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German Pages 278 [282] Year 2014
Sophie Schramm
Stadt im Fluss Die Abwasserentsorgung Hanois im Lichte sozialer und räumlicher Transformationen
Geographie
Megacities and Global Change Megastädte und globaler Wandel
Franz Steiner Verlag
Band 17
Sophie Schramm Stadt im Fluss
megacities and global change megastädte und globaler wandel herausgegeben von Frauke Kraas, Martin Coy, Peter Herrle und Volker Kreibich Band 17
Sophie Schramm
Stadt im Fluss Die Abwasserentsorgung Hanois im Lichte sozialer und räumlicher Transformationen
Franz Steiner Verlag
Mit freundlicher Unterstützung des DFG Graduiertenkollegs Topologie der Technik
Umschlagabbildung: Dezentrale Nutzung von Abwässern in der urbanen Aquakultur in Hanoi 2011 © Sophie Schramm
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Dissertation der TU Darmstadt D 17 Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10905-5 (Print) ISBN 978-3-515-10906-2 (E-Book)
VORWORT Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die innerhalb verschiedener Forschungskontexte entstanden ist. Begonnen habe ich sie im Rahmen des BMBF Forschungsprojektes „Lösungen für semizentrale Ver- und Entsorgungssysteme urbaner Räume am Beispiel von Hanoi, Vietnam“ und mit einem Stipendium des DFG Graduiertenkollegs „Topologie der Technik“ fortgeführt. Abgeschlossen habe ich sie während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Raum- und Infrastrukturplanung der TU Darmstadt. Forschungsprojekt und Graduiertenkolleg haben mir sehr unterschiedliche Perspektiven auf das System der Abwasserentsorgung Hanois eröffnet. Das umsetzungsorientierte Projekt zur semizentralen Ver- und Entsorgung verdeutlichte mir die Aktualität des Themas, den Bedarf nach technischen Abwasserentsorgungskonzepten und die Herausforderungen, die die rasant wachsende Stadt Hanoi ihnen stellt. Das Graduiertenkolleg schuf Raum zur Reflexion des Themas innerhalb breiterer Debatten der Technikforschung. Ich danke dem Kolleg für seine finanzielle Förderung, die meine Forschung in Darmstadt und Hanoi in dieser Form ermöglicht hat. Weiterhin danke ich der Frauenförderung des Fachbereichs Bau- und Umweltingenieurwissenschaften der TU Darmstadt dafür, dass sie mit ihrer finanziellen Unterstützung einer Forschungsreise nach Hanoi die empirischen Erhebungen für dieses Projekt begünstigt hat. Mein besonderer Dank gilt Prof. Jochen Monstadt, meinem Erstgutachter, für seine aktive und dauerhafte Unterstützung in konzeptionellen, theoretischen und auch forschungspraktischen Fragen und für unsere engagierten Diskussionen. Meiner Zweitgutachterin Prof. Sabine Baumgart danke ich herzlich dafür, dass sie ihre Expertise in Sachen Stadtentwicklung im globalen Süden eingebracht hat. Von unschätzbarem Wert für das Dissertationsprojekt war mein Kollege Tuấn Đào Đức. Ich danke ihm für seine unermüdliche Übersetzungsarbeit zwischen den Sprachen und Kulturen in Hanoi und Darmstadt. Ich danke meiner Familie und meinen Freunden, ohne die diese Arbeit so nicht hätte entstehen können. Fahd Laghrib danke ich herzlich dafür, dass er in den letzten Jahren für schöne Abwechslungen vom Arbeitsalltag gesorgt hat. Hervorheben möchte ich zudem Prof. Margret Bülow-Schramm, Magdalena Andrzejewski und Katharina Müller, die mit ihrer konstruktiven Kritik in unseren fachlichen Diskussionen maßgeblich zu dieser Arbeit beigetragen haben.
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Vorwort
Unter den vielen Menschen in Hanoi, die die Untersuchungen zu dieser Studie ermöglicht haben, gilt mein größter Dank Nguyễn Thị Thanh Mai, Prof. Nguyễn Việt-Anh und Trần Huy Ánh, die ihre profunden Kenntnisse Hanois mit mir teilten und mir Zugang zu Schlüsselakteuren in Stadtentwicklung und Abwasserentsorgung Hanois verschafften. Theresa Benninghaus, Dorothee Lensch und Lothar Schätzlein danke ich sehr für ihre sprachlichen und inhaltlichen Korrekturen. Für ihre Hilfe bei der Gestaltung dieser Arbeit danke ich Benjamin Kraff, Cornelius Schwab und Julia Warninghoff. Darmstadt im August 2014
INHALT Vorwort.................................................................................................................. 5 Vietnamesische und englische Begriffe ............................................................. 11 Abkürzungen ....................................................................................................... 11 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.
1.6. 2. 2.1.
2.2.
2.3.
2.4.
Einleitung ................................................................................................ 13 Ausgangslage .......................................................................................... 14 Problemstellung....................................................................................... 15 Forschungslücken .................................................................................... 18 Zielsetzung und Forschungsfragen ......................................................... 20 Untersuchungsmethode: Einzelfallstudie ............................................... 22 1.5.1. Erkenntnisgewinn durch Einzelfallstudien .................................. 23 1.5.2. Forschungsdesign der Einzelfallstudie ........................................ 24 1.5.3. Untersuchungsraum...................................................................... 28 Gang der Untersuchung .......................................................................... 30 Konzeptionelle Grundlegung .................................................................. 33 Ausgangspunkte der Untersuchung......................................................... 33 2.1.1. Der globale Süden und die westliche Welt................................... 33 2.1.2. Städte im globalen Süden ............................................................ 35 2.1.3. Das Soziale und das Technische .................................................. 38 Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme ........ 39 2.2.1. Großtechnische Systeme: begriffliche Abgrenzung und Merkmale .............................................................................. 39 2.2.2. Die Evolution großtechnischer Systeme ..................................... 42 2.2.3. Die Dimensionen großtechnischer Infrastruktursysteme ............ 45 2.2.4. Infrastruktursysteme zwischen Selbstregelung und Steuerung .............................................................................. 48 2.2.5. Folgerungen für die Analyse großtechnischer Infrastruktursysteme ..................................................................... 52 Analysen des stadträumlichen Bezugs von Infrastruktursystemen ......... 54 2.3.1. Lebensader oder Fraktur: Städte und technische Infrastrukturen ..................................................... 54 2.3.2. Das Ende des modernen Infrastrukturideals ................................ 57 2.3.3. Dynamiken der urbanen Infrastrukturentwicklung im globalen Süden ........................................................................ 58 2.3.4. Die sozialräumlichen Wirkungen vernetzer Infrastrukturen ........ 60 Städtische Abwasserentsorgung im Globalen Süden ............................ 64 2.4.1. Naturwissenschaftlich-technische Grundlagen ............................ 66
8
2.5.
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 4. 4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
4.5.
Inhalt
2.4.2. Das Leitbild der „trockenen und sanitären Stadt“ im globalen Süden ........................................................................ 69 2.4.3. Neue Leitbilder – die Kontroverse um angepasste Technologien .............................................................. 73 2.4.4. Merkmale urbaner Abwasserentsorgungssysteme im globalen Süden ........................................................................ 77 Grundlagen der Untersuchung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi ............................................... 81 2.5.1. Der analytische Rahmen ............................................................... 81 2.5.2. Forschungsleitende Hypothesen.................................................... 83 Überblick: Geschichte Vietnams und politische Regelungsprozesse Vietnams und Hanois ............................................... 86 Die historische Entwicklung Vietnams ................................................... 86 Das Paradigma der politischen Steuerung .............................................. 88 Die formelle politisch-administrative Struktur Vietnams und Hanois .............................................................................. 90 Die Planung des Ausbaus technischer Infrastrukturen ........................... 94 Entscheidungsprozesse innerhalb des formellen Systems und darüber hinaus ................................................................... 96 Die historische Entwicklung Hanois – Brüche und Kontinuitäten ...... 100 „Folie de grandeur“ – das koloniale Projekt des Neubaus Hanois........ 101 4.1.1. Ausgangslage – Akzeptanz der Fraktur in der feudalen Stadt ............................................................................. 101 4.1.2. Die koloniale Stadtplanung – Herrschaft durch Städtebau ........ 104 4.1.3. Auswirkungen auf die räumliche Struktur Hanois .................... 106 „Tout à l´égout“ – Abwasserentsorgungsplanung in der Kolonialzeit ................................................................................. 108 4.2.1. Koloniale Zuschreibungen an die Abwasserentsorgung ............ 108 4.2.2. Wahrnehmung von räumlichen Differenzen ............................. 110 4.2.3. Die Einschätzung von Dynamiken der Stadtentwicklung ......... 112 Die Planungsära – Punktuelle Stadtentwicklung und stagnierender Netzausbau...................................................................... 114 4.3.1. Kontinuität des Planungsprinzips ................................................ 115 4.3.2. Abwasserentsorgung – Stagnation des Netzausbaus .................. 119 4.3.3. Reformen im Abwassersektor ..................................................... 120 Stadtentwicklung und Stadtplanung seit Đổi Mới – Informalisierung und neue Institutionalisierung .................................. 122 4.4.1. Prozess und Inhalte der formellen Stadtplanung seit Đổi Mới .............................................................................. 124 4.4.2. Die Ausrichtung der politischen Führung ................................. 126 Zwischenfazit: Kontinuitäten und Brüche – Identifikation von charakteristischen Räumen ...................................... 144
Inhalt
4.5.1. Die Kontinuität von Leitbildern über historische Umbrüche hinweg ...................................................................... 144 4.5.2. Die Identifikation charakteristischer Raumtypen ....................... 147 5. 5.1.
5.2.
5.3.
5.4.
6. 6.1.
6.2.
6.3.
Die Abwasserentsorgung Hanois im Kontext aktueller Abwasserpolitiken Vietnams ................................................................. 152 Die Ausrichtung aktueller Abwasserpolitiken Vietnams....................... 152 5.1.1. Zuständigkeiten in der Abwasserentsorgung.............................. 153 5.1.2. Ökonomie der Abwasserentsorgung .......................................... 154 5.1.3. Vorgaben zur technischen Ausstattung ....................................... 156 5.1.4. Diskussion: Umsetzbarkeit aktueller Politiken im Abwassersektor .................................................................... 156 Die Abwasserentsorgung Hanois zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung .................................................. 157 5.2.1. Die Technikstruktur: dezentrale Vorbehandlung und zentrale Entsorgung ............................................................. 158 5.2.2. Die Leistungserbringung im zentralen Abwasserentsorgungssystem...................................................... 162 5.2.3. Die Leistungsstruktur des Septic Tank-Systems ........................ 166 5.2.4. Diskussion: Eigenschaften der Abwasserentsorgung Hanois..... 169 Der aktuelle Ausbau – das moderne Infrastrukturideal im Blick .......... 170 5.3.1. Planung von technischen Artefakten .......................................... 171 5.3.2. Kosten- und Finanzierungsplanung............................................ 172 5.3.3. Kritische Positionen und alternative Vorschläge ........................ 173 Zwischenfazit: Positionen in der Abwasserplanung Hanois ................ 175 5.4.1. Heutige und koloniale Abwasserplanungen im Vergleich.......... 175 5.4.2. Kontroverse um die Ausrichtung der Abwasserentsorgung ....... 178 Zustand und Wandel der Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen Hanois ....................................................... 180 Der Stadtkern – Engagement der öffentlichen Verwaltungen .............. 180 6.1.1. Das aktuelle System – Repräsentation des modernen Ideals .................................................................. 181 6.1.2. Entwicklungstendenzen – Ausbau unterirdischer Leitungen ..... 184 Die Stadterweiterung – zwischen Selbstorganisation und öffentlicher Regelung ..................................................................... 185 6.2.1. Wohnsiedlungen – Selbstorganisation als Notlösung ............... 186 6.2.2. Urbane Dörfer – Vielfalt der Institutionen ................................. 189 6.2.3. Tendenzen der Netzentwicklung – Ausbau und Verfall ............. 193 Stadtrand und suburbaner Raum – Kontraste und Dynamik ................. 195 6.3.1. New Urban Areas – Eigene Topologie der Abwasserentsorgung .................................................................. 195 6.3.2. Peri-urbane Dörfer – Abwassersysteme zwischen Land und Stadt ........................................................................... 202 6.3.3. Friktionen am Stadtrand ............................................................ 207
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10 7. 7.1.
7.2.
7.3.
8. 8.1. 8.2. 8.3. 8.4.
Inhalt
Gestalt und Gestaltung des Systems der Abwasserentsorgung Hanois ................................................................ 210 Die Gestalt der Abwasserentsorgung – Die Überlagerung von Systemen im Raum und ihr Wandel ............................................... 210 7.1.1. Die stadträumliche Differenzierung der Abwasserentsorgung ................................................................. 210 7.1.2. Wandel des Systems der Abwasserentsorgung........................... 216 Handlungsbedarf und Gestaltungspotenzial .......................................... 218 7.2.1. Handlungsbedarf zur Vermeidung von Diskriminierung ........... 218 7.2.2. Gestaltung eines trägen Systems bei divergierenden Interessen........................................................... 224 Grundannahmen und Ansatzpunkte ...................................................... 230 7.3.1. Grundannahmen: dauerhafte Vielfalt und dauerhafter Wandel..................................................................... 230 7.3.2. Die Gestaltung zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung ....................................................................... 232 Reflexion theoretischer Debatten .......................................................... 240 Der Erkenntniswert der Analytik großtechnischer Systeme für die Abwasserentsorgung von Hanoi ................................................ 240 Ertrag für Analysen der Entwicklungsdynamiken von städtischem Raum und Infrastruktursystemen ............................... 242 Ertrag für die Analyse soziotechnischer Infrastruktursysteme.............. 249 Stand der Erkenntnis und weiterer Forschungsbedarf .......................... 255
Bibliographie..................................................................................................... 259 Abbildungsverzeichnis...................................................................................... 277 Tabellenverzeichnis .......................................................................................... 278
VIETNAMESISCHE UND ENGLISCHE BEGRIFFE Đổi Mới Hợp tác xã Khu đô thị (mới) Khu tập thể (KTT) New Urban Area Septic Tank Thôn Tổ dân phố xã hội hóa xí nghiệp
Erneuerung Genossenschaft (New) Urban Area Wohnsiedlungen aus der Planungsära Seit Đổi Mới (s.o.) im formellen Planungsprozess errichtete Siedlung Klärgrube Dorf Haushaltsgruppe Vergesellschaftung Ähnlich Abteilung eines Unternehmens
ABKÜRZUNGEN ARA BSB CSB GIZ GTZ HSDC HUD IESE JICA LPT LTS NUCE URENCO USD VND
Abwasserreinigungsanlage Biochemischer Sauerstoffbedarf (s. CSB) Chemischer Sauerstoffbedarf (Parameter zur Messung der Konzentration organischer Stoffe im Abwasser) Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (ehemals GTZ) Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (ehemalig) Hanoi Sewerage and Drainage Limited Company Housing and Urban Development Corporation Institute of Environmental Science and Engineering Japan International Cooperation Agency Liter pro Person und Tag Large Technical System National University of Civil Engineering Urban Environment one Member State-Owned Limited Company US Dollar Vietnamesischer Dong (Währung Vietnams)
Umrechnung Euro, USD und VND, Stand 11.09.2012: 1 Euro ≙ 1,28 USD ≙ 26.906 VND
1. EINLEITUNG Hanoi1– Stadt im Fluss ist wörtlich zu verstehen: Die Hauptstadt Vietnams liegt im Delta des Roten Flusses nur etwa 1,5–7 m über dem Meeresspiegel. Der Rote Fluss mit seinen die Stadt durchquerenden Armen und die vielen Seen und Teiche sind maßgebliche funktionale und gestaltende Elemente der Stadt – Hanois eigener Charakter erwächst aus dem Zusammenspiel von Land und Wasser. Dieser Umstand allerdings hat sich als eine der größten Herausforderungen für die Installation eines am Leitbild der „trockenen und sanitären Stadt“ orientierten städtischen Abwasserentsorgungssystems herausgestellt (vgl. zum Leitbild Heidenreich 2004; Melosi 2008). Mit der beschleunigten Urbanisierung seit Anfang der 1990er Jahre scheint die Balance zwischen Land und Wasser, die das Wesen der Stadt bestimmt, einem tief greifenden Veränderungsprozess unterlegen. Darauf weisen die häufigen Überflutungen des Stadtgebietes, die durch die starke Abwasserverschmutzung übel riechenden Kanäle sowie die ständig schrumpfende Fläche der städtischen Seen hin (Interview Trần Huy Ánh 2010). Städtische Wasserflächen schrumpfen durch Verfüllungen von Seen im Zuge von Bauaktivitäten, die meist informell sind. Wenn es aufgrund der Informalität der Stadtentwicklungsprozesse auch keine genauen Zahlen gibt, wird davon ausgegangen, dass allein Anfang der 1990er Jahre bis Ende der 2000er Jahre rund 50% der städtischen Seen gefüllt wurden und die städtischen Wasserflächen um etwa von rund 850ha auf unter 600ha geschrumpft sind (VIETBAO; JICA/HPC 2007:2-7). Die mit dem rasanten Wachstum der Stadt und der Überbauung ehemaliger Wasserflächen zunehmenden Überflutungen zeigen, dass das Wasser nicht ohne weiteres aus dem Stadtraum zu verdrängen ist. Wenn die Forderung des neuen Masterplanes nach einer grünen, ausgewogenen Stadtentwicklung mit einer Begrenzung der Einwohnerdichten in der Innenstadt sowie Raum für saubere Wasserwege auch unstrittig ist, so ist der Weg dorthin bisher noch offen. Hanoi – Stadt im Fluss ist gleichzeitig auch im übertragenen Sinne zu verstehen: als Bild für den stetigen Wandel des dynamischen Stadtraums von Hanoi. Die Besatzungen Vietnams durch China und Frankreich, Kriege wie der gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und die Transition des politischen Systems von einer Planwirtschaft zu einer sozialistischen Marktwirtschaft seit den 1986 eingeleiteten Đổi Moi (Erneuerung) Reformen prägen die Stadtentwicklung Hanois bis heute. Vielfältige gesellschaftliche Einflüsse auch jenseits formeller Regelung beeinflussten Hanois Stadtgestalt in den unterschiedlichen historischen Phasen in spezifischer Weise und die gesellschaftlichen Entwicklungsbrüche spiegeln sich bis heute im 1
Hà Nội bedeutet ursprünglich „Stadt umgeben von Flüssen“ (Trần 2010). In dieser Arbeit wird die westliche Schreibweise für diese Stadt, Hanoi, und andere bekannte Bezeichnungen gewählt. Die in der westlichen Welt nicht verbreiteten Begriffe und Namen werden in vietnamesischer Schreibweise wiedergegeben.
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1. Einleitung
Stadtbild wider, denn die wechselnden politischen Regime haben partikulare Einflüsse auf Morphologie und sozialräumliche Strukturen in einzelnen Quartieren ausgeübt. 1.1. AUSGANGSLAGE Theorien über die sozialen und technischen Dimensionen großtechnischer Infrastruktursysteme entstammten bis vor wenigen Jahren in der Regel der westlichen Welt (Europa und Nordamerika) und bezogen sich auch hauptsächlich explizit auf diese (Graham/Marvin 2001; Mayntz 2008; Mayntz/Schneider 1995). Mit der erneuten Fokussierung sozialwissenschaftlicher Stadt- und Technikforschung auf das Zusammenspiel von Stadt und technischen Infrastruktursystemen in den letzten Jahrzehnten stellt sich heraus, dass viele innerhalb dieser Theorien etablierte Annahmen nicht weltweit zutreffen. Dies wurde in verschiedenen empirischen Fallstudien nachgewiesen, die die etablierten Theorien anhand der Entwicklung städtischer Infrastruktursysteme in Ländern des globalen Südens prüfen. In einer Zusammenschau der Ergebnisse mehrerer Fallstudien (u. a. Coutard 2008) konnte zunächst das enge Zusammenspiel von Stadtentwicklung, Stadtgestalt und technischen Infrastruktursystemen bestätigt werden – hierfür reicht bereits der Blick auf Slumsiedlungen als durch ihre vielfach klar definierte und von der Umgebung abgegrenzte räumliche Struktur im Stadtgefüge sofort sichtbare Gebiete, die außerhalb formeller Planungsinstrumente und innerhalb spezifischer lokaler Akteurskonstellationen wachsen und die gleichzeitig auch andere Formen der Versorgung mit technischen Infrastrukturen aufweisen als Gebiete, deren Entwicklung formeller Planung folgt. Wie unten näher diskutiert wird, trugen diese Studien zu einem kritischen Blick auf gesamtstädtisch einheitlich vernetzte Infrastruktursysteme bei, indem sie die stadträumlich fragmentierende Wirkung dieser Systeme hervorheben. So erscheint etwa eine Differenzierung soziotechnischer Infrastrukturen innerhalb des Stadtraumes und damit der Abschied vom modernen Ideal der Vereinheitlichung und Universalisierung urbaner technischer Infrastrukturen als pragmatischer Umgang mit den vorzufindenden Fragmentierungen (vgl. ebd.; Dupuy 2011). In der abwassertechnischen Forschung bestehen infolge der ingenieurtechnischen Debatte um „angepasste Technologien“ sogar bereits seit den 1970er Jahren Konzepte zur Entsorgung menschlicher Ausscheidungen und kommunaler Abwässer losgelöst von gesamtstädtisch vernetzten Infrastruktursystemen. Diese dezentralen Systeme sind allerdings bisher in urbanen Räumen nur vereinzelt so zur Umsetzung gekommen, dass sie die Lebenssituation breiterer Bevölkerungsteile tatsächlich verbessern (vgl. van Vliet et al. 2010). Diese Debatten werden im Verlauf der Arbeit tiefgehend analysiert. In der aktuellen Abwasserpolitik Hanois spiegelt sich dieser kritische Blick der sozialwissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Forschung auf großtechnische Infrastruktursysteme nicht wider. Vielmehr treiben politische Entscheidungsträger aktuell den Ausbau eines zentralen Abwasserentsorgungssystems voran. Wie der Titel einer Machbarkeitsstudie der Nationalversammlung Vietnams, der Stadtver-
1.2. Problemstellung
15
waltung Hanois und der japanischen Entwicklungsagentur sagt, sollen die stadtweit verbreiteten Septic Tanks zur gebäudebasierten Vorreinigung von Haushaltsabwässern im Zuge eines „Entwässerungsprojektes zur Verbesserung der Umweltsituation Hanois“ durch „central large-scaled wastewater treatment plants“ ersetzt werden (SRV/HPC 2009). Mit neuen finanziellen Ressourcen und einem stetig wachsenden Körper an Finanzinstrumenten zum Ausbau von Stadt und Abwasserentsorgungssystem findet gegenwärtig der erste groß angelegte Versuch der Stadtverwaltung Hanois seit den 1930er Jahren statt, die in dynamischen Stadtentwicklungsprozessen entstandenen Infrastrukturen zur Entwässerung und Abwasserreinigung zu vereinheitlichen. Sowohl die 1930er Jahre als auch die heutige Zeit sind also entscheidende Momente für die Entwicklung von Stadt- und Abwasserentsorgungsinfrastruktur. Gleichzeitig bringt der Kontext der 1986 eingeleiteten nationalen Reformen Vietnams hin zu einer sozialistischen Marktwirtschaft im Zuge von Đổi Mới (vietnamesisch für „Erneuerung“) mit der Entwicklung von hochwertigen Wohngebieten für die neue Elite auf der einen Seite und rasanter inkrementeller Verdichtung so genannter urbaner und peri-urbaner Dörfer auf der anderen Seite eine neue stadträumliche Differenzierung mit sich, die sich auch in der Versorgung mit technischen Infrastrukturen manifestiert. Diese Prozesse wirken zusammen und tragen aktuell zu einer Verstetigung der dynamischen Heterogenität Hanois bei. 1.2. PROBLEMSTELLUNG Hanoi hat ein Umweltproblem. In der Liste der umweltfreundlichsten Städte Asiens taucht die Stadt weit unten auf: im Hinblick auf die Qualität von Luft, Wasser und weiteren Indikatoren rangiert sie etwa auf einer Ebene mit Bengaluru, Kolkata und Mumbai (Indien) und Manila (Philippinen) (MONRE 2011b). Dieses Problem ist inzwischen weit oben auf der politischen Agenda der Stadt, wie etwa das Zitat des Vorsitzenden des Volkskomitees von Hanoi zeigt: „Hanoi is an urban area with a long time history of establishment and development in the world, the heart of our country, center of national politics and administration […]. However, the capital is now facing many difficulties and challenges such as […] increase of population, problems of waste, clean water and environmental hygiene […] which require a solution.“ (Nguyễn Thế Thảo, Chairman Hanoi People’s Committee, zitiert in UNIBROS 2009).
Der aktuelle Ausbau eines zentralen Abwasserentsorgungssystems konnte bisher nicht im gewünschten Maße zur Lösung der angesprochenen Umweltprobleme beitragen. So ist der Tô Lịch, der Fluss, der über viele Jahrhunderte die westliche Grenze Hanois markierte und der für die städtische Identität Hanois nach wie vor eine zentrale Rolle spielt, heute durch seine Funktion als einer der wichtigsten Entwässerungskanäle der Stadt geprägt. Mitte der 2000er Jahre wurden 46 Industrieunternehmen gezählt, die ihr Abwasser ungereinigt in den Tô Lịch leiteten und 15 städtische Entwässerungsleitungen münden in den Fluss. Folglich ist er extrem verschmutzt: sein biochemischer Sauerstoffbedarf (BSB) ist etwa 7-mal so hoch wie der in Vietnam festgelegte Grenzwert (Việt Anh et al. 2005). Die anderen städtischen Flüsse sind ebenfalls von Verschmutzungen betroffen. Die Werte des Sét
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1. Einleitung
Flusses sind etwa 3-mal höher als zulässig und die des Lừ Flusses etwa 5-mal (MONRE 2011c). Die Wasserqualität der städtischen Seen ist ähnlich schlecht. Von 120 Seen, die vor kurzem untersucht wurden, wiesen nur 6 offiziellen Standards entsprechende hygienische Bedingungen auf. Die meisten Seen haben einen zu geringen Sauerstoffgehalt, bei sechs Seen beträgt der Wert weniger als 1 mg/l, was zu einem Absterben der meisten Mikroorganismen führt (CECR 2010). Das Umweltamt der Stadt geht davon aus, dass der Verschmutzungsgrad der Gewässer sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln wird, sollten keine Gegenmaßnahmen getroffen werden (MONRE 2011c). Nicht zuletzt aufgrund der Nutzung des Abwassers zur Bewässerung in der peri-urbanen Landwirtschaft flussabwärts, die ganz Hanoi mit Lebensmitteln versorgt, verbreiten sich wasserbasierte Infektionskrankheiten rasch (vgl. XALUAN 2009). In ganz Vietnam werden jährlich 250.000 Fälle von Diarrhö registriert und 44% der Kinder infizieren sich mit verschiedenartigen Darmwürmern. Auch wenn Vietnam im regionalen Vergleich mit den Philippinen, Indonesien und Kambodscha aus Sicht der Weltbank relativ gut dasteht2, erzeugen die Diskrepanz zwischen formellen Standards und tatsächlicher Wasserqualität, die regelmäßigen Überflutungen des Stadtraumes während der Regenzeit und die resultierenden wasserbasierten Krankheiten Handlungsdruck für Akteure in Politik und Verwaltung in Hanoi (vgl. MONRE 2012). Die aktuellen Investitionen in den Ausbau eines zentralen Abwasserentsorgungssystems im Zuge des „Entwässerungsprojekts zur Verbesserung der Umweltsituation“ belegen den Willen zur Verbesserung des Systems. Die Wahrnehmung der aktuellen Abwasserentsorgung Hanois als defizitär und der Wille, sie zu verbessern, eint Akteure in Politik und Wissenschaft. Damit enden jedoch bereits die Gemeinsamkeiten. Denn wie die Situation verbessert werden soll, und wie sie überhaupt verbessert werden kann, welche also die Optionen des geplanten Ausbaus des Systems der Abwasserentsorgung und seines Managements im Lichte vielfältiger Verflechtungen wirtschaftlicher und politischer Interessen sind, ist nicht entschieden. Die Wahl des Weges zur Verbesserung der Abwasserentsorgung ist aktuell das Thema einer polarisierten Debatte mit weitgehend gefestigten Positionen in Politik, Verwaltung und Wissenschaft. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den Ausbau eines stadtweit einheitlichen und zentralen Systems verfechten und auf der anderen Seite diejenigen, die im Gegenteil eine radikale Dezentralisierung der Abwasserentsorgung fordern (vgl. 24h 2010; Quốc Dũng 2010; Trần Huy Ánh 2009). Interviews, die im Rahmen dieser Arbeit geführt wurden, zeigen, dass sich Fachleute unterschiedlicher Richtungen die Differenziertheit oder Einheitlichkeit des Abwasserentsorgungssystems Hanois durchaus verschieden einschätzen (vgl. Interview Nguyễn Tôn 2010; Việt Anh et al. 2005; Interview Đỗ Tất Việt 2011). Es wird z. B. von einem im Abwassersektor einflussreichen Akteur die Meinung vertreten, dass es in Hanoi ein einziges und einheitliches Abwasserentsorgungssystem (technisch und institutionell) heute gebe und in Zukunft geben wird. Folglich müss-
2
Die ökonomischen Verluste durch mangelhafte Sanitärversorgung werden mit 1,3% am BIP als die geringsten der vier Länder eingeschätzt (Weltbank 2008a).
1.2. Problemstellung
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ten die zuständigen Institutionen an dessen Ausbau so weiterarbeiten wie bisher (Interview Nguyễn Tôn 2010). Bedeutsam ist der Gegensatz dieser aktuell erhobenen Wahrnehmung zu der der Stadtforschung, die bereits einen umfassenden Literaturkörper über die vielfältigen räumlichen Strukturen Hanois hervorgebracht hat (vgl. z. B. Quang/Kammeier 2002; Waibel 2002/2003/2007; Leaf 1999/2002; Phe/Wakely 2000; Papin 1997/2001; Pédelahore 1986). Dabei wird unter anderem gezeigt, wie die unterschiedlichen Morphologien sich auf unterschiedliche Bedingungen in der politischen Ökonomie sowie auf spezifische Akteurskonstellationen in (informellen) Regelungsprozessen der Stadtentwicklung zurückführen lassen. Wenn aber die Grundannahme zutrifft, dass Abwasserentsorgungsinfrastrukturen direkt mit dem gebauten Raum in Wechselwirkung stehen, dann können diese unterschiedlichen baulichen Strukturen, die im Zuge spezifischer politischer Regelungsprozesse entstehen, nicht ohne Einfluss auf das Abwasserentsorgungssystem sein – und umgekehrt. Es stellt sich also die Frage nach der Qualität dieses wechselseitigen Einflusses. Während Verfechter des Ausbaus eines einheitlichen Abwasserentsorgungssystems ihre Forderung nach diesem Ausbau zumindest oberflächlich aus der Notwendigkeit der Vereinheitlichung der Stadtstrukturen heraus begründen, entwickeln diejenigen, die ein dezentrales Abwasserentsorgungssystem befürworten, dessen Notwendigkeit argumentativ aus der bestehenden Vielfalt der städtischen Strukturen heraus, die einer lokalen Anpassung der Abwasserentsorgung bedürfe (vgl. Interview Nguyễn Tôn 2010; Interview Việt Anh Nguyễn 2009). Der Ermittlung von Möglichkeiten zur Veränderung von Stadt und Infrastruktursystem werden hier also gegensätzliche Annahmen in Bezug auf ihren wechselseitigen Einfluss zugrunde gelegt. Zudem wird zugunsten einer festen Positionierung in der Debatte um den Ausbau und das Management des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi die Unterschiedlichkeit der Prozesse der (Re-)Produktion des städtischen Raumes ausgeblendet. Damit geraten die vielfältigen Verflechtungen zwischen Formen der Abwasserentsorgung, die innerhalb des verstädterten Raumes gesamtstädtisch, auf der Ebene der Stadtteile, oder individuell organisiert sein können, aus dem Augenmerk. Die Regelungsprozesse der Stadtentwicklung und der Abwasserentsorgung, die durch Informalität geprägt sind, definieren zudem die Optionen und Restriktionen ihrer Gestaltung durch staatliche und gesellschaftliche Akteure. Um die Potenziale, Optionen und Restriktionen gesellschaftlicher und staatlicher Akteure in der Bereitstellung und Regelung von Leistungen und technischen Artefakten der Abwasserentsorgung ermessen zu können, müssen die Prozesse der Siedlungsentwicklung berücksichtig werden sowie die oftmals divergierenden Interessen der Akteure, die diese Prozesse gestalten. Zusammenfassend bezieht sich diese Arbeit also auf unterschiedlich gelagerte Probleme. Dies ist zunächst das im Stadtraum alltäglich wahrzunehmende Umweltproblem, das die Lebensqualität in Hanoi beeinträchtigt und das hoch oben auf der politischen Agenda der Stadt steht. Zudem ist die unterschiedliche Wahrnehmung des städtischen Raumes und damit einhergehend der Optionen und Restriktionen der Gestaltung durch staatliche und gesellschaftliche Akteure dieses Raumes als
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1. Einleitung
analytisches Problem zu begreifen. Da diese Wahrnehmung der Positionierung in der Debatte um die Weiterentwicklung urbaner Infrastruktursysteme zugrunde liegt, stehen beide Probleme in direktem Zusammenhang und ohne die Klärung des letzteren ist das erstere nicht zu lösen. An diesen beiden unterschiedlich gelagerten und zugleich direkt verbundenen Problemen setzt diese Arbeit an. 1.3. FORSCHUNGSLÜCKEN In Städten des globalen Südens liegt heute in der Regel Differenzierung der Infrastruktursysteme im Hinblick auf ihre sozialen und technischen Strukturen vor. Diese Städte weisen Formen der Versorgung mit Gütern auf, die für die menschliche Existenz grundlegend sind, die sich aber nicht durch die Begriffe definieren lassen, die in der Forschung soziotechnischer Infrastruktursysteme mit ihrem Fokus auf die westliche Welt etabliert sind. In dieser Hinsicht können Fallstudien in Städten des globalen Südens die Theoriebildung der Infrastrukturforschung bereichern (vgl. z. B. Coutard 2008; Zérah 2008; Fernández-Maldonado 2008; Kooy/Bakker 2008). Die Entwicklung Hanois hebt sich sowohl von der Entwicklung westlicher Städte als auch von der Entwicklung anderer ehemaliger Kolonialstädte des globalen Südens ab. In Bezug auf die postkoloniale Forschung erläutert etwa Raffin (2008:330), dass Vietnam mit seiner sozialistischen Vergangenheit eine Besonderheit unter den ehemals kolonialisierten Ländern darstellt, denn „[…] colonial and socialist modernities have fostered a hybrid modernity[…].“ Zunächst ist Vietnam heute buchstäblich ein „Entwicklungsland“: Wirtschaftskraft und Städte wachsen, d. h. sie entwickeln sich in rasantem Tempo. Seit der asiatischen Finanzkrise 1997– 98 verzeichnete das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Vietnams ein jährliches Wachstum von 7–8%, wobei die Wirtschaftsstruktur sich mit einem schrumpfenden Anteil von Landwirtschaft und Fischzucht am BIP (ca. 20% insgesamt) schwerpunktmäßig in Richtung Industrie und Dienstleistungen (zusammen ca. 80% Anteil am BIP) entwickelt (ADB 2008). 2009 hat das vietnamesische pro-Kopf BIP 1000 US$ überschritten, womit das Land laut der Bewertung der Weltbank in die Gruppe der Länder mittleren Einkommens aufgestiegen ist (PPJ 2010a). Zusätzlich ist Hanoi geprägt durch die oben skizzierte Transformation von einer Planwirtschaft zu einer sozialistischen Marktwirtschaft. Wie sich diese Transformationen auf die sozialen und technischen Dimensionen des städtischen Infrastruktursystems von Hanoi auswirken, und welche Implikationen der von rasantem wirtschaftlichen Wachstum begleitete Ausbau des Abwasserentsorgungssystems für die theoretische Debatte um urbane Infrastrukturversorgung hat, wird in dieser Arbeit nach einer Einführung in sozial- und ingenieurwissenschaftliche Debatten zu urbanen Abwassersystemen erörtert. Die Studie von Raffin (2008) ist eine der ersten, die Machtstrukturen aus dem Blickwinkel des Postkolonialismus in Vietnam aufdeckt und dabei die Besonderheit Vietnams als kolonialisiertes und dann sozialistisches Land Südostasiens auf den Punkt bringt. Die räumlichen und v. a. stadträumlichen Implikationen dieser politischen Prozesse finden jedoch keine Erwähnung. Auswirkungen aktueller und
1.3. Forschungslücken
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früherer politischer Umbrüche auf die Stadtentwicklung, die städtische Morphologie und insbesondere den Wohnungsbau wurden dagegen in verschiedenen planungswissenschaftlichen und stadtsoziologischen Studien detailliert analysiert (vgl. u. a.: Waibel 2002/2003/ 2007; Mitchell 2008/2009; Leaf 1999/2002; Quang/ Kammeier 2002; Phe/Wakely 2000; Pédelahore 2010). Neben der Analyse des Einflusses sich wandelnder politischer Regelungsprozesse auf den städtischen Raum liegt der Wert dieser Untersuchungen darin, dass sie Handlungsmöglichkeiten staatlicher Institutionen sowie gesellschaftlicher Akteure ableiten (vgl. insbesondere Quang/Kammeier 2002 und Pédelahore 2010). Urbane Infrastruktursysteme und ihre durch breitere politische und räumliche Transformationen bedingten Veränderungen hingegen wurden in sozial- und planungswissenschaftlichen Debatten in Bezug auf Hanoi bisher weitgehend ausgeblendet. Dies ist wenig überraschend, da technische Infrastrukturen in planungswissenschaftlichen Debatten allgemein kaum wahrgenommen werden. Sie sind nicht zuletzt aufgrund der zur Anwendung kommenden komplexen technologischen Verfahren eingeschlossen in eine Blackbox (vgl. Graham/Marvin 2008), weshalb sich das wissenschaftliche Interesse an ihnen zumeist in funktionalistischer Weise auf Situationen beschränkt, in denen es keine Blackbox gibt oder in denen diese aufgebrochen ist und Infrastrukturen nicht im Untergrund verborgen bleiben, sondern offen zutage treten. Angesichts der Herausforderungen, die sich aus solchen Formen der Abwasserentsorgung in Hanoi ergeben, verfassten v. a. Wissenschaftler_ innen des Institute of Environmental Science and Engineering (IESE) der National University of Civil Engineering (NUCE) im vergangenen Jahrzehnt Studien, die aus einem ingenieurwissenschaftlichen Blickwinkel heraus Möglichkeiten zur Verbesserung der als defizitär wahrgenommenen Situation erörtern (vgl. Việt Anh et al. 2004/2004a/2005/2005a; Beauséjour 2009; Beauséjour et al. 2007; GHK 2005). Diese zumeist auf den peri-urbanen Raum konzentrierten Studien liefern wertvolle Einblicke in lokale Prozesse der Abwasserentsorgung Hanois, wobei über technische Strukturen hinaus z. T. auch Organisationsformen und politische Regelungsstrukturen in die Analyse aufgenommen werden. Zudem thematisieren einige Untersuchungen der Abwasserentsorgung Hanois die lokal ausgehandelten Zuständigkeiten im Entsorgungssektor zwischen Stadt-, Bezirks- und Stadtteilverwaltungen sowie zivilgesellschaftlichen Gruppen auch jenseits gesetzlicher Regelungen (vgl. z. B. Parenteau/Thong 2005). Gleichzeitig scheinen einige dieser Studien von einem gefestigten Standpunkt in der Debatte um den weiteren Ausbau des Abwasserentsorgungssystems auszugehen, der auch Auswahl der Fallstudien motiviert. Zudem führt der Fokus auf Gebiete, die vom zentralen Netzwerk abgekoppelt sind, zuweilen zu einem Ausschluss des soziotechnischen Systems der Abwasserentsorgung, das über diese Gebiete hinaus besteht. Insbesondere die Einflüsse des Wandels, die sich in der politischen Ökonomie Vietnams vollziehen, auf das System der Abwasserentsorgung als Ganzes lässt ein praxisorientierter Blick auf lokalspezifische Infrastrukturprobleme in peri-urbanen Räumen oder Gebieten außerhalb gesamtstädtischer Planung am Stadtrand im Verborgenen. Speziell die Infrastrukturversorgung wohlhabenderer Stadtgebiete bleibt
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1. Einleitung
in ingenieurwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungen weitgehend unberücksichtigt. All diese Aspekte weisen darauf hin, dass in der Erforschung Hanois bisher vernachlässigt wurde, die technischen Infrastrukturen als konstituierenden Teil der Stadt zu betrachten. Umgekehrt fehlt eine Berücksichtigung der Heterogenität des städtischen Raumes in der formellen Abwasserpolitik Hanois. Das System der Abwasserentsorgung wurde bisher kaum als entscheidendes Element der Stadtentwicklungen untersucht. Entscheidend ist es jedoch auch dort, wo es lokal funktioniert oder von Nutzergruppen selbst nicht als Problem wahrgenommen wird. Forschungsbedarf liegt also in einer umfassenden Analyse des Abwasserentsorgungssystems in seinen stadträumlich differenzierten sozialen und technischen Ausprägungen innerhalb Hanois. Auf dieser Grundlage bleibt zu untersuchen, inwiefern der Ausbau eines einheitlichen und zentralen Abwasserentsorgungssystems vor dem Hintergrund heterogener räumlicher und soziotechnischer Strukturen, aber auch bisher nie dagewesener finanzieller Ressourcen Aussicht auf Erfolg im Hinblick auf eine umwelt- und sozialgerechte Versorgung mit städtischen Infrastrukturen hat oder welche alternativen Ansätze eher erfolgversprechend sind. Diese Untersuchungen aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Technikforschung erlauben Schlüsse für Optionen zur Gestaltung der Abwasserentsorgung Hanois unter aktuellen Bedingungen sowie für ihren Ausbau im Zuge weiterer Prozesse der Stadtentwicklung. 1.4. ZIELSETZUNG UND FORSCHUNGSFRAGEN Diese Arbeit strebt an, einen Beitrag zur Schärfung und Erweiterung bestehender Theorien zu städtischen Infrastruktursystemen mittels der Analyse Hanois zu leisten. Dabei geht es nicht darum, die Kategorien des globalen Südens und der westlichen Welt, die aufgrund spezifischer Wissenstraditionen konstruiert wurden, zu zementieren. Vielmehr soll die Vielfalt der möglichen Beziehungen zwischen Stadtund Infrastrukturentwicklung betont werden. Hierfür eignet sich die Fallstudie Hanois besonders, denn die einzigartige Entwicklung dieser Stadt weicht sowohl von Erkenntnissen aus Fallstudien für die Stadt- und Infrastrukturentwicklung des globalen Südens als auch von traditionellen Theorien der Infrastrukturforschung ab. In diesem Sinne dient diese Arbeit dem Anliegen, die Dichotomie zwischen den beiden geopolitischen Regionen westliche Welt und globaler Süden in der sozialwissenschaftlichen Stadt- und Infrastrukturforschung aufzuheben (vgl. Watson 2009). Ausgehend von diesem Standpunkt ist das erste Ziel, über eine kritische Reflexion historischer und heutiger Ansätze zur Verbesserung des Abwasserentsorgungssystems Hanois zur Ermittlung von Handlungsbedarf, Optionen und Restriktionen für eine pragmatische Gestaltung des Systems zu gelangen. Die zentrale Fragestellung der Arbeit lautet also:
1.4. Zielsetzung und Forschungsfragen
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Wie wirken sich gesellschaftliche Transformationen auf den städtischen Raum und das System der Abwasserentsorgung Hanois aus und welche Optionen und Restriktionen bestehen für staatliche und gesellschaftliche Akteure zur Gestaltung dieses Systems im Lichte aktueller Herausforderungen? Veränderungen des städtischen Raumes und des Abwasserentsorgungssystems Hanois sind beeinflusst von den gesellschaftlichen Umbrüchen Vietnams. Die Abwasserentsorgungsinfrastruktur Hanois wird als soziotechnisches System begriffen. Damit stehen die Wechselwirkungen der sozialen und technischen Komponenten dieses Systems im Fokus der Untersuchung. Weiterhin werden Stadtraum und urbanes Abwasserentsorgungssystem Hanois als in gegenseitiger Wechselwirkung stehend konzeptualisiert – ihre Entwicklungen bedingen sich gegenseitig. In Bezug auf die Optionen und Restriktionen zur Gestaltung wird angenommen, dass das Abwasserentsorgungssystem Hanois Beharrungsvermögen und eine hohe Gestaltungsresistenz aufweist, aber dennoch von gesellschaftlichen und staatlichen Akteuren gestaltet werden kann. Diese Gestaltung vollzieht sich nicht im Zuge staatlicher Steuerung, sondern findet innerhalb politischer Regelungsprozesse statt, in denen sowohl gesellschaftliche als auch staatliche Akteure Gestaltungsfähigkeiten haben. Die zentrale Fragestellung differenziert sich in weitere Fragen zur Strukturierung der theoretischen und empirischen Untersuchung: 1) Wie sind das urbane Abwasserentsorgungssystem Hanois in seiner Verwobenheit mit weiteren stadträumlichen Entwicklungstendenzen sowie die Gestaltungsoptionen gesellschaftlicher und staatlicher Akteure durch theoretische Ansätze zu erfassen? 2) Welchen Leitvorstellungen in Bezug auf die Entwicklung von städtischem Raum und Abwasserentsorgung folgte die Abwasserentsorgungsplanung im Laufe der Zeit und welche Rolle spielten diese für Stadtentwicklungsprozesse und die Entwicklung des Abwassersystems seit der Kolonialzeit? 3) Wie stellt sich das System der Abwasserentsorgung in den Grundzügen der Technik- und Leistungsstruktur sowie aktuellen politischen Regelungstendenzen dar? 4) Wie ist die stadträumliche Differenzierung der technischen Struktur, Organisation der Leistungserbringung und der lokalen Regelungsstruktur des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi zu charakterisieren? 5) Welche Handlungsbedarfe bestehen aktuell für Abwasserpolitik und Abwasserentsorgungsplanung und welche Restriktionen und Optionen für die Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems und seiner weiteren Entwicklung bieten sich vor dem Hintergrund der räumlichen Differenziertheit des Systems an? 6) Welche Erkenntnisse lassen sich aus der Untersuchung Hanois für die Stadtforschung und die Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme ableiten? Über eine theoretisch fundierte Stellungnahme in Bezug auf die aktuelle Abwasserpolitik und die Debatte um den Ausbau des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi hinaus soll mit dem in dieser Arbeit entwickelten Forschungsrahmen ein Beitrag geleistet werden zu wissenschaftlichen Debatten mit Bezug auf urbane Infrastruktursysteme. Dieser soll nicht nur über den Fall Hanois, sondern auch die Gren-
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1. Einleitung
zen der Wissenstraditionen mit ihren Beschränkungen auf den globalen Süden oder die westliche Welt hinausgehen. Dazu gehört zunächst, dass Implikationen für theoretische Debatten der auf technische Infrastruktursysteme fokussierten Stadtforschung abgeleitet werden. Die Stadtforschung vertritt momentan einen pessimistischen Blick auf Infrastruktursysteme, die dem modernen Ideal des einheitlich vernetzten Stadtraumes entsprechen, da diese v. a. im globalen Süden stadträumliche Fragmentierung und soziale Ungleichheiten eher zu verstetigen scheinen als diese zu verringern. Wie die Entwicklungsdynamiken des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi zu charakterisieren sind, welche Rolle das moderne Infrastrukturideal darin spielt und welche Schlüsse diese Charakterisierung für diese Einschätzung bezüglich der fragmentierenden Wirkung dieses Ideals zulässt, wird im Zuge der Arbeit erläutert. Zudem wird die momentan auf die westliche Welt fokussierte sozialwissenschaftliche Erforschung großtechnischer Infrastruktursysteme mit ihrer Einschätzung der Optionen und Restriktion der Gestaltung von soziotechnischen Infrastruktursystemen durch gesellschaftliche und staatliche Akteure in ihrer Anwendbarkeit auf Hanoi untersucht. Eine eingehende Untersuchung dieser theoretischen Debatten in Kapitel 2 führt zur Formulierung von Hypothesen, die die eben genannten Forschungsfragen im Hinblick auf die Charakterisierung des urbanen Abwasserentsorgungssystems und auch im Hinblick auf die Optionen und Restriktionen für ihre Gestaltung durch staatliche und gesellschaftliche Akteure operationalisieren. 1.5. UNTERSUCHUNGSMETHODE: EINZELFALLSTUDIE Mittels der Studie des urbanen Abwasserentsorgungssystems Hanois als Einzelfall sollen neben evidenzbasierten Ansatzpunkten für die weitere Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems in seinem urbanen Kontext auch Implikationen für die oben skizzierten theoretischen Debatten abgeleitet werden. Die vorliegende qualitative Einzelfallstudie des urbanen Abwasserentsorgungssystems Hanois hat also neben dem empirischen Anliegen der Erklärung des Untersuchungsgegenstandes auch einen theoretischen Anspruch. Dieser Anspruch ist in Bezug auf vergleichende Fallstudien die Regel, jedoch im Bereich der Einzelfallstudien eher eine Ausnahme und weicht von gängigem Vorgehen ab. Dennoch kann er eingelöst werden, denn die Methode der Einzelfallstudie erlaubt mit der ihr eigenen tiefgehenden qualitativen Erhebung die genaue Untersuchung komplexer sozialer Phänomene, die Prüfung und Schärfung von bestehenden Hypothesen und auch die Formulierung neuer. Im Folgenden wird dieser Standpunkt kurz allgemein erklärt, woraufhin die hier gewählte Methode näher erläutert wird.
