨hungen kamen zu spa¨t. Als diesmal die großen Glocken zur Gemeindeversammlung erklangen, wurde der Rat abgesetzt, der die Verfu¨gungsgewalt u¨ber den sta¨dtischen Klangraum schon lange verloren hatte. Dieser revolutiona¨re Akt ging Hand in Hand mit einer weiteren Entmachtung, denn dem Rat wurde sein Recht genommen, u¨ber das so genannte „Geschrei“ auf dem Marktplatz zu verfu¨gen. Geschrei und Rufe unterlagen als Teil der akustischen Signalgebung der Vormoderne uneingeschra¨nkt der obrigkeitlichen Kontrolle und waren als detaillierte Informationsquelle von großer Bedeutung. Ihre Durchschlagskraft war – wie die Musikethnologin Doris Stockmann einwendet – zwar geringer als die der Glocke, dafu¨r war der semantische Gehalt einer Botschaft differenzierter.20 Als sich die Ohrdrufer Gemeinde auf dem Marktplatz versammelte, trat ein Mann heraus und sprach: Ir lieben bo¨rger, mir, die 30 man, seit eins worden und haben 4 man unter uns auserkoren und erwelt, die solen unser aller vorstender sein und der rat gar nichts hinter ine zu handlen haben, es sei, was es sei .... Ir liben bo¨rger, soll es also sein, was sagt ir darzue? Do sagten die burger, die do waren alle ja ... 21 Die Machtu¨bernahme geschah in Ohrdruf offenbar friedlich; kurzerhand wurde der alte Rat abgesetzt und das Sta¨dtchen Teil einer lokalen Aufstandsbewegung, die u¨ber 6000 Mann za¨hlte. Damit lag auch das Recht, die Glocken zu la¨uten, in den Ha¨nden des neuen Gemeindevorstands. Das Klangspektrum der akustischen Aufsta¨nde des fru¨hen 16. Jahrhunderts erscho¨pfte sich nicht im Glockenklang. Trommeln und Pfeifen kamen in einer fru¨heren Phase der Aufstandsbewegung, aber auch bei den Kampfhandlungen selbst, wichtige Funktionen zu. Urspru¨nglich geho¨rten Trommel und Pfeifen als paariges Ensemble zu den verbreitetsten Formen des Musizierens im Mittelalter. In der zweiten Ha¨lfte des 15. Jahrhunderts differenzierten sich die Aufgaben von Trommel und Pfeife durch eine engere Bindung an das Milita¨rwesen weiter aus; im Zuge dieser Entwicklung wurde auch das Klangvolumen der urspru¨nglich kleinen Trommel durch einen gro¨ßeren Resonanzko¨rper ersetz.22 Diese Herausbildung einer Funktionsspezifik im Milita¨rwesen wurde von Kaiser Maximilian I. um 1500 in den Landknechtsheeren gefo¨rdert. Es war keine rein deutsche Entwicklung; auch in den burgundischen Heeren und vor allem bei den Schweizer So¨ldnerheeren ka¨mpften freie Bauern und Bu¨rger, wa¨hrend Trommel und Pfeife erklangen. Dieser Klang von Flo¨te – meist Querflo¨te – und Trommel konstituierte im fru¨hen 16. Jahrhundert den Klangraum der Feudalma¨chte; auch er war mit Privilegien belegt.

20 Stockmann, Der Kampf um die Glocken (wie Anm. 10), S. 173. 21 Vgl. Akten zur Geschichte des Bauernkriegs (wie Anm. 16), S. 429. 22 Ich folge hier der ersten ausfu¨hrlichen Darstellung von Musikinstrumenten, die 1511 in Basel verlegt

wurde, vgl. Sebastian Virdung, Musica getuscht und außgezogene, Kassel 1970. Diesen Funktionskontext von Trommel und Milita¨r betonen ebenfalls Erich Stockmann, Trommeln und Pfeifen im deutschen Bauernkrieg, in: Der arm man (wie Anm. 13), S. 288–311, sowie Christopher Marsh, ‚The Pride of Noise‘: Drums and their Repercussions in Early Modern England, in: Early Music 2 (2011), S. 203–216. Diesen Literaturhinweis verdanke ich Dr. Susanne Friedrich (Mu¨nchen), der ich herzlich danke.

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Bis zur Zeit des Bauernkriegs wurde das Klangvolumen der Trommel demnach durch einen gro¨ßeren Resonanzko¨rper erweitert; sie maß nun im Durchschnitt 50–55 Zentimeter. Fu¨r die aufsta¨ndischen Haufen, deren Organisation sich an der Struktur der Landknechtsheere orientierte, fungierten Trommel und Pfeife als eine „akustische Fahne“ und hatten, wie noch deutlich werden wird, viel mit dem Zugeho¨rigkeitsgefu¨hl zu einer Gruppe und dem von Alain Corbin erwa¨hnten „Affektsystem“ zu tun.23 Die Haufen stellten den Zusammenschluss der Aufsta¨ndischen einer bestimmten Landschaft dar. Hinsichtlich ihrer Sta¨rke und Zusammensetzung variierten die einzelnen Haufen; anfangs umfassten sie nur mehrere 100 Mitglieder. In den meisten Fa¨llen gingen die kleineren Haufen in gro¨ßeren Vereinigungen auf und glieder¨ berwiegend bestanden sie aus Dorfbewohnern, ten sich als Fa¨hnlein in diese ein.24 U aber in Gebieten intensiver Stadt-Land-Beziehungen, wie in Franken und Thu¨ringen, stellten auch die Sta¨dte einen nicht unwesentlichen Teil der Haufen.25 Mehrheitlich verlief die Bildung der Haufen innerhalb der grundherrlichen Grenzen, eine prominente Ausnahme waren die drei Seehaufen, der Allga¨uer, Bodenseer und Baltringer Haufen, die sich zu einer Christlichen Vereinigung zusammenschlossen und mit ihrer Bundesordnung eine projektierte Verfassung vorlegten. Damit wurden die ba¨uerlichen Aufstandsbewegungen in den Monaten Januar bis Mai 1525 Teil von milita¨rischpolitisch-genossenschaftlichen Zusammenschlu¨ssen, die neu entstanden, Bu¨ndnisse mit Sta¨dten schlossen, lokal gebunden aber – wie die Christliche Vereinigung – auch herrschaftsu¨bergreifend organisiert waren.26 Jeder Haufen besaß eigene Fu¨hrungsorgane, Oberste, Obere und Ra¨te. Der Beitritt zur Vereinigung wurde fu¨r alle sichtbar beschworen – darum sprechen auch einige Historiker von dieser Schwurgemeinschaft als einer oberschwa¨bischen Eidgenossenschaft. Die Gemeinde war die Basis politischer Willensbildung, der Aufbau verlief stufenweise von unten nach oben; freie Assoziation der korporativen Mitglieder, weitgehende Aufhebung sta¨ndischer Unterschiede, Wahl der Amtstra¨ger und Willensfindung durch Debatte und Mehrheitsentscheidungen waren die tragenden Prinzipien der Christlichen Vereinigung. Damit bildete sie – wie der Historiker Horst Buszello formulierte – „den Gegenpol zur feudalen Herrschaft, die auf Befehl und Gehorsam, auf Geburtsunterta¨nigkeit, Vorherrschaft des Adels und sta¨ndischer Differenzierung der Gesellschaft beruhte.“27 23 Stockmann, Trommeln und Pfeifen (wie Anm. 22), S. 291. Zudem za¨hlten Trommel und Pfeife seit

der ersten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts zusammen mit den Glocken zum akustischen Kommunikationssystem der Sta¨dte – auch hier kam dem Milita¨rwesen Vorbildfunktion zu, vgl. Bensing/Hoyer, Bauernkrieg (wie Anm. 9), S. 37. 24 Bensing/Hoyer, Bauernkrieg (wie Anm. 9), S. 37. 25 Ebd., S. 38. 26 Neben der Christlichen Vereinigung fu¨hrten sie die Namen Evangelischer bru¨derlicher Bund, Landschaften und Christliche Versammlung. Dem Historiker Peter Blickle zufolge kam in der Bezeichnung „Landschaft“ der korporative Charakter und der politische Anspruch dieser u¨berterritorialen Vereinigung zum Ausdruck, durch den Namen „Christliche Vereinigung“ der neue Maßstab politischer Ordnung durch Evangelium und „Go¨ttliches Recht“, vgl. Blickle, Die Revolution (wie Anm. 4), S. 152. 27 Horst Buszello, Die Christliche Vereinigung und ihre Bundesordnung, in: Der Bauernkrieg in Oberschwaben, hg. v. Elmar L. Kuhn in Verbindung mit Peter Blickle, Tu¨bingen 2000, S. 141–171, hier S. 159.

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Trommeln und Pfeifen waren, wie schon angedeutet, das akustische Sinnbild der aufsta¨ndischen Haufen. Der Klang der Instrumente erstreckte sich weit u¨ber das Land; er sprach von zweierlei: Erstens ku¨ndete er von einem bewaffneten Aufstand gegen die feudale Ordnung, zu dem er, zweitens, auch mobilisieren wollte. Im Unterschied zu den Glocken, die in ba¨uerlichen und sta¨dtischen Gemeinden zumindest im Kirchenturm und im Rathaus vorhanden waren (zu denen sich Aufsta¨ndische allerdings Zutritt verschaffen mussten), waren die Trommeln beweglich und eigneten sich deshalb, um von den Aufsta¨ndischen mitgefu¨hrt zu werden. Allerdings verfu¨gten die aufsta¨ndischen Haufen in der Regel nicht u¨ber diese Instrumente und auch nicht u¨ber die Fa¨higkeit, diese zu spielen. Kontakte zu Sta¨dtern waren in diesen Fa¨llen hilfreich und teilweise Ausdruck bereits bestehender Allianzen. Der Bildhauser Haufen in Unterfranken wandte sich am 8. Mai 1525 an die mit ihnen verbu¨ndeten Sta¨dte der Umgebung und a¨ußerte die Bitte, ihnen einen Trommler und einen Pfeifer zur Verfu¨gung zu stellen: Liebem bruder in Christo ... es ist unser gutlich bith und ernstlich mainung darbey, das ir in eur stat und ampt zusamenthun und ain raiswagen sampt ainen vendlin, pheyffer und trumenschlager, auch ainen man aus euch in die ra¨the des la¨gers ufs furderlichst dem hauffen Bilthausen nach gein Munerstat zuschicken wollet. Solchs also zu beschechen verlasen wir uns.28 Einige Sta¨dter kamen den aufsta¨ndischen Bauern unaufgefordert zur Hilfe und schickten, wie der Wu¨rzburger Chronist Lorenz Fries berichtete, die „burgere zu augsburg (...) mit trummeln und pfeyffen aus der stat zu den bauern“.29 Gab es keine politischen Allianzen zwischen Land- und Stadtgemeinden, dann spiegelte sich dies auch in den akustischen Allianzen wieder; Gesetzestexte wurden dann – wie in ¨ berlingen und Memmingen – neu formuliert. Memmingen, wo bis Anfang Fu¨ssen, U Ma¨rz die Hauptleute und Ra¨te des Allga¨uer Haufens ihre Beratungen abgehalten hatten und die maßgebliche Beschwerdeschrift der Aufsta¨ndischen, die 12 Artikel entstanden war, orientierte sich dabei an den Vorschriften, die der Schwa¨bische Bund erlassen hatte.30 In der Landesordnung (Wehrgesetzgebung) der Oberschwa¨bischen Bauern wurde zudem die Klangfunktion des „Umschlagens“, aber auch die Folgepflicht gesetzlich fixiert: Wenn man umbschlecht, das ain jede bi Er und Aid kom, wo der beschait wirt, und wo¨lher nit erschin, mit dem wurd nach Vermo¨g des Artikels und des Gerichts gehandelt.31 Da die Bauernhaufen milita¨risch nach dem Vorbild der Landknechtsheere organisiert waren, ihre Anha¨nger jedoch weitaus gro¨ßere Rechte

28 Lorenz Fries, Die Geschichte des Bauernkriegs in Ostfranken, Wu¨rzburg 1883, Bd. 1, S. 372. 29 Ebd., S. 8. Gelegentlich wurden die Spielma¨nner fu¨r ihre Dienste bezahlt. 30 Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs in Oberschwaben, hg. v. Franz Ludwig Baumann, Tu¨bingen

1876, S. 424f. u. S. 435 (Fu¨ssen); Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernkriegs in Oberschwaben, ¨ berlingen). Vgl. dazu auch hg. v. dems., Freiburg i. Breisgau 1877, S. 40 (Memmingen), u. S. 164f. (U Stockmann, Der Kampf um die Glocken (wie Anm. 10), S. 191, Anm. 57. 31 Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs, hg. v. Gu¨nther Franz, Mu¨nchen 1963, S. 200.

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hatten, rief das Signal des „Umbschlagen“ auch zur Abstimmung u¨ber die na¨chste Aktion auf, ein Vorgang, der im So¨ldnerheer undenkbar gewesen wa¨re.32 Neben diesem Meinungsfindungsprozess bedeutet das „Umbschlagen“ auch Versammlungspflicht mit Waffen,33 manchmal zuna¨chst auch nur zur Musterung.34 Die sofortige Kampfbereitschaft wurde hingegen durch das sogenannte „Lermen“ ausgelo¨st. Diese neuen Klangvorschriften traten an die Stelle des alten Stadtrechts und des Weistumsrechts: Der Herrschaftsraum war zum akustischen Widerstandsraum ¨ bergeworden. Diese Aneignung der Herrschaftsrechte dru¨ckt sich markant in der U nahme der feudalen Oberhoheit u¨ber die Klangerzeugung aus. Beispielhaft sei auf den Entwurf zur Bundesordnung der Bauern in Oberschwaben vom 6. Ma¨rz 1525 verwiesen. Punkt 9 der Bundesordnung entha¨lt Bestimmungen u¨ber die von jedem Haufen vorzunehmende Einsetzung eines Obristen und den vier beigeordneten Ra¨ten; sodann heißt es weiter: die sollent Gewalt haben, mit sampt andern Obristen und Retten zu handlen und Ordnung mit Sturmen Ufzupieten ... 35 Mit Hilfe dieser neu geschaffenen Vorschriften, die, wie gesagt, wa¨hrend des Bauernkriegs gleichsam an die Stelle der betreffenden Weistums- oder Stadtrechtsbestimmungen traten, wurde das La¨uten der Versammlungs- und speziell der Sturmglocke einer neuen Gewalt unterworfen. Die Aneignung dieses Rechts der Klangerzeugung beinhaltete ein normierendes Gestaltungsmoment, die Herstellung von neuen Klanglandschaften mit vera¨nderten politischen Codes. Klangsysteme der Vormoderne, so la¨sst sich resu¨mieren, organisierten Herrschaft; da dies so war, ließ sich auch Herrschaft neu u¨ber Klangsysteme organisieren. Die Bauernhaufen schufen neue Vorschriften und was taten die Sta¨dter? Sie u¨bernahmen entweder die Normregulierungen der Bauernhaufen oder sie schu¨tzten sich ¨ bervor den Bauernhaufen durch akustische Gegenmaßnahmen wie dies in Fu¨ssen, U lingen und Memmingen geschah. In diesen Sta¨dten wurden die bestehenden Sturmschlag- und Folgebestimmungen neu formuliert und anschließend den Gemeinden verku¨ndet. In Memmingen, wo die 12 Artikel formuliert worden waren und wo die Hauptleute und Ra¨te des Allga¨uer Haufens ihre Beratungen abgehalten hatten, lehnten sich die neuen Vorschriften eng an die Verordnungen des Schwa¨bischen Bundes ¨ berlingen sollten zuna¨chst die kleinen Glocken am Tor und dann die großen an.36 In U Glocken (der Kirche?) geleutet werden, um die ma¨nnliche Bevo¨lkerung bewaffnet und im Harnisch auf den Stadtplatz zu rufen:

32 Fries, Geschichte des Bauernkriegs (wie Anm. 28), S. 169: Uf donerstag den vierten may erhob sich ain

zwispalt unter den bauern; .... Damit nu solch, der bauern, zwispalt der gemainen versammlung nit zu nachtail raiche, sonder on ferner ferner weyterung hingelegt wzurde, liesen die hauptleute zur gemain umbschlagen und durch ein meres erkennen, ob man gein Wirtzburg ziehen oder zuvor den Zabelstein gewinnen sollte. 33 Ebd., S. 371: Als aber die hauptleut und ra¨the ... aus vill berichten vernommen, das sich der bund nahert, liessen sie allenthalben umbschlagen und das Volk zur musterung versammeln. 34 Ebd., S. 322. 35 Zit. in: Stockmann, Der Kampf um die Glocken (wie Anm. 10), S. 182. 36 Stockmann, Glocken im Bauernkrieg (wie Anm. 13), S. 329–330.