1.5. Untersuchungsmethode: Einzelfallstudie
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1.5.1. Erkenntnisgewinn durch Einzelfallstudien Die raison d’être qualitativer Fallstudien ist die Untersuchung eines Objektes, das „[…] als Ganzes erfasst und in seinen Teilen und der Beziehung zueinander beschrieben [wird]“ (Nohlen 2004:128). Wie Nissen ausführt, verstärkt die so ermöglichte intensive Auswertung einer „geringe[n] Zahl von Untersuchungseinheiten“ qualitative Aspekte der Analyse (Nissen 2002:36). Aufgrund der Art und des Ergebnisses der Untersuchung hinsichtlich des Beitrags zur Theoriebildung können Fallstudien identifiziert werden, die zwei Gruppen zuzuordnen sind: der idiographischen und der nomothetischen Gruppe von Fallstudien. Fallstudien der ersten Gruppe zeichnen sich durch ihr vorrangig empirisches Anliegen aus. So ziehen sie Theorien zwar ggf. zur Erklärung des Falles heran, überprüfen diese jedoch nicht (vgl. Nohlen 2004). Dazu im Gegensatz stehen die Fallstudien der zweiten Gruppe, bei denen das Ziel der Untersuchung die Induktion ist (Nohlen 2004). Diese Fallstudien haben also einen erklärenden Wert (Nissen 2002:38). Analytisch lässt sich die Gruppe der nomothetischen Fallstudien unterteilen in (1) Hypothesen generierende oder verfeinernde Fallstudien, (2) Theorien bestätigende Fallstudien, (3) Theorien widerlegende Fallstudien sowie (4) die Analyse abweichender Fälle. Laut Nohlen (2004) können Theorie bestätigende und Theorie widerlegende Fallstudien als Theorie überprüfende Fallstudien zusammengefasst werden, da eingangs nicht bekannt sein kann, um welchen Typ es sich bei der Fallstudie handeln wird. Einem traditionellen Wissenschaftsverständnis zufolge ist der analytische Effekt je stärker, desto mehr die Fallstudie von der Theorie abweicht (vgl. Popper 1966). Die eben genannte analytische Unterscheidung ist für einen Überblick über mögliche Methoden der Forschung und entsprechend für die Einordnung der Ergebnisse durchaus sinnvoll. Die Grenzen zwischen unterschiedlichen Arten von Fallstudien sind jedoch keinesfalls immer klar, sondern können je nach Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse verschwimmen. Der analytische Wert von Einzelfallstudien Ein in der Sozialforschung angesehener Weg des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns ist die Methode des Vergleichs. Für einen qualitativen Vergleich zweier Fälle spricht etwa, dass Übergeneralisierungen vermieden werden können, jedoch anders als in quantitativen Vergleichen mehrerer Fälle dennoch eine tiefgehende Untersuchung aller relevanten Variablen möglich ist. Einzelfallstudien wird oftmals eine vorrangig deskriptive Funktion zugeschrieben, die zwar umfassende Erhebungen ermöglicht, jedoch aufgrund des fehlenden Vergleichs keine zu verallgemeinernden Aussagen (vgl. z. B. Popper 1966). Wie kann also vor diesem Hintergrund anhand Einzelfallstudien zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beigetragen werden? Betrachtet man die qualitative Methode näher, zeigt sich, dass unter bestimmten Umständen auch die Betrachtung von Einzelfällen zur vergleichenden Forschung gezählt werden kann. Diese Anschauung ist zunächst widersprüchlich, da ein Vergleich per Definition die Identifizierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in zwei oder mehr Einheiten beinhaltet (Sigelman/Gadbois 1983). Bei diesen Ein-
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1. Einleitung
heiten muss es sich aber nicht zwangsläufig um zwei im Rahmen der Forschung untersuchte Fälle handeln, sondern es kann sich auch um den Vergleich der konkret untersuchten Situation mit einer vorgestellten Situation handeln. So ist laut Nissen davon auszugehen, dass Beobachtungen in der Forschung immer an einem „impliziten Referenzrahmen“ gemessen werden (Nissen 2002:37). Hier wird die von Nissen vertretene Auffassung geteilt, dass auch im Rahmen der Fallstudienforschung Theoriebildung – und nicht nur die Beschreibung eines Einzelfalls – möglich ist (vgl. z. B. Nissen 2002). Wie Rueschmeyer anhand verschiedener Beispiele zeigt, haben qualitative, oftmals auf historische Wandlungsprozesse bezogene Einzelfallstudien in politischen und sozialen Analysen die Theoriebildung sozialer Wissenschaften bisher tiefgehend beeinflusst (Rueschmeyer 2003). Diese Wirkung haben induktive Studien vor allem dann, wenn sie auf einer sorgfältigen Analyse theoretischer Debatten aufbauen (ebd.). Gerade bei einem überaus dynamischen, unübersichtlichen und komplexen Forschungsgegenstand, der auch in seinen Wandlungsprozessen untersucht werden soll, sind also detaillierte interpretative Analysen durchaus aufschlussreich in Bezug auf den Gegenstand selbst und die Theorie (vgl. Hall 2003). 1.5.2. Forschungsdesign der Einzelfallstudie Von diesem Standpunkt geht das hier gewählte Forschungsdesign aus. Der Forschungsgegenstand, das urbane Abwasserentsorgungssystem Hanois, wird in seiner Unübersichtlichkeit, seiner Komplexität und seiner Dynamik im Zuge einer Einzelfallstudie detailliert analysiert. Hanoi eignet sich in ihrer im Forschungsinteresse (Kap. 1.4) erläuterten Abweichung von untersuchten Städten des globalen Südens zudem besonders für die Theoriebildung, denn: „Je mehr im Untersuchungsdesign der Fallstudien also Konstellationen berücksichtigt werden können, die vom Normalfall abweichen, desto stärker nähert sich die Fallstudie in ihrem analytischen Wert der vergleichenden Methode.“ (Nissen 2002:40)
Die vorliegende Untersuchung ist an der Schwelle zwischen Hypothesen generierender und Theorie prüfender Fallstudie verortet. Auf diese Weise wird dem doppelt gelagerten Erkenntnisinteresse dieser Arbeit Rechnung getragen. Zunächst wird durch die theoriegeleitete Untersuchung des komplexen und dynamischen Forschungsgegenstandes ein – theoretisch fundierter – Beitrag zur Ermittlung von Handlungsbedarfen sowie Optionen und Restriktionen für eine pragmatische Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi geleistet. Im selben Zuge werden die zuvor untersuchten theoretischen Annahmen, die der Analysetradition großtechnischer Infrastrukturen als soziotechnische Systeme, der theoretischen Debatte in der auf soziotechnische Infrastruktursysteme fokussierten Stadtforschung sowie den ingenieur- und sozialwissenschaftlichen Analysen des urbanen Abwassersektors zugrunde liegen, in Bezug auf den Forschungsgegenstand geprüft und weiterentwickelt. Dieses Vorhaben wird im Rahmen der Arbeit ausgestaltet, indem zunächst eine eingehende Untersuchung der eben genannten theoretischen Debatten vorgenom-
1.5. Untersuchungsmethode: Einzelfallstudie
25
men wird, die zur Formulierung von Hypothesen führt. Diese beziehen sich auf die historische Entwicklung differenzierter städtischer Infrastruktursysteme und auf ihre sozialen und räumlichen Auswirkungen und aktuelle Optionen und Restriktionen der zukünftigen Gestaltung urbaner Abwasserentsorgungssysteme. Die hierauf basierende empirische Untersuchung zielt auf eine Charakterisierung des städtischen Raumes und der urbanen Abwasserentsorgung ab. Wie oben erläutert, wird von einer Wechselwirkung zwischen städtischem Raum und Abwasserentsorgungssystem ausgegangen. Aus dieser Sichtweise heraus bildet der oben (Kap. 1.2) erläuterte Gegensatz zwischen der Stadtforschung Hanois, die die baulich-räumliche Differenzierung der Stadtstruktur umfassend erklärt und der Tatsache, dass die räumliche Differenzierung des urbanen Abwasserentsorgungssystems Hanois bisher kaum erforscht wurde, den Ausgangspunkt der empirischen Untersuchung. Dabei werden zunächst sekundärempirische Daten historischer Stadtentwicklungsprozesse mit eigens erhobenen Daten zur Entwicklung des urbanen Abwasserentsorgungssystems zusammengebracht. Die aufgrund dieser Analyse charakterisierten Raumtypen, die sich im Hinblick auf die sozialen Prozesse der Siedlungsentwicklung und die materielle Struktur des gebauten Raumes unterscheiden, werden dann auf die lokal vorzufindenden Ausprägungen des soziotechnischen Systems der Abwasserentsorgung hin untersucht. Die so ermittelte räumliche Differenzierung des urbanen Abwasserentsorgungssystems wird im Rahmen dieser Arbeit ergänzt durch eine Analyse von Diskursen innerhalb des politisch-administrativen Systems in Bezug auf den Zustand und die weitere Entwicklung dieses Systems. Zusammen erlauben diese Analysen eine kritische Reflexion früherer und heutiger Abwasserpolitiken und die Ermittlung von Handlungsbedarfen zur Vermeidung von Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen durch ihren Zugang zu Abwasserentsorgungssystemen. Hieraus können Optionen und Restriktionen für die unterschiedlichen Akteure zur weiteren Gestaltung dieses Systems entwickelt werden. Dies ist aufschlussreich im Hinblick auf die Rolle der städtischen und infrastrukturellen Planung, der öffentlichen Verwaltungen insgesamt und weiterer zivilgesellschaftlicher und marktorientierter Akteure in der Gestaltung urbaner technischer Infrastruktursysteme in Hanoi und darüber hinaus. Die bestehenden Gestaltungsoptionen des soziotechnischen Systems der Abwasserentsorgung und ihre Wahrnehmung durch die vielfältigen Akteure sind von Interesse, und zwar sowohl für die Praxis als auch für wissenschaftliche Debatten. Mit der hierauf basierenden Weiterentwicklung theoretischer Debatten wird ein Beitrag geleistet zur Aufhebung der bisherigen Beschränkung dieser Debatten entweder auf den globalen Süden oder die westliche Welt. Erhebungstechniken Im Rahmen dieser Arbeit wurden zunächst Literaturanalysen zu theoretischen Debatten und auch zum Forschungsgegenstand durchgeführt. Diese Analysen wurden oben (Kap. 1.3) in ihren grundlegenden Ergebnissen skizziert. Von zentraler Bedeutung in einem bisher noch kaum erforschten Feld ist zudem die Erhebung primärer Daten. Die Erhebung primärer Daten für diese Untersuchung erfolgte im Zuge von sieben Forschungsaufenthalten in Hanoi von insgesamt gut sieben Monaten. Die
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1. Einleitung
Aufenthalte wurden z. T. im Rahmen des BMBF geförderten Projektes „Lösungen für semizentrale Ver- und Entsorgungssysteme urbaner Räume am Beispiel von Hanoi, Vietnam“ und z. T. im Rahmen eines DFG Stipendiums im Graduiertenkolleg „Topologie der Technik“ durchgeführt. Informationen wurden aus einem breiten Spektrum von Daten erhoben. Dieses reicht von Zeitungsartikeln und öffentlich zugänglichen Behördendokumenten über historische und aktuelle Strategie- und Planungsdokumente, historisches und aktuelles Kartenmaterial, bis hin zu leitfadengestützten Experteninterviews sowie Begehungen und Studien ausgewählter Siedlungsräume. Im Folgenden werden die hier gewählten Erhebungstechniken erläutert. Abb. 3 illustriert zudem die Erhebungstechniken in ihrer Zuordnung zu den einzelnen Untersuchungsschritten dieser Arbeit. Die Auswertung von Zeitungsartikeln und Stellungnahmen öffentlicher Verwaltungen lieferte Aufschluss über den aktuell kontrovers geführten Diskurs über die Ausrichtung aktueller Abwasserpolitiken Hanois und Vietnams. Im Zuge dieser Analyse wurde eine breite Spanne an Quellen untersucht. Hervorzuheben sind die Veröffentlichungen des Umweltministeriums (Ministry of Natural Resources and the Environment, MONRE). Als Kontrollorgan der städtischen Entwicklung und der technischen Infrastrukturen publiziert es regelmäßig kritische Bestandsaufnahmen von Zustand und Entwicklungsprozessen des urbanen Abwasserentsorgungssystems in englischer Sprache. Die Auswertung historischer und aktueller Planungsdokumente zur Stadtentwicklung und zum Abwasserentsorgungssystem Hanois offenbarte die den Plänen und Strategien zugrunde liegenden Leitbilder in Bezug auf den städtischen Raum, die Rolle technischer Infrastruktursysteme und die Steuerbarkeit ihrer weiteren Entwicklung durch das politisch-administrative System. Die Gegenüberstellung der auf diese Weise ermittelten Rationalität formeller Verwaltungen mit einer kartographischen Analyse der historischen räumlichen Entwicklungstendenzen Hanois diente der Illustration der Widersprüche zwischen Auffassung von Planer_innen in Politik, Verwaltung und Entwicklungszusammenarbeit und tatsächlicher Stadtentwicklung von der Kolonialzeit bis heute. Interviewpartner_innen wurden als Expert_innen der Stadtentwicklung und/ oder der urbanen Abwasserentsorgung befragt. Diese Experteninterviews dienten der Information über den Untersuchungsgegenstand und über die Sichtweise der Interviewpartner_innen des Gegenstands. Entsprechend wurde in den Interviews zunächst Expertenwissen zur Prüfung der Forschungshypothesen mittels eines thematischen Leitfadens abgefragt. Zudem wurden Abschweifungen zugelassen, wodurch von den Befragten vorgenommene Bedeutungserweiterungen und Assoziationen in die Erhebung einflossen. Die Partnerinnen und Partner der insgesamt 42 Interviews lassen sich in sechs Gruppen einteilen, die jeweils in verschiedener Weise zum Erkenntnisgewinn beigetragen haben. Zunächst sind dies Angestellte der öffentlichen Verwaltungen auf unterschiedlichen Ebenen. Befragungen im städtischen Planungsamt sowie in den relevanten Abteilungen auf den Ebenen der Bezirke und Stadtteile informierten über die sozialen und technischen Ausprägungen des Abwasserentsorgungssystems, die Rolle
1.5. Untersuchungsmethode: Einzelfallstudie
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der befragten Akteure in der Gestaltung dieses Systems und auch die Einschätzung der Befragten von diesem System und aktuellen Bestrebungen zu seiner Verbesserung. Weiterhin wurden Vertreter der deutschen und japanischen Entwicklungsorganisationen, der Asiatischen Entwicklungsbank und von UN-Habitat interviewt, da sie den Ausbau der technischen Artefakte und die Entwicklung des regulativen Rahmens der Abwasserentsorgung Hanois entscheidend prägen. Die Interviews mit Vorstehenden von Haushaltsgruppen, Unternehmer_innen der Abwasserentsorgung und vietnamesischen und internationalen Bau- und Investitionsunternehmern ergänzten die Informationen, die durch die Befragung der Angestellten der öffentlichen Verwaltungen und der Vertreter internationaler Organisationen erhoben wurden. Dies ist der Fall, da Mitglieder dieser drei Gruppen über detaillierte Kenntnisse der lokalen Ausprägungen, der Funktionalität des soziotechnischen Abwasserentsorgungssystems sowie über seinen Ausbau im Zuge aktueller Stadtentwicklungsprozesse verfügen, die in vielfältiger Weise von formellen Politiken, Planwerken und Vorstellungen vieler Akteure in Politik, Verwaltung und Entwicklungszusammenarbeit abweichen. Schließlich sind Expert_innen der Abwasserentsorgung und der Stadtentwicklung, die im akademischen Bereich oder freiberuflich als Planer_innen und Architekt_innen tätig sind, wichtige Informant_innen für diese Arbeit. Sie kooperieren mit den Vorstehenden der Haushaltsgruppen und organisieren mit ihnen z. T. die politische und bauliche Gestaltung des Stadtraumes von Hanoi. Ihre Arbeit an der Schnittstelle zwischen Praxis und Wissenschaft eröffnet ihnen eine kritische Perspektive auf offizielle Politiken und die Möglichkeit, diese vergleichsweise offen zu diskutieren. Umgang mit der vietnamesischen Sprache Eine der Kernherausforderungen der Datenerhebung ist die Sprache, da die Verfasserin dieser Arbeit die vietnamesische Sprache nicht beherrscht. Dieser Umstand hat Einfluss sowohl auf die Erhebung der sekundären und der primären Daten als auch auf die Bedeutung der Übersetzer und Übersetzerinnen für die Auswahl der Daten. Aus diesem Grunde wird hier auf die Auswahl des Übersetzers und der Übersetzerin eingegangen. Zunächst sind disziplinärer Hintergrund und Vorwissen der Übersetzenden von großer Bedeutung. Einerseits kann es bei der Übersetzung von Interviews hilfreich sein, dass diese ein möglichst geringes Wissen haben, um den Einfluss vorgefertigter Interpretationen zu minimieren. Andererseits handelt es sich bei den Interviews schwerpunktmäßig um leitfadengestützte Experteninterviews, bei denen spezifisches Wissen über den Untersuchungsgegenstand erhoben wird. Damit dies gelingen konnte, war es erforderlich, dass Übersetzer_innen die Fachsprache im Englischen sowie im Vietnamesischen beherrschen. Aus diesem Grund wurden fachnahe Übersetzer_innen gewählt. Die 2009 durchgeführten Interviews wurden durch eine an der National University of Civil Engineering in Hanoi tätige Stadtplanerin übersetzt und die anderen Interviews (2010, 2011) wurden durch einen damals an der TU Darmstadt in einem Projekt zu semizentraler Verund Entsorgung beschäftigten Verkehrsplaner übersetzt.
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1. Einleitung
Da die Interviews in den meisten Fällen in vietnamesischer Sprache durchgeführt wurden, war eine Übersetzung der Fragen notwendig. Diese Übersetzung wurde vom Englischen ins Vietnamesische vorgenommen. Vor der Befragung fand eine eingehende Diskussion von Prozess und Ziel des Interviews mit der Übersetzerin und/oder dem Übersetzer statt. Im Interview wurden dann Fragen und Antworten jeweils übersetzt, um der Interviewerin die Möglichkeit zu geben, den Fortgang des Interviews zu beeinflussen und auf mögliche Abschweifungen und Erweiterungen des Themenkomplexes zu reagieren. Bei Dokumenten, die auf Vietnamesisch und nicht in englischer, deutscher oder französischer Sprache verfügbar sind, bedurfte es eingehender Erklärungen und Diskussionen von Texten oder Textpassagen. Dabei fließen die jeweils individuellen Bedeutungszuschreibungen und Sichtweisen des Übersetzers und der Übersetzerin in diese Untersuchung ein. 1.5.3. Untersuchungsraum Im Zentrum dieser Arbeit steht die Stadt Hanoi. Die genaue Abgrenzung dieses Raumes, der unter der Bezeichnung Hanoi zu untersuchen ist, beeinflusst maßgeblich die Ergebnisse im Hinblick auf die Charakterisierung der technischen Infrastruktursysteme und ihre Beziehung zum städtischen Raum und ist somit entscheidend für die aus dieser Untersuchung zu ziehenden Schlüsse. In diesem Rahmen soll der städtische, d. h. stark verdichtete und heterogene Raum der Kernstadt Hanois betrachtet werden. Dabei treten gerade die vielfältigen Verbindungen zwischen urbanen und ländlichen Räumen, deren Ineinanderfließen sich auch in der Topologie der Abwasserentsorgung widerspiegelt, zutage. Hanoi erfuhr 2008 eine maßgebliche Ausweitung seiner Fläche, indem angrenzende Provinzen eingemeindet wurden (PPJ 2010a). Die administrativen Grenzen der Provinz Hanoi reichen seither von der Kernstadt aus weit in den Süden, den Westen und auch über den Roten Fluss hinweg in den Nordosten. Mit Long Biên befindet sich seit 2003 ein urbaner Bezirk vom historischen Zentrum aus gesehen jenseits des Roten Flusses – so hat die Stadtentwicklung zumindest formell die Barriere des Flusses überwunden. In diesem Rahmen wird die Betrachtung dennoch auf die stark verdichteten Räume südwestlich des Roten Flusses fokussiert. Auf diese Weise können einerseits alle historischen Abschnitte der Stadtentwicklung in die Betrachtung aufgenommen werden – der Kern Hanois befindet sich direkt südlich des Westsees im Norden der Stadt. Um auch die neuesten Urbanisierungsprozesse in den Blick zu nehmen, erstreckt sich der Untersuchungsraum bis in die aktuell noch administrativ als ländlich definierten, jedoch bereits von starker Verstädterung geprägten Bezirke Từ Liêm im Westen und Thanh Trì im Südwesten des Zentrums (vgl. Abb. 1 und 2). Die durch die letzte Erweiterung in die Provinz Hanois integrierten Städte in der westlichen Metropolregion Hanois, wie etwa Sơn Tây, werden jedoch ausgeklammert, da sie zwar seit Neuestem administrativ zu Hanoi zählen, aber eigene Entwicklungspfade durchlaufen haben und auch vom Siedlungsgefüge her nicht zur ursprünglichen Stadt Hanoi zu zählen sind. Auch im Hinblick auf das Flussgebiets-
1.5. Untersuchungsmethode: Einzelfallstudie
Legende Die Metropolregion Hanois seit 2008 Untersuchungsraum 1 km
Abb. 1: Untersuchungsraum südwestlich des Roten Flusses (Eig. Darstellung basierend auf PPJ 2010)
Tây Hồ Từ Liêm Legende Wasser
Cầu Giấy
Ländl. Bezirke
Ba Đình
Hoàn Kiếm
Đống Đa Hai Bà Trưng Thanh Xuân
Städt. Bezirke
Hoàng Mai
1 km
Hà Đông Thanh Trì
Abb. 2: Städtische und ländliche Bezirke im Untersuchungsraum (Eig. Darstellung basierend auf PPJ 2010)
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30
1. Einleitung
system ist diese Auswahl plausibel, da das gewählte Gebiet durch den Roten Fluss und zwei Nebenarme, den Nhuệ Fluss und den Tô Lịch geprägt ist, die im Norden des Untersuchungsraumes abzweigen und diesen in nordsüdlicher Richtung durchqueren. Auf dieses Flussgebiet konzentriert sich ein aktuell breit diskutiertes Entwicklungsprojekt zur Verbesserung der Umwelt- und Abwassersituation Hanois. 1.6. GANG DER UNTERSUCHUNG Der Gang der Untersuchung dieser Arbeit ist in Abb. 3 mit einer Zusammenschau der Untersuchungsschritte mit den jeweils gewählten Erhebungstechniken (vgl. Kap. 1.5.2) illustriert. Die konzeptionelle Grundlegung (Kap. 2) beginnt mit der Erklärung der Ausgangspunkte dieser Arbeit. Hierauf folgt eine Untersuchung wissenschaftlicher Debatten zu großtechnischen Infrastrukturen und ihrer Anwendbarkeit auf das Abwasserentsorgungssystem Hanois als urbanes Infrastruktursystem im globalen Süden (Kap. 2.2). Weiterhin werden neuere Studien der Wechselwirkungen zwischen Stadtentwicklung und technischen Infrastrukturen erörtert, und zwar mit einem Schwerpunkt auf urbane Räume des globalen Südens (Kap. 2.3). Die Analyse ingenieur- und sozialwissenschaftlicher Debatten urbaner Abwasserentsorgung im globalen Süden erlaubt eine Zuspitzung der Forschungsansätze auf den empirischen Untersuchungsgegenstand (Kap. 2.4). Die konzeptionelle Grundlegung mündet schließlich in die Formulierung von Hypothesen und die Ableitung eines analytischen Rahmen für die empirische Untersuchung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi (Kap. 2.5). Diese beginnt mit einer Vorstellung des politisch-administrativen Systems von Vietnam und Hanoi sowie einer Analyse gesellschaftlicher politischer Regelungstendenzen Vietnams, die zu einer Ergänzung der Hypothesen im Hinblick auf die Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi durch staatliche und gesellschaftliche Akteure führt (Kap. 3). Die historische Analyse in Kapitel 4 beleuchtet die gemeinsame Entwicklung von städtischem Raum und Abwasserentsorgungssystemen in Hanoi. Dazu werden die in historischen und aktuellen Plänen und in Zeitungsartikeln dokumentierten Diskurse im Hinblick auf Leitvorstellungen untersucht, die der Planung von Abwasserentsorgungssystem und Stadtentwicklung zugrunde liegen. Diese Leitvorstellungen werden tatsächlichen städtischen Entwicklungsprozessen gegenübergestellt, um ihre Auswirkungen auf den städtischen Raum und das System der Abwasserentsorgung zu erfassen. Die historische Analyse erlaubt zunächst eine weitere Schärfung der Hypothesen in Bezug auf die Bedeutung und die Auswirkungen des modernen Infrastrukturideals oder genauer des Leitbilds der „trockenen und sanitären Stadt“. Zudem ergibt sich aus der historischen Betrachtung die Identifikation von charakteristischen Raumtypen, die in unterschiedlichen Prozessen der Stadtentwicklung entstanden sind. Daran schließt sich eine Darstellung der Technik- und Leistungsstruktur des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi, sowie aktueller Planungen und Interventionen zur Gestaltung dieses Systems an. Hier zeigen sich die unterschiedlichen
1.6. Gang der Untersuchung
KONZEPTIONELLE GRUNDLEGUNG • Analytik großtechnischer Infrastrukturen als soziotechnische Systeme • Die Ko-Evolution technischer Infrastruktursysteme und Stadt • Urbane Abwasserentsorgung im globalen Süden
FORSCHUNGSRAHMEN UND HYPOTHESEN EMPIRIE: DAS ABWASSERENTSORGUNGSSYSTEM HANOIS Untersuchungsgegenstand Politik: System und Regelungsprozesse
Erhebungstechniken • Analyse von Sekundärdaten: politik- und planungswissenschaftliche Studien
Ergänzung Hypothesen Entwicklung von Stadt und Abwasserentsorgungssystem: Leitbilder und Materialität von Abwasserentsorgung und Stadtentwicklung;
• Analyse planungswissenschaftlicher Studien, historischer und aktueller Plandokumente und Zeitungsartikel; • Analyse der Siedlungsstruktur; • Experteninterviews;
Identifikation charakteristischer Raumtypen Technische und soziale Grundzüge des Abwasserentsorgungssystems und aktuelle Planungsdebatten
• Analyse ingenieur- und planungs wissenschaftlicher Studien, offizieller Planungsdokumente und Gesetzestexte; • Experteninterviews;
Untersuchung Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen Ausgewählte Siedlungen: technische Struktur, Leistungserbringung und lokale Regelungstruktur der Abwasserentsorgung;
• Genaue Studien ausgewählter Siedlungen; • Inteviews mit Vorstehenden von Haushaltsgruppen • Interviews mit lokalen Verwaltungsangestellten
SCHLUSSFOLGERUNGEN • Charakterisierung der räumlichen Differenziertheit des Systems der Abwasserentsorgung von Hanoi sowie seiner Entwicklungsdynamiken; • Optionen und Restriktionen für die Gestaltung der Abwasserentsorgung Hanois.
REFLEXION THEORETISCHER DEBATTEN Abb. 3: Gang der Untersuchung
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32
1. Einleitung
Positionen von Akteuren in Politik, Verwaltung und Wissenschaft im Hinblick auf Ziel und Prozess dieses Ausbaus (Kap. 5). In Kapitel 6 werden die lokalen Ausprägungen des Systems der Abwasserentsorgung Hanois im Zusammenhang mit den spezifischen Strukturen des gebauten Raumes untersucht. Die aus der historischen Analyse abgeleiteten charakteristischen Raumtypen Hanois strukturieren diese Untersuchung. Diese Erhebungen erlauben eine Charakterisierung der räumlichen Differenzierung des Abwasserentsorgungssystems als Grundlage für eine Stellungnahme in Bezug auf aktuelle Abwasserpolitiken und die Debatten um den Ausbau des Abwasserentsorgungssystems. Kapitel 7 stellt die hier ermittelten Potenziale, Optionen und Restriktionen für einen pragmatischen Umgang mit dem heute vorzufindendem System in seiner räumlichen Differenziertheit vor. Abschließend werden in Kapitel 8 die forschungsleitenden Hypothesen anhand der Ergebnisse der empirischen Untersuchung diskutiert und schlussfolgernde Thesen zur Schärfung der eingangs diskutierten theoretischen Ansätze abgeleitet. Die hier vorgenommene Charakterisierung des Abwasserentsorgungssystems und seiner Entwicklung im Prozess der (Re-)Produktion des urbanen Raumes von Hanoi zeigt, dass dieses System in seiner Hybridität einerseits nicht dem modernen Ideal der Infrastrukturversorgung entspricht und andererseits auch nicht als fragmentiert zu betrachten ist.
2. KONZEPTIONELLE GRUNDLEGUNG Die Untersuchung des Abwasserentsorgungssystems Hanois erfolgt aus der Perspektive der Analysetradition großtechnischer Infrastruktursysteme mit einem Fokus auf die Debatten soziotechnischer Infrastrukturen in städtischen Räumen. Diese Perspektive erlaubt den Einbezug sozialer und technischer Aspekte solcher Systeme. Dieser umfassende Blick ist aufschlussreich nicht nur für die Analyse von Zustand und aktuellen Entwicklungstendenzen sondern auch für die Ermittlung zukünftiger Gestaltungsoptionen und -restriktionen. Nach der Darstellung der Ausgangspunkte dieser Untersuchung wird der Forschungsansatz großtechnischer Systeme im Hinblick auf seine Anwendbarkeit und Aussagekraft für urbane Abwasserentsorgung im globalen Süden diskutiert. Die Stadtforschung mit Bezug auf Infrastrukturen beschäftigt sich mit Auslösern und sozialräumlichen Wirkungen stadtweit vernetzter oder differenzierter Infrastruktursysteme. Im dritten Unterkapitel wird erörtert, welche Rolle hierbei die Übertragung des westlichen Infrastrukturmodells auf Städte des globalen Südens spielt. Darauf folgend werden die aus diesen Kapiteln abgeleiteten Untersuchungsschwerpunkte am Beispiel einer sekundärempirischen Analyse der urbanen Abwasserentsorgung im globalen Süden konkretisiert. Die Erkenntnisse aus diesen Betrachtungen dienen schließlich der konzeptionellen Grundlegung in Form eines Forschungsrahmens und Hypothesen für die Untersuchung Hanois. 2.1. AUSGANGSPUNKTE DER UNTERSUCHUNG Die weiteren Untersuchungen dieser Arbeit gehen von einem spezifischen Verständnis des globalen Südens und der westlichen Welt als Leitdifferenz für die Analyse von Planungsidealen, des urbanen Raumes im globalen Süden und drittens der Beziehungen zwischen Sozialem und Technischem aus. 2.1.1. Der globale Süden und die westliche Welt Die Betrachtung sozialwissenschaftlicher Erforschung großtechnischer Infrastruktursysteme erfolgt mit dem Ziel, ihren Erklärungswert im Rahmen dieser Arbeit zu ermitteln und eine Forschungsperspektive für die Analyse der städtischen Abwasserentsorgung Hanois zu entwerfen. Dabei liegt ein Fokus auf der Gültigkeit der zur Sprache kommenden – vorrangig in der westlichen Welt entwickelten – Theorien in Bezug auf den globalen Süden sowie die Repräsentation des globalen Südens in diesen Studien. Das Anliegen ist nicht etwa eine Verstetigung eines eurozentrischen Weltbilds durch die Anwendung in der westlichen Welt entwickelter Theorien auf einen neuen kulturellen Kontext, sondern die Prüfung und Weiterentwicklung der
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2. Konzeptionelle Grundlegung
Theorien. An dieser Stelle werden dazu einleitend die Begrifflichkeiten in der Analyse der Beziehungen zwischen westlicher Welt und globalem Süden untersucht – die gebräuchlichen Begriffe und ihre Veränderung im Laufe der Zeit sprechen selbst für den mit ihnen einhergehenden Bedeutungswandel. Bei Untersuchungen der Kolonialisierung sind Prozesse der Zirkulation moderner Technologien und ihrer Aneignung in spezifischen Kontexten des globalen Südens von Interesse. Die Kolonialisierung ging mittels großmaßstäblichen Exports von technischen Infrastrukturen vonstatten, die die Erschließung der kolonialen Räume ermöglichten (vgl. van Laak 2004). Dies wurde begleitet durch Bedeutungszuschreibungen an moderne Technologien, die wie Hughes im Hinblick auf die USA (2004:7) ausführt dazu dienen sollten, „uncultivated wilderness“ in eine kultivierte „human-built world“ zu transformieren. Aus Sicht der kolonialisierten Länder ist – wie unten näher erläutert wird – die Kolonialisierung ein „Schlüsselmoment“ für die Entwicklung sozialräumlicher Strukturen. Sie ist prägend für die bis heute bestehende Weltarbeitsteilung (vgl. ebd.; McFarlane 2008). Die Begriffe „globaler Süden“ und „westliche Welt“ werden hier genutzt, da sie eine analytische Unterscheidung zwischen kolonialisierten Ländern und ehemaligen Kolonialmächten ohne weitere Implikationen etwa in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung erlauben. Ohne solche Implikationen kommen etwa die nach wie vor häufig genutzten Begriffe „Entwicklungsland“, „dritte Welt“ oder „vierte Welt“ nicht aus (z. B. UN-HABITAT 2003; Tetzlaff 1994). Der normative Begriff Entwicklungsland etwa bezieht sich auf die Wirtschaftsleistung und -struktur eines Landes sowie auf den Bildungsgrad und die Lebenserwartung seiner Bevölkerung. Er spiegelt zunächst eine eurozentrische Weltsicht wider. Gleichzeitig ist festzustellen, dass viele Länder des globalen Südens seit dem Aufkommen dieses Begriffs wirtschaftlich stagnierten, weshalb der Begriff Entwicklungsland irreführend und unpräzise ist. Auch der Begriff der dritten Welt ist sowohl in seiner Hierarchisierung durch Ordnungszahlen eurozentrisch als auch veraltet (vgl. Giddens 1995). Mit der Wahl des Begriffspaars „globaler Süden“ und „westliche Welt“ wird also nicht impliziert, dass die Zuordnung von Ländern einer der Kategorien auf die heutige Situation hinsichtlich des Bildungsstands und der Versorgung mit grundlegenden Leistungen der Bevölkerung, Wirtschaftskraft, Dynamiken der politischen Regelung, oder Verstädterungsgrad oder gar den zukünftigen Entwicklungspfad rückschließen ließe. Das breite Spektrum der Entwicklungspfade lässt bereits ein oberflächlicher Blick auf Singapur als ehemals kolonialisiertes wirtschaftsstarkes Land mit hohem staatlichem Engagement in der Versorgung der Bevölkerung mit grundlegenden Leistungen gegenüber etwa Kenia als ein von krasser sozialer Ungleichheit und prekären Lebensbedingungen armer Bevölkerungsgruppen geprägtes Land erahnen. Unter den ehemaligen Kolonialmächten findet sich eine ebensolche Unterschiedlichkeit (vgl. z. B. Hemmer 1988:5). Die Unterscheidung zwischen globalem Süden und westlicher Welt wird in diesem Rahmen als aufschlussreiche Leitdifferenz für die Analyse der Zirkulation von planerischen Idealvorstellungen und Leitbildern herangezogen und die Wahrnehmung dieser Weltregionen im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit diesen Idealen. Europas ehemaliger Status als Zentrum der kolonialen Macht kann nicht abgekoppelt von den wissenschaftlichen
2.1. Ausgangspunkte der Untersuchung
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und technischen Fortschritten des 19. Jahrhunderts im Zuge der Modernisierung betrachtet werden – auch die in dieser Zeit entwickelten Geistes- und Sozialwissenschaften sind in ihrem Kern nicht frei von einem aus der gefühlten kulturellen Überlegenheit erwachsenden eurozentrischen Blick (vgl. Wallerstein et al. 1996; Patel 2006; Anderson 2002; Chakrabarty 2002). Die Beantwortung der Frage, wie sozialräumliche Strukturen und besonders soziotechnische urbane Infrastrukturen in den Ländern des globalen Südens hieraus entstehen und inwiefern die vorzufindenden Strukturen dann wiederum Anlass zu einer Revision bestehender, z. T. eurozentrischer Theorien geben, bedarf der Untersuchung konkreter Einzelfälle. 2.1.2. Städte im globalen Süden Der Blick auf die Städte des globalen Südens und ihre Erforschung zeigt eine große Vielfalt an urbanen Formen, Prozessen der Stadt- und Infrastrukturentwicklung und Einflussnahme formeller Planung in diese Prozesse (vgl. Chakravorty 2000). Gerade der Fokus auf die Region Südostasiens, zu der Hanoi gehört, macht deutlich, dass ihre Städte u. a. aufgrund des rasanten wirtschaftlichen Wachstums sowie im Falle der ehemaligen sozialistischen Staaten aufgrund der Transformation der politischen Ökonomie heute spezielle Formen aufweisen, die sie von anderen Städten des globalen Südens unterscheiden (vgl. Dick/Rimmer 1998; Leaf 1999). Gleichzeitig lassen sich gemeinsame Aspekte in dieser Vielfalt erkennen, die jedoch in theoretischen Ansätzen der Stadt- und Infrastrukturforschung sowie der Planung nicht hinreichend Berücksichtigung finden. Dabei geht es hier nicht darum, Charakteristika und Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, die sich auf urbane Räume des globalen Südens allein beschränken, vielmehr können sie zum Teil auch in Städten der westlichen Welt auftreten (vgl. Roy 2009; Watson 2009). In Städten des globalen Südens zeigen sich diese jedoch mit besonderer Deutlichkeit, wodurch auch die bis heute bestehende Abweichung theoretischer Annahmen in großer Schärfe hervortritt. Gemeinsam haben südostasiatische Städte mit vielen anderen Städten des globalen Südens, dass sie extrem schnell wachsen – die höchsten Verstädterungsraten der Welt finden sich in den Ländern Asiens und Afrikas. Lateinamerika und die USA haben bei großen regionalen Unterschieden und einem Nebeneinander von Prozessen der Urbanisierung und Deurbanisierung mittlere Verstädterungsraten, während die Verstädterung in den meisten Ländern Europas stagniert (vgl. UNHABITAT 2008). Wenn die Dynamiken der Verstädterung auch eine gewisse Vielfalt aufweisen, so lässt sich übergreifend feststellen, dass ein Großteil der Zunahme städtischer Bevölkerungen weltweit in den Ländern des globalen Südens vonstattengeht (CIA 2010) und dass sich beinahe das gesamte Wachstum der Weltbevölkerung zwischen 2000 und 2030 auf die Städte des globalen Südens konzentrieren wird (Coy/Kraas 2003). Jenkins et al. sprechen daher im Hinblick auf den globalen Süden von der „Welt der rasanten Verstädterung“ (Jenkins/Smith/Wang 2007). AlSayyad sieht die Zukunft der Stadt angesichts des enormen Wachstums der Städte
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2. Konzeptionelle Grundlegung
des Südens nicht in Los Angeles oder Chicago, sondern in Städten wie Mumbai, Nairobi und Kairo (AlSayyad 2004:9). Die rasante Urbanisierung ist in einigen Regionen begleitet von wirtschaftlichem Wachstum und Industrialisierung. In anderen Regionen, wie etwa in Teilen Afrikas, war sie über lange Zeiträume fast völlig abgekoppelt davon (Jenkins et al. 2007:29). Dies wirkt sich auf die urbane Form aus. Rasante Urbanisierung unter Bedingungen von Armut und starker sozialer Ungleichheit führt zur Verbreitung von Slums. Dieser Begriff bezieht sich laut der Definition der Vereinten Nationen auf die Lebensverhältnisse in Siedlungen. Laut UN-HABITAT ist eine Siedlung dann als Slum zu bezeichnen, wenn eines der folgenden Merkmale zutrifft: es besteht mangelhafter Zugang zu technischen Infrastrukturen (insbesondere Wasserund Sanitärversorgung), der Wohnraum ist von schlechter Qualität, die Bevölkerungsdichte ist zu hoch, Bewohner_innen haben einen unsicheren Status (UN-HABITAT 2003). Dabei zeigt sich angesichts der Zunahme der in Slums lebenden Bevölkerung weltweit, dass diese Siedlungen als dauerhaftes, strukturelles Phänomen und nicht als temporär zu verstehen sind (ebd.:130). Der Begriff des Slums mit seinem Bezug auf die Lebensverhältnisse ist zu unterscheiden vom Begriff der informellen Siedlung, der sich auf den rechtlichen Status einer Siedlung bezieht. Informelle Siedlungen werden außerhalb des formellen Planungsprozesses errichtet, bestehen außerhalb formeller Eigentumsrechte, und/ oder entsprechen nicht formellen Standards in Bezug auf die Baustruktur oder auch die Versorgung mit grundlegenden Leistungen (vgl. in Bezug auf Lateinamerika: Ribbeck 2002:36). Kurz, informelle Siedlungen sind die „manifestation of informal processes in the urban environment“ (AlSayyad/Roy 2004:1). Daraus ergibt sich, dass viele Slums auch gleichzeitig informelle Siedlungen sind, informell können sie jedoch genauso wohlhabende Stadtgebiete mit akzeptablen oder auch überdurchschnittlichen Lebensverhältnissen sein. In letzteren verfolgen wohlhabende Stadtbewohner_innen ihre partikularen Interessen und umgehen dabei städtische Regularien (Baumgart/Kreibich 2011). Informelle Siedlungen sind jedoch nicht als das Resultat isolierter Handlungen einzelner Bevölkerungsgruppen zu sehen. Wie Hackenbroch und Hossain (2012:399) erläutern, ist Informalität kein klar gefasster Bereich, der etwa von einer ihr entgegen gesetzten Formalität abgrenzbar sei. Anstelle einer dualistischen Konzeptualisierung des Gegensatzes formell/informell ist Informalität als eine alle Aspekte des städtischen Raumes durchdringende und diese transformierende Logik zu erfassen. Im Sinne von AlSayyad und Roy (2004:5) ist sie eine gesamtgesellschaftliche „organizing logic“. Dieser Blick auf Informalität wirft die Frage nach dem Einfluss und den Mechanismen staatlicher Institutionen auf, die also nicht mehr als außerhalb informeller Prozesse stehend betrachtet werden können. Vielmehr sind staatliche Institutionen aktiv in informelle Prozesse eingebunden und definieren darüber hinaus die strukturellen Bedingungen der Informalität (vgl. AlSayyad 2004:26; Hackenbroch/Hossain 2012). Verschiedene Autor_innen heben die aktive Rolle staatlicher Institutionen in der Einordnung von Bevölkerungsgruppen und Stadträumen in die Kategorien formell/informell oder legal/illegal hervor (vgl. Chatterjee 2004). Roy (2009:81) spricht vom aktiven „unmapping“ von Stadtgebieten, die von formellen Karten genommen und auf diese
2.1. Ausgangspunkte der Untersuchung
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Weise durch staatliche Akteure illegalisiert werden. Appadurai (2001:34) erläutert im Sinne des Konzeptes der Gouvernementalität von Foucault die Bedeutung von Bevölkerungszählungen, die eine differenzierte Legalisierung von Bevölkerungsgruppen hervorbringen. Die Informalisierung von Stadträumen und Bevölkerungsgruppen kann ihrer Marginalisierung dienen und gleichzeitig ihre Interessen fördern, etwa wenn Eliten durch sie den Erhalt ihrer Herrschaft sichern (vgl. Roy 2009; Watson 2009). In der Informalität offenbart sich also ein Verhältnis zwischen vielfältigen Akteurskonstellationen in Staat und Gesellschaft. Sie ist „an important mode of urban governance“ (Hackenbroch/Hossain:400). Diese Konstellationen bedingen die (Re-)Produktion des urbanen Raumes und die Entscheidung darüber, ob und in welcher Weise formelle Planungsinstrumente zur Anwendung kommen. Sozialräumliche Strukturen von Städten des globalen Südens ergeben sich aus einem weiteren Trend, der die Regionen Asiens, Lateinamerikas und Afrikas übergreift und mit der Globalisierung verbunden ist. Dieser geht in Richtung einer Konzentration ausländischer Direktinvestitionen in bestimmten Stadträumen (vgl. Pizarro/Wei/Banerjee 2003). Wie Grant und Nijman im Hinblick auf Accra und Mumbai erläutern, spiegelt sich in der urbanen Form der Städte die „spatially fragmented integration of societies in the less-developed world at large into the global political economy“ wider (Grant/Nijman 2002:338). Aus dieser fragmentierten Integration von Städten in globale Finanzströme resultiert eine massive Ausdehnung des städtischen Raumes in die Fläche, geprägt durch vielfach von ihrer oftmals ländlichen Umgebung abgeschottete Inseln von Immobilienprojekten für gehobene Ansprüche (Haferburg/Oßenbrügge 2009:43). Auch diese durch nationale und transnationale Projektentwicklungs- und Investitionsunternehmen sowie Angestellte lokaler Behörden vorangetriebenen Formen der Verstädterung sind vielfach informell, v. a. im Hinblick auf Formen des Besitzes und Prozesse des Handels von Land (AlSayyad/Roy 2004:3). Aus diesen Merkmalen, die sich vor allem, jedoch nicht ausschließlich, in der urbanen Form der Städte des globalen Südens manifestieren, und die Wechselwirkungen mit der Planung von technischen Infrastruktursystemen haben, erwächst die Forderung nach der Anpassung theoretischer Ansätze. Dabei wird vor einer verallgemeinernden Abgrenzung dieser Regionen von der westlichen Welt und damit einer Zementierung der Dichotomie zwischen Nord und Süd gewarnt (vgl. z. B. Jenkins et al. 2007; Watson 2009; AlSayyad/Roy 2004). Während die Allgemeingültigkeit von Theorien zur Stadt etwa der Chicago Schule oder der Los Angeles Schule als widerlegt gelten kann, findet sich besonders in den Bereichen der Stadtforschung und der Planungstheorie weiterhin die Forderung nach der Anerkennung der urbanen Strukturen und Entwicklungsprozesse des globalen Südens in Wissenschaft und auch Planungspraxis (vgl. Kooy/Bakker 2006; Healey 2012). In diesem Rahmen erfolgt eine Konzentration auf urbane technische Infrastruktursysteme und ihre Planung und die Frage, wie die Untersuchung Hanois zu einer Weiterentwicklung und entsprechender Theorien beitragen kann. Die folgenden Abschnitte zeigen in einem ersten Schritt die unterschiedliche Weise, wie in wissenschaftlichen Debatten um die Erforschung (urbaner) Infrastruktursysteme mit dem globalen Süden umgegangen wurde: Einige, wie etwa die
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2. Konzeptionelle Grundlegung
Erforschung technischer Infrastrukturen als Systeme, erheben den Anspruch auf Allgemeingültigkeit bei einem tatsächlichen Fokus auf die westliche Welt, bzw. auf „moderne Gesellschaften“ (Mayntz/Schneider 1995; Mayntz 1993a); andere nehmen den globalen Süden explizit in die Betrachtung auf, ohne jedoch die schlussfolgernden Thesen an die diesbezüglich ermittelten Befunde anzupassen, wie etwa die Splintering Urbanism (SU) These von Graham und Marvin (2001), andere konzentrieren sich explizit auf die Dynamiken der Infrastrukturentwicklung in Ländern des globalen Südens – wie etwa die unten vorgestellten Untersuchungen zur urbanen politischen Ökologie (Kooy/Bakker 2008; Gandy 2006; McFarlane 2008). Im Hinblick auf diese Vielfalt des Forschungsstandes kann das Anliegen dieser Arbeit, die allgemeine Gültigkeit im Westen entwickelter Theorien zu überprüfen, bereits zum Teil mittels einer Gegenüberstellung dieser Theorien mit sekundärempirischen Untersuchungen mit Bezug auf Städte des globalen Südens eingelöst werden. Diese Gegenüberstellung dient dann als Grundlage für die empirische Untersuchung Hanois. 2.1.3. Das Soziale und das Technische Die Erklärung für das hier verwendete Adjektiv ‚soziotechnisch‘ bedarf einer Erläuterung. Sie liegt im Hergang der im Feld der Science and Technology Studies geführten Debatte um die soziale Konstruktion technischer Artefakte. Diese Wortkombination ist aus einer Betrachtung von Technik als Zweck-Mittel Relation heraus redundant – wohnt ihr zufolge doch allem Technischen das Soziale bereits inne. Wenn Technik als „Verbindung von Ursache und Wirkung“ begriffen wird, dann ist sie weder eine Eigenschaft von Dingen noch von Menschen allein (Bellinger/Krieger 2006:17; Latour 1994). Diese Sicht auf Technik einnehmend hat bereits Heidegger Technik als „Gestell“ bezeichnet und postuliert, dass Technik an sich nichts Technisches sei und ein Verständnis ihrer gesellschaftlichen Bedeutung daher auch nicht aus einer technomorphen Sicht heraus erwachsen könne (Heidegger 1982). Auch frühere Formen des Wortes Technologie etwa aus dem Griechischen oder Indoeuropäischen betonen den Prozesscharakter des Wortes, der die Kunst des Herstellens bezeichnete (vgl. Hughes 2004). Dass es dennoch für notwendig erachtet wird, den sozialen Aspekt der Technik explizit zu machen, hängt mit dem heute als technischen Determinismus erachteten Blickwinkel zusammen, der die Entwicklung der Technik ‚objektivistisch‘ als einen aus ihr selbst heraus entstehenden Prozess betrachtet (vgl. Mayntz/Schneider 1995:75). Zur Abgrenzung von der Gleichstellung von Technik und technischen Artefakten wurde in einer Analyse des Kohlebergbaus der Begriff des soziotechnischen Systems geprägt, die zeigte, dass nicht die Technik allein die Organisation der Arbeit bestimmte, sondern vielmehr kulturelle, soziale und politische Faktoren auch eine wichtige Rolle spielten (vgl. Mayntz 2008). Dieser Begriff wurde weiter durch die sich in einem Gegensatz zu Technikdeterministen positionierenden Sozialkonstruktivisten populär. Diese übertrugen die in der Wissenschaftsforschung vergleichsweise innovative Erkenntnis, dass auch in der Wissenschaft bis dahin als
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
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objektiv feststehend wahrgenommene Fakten sozial konstruiert seien, auf die Technik (vgl. Bijker/Pinch 1984). Die Frage, wie das Soziale und das Technische in seinen vielfältigen Verflechtungen wissenschaftlich zu erfassen sei und wie die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Technikentwicklung zu ermessen seien, ist bis heute Thema einer angeregten Diskussion (vgl. z. B. Farías 2010). Dabei wird z. T. die sozialkonstruktivistische Sicht heute als zu kurz greifend gesehen, da sie bei ihrer Konzentration auf die soziale Konstruktion technischer Artefakte die Auswirkungen von Technik auf die Gesellschaft aus dem Blick verlieren (vgl. Dolata/Werle 2007). Der Blickwinkel soziotechnischer Systemansätze nimmt eben diesen Aspekt auf, wobei davon ausgegangen wird, dass technische Strukturen „einen über lange Zeit wirksamen und prägenden Einfluss auf soziales Handeln und soziale Strukturen ausüben“ (ebd.: 18). Diese systemorientierte Sichtweise ist eine Fortentwicklung sozialkonstruktivistischer Ansätze (Summerton 1994). Die Untersuchung des urbanen Abwasserentsorgungssystems Hanois folgt einer Sichtweise auf technische Infrastrukturen als soziotechnische Systeme. Das eingangs erwähnte Adjektiv ‚soziotechnisch‘ wird hier verwendet, und zwar in Abgrenzung zum Adjektiv ‚technisch‘ allein, das hier die Betonung technischer Artefakte, Materialflüsse oder Verfahren anzeigt. In diesen ist das Soziale zwar vorhanden, es liegt jedoch außerhalb des jeweiligen Fokus. 2.2. ANALYSEN TECHNISCHER INFRASTRUKTUREN ALS GROSSTECHNISCHE SYSTEME Im Folgenden wird die Erforschung technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme mit einem Schwerpunkt auf den Arbeiten von Hughes und Mayntz vorgestellt. Diese Diskurse vernachlässigen räumliche Aspekte bis auf einige wenige Erwähnungen (vgl. Monstadt 2007:10). Sie bieten dennoch einen nützlichen Zugang für raum- und planungswissenschaftliche Studien zur Erklärung der Prägung von Infrastruktursystemen sowohl durch technische als auch durch soziale Aspekte (ibid.). Es ist zu klären, inwiefern diese Analytiken anzuwenden sind auf den hier im Fokus stehenden räumlichen Kontext. 2.2.1. Großtechnische Systeme: begriffliche Abgrenzung und Merkmale Der inflationäre Gebrauch des Begriffs großtechnischer Systeme zur Analyse von technischen Systemen weist auf die Schwierigkeit der definitorischen Abgrenzung dieses Begriffs hin (vgl. Mayntz/Schneider 1995:73). Diese Schwierigkeit greift zunächst Joerges auf und schlägt folgende Definition vor, die jedenfalls die Unterscheidung großtechnischer Systeme von anderen technischen Systemen erlaubt: „those complex and heterogeneous systems of physical structures and complex machineries which (1) are materially integrated, or „coupled“ over large spans of space and time, quite irrespective of their particular cultural, political, economic and corporate make-up, and (2)
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2. Konzeptionelle Grundlegung support or sustain the functioning of very large numbers of other technical systems, whose organizations they thereby link” (Joerges 1988:24).
Zugrunde legt er also die Kriterien der Heterogenität, der Komplexität, der Größen der Spannen von Zeit und Raum und die Menge der Verbindungen zu anderen soziotechnischen Systemen, ohne dass diese absolut zu definieren seien. Mayntz et al. gleichen sich in ihrer Definition des großtechnischen Systems Hughes und Joerges an, auf die sie sich auch explizit beziehen. Dabei wird der Begriff großtechnisches System definiert als „zur dauerhaften Erfüllung eines spezifischen Zwecks weiträumig verbundene Netzwerke heterogener technischer und sozialer Komponenten.“ (Mayntz/Schneider 1995:73). Nach Monstadt (2007:11ff) sind die Merkmale großtechnischer Systeme über die oben bereits erläuterten Wechselwirkungen sozialer und technischer Komponenten hinaus wie folgt zusammenzufassen: großtechnische Infrastruktursysteme erfüllen grundlegende Infrastrukturfunktionen, sie sind weiträumig vernetzt, sie haben eine hohe Kapitalintensität, sie sind pfadabhängig und sie sind u. a. aufgrund ihres Störpotentials staatsnah organisiert. Die entsprechenden Merkmale dieser Systeme werden hier aufgeführt, wobei das Augenmerk schon im Voraus darauf gerichtet werden soll, dass diese sich auf Systeme moderner Gesellschaften oder Industrieländer beziehen und dass diese Beschreibung der Merkmale vor dem Hintergrund des Anliegens vorgenommen wird, zu ermitteln, inwiefern sie auch im globalen Süden gültig sind. Die Erfüllung von grundlegenden Funktionen Großtechnische Infrastruktursysteme sind darauf ausgerichtet, für die Gesellschaft grundlegende Funktionen zu erfüllen (Monstadt 2007:11). Durch Transport, Speicherung und Umwandlung von Stoffen und Energie sollen menschliche Bedürfnisse erfüllt werden und spezifische Aktivitäten werden durch technische Infrastruktursysteme erst ermöglicht, sie sind also Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke (vgl. Mai 2004:58). Wie Monstadt (2007) weiter ausführt, kann es sich dabei wie im Rahmen der Trinkwasserversorgung um die Erbringung lebensnotwendiger Leistungen handeln, oder wie bei der Telekommunikation und dem motorisierten Verkehr um Leistungen, die im Laufe ihrer technischen Entwicklung zu grundlegenden Bedürfnissen wurden. Aus diesem Grunde bezeichnet etwa Mai technische Infrastrukturen als die „Achillesfersen“ jeder Gesellschaft (Mai 2004:58f). Weiträumige Vernetzung Die Definition von Infrastruktursystemen als Netzwerke, die soziale und technische Komponenten verbinden, beinhaltet eine räumliche Dimension. Diese steht allerdings bei Mayntz und Schneider am Rande der Untersuchung. Der Aspekt der räumlichen Betrachtungsebene wird zwar mit dem Adverb weiträumig erwähnt, jedoch nicht weiter thematisiert oder genauer definiert. Es zeigt sich implizit, dass der Interessenschwerpunkt sowohl von Hughes als auch Mayntz und Schneider bei der Betrachtung von Elektrizitätsnetzen sowie Verkehrs- und Telekommunikationssystemen nicht in der stadträumlichen Ebene sondern in „national, ja transnational ausgelegte[n] Netzwerke[n]“ (Mayntz/Schneider 1995:78) liegt – die es in der Ab-
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
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wasserentsorgung aufgrund der Spezifik des Wassers nicht gibt. Netzwerke, die Trinkwasser oder Abwasser transportieren, sind in der Regel nicht national oder gar transnational ausgelegt, sondern beschränken sich in ihrer räumlichen Ausdehnung auf Stadtregionen. Monstadt weist darauf hin, dass jedoch auch Abwasserentsorgungssysteme als weiträumig vernetzt gelten können, selbst wenn auch das physische Netzwerk sich auf eine urbane Agglomeration beschränkt. Dies ist damit begründet, dass die sozialen Systemkomponenten, wie etwa Qualitätsstandards, in ihrer Vernetzung deutlich über einzelne urbane Agglomerationen hinausgehen und damit weiträumig sind (vgl. Monstadt 2007:11). Es bleibt festzuhalten, dass die räumliche Ebene der Stadt gegenüber der Ebene der Nation oder noch größerer Raumeinheiten in den Hintergrund triff und generell nicht der Kern des Interesses der Erforschung technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme ist. Pfadabhängigkeit In der Erforschung großtechnischer Systeme zeigt sich eine übereinstimmende Sicht auf das Merkmal der Pfadabhängigkeit, oder das Beharrungsvermögen soziotechnischer Systeme (vgl. Monstadt 2007; Hommels 2010). Mayntz und Schneider bezeichnen etwa technische Infrastruktursysteme als „auf Dauer gestellt“ (1995:75), Mai spricht von einer „relativen Gestaltungsresistenz“ dieser Systeme (2004:61). Hughes erläutert den Aspekt der dauerhaften Ausrichtung eines großtechnischen Systems im Zuge seines Konzeptes des Momentum soziotechnischer Systeme genau, wobei er darauf hinweist, dass dieses den falschen Eindruck vermitteln könne, der Entwicklungspfad großtechnischer Systeme sei unabänderlich vorgezeichnet (vgl. Hughes 2009:149). Während der Aspekt des Momentums großtechnischer Infrastruktursysteme unten (Kap. 2.2.2) im Zuge der Untersuchung der Konzeption von Hughes genauer erläutert wird, sei hier darauf hinzuweisen, dass das Beharrungsvermögen sich zum Teil auf die hohe Kapitalintensität und die damit verbundene lange Amortisationsdauer technischer Artefakte zurückführen lässt. So spricht etwa Mai von der „Prägung durch das Artefakt“, die einen kurzfristigen Umbau bestehender Systeme nicht zulässt (Mai 2004:59). Wie u. a. von Monstadt (2007:13) erläutert, nimmt die Amortisation von in technische Artefakte und physische Netzwerke getätigten Investitionen in der Regel mehrere Jahrzehnte in Anspruch. Aus dem Blickwinkel der Wirtschaftlichkeit geht hiermit eine entsprechend lange zur Amortisation notwendige Betriebsdauer einmal errichteter Systeme einher. Staatsnähe Mayntz und Schneider untersuchen technische Infrastruktursysteme als staatsnahe Sektoren, da sie sowohl öffentlich als auch privat organisierbar sind (Mayntz/ Schneider 1995:74). Monstadt erläutert darüber hinaus die vorzufindende Form der Organisation technischer Infrastruktursysteme im europäischen Raum, die sich aufgrund des hohen Störpotentials und der großen Bedeutung für die Nationen in dem Sinne als staatsnahe Sektoren entwickelten, dass staatliche Einrichtungen ein hohes Maß an „ordnungs- und strukturpolitischer Verantwortung“ übernahmen (Monstadt 2007:15).
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2. Konzeptionelle Grundlegung
Zudem besteht unabhängig von der jeweiligen Weltregion ein enger Zusammenhang zwischen der Sicht auf die Organisation technischer Infrastruktursysteme und dem gesamtgesellschaftlichen Verständnis des Staates und seiner Beziehung zur Gesellschaft (vgl. Mayntz 1993). So zeigt etwa van Laak auf, dass der Wandel im Verständnis technischer Infrastruktursysteme mit einem Wandel des Staatsverständnisses einhergeht (van Laak 2004). Infrastrukturen wurden in Analysen bis in die 1960er Jahre hinein v. a. als technische Vorrichtungen zur Ver- und Entsorgung betrachtet, als apolitische Basis einer homogenen, transparenten und wohlhabenden Gesellschaft. Diese Sichtweise spiegelte das allgemeine Verständnis des Staates wider, der als eine zentrale und rationale Einheit gesehen wurde, der die gesellschaftliche Entwicklung Sachzwängen folgend steuert, mittels Anwendung wissenschaftlicher Normen und Standards (vgl. ebd.:26). Heute hingegen ist zwar der Bedarf des Einsatzes staatlicher Einrichtungen in der Gestaltung technischer Infrastruktursysteme nicht umstritten. Welche Möglichkeiten hierzu bestehen und wie diese am besten auszuschöpfen seien, wird allerdings im Lichte einer Sicht auf staatliche Einrichtungen, die sich Gestaltungskompetenzen zudem mit gesellschaftlichen Akteuren teilen müssen (Mai 2004:66), teilweise widersprüchlich diskutiert. 2.2.2. Die Evolution großtechnischer Systeme Thomas Hughes war einer der ersten, die sich über die in den 1960er und 1970er Jahren bereits weiter verbreitete Betrachtung des Einflusses von Technik auf die Gesellschaft hinaus für den Einfluss der Gesellschaft auf die Technikentwicklung interessierten – nämlich ihre soziale Konstruktion (Hughes 1983). So kann auch der Titel seines Werks Networks of Power (1983) in einem doppelten Sinne verstanden werden – es geht um die soziotechnischen Netzwerke der Versorgung mit Strom und im selben Zuge um die Strukturen der Macht, in die „factors, events, institutions, men, and women“ verwoben sind, die zur Etablierung des Stromnetzes gehören (Hughes 1983:x). Im Rahmen dieser Arbeit sind seine auf die westliche Welt bezogenen, aber auch im globalen Süden zum Teil gültigen Konzepte zur Strukturierung des Verständnisses der Technikentwicklung von Bedeutung sowie die große Bedeutung, die er den menschlichen Akteuren zumisst. Hughes stellt in seiner Analyse der historischen Entwicklung großtechnischer Infrastruktursysteme zunächst die Akteure, die für die jeweiligen Entwicklungsschritte von Bedeutung sind, ins Zentrum (Hughes 1987). Anhand seiner Typisierung der jeweils für die Entwicklung des Systems bedeutenden Akteure lassen sich wiederum die Entwicklungsphasen unterscheiden, denen Schlüsselkonzepte zuzuordnen sind. Wie von Joerges ausgeführt, lässt sich durchaus über die in dieser Analyse herausragende Stellung der jeweiligen „system builders“, streiten, deren Darstellung zum Teil als verherrlichend wahrgenommen wird. In den Augen von Joerges jedoch ist dies als Strategie zu sehen, die es erlaubt zu beschreiben, wie bestimmte Technologien sich durchsetzen und andere nicht und dies dennoch nicht nur aus der Technologie heraus zu begründen, sondern auch aus den Akteuren (Joerges 1988:12).
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
43
Mit dieser Darstellung der akteursbasierten Entwicklungsphasen geht eine kausale Analyse der Eigenschaften großtechnischer Systeme einher, die sich unter den Schlüsselkonzepten des „technological style“, des „Auslastungsfaktors“, der „reverse salients“, des „battle of the systems“ und des „Momentums“ zusammenfassen lassen (vgl. Hughes 1987, Tabelle 1). Da diese Konzepte für das Verständnis der Entwicklung technischer Systeme aufschlussreich sind und sie die sozialwissenschaftliche Technikforschung nachhaltig geprägt haben, sollen sie hier in ihrer Bedeutung für diese Arbeit dargestellt werden. Tabelle 1: Phasen, Akteure und Konzepte der Technikentwicklung nach Hughes 1987 Phase
Entwicklungsschritte
1
Invention (radical) Development Innovation
2
Transfer
3
Growth Competition Consolidation
Zentraler Akteurstyp
Schlüsselkonzept
Inventor-entrepreneur
Technological Style Manager-entrepreneur Financier-entrepreneur
Load Factor Reverse Salient Battle of the systems Momentum
Zunächst gehört der „technological style“ von technischen Infrastruktursystemen zu den Schlüsselkonzepten von Hughes. Mit Blick auf den globalen Süden ist zunächst die damit assoziierte Phase des Transfers zu diskutieren. Während der „internationale Technologietransfer“ in der Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten ein gängiger Begriff war (vgl. z. B. Tudyka 1989), weisen Studien vor allem aus dem Bereich der postkolonialen Forschung darauf hin, dass das Konzept des Transfers mit seiner unidirektionalen Ausrichtung die Wirklichkeit in zu verkürzter Weise wiedergibt (vgl. Anderson 2002; Kap. 2.3.1). Wie oben erläutert, stehen die der industriellen Revolution folgende Entwicklung großtechnischer Infrastruktursysteme und der Imperialismus als gegenseitige Bedingungen in einem direkten Zusammenhang (vgl. van Laak 2004). Technologieentwicklung fand also innerhalb komplexer Wechselbeziehungen zwischen den Weltregionen statt. Die Konzeptualisierung des Transfers von Hughes ist dennoch insofern von Interesse, als dass mit dem Transfer technischer Systeme die Übertragung seiner organisatorischen Komponenten einhergeht (Hughes 1987:67f). Technische und organisatorische Komponenten werden in lokale Kontexte übertragen, wobei lokale Aneignung und Kreativität zu der Entstehung regionaler technological styles führen (ebd.). Dieser Begriff des technological style fußt auf der Beobachtung, dass die gleiche Technologie in ihrer lokalen Anwendung verschiedenste Formen annehmen kann, sowohl im Hinblick auf die technische Gestaltung als auch auf die soziale Organisation der Produktion und die Regelung (Hughes 1979). Es wird explizit darauf hingewiesen, dass es keine ideale Technologie gibt. Ihre Entwicklung ist vielmehr von lokalen – und vor allem städtischen – Bedingungen geleitet (vgl. auch Monstadt 2009:1929).
44
2. Konzeptionelle Grundlegung
Ist ein System erst auf dem Wachstumspfad, so scheint sein Weg zwar vorgezeichnet – tatsächlich kann es von diesem jedoch wieder abkommen. Um diese Möglichkeit zu erfassen, wendet Hughes den Begriff der „reverse salients“ auf seine Analyse der Evolution großtechnischer Systeme an. Dieser Begriff beschreibt in der Militärsprache einen zurückfallenden Frontabschnitt und betont die Komplexität der Situationen, die dazu führen, dass ein System sich nicht weiter ausdehnt, sondern Gefahr läuft, durch ein anderes ersetzt zu werden (Hughes 1983:79). Reverse salients treten auf, wenn einzelne Komponenten des auf dem Weg zur Konsolidierung befindlichen Systems nicht mit der Entwicklung der anderen Komponenten Schritt halten. Wie von Joerges ausgeführt, erfordern sie die Identifikation und Lösung kritischer Probleme und damit eine immerwährende Notwendigkeit von Erfindungstätigkeit auch in den Phasen des Systems, in denen manager-entrepreneurs im Vordergrund stehen (Joerges 1988). Die Suche nach Lösungsmöglichkeiten kritischer Probleme kann dazu führen, dass das wachsende System sein Momentum (s.u.) bewahrt und sich weiter konsolidiert. Im anderen Falle eines radical problem führt die Suche nach Lösungsmöglichkeiten dazu, dass ein neues System erfunden wird und in den Vordergrund tritt, so dass es zu einem „battle of the systems“, einem Wettstreit der Systeme kommt (Hughes 1987:75). Hughes führt aus, dass dieser Wettstreit nicht mit einem Sieger und einem Besiegten enden muss, sondern auch mit „the invention of devices making possible the interconnection of the two systems“ ausgehen kann (Hughes 2012:61). In der Analyse technischer Systeme von zentraler Bedeutung ist das Konzept des Momentums (Hughes 1983:140ff). Dieses beschreibt, wie soziotechnische Systeme ab einer bestimmten Größe eine Trägheit bekommen, die die Entwicklungsrichtung vorgezeichnet erscheinen lässt und diese nur schwer änderbar wird. Durch ihre schiere Größe und vielfältige Vernetztheit mit sozialen Institutionen sowie ihrer raschen Ausdehnung vermitteln diese Systeme, wenn sie Momentum gewinnen, den Eindruck der Autonomie. „Men and institutions developed characteristics that suited them to the characteristics of the technology. And the systematic interaction of men, ideas, and institutions, both technical and nontechnical, lead to the development of a supersystem – a sociotechnical one – with mass movement and direction.” (Hughes 1983:140)
Hughes beschreibt, wie sich eine Anpassung von Menschen und Institutionen an die Technik vollzieht, so dass es naheliegend scheint, diesen großtechnischen Systemen selbst „deterministic power“ zuzuschreiben (Joerges 1988:14). Der Begriff des Momentums umschreibt, wie konsolidierte großtechnische Systeme aufgrund ihrer Masse im Hinblick auf ihr stets wechselseitiges Verhältnis mit der Gesellschaft eher dazu neigen, diese zu formen und nicht mehr, wie noch in den früheren Phasen, umgekehrt (Hughes 2009). Im Hinblick auf die Entwicklung neuer Technologien macht der Begriff des Momentums deutlich, welchen enormen Aufwand deren Durchsetzung bedeuten kann. Gleichzeitig weist Hughes jedoch darauf hin, dass dieses Momentum nicht bedeutet, dass die Gesellschaft der jeweils verbreiteten Technologie ausgeliefert wäre – auch das größte Beharrungsvermögen ist nicht „irresistible“ (ebd.:149).
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
45
2.2.3. Die Dimensionen großtechnischer Infrastruktursysteme Mayntz et al.1 kommt es in ihrer Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme auf die Ermittlung des genauen Verhältnisses zwischen den sozialen und technischen Komponenten des Systems an. Aus einer planungswissenschaftlichen Sicht heraus ist dieser Ansatz deshalb interessant, weil er sich mit den Optionen und Restriktionen der Steuerung der Entwicklung technischer Infrastruktursysteme beschäftigt. Eine über die rückblickende Analyse historischer Vorgänge hinausgehende Untersuchung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflussnahme auf aktuelle Entwicklungen und die spezifische Rolle des Staates findet in dieser Analytik konzeptuelle Anknüpfungspunkte. Die Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme von Mayntz et al. wird hier im Hinblick auf ihre Merkmale und konzeptionellen Grundlagen hin untersucht. Dabei geht es an dieser Stelle nicht in erster Linie um die Darstellung der genauen Ausprägungen der vorgebrachten analytischen Dimensionen. Diese wurden zwar in Bezug auf verschiedene großtechnische Infrastruktursysteme untersucht, beziehen sich jedoch vorrangig auf die westliche Welt. Vielmehr wird erläutert, aufgrund welcher Überlegungen diese Dimensionen entwickelt wurden und welche Merkmale sie haben. Dies geschieht vorbereitend auf Kapitel 2.4, in dem die Ausprägungen dieser Dimensionen im Bereich der Abwasserentsorgungssysteme in urbanen Räumen des globalen Südens aufgrund einer sekundärempirischen Studie vorgestellt werden. Auf dieser Basis werden die Anwendbarkeit und die Aussagekraft dieser Dimensionen geprüft. Der Kern der Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme nach Mayntz et al. ist die Ermittlung der genauen Beziehung zwischen sozialen und technischen Komponenten des Systems, die zwar eng miteinander verknüpft, aber doch analytisch unterscheidbar sind (Mayntz/Scharpf 1995:88). Aus der Forschungsheuristik des „akteurszentrierten Institutionalismus“ und des dort eingenommenen Blickwinkels auf das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft heraus wurden drei Dimensionen entwickelt: die Technikstruktur, ökonomische Leistungsstruktur und politische Regelungsstruktur (vgl. Mayntz/Schneider 1995). Bevor unten auf die zugrunde liegende Analytik des Zusammenspiels von Staat und Gesellschaft in staatsnahen Sektoren und ihre Anwendbarkeit im globalen Süden eingegangen wird, werden in diesem Abschnitt die analytischen Dimensionen des soziotechnischen Infrastruktursystems diskutiert. Im Hinblick auf die Technik weist die Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme von Mayntz und Schneider eine gewisse Nähe zur Sichtweise von Dean (1999:31) auf, der technische Mittel in Anlehnung an Deleuze als bestimmte Weisen des Handelns, Eingreifens und Lenkens sieht, die auf eindeutigen Mechanismen beruhen und die Grenzen für die Möglichkeiten des Handelns festlegen. Technik ist also als Möglichkeitsraum zu begreifen, der den sozialen Prozess der Entscheidung individueller Akteure für den Einsatz spezifischer Technologien begrenzt. 1
Der folgende Abschnitt bezieht sich in seiner Darstellung der analytischen Dimensionen großtechnischer Infrastruktursysteme hauptsächlich auf die Arbeiten von Mayntz/Schneider 1995; Mayntz/Scharpf 1995; Mayntz 2008.
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2. Konzeptionelle Grundlegung „Die möglichen Entwicklungsrichtungen beziehungsweise -Räume sind dabei zunächst wissenschaftlich-technisch, das heißt objektiv definiert; daß (sic!) sich verschiedene Wege anbieten, hängt mit der häufigen Existenz alternativer technischer Möglichkeiten zusammen […].“ (Mayntz/Schneider 1995:76)
Damit nehmen Mayntz et al. Stellung in der Debatte um die soziale Konstruktion von wissenschaftlichen Fakten und technischen Artefakten. Sie sehen die (natur-) wissenschaftliche Grundlage von Techniken als objektive Basis für die – als sozialen Prozess betrachtete – Auswahl technischer Varianten. Wenn der Begriff der Objektivität auch im Hinblick auf die den technischen Entwicklungen im Europa des 20. Jahrhundert zugrunde liegenden Naturwissenschaften strittig ist, so ist doch die Sichtweise von Technik als Möglichkeitsraum aufschlussreich, der das Handeln sozialer Akteure mit divergierenden Handlungszielen strukturiert, die individuell rationale Entscheidungen treffen (ebd.:82). Sie stimmen hier mit Heidegger überein, der als einer der ersten darauf hinwies, dass die technische Entwicklung nicht als Lösung für von vorn herein in der Gesellschaft bestehende Probleme zu sehen ist, sondern die Notwendigkeit technischer Entwicklung sich aus dem Blick aus der Technik selbst heraus erst ergibt und dass technische Innovationen folglich Lösungen ihrer selbst konstruierten Probleme anbieten (vgl. Heidegger 1982). Auch Hughes und Koskull (1991:63) weisen darauf hin, dass Erfinder auf zu lösende Probleme aufgrund ingenieurwissenschaftlicher Überlegungen kommen und nicht aufgrund externer Faktoren. Den auf diese Weise (sozial) konstruierten technischen Artefakten wird eine absichtsvolle Erzeugung und dauerhafte Zwecksetzung zugesprochen, die sie von sozialen Institutionen, die z. T. auch spontan entstehen können, unterscheiden (Mayntz/Schneider 1995:76). Als zugehörig zur Technikstruktur werden in diesem Rahmen bauliche Artefakte sowie die durch sie gesteuerten chemischen, physikalischen und biologischen Transformationsprozesse betrachtet. Die Unterscheidung zwischen Leistungsstruktur und politischer Regelungsstruktur berührt den Kern der Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme nach Mayntz, die aus ihrer Analyse der Dynamiken staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregelung hervorgeht. Die Kombination der Theorie großtechnischer Infrastruktursysteme und der Governancetheorie ist nützlich, um die Transformation technischer Infrastrukturen und die Rolle, die Technologie und technische Innovationen im Prozess der Transformation spielen, nachzuvollziehen (Mayntz 2008:18). Im Zuge dieses Ansatzes nimmt sie eine Unterscheidung zwischen der institutionellen Struktur, nämlich der sozialen Organisation eines Sektors und der externen politischen Regelung dieses Sektors vor – was mit einer Spezifizierung des Begriffs der politischen Regelung einhergeht. Dieser meint die Regelung durch Institutionen verschiedener öffentlicher und privater Rechtsformen, die außerhalb des Sektors selbst stehen (Mayntz 2008:3/19). Die Unterscheidung zwischen Leistungsstruktur und Regelungsstruktur wird aufgrund der analysierten Fragmentierung staatlichen Handelns anstelle einer Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren bzw. Institutionen getroffen und ist funktionsbezogen. Die Leistungserbringung und die politische Regelung können durch staatliche und nicht-staatliche, kooperative Akteure erfolgen (Mayntz/Scharpf 1995:16). Die Merkmale der Leistungsstruktur werden wie folgt zusammengefasst:
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
47
„Theoretisch relevante Merkmale von Leistungsstrukturen sind etwa […] die Intensität des Wettbewerbs zwischen den Anbietern (atomistisch, oligopolistisch, kartellisiert, Domänenabgrenzung, Monopol), die Art der Leistungsfinanzierung auf der Aufbringungsseite (Marktpreise, freiwillige oder gesetzlich vorgeschriebene Versicherungsbeiträge, Gebühren, Steuern) und auf der Verwendungsseite (einzelleistungsbezogene- oder pauschalisierte Honorierung, Budgetierung) und schließlich die Art der Inanspruchnahme (kaufkraftabhängig-freiwillig, subventioniert-freiwillig, kostenlos-freiwillig, Zwangskonsum).“ (Mayntz/Scharpf 1995:17)
Aufgrund der Intensität des Wettbewerbs, der Art der Leistungsfinanzierung und der Art der Inanspruchnahme von Infrastrukturleistungen lassen sich also laut Mayntz und Scharpf Formen der Leistungserbringung unterscheiden. Es kann aufgrund der hier vorgestellten Merkmale der Leistungsstruktur bereits vorweggenommen werden, dass der Blick von Mayntz auf die stark gesetzlich regulierte Leistungserbringung technischer Infrastrukturen in der westlichen Welt konzentriert ist. Die dritte Analysedimension großtechnischer Infrastruktursysteme ist die der politischen Regelung. Hier wird der deutsche Begriff verwendet, da er im Gegensatz zum vielfach auch im Deutschen gebrauchten Begriff der Governance eine klarere Abgrenzung zum Begriff der Steuerung erlaubt (Mayntz 2004). Der Begriff der politischen Regelung, der weiter gefasst ist als der der Steuerung und diese als eine mögliche Variante einschließt, zeigt an, dass nicht davon ausgegangen wird, dass die Entwicklung staatsnaher Sektoren zentral zu steuern sei (Mayntz/Scharpf 1995:16). Dabei wird die politische Regelung als ein dynamischer Prozess gesehen, in dem gesellschaftliche und staatliche Akteure danach streben, bestehende strukturelle und institutionelle Arrangements zu kontrollieren oder zu ändern (Mayntz 2008:10). Unter Verwendung eines engen Institutionenbegriffs wird der Fokus auf solche staatliche und nicht-staatliche Institutionen und Akteure gelegt, die die Leistungsstruktur eines Sektors unter Einsatz spezifischer Instrumente, wie etwa „negativ sanktionierte Verhaltensgebote und -verbote, Verfahrens- und Organisationsregeln, materielle Anreize, Informations- und Überzeugungsstrategien“ absichtsvoll gestalten können (Mayntz/Scharpf 1995:19). Auch im Hinblick auf großtechnische Infrastruktursysteme ist lt. Mayntz und Schneider zunächst nicht davon auszugehen, dass deren Entwicklung zentral politisch gesteuert ist oder dass dies ihrem Staatsverständnis entsprechend möglich sei (Mayntz/Schneider 1995:81). Gleichzeitig ist die Entwicklung technischer Infrastrukturen nicht als ein selbstgesteuerter, quasi-evolutionärer Prozess zu betrachten; vielmehr wird er durch das Zusammenwirken kooperativer staatlicher und nicht-staatlicher Akteure geregelt (ebd. 77). Diese Sichtweise auf die Rollen von Staat und Gesellschaft wird im folgenden Unterkapitel (2.2.4) genauer erläutert. Wandlungstendenzen der Leistungserbringung und politischen Regelungsstruktur Im Fokus der mittels der analytischen Trennung der Dimensionen der Leistungsstruktur, politischen Regelungsstruktur und Technikstruktur strukturierten Untersuchung großtechnischer Infrastruktursysteme von Mayntz et al. steht die Analyse des Wandels dieser Systeme. Dabei geht es vor allem um den Wandel hin zu einer Liberalisierung und Privatisierung technischer Infrastruktursysteme. Dies ist ein in der Erforschung großtechnischer Infrastruktursysteme um die 2000er Jahre intensiv diskutierter Wandel (vgl. Coutard 1999; Dupuy 2008). Er zeichnete sich seit den
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2. Konzeptionelle Grundlegung
1970er Jahren weltweit ab, bis vor kurzem ein Trend zur Rekommunalisierung einsetzte (vgl. zur Rekommunalisierung: Bauer et al. 2012). Mayntz fasst den Wandel hin zur Liberalisierung als einen Wandel in der politischen Regelung auf, dessen Auswirkungen auf die Struktur Leistungserbringung und die Technikstruktur in ihrem Interesse stehen (vgl. Mayntz 2008). Der Begriff der Liberalisierung bezeichnet lt. Mayntz (2008:8) die Dekonzentration und funktionale Desintegration von Unternehmen. Auf diese Weise entstanden aus den in der westlichen Welt ehemals in Monopolen organisierten Versorgungsunternehmen Märkte, in denen spezialisierte Firmen miteinander in Konkurrenz treten. Diese Prozesse sind keinesfalls einheitlich oder alle Infrastruktursektoren übergreifend. Vielmehr zeigen sich Unterschiede zwischen Ver- und Entsorgungssektoren und in Bezug auf die Schritte der Sammlung (bzw. im Falle der technischen Versorgungsinfrastrukturen der Verteilung), des Transports und der Umwandlung (vgl. Tietz 2007). Der Begriff der Privatisierung meint „Veränderungen der wirtschaftlichen Tätigkeit des Staates durch eine stärkere Orientierung auf den privaten Sektor“ (Monstadt 2007:161). Aufgrund der ambivalenten Auswirkungen der Liberalisierung technischer Infrastruktursysteme weltweit geriet diese immer stärker in die Kritik (Mayntz 2008). Weltweit zeichnet sich in allen Infrastruktursektoren heute die gegenläufige Tendenz in Richtung einer Rekommunalisierung von Leistungen ab. Im Zuge diese Wandels bilden sich neue Formen der Organisation technischer Infrastrukturen heraus (vgl. Libbe/Hanke 2011:109). Ausmaß und Auswirkungen dieser Tendenzen unterscheiden sich je nach Infrastruktursektoren und räumlichen Kontext stark. Allgemein haben diese Wandlungstendenzen nicht zu einem Rückzug des Staates geführt, sondern gingen vielmehr mit einer Veränderung seiner Funktion einher (Mayntz 2008; Monstadt 2007). So ist ein Wandel im Staatsverständnis vor sich gegangen, der in der deutschsprachigen Debatte als Wandel vom Leistungsstaat zum Gewährleistungsstaat diskutiert wird (Nähere Erläuterungen finden sich z. B. bei Reichard 2004; Monstadt 2007). 2.2.4. Infrastruktursysteme zwischen Selbstregelung und Steuerung Die Annahmen in Bezug auf gesellschaftliche Selbstregelung und staatliche Steuerung technischer Infrastruktursysteme basieren auf politikwissenschaftlichen Diskursen zur Governance. Ihre Untersuchung dient der Beantwortung der Frage, inwiefern eine Analytik, die auf der Trennung von Leistungsstruktur und politischer Regelungsstruktur basiert, für die Untersuchung der Abwasserentsorgung Hanois aufschlussreich ist. Analytik und grundlegende Prämissen des akteurszentrierten Institutionalismus In politikwissenschaftlichen Diskursen zu Governance in Europa findet sich oftmals der etwas diffuse Hinweis auf die Einschränkung der Gültigkeit der jeweils vorgestellten Thesen auf „moderne Staaten“ oder „moderne Gesellschaften“, ohne dass näher definiert würde, welche Aussage genau nur in Bezug auf moderne Staaten aufgrund welcher Eigenschaft gültig ist (vgl. Egner/Terizakis 2005; Mayntz/
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
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Schneider 1995; Mayntz 1993a). Dies veranlasst zu einer genaueren Betrachtung der Debatten. Als Einstieg in die Diskussion werden hier drei von Mayntz und Scharpf in ihrer Forschungsheuristik des akteurszentrierten Institutionalismus formulierte grundlegende Prämissen in der Analytik der Beziehungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren in der Gestaltung der Gesellschaft vorgestellt (Mayntz/Scharpf 1995a). Zunächst ist dies die aus einer Erweiterung der traditionellen Steuerungstheorie entwickelte – mittlerweile aufgrund ihrer breiten Akzeptanz als solche zu bezeichnende – Feststellung, dass eine Konzeption des Staates als über der Gesellschaft stehendes einheitlich handelndes Steuerungszentrum die Wirklichkeit nicht zutreffend umschreibt. Staatliche Akteure müssen ihre „Gestaltungskompetenz“ vielmehr mit gesellschaftlichen Akteuren und Institutionen teilen (vgl. Mai 2004:66). Staatlichen Akteuren wird daher auch in Bezug auf die in der westlichen Welt traditionell staatsnah organisierten Infrastruktursektoren eine geringere Steuerungsfähigkeit zugeschrieben, als es noch in den 1960er Jahren der Fall war – die damalige Steuerungseuphorie ist verflogen (Mayntz 2004; van Laak 2004). Die zweite Prämisse ist, dass gesellschaftliche Akteure hingegen nicht allein als Steuerungsobjekte zu sehen sind, sondern Selbstregelungsfähigkeiten besitzen. Dies führt dazu, dass sich im Hinblick auf europäische Länder „[…] die steuerungsrelevanten Konstellationen in vielen gesellschaftlichen Regelungsfeldern eher als ‚Politiknetzwerke' charakterisieren [lassen], bei denen auf der staatlichen wie auf der gesellschaftlichen Seite Mehrheiten handlungsfähiger Akteure auftreten, zwischen denen auch ‚Querkoalitionen' keine Seltenheit sind.“ (Mayntz/Scharpf 1995:12)
Innerhalb dieser Politiknetzwerke werden Entscheidungen eher durch Verhandlungen als durch Hierarchien getroffen (Mayntz 1993a:45). Wie von Scharpf (1993) ausgeführt, befinden sich diese Interaktionsformen – Verhandlung und Hierarchie – jedoch in einem engen Zusammenhang, da es sich bei den Verhandlungen in den von ihm untersuchten Politiknetzwerken um „Verhandlungen im Schatten der Hierarchie“ handelt. Um das Spektrum der sozialen Handlungskoordination zu kategorisieren, wählen Mayntz und Scharpf die Interaktionsformen der einseitigen oder wechselseitigen Anpassung, der Verhandlung, der Abstimmung und der hierarchischen Entscheidung, denen jeweils unterschiedliche Grade der Autonomie beziehungsweise der kollektiven Handlungsfähigkeit der Akteure zugrunde liegen (Scharpf 2000:91). Basierend auf den oberen beiden Prämissen fußt der akteurszentrierte Institutionalismus auf einer Ablehnung von einem gänzlichen Steuerungspessimismus. Wenn der Steuerungsfähigkeit individueller und kollektiver Akteure auch enge Grenzen gesetzt sind, wird beiden dennoch zugetraut, gesellschaftliche Systeme zu gestalten: „Auch funktional differenzierte und transnational verflochtene moderne Gesellschaften sind in der Lage, ihr eigenes Geschick im Guten wie im Schlechten absichtsvoll zu beeinflussen.“ (Mayntz/Scharpf 1995:33)
Aus diesen beiden Prämissen, nämlich, dass staatliche Akteure nicht allein steuern, und dass gleichzeitig gesellschaftliche Akteure Steuerungsfähigkeit haben, leiten Mayntz et al. in ihrer Analyse staatsnaher Sektoren die Dimensionen der Leistungs-
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2. Konzeptionelle Grundlegung
und Regelungsstruktur ab, die sie in Bezug auf großtechnische Infrastruktursysteme um die Technikstruktur ergänzen (Kap. 2.2.3) Damit lenken sie die wissenschaftliche Aufmerksamkeit von einer Differenzierung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren auf die funktionsbezogene Differenzierung zwischen Leistungsstruktur und Regelungsstruktur, wobei zu beiden Dimensionen staatliche und nicht-staatliche Akteure gehören können (vgl. Mayntz/Scharpf 1995:16). Die in dieser Darstellung der Analytik von Mayntz reflektierten Erkenntnisse im Hinblick auf die Sichtweise von Staat und Gesellschaft finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in internationalen, zumeist englischsprachigen Debatten zur Governance wieder. Diese beziehen sich z. T. explizit auf urbane technische Infrastrukturen und z. T. auf andere Sektoren oder Politikfelder. Dieser Begriff ist zunächst nicht mit dem der ‚Steuerung‘ zu verwechseln, sondern gleicht vielmehr mit dem Begriff der ‚politischen Regelung‘, wenn er auch nicht identisch ist (vgl. Mayntz 2004/2008). ‚Governance‘ ist inzwischen zu einem Leitbegriff in Debatten verschiedener, v. a. sozialwissenschaftlicher Disziplinen geworden. Dabei lässt sich feststellen, dass die ihm zugeschriebene Bedeutung stark variiert und einen Wandel zu einer normativen Deutung durchlaufen hat. Damit eng verwoben ist die zweite Beobachtung, dass seine verbreitete Nutzung in unterschiedlichen Kontexten zu einer Unschärfe geführt hat, die eine Analyse der gesellschaftlichen Regelungsdynamiken – nicht nur im Bereich der Infrastrukturversorgung – erschwert. Anhand der von Mayntz und Scharpf entwickelten Begriffstrennung zwischen Leistungsstruktur und politischer Regelung, so die Argumentation, kann Klarheit zurückgewonnen werden. Die Steuerungsfähigkeit des Staates In der Einschätzung der Steuerungsfähigkeit des Staates besteht zunächst weitgehender Konsens dahingehend, dass der Staat nicht nur nicht als eindeutig im Sinne eines öffentlichen Interesses handelnd gesehen wird, sondern überhaupt nicht als ein eindeutig in eine Richtung handelnder Akteur zu konzipieren ist. Vielmehr versammeln sich nur teilweise hierarchisch miteinander verbundene Akteure in Ämtern, Behörden und der Legislative der unterschiedlichen Ebenen des Staates, die jeweils eigene Interessen verfolgen und bei denen nicht davon auszugehen ist, dass sie stets komplett über die Interessen und Ziele der anderen Akteure informiert sind (vgl. Mayntz 2004; Mayntz/Scharpf 1995; Migdal 2007; Kooy/Bakker 2008; Li 2007; Hossain 2011). Insofern spricht etwa Mayntz (2004) nicht vom Staat, sondern von staatlichen Akteuren. Die Etablierung dieser Sicht auf den Staat beschränkt sich weder auf bestimmte Nationen noch auf Regionen des globalen Südens oder der westlichen Welt. So beschreibt etwa Migdal (2007:22) den Staat als eine „contradictory entity that acts against itself.“ Li (2007:9) weist in ihrer Analyse von Programmen zum Ausbau von grundlegenden Infrastrukturen in Indonesien auf die “diverse finalities“ staatlicher Akteure hin, die offenbar kein eindeutiges Ziel verfolgen. In Bezug auf vielfältige Formen der Wasserversorgung in Dhaka, Bangladesch erläutert Hossain (2011:284) die zwischen Staatsverwaltung, politischen Entscheidungsträger_innen, lokalen Behörden und den öffentlichen Ver- und Entsorgungsunternehmen, die auf Kosten des öffentlichen Interesses
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
51
gehen. Über die Analyse der eingeschränkten Steuerungsfähigkeit staatlicher Akteure hinaus weist Migdal darauf hin, dass diese Realität der verbreiteten Auffassung der Rolle des Staates zuwiderläuft. Dieser wird von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren vielfach weiterhin als eindeutig in eine Richtung handelnde Einheit, dessen zentrale Politiken unmittelbar auf der lokalen Ebene umgesetzt werden, konzeptualisiert (vgl. Migdal 2007). Die alltäglichen Praktiken staatlicher Akteure hingegen sind geprägt durch Allianzen und Koalitionen zwischen Teilen des Staates und mit Gruppen außerhalb, bei denen Regelungen entwickelt werden, die nicht den formellen Gesetzen und Politiken entsprechen müssen. Die Abweichung zwischen Auffassung vom Staat als einheitlich agierender Akteur und alltäglichen Praktiken ist laut Migdal (2007) selbst von Bedeutung für die Regelungsdynamiken in verschiedenen Politikfeldern. Die Fähigkeit von Akteuren zur Gestaltung von Infrastrukturen Mit der Feststellung, dass der Staat nicht als zentrale Steuerungsinstanz gesehen werden kann, rückt die Frage ins Zentrum des Interesses, wie gesellschaftliche Regelungsprozesse auch in Bezug auf die Versorgung mit grundlegenden Leistungen zu charakterisieren und zu beeinflussen seien und inwiefern tatsächlich von einer kollektiven Handlungsfähigkeit im Sinne von Mayntz und Scharpf (1995a) gesprochen werden kann. Weltweit schlug sich die „Enttäuschung über die Unfähigkeit des Staates“ (Mayntz 1997:265) in einem veränderten Verständnis der Planung von Raum und technischen Infrastrukturen nieder. Diese wurde nicht länger als Aufgabe eines zentralen isolierten Staates gesehen, der lediglich eine ausreichende Datenmenge braucht, um ein optimales Ergebnis zu erzielen, sondern vielmehr als kommunikativer und teilweise kontingenter Prozess (vgl. Harrison 2006). Die gesamte Staatsdiskussion wandte sich ab von der Frage, wie der Staat seine Ziele effizienter durchsetzen könne, hin zu der Forderung nach Dezentralisierung und kooperativer Entscheidungsfindung zur Konsensbildung (Mayntz 1997). Diese Debatte prägte die Planungswissenschaften entscheidend und wirkte sich auch auf ingenieurwissenschaftliche Konzepte zur Versorgung von Bevölkerungsgruppen mit grundlegenden Infrastrukturleistungen aus (vgl. in Bezug auf den Abwassersektor Kap. 2.4). Diese Entwicklung der Politik hin zur „Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure“ (Egner/ Terizakis 2005:81) wird heute sowohl in der westlichen Welt als auch im globalen Süden als Ziel gesetzt. Diese normative Ausrichtung beeinflusst in Teilen auch die wissenschaftliche Debatte, in der Governance dann programmatisch mit good governance gleichgesetzt wird – im Sinne einer solchen Beziehung zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die auch in der Versorgung von Bevölkerungsgruppen mit grundlegenden Infrastrukturleistungen die Entwicklung lokaler Kapazitäten und dezentrales Management fördert (vgl. Kazancigil 1998; Weltbank 2000). Die entsprechende Forderung nach der Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure in einem kooperativen, auf Verhandlungen beruhenden Entscheidungsprozess leuchtet auf den ersten Blick aufgrund der offenbar weltweit begrenzten Steuerungsfähigkeit des Staates ein. Bei genauerem Hinsehen tritt hier jedoch eine Verzerrung zutage, die Mayntz (2004) etwa als „Problemlösungsbias“
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2. Konzeptionelle Grundlegung
bezeichnet und die aus einem implizit an der europäischen Tradition orientierten Staatsverständnis herrührt (vgl. auch Kooy/Bakker 2008). So wird zwar die begrenzte Steuerungsfähigkeit des Staates zumindest oberflächlich akzeptiert, es wird jedoch noch immer davon ausgegangen, dass sowohl staatliches als auch gesellschaftliches Handeln auf die Lösung kollektiver Probleme zur Steigerung des Gemeinwohls gerichtet ist und sich in einem partizipativen Prozess entsprechende Institutionen etablieren (vgl. Rosenau 1992:5). Wie u. a. von Mayntz (2004) festgestellt, ist die Analyse der Handlungsfähigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Akteure in der Erbringung grundlegender Leistungen verzerrt, wenn von vorn herein davon ausgegangen wird, dass staatliche Steuerung und gesellschaftliche Selbstregelung auf die Lösung kollektiver Probleme orientiert sind. Vielmehr muss die Möglichkeit einbezogen werden, dass sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure Partikularinteressen vertreten, deren Umsetzung dem Gemeinwohl entgegenstehen kann. Dies kann in der Versorgung von Bevölkerungen mit Lebensnotwendigkeiten zu drastischen Benachteiligungen bestimmter Bevölkerungsgruppen führen (vgl. van Laak 2004; Gandy 2006). In diesem Sinne gilt es also, die Gestaltungspotenzial gesellschaftlicher und staatlicher Akteure und spezifische Regelungsstrukturen und Interaktionsformen, die die Erbringung grundlegender Infrastrukturleistungen prägen, genauer zu untersuchen. Erst aufgrund einer Analyse der Beziehung staatlicher und gesellschaftlicher Akteure und ihrer Interessenlagen und Einflussmöglichkeiten können Empfehlungen hinsichtlich ihrer Optimierung in der Regelung und Erbringung von grundlegenden und z. T. lebensnotwendigen Infrastrukturleistungen ausgesprochen werden. 2.2.5. Folgerungen für die Analyse großtechnischer Infrastruktursysteme Das vorrangige Ziel dieser Analyse der Dimensionen großtechnischer Infrastruktursysteme und des Verständnisses gesellschaftlicher Selbstregelung und staatlicher Steuerung ist die Beantwortung der Frage, inwieweit diese Analytik mit der Unterscheidung von Technik-, Leistungs- und Regelungsstruktur auch für die urbane Abwasserentsorgung in Ländern des globalen Südens und damit auch Hanoi aufschlussreich ist. Diese Untersuchung zeigt zunächst, dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure Gestaltungsfähigkeiten haben können und der Staat allein begrenzte Steuerungsfähigkeiten besitzt. Dies gilt in dieser allgemeinen Form nicht allein für Regionen Europas und Nordamerikas. Damit ist zunächst davon auszugehen, dass die analytische Unterscheidung in Leistungsstruktur und Regelungsstruktur anstelle einer Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in der Analyse von Infrastruktursystemen zur Erörterung von Gestaltungsmöglichkeiten staatlicher und nicht-staatlicher Akteure auch in anderen räumlichen Kontexten sinnvoll ist. Über diese vergleichsweise allgemeine Feststellung hinaus wirft die hier vorgenommene Vorstellung der Analytik von Mayntz et al. weitere Fragen auf. Dies betrifft zunächst (1) die der Analytik zugrunde liegenden Prämissen sowie (2) die
2.2. Analysen technischer Infrastrukturen als großtechnische Systeme
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Vollständigkeit der Analysedimensionen und weiterhin (3) die Bedeutung und Auswirkungen der von Mayntz et al. ins Zentrum der Analyse gestellten Tendenzen zur Liberalisierung und Privatisierung technischer Infrastruktursysteme und des neueren Trends zu ihrer Rekommunalisierung. Diese drei Aspekte werden hier vorgestellt, die mit ihnen verbundenen Fragen jedoch nicht abschließend beantwortet – hierzu bedarf es einer eingehenden Untersuchung des konkreten Sektors, in diesem Falle der Abwasserentsorgungsinfrastrukturen sowie des räumlichen Kontexts, in diesem Falle Hanoi, Vietnam. In Bezug auf die grundlegenden Prämissen ist über die die begrenzte staatliche Steuerungsfähigkeit hinaus zu untersuchen, inwiefern die Infrastruktursektoren und insbesondere die Abwasserentsorgung im globalen Süden als staatsnahe Sektoren zu begreifen sind. Dies ist relevant für die theoretisch zu erwartenden Regelungsformen. Marktwirtschaftlich verfasste oder durch Eigendynamik geprägte Sektoren sind etwa für die Untersuchung von Mayntz und Scharpf nicht von Interesse, da in diesen nur geringe regulierende Interventionen vorzufinden sind – sowohl von Seiten staatlicher Politik als auch gesellschaftlichen Akteuren (vgl. Mayntz/Scharpf 1995:24). Die Infrastrukturversorgung kann grundsätzlich marktwirtschaftlich oder eigendynamisch organisiert sein. Damit in Verbindung ist die Selbstorganisationsfähigkeit gesellschaftlicher Akteure zu prüfen, die in den von Mayntz und Scharpf untersuchten Sektoren vergleichsweise hoch ist, so dass auch außerhalb staatlicher Einrichtungen verbindliche Regelungen greifen. Zudem sind die Analysedimensionen, die aktuell Nutzer_innen ausblenden, auf ihre Vollständigkeit zu prüfen. Die veränderte Rolle der Nutzer_innen und ihr Bedeutungszuwachs werden in der Erforschung soziotechnischer Infrastrukturen sowohl im globalen Süden als auch im Hinblick auf die westliche Welt breit diskutiert (vgl. Smith et al. 2005; Monstadt 2007; van Vliet et al. 2010; van Vliet/Chappells/ Shove 2005). Mit dem oben skizzierten Wandel in der Erbringung von Infrastrukturleistungen und ihrer politischen Regelung weg von Gebietsmonopolen hin zu verschiedenen Formen der marktorientierten Leistungserbringung treten die Verbraucher, die die Nachfrageseite bestimmen, auch in der auf die westliche Welt bezogenen Infrastrukturforschung in den Vordergrund (vgl. Monstadt 2007). Diese können als „Prosumenten“2 die Erbringung der durch sie selbst genutzten Leistungen organisieren. Wie unten (Kap. 2.4.3) detailliert diskutiert wird, ist die Rolle der lokalen Bevölkerung in der Erbringung von Infrastrukturleistungen in den urbanen Räumen des globalen Südens bereits seit den 1970er Jahren im Lichte der zunehmend durch Slumsiedlungen ohne staatlich geregelte Infrastrukturleistungen geprägten Urbanisierung Teil einer Debatte um die Möglichkeiten der Erbringung grundlegender Leistungen. An dieser Stelle ist die veränderte Rolle der Nutzer_innen zunächst insofern von Bedeutung, als dass diese der Auffassung unterschiedlicher Autoren zufolge als eigene Dimension neben den bereits genannten Eingang in die Analyse soziotechnischer Infrastrukturen finden sollte (vgl. z. B. Smith et al. 2005; van Vliet 2010). In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie der hiermit ein2
Der Begriff Prosument ist etwa gebräuchlich in sozial-ökologischen Infrastrukturkonzepten und bezieht sich in ursprünglich auf den Energiesektor. Er meint eine Verschmelzung zwischen Erzeuger nutzbarer Energie und ihrer Verbraucher (vgl. Loske 2005: 29).
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2. Konzeptionelle Grundlegung
hergehende Bedeutungsgewinn der lokalen Bevölkerung in der Leistungserbringung auch in Abgrenzung zur Teilnahme der Bevölkerung im politischen Prozess konzeptualisiert werden kann. Die Rolle der Nutzerinnen und Nutzer steht in der Analyse von Mayntz et al. im Hintergrund, während jedoch die o. g. Wandlungstendenzen großtechnischer Infrastruktursysteme, zunächst hin zu einer Liberalisierung begleitet von Reregulierung und in jüngerer Zeit zu einer Rekommunalisierung ein zentrales Forschungsinteresse von ihnen sind. Die räumliche Dimension dieses Wandels wird jedoch bei Mayntz et al. und darüber hinaus in weiten Teilen der LTS Forschung fast vollständig ausgeblendet (Wissen/Naumann 2008). Es ist im Hinblick auf diese Wandlungstendenzen zu untersuchen, inwiefern ihnen erstens spezifische Raumwirkungen zuzuschreiben sind und inwieweit sie zweitens für die Charakterisierung von Abwasserentsorgungssystemen in Städten des globalen Südens überhaupt von Bedeutung sind – auf diesen zweiten Aspekt wird im übernächsten Kapitel (2.4) eingegangen. Zunächst jedoch wird die erste Frage im Zuge der Untersuchung von Analysen des stadträumlichen Bezugs technischer Infrastrukturen erörtert. 2.3. ANALYSEN DES STADTRÄUMLICHEN BEZUGS VON INFRASTRUKTURSYSTEMEN Die Hinwendung von Debatten zu Wechselwirkungen zwischen städtischem Raum und technischen Infrastruktursystemen zur Versorgung mit Lebensnotwendigkeiten in Städten des globalen Südens hat zu einer kritischen Sicht auf großtechnische Infrastruktursysteme beigetragen. Grundlegende These dieser Debatten ist, dass die räumlichen Auswirkungen soziotechnischer Infrastruktursysteme nicht unabhängig von weiteren städtischen Dynamiken der Ressourcenverteilung bewertet werden können, weshalb die Ausblendung dieser Aspekte zu einem unvollständigen Bild führe. 2.3.1. Lebensader oder Fraktur: Städte und technische Infrastrukturen Bis in das letzte Jahrzehnt hinein waren es vor allem historische Studien, die die Bedeutung von Technik für die Entwicklung moderner Städte erkannten und zum Objekt ihrer Untersuchung machten (vgl. Tarr/Dupuy 1988; Schott 1995 und in neuerer Zeit auch Hård/Misa 2008). Somit kommt diesen Studien eine Vorreiterrolle in der Erforschung (stadt-)räumlicher Auswirkungen von Technik zu. Gleichzeitig konzentrierte sich das Interesse der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Technikforschung auf einzelne Artefakte, während weiträumig vernetzte Systeme weniger im Fokus waren (vgl. Monstadt 2007:9). Historische Studien, die soziotechnische Infrastruktursysteme thematisieren, heben die Bedeutung des durch die Industrialisierung ermöglichten Ausbaus zentraler soziotechnischer Infrastruktursysteme für Städte während des 19. und 20. Jahrhunderts hervor. Dabei konzentrie-
2.3. Analysen von Stadt und Infrastruktursystemen
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ren sich die älteren Studien allein auf (West-)Europa und Nordamerika und beleuchten die gegenseitigen Abhängigkeiten: „Technology transfer was important for cities on both continents, as information about various technological innovations flowed first from Europe to United States and then reversed towards the end of the century.” (Tarr/Dupuy 1988:xiv)
Unter anderem ist es dieser Blickwinkel, der zu einer positiven Einschätzung technischer Netzwerke als Lebensadern der Städte führt. Im Blick auf die historische Entwicklung Nordamerikas und Europas wird deren unbestreitbar wichtiger Beitrag zur Eindämmung der „urbanen Krise“ in europäischen Städten hervorgehoben. Europas Städte waren infolge der Hochindustrialisierung durch extreme Wohndichten und katastrophale Lebensbedingungen gekennzeichnet (vgl. Schott 1995). Mit dem in diesen Studien thematisierten Technologietransfer geraten die komplexen Wechselwirkungen zwischen Weltregionen in der Entwicklung und Anwendung von Technologien ins Augenmerk. Wenn so auch die hiermit in direkter Beziehung stehende Kolonialisierung ignoriert wird, ist die Analyse dieser Wechselwirkungen doch wie oben (Kap. 2.2.2) erläutert aufschlussreich für diese Arbeit. Hård und Misa ziehen zur Beschreibung dieser Dynamiken das Begriffspaar der Zirkulation und der Adaption von Technologien hinzu. Sie betonen damit anders als der Begriff des Transfers, dass nicht von einer Hierarchie zwischen Absender und Empfänger auszugehen ist, sondern dass vielmehr eine wechselseitige Beeinflussung vorliegt. Die Zirkulation kann auf verschiedene Weise geschehen: Messen, Konferenzen, Zeitschriften, etc. und sie führt zunächst zu einer Homogenisierung von Technologien (Hård/Misa 2008:12). Technologien werden dann jedoch spezifischen Bedingungen lokaler Kontexte und Bedürfnissen lokaler Akteure entsprechend angeeignet, so dass eine Individualisierung vor sich geht. Entsprechende Prozesse haben die Herausbildung des von Hughes identifizierten lokalspezifischen technologischen Stils zur Folge (ebd.; vgl. 2.2.2). Zirkulation und Adaption sind also im Hinblick auf die Untersuchung der Entwicklung urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme sowohl im globalen Süden als auch in der westlichen Welt aufschlussreiche Begriffe. Die neuere mit diesem Thema befasste Stadtforschung stimmt zunächst im Hinblick auf die Einschätzung der Bedeutung technischer Infrastrukturen mit den oben vorgestellten historischen Studien überein – in den Worten von Graham und Marvin sind sie „an der Prägung, Gestaltung und Strukturierung des Charakters unserer Städte“ beteiligt (Graham/Marvin 2008:56). Wie von Graham (2002) festgestellt, tauchten sie bis vor kurzem als Gegenstand der Stadtforschung kaum auf. Dies mag daran liegen, dass sie, wie das Präfix „Infra“ zu verstehen gibt, als Unterbau oder Fundament anderer gesellschaftlicher oder technischer Systeme dienen und damit per Definition in den Hintergrund treten (vgl. Star 1999). Zudem sollten sie zumindest in den Städten der westlichen Welt idealer Weise „unsichtbar, vergraben und in Rohre verschlossen“ sein und so bei der Betrachtung der Stadtgestalt nicht unmittelbar ins Auge fallen – tun sie dies doch, werden sie gewöhnlich als defizitär wahrgenommen (vgl. Kaika 2005). In den Worten von Graham und Marvin kann die „Geschichte der modernen Stadtentwicklung“ somit als Geschichte der Erweiterung und des Ausbaus der Inf-
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2. Konzeptionelle Grundlegung
rastrukturnetze begriffen werden – die Betrachtung der netzgebundenen Infrastruktursysteme gibt Aufschluss über die Stadtentwicklung und andersherum (Graham/ Marvin 2008:40). Dies bestätigen auch Kluge und Scheele, in deren Augen „die Entwicklung der Wasserwirtschaft […] historisch gesehen bestimmte raumstrukturelle Muster hervorgebracht“ hat und gleichzeitig von Raumstrukturen geprägt worden ist (Kluge/Scheele 2008:144). Wenn Graham und Marvin sich mit den teilweise plakativ formulierten und empirisch nicht immer nachweisbaren Thesen zur Entwicklung städtischer Infrastrukturen im Lichte neoliberaler Politiken auch Kritik ausgesetzt haben, so liegt ihr unbestreitbarer Verdienst doch darin, dass sie die lange vernachlässigte Bedeutung technischer Infrastruktursysteme für Städte zurück auf die Forschungsagenda gebracht haben. So ist eine Kernaussage ihrer Analyse von Infrastrukturen als soziotechnische Systeme: „Der Einfluss von Infrastrukturen auf Städte ist weder linear noch endgültig […] und findet nicht in einem gesellschaftspolitischen Vakuum statt. Vielmehr sind die großen technischen Systeme […] in einen allgemeineren soziotechnischen, politischen und kulturellen Rahmen eingebettet.“ (Graham/Marvin 2008:42)
Die im Folgenden vorgestellten Untersuchungen haben gemein, dass sie sich mit den Auswirkungen technischer Infrastrukturen auf die urbane sozialräumliche Kohäsion in neuerer Zeit befassen. Unter Einbezug eines weiteren regionalen Kontexts analysieren sie die zentrale Rolle der technischen Infrastrukturen im globalen Süden, aber auch in der westlichen Welt für den (ungleiche) Zugang zu Ressourcen verschiedener Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen Stadträumen (vgl. Graham 2000). Die aus dieser Analyse erwachsende kritische Sicht auf die Versorgung mit lebensnotwendigen Leistungen mittels einheitlicher großtechnischer Infrastruktursysteme spiegelt sich im Vokabular wider: es ist von Zersplittern, Segregation, Fragmentierung, Fraktur und Abhängigkeit die Rede – z. T. Begriffe, die dem medizinischen Bereich entlehnt sind und Pathologien beschreiben (vgl. Dupuy 2011; Graham/Marvin 2001; Coutard 2008). Wie unten ausgeführt wird, zeigt sich dabei jedoch ein Unterschied in der Analyse Graham und Marvins und den weiteren hier diskutierten Ansätzen. Erstere beschreiben zwar das Zersplittern des Städtischen Raumes als Resultat der Abkehr von einer einheitlichen, zentralisierten Infrastrukturversorgung, führen dieses aber auf den Wandel der politischen Regelung der Infrastruktursysteme im Rahmen der Neoliberalisierung zurück. Anders als etwa Coutard und Dupuy begreifen sie es nicht als zwangsläufig in der Entwicklung netzgebundener Infrastruktursysteme3 auftretendes Dilemma (vgl. Graham/Marvin 2008). Coutard und Dupuy hingegen sehen die Dynamiken der Abhängigkeit und Fragmentierung als technischen Infrastrukturnetzwerken innewohnend (vgl. Dupuy 2011; Coutard 2008). Daraus folgt die Forderung nach der Abkehr von der Idee der einheitlichen, zentralen Versorgung der Bevölkerung 3
In diesem Rahmen wird von netzgebundenen Infrastruktursystemen gesprochen, wenn solche soziotechnische Infrastruktursysteme gemeint sind, die mit einem weiträumigen – im Falle des Abwassernetzes stadtweiten – physischen Netz ausgestattet sind und die dem modernen Infrastrukturideal (s.u.) entsprechen. Der Begriff des Infrastrukturnetzes hingegen wird dann verwendet, wenn allein das physische Artefakt gemeint ist.