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Es haben auch meine herren bey disen ieczt schwebenden schweren leufen .... verordnet, so ain vindsgeschray sein wurde, erstlich das glo¨gklin vff dem Obertor zuo leuten vnnd gleich daruff die großen gloggen auch angehn zuo laßen. Wer deßhalben die selbigen ho¨rt, soll zur stund mit wer vnd harnisch vff den blatz komen ... 37 ¨ berlinger Verordnung deutlich macht, mussten Kla¨nge auch vernommen, Wie die U sie mussten geho¨rt und interpretiert werden. Um seine politische Wirkung zu ent¨ berlingen war es die Klangfalten durfte der Klang daher nicht beliebig sein – in U folge von kleiner und großer Glocke, die die Sta¨dter zur Folgepflicht mahnte. Der Klang konnte seine Funktion und Bedeutung fu¨r und innerhalb der Erhebungen nur entfalten, wenn er sparsam dosiert oder zumindest gezielt und akustisch eindeutig eingesetzt wurde; nur dann konnten die akustischen Zeichen von denjenigen, die sie vernahmen, rezipiert werden und auch die gewu¨nschte Sinndeutung erfahren. Insofern mussten sich nicht nur Klangra¨ume, sondern auch Ho¨r-Ra¨ume konstituieren und operabel bleiben. Da der Zusammenhang zwischen Klangerzeugung, Klangwahrnehmung und intendierter Handlung grundlegend fu¨r das reibungslose Funktionieren des akustischen Zeichensystems war, wurde Sorge getragen, dass ein akustisches Zeichen auch lange genug erklang, um den gesamten Klangraum zu durchmessen. Nicht nur die Dauer der akustischen Zeichen wurde normiert, sondern auch die Intensita¨t, mit der sie erklangen (laut/leise). Zudem reglementierten Bauernhaufen auch die Ha¨ufigkeit des Sturmla¨utens, damit diese Signale ihre Bedeutung innerhalb des kommunikativen Zeichensystems nicht einbu¨ßten, sondern weiterhin durch akustische Differenzierung wahrnehmbar blieben.38 In einem vergleichbaren funktionalen Zusammenhang standen die Maßnahmen zur Reduzierung von Klangzeichen in Sta¨dten. In den mit den Bauern verbu¨ndeten Sta¨dten wurde die Bandbreite der akustischen Zeichen, die den Alltag und die Feiertage der Vormoderne strukturierten, auf grundlegende Zeitzeichen, wie das Ave-Maria-La¨uten oder die Schlafglocke reduziert.39 Der katholische Stadtschreiber von Rothenburg berichtete, dass vom 27. Ma¨rz 1525 (Mitfasten) bis zum Ende des Aufstands die Klanglandschaften der Stadt stark reglementiert waren:

37 Baumann, Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs (wie Anm. 30), S. 164–165. 38 Item witer ist beret und beschlossen, das jemants kain Post schriftlich noch muntlich von dem ainen

Quartier oder Tail in das ander on Bevelh des Obersten usgeen lassen, damit Sturm und ander unnottu¨rftig Ufrur verbiet werd. Und so es von andern anzaigt wurd, sol es nit gelten und sich jemand daran keren .... Item jetlicher Tail oder Quartier, so da angriffen wurd, sol der Sturm nit witer gan, dan zu dem Haufen, er angriffen wirt. Der sol zu Rettung (von) Land und Leut auf sein, als stark er ist, und die andern Huffen durch die Post gemant werden, vgl. Franz, Quellen zur Geschichte (wie Anm. 31), S. 199. 39 Ha¨ufig sind Formulierungen wie nach den ausschlagen bzw. umb das ausschlagen (der Ave-Maria-Glocken fru¨h und abends) bis zur Schlafglocke vgl. Baumann, Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs (wie Anm. 30), S. 288, S. 617, sowie Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs aus Rothenburg an der Tauber, hg. v. Franz Ludwig Baumann, Tu¨bingen 1878, S. 70, 76, 364, 456, 475 sowie 604; Franz, Quellen zur Geschichte (wie Anm. 31), S. 408, 415.

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(bis zu end dieser uffrur), sang, noch las man in kainer kirchen kain mess, vesper, complet, mettin, noch anders gar nichtzit. So lewt man auch nichtzit, dann wann man predigen oder die gemaind zusamenpringen und versameln wollte, sonder stund man mit allen go¨ttlichen ampteren und gotsdiensten still ... 40 Die Klangreduzierung in Rothenburg ob der Tauber schra¨nkte den Gottesdienst und die religio¨sen Praktiken der Sta¨dter stark ein, denn die Reglementierung des sta¨dtischen Klangraums betraf nicht nur den Glockenklang mit seinen vielfa¨ltigen kommunikativen Funktionen, sondern selbst die Predigt des Wort Gottes und den christlichen Gesang. Diese Maßnahmen zur Reduzierung eines religio¨sen Klangraums hatten die Funktion der Erzeugung der Stille, bzw. der Herstellung eines Ho¨r-Raumes, in dem die signifikanten akustischen Signale vernommen werden konnten. Ganz vergleichbar betraf auch die Klangreduzierung in Bamberg weniger das profane La¨uten der Glocken, sondern das Gela¨ut der Kirchenglocken fu¨r kirchliche Zwecke. Die ¨ btissin des Klarissenklosters in Bamberg berichtete im Sommer 1525 leut kein GloA cken in der ganzen Stat, man verspo¨rt alle Kirchen ... kein Noten dorften wir nit singen.41 Das Verbot der Klangerzeugung erstreckte sich auch in Bamberg auf instrumentale und vokale Zeichen, auf kirchliche Glocken und den Gesang der Nonnen gleichermaßen. Durch eine Reduzierung der akustischen Zeichen wurden die Klanglandschaften der Stadt Bamberg u¨berschaubar gehalten und die sinnliche Wahrnehmung spezifischer Klangra¨ume erleichtert. Klangreglementierung und Klangreduzierung durch normative Vorschriften bedachten damit im versta¨rkten Masse die Hearing Cultures und den kommunikativen Aspekt durch Klangsysteme. Herrschaft – aber auch Widerstand gegen Herrschaft – war damit in der Vormoderne grundlegend u¨ber Zeichengebung und Klangsysteme organisiert. Welche Auswirkungen hatte dieser immanente Funktionszusammenhang fu¨r die Niederschlagung der Aufsta¨nde? Da die Aufsta¨ndischen ihre Angriffe auf die gesellschaftliche Ordnung u¨ber die Aneignung und die Neubesetzung des akustischen Klangraums der Feudalherren ausfu¨hrten, setzten die weltlichen Obrigkeiten nach der Niederschlagung der politischen Aufsta¨nde alles daran, auch die Klangra¨ume und Klangsysteme der Untertanen zu zersto¨ren. In den Unterwerfungsvertra¨gen, die in den Aufstandsgebieten von den Grundherren aufgesetzt wurden, spielte daher der Zusammenhang zwischen Klanganeignung und Klangneubesetzung durch die aufsta¨ndischen Haufen eine zentrale Rolle. Landgraf Philipp von Hessen war einer der ersten, der sich u¨ber die widerspenstigen Verhaltensweisen empo¨rte, die aus einer akustischen Gemeinschaft eine politische Gemeinschaft gemacht hatten: Lieben underdan und getreuen. Uns kommt glaublich vor und werden bericht, das ir je zu zeiten die glocken leuten, aigen versammlung machen, Bundnus schweren und gegen den rat und ihre personen zu emporunge

40 Baumann, Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs aus Rothenburg (wie Anm. 39), S. 258. 41 Franz, Quellen zur Geschichte (wie Anm. 31), S. 403.

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setzen, ... Bevehlen derohalben euch ernstlich und wollen, das ir von solchen ufrurigen vornemen abstehet, die glocken zu leuten, gemein zu halten, muterei oder buntnus zu machen euch hinffuro enthaltet.42 Da die Verbindung von Glockenklang und Aufruhr fu¨r die Zeitgenossen evident war, wurde in den Strafartikeln des Schwa¨bischen Bundes gegen die Bauern im Schwarzwald angeordnet, dass die Glocken aus den Kirchtu¨rmen zu entfernen seien; in der Stu¨hlinger Landschaft wurde selbst verordnet, Kirchturm und Kirchhof niederzureißen.43 Nach den Trommeln, die von den Bauern vielerorts in den Do¨rfern versteckt wurden, ließ man fahnden.44 Bei jeder Gefangennahme wurden die Einzelheiten des Aufstands erfragt; immer wieder ging es dabei um Rufe und Geschrei, um die von den Aufsta¨ndischen benutzten Glocken, Pfeifen und Trommeln. Um den Klangraum als ausschließlichen Herrschaftsraum der Obrigkeiten zu markieren, wurde in den Jahren nach dem Bauernkrieg vielerorts selbst das Umherziehen mit Trommeln in den Gassen oder das Aufspielen beim Tanz verboten; aus solchen Versammlungen, so resu¨mierte man 1527, sei der Bauernaufstand entstanden.45 Die Erfahrungen der vergangenen Jahre waren pra¨gend gewesen; in den Ohren der Obrigkeit to¨nte nun jeder Klang unwiderruflich von Widerstand und Aufruhr.

III. Resu¨mee

Klangra¨ume als Herrschaftsra¨ume – dieser Gedanke bildete den Ausgangspunkt, um die Verbindung zwischen Herrschaft, Widerstand und Akustik im fru¨hen 16. Jahrhundert zu analysieren. Klang war mehr als nur ein Ton, auch kommunizierte er in mehreren Sprachen. Ihre grundlegende Bedeutung erhielten Kla¨nge und To¨ne als Kommunikations- und Verweissysteme, die gema¨ß des fru¨hneuzeitlichen Herrschaftsversta¨ndnisses vertikal (zwischen Herrschenden und Beherrschten) operierten. Im Zuge der akustischen Aufsta¨nde des fru¨hen 16. Jahrhunderts wurde das akustische Repertoire zur Kommunikation zwischen den Aufsta¨ndischen eingesetzt, das nun auf horizontaler Ebene lokale Haufen von Bauern und Sta¨dtern akustisch zusammenfu¨hrte und eine Kommunikation untereinander ermo¨glichte. Indem Funktion und Bedeutung der fru¨hneuzeitlichen Klanglandschaften umdefiniert wurde, wurde auch das fru¨hneuzeitliche Herrschaftsversta¨ndnis unterwandert. Zudem erhielt das akustische Kommunikations- und Verweissystem neue Funktionen: Im Zuge der Aufstandsbewegungen kam ihm grundlegende Bedeutung fu¨r

42 Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, Bd. 1, hg. v. Otto Merx, Leipzig/Berlin

1923, S. 3f.

43 Stockmann, Der Kampf um die Glocken (wie Anm. 10), S. 186. 44 Franz, Quellen zur Geschichte (wie Anm. 31), S. 570. 45 Karl-Sigismund Kramer, Volksleben im Fu¨rstentum Anspach und seinen Nachbargebieten, Wu¨rz-

burg 1961, S. 269f.

Klangra¨ume. Zu den akustischen Revolten des fru¨hen 16. Jahrhunderts

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die Organisation der Widerstandsbewegungen zu. Zusammen mit der akustischen Zeichengebung eigneten sich Untertanen immer auch ein wenig das Recht an, zu herrschen wie ein Herr. Aufgrund dieser engen Verflechtung zwischen Herrschaft und Klang war die Auseinandersetzung um die Glocken in nahezu allen Zentren des Bauernkriegs in der einen oder anderen Form zentral. Sie ging Hand in Hand mit der politischen Willensbildung in den aufsta¨ndischen Gemeinden zu Stadt und zu Land, denn die Gewalt u¨ber die Glocken zu besitzen bedeutete das Recht, eine Versammlung einzuberufen, politische Meinungsbildungsprozesse zu forcieren, sich politisch und milita¨risch zu organisieren, mit verbu¨ndeten Haufen zu kommunizieren, die gewaltsamen Aktionen vorzubereiten und dann auch durchzufu¨hren: Der Klang war in und zu jeder Phase des Aufstands elementar als Ausdruck einer aufsta¨ndischen Gesinnung und als Mittel zur Durchfu¨hrung von Aufsta¨nden. Da es in der Natur des Klanges liegt, dass sich der Klangraum nicht pra¨zise begrenzen la¨sst, sondern der „Sound“ sta¨dtische und teilweise selbst territoriale Grenzen u¨berschreitet, habe ich argumentiert, dass uns ein anderes fru¨hneuzeitliches Herrschaftsversta¨ndnis begegnet, wenn die Geschichte des Bauernkriegs als „Sound History“ konzipiert wird. Neben den herrschaftlichen Territorien entstanden „auditory territories“ der aufsta¨ndischen Bauern und Sta¨dter.46 Raum und Klang standen damit in einem elementaren Bezug zueinander. Ra¨ume werden derzeit in der historischer Forschung als Einheiten konzeptionalisiert, die nicht absolut waren, sondern die sich durch Beziehungsgefu¨ge – durch Handlungen, durch Kommunikation oder, so mo¨chte ich erga¨nzen, durch Kla¨nge – immer wieder neu konstituieren. Insofern lassen sich „Klangra¨ume“ als Kla¨nge in Ra¨umen aber auch als Ra¨ume verstehen, die sich durch Kla¨nge erst konstituieren. In diesem Sinne kann man auch von Klanglandschaften sprechen, die im Zuge der Aufsta¨nde der Sta¨dter und Bauern neu gebildet wurden – durch Klanganeignung und durch Klangausu¨bung. Diese Klangra¨ume der Sta¨dter und Bauern waren mobil – als „akustische Fahne“ begleiten sie die einzelnen aufsta¨ndischen Haufen, trafen aber – wenn sich Haufen vereinigten – ebenfalls aufeinander. Klangra¨ume der Sta¨dter und Bauern konnten sich durchdringen und zu einem gemeinsamen Widerstandsraum verdichten. Klangra¨ume vereinen damit ganz verschiedene Dimensionen von Ra¨umen und, grundlegend, die Bedeutung von Ra¨umen als Kategorie der Sinneswahrnehmung. Hier liegt m. E. nach das Potential einer Klanggeschichte der Vormoderne, denn sie vermag nicht nur die politische Geschichte als eine Geschichte der sinnlichen Wahrnehmung von Herrschaftsbeziehungen und politischen Machtverha¨ltnissen zu erfassen, sondern auch die historische Raumforschung sinneshistorisch auszudeuten.

46 Alain Corbin, Identity, Bells and the Nineteenth-Century French Village, in: Hearing History: A Rea-

der, hg. v. Mark M. Smith, Athens 2004, S. 184–206.