2.3. Analysen von Stadt und Infrastruktursystemen
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mit technischen Infrastrukturen (vgl. Zérah 2008; Jaglin 2008). Im Folgenden wird dieser Diskurs erläutert, wobei der Fokus auf die Städte des globalen Südes und Gestaltungsoptionen ihrer Infrastruktursysteme gelegt wird. 2.3.2. Das Ende des modernen Infrastrukturideals Die Splintering Urbanism These ist ein prominentes Beispiel für die heute kritische Sicht auf urbane technische Infrastrukturnetzwerke. Mit dieser These wagen Graham und Marvin den Versuch, den Hergang der sich wandelnden Rahmenbedingungen in der Regelung der Infrastruktursysteme und ihrer Auswirkungen auf die Stadtentwicklung zu verallgemeinern. Dem Paradigmenwechsel Ende der 1970er Jahre hin zu einer Liberalisierung und Privatisierung der Infrastruktursysteme im Rahmen neoliberaler Politiken wird als Zäsur in der Versorgung mit Infrastrukturen und der damit in Beziehung stehenden Stadtentwicklung eine entscheidende Bedeutung beigemessen (vgl. Graham/Marvin 2001). Als Kontrastfolie ihrer These des Splintering Urbanism ziehen Graham und Marvin den Begriff des „modernen Infrastrukturideals“ heran, das zur Entwicklung von Praktiken beitrug, die den Aufbau eines flächendeckenden Netzwerks zur gleichförmigen Infrastrukturversorgung der Bürger_innen erlaubten (ebd.:80). Unter diesem mittlerweile in der einschlägigen Stadtforschung zum verbreiteten Begriff avancierten analytischen Konzept wird die Form der urbanen Infrastrukturentwicklung Europas zwischen 1850 und 1960 zusammengefasst (der Begriff wird etwa genutzt von: Bocquet et al. 2008; Kluge/Scheele 2008; Wissen/Naumann 2008; Naumann 2009). In dieser Zeit stellte sich die urbane Infrastrukturentwicklung lt. Graham und Marvin wie folgt dar: “Across the urban world, small, fragmented islands of infrastructure were joined up, integrated and consolidated towards standardized, regulated networks designed to deliver predictable, dependable services across […] the metropolis.” (Graham/Marvin 2001:40)
Der Begriff des „modernen Infrastrukturideals“ umfasst die Leitvorstellung der urbanen Infrastrukturversorgung dieser Zeit. Moderne Städte sollten mit standardisierter, uniformer und ubiquitärer Infrastrukturversorgung ausgestattet sein – für die Konsumenten zu jeder Zeit und an jedem Ort in gleicher Form verfügbar. Diese Form der Versorgung sollte gewährleistet werden durch Leistungserbringung durch Monopolisten, die den gesamten städtischen Raum versorgten, wobei der Bevölkerung eine passive Rolle als Konsumenten und Konsumentinnen zugedacht wurde. Der Staat hingegen sollte als potentieller Eigner oder zumindest regulierende Kraft eine zentrale Rolle spielen. Der Rationalisierung des Stadtraumes durch netzgebundene technische Infrastruktursysteme wurde eine modernisierende und zivilisierende Funktion zugeschrieben. Paradoxer Weise wurden technische Infrastruktursysteme gleichzeitig als apolitische Basis einer homogenen, transparenten und wohlhabenden Gesellschaft konzeptualisiert. Dies spiegelt das damalige technokratische Verständnis des Staates insgesamt wider, der, wie oben (Kap. 2.2.1) dargestellt, als zentrale und rationale Einheit gesehen wurde. Dieser Staat reagiert in seinem Bestreben, den Wohlstand der Gesellschaft zu wahren, auf externe Sach-
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2. Konzeptionelle Grundlegung
zwänge mittels der Anwendung wissenschaftlicher Normen und Standards (vgl. van Laak 2004). Die in den 1970er Jahren aufkommende Dominanz einer neoliberalen politischen Ökonomie, die sich auch im Infrastruktursektor in Form von Tendenzen zur Liberalisierung und Privatisierung niederschlug, konzipieren Graham und Marvin als Ursache der Krise dieses modernen Infrastrukturideals. So wurden Prozesse in Gang gesetzt, die durch eine „Entbündelung“ ehedem weiträumig vernetzter Infrastruktursysteme zu einer Verstärkung von Prozessen der Fragmentierung und Segregation der Städte beitragen (Graham/Marvin 2001:38). Diese Entbündelung wiederum erlaubt es, Infrastrukturleistungen nur für profitable Bevölkerungsgruppen bereit zu stellen und andere auszuschließen, ein Vorgang, der als „bypassing“ der unerwünschten Bevölkerungsgruppen und als „cherry picking“ bei der Auswahl der aufgrund der Rentabilität mit premium networks zu versorgenden Räume bezeichnet wird. Diese Räume werden folglich von wohlhabenden Teilen der Bevölkerung bewohnt (Naumann 2009; Graham/Marvin 1994). Vielfach kritisiert wurde bisher die normative Position dieser These, die die im modernen Infrastrukturideal transportierte Sicht auf die Beziehung von Staat und Gesellschaft nicht hinterfragt. Hier wird beanstandet, dass diese Sicht nicht mehr der dem Stand der Governanceforschung (siehe Kapitel 2.2.3) entspricht (vgl. z. B. Coutard 2008; Bocquet et al. 2008). Eine Schwäche der Splintering Urbanism These ist so ihr „sanfter Determinismus“, wenn sie staatlichen Politiken, die früher auf die Umsetzung des modernen Infrastrukturideals zielten und heute die Neoliberalisierung vorantreiben, eindeutige und direkte Raumwirksamkeit zuspricht (vgl. Coutard/Guy 2008). Diese Sichtweise ist aus verschiedenen Gründen zu hinterfragen. Zunächst steht die angenommene übergreifende Eindeutigkeit der Raumwirkungen von Transformationen soziotechnischer Infrastrukturen infrage. So ist davon auszugehen, dass entsprechende Transformationen sich auch innerhalb von Raumkategorien wie Kernstadt, suburbanem Raum und Peripherie in höchst unterschiedlicher Weise auswirken (vgl. Moss 2008). Zudem ist die Bedeutung, die Graham und Marvin neoliberalen Politiken als zentrale Einflussfaktoren auf die Infrastrukturversorgung zuschreiben, strittig. Die unten vorgestellten Studien im globalen Süden gehen vielmehr davon aus, dass zentral vernetzte technische Infrastruktursysteme selbst eine Tendenz zur Fragmentierung des (städtischen) Raumes mit sich bringen können. Mit dieser Tendenz ist auf verschiedene Weise umzugehen, u. a. kann auch die Differenzierung der Versorgung mit technischen Infrastrukturen zu einer größeren Verteilungsgerechtigkeit führen. 2.3.3. Dynamiken der urbanen Infrastrukturentwicklung im globalen Süden Graham und Marvin erwähnen in ihren Thesen zwar den direkten Zusammenhang der Umsetzung des modernen Infrastrukturideals im globalen Süden und auch in der westlichen Welt mit dem europäischen Kolonialismus, lassen ihn jedoch nicht in die Formulierung ihrer Thesen einfließen (zur Erwähnung vgl. Graham/Marvin 2001:81ff). Für den Aufbau der kolonialen Herrschaft waren netzgebundene Infra-
2.3. Analysen von Stadt und Infrastruktursystemen
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strukturen im globalen Süden jedoch eine Voraussetzung und gleichzeitig ermöglichten sie die für deren Aufbau in der westlichen Welt notwendigen Investitionen (vgl. z. B. Coutard 2008; Kooy/Bakker 2008; van Laak 2004). Die Kolonialisierung war für die räumliche Struktur der kolonialisierten Länder des globalen Südens eine wichtige Zäsur (vgl. Coutard 2008; Fernández-Maldonado 2008; Hirst/Lamba 1994). Die Stadtgründungen, Stadterweiterungen und Stadtumbauten in den Ländern des globalen Südens, die ein zentrales Anliegen der kolonialen Besatzer waren, wurden aufgrund von als universell gültig verstandenen Idealen betrieben und dienten gleichzeitig als „Experimentierfeld“ zur Weiterentwicklung dieser Idealvorstellungen und Leitbilder (vgl. Njoh 2009). Die Strukturen und Formen der Urbanisierung, die sich in den unterschiedlichen Regionen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas in Abhängigkeit von jeweiligen kulturellen Gegebenheiten und naturräumlichen Bedingungen unterschiedlich herausgebildet hatten, wurden zum Teil überbaut und zum Teil blieben sie neben den neu errichteten urbanen Formen bestehen. Seit vorkolonialer Zeit bestehende Strukturen dienten jedoch in der Regel nicht als Inspiration für den kolonialen Städtebau (vgl. Jenkins et al. 2006). Bezüglich des Städtebaus dominierte die Philosophie, dass allein aufgrund ingenieurtechnischen Wissens basierend auf moderner Wissenschaft ein funktionierendes System von Grund auf neu erschaffen werden könne, und die zur damaligen Zeit der Industrialisierung in Europa akuten Probleme der Verstädterung von vorn herein vermieden werden können (vgl. Gandy 2004). Der Ausbau technischer Infrastrukturen war die Grundvoraussetzung für eines der zentralen Anliegen der Kolonialmächte, nämlich die Sicherung der in den Augen der Kolonialisten letzten verbleibenden Räume zur industriellen Expansion (Hirst/Lamba 1994:29; vgl. auch van Laak 2004). Verschiedene Studien vertreten die These, dass die dem modernen Infrastrukturideal zugrunde liegenden städtebaulichen und infrastrukturellen Prinzipien zwar auf den globalen Süden übertragen wurden, aber dass diese Prinzipien nicht der gleichwertigen Versorgung aller in der Stadt lebenden Menschen dienen sollten. Vielmehr wurde ein Gegensatz zwischen „Kolonialherren“ und „Einheimischen“ diskursiv konstruiert, der dann durch den exklusiven Anschluss kolonialer Eliten an das dem modernen Ideal entsprechenden Infrastruktursystemen materiell im gebauten Raum gefestigt wurde (Swyngedouw 2006; Fernández-Maldonado 2008; Kooy/ Bakker 2008/2008a). In den Worten von Coutard kann angesichts der Umsetzung neoliberaler Politiken im globalen Süden nicht von „splintering“ gesprochen werden, wenn die Städte oftmals von vorn herein „splintered“ waren – es sich bei der Zersplitterung also nicht um einen mit der den Tendenzen zur Neoliberalisierung seit den 1970er Jahren einhergehenden Prozess handelt, sondern um einen spätestens seit der Kolonialisierung dauerhaften Zustand (Coutard 2008:1816). McFarlane etwa beschreibt Mumbai als „a politicized cyborg city that is always already splintered, unequal and contested.” (McFarlane 2008:431). Dasselbe trifft auf die Untersuchungen Jakartas zu, das spätestens seit der Kolonialzeit durch eine Differenzierung des Zugangs zu Wasser gekennzeichnet ist (Kooy/Bakker 2008). Die Studien zeigen darüber hinaus, dass der Ausbau technischer Infrastrukturnetzwerke in vielen Städten des globalen Südens nach dem Ende der jeweiligen Kolonialherrschaften innerhalb der neu gegründeten Nationalstaaten nicht mit dem Stadtwachs-
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2. Konzeptionelle Grundlegung
tum Schritt halten konnte. So hat heute ein großer Teil der Bevölkerung vieler Städte keinen Zugang zu netzgebundener Infrastruktur (vgl. Coutard et al. 2005; Swyngedouw 2004; Budds/McGranahan 2003). Wie Abbildung 4 illustriert, sind stark verdichtete Slumsiedlungen ohne kommunal organisierte oder regulierte Versorgung mit grundlegenden Leistungen in einigen Fällen durch höchst prekäre Lebensbedingungen und krasse soziale Ungleichheiten geprägt. So bezahlen Bewohner_innen der in Abb. 4 abgebildeten Siedlung Kibera ein Vielfaches des in anderen Stadtteilen Nairobis üblichen Preises für Trinkwasser (vgl. Schramm 2009). Laut Coutard wäre es jedoch vereinfachend, diesen Umstand allein neoliberalen Politiken zuzuschreiben, wenn diese mittels internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mit ihren an die Vergabe von Krediten gebundenen Forderungen nach der Kommerzialisierung von Leistungen (volle Kostendeckung und Profitmaximierung) und der Privatisierung von Ver- und Entsorgungsunternehmen auch direkten Eingang in die Politiken und Strategien der Nehmerländer gefunden haben (Coutard 2008:1817). In Einzelfällen, wie etwa das Beispiel des Telekommunikationssektors von Lima zeigt, kann die Liberalisierung auch zu einer Verbesserung des Zugangs marginalisierter Gruppen zu Infrastrukturleistungen führen (vgl. Fernández-Maldonado 2008). Vor diesem Hintergrund wird also der These von Graham und Marvin, dass die Hinwendung zur neoliberalen Agenda das entscheidendes Moment in der Entwicklung der urbanen Lebenssituation im globalen Süden ist, widersprochen (vgl. Gandy 2004:368; Budds/McGranahan 2003:96). Es lässt sich in den vorgestellten Untersuchungen kein eindeutiger Übergang erkennen von der im modernen Infrastrukturideal vorgesehenen gesamtstädtischen Versorgung zu einer Fragmentierung der städtischen Struktur infolge einer neoliberalen Agenda. 2.3.4. Die sozialräumlichen Wirkungen vernetzer Infrastrukturen Inspiriert von der SU These diskutieren sowohl Coutard als auch Dupuy die analytische Frage nach der integrierenden oder im Gegenteil fragmentierenden Wirkung vernetzter Ver- und Entsorgungssysteme in Zusammenhang mit den Grenzen des Stadtraumes (Coutard 2008; Dupuy 2011). Coutard (2008) bezieht sich dabei explizit auf die Prüfung dieser These in Städten des globalen Südens. In der westlichen Welt brachte die Umsetzung des modernen Infrastrukturideals eine Definition der Grenze zwischen Stadt und Land aufgrund der funktionalen Trennung zwischen durch Netzwerke zu ver- und entsorgendem Raum und dem dazugehörigen „Entlastungsraum“ mit sich (Kluge/Scheele 2008:153). Dies war letztlich die Grundlage für eine Unterscheidung zwischen Zentrum und einer sich infolge dieser Definition heraus bildenden Peripherie. Untersuchungen in den Städten des globalen Südens zeigen, dass diese sich in dieser Hinsicht oftmals unterschieden, da das moderne Infrastrukturideal zwar auch hier der Infrastrukturplanung zugrunde lag. Die dem modernen Infrastrukturideal entsprechend errichteten großtechnischen Systeme decken jedoch nicht den gesamten Raum der städtischen Agglomerationen ab – wodurch das Ideal als solches nicht erreicht ist.
2.3. Analysen von Stadt und Infrastruktursystemen
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Abb. 4: Stark verdichtete Slumsiedlung ohne kommunal organisierte Infrastrukturversorgung (Kibera, Nairobi)
Stattdessen lässt sich vielerorts die rasante Verdichtung von informellen Siedlungen außerhalb städtischer Planung beobachten, die weitgehend von städtischen Infrastrukturleistungen abgeschnitten sind und die Grenze zwischen Stadt und Land verschwimmen lassen, was etwa durch den Begriff der peri-urbanen Siedlung beschrieben wird. Peri-urbane Siedlungen sind Siedlungen, die sich zwar rasant verdichten und in engen Beziehungen zum städtischen Raum stehen, etwa da die Bevölkerung in diesen Siedlungen in der Stadt arbeitet und so zu ihrer Prosperität beiträgt, jedoch von den Vorteilen städtischen Lebens – wie etwa dem Anschluss an technische Ver- und Entsorgungsnetze ausgeschlossen bleibt (UN-HABITAT 2010). Hier zeigen sich in den Augen von Coutard in Europa kaum vorzufindende drastische Formen des „infrastructural bypassing“, der Umgehung von städtischen Räumen mit Infrastrukturen (Coutard 2008:1818). Dynamiken der Ausdehnung vernetzter Infrastruktursysteme Coutard (2008) hebt anhand der Untersuchung von städtischen Infrastruktursystemen des globalen Südens hervor, dass der Aufbau von Infrastruktursystemen, die dem modernen Ideal entsprechen, nicht automatisch eine integrierende, sondern auch eine fragmentierende Wirkung haben kann. Dupuy entwickelt die Konzepte der Abhängigkeit von vernetzten Infrastruktursystemen und die dadurch hervorgerufene Fraktur und betont, dass die fragmentierende Wirkung vernetzter Infrastruktursysteme sowohl unabhängig von Weltregionen als auch von Infrastruktursektoren auftritt. Dies wird durch die Analyse der Ausbreitung des individuellen motorisierten Verkehrs deutlich (Dupuy 1999). Mit
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2. Konzeptionelle Grundlegung
der Verbreitung des Automobils ging eine tiefgreifende Umstrukturierung des Raumes einher, weil sie eine weiträumige Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeitbeschäftigungen ermöglichte. Diese Umstrukturierung des Raumes begünstigte wiederum den individuellen Verkehr gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Sinne dieser gegenseitigen Verstärkung wächst mit der Ausdehnung des Netzwerks die Abhängigkeit von ihm, da sich die Situation für die, die nicht an das Netzwerk angeschlossen sind, verschlechtert – und zwar in dem Maße, wie sie sich für die Angeschlossenen verbessert. Auf diese Weise entsteht ein Bruch zwischen Angeschlossenen und Nicht-Angeschlossenen (Dupuy 2011:12). Dieser Argumentation folgend wird Fraktur nicht nur als eine mögliche, sondern als eine zwangsläufige Folge der Entwicklung des vernetzten Infrastruktursystems konzeptualisiert. Dupuy betrachtet also die Ausdehnung der zentralen Netzwerke als Prozess, in dem der Anschluss schrittweise geschieht, so dass zu einem Zeitpunkt ein Teil der Bevölkerung angeschlossen ist und ein anderer nicht. Theoretisch kann – wenn die Ausdehnung des Netzwerks zu einem bestimmten Zeitpunkt und bei einer bestimmten Größe abgeschlossen ist – die gesamte Bevölkerung an ein einheitliches Infrastruktursystem angeschlossen sein. Dupuy argumentiert jedoch, dass dies praktisch nur selten der Fall ist – und dass meist Situationen auftreten, in denen der Anschluss von Bevölkerungsteilen oder Gebieten an ein einheitliches System nicht funktioniert (ebd.). Damit geraten Akteure im Umgang mit vernetzten Infrastruktursystemen in das folgende Dilemma: „Combattre la fracture sans exacerber la dépendance, combattre la dépendance sans créer de fractures, le tout sans porter atteinte à la solidarité réticulaire, expression géographique collective des territoires contemporaines […].“ (Dupuy 2011:15)
Differenzierung und Diskriminierung – Handlungsspielräume für Akteure Diese Betrachtung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Bewertung einer differenzierten Infrastrukturversorgung und ihren Auswirkungen auf die sozialräumliche Kohäsion von Städten. Graham und Marvin gehen davon aus, dass durch die Abkopplung physisch eng beieinander liegender Räume die „Funktion von Infrastruktur als Instrument urbaner Kohäsion und Integration untergraben“ wird (Graham/Marvin 2008:48). Dupuy und Coutard hingegen vertreten die These, dass auch zentrale und einheitliche Infrastruktursysteme eine fragmentierende Wirkung mit sich bringen können. Die Frage, ob und unter welchen Umständen einheitliche oder diversifizierte Formen der Infrastrukturversorgung eine Diskriminierung bestimmter urbaner Räume nach sich ziehen, berührt zwar ein zentrales Thema in der Raum- und Infrastrukturplanung, ist jedoch nicht pauschal zu klären, sondern bedarf eingehender Untersuchungen des jeweiligen lokalen Kontexts. „[…] reforms that involve an increased differentiation in services supplied do not necessarily lead to increased segregation (inequality) or fragmentation (removal of solidarity) in terms of access to essential services.“ (Coutard 2008:1818)
Differenzierung ist also von Diskriminierung zu unterscheiden, die dann vorliegt, wenn entweder Segregation, also eine ungleiche Qualität der Versorgungsleistung,
2.3. Analysen von Stadt und Infrastruktursystemen
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oder sogar stadträumliche Fragmentierung, also der Entzug von Solidarität im Zugang zu grundlegenden Leistungen, bestehen. Zudem ist festzustellen, dass die Frage nach der Diskriminierung die – von Graham und Marvin vernachlässigte – Einbeziehung weiterer sozialer, räumlicher und ökonomischer Aspekte bedarf (ebd.). Auch Zérah weist in ihrer Analyse Mumbais darauf hin, dass technische Infrastrukturen je nach Sektor auf andere Weise von weiteren städtischen Dynamiken beeinflusst sind – zumindest die Analyse der Wasserver- und Abwasserentsorgung etwa kann nicht aufschlussreich sein, wenn sie abgekoppelt von Politiken und Techniken der lokalen Boden- und Wohnraumverteilung vorgenommen wird (vgl. Zérah 2008:1931). Nicht zuletzt aus diesen Betrachtungen heraus kommen Coutard und Guy zu der Aufforderung, dass die Ermittlung der spezifischen Wechselwirkungen zwischen technischen Infrastrukturen und Städten die Handlungsspielräume einzelner Akteure und Akteursgruppen ausgelotet werden müssen, die eine „ganze Reihe situationsspezifischer Kompromisse“ eingehen und so zur Gestalt der Stadt beitragen (Coutard/Guy 2008:67). Übereinstimmend mit den oben (Kap. 2.2.4) erläuterten Ansätzen der politikwissenschaftlichen Forschung zu politischen Regelungsprozessen kann die urbane Entwicklung in ihren Augen nicht allein aufgrund von Planungsphilosophien oder politischen Strategien analysiert werden, sondern ist das Ergebnis des Handelns von konkurrierenden Akteuren in Institutionen. Dupuy (2011) konkretisiert Handlungsoptionen öffentlicher Verwaltungen: diese können etwa die Fraktur akzeptieren und – wie es vor der Umsetzung des modernen Infrastrukturideals auch in europäischen Städten üblich war – eine ungleiche Ver- und Entsorgung der Bevölkerung tolerieren (vgl. Bocquet et al. 2008). Dies ist in seinen Augen dann berechtigt, wenn so die Abhängigkeit langfristig gemindert werden kann. Die Verwaltungen können auch die Abhängigkeit in Kauf nehmen, was etwa in der Wasserversorgung mit ihrer grundlegenden Bedeutung für die öffentliche Gesundheit ein gangbarer Weg ist. Dies bedeutet für die Verwaltungen gleichzeitig, dass sie ständige Investitionen, etwa in neue Reinigungstechnologien von Oberflächengewässern nach Aufbrauchen der Grundwasserkörper, tätigen und negative Umweltauswirkungen in Kauf nehmen müssen (Dupuy 2011:16). Weiterhin kann eine Abkopplung vom zentralen Netzwerk vorgenommen werden. Hier ist auf die oben diskutierten Studien zu verweisen, die davon ausgehen, dass eine Differenzierung der technischen Infrastrukturversorgung nicht mit einer Verstärkung stadträumlicher Fragmentierung einhergehen muss, sondern diese im Gegenteil auch verringern kann. Gerade im Lichte prekärer Lebensverhältnisse armer städtischer Bevölkerungsgruppen stellen diese daher eine zumindest zeitweilig akzeptable Zwischenlösung dar (vgl. Zérah 2008; Jaglin 2008). Damit wird die Abwendung vom modernen Infrastrukturideal zur notwendigen Voraussetzung für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung: „Il s’agit au fond de renoncer par réalisme au dogme de la couverture universelle du réseau, dogme qui, selon les cas, conduit à la fracture ou à une dépendance néfaste.“ (Dupuy 2010 :17)
Diese Konzeption der Dynamik der Ausdehnung einheitlicher und zentraler Infrastruktursysteme bringt das Dilemma städtischer Verwaltungen auf den Punkt, wo-
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2. Konzeptionelle Grundlegung
bei sie implizit davon ausgeht, dass deren Handeln auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme orientiert sei. In den Worten von Mayntz (2004) besteht hier also ein Problemlösungsbias (siehe Kapitel 2.2.4). Dennoch wird mittels der engen Verwobenheit von Abhängigkeit und Fraktur aufgezeigt, dass es nicht den einen besten Weg gibt, sondern dass jede Entscheidung Optionen und auch Restriktionen mit sich bringt, die es abzuwägen gilt. In dieser Perspektive bleiben jedoch die von Coutard betonten lokalen Aushandlungsprozesse im Hintergrund. Mit dieser Einschränkung ist das Konzept der Dynamik der Netzausdehnung hilfreich für eine Analyse der Leitbilder und Ideale als Grundlage für Entscheidungen städtischer Verwaltungen beim Ausbau der Infrastruktursysteme früher und heute. Für die weitergehende Analyse von Restriktionen und Optionen zur Gestaltung soziotechnischer Infrastruktursysteme durch staatliche und gesellschaftliche Akteure ist zudem eine Analyse von Strukturen und Formen politischer Regelung notwendig. Folgerungen für die Analyse urbaner Infrastruktursysteme im globalen Süden Im globalen Süden wurde ein dem modernen Ideal entsprechendes System der Infrastrukturversorgung zwar auf die städtischen Räume übertragen, es hat jedoch bisher nicht zu einer stadträumlichen Vereinheitlichung der Infrastrukturversorgung geführt. Vielmehr hat sich mit der Einführung des modernen Infrastrukturideals eine Differenzierung der Infrastrukturversorgung herausgebildet, die eine weitere soziale und bauliche Fragmentierung der untersuchten Stadträume bedingt. Die grundlegende These der in diesem Zuge vorgenommenen Untersuchungen ist folglich, dass das Streben nach einer dem modernen Ideal entsprechenden einheitlichen und ubiquitären urbanen Infrastrukturversorgung eine stadträumliche Fragmentierung mit sich brachte. Insofern wird die Fragmentierung als zentral vernetzten Infrastruktursystemen innewohnend begriffen. Aufbauend auf dieser Analyse werden Handlungsoptionen für die öffentliche Hand im Umgang mit diesen Dynamiken formuliert. Es ist also abschließend festzustellen, dass der städtische Raum und seine Wahrnehmung sowie die den Ausbau technischer Infrastruktursysteme leitenden Vorstellungen und Bedeutungsmuster von zentraler Bedeutung für ein Verständnis der oben diskutierten Ausprägungen urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme nach Mayntz et al. sind. 2.4. STÄDTISCHE ABWASSERENTSORGUNG IM GLOBALEN SÜDEN Die Beziehung zwischen Raum und Abwasserentsorgungssystem hebt sich von denen der anderen technischen Infrastruktursektoren ab. Aufbauend auf der Darstellung des Erklärungswerts der wasserbezogenen Infrastrukturen für den städtischen Raum wird die Entwicklung urbaner Abwasserentsorgungsinfrastrukturen nachgezeichnet. Dabei wird zunächst das Zusammenwirken naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und gesamtstädtischer Leitbilder des späten 19. Und frühen 20. Jahrhunderts als Grundlage für die Entwicklung des Ideals der modernen urbanen Abwasserentsorgung in den Vordergrund gestellt. Die Übertragung dieses Ideals auf die Städte des globalen Südens resultierte jedoch in soziotechnischen Systemen mit
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anderen Ausprägungen als die durch das Ideal repräsentierten. Diese Systeme wiederum bedingten die Entwicklung eines neuen Leitbilds, nämlich das der angepassten Technologien. In der Vorstellung der heute übergreifenden Merkmale urbaner soziotechnischer Abwasserentsorgungssysteme im globalen Süden zeigt sich, wie die jeweiligen Leitvorstellungen auf stadträumliche Kontexte übertragen wurden und dabei zu etwas Neuem geführt haben. Erklärungswert von Wasserinfrastrukturen für städtische Strukturen Infrastrukturen zur Wasserver – und Abwasserentsorgung haben schon aufgrund der spezifischen materiellen Eigenschaften des Wassers ein besonderes Verhältnis zum gebauten Raum. Zu diesen Eigenschaften gehört neben seiner unersetzlichen und lebensnotwendigen Funktion für Menschen etwa seine hohe Dichte, die dazu führt, dass es immer in Richtung des geographisch tiefsten Punktes fließt. So erfordern Zu- und Ableitung massive Bauwerke und einen extremen energetischen Aufwand, sofern sie nicht der Gravitation folgen (vgl. Tietz 2011). Der Begriff der „unterirdischen Stadt“ leuchtet in Bezug Wasserinfrastrukturen mehr noch als bei anderen Sektoren ein, denn in der modernen Stadt wurden vor allem die Netze zur Wasserver- und Abwasserentsorgung in den Untergrund verlegt und – beinahe – unsichtbar gemacht (vgl. z. B. Kaika 2005). Diese Eigenschaft bewirkt, dass Umbauten der Wasserinfrastrukturen massive Eingriffe in den gebauten Raum und bei einer Individualisierung der Wasserver- und Abwasserentsorgung in die einzelnen Wohnungen erfordern. Der so gestaltete materielle Aspekt wird in der kritischen Forschung zu urbanen Abwassersystemen in Verbindung gesetzt zu spezifischen sozialen Arrangements, „representing long-term accumulations of finance, technology and organisational and geopolitical power in cities“ (vgl. Star 1999:381). In ihrem Vergleich zwischen Wassersektor und Telekommunikation in Lima, Peru wies etwa Fernández-Maldonado (2008:1895) darauf hin, dass die Topologie des Wasserversorgungsnetzes ein Muster aufweist, das der sozialräumlichen Struktur der gesamten Stadt entspricht und diese daher gleichzeitig verstärkt. Im Gegensatz dazu folgt das mobile Telekommunikationsnetz einer anderen Logik und ist etwa auch Bevölkerungsgruppen in peripheren Siedlungen zugänglich. Dies ist auf die oben genannten Eigenschaften des Wassers zurück zu führen, die bedingen, dass ein viel größerer Anteil der gesamten Kosten in Unterhalt und Ausbau der Netzwerke geht als etwa im Bereich der mobilen Telekommunikation. So ist der zu erwartende „concrete divide“ eklatanter, als der viel diskutierte „digital divide“, wenn Slumsiedlungen zwar etwa mit drahtlosen Internettechnologien verbunden sind, grundlegende Leistungen der Wasserver- und Abwasserentsorgung jedoch nicht erbracht werden (Gandy 2004:372). Die Topologie von Wasserver- und Entsorgungsinfrastrukturen wird als untrennbar von der sozialräumlichen Struktur der Städte insgesamt betrachtet, weshalb die Wasserver- und Abwasserentsorgungssysteme als Prototypen der modernen Strukturierung des Raumes sogar als „Schlüssel zum Verständnis der modernen Stadt“ gesehen werden können (vgl. Frank/Gandy 2006:9). Wie die Ausführungen unten zeigen, bedarf auch eine Erklärung der heutigen Ausprägungen soziotechni-
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scher Abwasserentsorgungssysteme in Städten des globalen Südens eines expliziten Einbezugs gesamtstädtischer Entwicklungstendenzen. 2.4.1. Naturwissenschaftlich-technische Grundlagen Die technische Forschung im Bereich der Abwasserreinigung zielt im Kern auf die Trennung von durch die menschliche Nutzung eingebrachten Schmutzstoffen vom Wasser vor dessen Einleitung in die Umwelt oder dem Kontakt mit Menschen ab. Damit basiert die Entwicklung von Technologien im Abwasserbereich auf einem relativen Begriff, dessen Definition sozialen Aushandlungsprozessen unterliegt und im Zeitverlauf abhängig vom Stand der Forschung, Änderungen in den Lebensgewohnheiten der Menschen und der jeweils zugrunde liegenden Rationalität der politischen Regelung des Abwassersystems Änderungen unterworfen ist: Schmutzstoff. Die Entscheidung, welche Stoffe aus dem Abwasser zu entfernen sind, ist zunächst abhängig davon, ob technische Mittel zur Messung und zur Entfernung der Stoffe vorhanden sind. Zudem ist von Bedeutung, welche Risiken der Anwesenheit der Stoffe im Wasser für die menschliche Gesundheit und die Natur zugeschrieben werden (Von Sperling/De Lemos Chernicharo 2005). Für das System der Entsorgung und Reinigung von Abwässern sind bis heute die um 1880 ermittelten wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Epidemiologie und später Mikrobiologie von Bedeutung, die miasmatische Vorstellungen der Krankheitsübertragung mittels schädlicher Dämpfe ablösten (Melosi 2008). Wenn diese Basis auch inzwischen um Erkenntnisse bezüglich der Ökologie erweitert wurde, die sich ebenfalls in technischer Forschung, Konzepten und Leitbildern niederschlagen, so sind sowohl historische als auch aktuelle Debatten sowie frühere und heutige, als konventionell und alternativ bezeichnete technische Artefakte, Leitbilder und Konzepte der Abwasserentsorgung und Reinigung weiterhin maßgeblich durch grundlegende Theorien der Chemie und Mikrobiologie geprägt. Diese werden unter dem Begriff „Bakteriologie“, nämlich der Identifizierung und Erforschung von Bakterien und speziell ihrer krankheitserregenden Wirkung zusammengefasst (Gandy 2004:365; Melosi 2008:72). Hier werden naturwissenschaftlich-technische Grundlagen der Abwasserentsorgung, die für die Untersuchung Hanois relevant sind, vorgestellt. Ausgangspunkt für die moderne Abwassertechnik ist die Erkenntnis, dass mit der Einleitung menschlicher Fäkalien und Abfälle neben mineralischen und organischen Stoffen auch Mikroben – nämlich u. a. Bakterien, Viren, Helminthen, Hyphomyceten und Protozoen – in das Wasser geraten und dass diese als Pathogene verantwortlich sind für die Übertragung von Seuchen, wie etwa Cholera, Typhus, Ruhr und infektiöser Gelbsucht (Imhoff 2007:96; Mara 2003). Die Erforschung entsprechender biologischer und chemischer Prozesse erlaubte nicht nur die Identifikation der von den Stoffen und Lebewesen ausgehenden Gesundheitsgefährdung, sondern auch die Entwicklung von Verfahren zur Minimierung des Ansteckungsrisikos der Bevölkerung, in der Regel durch eine Isolation der Abwässer mittels Ableitung in unterirdischen Kanälen oder durch eine Entfernung dieser Stoffe aus dem Abwasser. Sein Standardwerk zur Stadtentwässe-
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rung beginnt Karl Imhoff noch 1999 mit der programmatischen Feststellung dass „Die Abwasserfrage […] hygienisch nur durch Kanalisation und Kläranlagen gelöst werden“ könne (Imhoff 1999:9). Verfahren der Entfernung und Messung von Schmutzstoffen Verfahren der Abwasserreinigung lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen (a) mechanisch – die Abtrennung nicht-löslicher Stoffe, die sich absetzen, im Wasser schweben oder aufschwimmen; (b) biologisch – durch die Steuerung aerober und anaerober biologischer Prozesse zum Abbau gelöster organischer Stoffe und z. T. anorganischer Salze (N, P), die in der Folge ebenfalls mechanisch entfernbar werden; und (c) chemisch – etwa durch die Zugabe von Salzen zur Bindung zunächst löslicher Stoffe, wie z. B. Phosphor, das mittels Fällungsmitteln zur Sedimentation gebracht werden kann oder Chlor zur Tötung von Keimen (Imhoff 2007:90ff). Diesen drei Gruppen von Verfahren lassen sich vielfältige Reinigungsvorrichtungen zuordnen, wie etwa Absetzbecken, Siebe, Filter, Membranbelebungsanlagen, Abwasserfaulräume, etc. (ebd., vgl. Abb. 5). Je nach Anordnung der jeweiligen mechanischen, biologischen und chemischen Reinigungsvorrichtungen können unterschiedliche Resultate hinsichtlich des Reinigungsgrades des Wassers in Abhängigkeit der Art und Konzentration der vorhandenen Schmutzstoffe erreicht werden; zur Abwendung von Seuchengefahr etwa dienen chemisch/physikalische Mittel wie Chlor und eingeschränkt auch biologische Verfahren (Asano et al. 2007). Da das Vorhandensein von einigen Pathogenen aus dem menschlichen oder tierischen Darm im Abwasser u. a. aufgrund potentiell sehr geringer Konzentrationen nicht ohne erheblichen Aufwand nachgewiesen werden kann, wird ersatzweise nach Indikationsorganismen, nämlich Coliformen gesucht. Diese gehen mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Vorhandensein von Faezen4 im Abwasser einher und mit deren Entfernung kann auch von einer Entfernung der potentiell vorhandenen pathogenen Bakterien ausgegangen werden (Von Sperling/De Lemos Chernicharo 2005:53). Diese Methode ist bis heute trotz der Ungenauigkeiten in der Analyse gebräuchlich und ihre Anwendung bedeutet, dass zur Minimierung eines Ansteckungsrisikos das gesamte mit Faezen belastete Abwasser von bestimmten Nutzungen ausgeschlossen werden muss – mit der Umsetzung dieser Regel gehen tiefgreifende Änderungen in lokalen Praktiken, wie etwa der landwirtschaftlichen Düngung und Bewässerung einher. Die Deutung der Selbstreinigungskraft der Gewässer In biologischen Abwasserreinigungsverfahren werden Stoffwechselprozesse kontrolliert und beschleunigt, die ohnehin in Gewässern vor sich gehen. Insofern weisen von Sperling und de Lemos Chernicharo (2005:80) darauf hin, dass das Konzept der Gewässerreinigung genauso relativ ist wie das des Schmutzstoffes. 4
Hier werden die Begriffe Faeze und Fäkalien unterschieden. Als Faeze wird der menschliche Kot bezeichnet, als Fäkalien alle menschlichen Ausscheidungen, also v. a. Urin und Kot. Diese Unterscheidung ist relevant, weil sich die o. g. Pathogene fast ausschließlich in den Faezen befinden.
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Abb. 5: End-of-pipe Abwasserreinigungssysteme mit a) primärer, b) sekundärer, c) tertiärer und d) weiterer Behandlungsstufe (Asano et al. 2007:100)
Gewässerkörper, ob im dicht besiedelten oder menschenleeren Raum, bestehen nicht aus reinem Wasser, sondern tragen immer Stoffe und Lebewesen in unterschiedlicher Konzentration und Zusammensetzung mit sich, die sich jeweils in einem ständigen Wandlungsprozess befinden. Dieser dauernde Prozess der Anpassung des Ökosystems wird in der Ökologie als „Selbstreinigungskraft der Gewässer“ bezeichnet. Dies bedeutet, dass es keine absolute Gewässerreinheit gibt und dass die Definition der Reinheit des Gewässers in Abhängigkeit von der vorgesehenen Nutzung getroffen werden muss. Für die Analyse eines Abwassersystems in subtropischen Klimazonen ist ein weiterer Aspekt relevant, und zwar die Abhängigkeit der biologischen Prozesse von klimatischen Bedingungen. So begünstigen die höheren Temperaturen in den Subtropen im Vergleich zu denen etwa in Paris die Lebensbedingungen verschiedener Mikroorganismen und führen zu einer Beschleunigung von Stoffwechselprozessen. Dieser Umstand trägt zu einer längeren Lebensdauer bestimmter Pathogene im Abwasser bei und im selben Zuge zur Erhöhung der Effizienz biologischer Verfahren
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zur Entfernung von Schmutzstoffen, durch die bestimmte Verfahren, wie etwa die anaerobe Behandlung von Klärschlämmen zur Produktion von Biogas, erst praktikabel werden (vgl. von Sperling/de Lemos Chernicharo 2005). In welcher Weise die klimatischen Bedingungen in ihrer Unterschiedlichkeit für das Abwasserentsorgungssystem im globalen Süden im Vergleich zur westlichen Welt im Laufe der Zeit von Akteuren als Grundlage für unterschiedliche Zuschreibungen zu jeweils bestehenden und gewünschten Systemen herangezogen wurden, wird weiter unten in Bezug auf Hanoi (Kap. 4.1) diskutiert. Die im Laufe der 1970er Jahre aufgekommenen Erkenntnisse der Ökologie, mit denen eine Fokussierung auf Ressourcenschonung in der Abwasserentsorgung einher ging, können also als Erweiterung und Spezifizierung der Theorie der Bakteriologie verstanden werden. Überlegungen zur Rückgewinnung von Nährstoffen wie Phosphor aus dem Abwasser etwa spiegeln die neuere Ausrichtung auf Ressourcenschutz wider (Kluge/Scheele 2008). Erst mit dem Paradigma der Ressourcenschonung wird Phosphor im Abwasser als Stoff relevant, der aufgrund seines potentiellen Nutzens in der Landwirtschaft als Ressource und nicht mehr nur als Schmutzstoff definiert wird. Die ingenieurtechnisch entwickelten Verfahren zur Rückgewinnung der Nährstoffe und ihrer Nutzung in der Landwirtschaft aber unterliegen weiterhin den aus der Bakteriologie abgeleiteten Anforderungen an die Hygiene. 2.4.2. Das Leitbild der „trockenen und sanitären Stadt“ im globalen Süden In diesem Abschnitt wird erläutert, wie die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Bakteriologie zusammenwirkten mit den übergreifenden städtebaulichen Leitbildern des Endes des 19. Jahrhunderts. Gemeinsam haben beide entscheidend zum heute in der westlichen Welt verbreiteten System der Abwasserentsorgung mittels zentraler unterirdischer Kanäle beigetragen. Das diesem System zugrunde liegende Leitbild der ‚trockenen und sanitären Stadt‘ und entsprechende Bedeutungsmuster wurden wiederum auf die kolonialisierten Räume übertragen (vgl. zum Leitbild: Heidenreich 2004). In welcher Weise diese zur in vielen Städten des globalen Südens vorzufindenden Raumstruktur beigetragen haben und bis heute Diskurse um hygienisches Verhalten prägen, wird hier diskutiert. Die oben diskutierten Fortschritte in der naturwissenschaftlichen Forschung zur Bakteriologie mit der Identifikation von für Seuchen verantwortlichen, v. a. mittels menschlicher Faeze übertragenen Pathogenen brachten einen grundlegenden Wandel in der gesellschaftlichen Haltung zu Hygiene mit sich (vgl. Büschenfeld 2006). Diese bedingte eine Privatisierung von Körperfunktionen und Körperpflege, und eine Aversion gegen menschliche Exkremente. Die aufkommenden Bedeutungsmuster im Hinblick auf soziale Ordnung und individuelles Benehmen bilden laut Gandy (2004:367) den Rahmen für neue architektonische und technische Interventionen mit dem menschlichen Körper, die sich unter den Schlagworten der „bakteriologischen Stadt“ (Gandy 2004/2006; Schramm 2006) oder auch der „trockenen und sanitären Stadt“ (Melosi 2008; Heidenreich 2004) zusammenfassen
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2. Konzeptionelle Grundlegung
lassen. Der Begriff der „bakteriologischen Stadt“ zielt auf das Zusammenspiel von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in der Bakteriologie und übergreifenden Leitbildern der Stadtentwicklung und der Abwasserentsorgung des 19. Jahrhunderts ab, die eine moderne, rationale und funktionsgetrennte Stadt vorsahen (vgl. Frank/Gandy 2006). Wie Gandy (2004:367) anmerkt, diente die damit einhergehende Rationalisierung des Stadtraumes zur Verbesserung der politischen Kontrollierbarkeit. Das zentrale Leitbild für die Entwicklung von urbanen Abwasserentsorgungssystemen des 19. Jahrhunderts ist das Leitbild der „trockenen und sanitären Stadt“. Dieses ist als Spezifizierung des modernen Infrastrukturideals im Hinblick auf den Abwassersektor zu verstehen und liegt sowohl in der westlichen Welt als auch im globalen Süden den damaligen tiefgreifenden städtischen Umbauten und Erweiterungen zugrunde. Wie von Oosterveer et al. (2010:13) zusammengefasst, sieht dieses Leitbild ein System vor, das sich durch den Anschluss aller Haushalte einer Agglomeration mittels eines zentralen Netzes an Anlagen zur Reinigung und Ableitung oder des Abtransportes von Abwässern auszeichnet. Die Haushalte zahlen regelmäßige Gebühren, die die Instandhaltung des Systems nach technischen Standards erlauben, die wiederum in legalen Dokumenten festgelegt sind. Das Leitbild der trockenen und sanitären Stadt impliziert zudem eine klare Trennung von städtischem Raum als Produktionsort von Abwässern und ländlichem Raum als Senke für diese Abwässer und ist damit von direkter städtebaulicher Relevanz. Für den entsprechenden Umbau der Stadt nimmt die Spültoilette eine zentrale Funktion ein, die den Anforderungen an Hygiene entsprechend die Verfrachtung potentiell mit Pathogenen belasteter menschlicher Exkremente direkt aus den Haushalten ohne Kontakt zur Bevölkerung oder dem öffentlichen städtischen Raum in Gewässer des ländlichen Raumes erlaubt (van Vliet et al. 2010). Die in dieser Weise durchgeführte „hydrologische Transformation“ der Städte bewirkte einen grundlegenden Wandel der Ökonomie menschlicher Ausscheidungen (Gandy 2004). Diese wurden vor der Installation der zentral vernetzten Infrastruktursysteme zumeist lokal in Klärgruben oder Latrinen gesammelt und entweder direkt auf Felder aufgebracht oder im urbanen Raum von so genannten night soil collectors gesammelt und zur Düngung auf landwirtschaftliche Flächen gebracht. Der Umgang mit menschlichen Ausscheidungen war also weitgehend unabhängig von der ebenfalls in Grundzügen vorhandenen Stadtentwässerung, die zumeist mittels offener Abläufe und lokaler Versickerung von Regenwasser und flüssigen Abwässern vorgenommen wurde. Wenn also die Idee der netzgebundenen Ableitung von kommunalen Abwässern und Regenwasser bereits weitaus älter ist als das moderne Leitbild der sanitären Stadt, brachte dieses doch einschneidende Veränderungen im Umgang mit als unhygienisch betrachteten menschlichen Ausscheidungen mit sich (vgl. Heidenreich 2006; Cisneros 2011; Mayntz 2008). Auf der stadträumlichen Ebene spiegeln sich diese in dem Versuch wider, die technischen Netzwerke sowohl zur Wasserversorgung als auch zur Abwasserentsorgung vollständig aus dem öffentlichen Raum zu entfernen und durch die Verlegung in den Untergrund unzugänglich zu machen (vgl. Kaika 2005:48). Die Verbindung zwischen dem Management von urbanem Wasser und menschlichen Ausscheidungen wurde in der westlichen Welt mit dem Aufbau des zentralen Abwasserentsor-
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gungssystems hergestellt. Mit dieser Verbindung ging einher, dass die Nutzung der in menschlichen Ausscheidungen vorhandenen Nährstoffe in der Landwirtschaft stark eingeschränkt wurde. Diese war zudem aufgrund weiterer Faktoren, nämlich der oben genannten gesellschaftlichen Haltung zur Hygiene; dem Stadtwachstum, welches potentielle Märkte für Dünger aus städtischem Abwasser in immer größere Ferne rücken ließ, sowie dem Aufkommen künstlicher Düngemittel, ohnehin kaum noch praktikabel (Gandy 2004). Für eine Analyse des Wandels im Umgang mit Fäkalien während der Durchsetzung eines zentralen Systems der Abwasserentsorgung sind kulturelle Unterschiede von Bedeutung. Gerade im Hinblick auf die diversen Kulturen Ostasiens wird deutlich, dass die auch in kritischen Studien im Rückgriff auf die Erfahrungen Europas vorgenommene Gleichsetzung des Ausbaus des zentralen Abwasserentsorgungssystems mit der Integration menschlicher Ausscheidungen in den urbanen Wasserkreislauf keineswegs selbstverständlich ist. Denn technisch gesprochen ermöglicht die Wasserlöslichkeit menschlicher Ausscheidungen diese Integration zwar, jedoch ist sie auch bei Einhaltung der hygienischen Anforderung der Isolation potentieller Krankheitserreger keine Notwendigkeit (vgl. Imhoff 2007). Menschliche Fäkalien können aufgrund ihrer Beschaffenheit sowohl auf Gravitation basierend abgeschwemmt als auch über Land abtransportiert werden. Der Abtransport über Land ist etwa noch heute in japanischen Städten die Regel, in denen sich wie auch in chinesischen Städten bis in die 1940er Jahre hinein ein lokales System der privatwirtschaftlich organisierten night soil Sammlung zur Nutzung in der Landwirtschaft halten konnte. Heute weist dieses System jedoch ähnliche soziotechnische Ausprägungen auf wie die Abwasserentsorgung in der westlichen Welt (s.u.) – ohne dass das Management menschlicher Ausscheidungen mit dem Management der städtischen Gewässer zwangsläufig gleichermaßen direkt verbunden wäre (Harada et al. 2010). Insofern ist hier die Analyse von Gandy kritisch zu hinterfragen, die die während des Aufbaus der zentralen Entsorgungsnetze in den Städten Europas geführte Debatte um das Für und Wider der Ableitung menschlicher Ausscheidungen in den neu errichteten Kanälen – wogegen sich etwa der damals einflussreiche Stadtplaner Haussmann vehement wehrte – allein als Ausdruck von Ängsten über den Verlust menschlicher Fäkalien, entstanden aus einem „cyclical pre-modern understanding of wealth creation“, abtut (Gandy 2004:366). Wie unten in Bezug auf die kritischen Analysen der historischen Entwicklung technischer Abwasserentsorgung ausgeführt wird, tendieren diese dazu, die der Abwasserentsorgung – oder im Falle des Fehlens von Netzen der Sanitärversorgung – zugrunde liegenden Dynamiken mit denen der Wasserversorgung gleichzusetzen und als einen Aspekt der „hydrologischen Transformation“ der Städte unterzuordnen. Inwieweit dies für die Analyse aufschlussreich ist oder auch den Blick auf spezifische Dynamiken verstellen kann, wird weiter unten diskutiert. An dieser Stelle wird zunächst auf die Auswirkungen der Übertragung dieser Leitbilder in die Städte des globalen Südens eingegangen.