DIE REPUBLIK AUF REISEN von Thomas Lau

I. Die Sachlage

Die Kopie des Protestschreibens erreichte den Rat der Stadt Zu¨rich Mitte Juni. Die Kommandeure und Offiziere von fu¨nf eidgeno¨ssischen Regimentern, so hieß es darin, ha¨tten sich am 21. Mai 1649 mit Leib und Gut verbunden. Seit Monaten schon habe der Ko¨nig seine Zahlungsverpflichtungen nicht erfu¨llt. Alle Versuche, die Krone zum Einlenken zu bewegen, seien gescheitert. Sollte sie bei dieser Haltung bleiben, so sei man gezwungen, die Waffen niederzulegen. Keineswegs werde man auf weitere Versuche eingehen, die Regimenter gegeneinander auszuspielen. Eine Einigung mu¨sse einvernehmlich akzeptiert werden, oder sie werde von allen abgelehnt. Notfalls mu¨sse die Eidgenossenschaft einem Ru¨ckmarsch aller Truppen zustimmen.1 Wenngleich das Schreiben aus Frankreich zu regen Verhandlungen innerhalb der Eidgenossenschaft Anlass gab, hielt sich das Engagement der dreizehn Orte zuna¨chst in Grenzen.2 Erst als 1649 im Dezember 14 eidgeno¨ssische Kompanien zwangsbeurlaubt wurden, weil sie zuvor in einen Streik getreten waren, begann sich das Blatt zu wenden. 1500 Mann marschierten bei unzureichender Verpflegung ohne Pferde – und schließlich auch ohne Waffen – von Du¨nkirchen bis zum Genfersee; ein Akt der Entehrung, von dem Hauptleute aus ma¨chtigen eidgeno¨ssischen Familien betroffen waren.3 Die bislang zaudernden Obrigkeiten gaben dem Dra¨ngen der Offiziere nunmehr nach und bestimmten auf der Januartagsatzung von 1650 eine vierko¨pfige Delegation, die das Problem lo¨sen sollte. Den im Umfeld der Fronde agierenden eidgeno¨ssischen Vertretern gelang es, nach langwierigen Verhandlungen und massiven Drohungen an die Adresse Mazarins im Spa¨tsommer 1650 einen Schuldentilgungsvertrag auszuhandeln.4 Gegen die Bereitstellung von Sicherheiten erkla¨rten sich die Eidge1 Staatsarchiv (StaatsA) Zu¨rich, A 243 1, 9. 2 Deutlich wird dies etwa im Schreiben des Vorortes Zu¨rich an den franzo¨sischen Ambassadoren de

la Barde vom 15. 8. 1649, in dem er (inmitten der Verhandlungen um die Soldru¨cksta¨nde) weiterhin um Rat gefragt wurde, wie die Eidgenossen auf Forderungen Spaniens eingehen sollten. Die von de la Barde vorgeschlagenen Formulierungen eines Schreibens wurden nahezu wortgetreu u¨bernommen. StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 22. 3 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 77. 4 Die umfangreichen Aktenbesta¨nde, die die Geschichte der Gesandtschaft dokumentieren, wurden in der a¨lteren Forschung nur kursorisch ausgewertet. Noch am ausfu¨hrlichsten von: Frieda Gallati,

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Thomas Lau

nossen bereit, ihre milita¨rischen Dienste zu Gunsten der franzo¨sischen Krone fortzusetzen – eine Entscheidung, die nicht unwesentlich fu¨r den Ausgang des weiteren Konfliktes war.5

II. Erkenntnisinteresse

Die Gesandtschaft des Jahres 1650 war die erste diplomatische Mission der dreizehn Orte nach ihrer umstrittenen Exemption aus dem Reich durch den Frieden von Osnabru¨ck 1648.6 Die Frage, wie ein souvera¨ner Stand sich im Auslande zu repra¨sentieren habe, war indes nur eine von vielen, mit denen die vier Gesandten konfrontiert wurden. Noch unmittelbar vor Grenzu¨bertritt hatte der Freiburger Gesandte seine Mitreisenden aufgefordert, gemeinsam zu kla¨ren, warum sie eigentlich nach Frankreich reisten und was sie dort erreichen wollten. War es das Interesse der So¨ldnertruppen, das die Gesandtschaft dort vertrat, oder jenes der eidgeno¨ssischen Sta¨nde, wobei de Weck wohlweislich die Frage ausklammerte, ob die vier Eidgenossen fu¨r die Gesamtheit der Sta¨nde oder fu¨r jeden Stand einzeln auftreten sollten – ein Thema, das in der Korrespondenz mit Heimatorten immer wieder diskutiert wurde. De Wecks Frage stieß bei seinen Mitreisenden auf wenig Resonanz. Man werde, so ließen sie ihn wissen, schon eine Gelegenheit finden, daru¨ber zu sprechen.7 Es war eine von vielen a¨hnlich gelagerten Debatten, die im Vorfeld und Verlaufe der Gesandtschaft gefu¨hrt wurden. Wir sind daru¨ber gut informiert. Nicht nur die Gesandtschaftsberichte selbst sind erhalten, sondern auch der Schriftverkehr mit einzelnen Orten, sowie die Privatkorrespondenz der Gesandten, zum Teil auch Tagebu¨cher, spa¨tere Reflexionen, Abrechnungen, Urteile von Zeitzeugen, die Rechnungsbu¨cher der Solddienstunternehmen, die Kommentare der Ambassadoren und vieles

Zu¨rich und die Erneuerung des franzo¨sischen Bu¨ndnisses, 1654–1658, in: Festgabe Paul Schweizer, Zu¨rich 1922, S. 246–286. Aus der ju¨ngeren Forschung: Le Roi dans la ville. Anthologie des entre´e royales dans les villes franc¸aises de province (1615–1660), hg. v. Marie-France Wagner/Daniel Vailancourt, Paris 2002, S. 31. Thomas Maisssen, Die Geburt der Republik, Go¨ttingen 2006, S. 232–233. Zur a¨lteren Forschung vgl. die antimonarchisch-antifranzo¨sische Darstellung von: Louis Vulliemin, Geschichte der Eidgenossen wa¨hrend des 17. und 18. Jahrhunderts, 3. Theil, Zu¨rich 1845, S. 11–13. ¨ hnlich: Anton von Tillier, Geschichte des eidgeno¨ssischen Freistaates Bern von seinem Ursprunge A bis zu seinem Untergange im Jahre 1798, IV. Band, Bern 1838, S. 133–137. Eine profranzo¨sische Deutung findet sich (zusammen mit einer ausfu¨hrlichen Zusammenstellung der zeitgeno¨ssischen Quellen) bei: Be´at Fide`le Dominique von Zurlauben, Histoire Militaire des Suisses au Service de la France, Bd. 7, Paris 1703, S. 32–41. Als Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehung wird die Gesandtschaft interpretiert von: Gae´tan de Flassan, Histoire Ge´ne´rale et Raisonne´e de la Diplomatie Francaise ou la Politique de la France, Bd. 3, Paris (2) 1811, S. 186. 5 Yves-Marie Berce´, Le Roˆle des Suisses pendant la Fronde, in: Cinq sie`cle de relations franco suissses. Hommage a` Louis E´douard Roulet, Neuchaˆtel 1984, S. 73–87. 6 Zur Neubewertung des Exemptionsartikels und dessen außenpolitischer Folgen: 1648. Die Schweiz und Europa. Aussenpolitik zur Zeit des westfa¨lischen Friedens, hg. v. Marco Jorio, Zu¨rich 1999. 7 StaatsA Freiburg, Frankreichpapiere, De Weck an Rat von Freiburg, 19. 2. 1650.

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mehr bislang unausgewertetes Material gibt Auskunft u¨ber die Versuche der Gesandten, sich in dem Raum zu orientieren und zugleich jenen Raum zu definieren, den sie repra¨sentierten. Ihre Berichte und Kontroversen dokumentieren, wie sie unter vera¨nderten Rahmenbedingungen immer wieder neue Ra¨ume konstruieren, umarrangieren, neu gestalten und ihre Sta¨nde in diesen Ra¨umen positionieren. Vor allem aber zeigen sie, wie die Dynamik der Finanzkrise die Gesandten zwang, sich hegemonialen Raumentwu¨rfen anzuna¨hern und damit von Grundprinzipien eidgeno¨ssischer Raumkonstruktionen zu entfernen.8

III. Innen und Außen

Dass Soldru¨cksta¨nde zu politischen Spannungen zwischen der Eidgenossenschaft und der franzo¨sischen Krone fu¨hrten, war an sich nichts Ungewo¨hnliches.9 Dennoch unterschieden sich die Vorgehensweise und die Argumentation des Schwurverbandes der eidgeno¨ssischen Offiziere von vorangegangenen Bewegungen in signifikanter Weise. 1622 und 1634 hatten die Vertreter der Eliteeinheit der Hundertschweizer die Tagsatzung mit ihren Beschwerden nur am Rande behelligt.10 Stattdessen hatten sie sich an ihre Heimatorte und die Einzelbu¨nde gewandt und sie um eine Intervention gegenu¨ber der Krone gebeten. Paris mo¨ge aufgefordert werden, die Schweizer So¨ldner endlich zu bezahlen und sie bei der Befo¨rderung in ho¨here milita¨rische Ra¨nge nicht la¨nger zu u¨bergehen.11 Die angeschriebenen Obrigkeiten wurden in beiden Fa¨llen ta¨tig und sandten, nach erfolgloser Intervention bei der franzo¨sischen Ambassade in Solothurn, Delegationen an den Ko¨nigshof. Der von den Gardisten gewa¨hlte Weg, Druck auf die ko¨nigliche Verwaltung auszuu¨ben, war naheliegend. Die Obersten waren ausnahmslos, die Hauptleute zum

8 Im Folgenden wird zwischen hegemonialen und nicht hegemonialen Raumkonstruktionen unterschie-

den. Hegemoniale Ra¨ume sind als dauerhafte Konstruktionen angelegt. Andere Ra¨ume ko¨nnen nur als sub- oder supraspatiale Pha¨nomene mit diesem Konstruktionsprinzip in Einklang gebracht werden. Die Vorstellung einer Raumkonkurrenz, die Mo¨glichkeit, dass Ra¨ume situativ erschaffen werden, um dann einer neuen Raumimagination zu weichen, ist inkompatibel mit diesem Modell. Der hegemoniale Raum soll den Akteuren als multifunktionale Bu¨hne dienen, die in ho¨chst unterschiedlichen Situationen wiedererkennbar und in ihren Grenzen stabil bleibt. Die mit Bedeutung aufgeladenen, aufeinander bezogenen Gegensta¨nde, die den physischen Raum mit dem gedachten Raum verknu¨pfen und den Akteuren Bezugspunkte liefern, die Interaktion und Ausgrenzung ermo¨glichen, sind damit durch ihre Polyvalenz stabil. Zwar erschafft jeder Akteur den Raum fu¨r sich immer wieder neu, doch teilen die ¨ berzeugung der Einheitlichkeit und Stabilita¨t des Raumes. Die Akzeptanz hegemoniaAkteure die U ler Raumentwu¨rfe beinhaltet damit auch eine Selbstbeschra¨nkung des Akteurs und ein Versprechen an sein Umfeld. 9 Edouard Rott, Histoire de la representation diplomatique de la France, Bde. 3–6, Bern 1906–1917. 10 Kantonsbibliothek Aargau, Sammlung Zurlauben, Acta Helvetica (im Folgenden bezeichnet als AH) 69/166. 11 AH 35/118, EA V 2, 340, AH 28/32.

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u¨berwiegenden Teil mit Ratsangeho¨rigen der eidgeno¨ssischen Orte verwandt oder verschwa¨gert. Wenngleich in den meisten Kompanien auch auswa¨rtige Soldaten Dienst taten, stammten Mitte des 17. Jahrhunderts die meisten noch immer aus dem regionalen oder lokalen Einzugsgebiet ihrer Hauptleute.12 Die Beschwerden der Regimenter betrafen die Standeseliten damit in mehrfacher Hinsicht – ein Stocken des Geldflusses gefa¨hrdete den wirtschaftlichen Wohlstand der Familien, ließ ihr Prestige gegenu¨ber ihren Klienten sinken und reduzierte ihre Chancen, Familienmitglieder auf einflussreiche Stellen im Stadt- bzw. Standesregiment zu platzieren.13 Der Solddienst bildete indes nur eine von zahlreichen Verbindungen zwischen Frankreich und den eidgeno¨ssischen Orten. Handelskontakte – so der Import von Salz und der Export von Textilien – waren kaum weniger bedeutend. Hinzu kam ein schwer durchschaubares Geflecht von finanziellen Interdependenzen: So wurde ein Teil der von Frankreich an die eidgeno¨ssischen Orte bezahlten Pensionen durch die Orte selbst durch Kredite vorfinanziert.14 Die Position eines großen Teils der Standeseliten hing in Anbetracht dieser vielfa¨ltigen Verflechtungen von der Fa¨higkeit ab, den Transfer zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich zu organisieren, Sto¨rungen zu beseitigen und die wechselseitigen Gewinne zu stabilisieren.15 Bereits die 1634 auf Antrag der Hundertschweizer erfolgte Gesandtschaft der fu¨nf Inneren Orte nach Fontainebleau hatte dementsprechend einen schwierigen Balanceakt zu vollziehen. Einerseits galt es, die Privilegien der Garde zu verteidigen. Die fu¨nf Orte wurden also als eine Teilentita¨t der Schweiz dargestellt, deren Vertreter in der Lage waren, eigene Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Zugleich versicherten sie dem Ko¨nig, man werde sich keinesfalls in die Ha¨nde Spaniens begeben und die Freundschaft mit ihm in ho¨chsten Ehren halten. Der Hof wusste den Forderungen durch Gesten des guten Willens und zahlreiche Komplimente zu begegnen. La¨ngere Unterredungen mit Richelieu und Pe`re Josef sollten die Standesvertreter davon u¨berzeugen, dass die fu¨nf Orte und das Ko¨nigreich einen gemeinsamen politischen Interessenraum und eine sakrale Erwa¨hltheitsgemeinschaft bildeten.16 Das eidgeno¨ssische Ziel eines solchen Zusammentreffens konnte nicht darin bestehen, die eigenen Forderungen vollsta¨ndig durchzusetzen. Es ging vielmehr darum, die eigene Handlungsfa¨higkeit zu dokumentieren und die Gastgeber unter Zugzwang zu setzen. Der Ko¨nig konnte seine Ga¨ste nicht ziehen lassen, ohne – auch o¨kono-

12 StaatsA Freiburg, Familienarchiv Reynold 146; ebd., Familienarchiv de Weck, Brief vom 30. 4. 1655. 13 Christian Windler, „Ohne Geld keine Schweizer“: Pensionen und So¨ldnerrekrutierung auf den eidge-

no¨ssischen Patronagema¨rkten, in: Na¨he in der Ferne. Personale Verflechtung in den Aussenbeziehungen der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Hillard von Thiessen/Christian Windler (Zeitschrift fu¨r Historische Forschung, Beih. 36), Berlin 2005, S. 105–133. 14 StaatsA Zu¨rich, A 243, 1, 11–12. 15 Daniel Schla¨ppi, „In allem U ¨ brigen werden sich die Gesandten zu verhalten wissen ...“, in: Der Geschichtsfreund, Mitteilungen des Historischen Vereins der Fu¨nf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden ob und nid dem Wald und Zug 151 (1998), S. 5–90. 16 AH 12/13, AH 13/2, AH 13/8, AH 13/23, AH 13/26, AH 24/29, AH 28/32, AH 66/82, AH 80/13, AH 86/150, AH 111/97, AH 150/159A. 150/159.

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misch verwertbare – Zeichen seiner Gnade.17 Alles andere wa¨re als Affront oder, schlimmer noch, als Beweis der eigenen Zahlungsunfa¨higkeit wahrgenommen worden. Das Treffen diente damit der Stabilisierung des Verha¨ltnisses und war zugleich eine Demonstration an die Finanzma¨rkte, dass Frankreich seinen Verpflichtungen langfristig nachkommen werde. Zusammenku¨nfte wie diese blieben eine Ausnahme und zwar auch deshalb, weil die Beziehungen durch eine Vielzahl von Kontakten fundiert wurden.18 Neben der franzo¨sischen Ambassade in Solothurn19, die u¨ber mehr als zwei Jahrhunderte vergeblich versuchte, auf der Ebene der politischen Kontakte ein Monopol zu erhalten, kam vor allem den Generalobersten der Garde eine wichtige Mediatorenrolle zu.20 Hinzu traten die regen Kontakte zwischen den in Frankreich dienenden Mitgliedern der eidgeno¨ssischen Geschlechter und ihren daheim gebliebenen Verwandten sowie die Mo¨glichkeit, einzelne Personen von Stand, die aufgrund ihrer sozialen, o¨konomischen und milita¨rischen Position ein hohes Eigengewicht besaßen und sich als Experten der Grenzu¨berschreitung profiliert hatten, um die Beseitigung von Sto¨rungen von Transferaktionen zu bitten. Der Herzog von Rohan za¨hlte zu diesem illustren Kreis ebenso wie der Berner Johann Ludwig von Erlach,bis zu seinem Tode als Feldmarschall des Ko¨nigs diente.21 Der Begriff der Außenverflechtung beschreibt das hier deutlich werdende, durch vielfache Verschra¨nkungen und Abha¨ngigkeit gekennzeichnete Verha¨ltnis zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich nur unzureichend.22 Er beruht auf der Vorstellung zweier stabiler, begrenzter Herrschaftsra¨ume, die auf mehreren Ebenen reziproke, einander u¨berlagernde Austauschbeziehungen pflegen. Das Problem im vorliegenden Fall liegt darin, diese beiden Entita¨ten zu benennen. 1622 reisten Vertreter der sieben Orte nach Frankreich, 1635 waren es Vertreter der fu¨nf Orte und 1650 sollten es Vertreter aller dreizehn Orte sein. Mit wem also pflegte Frankreich Außenbeziehungen – mit der Eidgenossenschaft, mit Zusammenschlu¨ssen innerhalb der Eidgenossenschaft oder mit den einzelnen Orten, die sich im Bedarfsfall zusammenschlossen?23 17 Vgl. dazu: Tanja Zeeb, Die Dynamik der Freundschaft. Eine philosophische Untersuchung der Kon-

zeptionen Montaignes, La Rochefoucaulds, Chamforts und Foucaults, Go¨ttingen 2011, S. 131–135. 18 In den Besta¨nden des katholischen Vorortes Luzern findet sich eine rege, nie abreißende Korrespon-

denz mit der Krone, aber auch mit Solddienstregimentern und anderen Akteuren, in denen die Solddienst- und Pensionenfrage permanent diskutiert wird, vgl. Etwa: StaatsA Luzern, Akt. A1 F1 Sch23, Mappe: Frankreich, Pensionen, Soldversprechen etc. 1625–1629. 19 Thomas Lau, Fremderfahrung und Kulturtransfer – der Ambassadorenhof in Solothurn, in: Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von Michael Rohrschneider/Arno Strohmeyer, Mu¨nster 2007, S. 313–341. 20 StaatsA Freiburg, Familienarchiv Reynold 142, Schreiben des Generalobersten Franc¸ois de Bassompierre vom 1. 12. 1630. 21 August von Gonzenbach, Der General Hans Ludwig von Erlach von Castelen. Ein Lebens- und Charakterbild aus den Zeiten des dreißigja¨hrigen Kriegs, 3 Bde., Bern 1880–1882. 22 Hillard von Thiessen, Diplomatie vom type ancien. U ¨ berlegungen zu einem Idealtypus des fru¨hneuzeitlichen Diplomaten, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalita¨t im historischen Wandel, hg. v. Dems./Christian Windler, Ko¨ln 2010, S. 471–503. 23 Die von Goppold vorgeschlagene Deutung des Systems Stadt verweist auf eine starke Trennung von System und Umwelt. Außenakteure erfu¨llen hier lediglich die Funktion von Reizgebern, die die Kommunikation innerhalb des Systems intensiviert. Ein solcher, Luhmann verpflichteter Deutungsansatz