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Erfolge und Grenzen der trockenen und sanitären Stadt Die Erfolge der modernen Abwasserentsorgung in Städten im Hinblick auf öffentliche Gesundheit sind nicht von der Hand zu weisen (vgl. Vögele/Koppitz 2006). Dabei sei erneut darauf hingewiesen, dass die genaue Technik, mittels derer die für das Ziel der Hygienisierung notwendige Sicherstellung der Isolation krankheitserregender Stoffe durch die Sammlung und Reinigung von Abwässern erreicht wird, nicht entscheidend ist. Durch den Aufbau der heute durch die öffentliche Hand organisierten night soil collection and treatment Systeme gelang in japanischen Städten etwa seit den 1950er Jahren eine drastische Reduktion der wasserbezogenen Infektionskrankheiten – vergleichbar den Erfolgen, die der Ausbau der Kanalisationssysteme in Europa mit sich brachte (Harada et al. 2008). In beiden Fällen wurde ein System der Abwasserentsorgung etabliert, das in seinen soziotechnischen Ausprägungen dem Leitbild der trockenen und sanitären Stadt entspricht. Die Etablierung dieses dem Prinzip der Zirkulation – der Verbindung von Wasserver- und Abwasserentsorgung in Haushalten – folgenden Systems mit der Reinigung der gesammelten Abwässer vor der Einleitung in den Vorfluter sind bis heute die entscheidende Innovation im Bereich der Abwasserentsorgung und Stand der Technik in den Ländern der westlichen Welt und zunehmend vielen Städten Asiens (vgl. Mayntz 2008). Diese Innovation wurde jedoch nicht weltweit durchgesetzt; mit Blick auf die vielfältigen Formen der Abwasserentsorgung in Städten des globalen Südens stellt diese Form des Umgangs mit Wasser und menschlichen Ausscheidungen in der Stadt vielmehr eine Ausnahme dar (vgl. Gandy 2006). Die Übertragung des Leitbilds der sanitären Stadt während der Kolonialzeit Studien der urbanen politischen Ökologie charakterisieren die im globalen Süden vorzufindenden Strukturen der Abwasserentsorgung und erklären die Bedeutung und materiellen Auswirkungen der oben ausgeführten Leitbilder der Stadtentwicklung und Abwasserentsorgung (vgl. z. B. McFarlane 2008; Gandy 2008; Kooy/ Bakker 2008:376/2008a). Diese Studien vertreten in Anlehnung an die postkoloniale Debatte die grundlegende These, dass das dem modernen Ideal entsprechende, auf stadtweiter Zirkulation und Spültoiletten beruhende System der Wasserver- und Abwasserentsorgung während der Kolonialisierung zwar auf die Länder des globalen Südens übertragen wurde. Dabei wurde jedoch auf Basis der oben erläuterten, in der westlichen Welt damals dominanten Bedeutungsmuster im Hinblick auf hygienisches Verhalten eine Dichotomie konstruiert, zwischen „Kolonialherren“ und „Einheimischen“, „modern“ und „traditionell“, „entwickelt“ und „unterentwickelt“ und „hygienisch“ und „unhygienisch“. Dieser Gegensatz wurde durch einen exklusiven Anschluss kolonialer Eliten an moderne soziotechnische Systeme der Wasserver- und Abwasserentsorgung materiell im gebauten Raum gefestigt. Auf diese Weise waren lokale Bevölkerungsgruppen der Stadt auf die von den kolonialen Eliten als rückständig und unhygienisch abgewerteten Praktiken der Sanitärversorgung festgelegt. In dieser während der Kolonialzeit diskursiv konstruierten und materiell gefestigten Gegensätzlichkeit lässt sich eine bis heute in vielen urbanen Räumen des
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globalen Südens persistente stadträumliche Fragmentierung begründen (Gandy 2004/2005; Kooy/Bakker 2008; McFarlane 2008). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die stadträumliche Fragmentierung im Zuge einiger Analysen als Ergebnis der Widersprüchlichkeiten und der Unvollständigkeit des Regierungshandelns während der Kolonialzeit konzeptualisiert wird (vgl. Li 2007). So konnten die Planer und Planerinnen der Kolonialzeit z. B. laut McFarlane (2008:419) in Mumbai keine klare Linie finden im Umgang mit der gefürchteten Verunreinigung des Stadtraumes – spannungsgeladene Debatten kreisten um drei Belange: den Schutz der Eliten vor der immer drohenden Ansteckung mit Krankheitserregern übertragen durch „Einheimische“, die Versorgung der gesamten Stadt mit Sanitärinfrastrukturen und die Zerstörung unreiner Gebiete. Die Kernthese der hier vorgestellten Untersuchungen ist also, dass die Wurzeln der heute zu beobachtenden sozialräumlichen Fragmentierung der untersuchten Städte des globalen Südens in der Kolonialisierung liegen (McFarlane 2008; Gandy 2008; Kooy/Bakker 2008:376/2008a). Während dieser Zeit hat die Übertragung des Leitbildes der sanitären Stadt, das eigentlich eine Zentralisierung der Abwasserentsorgung enthält, aufgrund der oben erläuterten Mechanismen zu einer stadträumlichen Differenzierung der Abwasserentsorgungsinfrastrukturen geführt, die vielfach bis heute persistent ist. Bevor die soziotechnischen Merkmale dieser Abwasserentsorgungssysteme zur heutigen Zeit vorgestellt werden, sollen hier zunächst die u. a. aus dieser Differenzierung der Abwasserentsorgungssysteme hervorgegangenen, neueren Leitbilder der Abwasserentsorgung erläutert werden. 2.4.3. Neue Leitbilder – die Kontroverse um angepasste Technologien Inspiriert durch eine breite gesellschaftliche Debatte um die „Grenzen des Wachstums“ im Laufe der 1970er Jahre und das Aufkommen des Paradigmas des Ressourcenschutzes wandelten sich die Leitbilder der Entwicklung von Stadt- und technischen Infrastrukturen. So wird das Leitbild der sanitären Stadt nach und nach abgelöst durch das Leitbild der nachhaltigen Stadt (Pincetl 2010). Im Zuge dieses Prozesses wandelt sich die Ausrichtung der Ingenieurwissenschaften, die sich speziell im Abwasserbereich bereits früh mit Alternativen zu zentralen Systemen befassten (vgl. Spaargaren et al. 2005). Die „urbane Krise“ im globalen Süden ließ die Hoffnung auf einen baldigen wirtschaftlichen Anschluss dieser Regionen an die westliche Welt schwinden. Damit einhergehend wuchs innerhalb der Ingenieurwissenschaften die Ablehnung der Idee, dass stadtweit vernetzte großtechnische Abwasserentsorgungssysteme in Städten des globalen Südens flächendeckend umgesetzt werden können. Das Aufkommen des Leitbilds der angepassten Technologien ist dabei keinesfalls als ein gesellschaftlich übergreifender oder gleichgeschalteter Wandel zu betrachten. Vielmehr ist es bis heute umstritten und Teil einer Kontroverse sowohl innerhalb der Ingenieurwissenschaften als auch zwischen Akteuren in der Wissenschaft und in der Praxis. So halten auch in den Regionen des globalen Südens öffentliche Akteure in Städten bis heute vielfach zumindest vordergründig am Ausbau
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eines zentralen Systems fest und wollen die Hoffnung auf den Aufbau der vernetzten, sanitären Stadt nicht aufgeben (vgl. Solo 1999; Swyngedouw 2004). Unter dem Leitbild der angepassten Technologie wurde die Idee verfolgt, die technische Entwicklung ausgehend vom jeweils vorzufindenden Stand der Technik zu betreiben. Dieser Ansatz, seine Resultate in Bezug auf den globalen Süden und die darauf aufbauende Kritik werden im Folgenden erläutert. Differenzierung von Stoffströmen zur Schließung von Stoffkreisläufen Die technische Forschung im Bereich der alternativen Sanitärsysteme konzentriert sich seit dem Aufkommen des Paradigmas des Ressourcenschutzes auf eine differenzierte Analyse der einzelnen Stoffströme der Abwässer (vgl. Bieker et al. 2010). Durch eine Umlenkung und Neukombination bestehender Stoffströme aufgrund ihrer Eigenschaft als organisch oder anorganisch und die Skalierung von Stoffkreisläufen im Raum soll der Verbrauch von Nährstoffen gesenkt werden (vgl. Moss 2001). Durch Co-Fermentation organischer Stoffe kann zudem Bioenergie generiert werden (vgl. Cornel et al. 2011). Innovative Aufbereitungstechnologien und Separations- und Recyclinglösungen bieten neue Potentiale für Systeme, die ganz oder teilweise auf die Führung von Abwässern in Kanälen verzichten (vgl. Umweltbundesamt et al. 2007 zitiert in Kluge/Scheele 2008). Diese bilden die Grundlage für Alternativen zu so genannten konventionellen Systemen mit end-of-pipe Technologien, die neben der oben beschriebenen Vermischung von Stoffströmen und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Entfernung von Nährstoffen unter Chemikalieneinsatz aufgrund der hohen Baukosten und des hohen Wasserverbrauchs mit der Nutzung von Trinkwasser zum Transport von Fäkalien in die Kritik geraten sind (Otterpohl 2001; Schramm 2010). Eine integrierte Betrachtung von Energie- und Stoffströmen bringt losgelöst von räumlichen Spezifika noch keine Implikationen hinsichtlich der zur Anwendung kommenden Technologien mit sich. Van Vliet et al. (2010:2) führen aus, dass zu Transport, Behandlung oder Widernutzung der Stoffe – ob kombinierten oder getrennt – eine Bandbreite von technischen Verfahren in Frage kommen, von großmaßstäblichen Artefakten der Kanalisation und Behandlung zu kleinen low-tech, on-site Systemen, wie Klärgruben oder einfachen Latrinen. Trotz, oder gerade aufgrund der Kontingenz der besten Lösung und trotz des ursprünglichen Paradigmas, die beste Technologie unabhängig von Ideologien und allein aufgrund der lokal vorzufindenden Situation zu wählen, haben sich heute in der Siedlungswasserwirtschaft Schulen heraus gebildet, die spezifische technische Lösungen teilweise vehement ablehnen oder vertreten. Diese Widersprüchlichkeit, also die Rhetorik der angepassten Technologie bei gleichzeitigem Beharren auf spezifische Techniken tritt v. a. unter einigen Befürworter_innen alternativer Systeme der Abwasserentsorgung – bekannt etwa unter den Labels Ökologische Sanitärversorgung (EcoSan) oder Dezentrale Wasser- und Sanitärversorgung (DeWatSan) – zutage (ebd.). Hier werden z. B. technische Systeme vertreten, die sich radikal von der Idee der Kanalführung von Abwässern abwenden und sich auf die lokale, oftmals grundstücksbasierte Nutzung von Urin als Düngemittel konzentrieren – in Anlehnung an Techniken, die traditionell im ländlichen Raum vorzufinden sind.
2.4. Städtische Abwasserentsorgung im Globalen Süden
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Der Verzicht auf Spülwasser und der Fokus auf die lokale Bevölkerung spiegeln sich im Sprachgebrauch wider – es ist nicht mehr von Abwasserentsorgung die Rede, sondern von Sanitärversorgung. Dezentrale Techniken sind zwar auch im stark verdichteten urbanen Raum des globalen Südens oftmals an der Tagesordnung; der Verzicht auf die Ableitung von Abwässern wird jedoch ab einer bestimmten Bevölkerungsdichte aufgrund der Anforderungen an Hygiene im ingenieurwissenschaftlichen Bereich in der Regel nicht vertreten (vgl. z. B. Bradley 1983; Cornel et al. 2011). Dabei sei darauf hingewiesen, dass entsprechende Standards das Objekt einer kontroversen Debatte sind, wobei diejenigen, die dezentrale Technologien befürworten, in der Regel auch niedrigere Standards fordern, mit dem Argument, dass höhere Standards die in vielen Städten des globalen Südens vorzufindenden Technologien diskriminieren würden (vgl. z. B. Paterson et al. 2007). Ressourcenschonung und komplexe Technologien Über den völligen Verzicht auf Kanalführung von Abwässern hinaus bleibt eine Weite Spanne technischer Verfahren, die sich – abermals in Abhängigkeit vom spezifischen räumlichen Kontext – unterscheiden im Hinblick auf Komplexität und Effizienz der Ressourcen und Kosten. Nicht zuletzt aufgrund der Unmöglichkeit der Bewertung unabhängig vom räumlichen Kontext wird hier auf deren umfassende Auflistung verzichtet. Das an der TU Darmstadt entwickelte semizentrale System der Ver- und Entsorgung soll hier als Beispiel für einen neueren Trend im Bereich der Entwicklung alternativer, d. h. autarker oder teilautarker Systeme heran gezogen werden, die zwar im Vergleich zu den alternativen Systemen der 1970er und 1980er Jahre weiterhin Ressourceneffizienz anstreben, dabei jedoch gleichzeitig komplexere Technologien neuester ingenieurwissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechend einsetzen (vgl. Spaargaren et al. 2005). So konzentriert es sich auf der technischen Ebene auf die Co-Fermentation organischer Abfälle und Klärschlamme zur Gewinnung von Biogas und der getrennten Ableitung und Behandlung des Grauwassers aus dem Bad zur Wiedernutzung als Spülwasser der Toilette für Siedlungseinheiten von rund 20.000 – 50.000 Personen (Cornel et al. 2011; Abb. 6). Mit der Berücksichtigung von Aspekten der Energieeffizienz und des Ressourcenschutzes, verbunden mit der Vorgabe fortschrittliche technische Reinigungsverfahren zur Anwendung zu bringen, grenzt sich dieses Konzept technisch von den beiden festgefahrenen Positionen in der Debatte um Abwasserentsorgungssysteme ab und strebt an, die jeweiligen Vorteile zu verbinden und Nachteile jeweils zu vermeiden. Dennoch werden auch hier trotz des Paradigmas der Anpassung konkrete technische Lösungen vorgeschlagen. In dieser Zusammenschau ingenieurtechnischer Innovationen auf Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse wird ersichtlich, dass sie eine Fülle technischer Alternativen hervorbringen, deren optimale Kombination von vielfältigen und zum Teil unbekannten Faktoren abhängt, so dass die Debatte um die beste technische Lösung auch anhand spezifischer Kriterien wie Kosten- und Ressourceneffizienz und Schutz öffentlicher Gesundheit nicht immer wissenschaftlich eindeutig zu klären ist – wie oben (Kap. 2.2.1) dargestellt, hat Hughes dies in seinem Konzept des technological style bereits erkannt. Dieses beschreibt, dass es keine einzig beste
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2. Konzeptionelle Grundlegung
Technik gibt (Hughes 1987:68). In die Bewertung technischer Alternativen fließen oftmals subjektive und ideologische Elemente ein, auch im vordergründig objektiven Bereich der Forschung – wie Joerges (1988:10) in Bezug auf die Großtechnologie ausführt, wurde diese zum Kampfbegriff, „a battle term in the politics and ‚management of meaning‘ surrounding nuclear energy, computerization, genetic engineering and the like“. Dieses Problem greifen van Vliet et al. (2010) in ihrer sozialwissenschaftlichen Analyse aktueller Herausforderungen an Sanitärsysteme auf und sehen von der Empfehlung konkreter Technologien ab. Vielmehr plädieren sie im Hinblick auf die im Abwassersektor aufgetretene diskursive Spaltung zwischen dezentralen und konventionellen technischen Systemen dafür, den jeweiligen Kontext ins Auge zu fassen. Dieser ist im urbanen Raum des globalen Südens oftmals durch die Anwesenheit zentraler technischer Kanäle geprägt, an die jedoch selten die gesamte Bevölkerung einer Stadt angeschlossen ist. Im Sinne eines „modernized mixtures“ Konzepts müsse auf die Schnittstelle zwischen in Städten des globalen Südens vorzufindenden zentralen und dezentralen Systemen fokussiert werden, da radikale dezentrale Ansätze oftmals die lokal vorhandenen, wenn auch teilweise nicht funktionierenden großtechnischen Artefakte ignorieren. „Eventually the sanitation challenge in both the Western and developing world is to go beyond traditional dichotomies between 'small, appropriate' and 'modern, advanced' technologies and to develop rural and urban sanitation with a mix of scales, strategies, technologies, payment systems and decision-making structures, that better fit the physical and human systems for which they are designed.” (van Vliet et al. 2010:5)
Mit dieser Forderung kehren sie zum Ausgang des Paradigmas der appropriate technology zurück, die Verfechter radikal dezentraler technischer Lösungen mit der Ausklammerung von in Städten des globalen Süden meist bestehenden zentralen Systemen aus den Augen verloren haben. energy
waste water
wastewater treatment plant
waste
waste treatment plant
treated wastewater
waste/sludge
„semizentral“ plant
stabilized waste
greywater treated waste
fertilizer
treated water
blackwater
service water
Abb. 6: das System semizentraler Ver- und Entsorgung (rechts) in Abgrenzung zu end-of-pipe Lösungen (links) (eig. Darstellung basierend auf Weber et al. 2007)
2.4. Städtische Abwasserentsorgung im Globalen Süden
77
Zusammenfassend lässt sich schließen, dass bei der Entwicklung ingenieurwissenschaftlicher Konzepte zur Abwasserentsorgung die Erkenntnisse der Bakteriologie nach wie vor die Grundlage für Bewertung und Ausbau des technischen Systems in dicht besiedelten urbanen Räumen sind. Der Zweck des Schutzes der öffentlichen Gesundheit wurde in den letzten Jahrzehnten erweitert um den Ressourcenschutz, der vor dem Hintergrund der Differenzierung städtischer Abwasserentsorgungssysteme im globalen Süden eine breite ingenieurtechnische Debatte über die theoretisch beste Abwasserentsorgungstechnik in unterschiedlichen Raumkontexten mit sich brachte. Hier zeigt sich die Zirkulation vom ingenieurtechnischen Wissen (vgl. Hård/Misa 2008). So wurden nicht nur die oben diskutierten, dem Ideal der modernen Infrastrukturversorgung zugrunde liegenden Bedeutungsmuster von der westlichen Welt in den globalen Süden übertragen. Gleichzeitig diente die bisher nur selten flächendeckend gelungene Umsetzung dieses Ideals im globalen Süden auch als Inspiration für die Entwicklung neuer Konzepte der städtischen Abwasserentsorgung. Diese Konzepte basieren wie erläutert auf einer Orientierung an den vorzufindenden stadträumlich differenzierten Formen der Abwasserentsorgung. Dabei konzentrieren sie sich jedoch vielfach allein auf diejenigen Räume, die bisher nicht an zentrale, leitungebundene Abwasserentsorgung angebunden sind. Heute wird zudem deutlich, dass diese alternativen Konzepte der Abwasserentsorgung zumindest im städtischen Raum nicht verbreitet Anwendung gefunden haben und von öffentlichen Akteuren oftmals auch nicht als echte Alternative zu zentralen, einheitlichen Abwasserentsorgungsnetzen anerkannt worden sind – die „sanitäre Stadt“ bleibt das verbreitete Leitbild von Akteuren in Politik und Verwaltung für die Entwicklung der Abwasserentsorgung im globalen Süden – vielfach ohne dass es bisher erreicht wurde (vgl. Letema et al. 2010; van Vliet et al. 2010). 2.4.4. Merkmale urbaner Abwasserentsorgungssysteme im globalen Süden Die soziotechnischen Systeme der Abwasserentsorgung in Städten des globalen Südens sind vielfältig. Dennoch haben Technikstrukturen, Strukturen der Leistungserbringung mit ihren Tendenzen zu Marktorientierung und Selbstorganisation der Nutzer_innen und politische Regelung übergreifende Merkmale. Hier werden die in Städten des globalen Südens vorzufindenden übergreifenden Merkmale dieser Dimensionen vorgestellt. Technikstruktur – Innerstädtische Differenzierung Die Abwasserentsorgung vieler Städte des globalen Südens ist heute durch Vielfalt gekennzeichnet, wobei Anschlüsse von Haushalten an vernetzte Systeme nur eine Alternative von vielen darstellen – laut einer etwa zehn Jahre alten Studie der Vereinten Nationen waren 15% der Haushalte in Städten des globalen Südens an leitungsgebundene Abwasserentsorgung angeschlossen, während es im Bereich der Wasserversorgung 37% waren (UN-HABITAT 2003:59). Wie von verschiedenen Autoren dargestellt, ist die städtische Abwasserentsorgung vielfach durch eine enge räumliche Verwobenheit und Gleichzeitigkeit von Praktiken wie etwa der lokalen
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2. Konzeptionelle Grundlegung
Ablagerung von Fäkalien oder ihrer lokalen Nutzung in der Landwirtschaft mit großtechnischen Infrastruktursystemen zur Entwässerung und Abwasserreinigung gekennzeichnet (vgl. z. B. Jeuland 2004; Letema et al. 2010). Als Toiletten dienen z. T. einfache Latrinen ohne Anschluss an eine Wasserspülung. Der Abtransport von potentiell krankheitserregenden Fäkalien aus extrem dicht besiedelten Siedlungen ohne Anschluss an Abwasserentsorgungsleitungen wird nicht ausschließlich mittels des städtischen Wasserflusses vorgenommen, sondern u. a. in Abhängigkeit von topographischen und siedlungsstrukturellen Gegebenheiten auch auf dem Landweg (UN-HABITAT 2003:114). Die Leistungsstruktur – räumlich differenzierte Unternehmensstrukturen Wie von Gandy (2004) aufschlussreich analysiert, wirkte sich die entscheidende Innovation des Aufbaus eines zentralen Entsorgungsnetzes infolge der Erkenntnisse der Bakteriologie grundlegend auf die Ökonomie der Abwasserentsorgung und v. a. auf den Handel mit menschlichen Fäkalien aus, deren Wert als handelbares Gut zur Düngung in der Landwirtschaft zurück ging – der Sektor der Abwasserentsorgung wurde zur öffentlich organisierten Aufgabe. Der Aufbau des zentralen Netzes der Wasserver- und Abwasserentsorgung wurde dem modernen Ideal der Infrastrukturversorgung folgend sowohl in Ländern des globalen Südens als auch in der westlichen Welt mit einer starken staatlichen Subventionierung erreicht – Betrieb und Instandhaltung wurden von öffentlichen Unternehmen übernommen, die für die Nutzung der Systeme Gebühren in der Bevölkerung erhoben (Mayntz 2008; Swyngedouw 2004; Budds/McGranahan 2003). Seit den 1990er Jahren ist der Wandel dieser Form der öffentlichen Leistungserbringung im globalen Süden Zentrum einer hitzigen Debatte. In deren Zuge wurde der Liberalisierungspolitik internationaler Finanzorganisationen wie der Weltbank und dem IWF v. a. in Städten Lateinamerikas verheerende Auswirkungen zugeschrieben (vgl. z. B. Swyngedouw 2004; Budds/McGranahan 2003; Fernández-Maldonado 2008). Heute hingegen gerät der neuere Trend zur Rekommunalisierung der Wasserversorgung mehr und mehr in Fokus der Debatte (vgl. z. B. Bakker 2008). Es ist jedoch fraglich, inwieweit diese Debatte um den Trend der Liberalisierung während der 1980er und 1990er Jahre und die heutige Rekommunalisierung für die Leistungsstruktur der urbanen Abwasserentsorgung im globalen Süden von Relevanz ist (vgl. Budds/McGranahan 2003). Zunächst konzentriert sich die Debatte v. a. auf die Wasserversorgung, während die Abwasserentsorgung im Hintergrund steht (vgl. u. a. Mayntz 2008; Swyngedouw 2004; Bakker 2003; eine Ausnahme sind van Vliet et al. 2010). Die geringe Aufmerksamkeit für den Abwassersektor in dieser Debatte mag darin begründet sein, dass hier kaum Tendenzen zur Liberalisierung zu verzeichnen sind, weshalb auch kaum von Rekommunalisierung gesprochen werden kann. So bestehen zwar weltweit komplexe Verflechtungen von Akteuren und Institutionen zur Steuerung und Organisation der Wasserver- und Abwasserentsorgung, die einem Wandel unterworfen sind; die Beteiligung des privaten Sektors bleibt jedoch im Bereich der formalgesetzlich regulierten Ver- und Entsorgung sehr gering – nur etwa 5% der Weltbevölkerung werden vom formellen Privatsektor versorgt (Budds/McGranahan 2003:111).
2.4. Städtische Abwasserentsorgung im Globalen Süden
79
In der formalgesetzlichen Leistungsstruktur der Abwasserentsorgung sind also allgemeine Wandlungstendenzen sowohl von Unternehmensstrukturen als auch von der Rolle staatlicher Einrichtungen in der Erbringung und Regulierung von Leistungen am Rande zu erkennen. Diesen ist jedoch hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit weder eine ausgesprochen positive Wirkung, etwa aufgrund einer Effizienzsteigerung oder durch eine verbesserte Erreichbarkeit von marginalisierten Gruppen, aber auch keine explizit negative Folge, etwa die Ausgrenzung bestimmter Gruppen, eindeutig zuzuschreiben (Budds/McGranahan 2003:113; FernándezMaldonado 2008). Aus diesen Debatten kann geschlossen werden, dass eine alleinige Betrachtung des Wandels formeller Unternehmensformen nicht ausreicht, um die soziotechnischen Strukturen der Abwasserentsorgung und ihre Raumwirkungen zu erklären. Gerade mit Blick auf die stark verdichteten urbanen Räume ohne Anschluss an weiträumig vernetzte Infrastruktursysteme treten Formen der Organisation der Entsorgung oder Nutzung flüssiger und fester Haushaltsabfälle in den Fokus, die sich mit dem oben dargestellten analytischen Zugang nicht erfassen lassen. Sie sind einerseits – wenn überhaupt – in anderer Weise von Politiken der Liberalisierung berührt. Zudem gerät aufgrund fehlender Versorgung mit wasserbasierten Ver- und Entsorgungsnetzen der Aspekt der Zirkulation des Wassers in den Hintergrund, womit die enge Verbindung zwischen Wasser- und Sanitärversorgung gelöst wird (Langergraber/Muellegger 2005). In Bezug auf die Leistungserbringung bedeutet dies einerseits, dass im Bereich der Sanitärversorgung andere Mechanismen greifen als im Bereich der Wasserversorgung – die Organisation der Leistungen kann etwa im Hinblick auf die Ableitung der Haushaltabwässer je nach topographischen Gegebenheiten und sozialen Kontexten individuell oder in lokalen Gruppen oder auch durch lokale Verwaltungen vorgenommen werden. Die Leistungserbringung kann unentgeltlich erfolgen oder die Preise können durch Verhandlungen festgelegt werden. Die Entsorgung menschlicher Fäkalien rückt dagegen beim Verzicht auf Ableitung in Kanälen in die Nähe der Abfallentsorgung (vgl. Jeuland et al. 2004). Marktorientierung und Selbstorganisation der Erbringung von Leistungen Formen der Leistungserbringung außerhalb von städtischen Netzwerken sind geprägt einerseits durch das tendenziell selbstorganisierte Engagement lokaler Bevölkerungsgruppen und andererseits durch marktorientierte und z. T. informelle Unternehmen. Laut Chatzis geht mit einem Aufbau urbaner Abwasserentsorgung durch zentralisierte Kanalsysteme, das dem modernen Ideal entspricht, eine Minimalisierung des Einflusses der Nutzerinnen und Nutzer einher: „Once the system has been designed and built, there is no interaction between the user and the system which functions automatically.“ (Chatzis 1999:72)
Lebensnotwendigkeiten, die dem traditionellen Verständnis großtechnischer Infrastruktursysteme folgend zu den Aufgaben der staatlichen Daseinsvorsorge gehören, werden jedoch in weiten Teilen der Welt in erheblichem Maße durch die Bevölkerung selbst bereitgestellt. Dies zeigt sich z. B. in der selbstorganisierten Aufbringung von Fäkalien auf landwirtschaftliche Flächen, wodurch lokale Bevölkerungs-
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2. Konzeptionelle Grundlegung
gruppen gleichzeitig zu Erbringern von Leistungen werden. So verschwimmen die Grenzen zwischen Nutzenden und Bereitstellenden von Leistungen (vgl. auch Simone 2004). Diese und ähnliche Formen der Leistungserbringung weisen Tendenzen zur Selbstorganisation von Bevölkerungsgruppen auf. Im Zuge der Leistungserbringung durch (informelle) Kleinstunternehmen spielen zudem Marktmechanismen eine zentrale Rolle, da diese im Vergleich zu den oben diskutierten Formen der ökonomischen Leistungsstruktur weitaus weniger direkt von gesetzlicher Regulierung berührt werden (vgl. Jeuland et al. 2004). Von Solo wird die entsprechende Leistungserbringung als „the other private sector“ bezeichnet (1999:118). Mit der Festigung des Leitbilds der angepassten Technologien im Zuge der Akzeptanz der Fragmentierung urbaner Entsorgungssysteme im globalen Süden wandelte sich der Blick auf marktorientierte, informelle und selbstorganisierte Formen der Abwasserentsorgung, die zunehmend in den Fokus der Forschung gerieten. Solo (1999) und Budds/McGranahan (2003) teilen etwa die Auffassung, dass entsprechende Formen der Erbringung von grundlegenden Infrastrukturleistungen den Bedürfnissen der marginalisierten Bevölkerungsgruppen auch in urbanen Räumen eher entsprechen als die Leistungserbringung durch staatlich geregelten Unternehmen, seien diese privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich verfasst. Dies begründen sie v. a. in der höheren Flexibilität in Dauer und Umfang der in Anspruch genommenen Leistungen, die den Nachteil der – teilweise radikal – höheren Kosten pro Einheit ausgleichen kann. Diese Einschätzung mag im Hinblick auf die jeweiligen Untersuchungsräume zutreffen, ist jedoch abermals nicht zu verallgemeinern, wie der Blick in weitere Städte des globalen Südens zeigt, deren sozialräumlich fragmentierte Wasserver- und Abwasserentsorgung zu einer drastischen Benachteiligung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen beiträgt (vgl. z. B. Gandy 2008/2006). Politische Regelungsstruktur – Komplexität der Rolle staatlicher Akteure Mit der Transformation der Wasserver- und Abwasserentsorgung in Richtung des modernen Infrastrukturideals gingen in der westlichen Welt weitreichende Änderungen in der Wahrnehmung des Geltungsbereiches und der Rationalität staatlichen Handelns einher – der Staat übernahm eine Reihe von Aufgaben, die vom privaten Sektor nicht übernommen werden konnten oder wollten. Die Abwasserentsorgung in Städten des globalen Südens ist hingegen durch eine enge Verwobenheit von Akteuren innerhalb vielfältiger institutioneller Strukturen geprägt, teils innerhalb formalstaatlicher Regulierung, teils in informellen Regelungsprozessen. Entsprechende Regelungsprozesse können weder als Überbleibsel ‚traditioneller‘ Institutionen noch als unvollständige moderne Institutionen konzeptualisiert werden (vgl. Gandy 2006; Joshi/Moore 2003). Die Rolle staatlicher Institutionen, deren Nähe zu technischen Infrastruktursystemen in der westlichen Welt als ein zentrales Merkmal aufgefasst wird, stellt sich in Städten des globalen Südens also als komplex dar (vgl. Kapitel 2.2.1). Die soziotechnischen Systeme der Abwasserentsorgung in Städten des globalen Südens sind vielfältig, es zeigen sich jedoch übergreifende Merkmale in Bezug auf die Technikstrukturen, die Leistungserbringung, der Einbeziehung der Nutzer_ innen und die politische Regelung. Die hier vorgenommene Vorstellung der im glo-
2.5. Grundlagen der Untersuchung des
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balen Süden vorzufindenden übergreifenden Merkmale dieser Dimensionen macht deutlich, dass sich Erklärungsansätze für die Persistenz der stadträumlichen Differenzierung von Leistungserbringung und technischen Artefakten der Abwasserentsorgung in der Regelungsstruktur finden. Zudem liegt in den politischen Regelungsprozessen der Schlüssel zur Abschätzung von Umsetzbarkeit und Erfolgschancen von Projekten, die auf dezentralen Technologien und Leistungserbringung durch lokale Bevölkerungsgruppen beruhen. 2.5. GRUNDLAGEN DER UNTERSUCHUNG DES ABWASSERENTSORGUNGSSYSTEMS VON HANOI Um die konzeptionelle Grundlegung dieser Arbeit abzuschließen, wird im nächsten Unterkapitel zunächst der hier gewählte analytische Rahmen erläutert. Daran anschließend werden die Hypothesen, die die empirische Untersuchung Hanois leiten, zusammenfassend vorgestellt. 2.5.1. Der analytische Rahmen Zur Untersuchung des Wandels und weiterer Optionen zur Gestaltung des soziotechnischen Systems der Abwasserentsorgung Hanois wird die analytische Trennung der sozialen und technischen Dimensionen von Infrastruktursystemen in politische Regelungsstruktur, Leistungsstruktur und Technikstruktur in modifizierter Form angewendet. Aus der Analyse staatsnaher Sektoren in Ländern der westlichen Welt heraus basiert die Analytik von Mayntz et al. auf der funktionsbezogenen Trennung zwischen den drei Dimensionen politischer Regelungsstruktur, Leistungsstruktur und Technikstruktur. Wie bereits in Kapitel 2.2.5 diskutiert, unterscheiden sich die Ausprägungen dieser Dimensionen der großtechnischen Infrastruktursysteme im globalen Süden grundlegend vom international zirkulierenden Ideal der modernen Infrastrukturversorgung. Dennoch ist die eben genannte analytische Trennung mit der ihr zugrunde liegenden Sicht auf das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in seinen grundsätzlichen Annahmen auch für den globalen Süden gültig. Diese Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme lässt sich folglich in ihren Grundzügen im globalen Süden anwenden. Dazu bedarf sie jedoch Veränderungen und Ergänzungen. Aufgrund der oben erörterten Ausprägungen der urbanen Abwasserentsorgungssysteme in Städten des globalen Südens wird hier zusammenfassend erklärt, in welcher Weise selbstorganisierte und marktorientierte Formen der Leistungserbringung sowie der städtische Raum und in Leitbildern und Idealen transportierte Bedeutungsmuster in die Analyse aufgenommen werden. Dabei wird auf den Untersuchungsbedarf eingegangen, den der hier gewählte Forschungsrahmen offen legt und zu dem die vorliegende Arbeit einen Beitrag leistet. In Kapitel 2.2.5 wurde erläutert, dass die Analytik von Mayntz anders als andere aktuellere Studien zunächst die Nutzerinnen und Nutzer außen vor lässt. Die Untersuchung der Merkmale soziotechnischer Abwasserentsorgungssysteme in
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2. Konzeptionelle Grundlegung
Städten des globalen Südens in Kapitel 2.4.4 zeigte, dass diese vielfältige Formen der Leistungserbringung mit Tendenzen zur Selbstorganisation aufweisen. Dabei spielt die Bevölkerung selbst eine aktive Rolle in der Abwasserentsorgung. Insofern können lokale Bevölkerungen in ihrer Funktion als Erbringer_innen lebensnotwendiger Infrastrukturleistungen als Teil der Leistungsstruktur begriffen werden und innerhalb dieser Analysedimension untersucht werden. Die Nutzer_innen werden somit nicht als eigene Analysedimension erfasst. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der Arbeitseinsatz von Bevölkerungsgruppen in der Erbringung von Leistungen keine direkten Rückschlüsse auf eine ihre eigenen Interessen stärkende Selbstorganisationsfähigkeit dieser oftmals marginalisierten Gruppen zulässt. Anhand der Fallstudie Hanois wird daher untersucht, welche Implikationen Tendenzen zur Selbstorganisation sowie Arbeitseinsätze lokaler Bevölkerungsgruppen in Bezug auf Diskriminierung oder „empowerment“ gesellschaftlicher Gruppen haben. Zudem zeigte die Untersuchung urbaner Abwasserentsorgungsinfrastrukturen in Kapitel 2.4.4 in Bezug auf die Analytik von Mayntz et al., dass die Organisation der Leistungserbringung durch Regelungsformen geprägt ist, die marktorientiert sind. Marktmechanismen greifen etwa, wenn private und z. T. informelle Kleinstunternehmen Leistungen auf Verhandlungsbasis anbieten, und zwar in einer weitgehenden Abwesenheit regulierender Interventionen. Der Definition von Mayntz und Scharpf (1995:24) folgend würde dies bedeuten, dass diese Formen der Abwasserentsorgung nicht mehr als staatsnah zu definieren sind. Angesichts der oben (Kap. 2.2.4) diskutierten komplexen Verflechtungen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure, die die Abwasserentsorgung in teils informellen Regelungsprozessen gestalten, ist also zu hinterfragen, inwiefern die analytische Trennung zwischen Staatsnähe und Marktorientierung in Bezug auf die Abwasserentsorgung Hanois aufschlussreich ist und welche Implikationen dies für die Konzeptualisierung urbaner Infrastrukturen hat. In der Untersuchung des Wandels der eben genannten sozialen und technischen Dimensionen des urbanen Abwasserentsorgungssystems von Hanoi kommen die Konzepte von Hughes mit den oben (Kap. 2.2.2; Kapitel 2.3.1) erläuterten Modifikationen in Bezug auf die Zirkulation zur Anwendung und werden im Hinblick auf ihren Erklärungswert für den Fall Hanoi geprüft (Kap. 8.2). Weiterhin machten die Analyse der Stadtforschung (Kap. 2.3) und die sekundärempirische Untersuchung der urbanen Abwasserentsorgungssysteme im globalen Süden (Kap. 2.4) den Erklärungswert weiterer stadträumlicher Entwicklungstendenzen deutlich. Die städtische Morphologie und städtische Politiken werden zu einem zentralen Bestandteil der Analyse technischer Infrastrukturregime (vgl. Monstadt 2009:1938). In Bezug auf Abwasserentsorgungssysteme wurde gezeigt, dass ihre sozialen und technischen Ausprägungen weitere sozialräumliche und materielle Dynamiken der Ressourcenverteilung widerspiegeln und verstärken. Hier wird das urbane Abwasserentsorgungssystem Hanois mit Berücksichtigung des Planungssystems im Allgemeinen sowie weiterer Politiken der Boden- und Wohnraumverteilung analysiert. Zudem wird die Analyse auf zirkulierende Leitbilder und Ideale fokussiert, die dem Ausbau und dem Management soziotechnischer Infrastruktursysteme zugrunde liegen. Diese werden jedoch in diesem Rahmen nicht als neben den drei
2.5. Grundlagen der Untersuchung
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Dimensionen von Mayntz einzuordnende, weitere Dimensionen des soziotechnischen Systems verstanden. Vielmehr werden sie in die empirische Analyse aufgenommen, um durch sie die früheren und heutigen Ausprägungen dieser drei Dimensionen des Abwasserentsorgungssystems Hanois zu erklären. Der Wandel von Leitbildern und Bedeutungsmustern lässt sich in der Analyse von historischen und aktuellen Planungsdokumenten ermitteln. Bezüglich der urbanen Abwasserentsorgung gingen entsprechende Leitbilder und Ideale mit dominanten Bedeutungsmustern im Hinblick auf hygienisches Verhalten und den Umgang mit Abwässern einher. Dies spiegelt allerdings eine etwas einseitige Perspektive der öffentlichen Akteure wider. Die individuellen Bedeutungszuschreibungen durch die lokale Bevölkerung lassen sich in den spezifischen Umsetzungen der Planungen und ihrer alltäglichen Nutzung ermessen, wenn auch hier ein Problem der empirischen Nachweisbarkeit im Hinblick auf die historische Analyse besteht. 2.5.2. Forschungsleitende Hypothesen An dieser Stelle werden die Ergebnisse der oben vorgenommenen Untersuchung (1) der Analysetradition technischer Infrastrukturen als Systeme, (2) der auf Infrastrukturen fokussierten Stadtforschung sowie der (3) ingenieur- und sozialwissenschaftlichen Analysen des Abwassersektors als forschungsleitende Hypothesen zusammengefasst. Die abgeleiteten Hypothesen beziehen sich nicht zwangsläufig jeweils auf eines dieser drei untersuchten Forschungsfelder, vielmehr ergeben sie sich zum Teil aus einer Zusammenschau der Debatten. Der gemeinsame Standpunkt der hier vorgestellten Perspektive der Untersuchung technischer Infrastrukturen als soziotechnische Systeme, der auch in dieser Arbeit eingenommen wird, ist, dass die Entwicklung von Technologien ein sozialer Prozess ist, der jedoch nicht von einzelnen gesellschaftlichen oder staatlichen Akteuren gesteuert wird. Vielmehr sind soziotechnische Infrastruktursysteme durch Pfadabhängigkeiten und eine relativ hohe Gestaltungsresistenz geprägt (s. Kapitel 2.2.1). Mayntz et al. stechen mit ihrer politikwissenschaftlichen Ausrichtung aus dem Feld der vorgestellten Ansätze heraus, indem sie ihre Untersuchung auf die spezifischen Gestaltungspotenziale gesellschaftlicher und staatlicher Akteure fokussieren. Dabei sprechen sie staatlichen Akteuren durchaus Steuerungsfähigkeiten zu, wenn diese auch eingeschränkt sind. Zudem gehen sie davon aus, dass sowohl zivilgesellschaftliche und marktorientierte als auch staatliche Akteure in der Lage sind, technische Infrastruktursysteme zielgerichtet zu gestalten (Kap. 2.2.3). Aufgrund von Analysen politischer Regelungsprozesse, die der (Re-)Produktion des städtischen Raumes und der Verteilung von Ressourcen zugrunde liegen sowie der Erforschung der Entwicklung urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme im globalen Süden lassen sich Hypothesen bezüglich der Bedingungen und Voraussetzungen für die Gestaltung soziotechnischer Infrastruktursysteme durch staatliche und gesellschaftliche Akteure ableiten. Die mit moderner Infrastrukturversorgung verbundenen Bedeutungsmuster und ihr Einfluss auf die Stadt- und Infrastrukturentwicklung des globalen Südens werden in der Stadtforschung mit Bezug auf technische Infrastruktursysteme disku-
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2. Konzeptionelle Grundlegung
tiert. Ein aktuelles Anliegen dieser Forschung ist es, die Prozesse von Zersplitterung städtischer Infrastruktursysteme zu ermitteln. Diese wiederum können zu einer Segregation oder Fragmentierung des gesamten städtischen Raumes führen. Damit wird den urbanen soziotechnischen Systemen eine direkte sozialräumliche Wirkung zugesprochen. Wie oben dargestellt, haben die meisten dieser Begriffe zur Charakterisierung technischer Infrastruktursysteme eine negative Konnotation – Zersplitterung und Fraktur erinnern an Knochenbrüche; Segregation ist als soziale Ungleichheit zu definieren und Fragmentierung als deren Steigerung in Form des Verlusts der Solidarität (vgl. Coutard 2008; Coy/Kraas 2003). Demgegenüber wird der neutrale Begriff der Differenzierung technischer Infrastruktursysteme eingebracht, der keine Implikation in Bezug auf die sozialräumliche Wirkung enthält. Wie vielfach erläutert, ist ein Ergebnis dieser Untersuchungen, dass eine Differenzierung großtechnischer Infrastruktursysteme nicht nur nicht unbedingt zu einer sozialräumlichen Fragmentierung und Segregation des städtischen Raumes führt. Im Gegenteil kann die Differenzierung dazu beitragen, diese zu verringern oder zu vermeiden (Wissen/Naumann 2008; Kluge/Scheele 2008; Coutard/Guy 2008; Dupuy 2011). Weiter wird argumentiert, dass der – während der Kolonialzeit initiierte, zum Teil vordergründige Versuch der Umsetzung dieses Ideals der Vereinheitlichung der technischen Infrastruktursysteme bei stark differenzierten stadträumlichen Lebensbedingungen erst zu einer Fragmentierung des urbanen Raumes geführt habe. Aus den vorgestellten Untersuchungen sind also die folgenden Hypothesen abzuleiten: (1) Mit dem Transfer des modernen Infrastrukturideals in die lokalen Kontexte der Länder des globalen Südens wurde während der Kolonialzeit der Grundstein für stadträumliche Fragmentierung gelegt. (2) In Ausbau und Management heutiger Infrastruktursysteme muss auf vorzufindende Fragmentierung mit differenzierten Konzepten reagiert werden, um eine Verstärkung stadträumlicher Diskriminierung zu vermeiden. Die auf Stadtentwicklung und Abwasserentsorgungssysteme des globalen Südens fokussierten Debatten lassen weitere Schlüsse in Bezug auf das Gestaltungspotenzial urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme zu (vgl. Kap .2.3). Im Lichte der Vielfalt städtischer Formen der Abwasserentsorgung und begrenzter Ressourcen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure ist zunächst anzunehmen, dass ein nachhaltiges Konzept der Abwasserentsorgung von den vorzufindenden Systemen in ihrer Differenziertheit ausgehen und pragmatische Lösungen finden muss. Diese können etwa als „modernized mixtures“ sowohl auf der zentralen als auch auf der dezentralen Ebene organisiert sein, einen hohen oder geringen Einsatz der Endnutzer_innen erfordern, auf der technischen Ebene eine Kombination oder eine Separation unterschiedlicher Stoffströme anstreben, und gleichzeitig kostengünstig oder technologisch komplex und kostenintensiv sein (van Vliet et al. 2010). Wie oben erläutert, befinden sich alle dieser möglichen Formen der Infrastrukturversorgung, darunter auch solche dezentralen soziotechnischen Lösungen, die auf lokalem Management und Arbeitseinsätzen lokaler Bevölkerungsgruppen basieren, innerhalb
2.5. Grundlagen der Untersuchung
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des Einflusses staatlicher Akteure. Dieser Einfluss wird auch im Zuge informeller Regelungsprozesse ausgeübt (vgl. Roy 2010; Roy/AlSayyad 2004). So hängen auch dezentrale soziotechnische Systeme von einer grundsätzlich ermöglichenden Haltung staatlicher Akteure ab, damit durch sie die Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen in bestimmten Stadträumen vermieden werden kann (s.o.; vgl. Gandy 2006; Kooy und Bakker 2008, 2008a; McFarlane 2008). Verallgemeinert lässt sich die Hypothese ableiten: (3) Das Gestaltungspotenzial sowohl von dezentralen, stadträumlich differenzierten soziotechnischen Lösungen als auch von zentralen, einheitlichen Systemen der Abwasserentsorgung hängt ab von den partikularen Interessen staatlicher, marktorientierter und gesellschaftlicher Akteure sowie der Vereinbarkeit dieser Interessen. Ausgehend von den Hypothesen ist zu untersuchen, wie das soziotechnische System der urbanen Abwasserentsorgung zu charakterisieren ist, wie die Übertragung des modernen Leitbildes der trockenen und sanitären Stadt in lokale Strukturen vor sich gegangen ist und welche Rolle neuere Konzepte spielen. Dabei sind die breiteren Wandlungstendenzen der politischen Ökonomie mit ihren Auswirkungen auf den Stadtraum zu berücksichtigen. Angesichts der breiten Debatte um die Differenzierung technischer Infrastruktursysteme und die Fragmentierung stadträumlicher Strukturen gilt es zu ermessen, welche Formen der Abwasserentsorgung bestehen, wo innerhalb des stark verdichteten und heterogenen Stadtraumes von Hanoi mehrere voneinander zu differenzierende Systeme zu verorten sind und inwieweit sich Tendenzen der stadträumlichen Fragmentierung erkennen lassen. Diese Untersuchung lässt eine Charakterisierung der stadträumlichen Differenziertheit des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi sowie eine Charakterisierung der gemeinsamen Entwicklungsdynamiken von städtischem Raum und der Abwasserentsorgungsinfrastrukturen zu. Darauf aufbauend werden unter Berücksichtigung der lokalspezifischen politischen Regelungsstrukturen, der Leistungserbringung und technischen Strukturen Handlungsbedarfe sowie Optionen, Restriktionen und Ansatzpunkte für pragmatische Gestaltung von Management und Ausbau des soziotechnischen System der Abwasserentsorgung formuliert.
3. ÜBERBLICK: GESCHICHTE VIETNAMS UND POLITISCHE REGELUNGSPROZESSE VIETNAMS UND HANOIS Bevor die aktuelle Situation des Abwasserentsorgungssystems Hanois und Bestrebungen von Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Bezug auf die weitere Gestaltung des Systems analysiert werden, erfolgt hier zunächst ein Überblick über die Geschichte Vietnams, gefolgt von einer zusammenfassenden Darstellung grundlegender Charakteristika der politisch-administrativen Systeme Vietnams und Hanois. Dabei werden die Ergebnisse früherer Analysen der politischen Regelung Vietnams und Hanois im Hinblick auf die Wirksamkeit gesetzlicher Regulierung und die über diese Regulierung hinausgehenden politischen Regelungsprozesse erläutert. Diese Untersuchung, größtenteils basierend auf den Arbeiten von Luan (1996), Leaf (1999), Koh (2006) sowie Han und Vu (2009), dient als Grundlage für die Analyse der Abwasserentsorgung Hanois. 3.1. DIE HISTORISCHE ENTWICKLUNG VIETNAMS Vietnam ist als ein Land der Sinosphäre in seiner historischen Entwicklung seit der Frühzeit substanziell von China geprägt worden. Das damalige Dai Viet umfasste geographisch ursprünglich im Wesentlichen den Lauf und das Delta des Roten Flusses und war seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. als Provinz des Chinesischen Reiches für etwa 1000 Jahre von diesem beherrscht. Die Chinesen hatten in dieser Zeit und darüber hinaus großen Einfluss auf die Entwicklung der vietnamesischen Kultur und Technologie (van Horen 2005:162). Nach der Emanzipation von China herrschten verschiedene vietnamesische Dynastien über das Land. Hervorzuheben ist die Lý Dynastie, unter deren Herrschaft verschiedene vietnamesische Kleinstaaten vereinigt wurden, wodurch eine Zentralisierung der nationalen Verwaltung gelang (ebd.). Seit dem 16. Jahrhundert nahm der Einfluss Europas, zunächst in Gestalt portugiesischer Seefahrer, später durch jesuitische Missionare und Handeltreibende u. a. aus den Niederlanden und England zu. Mit der französischen Kolonialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurde die Eigenständigkeit des Landes erneut beendet. Der organisierte Widerstand gegen das Kolonialregime wurde ab den frühen 1930er Jahren von Hồ Chí Minh und anderen oftmals europäisch ausgebildeten und teilweise sozialistisch inspirierten Intellektuellen organisiert. Die Auseinandersetzungen mit den imperialen Mächten Frankreich und ab 1940 Japan, das 1944 die direkte Herrschaft übernahm und damit das Regime Frankreichs zwischenzeitlich suspendierte, führten wegen der Unabhängigkeitserklärung der Demokratischen Republik Vietnam durch Hồ Chí Minh nach der Kapitulation Japans am 2. September 1945 zum ersten Indochina-Krieg mit Frankreich. Dieser beendete 1954 die französische Kolonialherrschaft und hatte eine Teilung des Landes zur Folge (vgl. Logan 2000). Im Norden
3.1. Die historische Entwicklung Vietnams
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wurde ein am Nachbarstaat China orientiertes kommunistisches System eingeführt, während im durch Amerika zunehmend unterstützten Süden eine liberale Marktwirtschaft beibehalten wurde. Zur Stabilisierung des von Bürgerkrieg zerrütteten Südvietnams gewährten die USA diesem Militärhilfe und intervenierten ab 1964 geleitet von der Dominotheorie1 im sogenannten Amerikanischen Krieg. Im Rahmen dieser militärischen Eskalation griffen die USA auch Nordvietnam unmittelbar an, konnten jedoch trotz massiver Bombardierungen zwischen 1966 und 1972 keinen Sieg erringen. Nach der Besetzung Saigons 1975 und somit dem Zusammenbruch Südvietnams gingen Nordvietnam und dessen Hauptstadt Hanoi zwar als Sieger aus diesem Krieg hervor, jedoch mit einer stark verarmten und durch Hungersnöte geschwächten Bevölkerung (Selchow 2002:21). Der Versuch der radikalen Umsetzung kommunistischer Ideologien, wie etwa die Umwandlung aller wirtschaftlichen Güter in öffentliches Eigentum und das Verbot privatwirtschaftlicher Aktivitäten, brachte die vietnamesische Wirtschaft zusammen mit dem Ausschluss vom internationalen Handel außerhalb der kommunistischen Welt an den Rand des Zusammenbruchs. So wurde in dem bis dahin durch die damalige Sowjetunion geprägten, kommunistisch ausgerichteten Land der Prozess zur Marktöffnung vom Beginn der 1980er Jahre an eingeleitet (Forbes 1996). Er mündete schließlich in den Resolutionen des Sechsten Parteikongresses 1986 und beinhaltete unter dem Namen Đổi Mới (Erneuerung) bekannt gewordene einschneidende Reformen der Preisgestaltung, der Einkommen und der Währung, einer wirtschaftlichen Deregulierung mit der Aufhebung des Verbots von Privateigentum als einem der „Eckpfeiler des klassischen Sozialismus“ (Gamino 2008:4) und die Integration in die internationale Wirtschaft sowie einer Demokratisierung der Gesellschaft (Forbes 1996; Han/Vu 2009:1097). Wie von Mitchell (2008:2023f) erläutert, war Đổi Mới weitaus mehr als eine Reform der ökonomischen Struktur des Landes, nämlich eine tief greifende soziale und politische Zäsur. Kritisch wurden in den ersten fünfzehn Jahren nach Đổi Mới oftmals das Fehlen grundlegender politischer Reformen – Vietnam ist noch immer ein Einparteienstaat und verfügt über rigide, zentralisierte Entscheidungsstrukturen – sowie die Unübersichtlichkeit der Gesetzgebung betrachtet (vgl. Quang/Kammeier 2002). Reformen des Verwaltungssystems und der Gesetzgebung in Richtung einer Demokratisierung der Gesellschaft und einer Dezentralisierung der Entscheidungsstrukturen werden im Rahmen des Paradigmas des Einparteienstaates allerdings vorangetrieben, wie zunächst die Aufnahme der von internationalen Organisationen propagierten Ziele der Demokratisierung und Dezentralisierung in die Verfassung durch die 2001 vorgenommenen Ergänzungen (Resolution Nr. 51/2001/QH10 SRV; vgl. ADB 2009) zeigt. Neueste Entscheidungen hinsichtlich einer vorläufigen Einführung von direkten Wahlen des Parteivorsitzenden durch das Volk und nicht mehr durch die kommunistische Partei weisen auf einen echten 1
Die Dominotheorie war das Leitbild der Interventionen der USA in die kommunistisch orientierten Länder. Es beinhaltet die Annahme, dass Durchsetzung einer (als schlecht betrachteten) Staatsform in einem Land, das also gleich eines Dominosteines fällt, dazu führt, dass sich diese Staatsform auch in den benachbarten Ländern durchsetzen kann. So entsteht, wie in einem Dominospiel, eine Kettenreaktion – ein Staat fällt nach dem anderen (vgl. Kohl 2001).
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3. Überblick Vietnam und Hanoi
Willen zur Demokratisierung der Gesellschaft und einer Vereinfachung der Entscheidungsstrukturen hin (VNNNEWS 2010). Dass diese Ziele nicht nur durch international geförderte Dezentralisierung der Verwaltungen erreicht werden können, zeigen die in den letzten Jahren vorgenommenen Rezentralisierungen mit der Abschaffung der Volksräte auf lokalen Ebenen der Verwaltung (zu den lokalen Ebenen s. Kap. 3.3). Dieses in einigen ausgewählten Provinzen durchgeführte Vorhaben ist als Erfolg im Hinblick auf eine Vereinfachung der Verwaltungsstrukturen zu werten (vgl. Viet Nguyen et al. 2012). Insgesamt sind diese Maßnahmen in Bezug auf die Integration Vietnams in die internationale Wirtschaft erfolgreich; heute findet sich der ehemals dem kommunistischen Block zugehörige Staat als Mitglied in der Welthandelsorganisation und nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat „hofiert durch die westliche Welt“ (Gamino 2008:6). Die den Reformen folgenden Jahre sind in Vietnam mit einem stetigen wirtschaftlichen und urbanen Wachstum und der Bildung einer neuen Oberschicht verbunden, die sich vorrangig in den beiden großen Städten Hồ Chí Minh City und Hanoi niederlässt (Kraas 2003). Wie unten in Bezug auf Hanoi detailliert erläutert wird, brachte Đổi Mới entscheidende Einschnitte für die Stadt- und Infrastrukturentwicklung Vietnams mit sich. So haben die Aufhebung der Beschränkungen des Zuzugs in die urbanen Zentren sowie der Auflösung der landwirtschaftlichen Kooperativen, die eine starke rural-urbanen Migration der Bevölkerung auslöste (Leaf 2002; Mitchell 2008), in den Đổi Mới folgenden Jahren zu einer rasanten Urbanisierung geführt. Die Verstädterungsrate wird von dem im Vergleich zu anderen Ländern der Region (aufgrund des Krieges und der daraus resultierenden Deurbanisierung Vietnams) niedrigen Stand von ca. 20% 1990 über etwa 30% 2009 auf geschätzte 43% im Jahre 2030 ansteigen (To Lang 2006; GSO 2009a). Absolut lebten Mitte der 1990er Jahre etwa 14 Mio. und 2009 etwa 25 Mio. der dann 86 Mio. Einwohner Vietnams in Städten (Luan 1996:173; GSO 2009a). Nach den weitgreifenden Reformen ist trotz der vorgesehenen Trennung von Politik und Wirtschaft weiterhin eine deutliche Verwobenheit von politischen und wirtschaftlichen Interessen der Eliten Vietnams zu beobachten. Diese nimmt nunmehr allerdings eine andere Gestalt an, als vor der Marktöffnung im Zuge von Đổi Mới. So werden heute beispielsweise exorbitante Gewinne durch Spekulation mit städtischen Immobilien durch staatliche Unternehmen erzielt (Harvard Vietnam Program (HVP) 2008). Im Rahmen dieser Spekulationsprojekte entstehende Wohngebiete sind für breite Bevölkerungsteile der großen Städte heute nicht mehr erschwinglich(vgl. Han/Vu, 2008:1110; GSO 2006). 3.2. DAS PARADIGMA DER POLITISCHEN STEUERUNG Auch wenn die Wirtschaft stark dereguliert wurde, bleibt doch im Einparteienstaat Vietnam das Paradigma der „politischen Steuerung“ durch die Kommunistische Partei erhalten. Das Paradigma der politischen Steuerung sieht eine strikte Trennung zwischen dem Staatsapparat als Subjekt und der Bevölkerung als Objekt die-
3.2. Das Paradigma der politischen Steuerung
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ser Steuerung vor – wobei der Staat den verschiedenen, teils gegenläufigen Interessen von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren übergeordnet ist und diese im Sinne des Allgemeinwohls lenkt (Wu 2004). In den ersten fünfzehn Jahren wurden die seit Đổi Mới offiziell angestrebten Reformen des Verwaltungsapparates eher zaghaft vorangetrieben. Wie von Rondinelli analysiert, ist Vietnam nach wie vor ein Einheitsstaat, der über eine Regierung mit verschiedenen Verwaltungsebenen (Provinz oder zentrale Stadt, ländlicher oder städtischer Bezirk, Gemeinde oder Stadtteil) verfügt, die jeweils jedoch nach wie vor weitgehend an die zentrale Ebene gebunden sind, bisher nur eingeschränkt über eigene Finanzmittel verfügen und somit auch nur geringe Handlungsfreiheit haben (Rondinelli 1999:130). Der Reformprozess hat jedoch seit der Jahrtausendwende an Intensität gewonnen (vgl. Lefevre et al. 2010). Die Autonomie der Lokalverwaltungen wurden seither durch das neue Haushaltsgesetz von 2002 sowie das Investitionsgesetz von 2005 (Budget Law 2002; Common Investment Law 2005) in den Bereichen von Finanzverwaltung und Bewilligung von Investitionsprojekten ausgeweitet. Das in der Verfassung seit 2001 festgeschriebene Ziel der Dezentralisierung wird jedoch nicht in erster Linie verfolgt. Der Schwerpunkt von Reformen des politisch-administrativen Systems liegt eher auf einer pragmatischen Vereinfachung der Verwaltungsstrukturen, die in Teilbereichen zu Rezentralisierung führen kann. Frühere, dem Paradigma der Dezentralisierung der Regierungsführung zugeschriebene Interventionen sind zudem tatsächlich eher als Dekonzentration oder als Delegation von Aufgaben zu beschreiben. Dekonzentrationsprozesse fanden in Form von Aufgabenübertragungen von höheren auf niedrigere Verwaltungsebenen statt. Diese dienten der Entlastung der zentralen Verwaltung, die jedoch nach wie vor weitgehende Entscheidungsgewalt inne hält. Weiterhin wurden Aufgaben auch an Institutionen außerhalb des Regierungsapparates delegiert (GHK 2005). Hierzu gehört beispielsweise eine stärkere Einbindung der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in der vietnamesischen Gesellschaft traditionell eine wichtige Rolle einnehmen und staatsnah organisiert sind, namentlich bei der Übernahme von Aufgaben in Gesundheitswesen, Wohlfahrt und Erziehung (Will 2008:13). Für die in der Verfassung verankerte Öffnung zur Marktwirtschaft mit der Unterstützung privater Investitionen wurde mittels Einführung unterschiedlicher privatwirtschaftlicher Unternehmensformen durch das Enterprise Law (letzte Aktualisierung 2005) eine gesetzliche Grundlage geschaffen. Die städtischen Infrastruktursysteme sind hiervon auf verschiedene Weise betroffen. Zunächst werden die ehemals staatseigenen Unternehmen als Aktiengesellschaften kommerzialisiert und darüber hinaus werden Privatunternehmen als Erbringer von Infrastrukturdienstleistungen zugelassen. Das diesen Tendenzen zugrunde liegenden Konzept der „Vergesellschaftung“ (xã hội hóa) von Kosten und Aufgaben – auch hier wird die Gesellschaft als Gegensatz zum Staat begriffen, weshalb „Vergesellschaftung“ die Entlastung des Staates meint – trägt neoliberale Züge, da Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge vom Staat auf zivilgesellschaftliche und private Gruppen übertragen werden sollen (vgl. Norlund 2007). Zusammenfassend kann das aktuelle politische Regime in Vietnam (vergleichbar mit China) als „autoritärer Kapitalismus“ bezeichnet werden, da das Ideal der politischen Steuerung der Zentralregierung
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3. Überblick Vietnam und Hanoi
nicht aufgegeben wird und dennoch wirtschaftsliberale Reformen zur Entlastung und Verschlankung des Staates, der sich somit auf seine grundlegenden Aufgaben der Steuerung beschränken kann, durchgeführt werden (vgl. in Bezug auf China Ma 2009; Will 2008). 3.3. DIE FORMELLE POLITISCH-ADMINISTRATIVE STRUKTUR VIETNAMS UND HANOIS Die Grundlagen des politisch-administrativen Systems der Sozialistischen Republik Vietnam sind in der 2001 letztmalig aktualisierten Verfassung festgelegt. Dieses System spiegelt den Anspruch der Regierung Vietnams auf eine politische Steuerung der Gesellschaft wider: Formell besteht ein engmaschiges System von Verwaltungseinheiten auf vier räumlichen Ebenen, ergänzt durch lokale Gruppierungen bis auf die Ebene der Nachbarschaften hinab und durch die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen. Es ist geprägt durch eine starke Verwobenheit dieser politischen Einheiten und zivilgesellschaftlichen Organisationen miteinander und eine breite Durchdringung der Gesellschaft. Die Tradition einer engen Verwobenheit von Staat und Bevölkerung Vietnams reicht bis in das Mittelalter zurück. So galt in Vietnam, das bis in das 10. Jahrhundert unter chinesischer Herrschaft stand, als konfuzianisch geprägter Staat das Prinzip der direkten Kontrolle der Bevölkerung durch die Machthaber (vgl. Luan 1996:170). Leaf sieht das heutige Verwaltungssystem Vietnams als Resultat der historischen Entwicklung in Vietnam, nämlich als „[…] a system born of imperial roots, shaped by Stalinist goals of social control and tempered by decades of war mobilisation.” (Leaf 1999:300)
Diese Beschreibung ist aufschlussreich, denn ihr ist einerseits die These zu entnehmen, dass sich die verschiedenen Paradigmen der sich abwechselnden politischen Systeme mit ihrem Anspruch auf politische Steuerung auf das Verwaltungssystem jeweils auswirkten und dass anderseits gleichzeitig die Steuerungskapazitäten der Regierung aufgrund der kriegsbedingte Schwächung des Landes eingeschränkt sind. Bis heute wird dieses System definiert durch die Kommunistische Partei Vietnams als einzige Partei, die auf vier räumlichen Ebenen organisiert ist. Sie dominiert die Zentralregierung, geleitet von der Nationalversammlung bestehend aus Premierminister und den Fachministerien, sowie die auf allen administrativen Ebenen gewählten Volksräte und Volkskomitees als Bindeglied zwischen politischer Führung und Bevölkerung. Die vier räumlichen Organisationsebenen der Kommunistischen Partei sind die zentrale Ebene, die Ebene der Provinz (oder im Falle zentraler Städte der Ebene der Stadt), die Distrikt-/oder in Städten Bezirksebene und die Ebene der ländlichen Gemeinden oder der Stadtteile. Zentralregierung: Partei und Nationalversammlung Der Kommunistischen Partei kommt die entscheidende Rolle der Führung Vietnams innerhalb des konstitutionellen und legislativen Rahmens zu. Wie von van
3.3. Die politisch-administrative Struktur Vietnams und Hanois
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Hoeren festgestellt, ist die Partei mit ihrem Führungsmonopol nach wie vor „a critical source of power in the Vietnamese society“ (van Hoeren, 2005:168). Laut Verfassung von 1992 ist die Kommunistische Partei „[…] the faithful representative of the rights and interests of the working class, the toiling people, and the whole nation, acting upon the Marxist-Leninist doctrine and Ho Chi Minh thought […]” (Art. 4 Verfassung SRV 1992)
Die Partei agiert auf den o. g. vier räumlichen Ebenen (Luan 1996:177). Auf der zentralen Regierungsebene spielt das Parlament, die Nationalversammlung, als höchstes Organ der Staatsmacht Vietnams und als einzige konstituierende und gesetzgebende Kraft des Landes eine wichtige Rolle. Allerdings bleibt die Frage, in wie weit das Gewicht der Nationalversammlung im Vergleich zu dem der Partei infolge von Đổi Mới tatsächlich zugenommen hat (so wie von internationalen Organisationen gefordert) bisher offen. Formell obliegt ihr die Entscheidungsgewalt über innere und äußere Angelegenheiten, sozioökonomische Aufgaben und Entwicklung, sowie den Staatshaushalt und die Prinzipien der Staatsführung Vietnams – kurz, sie hat die Kontrolle über staatliche Aktivitäten (Luan 1996; Verfassung SRV 1992). Nicht zuletzt fällt neben der Ernennung des Premierministers und anderer Regierungsmitglieder unter anderem die Ernennung der verschiedenen Fachminister in das Zuständigkeitsfeld der Nationalversammlung. Damit wirkt sie direkt auf die verschiedenen Fachministerien – die von Leaf (1999:301) so genannte horizontale Achse des Verwaltungssystems Vietnams – ein, die insbesondere hinsichtlich der formellen Systeme der räumlichen Gesamtplanung und der Infrastrukturplanung eine wichtige Rolle einnehmen. So sind Fachministerien zuständig für die Raumplanung, die Flächennutzungsplanung und die Planung von Infrastruktureinrichtungen einerseits und die Überwachung der Erbringungen von Leistungen zur Daseinsvorsorge sowie der Erreichung von Umweltqualitätszielen andererseits (ebd.). Wie unten im Detail diskutiert wird, ist die Koordination der Tätigkeiten und die Abgrenzung der Aufgabenbereiche der verschiedenen Ministerien für eine bessere Zusammenarbeit von großer Wichtigkeit für die weitere Entwicklung der Raum- und Infrastrukturplanung Vietnams (vgl. ADB et al. 2009:12). Die lokalen Ebenen der Verwaltung Vietnams mit einem Fokus auf Hanoi Die kommunistische Partei agiert auf verschiedenen räumlichen Einheiten. Abgesehen von der zentralen Staatsregierung sind dies die Provinzen (oder die fünf der Regierung direkt unterstehenden zentralen Städte Hanoi, Hải Phòng, Ho-Chi-MinhStadt, Đà Nẵng und Cần Thơ), die sich im Falle von zentralen Städten in städtische (quận) und ländliche Bezirke (huyện) und im Falle von Provinzen in Distrikte oder Provinzstädte – definiert als etwa 20.000 bis 1.000.000 Einwohner umfassend (Luan 1996) – unterteilen. Die Bezirke, Distrikte, und Provinzstädte setzen sich wiederum aus Stadtteilen (phường) und ländlichen Gemeinden zusammen (Leaf 1999). Diese Hierarchie kann als die vertikale Achse der Regierungsführung Vietnams bezeichnet werden. Jede dieser Ebenen wird von einem gewählten Volksrat verwaltet, deren Mitglieder wiederum Mitglieder der Exekutive (Volkskomitee) aufstellen. Laut Verfassung hat der Volksrat als das lokale Organ der Staatsmacht die höhere Stellung, tatsächlich ist jedoch das Volkskomitee mit der Verantwortung
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3. Überblick Vietnam und Hanoi
zur Ausführung der Gesetze und Regelungen höherer staatlicher Stellen die einflussreichere und für die Entwicklung von Stadt und Infrastruktur bedeutendere Institution (vgl. Koh 2006:33). In der Praxis ist insbesondere die Abgrenzung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der Volkskomitees auf den verschiedenen Ebenen eine Herausforderung. Wie die folgende Beschreibung der administrativen Gliederung Hanois zeigt, bringen zudem die im Zuge rasanten Stadtwachstums aktuell stattfindenden administrativen Umwidmungen beträchtlichen Verwaltungsaufwand mit sich. Administrative Grenzen und Gliederung Hanois Hanoi ist eine der zentralen Städte Vietnams und verfügt seit der letzten Erweiterung der Stadtgrenzen 2008 über 29 dem Volkskomitee Hanois direkt unterordnete Verwaltungseinheiten (vgl. Abb. 7). Dies sind zunächst die zehn urbanen Bezirke Ba Đình, Cầu Giấy, Đống Đa, Hà Đông, Hai Bà Trưng, Hoàn Kiếm, Hoàng Mai, Long Biên, Tây Hồ, Thanh Xuân (vgl. Abb. 8). Hinzu kommen 18 ländliche Bezirke, nämlich Ba Vì, Chương Mỹ, Đan Phượng, Đông Anh, Gia Lâm, Hoài Đức, Mê Linh, Mỹ Đức, Phú Xuyên, Phúc Thọ, Quốc Oai, Sóc Sơn, Thạch Thất, Thanh Oai, Thanh Trì, Thường Tín , Từ Liêm, Ứng Hòa und die Stadt Sơn Tây (82/BC-CP 2008, Abb. 8). In den letzten 20 Jahren hat Hanoi sich dynamisch entwickelt. Zunächst wuchs Bevölkerung der Stadt kontinuierlich. 1990 hatte die Stadt bei einer Fläche von etwa 92ha rund 2 Mio. Einwohner, 1999 rund 2,7. Vor der Erweiterung im Jahr 2007 betrug die Einwohnerzahl 3,2 Mio. (GSO 2009c). Somit ist die Bevölkerung jährlich um etwa 2% gewachsen, wobei die Bevölkerung der städtischen Bezirke um rund 4,6% – dies hauptsächlich durch Migration – anwuchs (ebd.). Die tatsächliche Bevölkerungsgröße ist schwer zu fassen, da sich neben den offiziell in Hanoi gemeldeten Menschen dort auch weitere Personen aufhalten, die nicht in Zählungen auftauchen. Deshalb sind die Schätzungen des statistischen Amtes wahrscheinlich noch zu gering (Smith/Scarpaci 2000). Heute umfasst die Fläche des erweiterten Hanois 335ha und über 6,4 Mio. Einwohner, wovon laut offiziellen Schätzungen rund 2,6 Mio. in den urbanen Bezirken leben (GSO 2009c). Diesem Wachstum folgend wurden die administrativen Grenzen der Stadt mehrmals verschoben. Regierung Zentrale Stadt (Hanoi)
Provinz Distrikt Distriktstadt
Gemeinde
Provinzstadt Stadtteil
Gemeinde
Stadt (1) Stadtteil
Gemeinde
Ländlicher Bezirk (18) Distriktstadt (22)
Städtischer Bezirk (10) Gemeinde (401)
Abb. 7: Die Verwaltungsstruktur Vietnams und Hanois (GSO 2009c; Luan 1996)
Stadtteil (154)
3. 3. Die politisch-administrative Struktur Vietnams und Hanois
93
Die letzte Änderung der administrativen Grenzen wurde 2009 mit der Konversion von Hà Đông, der ehemaligen Hauptstadt der im Jahr zuvor eingemeindeten Provinz Hà Tây, in einen städtischen Bezirk Hanois vorgenommen (PPJ 2010a). Zivilgesellschaftliche Organisationen Während die unter den urbanen und ländlichen Bezirken angesiedelten Stadtteile oder ländliche Gemeinden die unterste formelle, der Kommunistischen Partei angegliederte Verwaltungseinheiten Vietnams darstellen, reicht die Organisation der lokalen Bevölkerung bis auf die Ebene der Nachbarschaften. Auf dieser Ebene schließen sich Haushalte zu Gruppen aus etwa 30 bis 40 Haushalten (tổ) einer Straße, eines Blocks oder eines Geschosswohngebäudes zusammen (Parenteau/Thong 2005). Diese wählen einen Vertreter oder eine Vertreterin, der oder die als Bindeglied zur Stadtteilverwaltung agiert. So nimmt der oder die Vorstehende der Haushaltsgruppen (tổ dân phố), an Volksräten auf der Ebene der Stadtteile oder Gemeinden teil und kann dort die Belange der lokalen Bevölkerung direkt vertreten (Luan 1996). Ein bedeutender Teil der vietnamesischen Gesellschaft ist nicht nur in nachbarschaftlichen Haushaltsgruppen organisiert, sondern auch in sogenannten Massenorganisationen, wie dem Verband der Frauen und dem Verband der Jugend. Diese unterstützen laut Verfassung von 1992 die lokale Verwaltung der Stadteile oder Gemeinden bei der Ausführung bei Regierungsaufgaben. Formell bildet die Fatherland Front (mặt trận tổ quốc) das Dach der Massenorganisationen und die Verbindung zu den Verwaltungs- und Regierungsorganen – sie bildet laut Verfassung die politische Basis für die Macht des Volkes. Die enge Verwobenheit der zivilgesellschaftlichen Gruppen mit der staatlichen Verwaltung Vietnams manifestiert sich in der Erwähnung der Fatherland Front in der Verfassung des Landes, die festlegt, dass Staat und Fatherland Front zur Wahrung der Interessen des vietnamesischen Volkes eng zusammenarbeiten sollen. Die Massenorganisationen spielen hinsichtlich der Infrastrukturversorgung und der Instandhaltung technischer Infrastrukturen vor allem in ländlichen und peri-urbanen Räumen eine bedeutende Rolle (GHK 2005). Da diese Gruppen sich formell außerhalb des Systems der Kommunistischen Partei und des Regierungssystems Vietnams befinden, können sie als die vietnamesische Variante der zivilgesellschaftlichen Organisation angesehen werden (Leaf 1999). Wenn diese Organisationen auch als zivilgesellschaftlich definiert werden können, so unterscheiden sie sich doch in Stellenwert, Organisationsgrad sowie dem Grad und Art der Verbundenheit mit formellen Regierungsorganisationen stark vom westlichen Modell der Zivilgesellschaft und entsprechen vielmehr einem konfuzianischen und auch kommunistischen Verständnis der sehr engen und hierarchischen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft (vgl. Norlund 2007). Zuständigkeiten in der Bereitstellung urbaner Infrastrukturen In seiner Gesamtheit besteht das Verwaltungssystem Vietnams zunächst aus der horizontalen Achse der Fachministerien, die die oben dargestellten Aufgaben der Raumplanung und Versorgung mit technischen Infrastrukturen zu erfüllen haben. Den Fachministerien untergeordnet sind Fachabteilungen, die jeweils auf jeder der vier oben benannten räumlichen Verwaltungseinheiten – der vertikalen Achse
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3. Überblick Vietnam und Hanoi
des Verwaltungssystems Vietnams – angesiedelt sind. Beispielhaft steht in urbanen Räumen das Bauministerium (Staatsebene) den entsprechenden städtischen Ämtern (Department of Construction) vor, die ihrerseits die Aufsicht über Tätigkeiten der Abteilungen, der „Bureaus of Construction“ auf Bezirksebene ausüben (Leaf 1999). Diesen Einrichtungen steht gleichzeitig das jeweilige Volkskomitee vor, das als Exekutivorgan hinsichtlich fachlicher Planungen und Fragen beraten wird und auf dieser Basis Entscheidungen trifft. 3.4. DIE PLANUNG DES AUSBAUS TECHNISCHER INFRASTRUKTUREN Ein Schwerpunkt der unten (Kap. 4) im Rahmen der historischen Analyse der Entwicklung Hanois erläuterten Stadtentwicklungspläne ist eine detaillierte Darstellung geplanter technischer Infrastrukturen. In zentralen Städten erstellen die dem Bauministerium untergeordneten Ämter zusätzlich zum generellen Plan spezielle Pläne über die technischen Infrastrukturen. Hinsichtlich der Abwasserentsorgung müssen Details bezüglich des geplanten Abwasservolumens, des Verlaufs der Kanalisation, der Standorte von Abwasseranlagen und des Abstands von zu schützenden Wasserkörpern illustriert werden (Interview Việt Anh Nguyễn 2009). Inwieweit diese Planungen konkret umgesetzt werden, hängt jedoch maßgeblich von anderen Regierungseinheiten als dem Bauministerium ab. Die Entscheidung über Investitionen in Infrastrukturanlagen wird nämlich nicht durch das Bauministerium bzw. durch dessen zuständige Fachabteilungen gefällt – hierfür ist das Ministerium für Investitionen und Planung (Ministry of Planning and Investment, MOPI) auf Basis der sozioökonomischen Entwicklungsplanung zuständig. Damit ist das Verhältnis dieser Ministerien von entscheidender Bedeutung für den Planungsprozess. Die unter die Verantwortung des MoPI fallende sozioökonomische Entwicklungsplanung ist noch heute als das wichtigste Planungsinstrument des Landes. Die sozioökonomische Planung wurde seit Đổi Mới reformiert und setzt sich heute aus einer 10-Jahresstrategie und jeweils zwei korrespondierenden 5-Jahresplänen zusammen (MLIT 2011). Den lokalen Ämtern (Departments of Planning and Investment - DPI) werden im Planungsprozess der sozioökonomischen Pläne die Möglichkeit eingeräumt, Stellungnahmen und Vorschläge über einzubeziehende Planungsgegenstände – wie z. B. den zu erwartenden Bedarf an Abwasserreinigungsanlagen innerhalb ihres Verwaltungsgebietes – abzugeben. Diese Eingaben werden über die übergeordneten zuständigen Verwaltungseinheiten dem MoPI vorgelegt und von diesem gegebenenfalls in den Plan aufgenommen (Interview Paul Schuttenbelt 2010). Die dem Bauministerium unterstehende räumliche Gesamtplanung ist insofern formell an die sozioökonomische Planung gebunden, als dass die Einhaltung der dort umrissenen Ziele für die räumliche Entwicklung Vietnams gewährleistet sein muss. Für die Planung des Ausbaus technischer Infrastrukturanlagen ist weiterhin der Erlass 78/2007/ND-CP von Bedeutung. Mit dem Ziel der Anziehung von Geldern, die nicht direkt aus dem Staatshaushalt kommen, werden hier Rahmenbedingungen und Verfahren zur Auswahl und Umsetzung von Investitionsprojekten, sogenannten
3.4. Die Planung des Ausbaus technischer Infrastrukturen
Legende Städtische Bezirke Ländliche Bezirke 1 km
Abb. 8: Städtische und ländliche Bezirke Hanois 2010 (Eig. Darstellung basierend auf PPJ 2010a)
Tây Hồ
Legende Wasser
Long Biên Cầu Giấy
Bezirksgrenze
Ba Đình
Hoàn Kiếm
Đống Đa Hai Bà Trưng
1 km
Thanh Xuân
Hoàng Mai Hà Đông
Abb. 9: Städtische Bezirke Hanois 2010
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96
3. Überblick Vietnam und Hanoi
Build-operate-transfer (BOT), Build-operate (BO) und Build-transfer (BT) Projekten formuliert. Während diese Projekte verschiedentlich als Public-Private-Partnership bezeichnet werden, handelt es sich tatsächlich oftmals um öffentlich-öffentliche Verträge, die zwischen der öffentlichen Verwaltung und zwar formell kommerzialisierten, jedoch nach wie vor staatseigenen Unternehmen abgeschlossen werden (vgl. Interview Vũ Bá Đạt 2010; HVP 2008). Der Auswahlprozess der Investitionsprojekte orientiert sich an der vom Ministerium für Planung und Investitionen durchgeführten sozioökonomischen Entwicklungsplanung und nicht an den räumlichen Planungen des Bauministeriums. Wenn seit Đổi Mới Stadtentwicklungsplanungen auch außerhalb der gesetzlich vorgegebenen Planwerke, etwa durch die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) oder die Japanische Entwicklungszusammenarbeit (JICA), an Bedeutung gewinnen, bleibt die Masterplanung des Bauministeriums mit ihrer kartographischen Darstellung vorgesehener räumlicher Entwicklungen zunächst das zentrale raumplanerische Instrument Vietnams. Gleichzeitig wirkt sich die oben dargestellte Planung von Infrastrukturprojekten direkt auf die tatsächliche räumliche Entwicklung Vietnams aus. Diese federführend vom Ministerium für Planung und Investitionen durchgeführte Planung bezieht sich nicht auf die räumlichen Planungen des Bauministeriums, sondern allein auf die sozioökonomische Entwicklungsplanung und kommt ihrerseits ohne graphische Darstellung der räumlichen Anordnung dieser Projekte aus. Für eine kohärente räumliche Planung ist die Zusammenarbeit beider Ministerien also von großer Bedeutung. Ein drittes Ministerium, das für die Gestaltung des Raumes von Bedeutung ist, ist schließlich das 2003 ins Leben gerufene Ministerium für natürliche Ressourcen und Umwelt (Ministry of Natural Resources and Environment – MONRE). Als Kontrollorgan für die Entwicklung des Raumes und der natürlichen Ressourcen überschaut und bewertet das MONRE die gestaltenden Tätigkeiten des Bauministeriums. Durch seine intensive Kritik an Vorgaben der Masterpläne einerseits und Stadtentwicklungstendenzen – etwa hinsichtlich der Immobilienpreise oder der baulichen Qualität neuer Stadtviertel – andererseits wirkt es auf die Planungen des Bauministeriums ein. 3.5. ENTSCHEIDUNGSPROZESSE INNERHALB DES FORMELLEN SYSTEMS UND DARÜBER HINAUS An dieser Stelle wird auf drei miteinander verbundene Aspekte eingegangen: Auf die Kapazitäten des politisch-administrativen Systems zur Planung von Stadtraum und technischen Infrastruktursystemen, auf die Rolle weiterer über die formellen Strukturen dieses Systems hinausgehende politische Regelungsprozesse und auf die Beziehung zwischen diesen Regelungsprozessen (vgl. v. a. Leaf 1999; Koh 2006; Quang/Kammeier 2002; Will 2008; Mattner 2004). Bisherige politik- und planungswissenschaftliche Analysen weisen einerseits darauf hin, dass das politisch-administrative System aufgrund seines Aufbaus zu Unklarheiten in der Verteilung von Verantwortungen führt, was die Kapazitäten zur räumlichen und infra-
3.5. Entscheidungsprozesse innerhalb des formellen Systems und darüber hinaus
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strukturellen Planungen einschränkt. Darüber hinaus gehen sie auf die Abweichung zwischen Auffassung und Realität von Beziehung von staatlichen Akteuren untereinander; der Beziehung staatlicher Akteure mit gesellschaftlichen Akteuren; sowie von der Rolle des Staates als solchem ein (Koh 2006; Will 2008; Mattner 2004). Diese prägt zusammen mit den durch das politisch-administrative System hervorgerufenen Komplikationen die Entwicklung von urbanem Raum und damit auch von technischen Infrastruktursystemen. Wie von Leaf (1999) analysiert, erschwert die im Verwaltungssystem Vietnams vorzufindende Doppelstruktur vertikaler und horizontaler Kompetenzen eine klare Zuordnung von Zuständigkeiten. Zudem ist die Abtrennung von Aufgabenbereichen innerhalb der Verwaltung nicht immer deutlich. In der Infrastrukturplanung etwa werden zwar durch Verwaltungseinheiten, die dem Bauministerium untergeordnet sind, kartographische Ausweisungen festgelegt, die tatsächlichen Entscheidungen über Investitionen werden jedoch aufgrund der sozioökonomischen Planung wie oben festgestellt in den Verwaltungseinheiten unter dem MoPI getroffen. Hierdurch wird die räumliche Planung maßgeblich geschwächt (vgl. Interview Paul Schuttenbelt 2010). Darüber hinaus entstehen einerseits überregulierte Bereiche, und andererseits Bereiche, die außerhalb formeller Regelungen liegen und über die mittels spontaner und individueller Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen entschieden wird (ebd.). Allgemein zeigt sich im politisch-administrativen System Vietnams die Ambivalenz zwischen der marktwirtschaftlichen Orientierung einerseits und dem Festhalten an einer zentralisierten, top-down Verfahrensstruktur andererseits (vgl. Quang/Kammeier 2002; Mattner 2004; Lefevre et al. 2010). Für internationale Organisationen ist diese Situation Anlass, eine Vereinfachung der staatlichen Regulierung anzumahnen, und zwar mittels einer Dezentralisierung der formellen Entscheidungsstrukturen und Verantwortlichkeiten (vgl. z. B. ADB et al. 2009). Hierzu hat sich die Regierung Vietnams in der neuesten Ergänzung zur Verfassung von 2001 formell bekannt. Dennoch stellt sie das Paradigma der politischen Steuerung nicht grundlegend in Frage. Diese Auffassung vom Staat als eine übergeordnete Einheit, die die politische Steuerung der Bevölkerung und des Marktes mittels eines engmaschigen Verwaltungssystems bewerkstelligt, ist allerdings nicht zutreffend. Dies ist – so Koh (2006) – ein typisches Problem derartiger politischer Systeme, in denen vor dem Hintergrund einer rasanten gesellschaftlichen Transformation staatliche Macht und deren Gestaltungskraft tendenziell überschätzt dagegen der mögliche Beitrag anderer gesellschaftlicher oder marktorientierter Gruppen unterschätzt wird. Anders als nach der theoretischen Auffassung von der Rolle des Staates vorgesehen, lässt sich in der Verwaltungspraxis Vietnams laut Koh (2006) und Will (2008:9) zudem eine Begrenzung des Einflusses der zentralen Regierung auf die unteren Verwaltungsebenen feststellen. Formell sind Provinz-, Bezirks- und Stadtteil- oder Gemeindeverwaltung der jeweils höheren Ebene unmittelbar (und letztendlich der Zentralregierung) weisungsgebunden. Tatsächlich werden auf den lokalen Verwaltungsebenen jedoch Strategien entwickelt, von zentralen Vorgaben abweichende Belange durchzusetzen, ohne in einen direkten Konflikt mit den übergeordneten Verwaltungseinheiten zu treten. Wie von Koh (2006) analysiert, würden
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3. Überblick Vietnam und Hanoi
lokale Verwaltungsangestellte formelle Vorgaben ihrer Vorgesetzten in der Regel zunächst nicht offen in Frage stellen, da eine geringe Chance besteht, dass Handlungsanweisungen oder Vorschläge von unteren Verwaltungsebenen an übergeordnete Ebenen dort Gehör fänden oder berücksichtigt würden. Gleichzeitig haben sie ein Interesse an einer guten Beziehung zur Bevölkerung in ihrem Verwaltungsgebiet, in deren Nachbarschaft sie zumeist selbst leben und mit deren Lebenssituation sie alltäglich konfrontiert sind. Sie nehmen auch die gegebenenfalls negativen Auswirkungen von formellen Vorgaben direkt wahr. So sind die Verwaltungsangestellten aufgrund ihrer persönlichen Beziehungen motiviert, Vorschriften höherer Verwaltungsebenen nachbarschaftlichen Belangen nachzustellen. Dies geht einher mit einer finanziellen Motivation zum Handeln außerhalb formeller Vorgaben. In den generell mit geringen finanziellen Ressourcen ausgestatteten lokalen Verwaltungen Vietnams ist eine „institutionalisierte Korruption“ zu beobachten. Diese zeigt sich in der Tendenz, formell unentgeltliche Dienst- oder Sachleistungen nur für eine informelle Gegenleistung zur Verfügung zu stellen. Diese Gegenleistung – meist in Form von Geld – ist nicht Teil der jeweiligen formellen Verwaltungsabläufe, wird jedoch allgemein von Verwaltungsangestellten und ihren Verhandlungspartnern, den Leistungsnehmer_innen sowie von Personen, die eine Laufbahn im öffentlichen Dienst anstreben, vorausgesetzt und akzeptiert (Gainsborough 2006:38). Aufgrund dieser Dynamiken entsteht ein von Koh sogenannter „mediation space“, ein Vermittlungsraum zwischen Bevölkerung und Lokalverwaltungen außerhalb formeller Regulierung (Koh 2006: 12). Dieser ist formell nicht vorgesehen, bringt jedoch für die Entwicklungen des städtischen Raumes relevante Entscheidungen hervor. Dieser Vermittlungsraum eröffnet der Bevölkerung die Möglichkeit, über Angelegenheiten, die ihr tägliches Leben betreffen, mitzubestimmen. Folglich lockert sich der Einfluss des potentiell repressiven vietnamesischen Regimes, ein Umstand der einer dem Paradigma der politischen Steuerung folgenden Auffassung der Rolle des Staates somit nicht entspricht. Vor dem Hintergrund der in der konzeptionellen Grundlegung diskutierten Analysen der stadträumlichen Auswirkungen von zentralstaatlichen Politiken und Planungen auf die Entwicklung großtechnischer Infrastruktursysteme zeigt sich also zunächst, dass das in Vietnam vorherrschende Ideal des Gesellschaft und den Markt steuernden Staates von dem Verständnis der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, das in aktuellen wissenschaftlichen Diskursen zumeist vertreten wird, abweicht (vgl. Kap. 2.2.4). Für diese Untersuchung des urbanen Abwasserentsorgungssystems von Hanoi ist dieses Auseinanderfallen von Idealbild und Realität hinsichtlich der tatsächlich agierenden staatlichen und gesellschaftlichen Akteure von großer Bedeutung. Die hier vorgestellten Analysen weisen darauf hin, dass dieses innerhalb lokaler Aushandlungsprozesse stattfindet, die zwar von im politisch-administrativen System vorgesehenen, hierarchischen Regelungsprozessen beeinflusst sind, jedoch diese auch aushebeln, umgehen und transformieren können und die raumwirksam sind. Wie in der konzeptionellen Grundlegung erläutert, ist davon auszugehen, dass entsprechende Prozesse auf der lokalen Ebene die städtische Topologie technischer Infrastrukturen prägen (vgl. Kap. 2.3.3).
3.5. Entscheidungsprozesse innerhalb des formellen Systems und darüber hinaus
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Die Analyse politischer Regelungsprozesse in verschiedenen Politikfeldern Vietnams erfordert also eine Ergänzung der oben (Kap. 2.5.2) formulierten Hypothesen in Bezug auf den Einfluss von Interessen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure auf das Gestaltungspotenzial von Systemen der urbanen Abwasserentsorgung. Laut der dritten Hypothese ist die Vereinbarkeit partikularer Interessen staatlicher, marktorientierter und gesellschaftlicher Akteure eine Voraussetzung für diese Gestaltung. Wie die eben vorgestellten Analysen zeigen, gehen Vereinbarung oder Durchsetzung von ggf. gegenläufigen Interessen in unterschiedlichen politischen Regelungsprozessen vor sich. Übertragen auf das urbane Abwasserentsorgungssystem Hanois wird also angenommen, dass dessen Gestaltung durch hierarchische Formen der politischen Entscheidungsfindung, den formellen Abläufen des politisch-administrativen Systems entsprechend, geprägt ist, dass jedoch gleichzeitig Spielräume für andere politische Regelungsprozesse, nämlich für informelle Verhandlungen bestehen, die die formellen Abläufe transformieren können und die politische Entscheidungsfindung über das formelle System hinaus beeinflussen. Die hier erläuterten Analysen politischer Regelungsprozesse konzentrieren sich auf die Interaktionen zwischen lokalen Bevölkerungen und lokalen Verwaltungsangestellten im Schatten zentralstaatlicher Regulierung (vgl. Koh 2006). Es ist anzunehmen, dass entsprechende Prozesse zudem die Interaktionen zwischen marktorientierten und staatlichen Akteuren verschiedener Verwaltungsebenen prägen. Folglich wird davon ausgegangen, dass das urbane Abwasserentsorgungssystem Hanois sowohl durch Prozesse der hierarchischen Entscheidungsfindung als auch durch informelle Verhandlungsprozesse zwischen staatlichen, gesellschaftlichen und marktorientierten Akteuren gestaltet wird. Ob diese Annahme zutrifft, wie entsprechende Prozesse in Stadtentwicklung und Abwasserentsorgung ausgeprägt sind und wie sie in Politik und Planung Berücksichtigung finden, wird in den folgenden Kapiteln analysiert. Dies führt abschließend zu einer Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen einer funktionalen Gestaltung von Stadtraum und Abwasserentsorgungssystem Hanois im Zuge dieser Prozesse (vgl. Kap 7.3).
4. DIE HISTORISCHE ENTWICKLUNG HANOIS – BRÜCHE UND KONTINUITÄTEN Die Untersuchung der historischen Entwicklungsphasen der Stadt wird hier auf die folgenden Aspekte konzentriert: (1) die der Stadtplanung zugrunde liegende Rationalität und die Einschätzung der Möglichkeit der Kontrolle von Raum und Gesellschaft und – soweit aufgrund der Quellenlage möglich – (2) Realität der Prozesse der Stadtentwicklung und ihrer Akteure. Dabei wird ein Fokus auf die vorzufindende teilräumliche Differenzierung des Stadtraumes von Hanoi in den jeweiligen Entwicklungsphasen gelegt. Diese Tendenzen der gesamten Stadtentwicklung werden mit den Spezifika des Abwasserentsorgungssystems in Bezug gesetzt. Dabei sind (3) der Einsatz bestimmter Techniken der Abwasserentsorgung und (4) deren Wahrnehmung durch Akteure in Politik und Verwaltung; sowie (5) geplante und tatsächliche Ausdehnung und Grenzen des zentralen Entwässerungsnetzes von Interesse. Durch diese Gegenüberstellung werden die Spannung zwischen gesamtstädtisch geplanter und inkrementeller Stadtentwicklung und ihr Ergebnis im Hinblick auf das Abwasserentsorgungssystem in den vorgestellten Phasen der Stadtentwicklung Hanois deutlich. Mittels einer Gegenüberstellung historischer Diskurse um den Ausbau des Entwässerungssystems und der materiellen Ergebnisse des Ausbaus werden die aus den oben diskutierten Theorien hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen technischen Infrastruktursystemen und stadträumlicher Fragmentierung abgeleiteten Thesen in Bezug auf Hanoi geprüft. Die historische Analyse der Stadtentwicklung dient darüber hinaus der Herleitung der charakteristischen Teilräume Hanois, in denen dann die lokal vorzufindenden Abwasserentsorgungsinfrastrukturen mit einem Fokus auf der Beziehung gesellschaftlicher und staatlicher Akteure untersucht werden, und zwar im Hinblick auf die Entwicklung der Stadt und den Ausbau des Abwasserentsorgungssystems und auch auf Betrieb und Instandhaltung dieses Systems. Die entscheidenden Zäsuren der Stadtentwicklung Hanois waren die Übergänge von der traditionellen Feudal- zur französischen Kolonialherrschaft, sodann von der Kolonie zum sozialistischen Regime und zuletzt die Öffnung zur Marktwirtschaft im Rahmen von Đổi Mới. Bis auf letztere sind alle Zäsuren mit kriegerischen Auseinandersetzungen einhergegangen. In Bezug auf die Analyse des Abwasserentsorgungssystems und die Identifikation von Teilräumen mit unterschiedlichen Formen der Abwasserentsorgung ist die in der Stadtforschung geführte Debatte um die Einschätzung der Auswirkungen von Umbrüchen und Kontinuitäten zwischen politischen Regimen auf Prozesse der Stadtentwicklung und dem gebauten Raum von Bedeutung (vgl. Logan 2000/2009; van Horen 2005; Pédelahore 1993). Während in neuerer Zeit der Einfluss der gesellschaftlichen Transformationen im Rahmen von Đổi Mới auf die Produktion des städtischen Raumes im Vordergrund dieser Debatte steht, wird vorliegend weiter zurückgegriffen, um die Ein-
4.1. Das koloniale Projekt des Neubaus Hanois
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flüsse der früheren politischen Regime auf Leitbilder der Stadt- und Abwasserentsorgungsplanung und Materialität des Raumes zu ermessen. Ein Fokus liegt auf der Untersuchung der Abwasserentsorgungsplanung der Kolonialzeit anhand historischer Dokumente, da dieser Periode – wie oben diskutiert – in der auf technische Infrastrukturen fokussierten Debatte der Stadtforschung eine bedeutende Rolle beigemessen wird (vgl. Kap. 2.3). Diese wird in Beziehung zu den weiteren Phasen der Stadtentwicklung gestellt. Einführend wird zunächst die historische Entwicklung Vietnams als Kontext für die Entwicklung von Stadtraum und Abwasserentsorgungsinfrastrukturen Hanois vorgestellt. 4.1. „FOLIE DE GRANDEUR“ – DAS KOLONIALE PROJEKT DES NEUBAUS HANOIS Trotz ihrer im Vergleich zur tausendjährigen chinesischen Herrschaft kurzen Dauer brachte die Zeit der französischen Kolonialherrschaft sowohl in räumlicher, technischer als auch institutioneller Hinsicht einschneidende Veränderungen für die Entwicklung von Stadt und Abwasserentsorgungsinfrastrukturen mit sich. In diesem Abschnitt werden zunächst Stadtstruktur und Abwasserentsorgungssystem Hanois in vorkolonialen Zeiten erläutert. Aufgrund dieser Ausgangslage werden Rationalität und Ergebnis der städtebaulichen Intervention des kolonialen Projekts analysiert. 4.1.1. Ausgangslage – Akzeptanz der Fraktur in der feudalen Stadt Hanoi war bereits vor der Kolonialzeit geprägt von differenzierten Räumen mit vielfältigen Morphologien und soziotechnischen Systemen der Abwasserentsorgung. Gleichzeitig bestand in weiten Teilen des Stadtraumes eine noch engere Beziehung zwischen Land und Wasser, als es heute der Fall ist – dies waren die großen Herausforderungen für den Aufbau der bakteriologischen Stadt im Zuge der französischen Kolonialisierung. Die Stadt war in vorkolonialer Zeit maßgeblich vom Wasser geprägt, dass dann Stück für Stück zurückgedrängt wurde. Im Folgenden werden nach einer kurzen Vorstellung der Herrschaftsperioden die räumliche Struktur Hanois sowie die damit in enger Beziehung stehenden soziotechnischen Formen der Abwasserentsorgung und -nutzung erläutert. Dabei liegt aufgrund der Datenlage ein Schwerpunkt auf dem 15. Jahrhundert. Spuren menschlicher Besiedlung im Delta des Roten Flusses sind bis zu 20.000 Jahre alt und die formelle Stadtgründung Hanois wird auf das Jahr 210 n. Chr. datiert (Quang/Kammeier 2002:377). Nach einem Jahrtausend chinesischer Herrschaft wurde das heutige Hanoi, das zur damaligen Zeit den Namen Thăng Long (aufsteigender Drache) trug, schließlich 1010 unter der Lý Dynastie Hauptstadt des neuen Staates Vietnams (Selchow 2002:17). Im Laufe folgenden Jahrhunderte wurde das Land voneinander ablösenden Dynastien mit Sitz in Hanoi beherrscht. Dies waren Trần (1226–1400) Lê (1428–1527), Mạc (1527–1592) und Trịnh
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4. Die historische Entwicklung Hanois
(1596–1787) und Tây Sơn (1788–1802)(Vinh 2004). In all diesen Epochen wurden wiederholt Angriffe seitens des Chinesischen Reiches meist erfolgreich abgewehrt. Thăng Long zählte in seiner Blütezeit im 17.Jahrhundert rund 300.000 Einwohner. Unter der Nguyễn Dynastie wurde im 19. Jahrhundert die Hauptstadt Vietnams jedoch in das südlich gelegene Huế verlagert; Thăng Long war zu dieser Zeit lediglich das Zentrum der nördlichen Provinz Vietnams allerdings mit weiterhin kultureller Bedeutung von nationalem Rang (Selchow 2002). Die sozialräumliche Struktur Hanois war vor der Kolonialisierung vielfältig. Konkret lassen sich drei Siedlungstypen im Hinblick auf die bauliche Form unterscheiden. Dies ist zunächst die Zitadelle, die durch eine eigene Befestigungsmauer geschützte so genannte Königsstadt (Hoàng Thành). Innerhalb eines zweiten Befestigungsringes, begrenzt durch den Tô Lịch Fluss im Westen und den Kim Ngưu Fluss im Süden lagen weiterhin die Stadt des Volkes (Kinh Thành) sowie drittens dörfliche Siedlungen (Vinh 2004:44; vgl. Abb. 15 im Farbteil). Stadtentwicklungsprozesse im vorkolonialen Hanoi Während die geometrische bauliche Form der Königsstadt durch die herrschenden Dynastien vorgegeben wurde, unterlag die Stadt des Volkes zwar der zentralen Besiedlungspolitik, ohne dass jedoch direkt auf den Städtebau eingewirkt worden wäre. So fand während des 15. Jahrhundert eine von der feudalen Elite verordnete Intensivierung der Besiedlung der Stadt des Volkes zur Versorgung der Zitadelle durch Handel und Handwerk statt (Quang/Kammeier 2002:377). Das noch heute dort vorzufindende Straßenmuster und der Name des Viertels, „36-Gassen Gebiet“, geht auf diese Ära zurück, als sich Handwerke – ähnlich den Gilden im mittelalterlichen Europa – in bestimmten Gewerbegassen gruppierten (Pédelahore 1986:116). Wie Papin (1997:585) ausführt, entstand dieses Viertel Hanois aus der Verdichtung und des Zusammenwachsens von ehemals dörflichen Siedlungen, die mit ihrer Verstädterung einen Wandel in den lokalen politischen Regelungsstrukturen im Hinblick auf den Bodenbesitz, die Einkommensstrukturen und die Struktur des gebauten Raumes durchliefen. Die dörflichen Siedlungen, die unter anderem der Nahrungsversorgung der Stadtbevölkerung dienten, waren ebenfalls nicht Subjekt städtebaulicher Ambitionen der Dynastien. Gleichzeitig sind sie für die Entwicklung Hanois bedeutend, da sich die der Stadt Ausdehnung neben der geplanten Stadtentwicklung durch die Integration dieser Dörfer in das Gewebe der Stadt vollzog. Schon in vorkolonialer Zeit bestanden zudem vielfältige Beziehungen zwischen Bevölkerungen von Dorf und Stadt, die sich etwa im regionalen Handel mit Lebensmitteln oder Dünger aus Abwässern manifestieren und sich bis heute gehalten haben (Pédelahore 2010). Das zwischen den Befestigungen liegende Gebiet der Stadt des Volkes und der dörflichen Siedlungen war durch einen fließenden Übergang von Land und Wasser geprägt. Differenzierung soziotechnischer Formen der Abwasserentsorgung Die Gewässer Hanois erfüllten vielfältige Funktionen. Dazu gehörte die Bewässerung der landwirtschaftlichen Flächen, der Transport von Gütern und Personen sowie – z. B. im Fall des bis heute stadtstrukturell und soziokulturell bedeutenden Tô
4.1. Das koloniale Projekt des Neubaus Hanois
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Lịch Flusses im Westen der Stadt – die Markierung der Stadtgrenzen und die Befestigung gegen feindliche Angriffe. Mehr noch als die Zitadelle mit ihren geometrischen Straßenzügen war die Gestalt des 36-Gassen Gebietes und der dörflichen Siedlungen durch das Wasser geprägt: der Verlauf der im Laufe der Zeit errichteten Straßen orientierte sich an Seen, Deichen und Flüssen – diese fungierten auch als Abwasserkanäle (Pédelahore 1986:116). Wie Waibel (2002:59) anmerkt, war beispielsweise der zentrale Hoàn Kiếm See (See des wiedergefundenen Schwertes), auch ein „Entsorgungsbecken für Haushaltsabfälle“. Die drei oben vorgestellten Gebiete unterschieden sich bezüglich ihrer Ausstattung mit Sanitär- und Entwässerungssystemen. Im Hinblick auf die angewendete Technologie ist bemerkenswert, dass in der Zitadelle bereits um das 15. und 16. Jahrhundert ein Trennsystem für kommunales Abwasser und Regenwasser installiert wurde. Dies war auch in der nachfolgenden Zeit stets für das Stadtgebiet Hanois vorgesehen, das seither aber nicht gelungen ist (Interview Trần Đức Hạ 2010). Im damals von Wasser durchzogenen 36-Gassen Gebiet und in den dörflichen Siedlungen der Stadt hingegen gab es ihrer inkrementellen baulichen Entwicklung entsprechend keine netzgebundene Abwasserentsorgung. Dennoch wurden die menschlichen Ausscheidungen getrennt von anderen kommunalen Abwässern und Regenwasser, die direkt in das Flusssystem geleitet wurden, verwertet. Dem traditionellen häuslichen Entwässerungssystem Südostasiens entsprechend wurden sie als night soil täglich aus den Latrinen gesammelt und zur Düngung landwirtschaftlicher Flächen in der Umgebung genutzt (Interview Trần Đức Hạ 2010). Später setzte sich auch in der Region Nordvietnams die Nutzung des night soil als Futter für Fische, die in Teichen direkt unter Pfahlhäusern gezüchtet wurden, durch. Diese Praktik war auch zu Zeiten der französischen Kolonialherrschaft in der inneren Stadt Hanois bis in die 1930er Jahre verbreitet und wird noch heute im peri-urbanen Raum durchgeführt (vgl. Mitchell 2008). Transport und Sammlung des night soil wurden privat organisiert; aufgrund der hygienischen Gefährdung ist der Beruf des Sammlers damals und heute bestimmten Gruppen vorbehalten und als prekäre Tätigkeit angesehen. Gleichzeitig existierte schon unter der Nguyễn Dynastie, die vor und während der Kolonialzeit (1802 – 1945) bestand, eine öffentlich verfasste Verwaltung von Stadtraum und städtischen Infrastrukturen. Die Regelung lokaler Belange des Volkes außerhalb der Königsstadt ähnelt der der heutigen Verwaltung mit Vorständen auf Ebene der Distrikte und Gemeinden, die von lokalen Ältesten- und Führungsräten begleitet wurden (Parenteau/Thong 2010:172). Das Verhalten der Bevölkerung hinsichtlich ihres Beitrages zum Erhalt der öffentlichen Sauberkeit und Ordnung (etwa durch die Reinhaltung von Wasserwegen) wurde in einer Verordnung, dem hương ước, festgeschrieben. Dieser zufolge konnten kommunale Arbeiten, wie etwa die Sammlung von Abfällen oder Säuberung von Kanälen der lokalen Bevölkerung zwangsweise verordnet werden (ebd.). Inwiefern diese Strukturen die heutige Regelung von Stadtentwicklung und Abwasserentsorgung prägen und durch weitere, in späteren Phasen der Stadtentwicklung Hanois hinzugekommene Regelungen ergänzt und verändert wurden, wird in den folgenden Abschnitten untersucht. Grundsätzlich von Bedeutung ist
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zunächst, dass die herrschenden Dynastien einen spezifischen Umgang mit Raum und Gesellschaft in Hanoi hatten, der sich auf die Struktur der Abwasserentsorgung auswirkte. Während die Morphologie der Königsstadt als durch die Herrschenden kontrollierbar galt, wurde die räumliche Entwicklung in den anderen Räumen Hanois unteren Verwaltungsebenen und z. T. der Selbstorganisation der Bevölkerung überlassen. Dies spiegelte sich in der Abwasserentsorgung wider, die nur in der Königsstadt durch ein Entwässerungsnetz vorgenommen dagegen in den anderen Gebieten dezentral selbstorganisiert wurde. Im Sinne von Dupuy (2011) kann also von einer Akzeptanz der Fraktur von städtischem Raum und Infrastruktursystem durch die herrschenden Dynastien gesprochen werden. 4.1.2. Die koloniale Stadtplanung – Herrschaft durch Städtebau Nach dem ersten französischen Angriff im Jahre 1873 wurde Hanoi schließlich 1882 durch französisches Militär eingenommen und der kolonialen Planungslogik unterworfen (Vinh 2004:58f). Aufgrund der vorteilhaften Lage für den Landhandel mit China wurde Hanoi 1902 – über dessen bereits bestehende Funktion als Residenz der Provinz Tonkin hinausgehend – zur Hauptstadt der gesamten Kolonie ‚Indochine’ erhoben, so dass der Stadt eine herausragende verwaltungspolitische Bedeutung zu kam (Quang/Kammeier 2002:377). Unter der französischen Herrschaft wurden enorme städtebauliche Anstrengungen unternommen, um im Selbstverständnis der „Mission Civilisatrice“ die kulturelle und technische Überlegenheit der französischen Herrscher gegenüber der vietnamesischen Bevölkerung zu demonstrieren (Waibel 2002:57). Die Herangehensweise an die Stadtentwicklung in Hanoi folgte den für koloniale Stadtentwicklung weltweit angewandten Prinzipien – beruhend auf einer räumlichen Segregation zur Trennung der Einheimischen von der kolonialen Elite – und war abgeleitet von den in Europa vorherrschenden planerischen Leitbildern, wie etwa der bis dahin in vietnamesischen Städten kaum verbreiteten Funktionstrennung von Arbeit und Wohnen (Pédelahore 1986). Dem Zeitgeist entsprechend wurde angenommen, eine rationale und allgemeingültige, vom individuellen räumlichen und gesellschaftlichen Kontext losgelöste „technische Wissenschaft zur Organisation der Stadt“ auch in Hanoi umsetzen zu können. Wie von Pédelahore (1986:125) festgestellt, wurde der Aufbau der kolonialen Stadt nicht innerhalb bestehender Strukturen betrieben, sondern gegen sie – wenn bisherige Forschungen zu Stadtentwicklung und Architektur Hanois während der Kolonialzeit auch auf einen Wandel in der Planungsphilosophie in Richtung einer oberflächlichen Anpassung an lokale Gegebenheiten hinweisen (vgl. z. B. Quang/Kammeier 2002; Logan 2000; van Horen 2005). So wurde in einer ersten Phase um 1874 bis 1920 nach der Etablierung der kolonialen Herrschaft keine Rücksicht auf bestehende Raumstrukturen genommen. Im Bestreben des Aufbaus eines komplett neuen Herrschaftssystems wurde auch die Stadtentwicklung ohne Planung massiv vorangetrieben, bestehende Strukturen wurden in einem radikalen Umbau der Stadt ignoriert oder symbolisch zerstört und überbaut, wie im Falle des Abrisses des königlichen Palastes in der eingenommenen Zitadelle und der Errich-
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tung der ersten französischen Militärbasis an derselben Stelle (Pédelahore 1986). In den 1920er Jahren fand ein Wandel statt, im Zuge dessen die kulturellen, klimatischen und technischen Bedingungen Hanois zumindest formal in Stadtplanung und Architektur einbezogen wurden (van Horen 2005:163). Die mehr relativistische und kontextorientierte Herangehensweise ging einher mit einer Reform des Verwaltungssystems hin zu einer Öffnung zur vietnamesischen Bevölkerung (Logan 2000). Wie Pédelahore (1986:133) und später auch Cooper (2000) aufzeigen, waren diese Reformen allerdings nur vordergründig, da das System der kolonialen Verwaltung und Stadtplanung nicht in Frage gestellt wurde. Dies spiegelte sich auch in baulichen Neuerungen wider. So wurden zur besseren Anpassung an das Klima die Gebäude nunmehr mit Ventilationsöffnungen versehen und in der Formsprache der repräsentativen Architektur griff man verstärkt auf vietnamesische Stilelemente zurück, was zu der Entwicklung eines spezifisch indochinesischen Kolonialstils führte, Weiterreichende städtebauliche Veränderungen, wie etwa die in Vietnam übliche Mischung der städtischen Funktionen wurden dagegen nicht in Betracht gezogen. Folglich war dieser von Logan (2000:114) als Übergang von einer „assimilationistischen“ Strategie hin zu einer eher „assoziationistischen“ Ausrichtung charakterisierte Wandel nicht überzeugend genug, um der Entfremdung der vietnamesischen Bevölkerung von dem französischen Kolonialregime zu begegnen. Die zweite Phase der Kolonialzeit war im Sinne des damals herrschenden Planungsglaubens geprägt durch die Erstellung ambitionierter Planwerke, die aber nur zum Teil umgesetzt werden konnten. Diese in einem zentralisierten Prozess durch Architekten und Ingenieure ohne Beteiligung der Bevölkerung angefertigten Pläne als wichtigstes Instrument der Stadtplanung illustrieren die Demonstration von Herrschaft durch Städtebau in Hanoi, die während der Kolonialzeit etabliert wurde und bis heute praktiziert wird (Logan 2000). Obgleich Hanoi vorrangig als administratives Zentrum Indochinas galt, war auch der Warenhandel bedeutend für die koloniale Wirtschaft. Folglich hatte die Darstellung von technischen Infrastrukturnetzen wie Straßen, Eisenbahnlinien und Verkehrsknotenpunkten zur Sicherung eines reibungslosen Warenflusses einen besonderen Stellenwert in den Plandokumenten (Pédelahore 1986). Allerdings spricht Gwendolin Wright (1991:185) von „superficial urbanism“ da zwar einerseits großartige Pläne erstellt wurden, aber andererseits gerade unterirdische Infrastrukturen wie die Netze zur Wasserver- und Abwasserentsorgung zunächst kaum ausgebaut wurden. Der Schwerpunkt des kolonialen Städtebaus lag vielmehr auf der Konstruktion von Repräsentationsbauten. Konkret wurden zwei Stadtentwicklungspläne entworfen: der Hébrard Plan von 1924 und der Cérutti Plan von 1942 (Logan 2000:104). Hébrards Entwürfe sahen eine weitläufige Erweiterung der Stadtflächen nach Süden sowie über den Roten Fluss hinweg nach Norden und Osten vor, die mit der Blockrandbebauung definiert durch eine hierarchische Anordnung von Straßen an den Städtebau Haussmanns erinnern. Dieser Plan war die Grundlage für den weiteren überdimensionierten Ausbau Hanois, der vor dem Hintergrund der kleinen Zahl französischer Bevölkerung in Hanoi, die 1889 nur rund 400 Personen betrug und
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5% der Gesamtbevölkerung ausmachte, heute als „folie de grandeur“ bezeichnet wird (vgl. z. B. Wright 1991; Logan 2000). Der nächste Stadtentwicklungsplan von Louis Georges Pineau und Henri Cérutti-Maori wurde 1942 bereits unter faktischer japanischen Besatzung erstellt; dies allerdings ohne unmittelbare Einwirkung der Japaner auf die Planerstellung. Die städtebaulichen Entwürfe dieses Planes sind geprägt von der zeitgenössischen internationalen Moderne, die wenig Raum für Einflüsse vietnamesischer Kultur und Architektur beließ (Logan 2000:121). Der Plan ist abermals durch ein radiales Straßennetz geprägt, mit großzügigen Boulevards als Sichtachsen zwischen wichtigen Einrichtungen. Das enorme Ausmaß dieser Planungen wurde bereits zur damaligen Zeit kritisch gesehen, wie etwa der Kommentar des Verwaltungsbeamten Nguyen Xuan Thai zeigt, der 1944 schreibt: „À notre humble avis il serait préférable d’apporter seulement des modifications de petite échelle à notre ville déjà en forme.“ (Xuan Thai 1944 :41)
4.1.3. Auswirkungen auf die räumliche Struktur Hanois Im Zuge der kolonialen Stadtentwicklung wurden die bereits in vorkolonialer Zeit verstädterten Gebiete der Zitadelle und des 36-Gassen Gebietes dem französischen Städtebau unterworfen. Zusätzlich wurde die Stadt massiv gen Süden erweitert, wo das Kolonialviertel entstand. Hierfür wurden die dort ehemals befindlichen dörflichen Siedlungen geräumt – diese Siedlungen selbst waren, wie auch in der vorkolonialen Zeit, nicht Ziel der städtebaulichen Ambitionen der Herrschenden. Der Kern der kolonialen Stadtentwicklung Hanois war die Konzession, die auf der Höhe des Hoàn Kiếm Sees am Ufer des Roten Flusses errichtet wurde. Mit dem Bau eines 18 m breiten Boulevards zur Verbindung der Konzession am Ufer des Roten Flusses mit der militärischen Basis auf dem Gelände der Zitadelle wurde der Grundstein für den massiven Um – und Ausbau der Stadt gelegt (Pédelahore 1986). Eine Grundlegende Voraussetzung für den Ausbau Hanois nach französischem Vorbild war die Trockenlegung der vielen Seen, Sümpfe, Teiche und Flüsse, die zuvor das Bild der Stadtlandschaft des 36-Gassen Gebietes und der dörflichen Siedlungen prägten. Wie oben beschrieben, sind sie als Wasserreservoirs und Transportwege zuvor ein integraler Bestandteil der vietnamesischen Stadt gewesen – mit der französischen Philosophie des Ausbaus eines ebenmäßigen, am Reißbrett geplanten Straßenrasters nach den Prinzipien Haussmanns waren sie jedoch nicht zu vereinbaren (vgl. Pédelahore 1993:21). Lediglich Westsee, Hoàn Kiếm See und Bay Mau See blieben erhalten während etwa das 36-Gassen Gebiet durch städtebauliche Maßnahmen wie der Verlegung technischer Infrastrukturnetze, der Verfüllung offener Wasserkörper und der Befestigung der Straßen grundlegend transformiert wurde (Waibel 2003:34). Die Stadtentwicklung unter französischem Regime war geprägt durch einen radikalen Um- und Ausbau der Stadt mit einer Segregation zwischen den Bevölkerungsgruppen der Handel und Landwirtschaft treibenden sog. „indigènes“ (zumeist
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Vietnamesen aber auch Angehörige der chinesischen Minderheit) einerseits von der kolonialen Elite, zu der die französische Bevölkerung und zum Teil auch die Mitglieder der vietnamesischen Oberschicht, wie etwa der Nguyễn Dynastie gehörten (Pédelahore 1986), andererseits. Die Vereinfachung dieser komplexen Bevölkerungszusammensetzung durch die Bildung zweier Gruppen, „indigène“ und koloniale Eliten erlaubte die geplante Segregation der Stadt. So wurde etwa das 36-Gassen Viertel als traditionelles Handelsviertel zum Zuzugsgebiet für die im Zuge der Stadterweiterung vertriebene ehemals ländliche Bevölkerung, die keinen Zugang zu kolonialen Vierteln hatte (ebd.). Mit zunehmendem Bevölkerungsdruck wich die Bevölkerungsgruppe der „indigènes“ in Richtung Norden zum Roten Fluss hin aus sowie in die am Ende der Kolonialzeit noch im Aufbau befindlichen Gebiete südlich des Kolonialviertels (Vinh 2006). Die Gruppe der kolonialen Elite lebte in den großzügigen Villen der Kolonialviertel (Logan 2000). In Bezug auf die Auswirkungen der kolonialen Intervention auf die Stadtrandgebiete mit den dörflichen Siedlungen zeigt sich, dass durch den extensiven Städtebau die Polarisierung zwischen der Stadt und den umgebenden Siedlungsräumen gefestigt wurde. Dies stellt eine Kontinuität zum feudalen Städtebau unter der Nguyễn Dynastie dar, während derer die Isolation der Zitadelle von ihrer Umgebung angestrebt wurde (Papin 1997). Das Ausmaß der Stadterweiterung in der Kolonialzeit illustriert der Vergleich zwischen Abb. 15, mit den in vorkolonialen Zeiten dicht besiedelten Räumen und Abb. 16 mit der während der Kolonialzeit urbanisierten Fläche. Ärmere Bevölkerungsgruppen wurden an die Ränder der Stadt gedrängt, da sie sich etwa die Bodenpreise und die im städtischen Raum erhobenen Steuern nicht leisten konnten (vgl. Papin 2001). Dies führte einerseits zur Entstehung neuer Siedlungen und andererseits zur rasanten Verdichtung der bestehenden Dörfer (Hermant 1936). Beide bildeten einen krassen Gegensatz zu den Prachtboulevards der Innenstadt in Bezug auf Bevölkerungsdichte und Versorgung mit Infrastrukturen. Durch diese Polarisierung wurde der Grundstein für die Landflucht der späteren Jahre gelegt (Logan 2000:141). So lassen sich am Ende der Kolonialzeit drei Siedlungstypen, nämlich die Kolonialviertel, das 36-Gassen Gebiet und die suburbanen, zum Teil dörflichen Siedlungen erkennen, in denen trotz des Anspruches an die Kontrolle des städtischen Raumes der Kolonialherrscher unterschiedliche Praktiken der (Re-) Produktion des Raumes gepflegt wurden und die durch die schrittweise Transformation von dörflichen Siedlungen im Zuge ihrer Urbanisierung ebenso gekennzeichnet war wie durch gesamtstädtisch geplante Stadtentwicklungsprojekte (Pédelahore 1986; Papin 1997). Wie lokale Regelungsformen zusammen mit dem Anspruch an die vollständige Kontrolle von Stadtraum und Gesellschaft durch die Kolonialherren auf die räumliche Struktur einwirkten und wie sich dies auf das soziotechnische System der Abwasserentsorgung auswirkte, wird im nächsten Abschnitt anhand einer Analyse der kolonialen Abwasserentsorgungsplanung erläutert.