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Tatsa¨chlich konnte keiner der eidgeno¨ssischen Sta¨nde durch einen Beschluss der Tagsatzung gebunden werden, das gleiche galt fu¨r die Mitglieder der zahlreichen Einzelbu¨ndnisse. Die Orte nahmen nur an den Verhandlungen jener Materien teil, die sie als relevant erachteten. Sie konnten ihre Zustimmung zu Entscheidungen jederzeit zuru¨ckziehen.24 Die Binnenstruktur der einzelnen Sta¨nde war ebenfalls a¨ußerst komplex. Der ¨ mtern. EntscheiStand Zug beispielsweise bestand aus der Stadt und den a¨ußeren A dungen u¨ber Bu¨ndnisfragen mussten im Rahmen komplizierter Kommunikations¨ mter, wie prozesse ausgehandelt und durchgesetzt werden.25 Da Teile der a¨ußeren A ¨ geri, enge rechtliche, wirtschaftliche und politische Beziehungen zum Nachetwa A barort Schwyz pflegten, bestand stets die Mo¨glichkeit, dass Delegationen der dortigen Landsgemeinde die Debatten beeinflussten. Die eidgeno¨ssischen Sta¨nde bildeten heterogene, miteinander verschra¨nkte Herrschaftsra¨ume.26 Vor allem in der Zentralschweiz fu¨hrte dies zu einem geradezu symbiotischen Verha¨ltnis zwischen den fu¨nf inneren Orten. Mo¨glichkeiten, ihre Außenbeziehungen autonom zu organisieren, besaßen diese Orte de facto und zum Teil auch de jure (aufgrund der Bestimmungen der eidgeno¨ssischen Bu¨nde) kaum – wobei ihre oft unscharfen Grenzen die Definition dessen, was innen und was außen war, erschwerte. Gro¨ßere Stadtorte, wie Bern oder Zu¨rich, agierten demgegenu¨ber sehr viel selbststa¨ndiger. Zu¨rich etwa schloss Bu¨ndnisse mit Venedig oder Frankreich ab, ohne weitere Sta¨nde in die Vertra¨ge ausdru¨cklich miteinzubeziehen.27 Aufgrund der fragilen Machtbalance innerhalb der Eidgenossenschaft sahen sich jedoch selbst die Ra¨te an der Limmat dazu gezwungen, im Vorfeld die mo¨gliche Reaktion der Nachbarn abzukla¨ren und das stillschweigende bzw. offene Einversta¨ndnis der engsten Verbu¨ndeten (in diesem Falle vor allem Berns) zu suchen. Die Eidgenossenschaft gliederte sich also in eine Vielzahl von Einzelra¨umen, die durch rechtliche, wirtschaftliche, politische und soziale Interaktion generiert und nach außen abgegrenzt wurden.28 Die Koha¨renzkra¨fte und die Stabilita¨t dieser

droht, trotz aller interessanter Ertra¨ge, die Goppold vorstellt, die Stadt erneut als geschlossene Entita¨t zu konstruieren, vgl. Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Sta¨dten der Vormoderne. Zu¨rich und Mu¨nster im Vergleich (Sta¨dteforschung A 74), Ko¨ln/Weimar/Wien 2007. 24 Der vielschichtige Kontext der Verhandlungen erschließt sich aus den Manualia der Tagsatzungsschreiber, aus denen die immer wieder wechselnde Konstellation von Einzeltreffen und die Parallelita¨t der Diskussionen um ho¨chst unterschiedliche Themenkomplexe gerade bei den Verhandlungen der Jahre 1649/50 deutlich wird: StaatsA Aargau, Manualia der Tagsatzung de Anno 1645 ad 1649 bzw. de Anno 1649 ad 1653. Dazu: Andreas Wu¨rgler, Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repra¨sentativen Institution im europa¨ischen Kontext 1470–1798 (Fru¨hneuzeitForschungen 19), Epfendorf 2013. 25 Zur Situation in Zug: Rudolf Schmid, Stadt und Amt Zug bis 1798. Beitrag zur Kenntnis des a¨lteren Staatsrechts des Kantons Zug, Zu¨rich 1914. 26 Dazu Defensionalhandel: Alfred Mantel, Der Abfall der katholischen La¨nder vom eidgeno¨ssischen Defensionale, in: Jahrbuch fu¨r Schweizerische Geschichte 38 (1913), S. 180–187. 27 Johannes Jegerlehner, Die politischen Beziehungen Venedigs mit Zu¨rich und Bern im XVII. Jahrhundert, 1897; Helen Gmu¨r, Das Bu¨ndnis zwischen Zu¨rich/Bern und Venedig 1615/1618, 1945. 28 Andre´ Holensteins wichtiger Hinweis, die eidgeno¨ssischen Staatsbildungsdebatten nicht im Sinne einer Analyse einfacher top-down oder down-top Prozesse zu begreifen, sondern als einen Interak-

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Ra¨ume, die in der Regel durch gemeinsame Bu¨nde fundiert wurden, waren ho¨chst unterschiedlich. Die meisten der eidgeno¨ssischen Orte geho¨rten neben dem eidgeno¨ssischen Bund einer Vielzahl von intra-, inter- und transeidgeno¨ssischen Bu¨nden an, die einander u¨berlagerten, sich zueinander komplementa¨r verhielten oder auch miteinander konkurrierten. Als am 3. Oktober 1655 der Bund der katholischen Orte festlich erneuert wurde, ließen sich die anwesenden Standesvertreter, um nur ein Beispiel zu nennen, ausdru¨cklich als Repra¨sentanten eidgeno¨ssischer Tradition feiern.29 Die Siege der vorreformatorischen Schweiz, ihr Dienst fu¨r den wahren Glauben und ihre behauptete Sittenreinheit fa¨nden sich – so die Botschaft – noch immer in jenen Orten, die der ro¨mischen Kirche treu blieben. Das Erbe der neugla¨ubigen Orte wurde auf diesem Wege vereinnahmt, so dass der erinnerte Raum die Grenzen des Bu¨ndnisraumes u¨berschritten. Die katholische Eidgenossenschaft stand damit gleichsam pars pro toto. Dies hinderte die Glieder des Bundes nicht daran, auf den Tagsatzungen der dreizehn Orte als Teile eines homogenen, u¨berkonfessionellen Bundes aufzutreten, der sich gleichermaßen auf die eidgeno¨ssische Memoria berief.30

IV. Mo¨blierte Ra¨ume

Die Eidgenossenschaft war ein Gebilde mit vielen Gesichtern, deren Glieder sich in immer neuen Konstellationen trafen. Die Standesvertreter schlu¨pften in immer andere, nie aber neue Rollen, die in ihren Handlungschancen situativ erweitert und umgeformt werden konnten.31 Mit den Rollen und den neuen Anforderungen, die an

tionsprozess (Holenstein spricht von empowering interactions), weist durchaus in diese Richtung, da die beschriebenen Mechanismen sich nicht auf die kantonalen Ra¨ume beschra¨nkten. Landsgemeinden waren ebenso wie klientela¨re Netzwerke intra- wie interkantonal organisiert und generierten einander zum Teil u¨berlagernde Ra¨ume und damit verschiedene, gleichzeitig existierende und einander keineswegs ausschließende Ansa¨tze zur Staatsbildung und zur Entstehung „sozialer Gemeinschaften mit politischer Handlungsfa¨higkeit“. Vgl. Andre´ Holenstein, Introduction: Empowering Interactions: Looking at Statebuilding from Below, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe, 1300–1900, hg. v. Wim Blockmans/Andre´ Holenstein/Jon Mathieu, Farnham 2009, S. 1–31. 29 Eine kurze Beschreibung des Bundesschlusses findet sich in Aurelian Zurgilgens, Relation oder Eigenthumlicher Bericht des Gantzen Verlauffs der weithberu¨mbten Schlacht bey Villma¨rgen zwischen einem Stand Lucern An em Einen demnach zwischen dem stand Bern an dem andern Theil alda Lucern einen herlichen Sieg erhalten. Geschah uff den 24. January 1656, SHL Ms 309 fol. 30 Thomas Lau, „Stiefbru¨der“. Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656–1712), Ko¨ln 2008, S. 131–133. 31 Anthony Giddens, Strukturation und sozialer Wandel, in: Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansa¨tze, hg. v. Hans-Peter Mu¨ller/Michael Schmid, Frankfurt a. M. 1995, S. 151–191. Vgl. die Diskussion der theoretischen Ansa¨tze von Berger/Luckmann und Giddens in der Institutioneno¨konomie: Renate E. Meyer, Globale Managementkonzepte und lokaler Kontext. Organisationale Wertorientierung im o¨sterreichischen o¨ffentlichen Diskurs, Wien 2004, S. 53–54.

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sie durch die Mitspieler gestellt wurden, vera¨nderte sich auch jeweils die Bu¨hne, die ebenfall durch Umgruppierungen in ihrer Gestalt neu interpretiert werden konnte. Die Repra¨sentanten der Orte agierten nicht nur in der vielgestaltigen Eidgenossenschaft. Jeder von ihnen war zugleich auch Teil sta¨dtischer Bu¨hnen der Selbstdarstellung. Sie galt es in die diversen eidgeno¨ssischen und europa¨ischen Raumimaginationen zu integrieren, die die fu¨hrenden Geschlechter auf ihren Gesandtschaftstreffen generierten. Der lokale Raum musste anschlussfa¨hig mo¨bliert werden und es musste gelingen, eine breite Akzeptanz fu¨r ein solches offenes Zeichensystem sicherzustellen.32 Konkret standen die Akteure vor der Aufgabe, den lokalen Raum mit symbolischen Ankerpunkten auszustatten, die eine facettenreiche Interpretation ermo¨glichten.33 Ein wichtiger Bezugspunkt, der die Stadt oder den ganzen Stand mit einem Raum verband, der sie u¨berwo¨lbte und in den sie sich zugleich sinnreich einfu¨gte, war aus Fleisch und Blut. Bu¨rger, die in Frankreich gedient hatten und deren Verwandte dort noch immer wohnten und unter den Fahnen der franzo¨sischen Regimenter ka¨mpften, bildeten Identifikationsfiguren einer auf Fontainebleau bezogenen Raumstruktur.34 Verbunden mit ihrer Person war eine von ihnen selbst erza¨hlte oder von anderen kolportierte Lebensgeschichte, wobei die Memoria durch Kleidung, durch einen distinkten Sprachduktus, Wappen oder Titel permanent in Erinnerung gerufen wurde. Sie waren erkennbar nicht nur Teil der eigenen Stadtgemeinde, sondern auch Teile einer Gemeinschaft, die u¨ber die Stadt hinausreichte. Sie verbanden die Kolonien eigener Bu¨rger in der Fremde und die Herrschaft, der sie dienten, mit dem Heimatort.35 In Wohnha¨usern von Offiziersfamilien, wie etwa den Lochmann in Zu¨rich, wurden Ko¨nigsportra¨ts, Wappen und allegorische Darstellungen des Schlachtengeschehens stolz und offen zur Schau gestellt.36 Die fu¨hrenden Geschlechter zeigten ihren Reichtum und sie zeigten, woher sie ihn hatten. Dieser Transfer franzo¨sisch-ko¨niglicher Zeichensysteme in den semio¨ffentlichen Raum vera¨nderte das aktuelle ebenso wie das erinnerte Bild der Stadt. Dies wird etwa in einer Zuger Chronik aus dem Jahre 1704 deutlich, in der die Siege der aus Zug stammenden Kompanie in franzo¨sischen Diensten in eine Reihe 32 Zur Verwendung des an das Konzept von Lo¨w angelehnten Begriffes der Mo¨blierung von Ra¨umen

in der historischen Forschung eine kurze Bemerkung von: Martin Knoll, La¨ndliche Welt und zentraler Blick. Die Umwelt- und Selbstwahrnehmung kurbayerischer Hofmarksherren in Michael Wenings „Historio-Topographica-Descriptio“, in: Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Heike Du¨selder/Olga Wekcenbock/Siegrid Westphal, Ko¨ln 2008, S. 51–77, hier S. 56; Michael Schumann/Ursula Knizia, Biografie und Raum – Das Thema (Sozial-) Raum in der Fachdebatte, in: Sozialisation, Biografie und Lebenslauf: Eine Einfu¨hrung, hg. v. Imbke Behnken, Mu¨nchen 2009, S. 268–269. 33 Martina Lo ¨ w, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 130–230. 34 Einzelne Personen ko¨nnen damit schon zu Lebzeiten als Anknu¨pfungspunkte des kommunikativen ¨ bersicht zum Konzept des Erinnerungsortes: Deutsche Geda¨chtnisses dienen. Noch immer eine gute U Erinnerungsorte, Bd. 1, hg. v. Hagen Schulze/Etienne Francois, ¸ Mu¨nchen 2009, S. 9–26. 35 Ursula Pia Jauch, Beat Fidel Zurlauben (1720–1799). So¨ldnergeneral & Bu¨chernarr, Zu¨rich 1999. 36 Christine Barraud Wiener/Peter Jezler, Die Kunstdenkma¨ler des Kantons Zu¨rich, Die Stadt Zu¨rich, 4, Bern 2005, S. 319.

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mit den milita¨rischen Erfolgen des Ortes im 15. Jahrhundert gestellt werden.37 Die Schlachtenorte bildeten aus der Perspektive des Chronisten ewige Erweiterungen des sta¨dtischen Raumes. Ihre Namen geho¨rten gleichsam zur Mo¨blierung des historischen Erinnerungsraums des Standes. Das vom Schreiber pra¨sentierte Modell sta¨dtischer Memoria war indes nicht frei von inneren Bru¨chen, geschweige denn unumstritten. Wie in anderen eidgeno¨ssischen Sta¨nden, so konkurrierte beispielsweise auch in Zug der franzo¨sische Einfluss mit jenem anderer europa¨ischer Ma¨chte. Wenngleich das mit Frankreich in vielfacher Hinsicht verflochtene Geschlecht der Zurlauben dominierte, besaß auch die spanische Krone mit den Brandenberg, die u¨ber drei Generationen als Pensionsausteiler der katholischen Ko¨nige wirkten, hier einflussreiche Fu¨rsprecher.38 Aus ihrer Sicht war Zug eben nicht vorrangig Teil eines franzo¨sischen Ordnungsraumes, in dem die dreizehn eidgeno¨ssischen Orte unter dem Befehl Ihrer Allerchristlichen Majesta¨t wider Aggression und Tyrannei fochten. Sie stellten diesem Modell das Bild Zugs als eines Schlu¨sselortes der katholischen Eidgenossenschaft gegenu¨ber, die – wie Madrid und Mailand – Teil eines auf Rom ausgerichteten Kosmos war.39 Auch dieses Konzept fand sich in der besagten Chronik wieder, in der die Siege der katholischen Orte gegen ihre reformierten „Stiefbru¨der“, ebenso wie jene der Zuger Kompanien in Frankreich, als Fortsetzung alteidgeno¨ssischer Triumphe genannte wurden. Der Teilhabe am franzo¨sischen Europa stand damit eine Teilhabe am katholischen – tendenziell spanischen – Europa gegenu¨ber, das Bild der ungeachtet konfessioneller Friktionen handlungsfa¨higen Eidgenossenschaft jenem des katholischen Bundes, der einzig das Erbe der Vorfahren bewahrt habe.40 Dergleichen Konzepte konnten in Konkurrenz zueinander stehen, etwa wenn es um den Abschluss von Bundesvertra¨gen oder die Wahl von Landama¨nnern ging.41

37 Stadtbibliothek Zug, T Msc 116, Geistliche und Weltliche Zuger Chronik, 1704. 38 Ich danke fu¨r diesen Hinweis Andreas Behr, dessen voraussichtlich 2014 erscheinende Dissertation

mit dem Titel „Gesandtschaft als Familiengescha¨ft. Die Casati als Akteure der spanischen Aussenbeziehungen in der Eidgenossenschaft und Graubu¨nden im ausgehenden 17. Jahrhundert“ auf die spanischen Netzwerke in der Eidgenossenschaft detailliert eingehen wird. 39 Vgl. den Titelstich von: Caspar Land, Historisch-Theologischer Grund-Riss Der alt und jeweiligen Christlichen Welt/Bey Abbildung der alten und heutigen Christlich-Catholischen Helvetia und sonderbahr des alten Christlichen Zu¨richs, Erster Theil, Einsiedeln 1692. 40 Hingewiesen sei etwa auf den Reisebericht Johann Georg Wagners zur Oboedienzkommission von 1661, in der die katholische Eidgenossenschaft und Italien als Teil eines Raumes beschrieben werden und lediglich die sprachliche Differenz vom Autor thematisiert wird: Johann Georg Wagner, Italienische Summer- oder Ro¨mer Reyß darinnen Kurtz/einfalt- und warhafftig erzehlet wird/was sich in ltster bey anjetzo regierender Pa¨pstl. Heylik. Alexandro dem Vii. In Namen der gesampten Hochlobl. Catholischen Orthen der Eydtgenoßschfft/durch derselben Herren-Raths-Abgesandten von Lucern/ Underwalden nit dem Kern Wald/und Solothurn/im Jahr 1661. Zu Rom abgelegt – also genandter Obedientz Bottschafft/schrifft- und denckwu¨rdiges zugetragen Durch Hauptm. Johann Georg Wagner/Ritter/Stattschreiber und deß geheimbden Raths zu Solothurn. Gedruckt daselbsten/In Verlag Johann Jacob Bernhards: Durch Michael Wehrlin/Anno MDXLXIV. (Ich danke fu¨r den Hinweis Elise Marion und Maria Theresa Delgado). 41 Thomas Lau, Aufstieg und Fall der Familie Stadler – Reflexionen zu Elitewandel und Elitekonflikten in der Innerschweiz, in: Alpenla¨ndischer Kapitalismus in vorindustrieller Zeit. Vortra¨ge des siebenten internationalen Symposiums zur Geschichte des Alpenraums Brig 2004, hg. v. Pascal Ladner/Gabriel

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Sie konnten aber auch nebeneinander bestehen, wie in der Schwyzer Familie Reding, deren Mitglieder zu einem kleineren Teil in habsburgischen, zu einem gro¨ßeren in bourbonischen Diensten standen, ohne dass dies zu permanenten Konflikten fu¨hrte.42 Entscheidend fu¨r die Mo¨glichkeit der Mehrfachzugeho¨rigkeit war, dass die verschiedenen Teilhabeangebote Performanzchancen erhielten, die die gedankliche Bindung in individuelles Handeln u¨berfu¨hrten.43 Gleich ob dies durch Beschlu¨sse der Landsgemeinde geschah, durch das Begra¨bnis des Herzens von Offizieren, die im Ausland gedient hatten, in heimatlicher Erde, die Verteilung von Pensionen, die Wallfahrt zu Schlachtenorten oder die Feier gemeinsamer Gedenkgottesdienste aus Anlass gewonnener Feldzu¨ge: Stets ging es darum, das kollektive Geda¨chtnis neu zu formieren und die Verschra¨nkung des sta¨dtischen (oder des kantonalen) Raumes mit einem u¨bergeordneten Raum zu fixieren.44 Solange diese Chance allen Akteuren gegeben wurde und auch ihre Klienten die Mo¨glichkeit erhielten, ihre Entscheidung fu¨r ein Ordnungsmodell situationsbedingt und interessengeleitet zu treffen und jederzeit zu a¨ndern, konnten die einzelnen Orte als freie Solddienstma¨rkte und Foren unterschiedlicher Teilhabeangebote bestehen.45 Die Friktionen innerhalb der Eliten blieben in ihrer Sprengkraft begrenzt, solange die Akteure nicht gezwungen waren, ihren Stand und ihre Gemeinde in ein Raummodell einzufu¨gen, das auf dem Prinzip der Ausschließlichkeit beruhte. Das Konzept der Republik etwa, das – wie Maissen betont – in den eidgeno¨ssischen Orten nur sehr zo¨gerlich adaptiert wurde, ist hier vorrangig zu nennen.46 Es forderte von den eidgeno¨ssischen Standesvertretern das Bekenntnis zu klaren Grenzen des eidgeno¨ssischen Raumes und zur Benennung einer Entscheidungsinstanz, die monopolartig, dauerhaft und unmissversta¨ndlich Bu¨ndnisentscheidungen traf.47 Fu¨r die Eidgenossenschaft, deren Eliten die Mo¨glichkeiten des raschen Identita¨tswechsels zum tatsa¨chlichen oder zumindest vermeintlichen Vorteil aller Gemeindemitglieder zu nutzen verstanden, war das Modell des souvera¨nen Staates als eines hegemonialen Raumkonstrukts kaum attraktiv. Dass es dennoch allma¨hlich an Bedeutung gewann, war unter anderem auf die Eigendynamik einer fiskalischen Krise zuru¨ckzufu¨hren, die sich 1648 zuzuspitzen begann.48 Imboden, Brig 2004, S. 101–120. Fabian Bra¨ndle, Demokratie und Charisma. Fu¨nf Landsgemeindekonflikte im 18. Jahrhundert, Basel 2005. 42 Josef Wiget, Von Haudegen und Staatsma¨nnern. Geschichte und Geschichten der Schwyzer Familie Reding ab der Schmiedgassen, Schwyz 2007. 43 Zum Begriff der Performanzchance vgl.: Klara Lo ¨ ffler, Zurechtgeru¨ckt. Der Zweite Weltkrieg als biographischer Stoff, Berlin 1999, S. 86. 44 AH XIII, 191. Zu der Verteilung von Pensionen in Fribourg: StaatsA Fribourg, Familienarchiv de Weck, Pensionsrolle 1644. 45 Windler, „Ohne Geld keine Schweizer“ (wie Anm. 13). 46 Maissen, Geburt der Republic (wie Anm. 4). 47 Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte der Grundkategorie des Politischen, Tu¨bingen 22007, S. 43–126. 48 The Rise of the Fiscal State in Europe, c. 1200–1815, hg. v. Richard Bonney, Oxford 1999; Stefan ¨ konomie und Staatsfinanzen im Bern des Altdorfer-Ong, Staatsbildung ohne Steuern. Politische O 18. Jahrhunderts, Baden 2010.

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V. Die Ehre der Nation

Der seit 1635 andauernde Krieg zwischen Frankreich und Spanien hatte beide Kronen an die Grenzen ihrer finanziellen Mo¨glichkeiten gefu¨hrt.49 Wenngleich milita¨risch erfolgreich, kamen die Bourbonen unter Druck. Vor allem das Ru¨ckgrat der Armee, die kostspieligen So¨ldnertruppen, wurden in immer gro¨ßeren Zeitabsta¨nden entlohnt. Im Sommer 1648 begann das Problem unkontrollierbar zu werden. Zu diesem Zeitpunkt saß mit Ludwig XIV. ein Neunja¨hriger auf dem Thron. Die ¨ sterreich) gefu¨hrt, Regentschaft wurde von seiner spanischen Mutter (Anna von O die die Regierungsgescha¨fte in die Ha¨nde ihres italienischen Ministers (Mazarin) gelegt hatte.50 Die Legitimation der Herrschenden ließ sich unter diesen Bedingungen leicht angreifen. Eine Oppositionsbewegung begann sich zu formieren, die angesichts immer neuer finanzieller Wu¨nsche Mazarins und einiger schwerwiegender taktischer Fehler bis in den Januar 1649 an Zulauf gewinnen sollte. Ihren Schuldendienst hatte die Krone bereits am 18. Juli 1648 de facto eingestellt, doch nicht alle Gla¨ubiger Ludwigs XIV. waren von dieser Maßnahme gleichermaßen betroffen. Jene milita¨rischen Kra¨fte, die Mazarin als strategisch unverzichtbar bewertete, wie die Regimenter von Erlachs im Elsass oder die Schweizer Garde wurden offenbar weiterhin entlohnt.51 Andere Regimentskommandeure hatten einen deutlich schwa¨cheren Stand. Die Obristen Lorenz von Sta¨ffis und Antoine de Reynold etwa waren wirtschaftlich mit Frankreich ungleich sta¨rker52 verbunden als mit ihren Heimatorten und damit nur bedingt in der Lage, Mazarins Wu¨nschen Widerstand entgegenzusetzen. Der Solothurner Heinrich Sury stammte zwar aus einer einflussreichen Familie, hatte sein Regiment jedoch erst 1649 von Oberst v. Roll u¨bernommen, der sich seinerseits auf seinen Dienst im Garderegiment beschra¨nkte. Auch Oberst Heinrich Lochmann aus Zu¨rich hatte das ehemalige Regiment Rahn erst 1648 erhalten, wa¨hrend das namengebende Geschlecht sich nunmehr auf die Dienste im Garderegiment bzw. im Piemont konzentrierte.53 Ein Blick in die privaten Abrechnungsbu¨cher der Regimentskommandeure zeigt, wie hoch deren Gescha¨ftsrisiko war. Oberst von Roll etwa notierte 1650 die Summe von 39.432 fl., die er 14 verschiedenen Kreditgebern zu zahlen hatte. Dieser Summe standen betra¨chtliche Soldru¨cksta¨nde gegenu¨ber. Verrechnete man Schulden mit

49 Eric J. Hobsbawm, The General Crisis of the European Economy in the 17th Century, in: Past & Pre-

sent 5 (1954), S. 33–53; Hugh R. Trevor-Roper, The General Crisis of the 17th Century, in: Past & Present 16 (1959), S. 31–64; The General Crisis of the Seventeenth Century, hg. v. Geoffrey Parker/ Lesley M. Smith, London 21997. 50 Geoffrey Treasure, Mazarin. The Crisis of Absolutism in France, New York 1995; Hubert Carrier, Le labyrinthe de l’Etat. Essai sur le de´bat politique en France au temps de la Fronde (1648–1653), Paris 2004; Michel Pernot, La Fronde, Paris 1994. 51 AH 13/106. Vgl. allerdings demgegenu¨ber 16/143. 52 StaatsA Fribourg, Familienarchiv Reynold, 171–216. 53 Georg Tesssin, Die Regimenter der europa¨ischen Staaten im Ancien re´gime des XIV. bis XVIII. Jahrhunderts, 3 Bde., Osnabru¨ck 1985–1995.

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Außensta¨nden, so ergab sich ein Buchvermo¨gen von 121.891 fl.54 Die Fa¨higkeit eines Solddienstunternehmers, seine Klienten zufrieden zu stellen, Meutereien zu verhindern und Wahlen in der Heimat finanziell zu begleiten, hing damit vorrangig von seiner Bonita¨t ab. Nur wenn die Kreditgeber Vertrauen in seine Fa¨higkeit setzten, einen betra¨chtlichen Teil seiner Forderungen auch einlo¨sen zu ko¨nnen, waren sie bereit, ihm weiterhin Kredit zu bewilligen und seine Liquidita¨t sicherzustellen.55 Von Rolls Aufzeichnungen aus den Jahren um 1650 zeigen, dass der Soldunternehmer, der seit 1649 ausschließlich im Garderegiment ta¨tig war, in diesem Punkte keinerlei Schwierigkeiten sah. Fu¨r die Kommandeure und Hauptleute der anderen eidgeno¨ssischen Regimenter, zu denen auch der ehemalige Truppenverband von Rolls geho¨rte, gestaltete sich die Situation deutlich schwieriger.56 Sie ha¨tten sich, so schrieben sie ihrer Obrigkeit am 21. Mai 1649, zusammengeschlossen, um endlich die Zahlung jener Soldru¨cksta¨nde zu erreichen, um die man ¨ berbru¨ckung die Krone seit Monaten bitte. Die Summen, die Mazarin ihnen zur U angeboten ha¨tte, seien so niedrig, dass die Offiziere sie unmo¨glich ha¨tten akzeptieren ko¨nnen.57 Die hier schrieben, za¨hlten sich zu den Verlierern der franzo¨sischen Zahlungskrise und sie forderten mit ihrem Protestschreiben die heimischen Standesha¨upter auf zu reagieren. Die Chancen auf ein entschlossenes Handeln der dreizehn Orte standen allerdings kaum sonderlich gut.58 Abgesehen von den Anha¨ngern Spaniens, die keinen Grund hatten, den Verfall der franzo¨sischen Zahlungsfa¨higkeit zu beklagen, zeigten sich auch jene Geschlechter, die im Garderegiment ta¨tig waren, von den Klagen der Offiziere unbeeindruckt. Eng verflochten mit dem franzo¨sischen Hof, hatten sie offenbar rechtzeitig ihre Position gesichert.59 Aus Sicht der mit dem wirtschaftlichen Ruin bedrohten Offiziere galt es daher, den Entscheidungs- und Handlungsdruck auf die Standesha¨upter zu erho¨hen.60 Sie taten dies zuna¨chst durch den geschickten Einsatz eines gedanklichen Konstruktes –

54 StaatsA Solothurn, H. Oberste von Roll Regiments Rodel und Guardi Companie (unpaginiert ohne

Signatur).

55 Wie stark Bonita¨t und politischer Einfluss aufeinander verweisen zeigt exemplarisch: Mark Ha¨ber-

lein, Bru¨der, Freunde und Betru¨ger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998. 56 StaatsA Solothurn, H. Oberste von Roll Regiments Rodel und Guardi Companie (unpaginiert ohne Signatur), Notiz beginnt auf dem unteren Teil der ersten Seite des Berichts u¨ber das Jahr 1650. 57 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 9. 58 Der Berner Rat empfahl Zu¨rich am 13. Oktober 1649 lediglich die Entsendung einer Gesandtschaft an den Ambassadoren: StaatsA Bern, A III 66, Teutsches Missivenbuch 210. 59 Tatsa¨chlich hatte das Garderegiment seinen Protest bereits 1648 formuliert, tauchte in den Protestschriften des Jahres 1649 nicht mehr und in jenen des Jahres 1650 erst spa¨t auf: StaatsA Freiburg, Frankreichbu¨cher, Schreiben der Obersten und Hauptleute des Garderegiments vom Februar 1648; ebd., Schreiben Perromans an den Freiburger Rat vom 18. Februar 1648. 60 Gegendruck wurde vor allem von der franzo¨sischen Ambassade ausgeu¨bt, dazu: Louis Vulliemin, L’Histoire Suisse E`tudie´e dans les Repports des Ambassadeurs de France avec leur Cour – Sie`cle de Louis XIV. Ambassade de Jean de la Barde 1648–1654, in: Archiv fu¨r Schweizerische Geschichte 5 (1847), S. 195ff.

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jenem der Nation. Der Zu¨rcher Oberst Heinrich Lochmann hatte den Begriff erstmals in seinem Begleitschreiben zum Protestbrief der Offiziere ins Spiel gebracht, als er u¨ber die Armuth ... der nation klagte.61 Der Begriff bezeichnete im Schriftverkehr zwischen den Sta¨nden gemeinhin die in franzo¨sischen Diensten stehenden Kompanien, die durch das Soldbu¨ndnis mit Frankreich einen besonderen Rechtsstatus besaßen. In genau diesem Sinne benutzte ihn auch Lochmann, lud ihn indes mit weiteren Bedeutungen auf. Bei ihm signalisierte der Nationenbegriff auch, dass die Regimenter als Schwurverband eine handlungsfa¨hige Ko¨rperschaft auf Zeit bildeten und fu¨r sich beanspruchten, Interessentra¨ger einer um ihre Ehre ka¨mpfenden Gemeinschaft zu sein.62 Der gedankliche Ansatz, demzufolge die Nation in franzo¨sischen Diensten unsterbliche Ehre fu¨r die Eidgenossenschaft als Ganze (und nicht etwa nur fu¨r die einzelnen Offiziere oder die einzelnen Orte) erwarb, war urspru¨nglich von Vertretern der franzo¨sischen Krone vorgetragen worden. Das Ehrargument war dabei mehr als ein Versuch, den eidgeno¨ssischen Erinnerungsraum zu okkupieren.63 Es hatte auch handfeste pekunia¨re Implikationen. Aufgrund der Treue der eidgeno¨ssischen Regimenter, so erkla¨rte etwa der Kommandeur der Schweizer Garde General Schonberg in einem Schreiben vom 29. Juni, beka¨men sie ungeachtet aller finanziellen Engpa¨sse ihren Sold als Erste.64 Nationale Ehre und eidgeno¨ssische Bonita¨t wurden auf diesem Wege eng aneinandergekoppelt. Das Wohlwollen der Krone war mehr als symbolische Auszeichnung. Sie war – in der Erwartung der eidgeno¨ssischen Offiziere und ihrer Kreditgeber – eine Bonita¨tsgarantie. Angesichts der wachsenden Zahlungsru¨cksta¨nde geriet diese allerdings ins Wanken. Bei einer Gesamtsumme von u¨ber 3,5 Millionen Livres, mit denen die Krone bei den Regimentern (inklusive des Garderegiments) in der Kreide stand, stellte sich die Frage, wie sehr den Versprechungen Mazarins noch zu trauen war. Die Ehre der Nation und damit die Zahlungsfa¨higkeit der sie konstituierenden Solddienstunternehmer stand auf dem Spiel. Da Frankreich nicht nur Schulden bei den Offizieren hatte, sondern auch den einzelnen Orten noch u¨ber 3,5 Millionen Livres an ausstehenden Krediten und Pensionen zu zahlen hatte, war diese Entwicklung, wie die eidgeno¨ssischen Milita¨rs in Frankreich deutlich machten, auch fu¨r die heimischen Standesha¨upter von Relevanz.65 Hinzu kam, dass die einzelnen Orte sich zeitgleich auch in Verhandlungen mit anderen Ma¨chten wie Savoyen und Spanien u¨ber Zahlungsru¨cksta¨nde befanden.66 Eine Weigerung Frankreichs, als dem gro¨ßten Schuldner der Schweizer, seinen Obliegenheiten nachzukommen, drohte auch hier negative Konsequenzen zu zeitigen. Das Schicksal der eidgeno¨ssischen Regimenter, so versuchten sie den Standesha¨uptern zu verdeutlichen, ging alle Eidgenossen an. Sank ihre Bonita¨t, so drohte 61 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 10, Lochmann an Rat der Stadt Zu¨rich, 8. Juni 1649. 62 Vgl. Lau, „Stiefbru¨der“ (wie Anm. 30), S. 181–201. 63 Johannes Barzaeus, Herorum Helvetiorum Epistolae, Freiburg i. U ¨ . 1657. 64 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 13. 65 Zur Schuldenlage: StaatsA Schaffhausen, Bu¨ndnisse A 3, 351–353. 66 Amtliche Sammlung der a¨lteren Eidgeno¨ssischen Abschiede, 6 I, No. 2.