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4. Die historische Entwicklung Hanois
4.2. „TOUT À L´ÉGOUT“ – ABWASSERENTSORGUNGSPLANUNG IN DER KOLONIALZEIT Politik und Planung der Abwasserentsorgung während der Kolonialzeit werden aufgrund historischer Dokumente erläutert (vgl. Lyard 1905; Conseil Municipal 1939; Conseil Municipal 1935; Hermant 1936; Fayet 1939). Die am Ende der Kolonialzeit erörterten Abwasserentsorgungsplanungen in der Stadtverwaltung und insbesondere der Plan von Fayet (Fayet 1939) konnten aufgrund der einsetzenden Unabhängigkeitskriege 1945 nicht vollständig umgesetzt werden (vgl. Trần Huy Ánh 2010). Dennoch sind sie von Interesse, da sie zunächst der kolonialen Planung zugrunde liegende Sicht auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und auf den Entwicklungsstand der Stadt zeigen, die eine Bewertung der bisherigen Anstrengungen sowohl des kolonialen Projektes als auch seiner Vorgänger im Aufbau Hanois enthält. Darüber hinaus lassen sich in der Gegenüberstellung dieses Planungsdokumentes mit den aktuellen Ausbauplänen des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi geleitet durch JICA Kontinuitäten und Veränderungen in Rationalität der Planung und Einschätzung der räumlichen Dynamiken darstellen. Als Grundlage für diese Gegenüberstellung im nächsten Abschnitt wird das Dokument der französischen Kolonialplanung hier auf die folgenden Themen hin analysiert: a) die Zuschreibungen an das bestehende System und Techniken der Abwasserentsorgung und Nutzung; b) die Wahrnehmung räumlicher Differenzen und der vorgesehenen Umgang mit diesen Differenzen; c) die Definition der Stadtgrenzen und die Einschätzung der Dynamik der Stadtentwicklung. 4.2.1. Koloniale Zuschreibungen an die Abwasserentsorgung Die Entsorgung, d. h. Ableitung, Nutzung, oder ggf. Reinigung der Abwässer Hanois, war am Ende der Kolonialzeit durch die Verbreitung dezentraler Technologien geprägt. Und dies trotz der seit Anfang des 20. Jahrhundert bestehenden Planung der Installation einer zentralen Reinigungs- und Pumpanlage am Ufer des Roten Flusses südlich der französischen Konzession (vgl. Lyard 1905). Dies mag dem oben erläuterten oberflächlichen Urbanismus während der Kolonialzeit geschuldet gewesen sein, der dazu führte, dass anfangs nur rund 2% des kolonialen Budgets für die Abwasserentsorgung (gegenüber 7% für den Bau öffentlicher Gebäude) aufgewendet wurden (Wright 1991:185). Dennoch waren Kolonialviertel und 36-Gassen Gebiet mit einer Kanalisation ausgestattet, deren Ausbau mittels eines Kredites der Stadtverwaltung finanziert wurde (Waibel 2002:64). Laut dem Entwässerungsplan von Fayet (1939:9) war ein Großteil der Haushalte Hanois (8.500 von rund 10.000) mit so genannten „tinettes mobiles“ ausgestattet, während rund 1.000 Septic Tanks installiert waren. 500 Haushalte verfügten über kein bekanntes Entwässerungssystem. Dabei wurden die „tinettes mobiles“, die dezentrale Sammlung und Abfuhr menschlicher Fäkalien aus Latrinen, extrem kritisch betrachtet, und etwa als „[…] le plus antihygienique que l’on puisse concevoir“ und als „inconvénients graves“ bezeichnet (Conseil Municipal 1939:5). Hygienische Probleme wurden v. a. in der
4.2. Abwasserentsorgungsplanung in der Kolonialzeit
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mit dieser Technik verbundenen Nutzung der Fäkalien in der Landwirtschaft gesehen. Die Installation der dezentralen 1860 durch den Ingenieur Moura in Frankreich entwickelten Septic Tanks („fosses septiques“) war eine für die vietnamesische Stadtentwicklung bedeutende Innovation. Dies sind Klärkammern unter den Gebäuden zur lokalen Abtrennung von Feststoffen von den Abwässern der Haushalte vor der Einleitung in das Entwässerungssystem. Der ursprüngliche Entwurf der Septic Tanks sah eine Einleitung des Schwarzwassers und der restlichen Haushaltsabwässer, des Grauwassers vor (Việt Anh 2007). Die Dimensionierung der Septic Tanks war an die geplante niedrige Bevölkerungsdichte des Kolonialviertels angepasst: es wurde davon ausgegangen, dass etwa eine Familie in jeder der großzügig angelegten Villen lebte (ebd.). Septic Tanks eignen sich aufgrund des fehlenden natürlichen Gefälles für die Stadtentwässerung in Hanoi, da durch die Installation der Klärkammern unter den Gebäuden eine vertikale Ebene geschaffen wird, durch die eine Trennung von Feststoffen und Wasser vor der Einleitung in das Flusssystem ermöglicht wird. Bei einer direkten Einleitung der Abwässer in das Flusssystem würden Feststoffe aufgrund des ebenen Geländes in Hanoi ohne die Installation von Pumpanlagen nicht fortgespült, sondern sedimentieren und die Wasserwege füllen. Da die organischen Feststoffe anaerob abgebaut werden, müssen die Tanks nur rund alle 5 Jahre geleert werden, weshalb sie als praktikable Technologie wahrgenommen wurden. Ihre Funktionsfähigkeit bedarf der Wartung durch die Haushalte, was indigene Bevölkerungsgruppen in den Augen der hier zitierten Kolonialplaner1 für die Nutzung dieser Technologie disqualifizierte: „L´installation de fosses septiques dans les quartiers indigènes constituerait à notre avis une grave erreur parce que l’éducation au point de vue hygiène de la masse annamite n´est pas suffisante pour lui confier le fonctionnement d’appareils qui seraient vite obstrués et mis hors d´usage.“ (Fayet 1939 :25)
Die Ableitung der Abwässer mittels offener Flüsse wurde – wie auch die Technik der tinettes mobiles als unhygienisch gesehen. Insbesondere der Tô Lịch Fluss wurde in seiner gewundenen Form, der geringen Fließgeschwindigkeit des in der Trockenzeit vorrangig aus Abwässern bestehenden Wassers, der Spinatanpflanzungen an seinen Ufern und den Reiskulturen am Unterlauf, ergänzt durch für die Beschleunigung des Durchflusses ungenügende Pumpwerke als „aussi capricieux dans son régime que dans son tracé“ bezeichnet und damit als wenig zweckmäßig eingeschätzt (Fayet 1939:12). Die Feststellung, dass der Tô Lịch sich am Unterlauf in verschiedenen „fauligen“ Teichen verläuft, anstatt direkt zu seiner „destination finale“, nämlich den Roten Fluss, geleitet zu werden, wird als „un défi aux règles d´hygiène les plus élémentaires“ bezeichnet (Fayet 1939:16). Aus diesem Grunde wird in verschiedenen Dokumenten die Trockenlegung der offenen Wasserkörper empfohlen. „Leur comblement fera, en partie, disparaître ces périls et tous ces miasmes nauséabonds.“ (Conseil Municipal 1935 :9) 1
Im Folgenden wird in der Analyse der kolonialen Planung die männliche Form benutzt, da die Autoren der hier untersuchten Planungsdokumente der Kolonialzeit sowie die prominenten Planer ausschließlich männlich waren.
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4. Die historische Entwicklung Hanois
Das subtropische Klima Hanois, das sowohl anaerobe als auch aerobe Abbauprozesse organischer Stoffe im Abwasser fördert, wird als Vorwand für die Hygienisierung der Stadt mittels der Installation eines Systems der zentralen Ableitung und Behandlung der Abwässer herangezogen. „Le régime chaud et humide […] est particulièrement favorable aux fermentations, à la pullulation des microorganismes et des moustiques, ce qui est de nature à faire préconiser une hygiène d`autant plus sévère.“ (Fayet 1939:9)
Hier spiegelt sich der grundlegende Unterschied in der Sicht auf den Umgang mit Abwasser zwischen vorkolonialer vietnamesischer Tradition und deren der Kolonialherrscher wider. Erstere zeichnet sich durch einen fließenden Übergang zwischen Land und Wasser aus – es wurde mit dem und teilweise auf dem Wasser gelebt. Abwasser wurde weniger als zu entsorgender Abfall gesehen, sondern vielmehr als Ressource, deren Nährstoffe es in der Fischzucht oder Landwirtschaft zu nutzen galt. Erst mit der Kolonialisierung rückten gesundheitliche Überlegungen, wie etwa die Notwendigkeit der Bekämpfung durch das Wasser übertragener Krankheiten wie Cholera, Pest, Ruhr oder Malaria in den Vordergrund – wobei die o. g. zentrale Ableitung der Abwässer als einzig möglicher hygienischer Umgang hiermit hingestellt wurde. Dieses System ist zwar theoretisch hinreichend, um diesen Zweck der Sanierung zu erfüllen, jedoch nicht notwendig. Notwendig ist es hingegen zur Errichtung der in der westlichen Welt verbreiteten städtebaulichen Form. In diesem Lichte ist die Ablehnung lokaler Techniken der Abwasserentsorgung, die als Hemmnis nicht nur für die öffentliche Gesundheit sondern darüber hinaus auch für den Erfolg des gesamten kolonialen Projektes gesehen wurden, zu verstehen. Wie Gandys Begriff der „bacteriological city“ umschreibt, war die Hygienisierung ein Kernbestandteil der Rationalisierung des städtischen Raumes in der Kolonialzeit (vgl. Gandy 2004). 4.2.2. Wahrnehmung von räumlichen Differenzen Die Bevölkerungsverteilung wurde als stark differenziert wahrgenommen: „La dénsite de la population est loin d’être uniforme.“ (Conseil Municipal 1935:6). Dabei wurden Gebiete aufgrund der Dichte und Ethnie der Bevölkerung unterschieden – beide Faktoren standen in direktem Zusammenhang. So wurde ein ethnisch gemischtes Viertel im Norden identifiziert, das über eine mittlere Bevölkerungsdichte verfügte (130p/ha); während das indigene Viertel südlich – heute das 36-Gassen Gebiet mit 450p/ha als sehr dicht besiedelt galt (ebd.; vgl. auch Fayet 1939:7). Das Viertel der Europäer, das heutige Kolonialviertel, war mit ca. 70p/ha locker besiedelt. Einzig abweichend von diesem Schema ist ein vorrangig von Einheimischen besiedeltes Viertel im Süden mit einer mittleren Dichte (150p/ha).Im Stadtentwässerungsplan wurde diesbezüglich jedoch die Einschätzung formuliert, dass die Bevölkerungsdichte hier in absehbarer Zeit stark ansteigen würde. Um die sanitäre Situation in der gesamten Stadt zu verbessern, sollte das Abwasserentsorgungsnetz so ausgebaut werden, dass die Abwässer „le plus rapidement possible vers leur destination finale“ geleitet werden (Fayet 1939:16), wozu
4.2. Abwasserentsorgungsplanung in der Kolonialzeit
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die Installation von 18 Pumpwerken aufgrund des fehlenden Gefälles als notwendig erachtet wurde. Zusätzlich zu der hier implizierten „end-of-pipe“ Philosophie wurden Überlegungen zur Verwendung der Beiprodukte, nämlich des Schlammes aus der Abwasserreinigung und des Gases aus der Faulung der Schlämme, angestellt (Conseil Municipal 1939:7). Für den Schlamm war nach der Hygienisierung eine Benutzung als Dünger in der Landwirtschaft vorgesehen, während für das bei anaerober Behandlung entstehende Faulgas die Verwendung als ersatzweiser Kraftstoff für industrielle Fahrzeuge vorgeschlagen wurde. Mit der so ermöglichten Einsparung von Mineralölen wurde diesem Ausbau des Abwassersystems eine Bedeutung für die nationale Sicherheit zugeschrieben (ebd.). Für die überbevölkerten Quartiere der „indigènes“ wurde die Installation eines Entsorgungsnetzes mit getrennter Ableitung von Schwarzwasser von anderen kommunalen Abwässern und Regenwasser vorgeschlagen. Alle Abwässer sollten direkt – „tout à l´égout“ – in die jeweilige Kanalisation eingeleitet werden (vgl. Abb. 10). Hierfür waren immerhin 1/3 der gesamten Projektkosten vorgesehen (Conseil Municipal 1939). Für die europäischen Quartiere mit der geringeren Bevölkerungsdichte wurde der Septic Tank mit einem Überlauf in die Mischkanalisation als angemessene Technologie erachtet. Dies wurde mit den zu hohen Kosten für eine stadtweite Installation der getrennten Ableitung der Fäkalien begründet. „[…] dans les quartiers européens à population diluée […] l´installation du tout à l´égout serait ruineuse en raison de l´étendue de ces quartiers et des sujétions de relevage de l´effluent […]:“ (Fayet 1939 :25)
Wie Abb. 17 (im Farbteil) zeigt, sahen die kolonialen Planer für die Wohngebäude des urbanen 36-Gassen Gebiets, das vorrangig von vietnamesischen und Teils chinesischen Handeltreibenden bewohnt waren, einen Anschluss an eine Trennkanalisation vor, der es erlauben sollte, auch die Schwarzwässer fortzuspülen und so die Haushalte von einem persönlichen Aufwand bei der Instandhaltung befreiten. Die Sanierung des 36-Gassen Gebiets war also das vorrangige Ziel der kolonialen Intervention (Fayet 1939). Der Ausbau des dortigen Entwässerungsnetzes mit der Ableitung der Schwarzwasser getrennt von Regenwasser und anderen kommunalen Abwässern sollte zu einer Hebung des sanitären Standards der gesamten Stadt auf den bis 1939 nur im Kolonialviertel vorzufindenden Stand führen. Das von der kolonialen Elite bewohnte Viertel hingegen sollte mit den dezentralen Septic Tanks ausgestattet werden, der weniger kostspieligeren Technologie, die den individuellen Einsatz der Haushalte in der Organisation der Leerung der Tanks erforderte. Dieser Befund ist insofern überraschend, als dass er die Annahme widerlegt, dass die Kolonialisten mittels des Ausbaus der technischen Infrastruktursysteme vorsätzlich die Segregation der Stadtbevölkerung vorangetrieben hätten. Ganz im Gegenteil sollten die unterschiedlichen Bedingungen in den Vierteln Hanois mittels des Ausbaus des Entwässerungsnetzes aufgefangen werden. Während für den Ausgleich der Ungleichheiten innerhalb der Stadt mittels des Ausbaus des Entwässerungsnetzes die Investition großer Summen vorgesehen wurde, sollte der Ausbau des Netzes außerhalb der bestehenden Stadtgrenzen – „Des la sortiert de la Ville“ – der dort lebenden ländlichen Bevölkerung, nämlich der „population suburbanes“, überlassen bleiben (vgl. Conseil Municipal 1939).
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4. Die historische Entwicklung Hanois
Abb. 10: Bauplan der Haushaltsentwässerung in den „quartiers indigènes“ mit der getrennten Ableitung von Schwarzwasser 1939 (Fayet 1939)
Auch werden die technischen Eigenschaften der Netze aufgrund ihrer Lage in Stadt oder Umland unterschieden: das Netz außerhalb der Stadt soll eine offene Mischkanalisation sein, während das gedeckelte Netz innerhalb der Stadt die oben erläuterte teilweise Abtrennung der häuslichen Schwarzwasser bewerkstelligen soll. Es zeigt sich also, dass zwar das Netz innerhalb des als städtisch definierten Raumes unter Aufbringung größerer Investitionen zentral ausgebaut werden sollte. Dieses war jedoch klar abgegrenzt von den ländlichen Entwässerungsnetzen, die hier gleichzeitig zur Bewässerung der Felder dienten. So war deren Ausbau lediglich lokal durch die Bevölkerung vorgesehen. Dies belegt, dass zwar innerhalb der Stadt eine Vereinheitlichung der räumlichen Struktur hingegen eine Segregation zwischen städtischem und ländlichem Raum vorgesehen war. Aus diesem Grunde ist die damals vorgenommene Definition der Stadtgrenzen noch für die heutige Struktur des urbanen Entwässerungsnetzes von Bedeutung. 4.2.3. Die Einschätzung von Dynamiken der Stadtentwicklung Die Definition der Grenze zwischen bestehender Stadt und Umland wurde aufgrund der Ausdehnung des am Ende der Kolonialzeit bereits bestehenden Entwässerungsnetzes getroffen. Die Gebiete am Rande des Netzes, in denen sich die Abwässer in offenen Teichen stauten, wurden als „La périphérie de la ville“, oder als „le voisinage immédiat de la cité“ bezeichnet (Conseil Municipal 1939:5). Der Nebensatz „[…] en supposant la Ville arrive à son extension maximum“ zeigt zudem, dass von einer absoluten Begrenztheit der zukünftigen Stadterweiterung ausgegangen wurde, markiert durch den Tô Lịch Fluss (Fayet 1939:5). Abb. 18 verdeutlicht die durch die koloniale Planung getroffene Unterscheidung zwischen bestehender Stadt-
4.2. Abwasserentsorgungsplanung in der Kolonialzeit
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grenze („ville actuelle“), ausgestattet mit einem netzgebundenen Abwasserentsorgungssystem, und einer vorgegebenen absoluten Grenze der zukünftigen Erweiterung der Stadt („extension“). Der Tô Lịch Fluss diente schon in vorkolonialer Zeit als Grenzfluss der äußeren Befestigung Hanois. Aus Sicht der kolonialen Planer musste das Wachstum der Stadt also ein definitives Ende haben. Der Ausbau des Netzes könne und müsse bis zu diesem Punkt vorangetrieben werden: „Il faut donc completer le reseau actuel […]” (ebd.). Das Ziel des Projektes war, eine fest begrenzte, in der Entwicklung von Bevölkerung und Bebauung stagnierende Stadt mit einem an verschiedene Bauformen und Bevölkerungsdichten angepassten Entwässerungsnetz auszustatten, die definitiv gegen ein Umland mit anderen, möglicherweise diversen Formen der Entwässerung abzugrenzen ist. Dies zeigt sich etwa in der Darstellung der Stadtrandgebiete, deren bereits in der Kolonialzeit vorzufindende fließender Übergang mit dem städtischen Raum negativ konnotiert ist, „les villages et les quartiers suburbaines […] prolongent la ville et se confondent parfois avec elle“ (Conseil Municipal 1935). Die Planungen folgten trotz des Bestehens dieser Übergänge weiter der Annahme, dass eine dem modernen Infrastrukturideal entsprechende Stadt – als ein von der Regierung kontrollierbarer und kontrollierter Raum – klar abgegrenzt inmitten einer ländlichen Umgebung – mit traditionellen Techniken der Abwasserentsorgung mittels Aufbringung von Fäkalien auf den Felder unter Einsatz der lokalen Bevölkerung – errichtet werden könne. Gleichzeitig wurden die sich aus den Siedlungsentwicklungsdynamiken Hanois ergebenden Probleme für die Infrastrukturplanung bereits gegen Ende der Kolonialzeit sichtbar und auch in den kolonialen Planungsdiskurs eingebracht. So wies etwa ein für die Kontrolle der öffentlichen Gesundheit zuständiger Beamter 1936 darauf hin, dass die „extension non dirigée“ der Stadt Hanoi einen großen Missstand darstelle, den es zu beseitigen gelte, etwa durch den Anschluss dieser Siedlungen an die städtischen Entwässerungskanäle (Hermant 1936:27f). Die Frage, wie dieser Anschluss erfolgen sollte, ob durch den Ausbau lokaler Leitungen oder aber den – als extrem kostspielig befundenen - Anschluss an das zentrale Netz, blieb damals bereits offen (ebd.). Auch die von Vann (2003) geschilderte Episode der unerwünschten Verbreitung von Ratten im Kolonialviertel, denen die zuvor ausgebauten Kanäle als Versteck und Verkehrsweg dienten, zeigt dass die Kontrollierbarkeit des Stadtraumes Hanois falsch eingeschätzt wurde. In diesem Fall führten Maßnahmen, wie etwa die Belohnung für jede gefangene Ratte zu einer noch weiteren Verbreitung der Tiere, da nun begonnen wurde, Ratten zu züchten, und deren Zahl auf über 15.000 täglich bei der Kolonialverwaltung abgelieferte Exemplare anstieg (ebd.). Das subversive Verhalten der Bevölkerung und die inkrementellen Verdichtungen am Stadtrand ungeachtet blieb die Idee, dass Stadtraum und Gesellschaft durch die gesamtstädtischen Verwaltungen kontrollierbar seien, die Grundlage der planerischen Interventionen in die Stadtentwicklung. Auswirkungen der kolonialen Intervention auf die stadträumliche Struktur Die französische Kolonialplanung hat mit dem Transfer des modernen Infrastrukturideals und seinem Anspruch an eine universelle und gleichartige Ver- und Ent-
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sorgung der gesamten Stadtbevölkerung den Grundstein für die heutige Abhängigkeit Hanois von vernetzten Infrastruktursystemen im Sinne von Dupuy (2011) gelegt. Der Ausbau eines am westlichen Modell orientierten unterirdischen Systems der Stadtentwässerung mit der krassen Reduktion offener Wasserflächen bei fehlendem Gefälle und hohen Temperaturen trug zur Faulung der sich am Ende des Netzes stauenden Gewässer bei. Um dem entgegen zu wirken, wurde zur Hygienisierung und Sanierung dieser Randgebiete am Ende der Kolonialzeit eben die Erweiterung des vernetzten Infrastruktursystems empfohlen, was allerdings nur zu einer Verschiebung des Problems und damit zur Notwendigkeit der neuerlichen Erweiterung des Netzes geführt hätte. Zudem trug der Gegensatz zwischen Anspruch an eine umfassende Kontrolle des Stadtraumes, der dem westlichen Ideal der Stadtentwicklung entsprach und gleichzeitig seine Umsetzung ermöglichen sollte, und begrenzten Ressourcen zur Umsetzung dieses Anspruches zur bereits während der Kolonialzeit vorzufindenden räumlichen Differenzierung schon innerhalb des als städtisch definierten Raumes bei. Die unterschiedlichen Lebensumstände in den urbanen Vierteln Hanois waren beeinflusst von der Haltung der kolonialen Administration zu Fragen von Einkommen, Handel, Wohnungsversorgung usw., die die traditionellen Praktiken der vietnamesischen Bevölkerung restriktiv behandelte. Die Entlohnung von vietnamesischstämmigen Personen für Aufgaben im Dienst des Kolonialregimes war aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oftmals nur halb so hoch, wie die von aus Frankreich stammenden Personen (vgl. z. B. République Française 1926). Dies trug dazu bei, dass weite Teile der vietnamesischen Bevölkerung aufgrund finanzieller Restriktionen und teilweise auch wegen ihrer spezifischen Präferenzen vom kolonialen Wohnungsmarkt ausgeschlossen waren. Die hieraus resultierende sozialräumliche Fragmentierung konnte nicht ohne weiteres durch den Ausbau des einheitlichen Abwasserentsorgungsnetzes ausgeglichen werden. Der Versuch selbst spiegelt die Widersprüchlichkeit des kolonialen Regimes wider, das einerseits eine repräsentative, „bakteriologische Stadt“ aufbauen und gleichzeitig seine Vorrangstellung über die vietnamesische Bevölkerung sichern wollte. Mit der Festigung des Gegensatzes zwischen Stadt und damals ländlichem Raum wurde darüber hinaus die Basis für die spätere Fragmentierung des dann erweiterten Stadtraumes geschaffen. 4.3. DIE PLANUNGSÄRA – PUNKTUELLE STADTENTWICKLUNG UND STAGNIERENDER NETZAUSBAU Die Zeit am Ende der französischen Herrschaft (1945 – 1954) war durch den Indochina Krieg zunächst von einer weitgehenden Stagnation der Entwicklung der Stadt geprägt. Die Kenntnisse der nun für die Administration Hanois zuständigen Personen von Management und infrastrukturellem Ausbau der unter dem französischen Regime erbauten Stadt waren gering und Ressourcen waren an die kriegerischen Auseinandersetzungen gebunden (vgl. Interview Lý Trực Dũng 2011). Auch im Jahrzehnt nach der Teilung Vietnams 1954 fanden nur eingeschränkte behördlich organisierte Bauaktivitäten in Hanoi statt (Chi et al. 2010: 39). Insgesamt wurden
4.3. Die Planungsära
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lediglich 5.000 Wohneinheiten gebaut – unter anderem in der experimentelle Kim Liên Plattenbausiedlung, in der erstmals die Prinzipien des sozialistischen Wohnungsbaus in Hanoi umgesetzt wurden (Logan 2000:204). Im Laufe der 1960er Jahre kam die Stadtentwicklung mit der Intensivierung der amerikanischen Angriffe erneut weitgehend zum Erliegen. Wenn auch einige kritische Infrastrukturen, wie die Wasserversorgung und ein Elektrizitätswerk durch Bomben zerstört wurden, so trafen die Bombardierungen der Amerikaner die zum Großteil evakuierte Innenstadt Hanois weniger stark als die ländliche Umgebung der Stadt, denn in den damals bewaldeten Stadtrandgebieten koordinierte u. a. Ho Chi Minh mit seinen Truppen den organisierten Widerstand zunächst gegen die französischen Besatzer und dann gegen die amerikanischen Angreifer. Die ökonomischen Probleme infolge der Kriege konnten auch während der Zeit der Planwirtschaft nicht behoben werden. Am Vorabend von Đổi Mới war der vietnamesische Staat in ernsthaften Schwierigkeiten: Die Sowjetunion war nicht bereit, die Schulden Vietnams länger zu tragen, so dass unklar war, wie das Überleben der unter Armut und Hungersnot leidenden Bevölkerung Hanois sichergestellt werden sollte (Logan 2000:217). 4.3.1. Kontinuität des Planungsprinzips Erst mit der Wiedereinigung von Nord- mit Südvietnam nach dem Ende des Krieges 1975 wurde die formelle Stadtplanung wieder intensiviert (van Horen 2005). Für Herangehensweise an Planung und die davon geprägte städtebauliche Form Hanois war die 1975 beschlossene weit reichende finanzielle und planerische Unterstützung aus der Sowjetunion von Bedeutung (Logan 2000:190). So gingen Städtebau und politische Herrschaft in Hanoi weiterhin Hand in Hand, da auch die sowjetischen Planerinnen und Planern – wie zuvor während der Kolonialzeit – Architektur und Stadtplanung als zentrale Instrumente der Demonstration der Stärke des politischen Regimes betrachteten. Um die Überlegenheit sozialistischer Werte und den Umschwung der vietnamesischen Gesellschaft hin zu einem sozialistischen System zu untermauern, wurden pompöse Bauwerke aus der Kolonialzeit über- oder umgebaut. Hier zeigen sich Parallelen zur Vorgehensweise der französischen Administration, wenn auch mit anderem städtebaulichem Ergebnis. Auch der in der Kolonialzeit institutionalisierte Planungsprozess war im Einklang mit den Idealvorstellungen der Sowjetunion. Er beruhte weiterhin auf graphischen Plänen, nach Funktionen gegliedert und verbunden durch radiale Achsen als Transportnetz in einem geometrischen Design (vgl. Logan 2000:209). Insofern war dieser Ansatz der autoritären Planung dem des französischen Regimes ähnlich. Neben den starken Restriktionen aufgrund der zunehmenden finanziellen Notlage ist die ambivalente Haltung des sozialistischen Regimes gegenüber der Stadt als solche für die Stadtentwicklung Hanois relevant. Es wurde einerseits anerkannt, dass ein urbaner Kontext für die gewünschte Industrialisierung notwendig ist, andererseits wurde die Stadt assoziiert mit einer „parasitäre Konsumgesellschaft“, die nicht als Teil einer idealen sozialistischen Gesellschaft gesehen wurde (Smith/Scarpaci 2000). Investitionen in den städtischen Raum sowie Stadtplanung erfolgte je-
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doch als Instrument und unter dem Maßgabe der räumlichen Anordnung industrieller Anlagen, in deren Abhängigkeit Arbeitersiedlungen angelegt wurden. Die bestehenden Stadtgebiete, das vietnamesische 36-Gassen Gebiet, das seit jeher ein Handelsplatz war, und das ehemalige Kolonialviertel, repräsentierten aus Sicht des Regimes alte und unerwünschte Gesellschaftssysteme und wurden folglich weitgehend vernachlässigt (Quang/Kammeier 2002). Der Stadtentwicklungsplan, der diesen Abschnitt der wechselhaften Geschichte Hanois repräsentiert ist der so genannte Leningrad Plan von 1974 (Logan 2000; Abb. 11). Der Name des Planes weist auf die Herkunft des Planungsteams aus der russischen Stadt Leningrad (heute Sankt Petersburg) hin. Diesem Team waren zwar die planerischen Instrumente und Prozesse des Sozialismus geläufig, nicht aber die speziellen Herausforderungen des Planens und Bauens in tropischen Ländern. Während das grundlegende Problem für eine moderne dem westlichen Planungsansatz entsprechende Stadtentwicklung – die hohen, saisonal konzentrierten Niederschläge in Verbindung mit dem fehlenden Gefälle – erkannt wurden, so wurde doch nicht Abstand genommen von den bekannten städtebaulichen Mustern und architektonischen Formen. Heute wird dieser Plan kritisiert: Ihm liege ein „inadäquates Verständnis Hanois“ zugrunde (ebd.:211; Leaf 1999). Trotz der aus heutiger Sicht offensichtlichen Defizite und der ohnehin fehlenden Ressourcen zur Umsetzung wurde 1984 eine zweite Phase dieses Masterplans vom Volkskomitee der Stadt bewilligt. Das Plangebiet erstreckte sich weit über die heutigen zehn urbanen Bezirke und den Tô Lịch hinaus.
Abb. 11: Der „Leningrad Plan“ von 1982 (Chi et al. 2010: 51)
4.3. Die Planungsära
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Die räumliche Struktur – Auseinanderdriftens von Wunschbild und Realität Entgegen der ambitionierten Planungen kam zwischen 1930 – dem Beginn des organisierten Widerstandes gegen die Kolonialherrschaft und 1990 – dem wirtschaftlichen Aufschwung infolge von Đổi Mới – die geplante, Infrastruktur und Städtebau integrierende Stadtentwicklung, aufgrund fehlender Ressourcen beinahe zum Erliegen (Logan 2009:88). Die Stadtbevölkerung wuchs dennoch stetig. Nach den Evakuierungen aufgrund der Bombardierungen betrug die Bevölkerungszahl im Jahre 1972 480.000 und stieg in der Folge von 736.000 1974 auf 1.3 Mio. 1979 an. Dies verstärkt durch die Zerstörung und Verarmung der ländlichen Umgebung Hanois infolge der Kriege (Logan 2002:176). Da das Stadtwachstum nicht durch geplante Stadtentwicklung aufgefangen werden konnte, wurde städtischer Wohnraum durch Bevölkerungsgruppen lokal und zum Teil selbstorganisiert geschaffen. Wie im Folgenden diskutiert wird, waren alle am Ende der planwirtschaftlichen Zeit bestehenden Räume Hanois geprägt von geringen staatlichen und privaten finanziellen Ressourcen – verbunden mit einer restriktiven Haltung des Regimes gegenüber individuellen Bauaktivitäten. Die Stadtentwicklung während der Planwirtschaft war zunächst durch den punktuellen Aufbau sozialistischer Wohnquartiere in der Stadterweiterung außerhalb des seit der Kolonialzeit bestehenden Stadtgebietes geprägt (Abb. 12). Hierfür dehnte die Stadtverwaltung die formellen Stadtgrenzen weiträumig aus, um auf ehemals ländliche Räume zugreifen zu können (Pédelahore 1993:50).
Abb. 12: Die sozialistische Wohnsiedlung Thanh Xuân (Chi et al. 2010: 53).
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4. Die historische Entwicklung Hanois
Die „symbolischen sozialistischen Wohngebiete“ (Chi et al. 2010:94) waren mit sozialen Infrastrukturen und Einrichtungen des täglichen Bedarfs ausgestattet. Der sozialistischen Lehre folgend waren die Mieten für staatsangehörige Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlungen nominal, so dass so gut wie keine finanziellen Ressourcen zur Instandhaltung des Wohnraumes und der Infrastrukturen zur Verfügung standen (Smith/Scarpaci 2000). Wenn die Wohnsiedlungen zusammen genommen auch eine beachtliche Fläche bedecken – mit insgesamt rd. 450ha (vgl. Procacci/Thao 2007) in etwa so viel wie der innerstädtische Hoàn Kiếm Bezirk – so waren sie doch am Ende der Planungsära auf einer zu weiten Fläche verstreut, als dass sie ein zusammenhängendes städtisches Gefüge ergeben hätten. Staatliche Stellen investierten kaum in die Sanierung der während der Kolonialzeit verstädterten Gebiete und der vorherrschenden Ideologie entsprechend wurden private Investitionen in Wohnraum nicht gefördert oder sogar unterbunden (Quang/Kammeier 2002:381). So wurden diese Gebäude dem wachsenden Bevölkerungsdruck vor allem durch sukzessive Erweiterungen und Umbauten angepasst (Pédelahore 1986). Die Lebensbedingungen in den während der Kolonialzeit urbanisierten Räumen waren zum Beginn der 1990er Jahre auf einem Tiefpunkt angelangt: im 36-Gassen Gebiet lebten die Menschen dicht gedrängt auf bis zu 1,5 m2 pro Person, während der durchschnittliche Wohnraum Hanois lediglich 4 m2 pro Person betrug (van Gough/Tran 2009:176). Dementsprechend überbelegt waren die Wohneinheiten: in den Tunnelhäusern des 36-Gassen Gebiets lebten bis zu fünf Familien statt einer und in den Villen des Kolonialviertels lebten bis zu 120 Personen pro Gebäude – anstelle einer Familie, wie ursprünglich vorgesehen (Logan 2000:223). Über den informellen Ausbau von geplanten Wohneinheiten hinaus fand auch während der sozialistischen Zeit selbstorganisierte Besiedlung von Freiflächen innerhalb des städtischen Raumes statt. Im sozialistischen Staat wurde Boden als ein öffentliches, zentral verwaltetes Gut gesehen, weshalb außerhalb des Planungsapparates stattfindende Bauaktivitäten diskriminiert wurden. Dass dennoch private Gebäude errichtet wurden, ist ein Hinweis auf die schon damals eingeschränkte Durchsetzungskraft des zentralen Staates. So sahen viele Angehörige der Stadtteilverwaltung davon ab, Verstöße gegen die Bauvorschriften höheren Verwaltungen zu melden. Wie von Koh (2006:255) dargestellt, wurden selbstorganisierte Bautätigkeiten meist über Nacht durchgeführt, so dass die Stadtverwaltung am folgenden Tag vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Aufgrund der geringen Kapazitäten der Verwaltungen und der unsicheren Rechtslage konnten lokale Bevölkerungsgruppen davon ausgehen, dass der aufwändige bürokratische Prozess der Räumung informeller Bebauungen sich mehrere Jahre hinzog oder nicht durchgeführt wurde, oder dass sie anders als formell vorgesehen Kompensationen für Enteignungen auch bei illegalen Bautätigkeiten bekommen würden. Pédelahore äußerte 1986 die Hoffnung, dass die Öffnung von Hanois Quartieren für die gesamte Bevölkerung nach der Kolonialzeit zu einer Angleichung von Kulturen und Praktiken und damit Vereinigung des bis dahin stets segregierten Stadtraumes führen könnte (vgl. Pédelahore 1986:138). Die während der Kolonialzeit urbanisierten Räume betreffend ist dies zum Teil auch der Fall. Durch die ext-
4.3. Die Planungsära
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reme Erhöhung der Bevölkerungsdichten im ehemals locker besiedelten Kolonialviertel glichen sich dessen Bau- und Bevölkerungsstrukturen an die des 36-Gassen Gebiets an. Dies schlägt sich auch in der Bezeichnung nieder: aus Kolonialviertel und 36-Gassen Gebiet wird der historische Stadtkern. So können drei charakteristische Gebiete unterschieden werden: den während der Kolonialzeit verstädterten Gebiete umfassenden Stadtkern, die – erweiterten – urbanen Dörfer und die sozialistischen Wohnsiedlungen (vgl. Abb. 19 im Farbteil). Gleichzeitig blieb der starke Gegensatz zwischen Stadt und Land bestehen; beide wurden in der sozialistischen Raumplanung als zwei komplett separate Räume mit separaten Planungssystemen betrachtet. Wenn die Regierung den ländlichen Raum auch als bedeuten für die innere Sicherheit und die wirtschaftliche Entwicklung Vietnams sah und daher einen ideologischen Schwerpunkt auf die ländliche Entwicklung durch die Organisation der auf dem Lande lebenden und arbeitenden Bevölkerung in landwirtschaftlichen Kollektiven legte, so blieben die am Stadtrand Hanois lebenden Familien zumeist extremer Armut ausgesetzt (Chi et al. 2010:267). 4.3.2. Abwasserentsorgung – Stagnation des Netzausbaus Wenn das Leitbild der Stadtplanung nach dem Wechsel des politischen Regimes auch konstant blieb, so erfuhr der Ausbau des technischen Abwasserentsorgungsnetzes doch einen Bruch. Die bereits während der Kolonialzeit verfolgte Idee, ein Trennsystem für Haushalts- und Regenabwässer zu installieren, lebte zwar in der sozialistischen Ära wieder auf. Für die bereits bestehenden Stadtgebiete sollte nachträglich eine Überlauf-Entwässerung installiert werden, die bei trockenem Wetter die Ableitung von kommunalen Abwässern und Oberflächenentwässerung trennt und bei starken Niederschlägen einen Teil der dann verdünnten kommunalen Abwässer in das System der Oberflächenentwässerung leitet. Dies konnte jedoch nicht realisiert werden; finanzielle Probleme und fehlendes technisches Wissen über Leitungsnetze und technische Artefakte, die während der Kolonialzeit installiert wurden führten zu einer Stagnation von Instandhaltung und Ausbau des Systems (Interview Lý Trực Dũng 2011; vgl. Logan 2000:211). Die Ausstattung von Kim Liên mit einer Anlage zur mechanischen Abwasserreinigung und Trennkanalisation etwa war wenig erfolgreich. Sie mündete in verstopften Leitungen, so dass die Anlage bald stillgelegt wurde (Interview Trần Đức Hạ 2010). Dieser gescheiterte erste Versuch einer integrierten Stadt- und Infrastrukturentwicklung mit einer modernen Anlagendimensionierung, ist ein Beispiel für fehlende Umsetzungskapazitäten innovativer, an die Situation angepasster Lösungen. Die in der Erweiterung entstandenen Stadtgebiete wurden seither an ein nur sporadisch ausgebautes unterirdisches Netz angeschlossen während ein Großteil der Abwässer weiterhin in offene Gewässer geleitet wurde. Noch heute bilden sich die Phasen der Stadtentwicklung im Entwässerungssystem Hanois ab, das in im heutigen Stadtkern sehr viel engmaschiger ist als in der Stadterweiterung (vgl. Abb. 20 im Farbteil).
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Abwasserreinigung – Rückgriff auf dezentrale Technologien Nach dem vorläufigen Scheitern der Installation einer Abwasserreinigungsanlage in Kim Liên wurde in den später errichteten Wohngebieten aufgrund fehlender Ressourcen für Management und Instandhaltung der Anlagen auf die Installation eines Trennsystems verzichtet und erneut auf die Technologie der Septic Tanks zur Reinigung der Haushaltsabwässer zurückgegriffen. Dabei wird jedoch in einer neuen Generation von Septic Tanks auf die Installation von Filteranlagen beim Bau verzichtet. Dies führt einerseits dazu, dass diese nicht ohne weiteres verstopfen, andererseits wird das Toilettenabwasser beinahe ungereinigt in das Flusssystem geleitet, wenn die Tanks nicht in einem Intervall von etwa ein bis zwei Jahren geleert werden (Việt Anh 2007:26). Auch die in den Villen des Kolonialviertels und des 36-Gassen Gebiets installierten Septic Tanks wurden teilweise den neuen Anforderungen durch den drastischen Anstieg der Bewohnerzahlen entsprechend umgebaut. Um die Menge der Abwässer insgesamt zu reduzieren, wurde allein das Schwarzwasser in die Tanks geleitet, während das Grauwasser direkt in das Entwässerungssystem geht. Die auf diese Weise festere Substanz des in die Septic Tanks geleiteten Abwassers führte zu der Notwendigkeit, wie bei den Septic Tanks der Wohnsiedlungen die Filteranlagen zu entfernen. So sind bis heute Septic Tanks mit zwei oder drei Klärkammern, jedoch ohne Filter in Hanoi populär – ihr Beitrag zur Reinigung der städtischen Abwässer ist allerdings marginal. 4.3.3. Reformen im Abwassersektor Der Ausbau der physischen Infrastruktur zur Abwasserentsorgung schritt anders als geplant kaum voran. Regelungs- und Leistungsstruktur der Abwasserentsorgung wurden jedoch nach dem Vorbild der Sowjetunion weiterentwickelt. Zunächst wurden die staatlichen Ver- und Entsorgungsunternehmen – wie der Vorläufer der für feste Abfälle zuständigen Urban Environmental Company (URENCO), die Sanitation Company 1960 und das städtische Abwasserunternehmen Hanoi Sewerage and Drainage Company (HSDC) 1973 – gegründet (www.urenco.com.vn). Die HSDC war zuständig für die Instandhaltung des Entwässerungssystems der damals bestehenden vier urbanen Bezirke Hoàn Kiếm, Hai Bà Trưng, Đống Đa und Ba Đình. Das Unternehmen wurde dem Volkskomitee Hanois zugeordnet, das den Prinzipien der Planwirtschaft folgend in Einklang mit den Vorgaben der Fünfjahrespläne ein jährliches Budget für die Stadtwerke festsetzte, das die Kosten der vorher geplanten Tätigkeiten decken sollte. Dieses Budget wurde aus dem zentralen Staatshaushalt finanziert, da keine Gebühren für Infrastrukturleistungen erhoben wurden. Die Unternehmen waren jedoch aufgrund knapper staatlicher Ressourcen kaum handlungsfähig (vgl. Interview Gottfried Rölcke 2009). So wurden die parallel im ländlichen Raum bereits seit vorkolonialen Zeiten bestehenden Formen der durch die lokale Bevölkerung erbrachten Leistungen im Abwasserbereich, wie etwa die Reinigung der Entwässerungskanäle, aufrecht erhalten und im Laufe der 1960er und 1970er Jahre dem zentralen Verwaltungsapparat unterworfen (vgl. Parenteau/ Thong 2010:172).
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Die planwirtschaftliche Phase der Stadtentwicklung Hanois zeichnet sich durch eine Weiterführung überdimensionierter und nicht an lokale Gegebenheiten angepasster Stadtplanung aus, die abermals durch den Transfer städtebaulicher Ideale aus einem anderen räumlichen Kontext zur Demonstration der Überlegenheit eines politischen Systems charakterisiert war. So hatte der von Wright (1991) beobachtete „superficial urbanism“ der Kolonialzeit auch in der Zeit der Planwirtschaft nicht nur weiterhin Bestand. Vielmehr verstärkte sich die Oberflächlichkeit aufgrund der finanziellen Restriktionen sogar noch. Während in die Ausstattung mit sozialen und sichtbaren Infrastrukturen, wie etwa Kindergärten, Polikliniken und Stadtteilschulen investiert wurde, wurden die unterirdischen technischen Infrastrukturen – die in der Kolonialzeit noch als Kern der Urbanisierung betrachtet wurden – weitestgehend vernachlässigt. Daher ist von einem Auseinanderbrechen der Stadt- und Infrastrukturentwicklung zu sprechen, das sich auch in der Topologie des Entwässerungsnetzes widerspiegelt. Die begrenzte Handlungsfähigkeit der städtischen Verwaltungen bei dem Festhalten am Anspruch der zentralen Steuerung der Stadtentwicklung offenbarte die Problematik und Bürde des französischen kolonialen Erbes. Dies zeigt sich im Blick auf das Kolonialviertel, das unter dem französischen Regime als dauerhaft, zentral kontrollierbaren Raum errichtet wurde. Darauf weisen urbane Morphologie und technisches System der Abwasserentsorgung durch die dezentralen Septic Tanks hin. Deren Funktionsfähigkeit hängt einerseits vom Einsatz der lokalen Bevölkerung in der Instandhaltung und andererseits von der Bevölkerungsdichte ab, die in einem gewissen Rahmen konstant sein muss. Die drastische Bevölkerungszunahme in der Zeit der Planwirtschaft hatten die französischen Planungen nicht vorausgesehen, so dass die Tanks zunächst außer Betrieb gesetzt wurden. In einem nächsten Schritt wurden dann die Septic Tanks selbst durch zumeist individuell vorgenommene Umbauten an die neuen Anforderungen so angepasst, dass das Risiko individueller Störungen durch Überflutungen minimiert werden konnte. Damit jedoch ging die Funktion der Tanks, die Reinigung der Abwässer, weitgehend verloren. Während also der aus Sicht der lokalen Bevölkerung pragmatische Umbau der Septic Tanks vorangebracht wurde, blieb die Stadtverwaltung bei der Planung des Aufbaus eines zentralen Systems der Abwasserentsorgung. Wenn für den Ausbau der technischen Netze auch die finanziellen Ressourcen fehlten, so wurde das Ziel der standardisierten und uniformierten Abwasserentsorgung im institutionellen Bereich vorangetrieben – durch die Gründung der aus dem Staatshaushalt finanzierten städtischen Unternehmen zur Instandhaltung des Entwässerungssystems. Angesichts der leeren Staatskassen zeigt sich, dass die städtischen Verwaltungen einem im damaligen Kontext nicht realisierbarem Ideal der Infrastrukturversorgung folgten, weshalb – und dies ist kennzeichnend für Hanoi – parallel die bereits in vorkolonialer Zeit institutionalisierten Praktiken der Instandhaltung des Entwässerungssystems durch lokale Bewohnergruppen weiterentwickelt wurden.