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auch allen u¨brigen Familien der wirtschaftliche Kollaps. Die Reaktion auf dieses Schreiben war trotz dieses geschickten Versuches der rhetorischen Vereinnahmung zo¨gerlich. Die Sta¨nde vermahnten die Offiziere zur Treue und versprachen ihrerseits, sich bei der Krone fu¨r ihre Bu¨rger zu verwenden.67 Die Reaktion der so Vertro¨steten ließ nicht lange auf sich warten. Einige Truppenteile verweigerten, wie eingangs erwa¨hnt, die Fortfu¨hrung ihrer milita¨rischen Ta¨tigkeit und wurden unter bemerkenswerten Umsta¨nden in ihre Heimatorte zuru¨ckgeschickt.68 Die Demu¨tigung von Du¨nkirchen (die aus einem Ort der Ehre ein Fanal der Unehre machte) war vermutlich von den Offizieren selbst provoziert worden und sie setzte die eidgeno¨ssischen Standesha¨upter unter betra¨chtlichen Zugzwang. Wa¨hrend Zu¨rich zo¨gerlich blieb, begann sich in den Inneren Orten das Gleichgewicht der Kra¨fte zu vera¨ndern. Die spanisch-kaiserliche Fraktion gewann an Einfluss und dra¨ngte die Obrigkeiten erfolgreich zum Handeln.69 Luzern forderte ultimativ die Einberufung einer Tagsatzung.70 Wenn die Krone nicht bis Lichtmess zahle, sollen alle eidgeno¨ssischen Regimenter aus Frankreich abberufen werden.71 Der ordnungsgema¨ße Verlauf dieser Operation sei von einer eidgeno¨ssischen Deputation zu beaufsichtigen. Der Rat des Standes Luzern ließ auch nach dem Ende der Beratungen keinen Zweifel daran, dass er die zu¨gige Umsetzung dieses Beschlusses erwartete. Dulde man das Verhalten der Krone, so erkla¨rte er in einem Schreiben vom 22. Januar 1650, mache man sich zum Gespo¨tt und setze unsere nation in Gefahr, mit einem ewigen Schandfleck besudelt zu werden. Zur Wahrung der eigenen Reputation sei es notwendig das von unseren lieben Voreltern hergebrachte Eydtgnossische geblu¨t zu erwecken.72 Das Spiel mit der Imagination „Nation“ hatte – wie diese Bemerkung zeigte – offenbar ihr Ziel erreicht. Die Standesha¨upter reagierten und drohten der franzo¨sischen Krone mit dem Ende der Milita¨rallianz.

VI. Die Republik und ihre Gesandten

In dem Beschluss der Tagsatzung erkla¨rte sich der Bund der dreizehn Orte zu einer handlungsfa¨higen Gemeinschaft, die einheitlich und verla¨sslich gemeinsame Beschlu¨sse umzusetzen in der Lage war.73 Dieser Anspruch selbst war nicht neu – er 67 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 16aff. 68 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 77. AH 12/39. StaatsA Freiburg, Frankreichbu¨cher, Schreiben der Regimenter

an den Rat vom 2./12. 1. 1650. 69 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 56. Vgl. auch Secreta Domestica, 296 (Kantonsbibliothek Solothurn). 70 Dazu die Instruktion fu¨r den Zuger Gesandten vom 15. 12. 1649: AH 10/35. 71 Eine entsprechende Frist wurde schon im Vorfeld auch durch Bern gebilligt: StaatsA Bern, A III 66,

Teutsches Missivenbuch, 241–242.

72 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 88. 73 Vgl dazu die Position des zeitgeno¨ssischen Staatsrechtlers Franz Michael Bu¨hler: Franciscus Michael

Bu¨hler, Tractatus von der Freyheit, Souverainitet und Independenz der Loblichen Dryzehen Orthen der Eydgnoßschafft Sowohl aus denen Rechten selbsten, und vilen bewehrten Auctoribus, und Rechts-

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war schon bei Abschluss der Bu¨ndnisvertra¨ge des 15. und 16. Jahrhunderts formuliert worden. Im vorliegenden Fall ging es aber nicht wie in den damaligen Fa¨llen darum, gemeinsam Handelsvorteile, Pensionen und Solddienstprivilegien einzuwerben, sondern um die Umsetzung eines Beschlusses, der keineswegs im Interessen aller eidgeno¨ssischer Geschlechter und Sta¨nde war. Es stellte sich die Frage, ob die Eidgenossenschaft die strukturellen Voraussetzungen besaß, um eine solche Aufgabe zu erfu¨llen. War sie fa¨hig, u¨ber einen la¨ngeren Zeitraum eine einheitliche ‚Außenpolitik‘ zu formulieren und umzusetzen? Schon die Reaktionen auf die ersten Schreiben der Regimentskommandeure an ihre Heimatorte ließen Zweifel aufkommen. Der Vorort Zu¨rich hatte sich zuna¨chst bei Bern erkundigt, was man tun mu¨sse. War Zu¨rich befugt, den Offizieren selbststa¨ndig zu antworten, durfte der Vorort im Namen aller Eidgenossen an den Ko¨nig schreiben, wen hatte er zuvor zu versta¨ndigen, wie hatte der Kommunikationsprozess genau abzulaufen, waren die katholischen Orte genauso einzubinden wie die reformierten oder sollten sie nur einen Teil der Informationen erhalten? All diese Fragen wurden ergebnisoffen diskutiert.74 Klare Verfahrensabla¨ufe waren nicht erkennbar, auf tradierte Gescha¨ftsabla¨ufe wurde nicht verwiesen.75 Selbst als – nach wochenlanger schriftlicher Kommunikation – auf der Tagsatzung die besagte Entscheidung zum Handeln gefa¨llt wurde, war diese alles andere als verbindlich. Die Instruktionen fu¨r die vier Gesandten, die sie umsetzen sollten, wurden nahezu im Wochentakt vera¨ndert.76 An diesem Kommunikationsprozess der Abwesenden, der ebenso wechselvoll und in seinem Ausgang kaum vorhersehbar verlief wie jener auf der Tagsatzung, waren neben den eidgeno¨ssischen Standesha¨uptern auch Solddienstoffiziere, Kaufleute, aber auch der franzo¨sische Botschafter beteiligt.77 ¨ ber die einzelnen Formulierungen in der Instruktion wurde daher noch bis kurz U vor der Grenzu¨berschreitung der Delegierten lebhaft gestritten und es fragte sich, wie diese ihre Auftraggeber vertreten konnten, wenn unklar war, was diese mit der Delegation bezweckten. Dieses Problem wurde um so dra¨ngender, als sich der Informationsaustausch mit den Heimatorten als ausgesprochen schwierig und unzuverla¨ssig erwies.78 gelehrten, als anderen Authentischen Documentis probirt und bewiesen. Durch Franciscum Michaelem Bu¨ller Landtman zu Schweytz an Tag gegeben. (ZBZ XVI 388). Franciscus Michael Bu¨hler, Politische Artzney, Fu¨r Erhaltung eines jeden Fryen Stands, insonderheit de Loblichen Eydtgnoßschafft. Ad quamlibet liberam. Quantumcunque vales cole Numen: sacra tuere Aeris et Armorum providus esse stude, Justitiam cura, mens sit simul omnibus una: Haec bene si serves, crede beatus eris.. So vil du kanst verehre Gott, Im Glu¨ck so wol als in der Noth, Sein Dienst thu auch beschu¨tzen: Der Waffen und deß Gelts hab acht, Die Einigkeit, und ’s Recht betracht, So wird dich Gott beglu¨cken. Durch Frantz Michael Bu¨hler Landtmann zu Schweitz an Tag geben. cum Licentia et Facultate Superiorum. Zug, verlegt und zu fiden bey Carl Frantz Haberer: Truckts Frantz Carl Rooß im Jahr 1691. (ZBZ Gal T 376, S. 72–87). 74 StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 2, Bern an Zu¨rich 27. 2. 1649. 75 Vgl. insbesondere StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 81ff. 76 Vgl. den Einfluss Berns: StaatsA Bern, A III 66, Teutsches Missivenbuch, S. 244–261. 77 Vgl. etwa: StaatsA Zu¨rich, A 243 I, 76a, 80a, 85, 86b, 89, 92. 78 StaatsA Freiburg, Frankreichbu¨cher, de Weck an Freiburger Rat, 19. 4. 1650.

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Die Distanz gegenu¨ber den ihre Beschlu¨sse laufend wandelnden Eidgenossen war jedoch nicht das einzige Problem, mit dem sie sich auseinanderzusetzen hatten. Hinzu kam, dass sie neben der Instruktion der dreizehn Orte noch Einzelinstruktionen ihrer Heimatsta¨dte erhalten hatten und daru¨ber von ihren Verwandten mit Anweisungen und Ratschla¨gen versehen worden waren.79 So war von Anfang an unklar, wessen Agenda sie verfolgten und fu¨r welche Eidgenossenschaft sie standen: den einheitlich auftretenden souvera¨nen Stand, die lose Vereinigung unabha¨ngiger Sta¨nde oder einen Verband miteinander verflochtener Eliten, deren Interessen weit u¨ber die der Eidgenossenschaft hinausreichten?80 Verstanden sie sich u¨berhaupt als Vertreter der Eidgenossenschaft oder vornehmlich als Delegierte ihres Standes? Auch welche Rolle der Bund der fu¨nf Orte oder die konfessionellen Bu¨ndnisse in ihrem Kalku¨l spielten, blieb unklar. Die Gesandten vermieden es, eine Entscheidung zu treffen. Wie die Tagsatzungsgesandten, so waren auch sie fortwa¨hrend damit bescha¨ftigt, sich wechselseitig misstrauisch zu beobachten und gleichzeitig den verschiedenen Handlungserwartungen, denen sie ausgesetzt waren, nachzukommen. In Paris angekommen, verkomplizierte sich die Lage. Meutereien standen zu befu¨rchten, wa¨hrend Mazarin die Gesandten kunstvoll hinhielt.81 Da die eidgeno¨ssischen Sta¨nde noch kurz vor ihrer Abreise ihren eigentlichen Gesandtschaftsauftrag vera¨ndert hatten und sie nunmehr instruierten, den Abmarsch der Truppen keinesfalls zu genehmigen, standen ihnen kaum Druckmittel zur Verfu¨gung. Wie sollten sie aus diesem Dilemma herauskommen?82 Der einzige Beschluss, an dem gegen alle Widersta¨nde festgehalten worden war, betraf die Zusammensetzung der Delegation.83 In allen anderen Punkten hatten die Standesvertreter auswa¨rtige Akteure in die Entscheidungsprozesse integriert ¨ nderungswu¨nsche akzeptiert. In diesem nicht. Die Tagsatzung hatte nur und ihre A aus jenen Orten Delegierte gewa¨hlt, deren Angeho¨rige zu den Fu¨hrern der Offizierseidgenossenschaft geho¨rten. Dabei hatte sie deren Verwandte ebenso wie ihre Gegner bei der Auswahl beru¨cksichtigt. Es war ein Balanceakt zwischen Einbindung und Konfliktbegrenzung, der aus dieser Gesandtenwahl sprach. Bemerkenswert war auch, dass die vier Gesandten u¨ber nur geringe diplomatische Erfahrungen verfu¨gten. Sie waren Entscheidungstra¨ger in ihren Orten und als Experten der interkantonalen Kommunikation in Erscheinung getreten. Hier reisten Experten der eidgeno¨ssischen Binnenkommunikation und nicht der Außenvertretung.84 79 StaatsA Freiburg, Familienarchiv de Weck, Rudolf de Weck an seinen Vater, vom 13. 2. 1650. 80 StaatsA Bern, Frankreichbu¨cher, De Weck an Freiburger Rat vom 19. 2. 1650. 81 StaatsA Freiburg, Frankreichbu¨cher, de Weck an Rat, 19. 4. 1650. 82 Die Instruktion wurde nach la¨ngeren Verhandlungen schließlich Anfang Februar 1650 erlassen:

StaatsA Zu¨rich, A 243 1, 121. 83 Das Solothurner Ratsmanual vermerkt die Ernennung vom Staal am 23. Dezember 1649 (alter Kalen-

der) (StaatsA Solothurn, Ratsmanual 1650), vgl. auch: Secreta Domestica, 292 (Kantonsbibl. Solothurn). Andreas Wu¨rgler, Verflechtung und Verfahren. Individuelle und kollektive Akteure in den Außenbeziehungen der Alten Eidgenossenschaft, in: Akteure der Außenbeziehungen (wie Anm. 22), S. 79–93. 84 Vgl. dazu: StaatsA Bern, A V 263, Austragbu¨cher.

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Dies erwies sich durchaus als nu¨tzlich. Die Gesandten waren vor allem in den ersten Wochen ihrer Reise und ihres Aufenthaltes in Paris mit sich selbst bescha¨ftigt. Vorsichtig umschifften sie gemeinsam alle in der Delegation strittigen Themen und versuchten auszuloten, wie weit der andere jeweils zu gehen bereit war. Es war eine Tagsatzung en miniature, die hier durch Frankreich reiste. Weitgehend abgeschnitten vom Kommunikationsfluss konstituierten sie einen eigenen Kommunikationsraum, der die Strukturen der Tagsatzung kopierte.85 Gemeinsames Agieren gelang – und hier handelten die vier eidgeno¨ssischen Delegierten exakt wie die großen Tagsatzungen –, immer dann, wenn Fremdakteure an eidgeno¨ssische Tabus ru¨hrten.86 So etwa, als der ehemalige franzo¨sische Ambassador Caumartin den Solothurner Vertreter von Staal fragte, warum in den eidgeno¨ssischen Sta¨dten noch immer Reichsadler die Stadttore zierten.87 Es war eine trickreiche Frage. Bekannte sich von Staal zum Reich, so verzichtete er auf den souvera¨nen Status der Eidgenossenschaft, versprach er die Entfernung der Adler, so stimmte er einer Neumo¨blierung des sta¨dtischen Raums in den eidgeno¨ssischen Orten zu, die zugleich einer Neupositionierung im europa¨ischen Raum – einer Distanzierung vom Reich – entsprach. Von Staal zog sich aus der Affa¨re, indem er es ablehnte, die Adler abzumontieren, da sie keinen Rechtsanspruch begru¨ndeten, sondern lediglich Ehrenzeichen seien, die den Erinnerungsraum der Sta¨dte pra¨gten. Die Zuru¨ckweisung wurde von ihm stolz in seine Memorabilia notiert, dokumentierte sie doch die Fa¨higkeit eines eidgeno¨ssischen Standesvertreters, Souvera¨nita¨t zu beanspruchen, ohne eine unerwu¨nschte Interpretation dieses vo¨lkerrechtlichen Status akzeptieren zu mu¨ssen. Die multiple Interpretationsfa¨higkeit des sta¨dtischen Raumes war verteidigt worden. Dergleichen Erfolge erleichterten die Diskussionen innerhalb der Vierergruppe. Die wachsenden Kosten des Aufenthalts in Paris erho¨hten zudem den Entscheidungsdruck auf die Gesandten.88

VII. Ein Vertrag und seine Folgen

Nach etwa zwei Monaten vergeblicher Verhandlungen kam es zu einer u¨berraschenden Einigung. Die Gesandten drohten – mitsamt den eidgeno¨ssischen Truppen, inklusive der Garde –, das Land zu verlassen, wenn Mazarin nicht einen akzeptablen Schuldentilgungsplan vorlege und sich zu einer Zahlung von mindestens einer Mil-

85 Vgl. StaatsA Freiburg, Frankreichbu¨cher, de Weck an Rat, 5. 4. 1650. 86 So etwa beim Versuch de la Bardes, die Ernennung des spanischen Klienten von Staal zu verhindern:

Secreta Domestica, 299 (Kantonsbibliothek Solothurn). 87 Secreta Domestica, 173 (Kantonsbibliothek Solothurn). Zu Caumartin, vgl. auch Secreta Domestica,

300 (Kantonsbibliothek Solothurn). 88 Die hohen Kosten einer Gesandtschaft werden deutlich an einem spa¨teren, besonders gut dokumen-

tierten Beispiel (die Gesandtschaft Graffenrieds nach Paris 1688), StaatsA Bern, AIV 243.

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lion Livre im laufenden Jahr verpflichte. Die Drohung wurde eindrucksvoll in Szene gesetzt. Die Garde etwa hatte die Fahne eingezogen und sich zum Abmarsch bereit gemacht. Die Vereinbarung, zu der sich die Krone schließlich bereit fand, wurde daher als diplomatischer Erfolg der Eidgenossen dargestellt und dementsprechend rasch publiziert.89 Die Eidgenossen hatten, so schien es, dem Ko¨nigreich Frankreich die Stirn geboten und ihre Bonita¨t verteidigt. Nun stand einem weiteren Engagement schweizerischer Truppen in Diensten Ihrer Allerchristlichen Majesta¨t nichts mehr im Wege. Die Gesandten konnten mit einem Erfolg nach Hause zuru¨ckkehren.90 Die Darstellung des Verhandlungsergebnisses war indes das eine, die o¨konomischen Fakten waren etwas vo¨llig anderes. Der Schuldentilgungsplan war bereits nach wenigen Wochen Makulatur. Die versprochenen Summen an die beurlaubten oder bereits abgedankten Kompanien wurden nicht gezahlt. Das gleiche galt fu¨r die ausstehenden Pensionen. Eine Verbesserung der Situation war hingegen bei den weiterhin in Frankreich stationierten Truppen zu beobachten, deren finanzielle Schwierigkeiten sich nach dem offiziellen Zahlungsversprechen der Krone verringerten. Zu den Gewinnern der Vereinbarung za¨hlten auch die Gesandten selbst, die mit Geschenken der Krone und einem betra¨chtlichen Anteil an den bei Vertragsabschluss vereinbarten Sofortzahlungen bedacht wurden. Noch Jahre spa¨ter vermerkte von Staal, er habe mit den Gewinnen aus der Reise nach Frankreich einen Großteil seiner privaten Schulden abbezahlen ko¨nnen.91 Auch die Standesha¨upter zeigten sich zufrieden. Berns Vertreter in der Gesandtendelegation, Wagern, hatte die Reise nach Paris offenbar genutzt, um einen fu¨r den eigenen Stand gu¨nstigen Salzkontrakt mit Frankreich auszuhandeln.92 Zufrieden konnte auch Mazarin mit den Ergebnissen der Verhandlungen sein. Er hatte die eidgeno¨ssische Seite beruhigt, einen Bruch der Allianz verhindert, die Kosten der Einigung gering gehalten und sich der Treue von Truppenteilen versichert, die er zur Niederschlagung der Fronde dringend beno¨tigte. Nicht Frankreich und die dreizehno¨rtige Eidgenossenschaft waren zu einer Einigung gekommen, vielmehr bestand der Kompromiss von 1650 aus einer Vielzahl von Einzelvereinbarungen zwischen der Krone und den eidgeno¨ssischen Eliten. Die als Tagsatzungsausschuss fungierende Gesandtschaft hatte nach langem Zo¨gern und vorsichtigen Sondierungsversuchen eine Lo¨sung gefunden, die die Interessen der Milita¨runternehmer und der Standesha¨upter zufrieden stellte und die zugleich die Reputation des Corpus Helveticum wiederherstellte. Der Vertrag hatte damit vor allem symbolische Bedeutung. Er sta¨rkte die Position der Gesandten und kaschierte den

89 StaatsA Bern, Frankreichbuch A V 60, Frankreichbuch A, 195–198. 90 StaatsA Freiburg, Frankreichbu¨cher, de Weck an Rat vom 31. 5. 1650. 91 Secreta Domestica, 307 (Kantonsbibliothek Solothurn). Hier ist von 600 Dublonen fu¨r jeden Gesand-

ten die Rede.

92 Die Schreiben des Rates an Wagner finden sich in: StaatsA Bern, A III 66, Teutsches Missivenbuch,

259ff. Die offizielle Instruktion: StaatsA Bern, A IV 206, Instruktionenbuch S. 223–225. Zu den Salzverhandlungen und deren Vorgeschichte: StaatsA Bern, A V 60, Frankreichbuch G.

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Verhandlungserfolg Mazarins. Die Eidgenossenschaft konnte sich als durchsetzungsfa¨higer Kollektivakteur inszenieren, ohne das in diesem Akt enthaltene Versprechen der Einheit einlo¨sen zu mu¨ssen. Einige Interessengruppen blieben allerdings, wie erwa¨hnt, unberu¨cksichtigt.93 Nachdem einige Wochen nach der Ru¨ckkehr der Gesandtschaft deutlich wurde, dass die abgedankten Regimenter und vor allem die vor Du¨nkirchen zwangsbeurlaubten Kompaniefu¨hrer kein Geld erhalten wu¨rden, begannen diese sich zu organisieren. Ihr Standpunkt war unmissversta¨ndlich: Die dreizehn Orte hatten einen Vertrag mit Frankreich geschlossen und wurden von ihnen daher als Garanten der Abmachungen angesehen. Die Fiktion des geschlossenen Herrschaftsraums Eidgenossenschaft, die von den Gesandten genutzt worden war, um die Ma¨rkte zu beruhigen, war mit einem Handlungsversprechen verbunden. Eben dieses Versprechen wurde von den Hauptleuten nun in einer spektakula¨ren Aktion eingefordert. Eine kleine Gruppe von Offizieren reiste nach Frankreich und ließ sich die Juwelen der Ko¨nigin zeigen, die den eidgeno¨ssischen Truppenfu¨hrern als symbolisches Pfand u¨bergeben worden waren. Vo¨llig u¨berraschend gelang es ihnen, das Geschmeide an sich zu nehmen und es nach Zu¨rich und Schaffhausen zu bringen.94 Als die Krone gegen dieses Vorgehen demonstrierte, verwiesen die Ta¨ter auf ihre vertraglich zugesicherten Geldforderungen. Frankreich habe mit der Eidgenossenschaft vereinbart, diese zu begleichen. Die dreizehn Orte wurden mit diesem Schritt unter erheblichen Druck gesetzt. Gelang es ihnen nicht, Frankreich erfolgreich zu Zahlungen zu bewegen, so drohte die Machtlosigkeit der Obrigkeiten offenbar zu werden. Diese waren offensichtlich weder in der Lage, vertragliche Vereinbarungen durchzusetzen, noch ihre Untertanen zu disziplinieren. Der Raub der Juwelen zwang die Standesha¨upter, die Fiktion einer handlungsfa¨higen Eidgenossenschaft nach innen wie nach außen mit Leben zu erfu¨llen. In einem bis 1658 andauernden diplomatischen Kra¨ftemessen, versuchten sie einerseits die Ru¨ckgabe der Juwelen durchzusetzen und deren Konfiskation andererseits gegenu¨ber Frankreich als legalen Akt darzustellen – ha¨tte doch eine andere Haltung die Schwa¨che der eidgeno¨ssischen Obrigkeiten offenbart.95 Frankreich reagierte mit Protesten und Drohungen. Aus Sicht der Krone zwang der Affront zum Handeln. Hielt Frankreich die Fiktion einer handlungsfa¨higen, einigen Eidgenossenschaft als Vertragspartner aufrecht, so konnte der Ko¨nig nur mit harten Sanktionen antworten.96 Nur wenn er diese Fiktion fallen ließ und die Eidgenossenschaft als eine Ansammlung von substaatlichen Entita¨ten betrachtete, war eine solche Konsequenz verzichtbar.

93 Die Namen der abgedankten Hauptleute der Regimenter Watteville und Molondin finden sich in:

StaatsA Zu¨rich, B VIII 17, 567.

94 Bericht u¨ber den Raub der Kronjuwelen ebd., A 225 11, 98. 95 Gallati, Zu¨rich (wie Anm. 4), S. 246–286. 96 Marco Frigerio, Das Vorgehen des franzo¨sischen Ambassadors Jean de la Barde im Zusammenhang

mit der Bu¨ndniserneuerung zwischen der alten Eidgenossenschaft und Frankreich (1653–1658), in: Jahrbuch fu¨r Solothurnische Geschichte 69 (1996), S. 63–121.

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Wenngleich die Juwelen schließlich ausgeliefert wurden und die einzelnen Sta¨nde interne Wege des Interessenausgleichs mit Gescha¨digten fanden, konnte dieser Skandal nicht ohne Folgen bleiben. Als 1663 der Bundesvertrag zwischen Frankreich und den dreizehn Orten nach jahrelanger Vorarbeit des Gesandten de la Barde feierlich abgeschlossen wurde, machte Ludwig XIV. seine vera¨nderte Haltung deutlich. Statt die eidgeno¨ssischen Standesvertreter als protokollarisch ebenbu¨rtig zu behandeln, wurden sie symbolisch degradiert. Der Ko¨nig behielt seinen Hut auf, wa¨hrend die Eidgenossen ihm barha¨uptig entgegentraten.97 Diese Geste drohte, den eidgeno¨ssischen Eliten die Mo¨glichkeit zu nehmen, sich als souvera¨ne Republik darzustellen und als solche in Europa zu agieren. Eines der mo¨glichen Raumkonstrukte, in das sich die eidgeno¨ssischen Orte integrieren konnten, entfiel damit oder es verlor zumindest erheblich an Gewicht. Das missglu¨ckte Treffen in Paris trug daher wesentlich dazu bei, dass die Debatte u¨ber den Charakter des Herrschaftsraumes Schweiz intensiver wurde. Vor allem von Seiten der reformierten Orte wurde die Forderung laut, die souvera¨ne Position der Eidgenossenschaft zu unterstreichen, indem die Sta¨nde auf jede Anspielung ihrer noch bestehenden Bindungen an das Reich verzichteten. Die bereits erwa¨hnten Reichsadler, die es mo¨glich machten, die Orte symbolisch in das Reichssystem zu integrieren, sollten verschwinden und die Eidgenossenschaft als Verteidigungsgemeinschaft handlungsfa¨hig gemacht werden.98 Diese Schwerpunktverlagerung zugunsten der dreizehno¨rtigen Eidgenossenschaft, die durch diese Maßnahmen zu einem potentiell hegemonialen Herrschaftsraum weiterentwickelt werden sollte, war vor allem fu¨r jene Eliten kaum tragbar, die durch multiple Bindungen auf dem Solddienstmarkt darauf angewiesen waren, ihre Orte situationsabha¨ngig in verschiedene Suprara¨ume einzuordnen.99 Dies traf vor allem auf die vom Solddienstmarkt abha¨ngigen inneren Eidgeno¨ssischen Orte zu, die auf einen Erhalt der offenen sta¨dtischen Zeichensysteme drangen, wa¨hrend die reformierten Stadtorte eine gegenteilige Entwicklung einleiteten. Es war dieser sich aus den genannten Strukturunterschieden ergebende Zielkonflikt, der die weitere Entwicklung der Eidgenossenschaft bis 1712 pra¨gen sollte.100

97 StaatsA Bern, Frankreichbuch A V 60, Frankreichbuch A. 98 Thomas Maissen, Eine „Absolute, independente, souveraine und zugleich auch neutrale Republic“.

Die Genese eines republikanischen Selbstversta¨ndnisses in der Schweiz des 17. Jahrhunderts, in: Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bu¨rgers, hg. v. Michael Bo¨hler u. a., Genf 2000, S. 129–150. 99 Lau, Aufstieg und Fall (wie Anm. 41). 100 Dazu demna¨chst: Thomas Lau, Der vergessene Krieg – Forschungsergebnisse und Forschungsbedarf zum Zweiten Villmerger Krieg, in: 200 Jahre Villmerger Krieg 1712: ein blinder Fleck in der Geschichtskultur?, Dominik Sauerla¨nder, (im Druck).

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VIII. Resu¨mee

Die franzo¨sische Finanzkrise von 1648 hatte die Eidgenossen mittelbar unter Handlungsdruck gesetzt. Wenngleich sie selbst nicht in die Spirale von Ru¨stung und Verschuldung eingebunden waren (die andernorts eine Verdichtung von Abgabensystemen bewirkte), waren sie als Gla¨ubiger von den fiskalischen Problemen ihrer Nachbarn betroffen. Ein Zusammenbruch der Schuldner drohte auch zu einem Kollaps des Geldgebers zu fu¨hren. Wie andere europa¨ische Herrschaftsra¨ume, so war auch die Eidgenossenschaft dazu gezwungen, die Ma¨rkte durch Demonstrationen der Handlungsfa¨higkeit zu beruhigen. Eine aus vier Standesvertretern bestehende Gesandtschaft kam eben diesem Auftrag nach. Sie inszenierten unter ta¨tiger Mithilfe Mazarins ein Schauspiel eidgeno¨ssischer Einigkeit auf diplomatischer Bu¨hne. Die Eidgenossenschaft konnte sich als einheitlicher und handlungsfa¨higer souvera¨ner Korpus darstellen. Weder Frankreich noch die dreizehn Sta¨nde hatten indes ein Interesse daran, die multioptionale Genese supraurbaner Ra¨ume, die die Eidgenossenschaft pra¨gte, durch einen hegemonialen Herrschaftsraum zu ersetzen. So wurden die starken Gesten des Jahres 1650 von einer schwachen, mehrdeutigen Semantik begleitet. Das Bild einer geeinten u¨berkonfessionellen Eidgenossenschaft blieb ein Ordnungsmodell unter anderen. Es enthielt indes ein Versprechen – jenes der Potenz des Bundes, seine Ehre zu verteidigen. Geschah dies nicht, so verlor das gemeineidgeno¨ssische Raumordnungsmodell an Attraktivita¨t. An diesem Punkt knu¨pfte eine Akteursgruppe innerhalb der Elite an, die bei den Abmachungen von 1650 aufgrund der franzo¨sischen Ressourcenknappheit nicht hatte beteiligt werden ko¨nnen. Sie war an den Mechanismen des Ressourcenausgleichs, der das eidgeno¨ssische System der vielschichtig interpretierbaren Ra¨ume trug, nicht integriert worden und setzte die Obrigkeit nunmehr unter erneuten Handlungsdruck. Als eine in Zwischenra¨umen agierende Gruppe konnte sie eine Ereigniskette initiieren, die zu einer wachsenden Bedeutung des gemeineidgeno¨ssischen Raumes fu¨hrte. Es war ein langsamer Prozess der Hegemonialisierung des Raumes, der auf zahlreiche Widersta¨nde stieß, sich aber letztlich selbst trug. Das Movens dieses Prozesses bildete einerseits die Verhaltenserwartung des europa¨ischen Publikums (auf o¨konomischer nicht weniger als auf diplomatischer Bu¨hne) und andererseits die Notwendigkeit, Eliten zu disziplinieren, die diese Erwartungen durchbrachen.

INDEX DER ORTS- UND PERSONENNAMEN

Aachen 74 Aarberg, Gfn. v. 250 d’Affry, Fam. in Freiburg i. Ue. 136 Affry, Louis-Auguste-Augustin, Gf. d’ 136 Aix-en-Provence 97 Albert v. Hoya, Bf. v. Minden 274, 276, 277 Albrecht II., Ks. 270 Alexander VII. (Fabio Chigi), Papst 105 Alt, Franc¸ois Joseph Nicolas, Baron d’ 137, 138 Alt, Marie-Franc¸ois d’, Vogt v. Tiefenthal 236 Amade´e Boveri 77 Amiens 31 Amsterdam 154 Andernach 149, 150 Anselmo Adorno 83 Antonio da Reboldi 80 Antwerpen 154 Arculf, Mo¨nch u. Jerusalem-Pilger 70, 71 Ardieu, Franc¸ois-Joseph, Venner von Bulle 242 Aretino, Carlo 192 Arnold Harff 83 Autun 31 Babylon 30 Baccio d’Agnolo 193 Ba¨renfels, Hans v., Bgm. v. Basel 302 Balduin v. Luxemburg, Ebf. v. Trier 96 Bamberg 21, 22, 157–182, 318, 331 Barbari, Jacopo de’ 198 Barberini, Carlo 108 Barberini, Papst-Fam. 105, 108, 109 Basel 141, 289, 291, 293–295, 299, 302, 307, 309–316 Beaune 32 Becker (v. Wu¨stenhoff), Fam. in Groß Salze 123 Beda Venerabilis 72 Berlin 20, 49–66 Co¨lln 50, 51, 53, 55–57, 59, 64, 65 Dorotheenstadt 56, 57 Friedrichstadt 56 Friedrichswerder 56, 60

Georgenstadt 57, 59 Ko¨penick 57 Spandau 57, 60 Stralau 57 Bern 31, 131, 134, 139, 248–250, 253–258, 286, 287, 289–291, 294, 295, 298, 299, 301, 303–305, 307 Bernhard v. Breydenbach 81 Berthold v. Leiningen, Bf. v. Bamberg 168 Bertrandon de la Broquie`re 77 Biel 248, 250 Bologna 80, 206 Bonifaz IX. (Pietro Tomacelli), Papst 177 Bonsignori, Stefano 197–199 Borghese, Papst-Fam. 104, 105, 107–109 Borgia, Papst-Fam. 107 Bozen 318 Bracciolini, Poggio 192 Brandenburg a. d. Havel 55, 63 Brandis, Fam. in Hildesheim 122 Braudel, Fernand 16 Braunschweig 116, 120 Breisach 32 Brescia 202, 203, 206 Bru¨ssel 146 Bruni, Leonardo 189 Bu¨ttner, Johann Heinrich 120 Bulle 242 Byzanz (Konstantinopel, Istanbul) 205 Cahors 74 Calvin, Johannes 54 Caprino 207 Carlo Borromeo, Ebf. v. Mailand 107 Castella, Jean Nicolas Andre´ de, Advokat in Greyerz 242, 243 Castella, Rudolf II., Gf. de 143 Chigi, Papst-Fam. 104, 108, 109 Chioggia 202 Christoph Blarer v. Wartensee, Bf. v. Basel 315 Chur 318 Clemens August v. Bayern, Ebf. v. Ko¨ln, Bf. v. Regensburg, Mu¨nster, Osnabru¨ck,

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Index der Orts- und Personennamen

Paderborn u. Hildesheim, Hochmeister d. Dt. Ordens 261, 262 Clemens VI. (Pierre Roger/Peter v. Fe´camp), Papst 268 Clemens VII. (Giulio de’ Medici), Papst 30, 33, 43, 45–47 Clemens X. (Emilio Altieri), Papst 107 Coesfeld 148 Collard, NN, Advokat in Bulle 242 Colonna, Fam. 106 Condivi, Ascanio 27–29, 36, 37 Conovius, Petrus, Pfarrer in Brandenburg 55 Contarini, Gasparo, Kardinal 46 Corbie`res 235 Cord v. Langen, Bu¨rger in Osnabru¨ck 265 ¨ . (il Vecchio) 192 Cosimo de’ Medici d. A Cosimo I. de’ Medici, Ghzg. d. Toskana 44, 195 Crespano del Grappa 202 Cressier, Reynold de 142 Danzig 32 Diepholz, Gfn. v. 264 de Diesbach, Fam. in Freiburg i. Ue. 136 de Diesbach-Torny, Fam. in Freiburg i. Ue. 135 Diesbach-Torny, Franc¸ois Pierre de 136 Dietrich II. v. Moers, Ebf. v. Ko¨ln 275, 276 Dietrich v. Horne, Bf. v. Osnabru¨ck 268, 269 Dorothea Sophie, T. v. Hzg. Philipp v. Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glu¨cksburg, Gem v. Kfst. Friedrich Wilhelm v. Brandenburg 57 Dortmund 269 Droysen, Johann Gustav 15 Du¨rer, Albrecht 319 Egbert v. Holland, Ebf. v. Trier 92 Egeria, Jerusalem-Pilgerin 72 Elver, Leonhard 120 Emo Capodilista 80 Endingen, Hans Rudolf v. 302 Erhard Reuwich 81 Erich II. v. Hoya, Admin. v. Osnabru¨ck, als Erich I. Ggbf. v. Mu¨nster 274–277 v. Erlach, Fam. in Bern 135 Erlach, Johann Ludwig v. 339 Ernst August II. v. Braunschweig-Lu¨neburg, Bf. v. Osnabru¨ck 261 Ertwin Ertmann, Ratsherr in Osnabru¨ck 268, 278, 280 Eugen IV. (Gabriele Condulmer, Bf. v. Siena), Papst 273 Farfia 32 Fe´gely (Vo¨geli), Fam. 135

Felix Fabri 78, 79, 81, 82 Florenz 22, 31, 33, 44, 183–199 Forel, Griset de 136 Formis 32 Francesco I. de’ Medici, Ghzg. d. Toskana 197 Francesco Suriano 80, 82 Frankenhausen/Thu¨ringen 320 Frankfurt a. M. 61, 286 Frankfurt/Oder 53 Franz I., Gf. v. Greierz 305 Franz I., Kg. v. Frankreich 45 Freiburg i. Ue. 22, 23, 131–144, 233–244, 249, 250, 253–257, 286, 287 Friedrich I., Kg. in Preußen (als Friedrich III. Kfst. v. Brandenburg) 56, 59, 60, 65 Friedrich III., Ks. 270 Friedrich v. Hohenlohe, Bf. v. Bamberg 171 Friedrich Wilhelm I., d. „Soldatenkg.“, Kg. in Preußen 62 Friedrich Wilhelm, d. gr. Kfst., Kfst. v. Brandenburg 56, 63 Fries, Lorenz 320, 328 Fu¨ssen 328, 329 Gent 154 Gerber, Roland 246 Gerhardt, Paul 50 Gierke, Otto v. 246 Go¨ttingen 120 Goslar 122 v. Graffenried, Fam. in Bern 135 Gregor I. d. Gr., Papst 93, 94 Greierz, Gfn. v. 304 Greyerz 22, 23, 233–244 Groß Salze 111, 112, 123, 130 Guibert v. Nogent 73 Haarlem 154 Haberkorn, Fam. in Freiburg i. Ue. 139 Haberkorn, Franz Niklaus, Ratsherr in Freiburg i. Ue. 140 Haberkorn, Franz Philipp, Kleinrat in Freiburg i. Ue. 140 Hamburg 62 Hannover 117 Hans Bremenstein, Oberzunftmeister in Basel 299 Hartmann v. Kiburg 249 Heinrich I. v. Schauenburg-Holstein, Bf. v. Osnabru¨ck (als Heinrich III. Gf. v. Holstein-Rendsburg 271 Heinrich I., Kg. 120, 121 Heinrich II. v. Moers, Bf. v. Mu¨nster u. Admin. v. Osnabru¨ck 275, 276 Heinrich II., Ks. 162, 311

Index der Orts- und Personennamen Hildesheim 117, 122 Hinrich v. Leden, Bgm. v. Osnabru¨ck 274 Hoya, Gfn. v. 264 Innozenz X. (Giovanni Battista Pamphili), Papst 105–107 Innozenz XI. (Benedetto Odescalchi), Papst 104 Innozenz XII. (Antonio Pignatelli), Papst 104 Isidor v. Sevilla 72 Jakob v. Verona, Jerusalem-Pilger 82 Jerusalem 20, 67–87, 89 Johann III. v. Diepholz, Bf. v. Osnabru¨ck 272–274 Johann v. Schlackenwerth, Bf. v. Bamberg 170 Johann v. Varendorf 275 Johann, Gf. v. Hoya 274–277 Johannes Tucher 79, 80 Jost v. Silchen, Propst v. Beromu¨nster 304 Julius II. (Giulio della Rovere), Papst 28, 33, 43, 44, 46 Karl d. Ku¨hne, Hzg. v. Burgund 294, 295, 298, 305 Karl V., Ks. 45, 46 Kiburg, Gfn. v. 249, 251 Ko¨ln 89, 261, 263 Konrad II. v. Rietberg, Bf. v. Osnabru¨ck 266, 267 Konrad III. v. Diepholz, Bf. v. Osnabru¨ck 275, 277, 278 Konrad IV. v. Rietberg, Bf. v. Osnabru¨ck 278 Konrad v. Essen, Domdekan in Osnabru¨ck 268 Konstanz 94 Kopp, Josef Eutych 246 La Tour-de-Treˆme 242 Laupen 250–252 Lefebvre, Henri 16 Leiden 154 Leipzig 122 Leo X. (Giovanni de’ Medici), Papst 33, 43 ¨ sterreich 249 Leopold I., Hzg. v. O Leopold I., Ks. 138 v. Lilien, Fam. 129 Lochmann, Heinrich 345, 347 v. Loe, Fam. 129 London 80 Ludolf v. Suchem 80 Ludwig IV. d. Bayer, Ks. 178 Ludwig v. Meißen, Bf. v. Bamberg 165, 176 Ludwig v. Ravensberg, Bf. v. Osnabru¨ck 267 Ludwig XI., Kg. v. Frankreich 294

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Ludwig XIV., d. Sonnenkg., Kg. v. Frankreich 345, 354 Lu¨neburg 117, 120 v. Luerwald, Fam. 129 Lu¨ttich 94 Luther, Martin 53, 54 Luzern 131, 348 Lyon 60, 136 Madrid 343 Mailand 343 Mainz 89, 286 Mannheim 137 Mark, Gfn. v. d. 267, 269 Marseille 97, 146 Massa Marittima 205 Massaio, Pietro di Jacopo del 190, 192 Maurer, Georg Ludwig v. 246 Maximilian I., Ks. 281, 282, 326 Mazarin, Jules (Giulio Mazarini), Kardinal, reg. Min. v. Frankreich 345–347, 350–352 Medici, Alessandro de’ 44 Medici, Fam. 192 Medici, Ippolito de’, Kardinal 44 Memmingen 328, 329 Meran 318 Michelangelo Buonarroti 27–48 Middelburg 154 Moers, Gfn. v. 264 Montenach, Anton Niklaus, Schultheiß in Freiburg i. Ue. 139 Montenach, Fam. in Freiburg i. Ue. 139 Montepulciano 205 More, Thomas (Thomas Morus) 13–15, 17, 25 Mu¨hlhausen/Thu¨ringen 320 Mu¨lhausen (Mulhouse) 294, 302, 305 Mu¨nster 80, 261, 263, 267, 269, 277 Mu¨ntzer, Thomas 320 Murten 248, 250 Negrar 202 Nero, ro¨m. Ks. 38 Nethe, Sebastian, Ratsherr in Co¨lln 59 Neuenburg (Neuchaˆtel) 134 Neuenburg, Gfn. v. 249 Neuenburg-Nidau, Gfn. v. 250 Neuss 270 Niccolo` da Poggibonsi 82 Nikolaus V. (Tommaso Parentucelli), Papst 104, 278 Nikolaus v. Diesbach 298–300, 307 Nu¨rnberg 80 Oechsli, Wilhelm 246 Ohrdruf 324–326 Orsini, Fam. 106

360

Index der Orts- und Personennamen

Orvieto 31 Osnabru¨ck 23, 261–280 Oswald III., Gf. v. Thierstein 289 Otto II. v. Hoya, Bf. v. Osnabru¨ck u. (als Otto IV.) Mu¨nster 271, 272 Otto, Gf. v. Diepholz 276 Otto, Gf. v. Ravensberg 267 Otto, Gf. v. Tecklenburg 268 Paderborn 261 Padua 32, 80, 202, 203 Pamphili, Papst-Fam. 105, 106, 109 Papen, Fam. 128 Papen, Johann Kaspar Reimund v. 129 Paris 31, 136, 350 Paul III. (Alessandro Farnese), Papst 27–31, 33–35, 41–44, 46, 47 Paul V. (Camillo Borghese), Papst 104, 107 Peretti, Papst-Fam. 105 Peruzzi, Baldassarre 196–197 Peter, Gf. v. Aarberg 250 Petronius, Bf. v. Bologna 76 Philipp, Mgf. v. Baden-Hachberg 305 Pietro da Cortona 106 Pomarius, Samuel, Pfarrer in Berlin-Co¨lln 50 Quakenbru¨ck 263, 271 Ravenna 202, 205, 206 Reynmann, Leonhard 317, 320 Reynold, Antoine de 345 Reynold, Franc¸ois Pierre 137 Reynold, Franz Peter, Kleinrat in Freiburg i. Ue. 142 Richard Guylforde 80 Riffe, Konrad, Ammeister in Straßburg 302 Roger Bacon 76 Rohan, Heinrich II., Hzg. v. 339 Roll von Emmenholz, Ludwig, frz. Oberst 345 Rom 19–21, 27–48, 80, 89, 94–96, 99, 101–109, 205 Romont 22, 23, 233–244 Rorgo Fretelli 74 Rosselli, Francesco 192 Rothenburg ob der Tauber 331 Rudolf II., Ks. 121 Rudolf IV., Gf. v. Greyerz 248 Rudolf v. Diepholz, Bf. v. Utrecht u. Osnabru¨ck 278 Rudolf, Gf. v. Neuenburg-Nidau 249 Rudolf, Mgf. v. Baden-Hachberg 304 Saanen 248, 254, 258 Sadoleto, Jacopo, Kardinal 43, 46 Salzburg 318

Savoyen, Gfn. v. 249 Schedel, Hartmann 194 Schilling, Diebold 282, 299, 301, 303 Selbald Rieter 84 Sigismund, Ks. 270 ¨ sterreichSigmund d. Mu¨nzreiche, Ehzg. v. O Tirol (Obero¨sterreich) 294 Simon I., Gf. zur Lippe 267 Sixtus IV. (Francesco della Rovere), Papst 32, 43, 44 Sixtus V. (Felice Peretti), Papst 47, 105, 107 Soest 263, 277 Solothurn 131, 134, 286, 287, 291, 313, 337, 339, 345, 351 Sovano 205 Staal, NN vom 351 Sta¨ffis, Lorenz v. 345 Staßfurt 111, 112, 130 Stefan Baumgartner 83 Stralsund 147 Straßburg 32, 293–295, 301, 302 Stumpf, Johannes 313 Sury, Heinrich 345 Tecklenburg 266 Tecklenburg, Gfn. v. 263, 266, 267, 269 Todi 32 Torcello 32 Trier 20, 89–99 Uberti, Lucantonio degli 192 Udine 202, 203, 206 ¨ berlingen 148, 328–330 U Ulm 32 Urban VIII. (Maffeo Barberini), Papst 105 v. Uslar (Ußler), Fam. in Goslar 123 Uslar-Gleichen, Frhrn. v. 123 Valangin, Gfn. v. 304 Varchi, Benedetto 183, 184 Vasari, Giorgio 27–29, 36, 37, 195 Venedig 22, 80, 201–208 Vezelay 31 Vicenza 202, 206 Villani, Giovanni 189 Werl 115, 122, 124–130 Wiedenbru¨ck 263, 276 Wien 134, 136, 137 Wilbrand v. Oldenburg, Jerusalem-Pilger 71, 76 Wilhelm v. Tyrus 73 William Wey 80 Wino v. Helmarshausen 76 v. Wrede, Fam. 129 Wu¨rzburg 318

Index der Orts- und Personennamen Wurstisen, Christian 313, 315, 316

Zahnd, Urs Martin 246

361

Zeigler, Heinrich, Ratsherr u. Dreizehner in Basel 299, 300, 307 Zu¨rich 131, 141, 335, 345, 347–349 Zug 340, 343

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Die mittelalterliche Stadtgeschichte des Historikers Eberhard Isenmann erschien erstmals Ende der 1980er-Jahre. Das Buch ist als „Der Isenmann“ in Lehre und Forschung eingegangen und zu einem Standardwerk avanciert. 2012 hat der Autor eine um viele neue Themen erweiterte und aktualisierte Neubearbeitung seines Handbuchs vorgelegt. „Der neue Isenmann“ erscheint jetzt bereits in zweiter durchgesehener Auflage. Dieser Titel liegt auch für eReader, iPad und Kindle vor. 2014, 1133 S. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-22358-8 [BUCH] | ISBN 978-3-412-21643-6 [E-BOOK]

„Isenmanns Buch stellt alle Einführungen in die mittelalterliche Stadtgeschichte dermaßen in den Schatten, dass man es als konkurrenzlos bezeichnen kann […]. [E]in Gewinn und Glücksfall für jeden, der sich als Studierender, Lehrender oder Forschender mit Themen der deutschen Stadtgeschichte beschäftigt.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Der auf den Referaten einer Tagung beruhende Band stellt Aspekte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städtewesens Mittel- und Westeuropas und des byzantinischen, später osmanischen Reichs vergleichend gegenüber. In jeweils zwei Beiträgen werden ausgehend von einem gemeinsamen Fragenkatalog grundlegende Themen der Städteforschung sowohl aus der „westlichen“ als auch aus der „östlichen“ Perspektive behandelt. Themenfelder sind Kontinuitäten und Brüche in der langfristigen Entwicklung, der städtische Raum, Rechtsverhältnisse und Eliten, theologische und sakrale Aspekte. Auch Ergebnisse und Methoden der Archäologie und der Georeferenzierung in der Stadtgeschichtsforschung sind einbezogen. 2016. 354 S. 75 S/W U. FARB-ABB. BR. 170 X 240 MM ISBN 978-3-205-20288-2

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