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4. Die historische Entwicklung Hanois
4.4. STADTENTWICKLUNG UND STADTPLANUNG SEIT ĐỔI MỚI – INFORMALISIERUNG UND NEUE INSTITUTIONALISIERUNG Kürzlich wurde der neue Masterplan veröffentlicht, der die gesamte erweiterte Metropolregion abdeckt und der erneut ein gigantisches Planwerk mit ehrgeizigen Inhalten ist. Die Reformen im Rahmen von Đổi Mới spiegeln sich in einer grundlegenden Umformung der Stadtgestalt Hanois wider. Wie vielfach analysiert, lassen sich die Einflussfaktoren auf die städtische Morphologie folgendermaßen zusammenfassen: Lockerung der Zuzugskontrollen, Akzeptanz von privaten Unternehmen und Handel sowie wirtschaftliche Reformen, die die Stadtbevölkerung begünstigen und die Diversifizierung der Investitionen in Stadt- und Infrastrukturentwicklung, die nicht mehr nur durch den Zentralstaat getätigt werden. Hervorzuheben ist die Kommerzialisierung der Stadtentwicklung, die die Möglichkeit der Projektentwicklung zu Spekulationszwecken eröffnete (Quang/Kammeier 2002:387). Die Voraussetzung für die Kommerzialisierung der Stadtentwicklung ist die Kommodifizierung von Grund und Boden, auf die hier daher genauer eingegangen werden soll. Die Kommodifizierung von Grund und Boden Der marxistischen Theorie folgend waren Grund und Boden in Vietnam bis 1986 formell kein Handelsgut, sie sollten ausschließlich im Staatseigentum stehen und zur Beschleunigung der Industrialisierung eingesetzt werden (Quang/Kammeier 2002:376). Daher gab es formell kein privates Eigentum von Grund und keine private Entwicklung von Land. Dieses wurde vielmehr von der Verwaltung den verschiedenen Nutzungen wie Wohnen und Industrie zugeteilt und registriert, wobei für die Nutzung des Landes nicht gezahlt werden musste (Han/Vu 2008:1100). Seit Đổi Mới wurde ein Prozess der Kommodifizierung des Bodens, d. h. der Definition von Boden als handelbares Gut in Gang gesetzt, der sich in stetigen Änderungen in der Gesetzgebung widerspiegelt. 1988 trat ein Gesetz zur Landnutzung in Kraft, dem zufolge alles Land dem Volk gehört und vom Staat verwaltet wird; letzterem wurde jedoch die Möglichkeit zur Vergabe individueller Landnutzungsrechte eingeräumt (Quang/Kammeier 2002:376). Die nächste Fassung des Landgesetzes von 1993 brachte mit der Einführung langfristiger Nutzungs-, Transfer- und Erbrechte, größere Sicherheit für Landbesitzer mit sich; diese sowie Regelungen von Enteignungsentschädigung stellten eine weitere bedeutende Annäherung an die rechtlichen Standards in marktwirtschaftlich geprägten Ländern dar (ebd.). Das aktuelle Landgesetz gilt seit 2003. In seinem Rahmen wurden die Rechte der privaten Akteure und lokalen Haushalte mit der Legalisierung von Landschenkungen und Landnutzung für kommerzielle Zwecke weiter ausgedehnt. Diese Rechte gelten jedoch nur, wenn die Vorgaben der Landnutzungsplanung eingehalten werden (Han/ Vu 2009:1103f). Als Reaktion auf frühere Kritik wird im Rahmen des Gesetzes versucht, Prozesse des Kaufs von Landnutzungsrechten sowie der Enteignung von Landbesitz durch den Staat und damit verbundene Gebühren und Entschädigungszahlungen zu bündeln und transparenter zu gestalten (ebd.). Dennoch wird die heutige rechtliche Lage als problematisch erachtet. So werden beispielsweise die Un-
4.4. Stadtentwicklung und Stadtplanung seit Đổi Mới
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klarheit gesetzlicher Vorgaben, die Unübersichtlichkeit und Komplexität der formellen Verwaltungsabläufe und die damit verbundenen hohen Kosten des Transfers oder Kaufs von Landnutzungsrechten kritisiert (vgl. VCCI 2008b). Dies führt dazu, dass die formellen Regeln in der Praxis, z. B. im Rahmen von Bauprojekten nur in seltenen Fällen eingehalten werden (Leaf 2002). Die Kommodifizierung von Grund und Boden und die dadurch ermöglichte Kommerzialisierung der Stadtentwicklung führten zu einem extremen Wachstum der Stadt durch eine starke Verdichtung bestehender Stadtviertel sowie Expansion der städtischen Grenzen (vgl. Phe/Wakely 2000). Insbesondere die Verdichtung des Stadtraums ging in den ersten ca. fünfzehn Jahren nach Đổi Mới außerhalb der Kontrolle der politischen Führung vor sich (vgl. Abb. 13). Ende der 1990er Jahre wurde geschätzt, dass 70–90% der Bauaktivitäten in Hanoi ohne Baugenehmigung und meistens sogar ohne Landnutzungsgenehmigung stattfanden (Logan 2000:250). Wie unten (Kap. 6) erläutert wird, wirkt sich dies direkt auf die Versorgung mit soziotechnischen Infrastrukturen aus. In den Augen von Leaf wurde Hanoi zu einer „quintessential ‚city of the informal sector‘ during the doi-moi period“, was er als Folge eines der neuen politischen Ausrichtung entsprechenden Rückzugs des Staates aus der Wohnraumversorgung betrachtet (Leaf 1999:306). Erst das Ende der Asienkrise 1997 markiert eine Verstärkung des direkten Einflusses formeller Planung auf die bauliche Entwicklung Hanois, der sich in der Zunahme von New Urban Areas am Rande der Stadt manifestiert (vgl. Abb. 14; vgl. Waibel/Dörnte 2007). Mit der heute zu verzeichnenden rasanten Urbanisierung findet eine großräumige Ausdehnung des städtischen Raumes bis weit über die Grenze des Tô Lịch Flusses und auch über die heute formell urbanen Bezirke hinaus statt (vgl. Abb. 23). Dieser dritte Ring der Urbanisierung – nach innerer Stadt und Erweiterung – wird heute als suburbaner Raum bezeichnet (vgl. JICA/HPC 2007). Wie von Leaf analysiert, zeigt sich eine neue Morphologie an den Rändern der Stadt: „In physical terms, a new type of urbanism has emerged at the edge of the city, with a great diversity of intermixed landscapes, including walled residential estates, ad hoc densification of pre-existing villages, and the tight intermingling of small-scale industries with commercial, residential and agricultural activities.” (Leaf 2002:29)
Abb. 13: „Streit um Land“ informelle Bautätigkeit 2009
Abb. 14: Bau einer New Urban Area 2010
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4. Die historische Entwicklung Hanois
Neu gegenüber der Urbanisierung früherer Jahrzehnte ist vor allem die rasante Geschwindigkeit der Verdichtung im ehemals ländlich geprägten Raum. Dabei verdichten sich bereits bestehende peri-urbane Dörfer in einem auf der Stadtteilebene organisierten Prozess. Die durch zentrale Planung entstehenden New Urban Areas dagegen zeigen, wie oben erläutert, eine Tendenz zu sozialer Selektion durch exorbitante Preise (ASHUI 2010). Ein fortbestehendes Merkmal der Urbanisierung ist also die Gleichzeitigkeit der auf gesamtstädtischer Ebene geplanten Entwicklung von Stadtgebieten und der auf der Ebene der Stadtteile organisierten Urbanisierung der ehemals peri-urbanen Dörfer, die zu urbanen Dörfern werden. Die aufgrund dieser Entwicklung hier vorgenommene Ableitung charakteristischer Räume wird unten erläutert und illustriert (Kap. 4.5; Abb. 23). 4.4.1. Prozess und Inhalte der formellen Stadtplanung seit Đổi Mới Es stellt sich also die Frage, wie in der Stadtplanung seit Đổi Mới mit diesen neuen Herausforderungen umgegangen wird. Konkret wurden seither drei Pläne verfasst: Der direkt nach der Öffnung bearbeitete Masterplan von 1990 und seine 1998 festgestellte Überarbeitung, die die Stadtentwicklung bis 2010 bzw. 2020 abbilden (vgl. Forbes/Ke 1996; SRV/HPC 2009; Abb. 21). 2010 wurde ein neuer Plan veröffentlicht2, der wie oben erläutert die 2008 institutionalisierte Metropolregion Hanois abbildet und ihre Entwicklung bis 2030 darstellt (Abb. 22; PPJ 2010). Seit Đổi Mới wurden Innovationen hinsichtlich des Planungsprozesses und dessen Instrumente durchgeführt. Durch den 1992 in Kraft getretenen Erlass 91 wurden die Planungsebenen von ehemals fünf auf einen zweistufigen Prozess bestehend aus Masterplanung und Detailplanung reduziert (Quang/Kammeier 2002). Mit dem 2009 in Kraft getretenen Stadtplanungsgesetz (Law on Urban Planning, No. 32/2009/QH12) werden die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten nichtstaatlicher Akteure im Planungs- und Bauprozess ausgeweitet. Dies betrifft einerseits privatwirtschaftliche Institutionen wie Planungsbüros, die mit der Planerstellung beauftragt werden können sowie Unternehmen, die in Bauprojekte investieren, denen eine aktive Rolle in der Stadtentwicklung zugesprochen wird. So sind solche Unternehmen selbst für Detailplanung und Finanzierung von Entwicklungsprojekten zuständig (Art. 19, 32/2009/QH12). Die ersten beiden Masterpläne von 1990 bzw. 1998 wurden durch die Beauftragung eines lokalen Planungsteams innerhalb des an das Bauministerium angegliederten National Institute for Urban and Rural Planning (NIURP) erstellt, hochrangig besetzt mit dem stellvertretenden Premierminister und dem Bauminister Vietnams sowie dem Vorsitzenden des Volkskomitees von Hanoi (Forbes/Ke 1996:85). Als Plangrundlage diente wie vor Đổi Mới die 10-jährige sozioökonomische Entwicklungsplanung. Während hier also eine in der Planwirtschaft etablierte Vorgehensweise weitergeführt wurde, ist die Erstellung des aktuellen Masterplans durch 2
Ursprünglich sollte er bis Ende 2010 festgestellt werden. Bis Juli 2012 ist dies jedoch noch nicht geschehen.
4.4. Stadtentwicklung und Stadtplanung seit Đổi Mới
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Neuerungen im Prozess gekennzeichnet. Das vom Premierminister beauftragte nordamerikanisch-südkoreanische Konsortium (PPJ) nahm zunächst eine weitreichende Beteiligung vietnamesischer Fachleute vor. Diese bekamen Gelegenheit, die im Vorwege erarbeiteten Planentwürfe zu diskutieren (http://hanoi.org.vn/planning/). Auch die Öffentlichkeit bekam bereits vor der Feststellung Einblick in die Entwürfe. Auf einer eigens eingerichteten Website waren umfassende Plandokumente von rund 200 Seiten einsehbar und konnten dort auch öffentlich diskutiert werden (ebd.). Auf diese Weise kommt die Stadtplanung der Verpflichtung laut Stadtplanungsgesetz nach, die Kommentare von Bürger- und Bürgerinnen zu veröffentlichen, ohne dass allerdings der Umgang mit den Kommentaren und Meinungen von Fachleuten und Bewohner_innen weiter institutionalisiert würde. Die graphische Darstellung in allen seit Đổi Mới erstellten Plänen ist im Vergleich zum Vorgänger, dem Leningrad Plan, in ihrer Darstellung weniger monumental und geometrisch – die Straßenplanung etwa ist an der Topographie und dem Lauf der Gewässer orientiert (vgl. Abb. 22). Das Prinzip der räumlichen Plandarstellung blieb zumindest in den Plänen von 1998 und 1995 jedoch erhalten: Flächen zur Stadtentwicklung entstehen als Zwischenräume der Verkehrsachsen, die radial aus dem Zentrum heraus verlaufen und durch Ringstraßen ergänzt werden (vgl. Quang/Kammeier 2002). Während die Masterpläne von 1990 und 1998 im Vergleich zum Leningrad Plan zurückhaltend sind, was die projektierte Fläche der Stadtentwicklung betrifft, werden im 2010 veröffentlichten Masterplan wieder massive Ausdehnungen des städtischen Raumes gleich eines Ringes um die aktuelle Kernstadt Hanoi herum, in der 2030 4,5 Mio. Menschen leben sollen, vorgesehen (PPJ 2010a). Der Plan umfasst die gesamte Stadtregion Hanois mit der Ausweitung der administrativen Grenzen nach Südwesten ein. Für weite Teile der Region sieht er jedoch keine Urbanisierung vor. Dies hebt den Plan von allen seinen Vorgängern ab. Im Gegensatz zu diesen weist er nicht allein solche Gebiete aus, deren Verstädterung mittels der Konzentration von Wohn- und Gewerbeflächen vorgesehen ist, sondern ein Großteil der geplanten Fläche ist grün: Es werden Räume ausgewiesen, in denen explizit kein Stadtwachstum vorgesehen ist (vgl. Abb. 11, Abb. 21 und Abb. 22). So ist ein Kernthema des neuen Planes erstmals der Schutz des ländlichen Raumes. Dies spiegelt sich in den konzeptionellen Entwürfen wider, die von einem Grüngürtel zur Eindämmung der westlichen Ausdehnung der Kernstadt Hanois dominiert sind. Es sollen nur 30% der Metropolregion Hanois intensiver Urbanisierung zur Verfügung stehen, während 70% Teil eines Grüngürtels sein sollen (PPJ 2010:21). Von den für 2030 anvisierten knapp 10 Mio. Einwohnern des erweiterten Hanois sollen 6,2 Mio. in stark verdichteten Räumen und 3,4 Mio. in ländlichen Räumen leben (vgl. JICA/ HPC 2007). Trotz vieler offenen Fragen hinsichtlich der Umsetzbarkeit der Planungen (allein die Kosten des Verkehrsnetzes werden auf gut 40 Mrd. USD geschätzt (PPJ 2010a) zeigt dieser Masterplan, dass unter Akteuren in Politik und Verwaltung Vietnams ein Bewusstsein für die Existenz der Metropolregion besteht. Jedoch weist der aktuelle Plan auch darauf hin, dass die Planungsphilosophie sich seit Đổi Mới nicht fundamental geändert hat. Planung wird weiterhin als linearer und rationaler
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4. Die historische Entwicklung Hanois
Prozess verstanden, der aufgrund umfassender Analysen auf der gesamtstädtischen Ebene zu einem optimalen Ergebnis führen soll. 4.4.2. Die Ausrichtung der politischen Führung Wie der aktuelle Plan impliziert, wandelte sich die Wahrnehmung des Städtischen durch die politische Führung nach der Transformation durch Đổi Mới. Städte und gerade die unter dem Sozialismus vernachlässigten städtischen Zentren werden seither als Motoren des dringend benötigten wirtschaftlichen Wachstums des Landes gesehen. Hanoi, das sich in der Planwirtschaft als ideologisches und bürokratisches Zentrum etabliert hatte, sieht sich jetzt einer direkten Konkurrenz um die Wirtschaftsleistung mit dem ehemals verfemten Saigon, der heutigen Ho-ChiMinh-Stadt, gegenüber, dessen kapitalistische Identität als ehemalige südvietnamesische Metropole prägend blieb. (vgl. Logan 2009). So steht die Stadtverwaltung Hanois vor der Aufgabe, die Wirtschaft der in dieser Hinsicht vergleichsweise rückständigen Stadt anzukurbeln und erneut mittels Interventionen in den gebauten Raum Stärke zu demonstrieren. Diese Ausrichtung auf städtisches Wachstum zusammen mit dem Wandel vom Verständnis des Staates vom Leistungs- zum Gewährleistungsstaat hat zwei Tendenzen mit sich gebracht: Zum einen der neue Umgang mit der o. g. verstärkten informellen Produktion der Stadt und zum anderen die aktive Teilnahme an Entwicklungsprojekten durch die politische Führung. Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre wählte die Stadtverwaltung Hanois entgegen ihrem Ideal der politischen Steuerung den Weg der rückwirkenden Anpassung an den rasanten Wandel. Zunächst wurden Bautätigkeiten die nicht der formellen Prozedur entsprachen, legalisiert, soweit Bodensteuern gezahlt wurden. Dies ist eine im sozialistischen System grundsätzlich undenkbare Maßnahme (Koh 2006:230). Diese formelle Akzeptanz inkrementell entstandener Baustrukturen ging auch mit einem Wandel der Sichtweise auf die so entstehenden Siedlungen in der Öffentlichkeit einher. Als „urbane Dörfer“ wurde ihnen ein besonderer Stellenwert für die Identität der Stadt zugesprochen. In diesem Sinne argumentiert Prof. Nguyễn Minh Hòa (2010), Mitglied des Planungsamtes von Ho-Chi-Minh-Stadt, dessen Vision der Erhalt eines ländlichen Lebensstils in Verbindung mit hohen Versorgungsstandards ist: „Retain the rural village of traditional architecture, the beauty of traditional culture […]. The important thing here is that people are entitled to social services […] and technical infrastructure (electricity, water, communications, media) equally to (or even better than) people in town. In the urban rural balance lies the main value of life for urban residents.”
Neben der rückwirkenden Akzeptanz selbstorganisierter Stadtentwicklung engagiert sich die Stadtverwaltung direkt in der Planung der städtischen Entwicklung durch die New Urban Areas, die, wie der Name schon sagt, die Modernität des neuen Vietnams und insbesondere die Wirksamkeit der Stadtplanung repräsentieren. Aus diesem Grunde und da Investitionen in Grund und Boden in Nordvietnam seit Đổi Mới bis heute eine der wichtigsten privaten Investitionsmöglichkeiten darstellt, sind die auf Prestige, Pflege und Erhalt professioneller Beziehungen oder
4.4. Stadtentwicklung und Stadtplanung seit Đổi Mới
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wirtschaftlichen Gewinn hoffenden Angestellte der Stadtentwicklungsbehörde motiviert, mit Projektentwicklungsunternehmen ‚Wachstumskoalitionen’ einzugehen (vgl. Han/Vu 2008 1112). In diesen Koalitionen wird gemeinsam die rasante Entwicklung von Bauprojekten zu Spekulationszwecken vorangetrieben. Die Analyse des Harvard Vietnam Programs (HVP) ist in dieser Hinsicht aufschlussreich – sie zeigt, dass die privaten und von Auslandsinvestitionen geprägten Sektoren zwar die dynamischeren sind, der Großteil der Investitionen und andere Privilegien jedoch den zumeist in Aktiengesellschaften umgewandelten Staatsunternehmen zugutekommt (HVP 2008:31). Die Firmen der in den letzten Jahrzehnten gebildeten Konglomerate versuchen jedoch nicht, in ihrem jeweiligen Feld international konkurrenzfähig zu sein, sondern vielmehr ihre Umsätze durch vorrangig am Immobilienmarkt erzielte schnelle Gewinne zu steigern. Der Kommerzialisierungsprozess staatlicher Firmen, dessen Ziel eigentlich die Steigerung der Effizienz und der Wettbewerbsfähigkeit dieser Firmen ist, wird von einflussreichen Individuen genutzt, um sich persönlich durch „misuse and misappropriation of state assets“ zu bereichern (HVP 2008:4). Seit Đổi Mới prägen neue Akteure die Stadtentwicklung Hanois: Private und öffentliche Investoren aus Vietnam und aus anderen Ländern. Diese treten nicht selten in Personalunion mit in Stadt- und Bezirksverwaltung oder Politik tätigen Personen auf. Die für die Feststellung der Stadtentwicklungspläne und somit die Verortung von Bauflächen zuständigen Planer und Planerinnen investieren neben ihrem Amt privat in Grund und Boden, dessen formelle Preise in den letzten beiden Jahrzehnten drastisch gestiegen sind und erst im Laufe der 2010er Jahre wieder abflauen (MONRE 2010b). Die Vorrangstellung des Ziels der Gewinnmaximierung bei Unübersichtlichkeit der Planungsprozesse zeigt sich darin, dass z. T. grundlegende Regeln der Bauleitplanung missachtet werden. Dies ist in einer aktuellen Erweiterung einer der ersten New Urban Areas Linh Đàm der Fall, wo Investitionsunternehmen ganze Grundstücke mit Villen bebauten und so kein Platz für die Erschließung blieb (DTINEWS 2011). Verschleierung des Einflusses partikularer Interessen Vor dem Hintergrund dieser Interessenlage sind die seit Đổi Mới erstellten Stadtentwicklungspläne zu verstehen. Ihre Funktion liegt vorrangig in der räumlichen Strukturierung von Investitionen in Grund und Boden im Rahmen der Stadtentwicklungsprojekte (vgl. Leaf 1999:308). Die darüber hinaus gehende Ausweisung von zu schützenden Grünflächen und auch von den massiven Infrastrukturprojekten wird unter in Planung und Architektur tätigen Akteuren Hanois als „Utopie“ betrachtet, als realitätsferne „Zeichenübung“ (vgl. Interview Lý Trực Dũng 2011; Interview Frank Pogade 2011). So erregt der für die Erstellung des Planes getriebene Aufwand der Beteiligung von Fachleuten und Bewohner_innen sowie die Anstellung eines hochkarätigen Planungsteams Unmut, da vermutet wird, dass diese Investitionen primär zur vordergründigen Wahrung der Form bezüglich der Regeln der – mit dem Einfluss internationaler Finanzinstitutionen wie der Weltbank populären – good governance dienen (vgl. Interview Nam Ho Park 2009). Angesichts der großen planerischen Herausforderung – so dem aktuell drohenden Verlust urbaner Kohäsion infolge explodierender Wohnkosten und Wohnungsnot unterer und
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4. Die historische Entwicklung Hanois
mittlerer Einkommensgruppen – wird die formelle Planung kritisiert, die als so hochtrabend wie ineffizient angesehen wird (vgl. ASHUI). Die offenbare Diskrepanz zwischen Realität der Stadtentwicklung und Ausweisungen der Stadtplanung wird vielfach auf das Festhalten an einem Instrumentarium und Prozess der Planung zurückgeführt, die am sozialistischen System ausgerichtet und daher für die veränderten Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung Hanois nicht geeignet sind: „[…] the gaps between dynamic market-driven demand for urban development and unresponsive bureaucratic functions have been bridged by a thriving „informal“ (or „illegal“) management sector that is known to, and used by, all parties concerned.” (Quang/Kammeier 2002:387)
Folglich wird die Anpassung der Stadtentwicklungsplanung an die neuen sozioökonomischen Bedingungen gefordert, um erneut auf die räumliche Entwicklung Hanois einwirken zu können (vgl. Chi et al. 2010:349). Dieser Überblick zeigt, dass die Stadtentwicklung Hanois nach Đổi Mới vorrangig außerhalb der formellen Planungsinstrumente verhandelt wird und dass Stadtentwicklungspläne in der Regel zu einer nachholenden Abbildung anderswo getroffener Entscheidung dienen oder aber ihre Darstellungen nicht realisiert werden. Formelle Planungsprozesse hinken den tatsächlichen gesellschaftlichen Wandlungen hinterher. Wie um ihren geringen Einfluss auf zukünftige Entwicklungen zu kompensieren, sind die Planinhalte übertrieben umfangreich.
Abbildungen
Zitadelle (Peri-)urbane Dörfer 36-Gassen Gebiet 1 km
Abb. 15: Charakteristische Räume Hanois vor der Kolonialzeit (Eig. Darstellung basierend auf MOC 1993)
Kolonialstadt (Peri-)urbane Dörfer 36-Gassen Gebiet 1 km
Abb. 16: Charakteristische Räume Hanois am Ende der Kolonialzeit (Eig. Darstellung basierend auf MOC 1993; Fayet 1939)
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Abbildungen
Abb. 17: Planung Abwasserentsorgungsnetz 1939 (Fayet 1939)
Abb. 18: Stadtregionale Entwässerungsplanung und „maximale Ausdehnung“ Hanois 1939 (Fayet 1939)
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Abbildungen
Stadtkern Wohnsiedlungen Urbane Dörfer 1 km
Abb. 19: Charakteristische Räume Hanois südwestlich des Roten Flusses am Ende der Planwirtschaft (Eig. Darstellung basierend auf MOC 1993,Fayet 1939; Quang/Kammeier 2002). Es ist davon auszugehen, dass sich zudem Siedlungen im peri-urbanen Raum befanden. Da hierzu jedoch keine Daten vorliegen, sind diese nicht abgebildet.
Roter Fluss Westsee
Tô Lịch 1 km Abb. 20: Entwässerungsplan der JICA (Eig. Darstellung basierend auf SRV/HPC 2005)
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Abbildungen
Abb. 21: Hanoi Stadtentwicklungsplan von 1990 bis 2010 (NIURP)
Abb. 22: Hanoi Stadtentwicklungsplan 2010 bis 2030 (PPJ 2010)
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Abbildungen
Stadtkern Wohnsiedlungen Urbane Dörfer und Verdichtung New Urban Areas Peri-urbane Dörfer 1 km
Abb. 23: Charakteristische Räume Hanois südwestlich des Roten Flusses heute (Eig. Darstellung basierend auf Google Luftbild 2010, MOC 1993,Fayet 1939; Quang/Kammeier 2002; JICA/HPC 2007; Landuse Plan Hanoi 2005)
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Abbildungen
Steuern
REGIERUNG
Regierung Vietnam
MOC MOC
MONRE
Gebührenrahmen/ Budget
Volkskomitee Hanoi
Steuern und Gebühren
PROVINZVERWALTUNG
Umweltamt
Bauamt
Budget
Volkskomitee Bezirk Volkskomitee Stadtteil
MOF/MOPI
Ämter f. Finanzen/ Investitionen
Verwendung Tarife
Professionelle Unternehmen
LEISTUNGSSTRUKTUR
Bauabteilung
Umweltabteilung
Abteilungen (F. und I.)
LOKALVERWALTUNGEN
Haushaltsgruppe
Weisungsbefugnis Fachliche Führung
Qualität
Kontrolle Abstimmung
Haushalt
Zahlung Haushalt Auftrag Betrieb
TECHNIKSTRUKTUR
Abb. 24: Formalgesetzliche Zuständigkeiten in der Regelung und der Leistungserbringung der urbanen Abwasserentsorgung Vietnams (Eig. Darstellung basierend auf HPC/SRV 2005; Lefevre et al. 2010; GHK 2005; Interview Việt Anh Nguyen 2009; De Miras et al. 2010)
Wasserversorgung 150 LPT
Grauwasser Kanalisation
Schwarzwasser
Entsorgung (selten: Behandlung)
Septic Tank
Septic Tank Schlamm
Septic Tank Schlamm Versickerung
Flusssystem
Schlamm Transport über Straße Wasserfluss
Abb. 25: Die Position des Septic Tanks im Stoffkreislauf Hanois (Eig. Darstellung basierend auf Schramm 2011)
Abbildungen
Abb. 26: Kanalentschlammung durch Mitarbeiterinnen der HSDC 2009 (Đức Tuấn Đào)
Abb. 27: Schwarzes Wasser im Trúc Bạch See im 36-Gassen Gebiet 2011
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Abbildungen
Abb. 28: Offene Entwässerung im Stadtkern 2008
Abb. 29: Ausbau unterirdischer Kanäle im Stadtkern 2010
Abbildungen
Abb. 30: Wohnsiedlung mit offenem Kanal 2008
Abb. 31: Zugang zum unterirdischen Kanal in der Wohnsiedlung Kim Liên 2011
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Abbildungen
Abb. 32: Inkrementeller Ausbau von Wohnungen durch sog. „bird cages“ 2011
Abb. 33: Urbanes Dorf mit direkter Entwässerung in den Tô Lịch Fluss 2008
Abbildungen
Abb. 34: Gedeckelte Kanalisation im urbanen Dorf Đội Cấn 2011
Abb. 35: Ausbau unterirdischer Kanäle in urbanem Dorf 2013
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Abbildungen
Abb. 36: Die New Urban Area Linh Đàm 2011
Abb. 37: Straßenszene am Rand der New Urban Area Ciputra 2011
Abbildungen
Abb. 38: Pagode mit Regenrückhaltebecken in der New Urban Area Mỹ Đình II 2011
Abb. 39: Das peri-urbane Dorf Nội Thôn 2009 mit Behälter zur Düngung vorne rechts
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Abbildungen
Abb. 40: Dezentrale Abwasserreinigungsanlage in Lai Xá 2011
Abb. 41: Unbefestigte Straße im peri-urbanen Dorf Lai Xá 2010
Abbildungen
Abb. 42: Straßenbau am westlichen Stadtrand Hanois 2010
Abb. 43: Straßenbau am westlichen Stadtrand Hanois 2013
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4. Die historische Entwicklung Hanois
4.5. ZWISCHENFAZIT: KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE – IDENTIFIKATION VON CHARAKTERISTISCHEN RÄUMEN An dieser Stelle wird zunächst auf die Entwicklung von Leitbildern und Idealen der Stadt- und Abwasserentsorgungsplanung und ihrer Auswirkungen auf den gebauten Raum eingegangen. Ein Fokus liegt auf der Kolonialzeit, der, wie in der konzeptionellen Grundlegung dargestellt, in theoretischen Debatten große Bedeutung beigemessen wird. Im zweiten Unterkapitel folgt eine Erläuterung der Brüche in der historischen Entwicklung Hanois und gleichzeitig der Persistenz der Vorstellung von Prozessen der Stadtentwicklung sowie der von dieser Vorstellung abweichenden Vielfältigkeit der tatsächlichen Stadtentwicklungsprozesse. Diese Betrachtung hat zunächst Implikationen für theoretische Debatten zu Entwicklungstendenzen von Städten des globalen Südens. Auf der Basis dieser Erläuterung wird zudem eine Unterscheidung charakteristischer Räume vorgenommen. Diese werden in Kapitel 5 auf die dort vorzufindenden soziotechnischen Konstellationen untersucht. 4.5.1. Die Kontinuität von Leitbildern über historische Umbrüche hinweg Die Analyse der Dokumente der Planung von Stadt und Abwasserentsorgung in den historischen Phasen Hanois verdeutlicht die Kontinuitäten und den Wandel im Hinblick auf planerische Strategien und Entwicklung des städtischen Raumes. Das mit der kolonialen Planung nach Hanoi transferierte moderne Infrastrukturideal, in der Abwasserentsorgung konkretisiert im Leitbild der trockenen und sanitären Stadt, brachte spezifische Zuschreibungen an Techniken der Abwasserentsorgung und einen spezifischen Blick auf die sozialen und technischen Charakteristika, die sozialräumliche Funktion technischer Infrastrukturen und die Entwicklungsdynamiken städtischen Raumes in Abgrenzung vom ländlichen Raum mit sich. In der konzeptionellen Grundlegung wurde gezeigt, dass dem gesamten kolonialen Projekt Europas in theoretischen Debatten eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung von städtischen Infrastruktursystemen des globalen Südens zugesprochen wurde. Auf diese zentrale Stellung der Kolonialisierung eingehend wird hier erläutert, wie sie, die – gemessen an dem Jahrtausend chinesischer Herrschaft – nur ein kurzer Moment in der Geschichte Vietnams war, sich auf Stadtentwicklung und Abwasserentsorgung Hanois auswirkte. Bis zur Kolonialzeit wurde eine Segregation des Siedlungsraumes zwischen dem von feudalen Eliten besiedelten Gebiet der Zitadelle und den Gebieten außerhalb, die von Handeltreibenden und in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsgruppen besiedelt wurden, sowie eine dieser Segregation entsprechende Fraktur der Abwasserentsorgungssysteme durch die Feudalherren akzeptiert: Nur die Stadt des Königs, die heutige Zitadelle, war mit einer Trennkanalisation ausgestattet. Die Bevölkerung der Stadt des Volkes hingegen verließ sich auf die Sammlung und den Abtransport des night soil in Latrinen zur Nutzung in der Landwirtschaft. Damit spiegelte sich die Zweiteilung der Stadt in Königsstadt und Stadt des Volkes in den Abwasserentsorgungsinfrastrukturen wider.
4.5. Zwischenfazit
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Mit dem Transfer des modernen Infrastrukturideals durch die französische Planung verlagerte sich die Definition des städtischen Raumes und damit die Akzeptanz der Fraktur der Abwasserentsorgungssysteme: Nun wurden das stark verdichtete 36-Gassen Gebiet der damals als „indigènes“ definierten Bevölkerungsgruppen als städtisch begriffen. Die koloniale Planung war widersprüchlich im Hinblick auf den Umgang mit den nun vorzufindenden Stadträumen, nämlich der kolonialen Stadt auf der einen und den Quartieren der vietnamesischen und chinesischen Bevölkerungsgruppen außerhalb der kolonialen Eliten auf der anderen Seite. Einerseits wurde im Hinblick auf die Ausstattung mit technischen Infrastrukturen zunächst eine Vereinheitlichung, im Abwassersektor mittels des Ausbaus eines zentralen Netzes des als städtisch anerkannten Raumes vorgesehen. Gleichzeitig wurden die Bevölkerungsgruppen der vietnamesischen und chinesischen Handeltreibenden und Arbeiter_innen aus dem Kolonialviertel ausgegrenzt, etwa durch hohe Kosten von Wohnraum und Boden in Verbindung mit der Diskriminierung von vietnamesischen Menschen. Die gesellschaftliche Differenzierung der Stadtbevölkerung Hanois wurde dann mittels städtebaulicher Maßnahmen sichtbar gemacht und gleichsam dramatisiert. Letztlich standen die Ziele der Sicherung der Vorrangstellung der kolonialen Elite einerseits mit dem des Aufbaus Hanois als „Paris de l’Annan“ andererseits im Konflikt – mit letzterem wären heruntergekommene Armenviertel nicht in Einklang gewesen. Die widerstreitenden Ziele zwischen Vereinheitlichung und Differenzierung bzw. Ausschluss und Integration zeigen sich in der stadträumlichen Struktur. Der Weg von der Planung eines einheitlichen Entwässerungsnetzes am Beginn der Kolonialzeit zur Planung eines in verschiedenen Stadtteilen unterschiedlich ausgelegten Netzes am Ende dieser Ära verdeutlicht die Inkonsistenz der kolonialen Planung. Am Ende der Kolonialzeit wies Struktur des Stadtraumes in den Augen der Infrastrukturplaner mit den stark überbevölkerten Vierteln der vietnamesischen und auch chinesischen Handeltreibenden und Arbeiter_innen auf der einen Seite und den weitläufigen Villenvierteln der Eliten auf der anderen Seite eine fortgeschrittene stadträumliche Fragmentierung auf. Auf diese sollte laut Fayet (1939) vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Mittel durch eine Differenzierung der Abwasserentsorgungsinfrastrukturen in Richtung einer für die Bevölkerung wartungsärmeren und für die Verwaltung kostenintensiveren Ausstattung in den dicht bevölkerten Vierteln der „indigènes“ reagiert werden. Auch hier wurden die Stadtentwicklungsdynamiken nicht in umfassender und konsequenter Weise berücksichtigt. Während der Kolonialzeit wuchsen die von kolonialer Planung nicht berührten Dörfer direkt außerhalb des als städtisch definierten Raumes rasant. Diese waren nicht mit netzgebundenen Infrastruktursystemen ausgestattet und widersprachen so dem Ideal der modernen Stadt. Folglich wurde angestrebt, sie vom als städtisch definierten Raum zu isolieren. Diese Isolation und die Eindämmung des städtischen Bevölkerungszuwachses hätten bei anhaltendem Bevölkerungsdruck eine dauerhafte Verfügbarkeit von Ressourcen zur Kontrolle und Gestaltung des städtischen Raumes bedurft, die keinesfalls gegeben waren. Somit konnte das Ziel der Vereinheitlichung der städtischen Infrastruktursysteme
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4. Die historische Entwicklung Hanois
und der Hygienisierung eines städtischen Raumes, der klar definiert und vom ländlichen Raum abgegrenzt ist, während der Kolonialzeit nicht erreicht werden. Da das dem moderne Infrastrukturideal zugrunde liegende Ziel der gleichartigen Versorgung aller Menschen mit Lebensnotwendigkeiten zur kommunistischen Rhetorik passte, wurde es auch während der Planungsära nicht offen negiert, wenn in dieser Zeit auch Leitbild und Realität der Stadtentwicklung noch weiter auseinander drifteten, als dies schon während der Kolonialzeit der Fall war. Die durch die Verwaltung geplante Stadtentwicklung und der Ausbau technischer Netze kamen bis zum Beginn der 1990er Jahre fast zum Erliegen. Gleichzeitig wurde versucht, eine scharfe Abgrenzung zwischen ländlichen und städtischen Raum durch Zuzugskontrollen aufrecht zu erhalten. Vor allem angesichts der in der planwirtschaftlichen Ära vorrangig selbstorganisierten Reproduktion des Kolonialviertels wird deutlich, dass die durch das moderne Infrastrukturideal transportierte Sicht auf den urbanen Raum als dauerhaft auf der gesamtstädtischen Ebene steuerbar in Hanoi nicht zutrifft. Da das technische System der Abwasserentsorgung im Kolonialviertel dieser Sicht entsprechend unflexibel konstruiert wurde, war es bald aufgrund der Überlastung durch unvorhergesehene Bevölkerungszunahme nicht mehr funktionsfähig. Folglich wurde es durch Interventionen der Haushalte den gewandelten Bedingungen angepasst, was zu einer drastischen Minderung der Reinigungseffizienz lokaler Anlagen führte. Gemeinsamkeiten und Unterschiede aktueller Abwasserentsorgungsplanung zu den hier diskutierten Leitbildern und Idealen der Kolonialzeit und der Planungsära werden in Kapitel 5.4.1 erläutert. Die eingangs vorgestellten theoretischen Erklärungsansätze der heutigen Fraktur der soziotechnischen Infrastruktursysteme in Städten des globalen Südens, die vielfach von einer absichtlichen Segregation der städtischen Bevölkerung mittels technischer Infrastruktursysteme ausgehen, müssen also im Lichte der Fallstudie Hanois geschärft werden. So zeigt die Analyse der historischen Dynamiken der Stadtentwicklung Hanois, dass die These zu widerlegen ist, dass die räumliche Segregation mittels des Ausbaus technischer Infrastruktursysteme vorangetrieben wurde. Innerhalb des als städtisch anerkannten Raumes sollte vielmehr ein einheitliches Entsorgungssystem geschaffen werden, dessen Ausbau sogar so gestaltet werden sollte, dass räumliche Ungleichheiten ausgeglichen werden sollten, um die Funktionalität des gesamten Netzes zu gewährleisten. Dieses Unterfangen ging freilich einher mit dem Ziel, die Vorrangstellung der kolonialen Elite mittels Diskriminierung der lokalen Bevölkerungsgruppen etwa in Bezug auf das Einkommen zu sichern. Daher trifft also vielmehr eine u. a. von Li (2007) und Migdal (2007) vertretene These zu, nämlich dass die koloniale Regierung keinesfalls eindeutige Ziele hatte, sondern vielmehr einander widerstreitende Politiken verfolgte. Diese Analyse trifft jedoch nicht einzig auf die Kolonialzeit zu, sondern ebenso auf die Zeit der Planwirtschaft, die sogar in noch stärkerem Maße durch ein Auseinanderdriften von Vorstellung staatlicher Steuerungsfähigkeit und der Realität staatlichen Einflusses geprägt war.
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4.5. Zwischenfazit
4.5.2. Die Identifikation charakteristischer Raumtypen Die räumliche Entwicklung Hanois ist seit jeher durch Diskontinuitäten geprägt. Wie u. a. Quang und Kammeier (2002) darstellten, schlug sich der Wandel der politischen Ökonomie durch die daraus erwachsenden unterschiedlichen Mechanismen der Produktion des urbanen Raumes in der gebauten Form Hanois nieder. Die aus der Diskontinuität der räumlichen Entwicklung Hanois entstehenden Phasen lassen bereits eine teilräumliche Differenzierung des Stadtraumes von Hanoi zu, wie etwa von Waibel (2003) illustriert (vgl. Abb. 13). Im Hinblick auf die Identifikation von Räumen mit unterschiedlichen Praktiken der (Re-)Produktion des Stadtraumes von Hanoi und deren Auswirkungen auf die urbane Form und die Abwasserentsorgungsinfrastrukturen ist diese Differenzierung allein jedoch nicht hinreichend. So lassen sich neben den Brüchen auch Kontinuitäten in der Entwicklung Hanois erkennen, die ebenfalls die städtische Raumstruktur prägen. Wie in der historischen Analyse gezeigt, ist das Ziel des Aufbaus eines rationalen, einheitlichen und kontrollierbaren urbanen Raumes, der von seiner ländlichen Umgebung scharf abgegrenzt ist, persistent. Zudem liegt Kontinuität in den Problemen der Implementierung dieses durch die aufeinander folgenden Regierungen gesetzten und propagierten Ziels. Die Entwicklung Hanois ging tatsächlich immer nur zum Teil durch gesamtstädtisch geplante Stadtentwicklung vor sich und zum Teil stets durch die vielfältigen Prozesse der Verdichtung und Verstädterung ehemaliger Dörfer, die mit der Abb. 44: Die Phasen der Entwicklung Hanois: I Zitadelle II 36-Gassen Gebiet III Verstädtertes Gebiet während der französischen Kolonialherrschaft IV Verstädtertes Gebiet während der Planwirtschaft V Verstädtertes Gebiet ab Đổi Mới bis 2003 VI Geplante Ausdehnung der Stadtfläche bis 2010
Westsee V
I IV
II III
(nach Waibel 2003, beruhend auf dem Masterplan bis 2010 – der aktuelle Masterplan sieht eine weitaus größere Ausdehnung der Stadtfläche vor)
VI
1 km
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4. Die historische Entwicklung Hanois
Aufnahme in die administrativ als Stadt definierten Raum einen Wandel in der baulichen Form und der lokalen Entscheidungsprozesse durchlaufen (vgl. Papin 1997; Vinh 2006). Die fließenden Übergänge zwischen Stadt und Land an den Rändern der Stadt Hanois und die unvollständige Umsetzung des Paradigmas der politischen Steuerung prägten stets das Verhältnis zwischen urbaner und ländlicher Gesellschaft und staatlichen Akteuren. Auf der lokalen Ebene der Bezirke und Stadtteile bestehen die von Koh (2006:14; vgl. Kap. 3.5) analysierten Vermittlungsräume, die es privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren ermöglichen, den Raum außerhalb der eigentlich restriktiven Regelungen zu gestalten, die auf der Ebene des Nationalstaats oder der Stadtverwaltung erlassen werden. Der durch die Vermittlung lokaler Verwaltungen entstehende Spielraum ist durchaus als ambivalent zu bewerten: in der Stadtentwicklung und der Landvergabe kann er zur Bildung von ‚Wachstumskoalitionen’ für die Durchsetzung von dem öffentlichen Wohl entgegenstehenden Partikularinteressen genutzt werden (vgl. Leaf 1999:301). Er wirkt sich also in vielfältiger Weise auf die Gestalt des städtischen Raumes aus. Mit Blick auf die Entwicklung urbaner Siedlungen über die historischen Phasen der Stadtwicklung Hanois hinweg sind auf dieser Basis Siedlungsentwicklungsprozesse zu erkennen, die im Hinblick auf einige Merkmale konstant blieben. Die vielfältigen Prozesse der (Re-)Produktion des urbanen Raumes von Hanoi lassen sich zwei idealtypischen Prozessen zuordnen, und zwar im Hinblick auf die Ausprägungen der folgenden Variablen: Die vorrangig aktive politische Regelungsebene der Siedlungsentwicklung, die Rolle der formellen Planung, die wichtigsten Akteure und der Umgang mit Bodenbesitzverhältnissen in der Entwicklung der Siedlungen. Diese beiden idealtypischen Prozesse lassen sich über die historischen Phasen hinweg erkennen, stellen also eine Kontinuität dar. Damit sei jedoch nicht impliziert, dass die Wandlungen in der politischen Ökonomie Vietnams keinen Einfluss auf die Stadtentwicklung hatten, der sich in spezifischen Räumen niederschlägt. Vielmehr bieten sie eine zusätzliche Betrachtungsfolie, die ein weiteres Unterscheidungskriterium in Bezug auf die räumlichen Strukturen Hanois sichtbar macht. Somit dient sie als ein Ausgangspunkt für die im nächsten Kapitel folgende Analyse der hier identifizierten charakteristischen Räume. Zunächst ist der urbane Raum Hanois über die historischen Phasen hinweg von einem idealtypischen Prozess der Siedlungsentwicklung geprägt, der weitgehend außerhalb des formellen Planungsapparates vor sich geht. Der Prozess der Siedlungsentwicklung ist als inkrementell zu bezeichnen, da ihm kein übergreifender Plan zugrunde liegt, sondern die bauliche Verdichtung ehemaliger Freiflächen oder ehemals ländlich geprägter Dörfer aufgrund von Verhandlungen zwischen kleinen Unternehmen, lokalen Haushalten und Verwaltungen auf der Ebene der Stadtteile erfolgt. Der Landerwerb findet vielfach außerhalb formeller Eigentumsverhältnisse statt und beim (Aus-)bau der Gebäude wird in der Regel auf eine formelle Baugenehmigung verzichtet – es gilt Gewohnheitsrecht. Die wichtigsten Akteure sind die Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlungen sowie die Verwaltungen auf der Ebene der Stadtteile und der Haushaltsgruppen (tổ dân phố), die als Bindeglied zwischen Behörden und Haushalten agieren. Aufgrund persönlicher Beziehungen
4.5. Zwischenfazit
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handeln lokale Verwaltungsangestellte außerhalb der von Seiten des Nationalstaates oder der städtischen Verwaltung vorgegebenen Regeln (vgl. Kap. 3.5). Die entscheidende Regelungsebene ist entsprechend unterhalb der gesamtstädtischen, nämlich auf Ebene der Bezirke oder Stadtteile anzusiedeln. Dieser Prozess, der als Emergenz einer Siedlungsstruktur aus einer Reihe von Handlungen, die nicht unbedingt im Vorwege abgestimmt sind, zu charakterisieren ist, ist ein „inkrementeller Prozess“. Da er auch während der Planungsära vonstattenging, ist anzumerken, dass die Analyse von Quang und Kammeier, wonach es während der Planwirtschaft allein die dem formellen Planungsprozess folgende Produktion des urbanen Raumes in Hanoi gäbe, nicht ganz zutrifft – wenn diese auch dominant gewesen ist (s. Quang/Kammeier 2002:378). Ergänzt werden muss, dass auch während der Ära der Planwirtschaft peri-urbane und urbane Dörfer im inkrementellen Prozess verdichtet wurden. Zudem findet sich in jeder historischen Phase Hanois ein Siedlungsentwicklungsprozess, der durch die jeweiligen Regierungsapparate aktiv gestaltet wird. Die Planung in diesem Prozess zeichnet sich durch eine zumindest vordergründige Anwendung des formellen Planungsinstrumentariums aus, dem ein Verständnis von Planung als linearer und rationaler Prozess zugrunde liegt. Die vorrangig aktive Regelungsebene ist die der städtischen Administration, dieser Stadtentwicklungsprozess ist also Subjekt der gesamtstädtischen Planung. Die im Vordergrund stehenden Akteure wandelten sich im Laufe der Zeit– erst seit Đổi Mới etwa finden sich gewinnorientiert arbeitende, z. T. privatwirtschaftlich organisierte Investitionsunternehmen als wichtige Akteure in diesem idealtypischen Prozess der Stadtentwicklung. Über die unterschiedlichen Phasen der Stadtentwicklung hinweg, sind gleichzeitig auch Gemeinsamkeiten der Akteure festzustellen. So ist ihr Handlungsraum die gesamte Stadt und sie planen oder bauen nicht für den Eigenbedarf. Die auf diese Weise errichteten Gebiete folgen in ihrer baulichen Struktur den jeweils vorherrschenden räumlichen Gestaltungsvorstellungen. Sie spiegeln das Sendungsbewusstsein der jeweiligen politischen Regime wider. Während der Feudalherrschaft, der Kolonialzeit, der Zeit der Planwirtschaft und auch heute wurde der Städtebau als Instrument der Darstellung der Macht der jeweiligen politischen Systeme gesehen, die ihre Überlegenheit gegenüber dem Vorgänger durch einen teilweise radikalen Umbau der Stadtstruktur demonstrierten. Entsprechend ist der Bau dieser geplanten Siedlungen eine Priorität für Behörden, die die Bereitstellung und Freimachung von Boden ggf. durch Enteignungen förderten und bzw. fördern. In der heutigen Phase der Entwicklung Hanois gehen Verwaltungsangestellte ‚Wachstumskoalitionen’ mit gewinnorientiert arbeitenden Investitionsunternehmen ein. Da dieser Prozess durch die Anwendung des Instrumentariums der Masterplanung auf der Ebene der Stadtverwaltung geleitet ist, wird er hier als geplanter Prozess der Siedlungsentwicklung bezeichnet. Dieser Begriff betont die Siedlungsentwicklung aufgrund einer vorherig vorgenommenen Analyse von übergreifenden Daten im Zuge des formellen Planungsprozesses, aufgrund deren Auswertung dann die Siedlungsentwicklungsplanung als ein Teil der gesamtstädtischen Raumplanung vorgenommen wird. Anders als die Begriffe „linearer“ oder „rationaler“ Prozesses lässt dieser Begriff jedoch offen, inwieweit die Siedlungsplanung und ihre Umsetzung
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4. Die historische Entwicklung Hanois
tatsächlich rein zweckrational erfolgen oder ob noch weitere Beweggründe, wie etwa partikulare Interessen von Akteuren, den Prozess der Planung und der Siedlungsentwicklung beeinflussen. Dieser Aspekt ist deshalb zu betonen, da nicht nur der inkrementelle, sondern auch der geplante Prozess der Siedlungsentwicklung von informellen Verhandlungsspielräumen geprägt ist. Diese Verhandlungsspielräume entsprechen nicht der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, wie sie dem Ideal der politischen Steuerung zufolge vorgesehen ist (vgl. Kap. 3.5). Die Vorstellung eines linearen, rationalen Planungsprozesses, die den im geplanten Prozess angewendeten Instrumenten zugrunde liegt, spiegelt nicht die Realität der Stadtentwicklung Hanois wider. Auch im geplanten Prozess finden Verhandlungen statt – heute v. a. zwischen Investitionsunternehmen und den für die Stadtplanung und das Landmanagement zuständigen Verwaltungseinheiten, die nicht Teil des formellen Planungs- und Bauprozesses sind. So setzen sich z. T. partikulare Interessen durch und prägen die räumliche Gestalt Hanois (vgl. Kap. 4.4). Keiner der beiden Prozesse der Siedlungsentwicklung lässt sich eindeutig einer der Kategorien formell/informell zuzuordnen (vgl. Pédelahore 2010). Vielmehr sind beide von Informalität geprägt. Dies untermauert die Validität der These von AlSayyad und Roy (2004), dass Informalität als „organizing logic“ der Stadtentwicklung zu konzeptualisieren ist und alle Prozesse der (Re-)Produktion des städtischen Raumes durchdringt – auch in Hanoi. Von Bedeutung für die Charakterisierung von Raumtypen in Hanoi ist, dass beide Prozesse nicht isoliert voneinander stattfinden, sondern v. a. in den seit längerer Zeit urbanisierten Räumen vielfältige Überlagerungen dieser Prozesse auftreten. Das 36-Gassen Gebiet entstand in vorkolonialen Zeiten aus dem Zusammenschluss mehrerer Dörfer, die in einem inkrementellen Prozess gewachsen waren. In der Folge wurde es nachholend Teil der gesamtstädtischen Planung. Im gesamten Stadtkern und der Stadterweiterung finden sich heute auch in den ursprünglich im geplanten Prozess errichteten Räumen Tendenzen zur inkrementelle VerAbb. 45: Die Struktur des Entwässerungsnetzes bestehend und geplant, in dem sich die historischen Phasen der Stadtentwicklung abbilden
1 km Westsee Roter Fluss
Tô Lịch
Der Stadtkern direkt westlich des Roten Flusses weist das engmaschige, während der Kolonialzeit errichtete Netz auf. Die Stadterweiterung – zwischen innerer Stadt und Tô Lịch hat dagegen ein weitmaschigeres Netz Das hier dargestellte Netz von Stadtrand und suburbanen Räumen besteht heute nur zum Teil und ist noch in der Planung.
4.5. Zwischenfazit
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dichtungen der urbanen Struktur, die für das System der Abwasserentsorgung von Bedeutung sind. Die Unterscheidung von Siedlungsräumen aufgrund der hier erläuterten Prozesse erlaubt zusammen mit den die historischen Umbrüche widerspiegelnden Phasen der Stadtentwicklung eine Differenzierung von charakteristischen Räumen. Abbildung 14 zeigt, dass sich im Entwässerungsnetz heute drei historische Phasen der Stadtentwicklung abbilden: Das während der Kolonialzeit errichtete Netz des Stadtkerns, die vor allem während der Planungsära urbanisierte Stadterweiterung und das im Aufbauprozess befindliche Netz am Stadtrand und im suburbanen Raum. Innerhalb dieser Räume sind jeweils Gebiete zu finden, die einerseits den inkrementellen und andererseits den geplanten Siedlungsentwicklungsprozess durchlaufen haben. Aufgrund dieser beiden Faktoren, der Stadtentwicklungsphasen, die sich in der heutigen Stadtstruktur und der Struktur des Abwasserentsorgungsnetzes manifestieren und der Siedlungsentwicklungsprozesse werden also hier charakteristische Räume differenziert. Dieser Logik folgend werden die im inkrementellen Prozess verstädterten Siedlungen in der Stadterweiterung, nämlich die urbanen Dörfer und die Verdichtung zwischen Tô Lịch und Stadtkern, zu einem charakteristischen Raum zusammengefasst. Die gesamte Stadterweiterung war zur Zeit der Planwirtschaft geprägt durch vereinzelt angelegte, im geplanten Prozess entwickelte Wohn- und Industriegebiete, umgeben von Dörfern, offener Landschaft und Wasserflächen. Im Laufe der 1990er Jahre fand eine rasante Verdichtung dieses Raumes statt, so dass die Dörfer in das Siedlungsgefüge der Stadt integriert wurden. Der Analyse von Pédelahore (1993:49f) folgend wird hier zudem der gesamte Stadtraum, der während der Kolonialzeit mit einem engmaschigen Netz ausgestattet wurde, als Stadtkern zu einem charakteristischen Raumtyp zusammengefasst. Die vor allem zum Beginn der Kolonialzeit hervorstechenden Unterschiede zwischen 36-Gassen Gebiet und Kolonialviertel wurden schon während der Kolonialzeit und dann verstärkt seit der Planungsära durch in beiden Räumen stattfindende geplante und inkrementelle Ausbauprozesse angeglichen. Folglich sind die fünf charakteristischen Räume zu unterscheiden: • • • • •
Stadtkern; Sozialistische Wohnsiedlungen; New Urban Areas; Urbane Dörfer und inkrementelle Verdichtung; Peri-urbane Dörfer (vgl. Abb. 23 im Farbteil).
Welche Konstellationen aus urbanen baulich-räumlichen Strukturen und soziotechnischen Abwasserentsorgungsinfrastrukturen aus diesen beiden sich im Zeitverlauf in vielfältiger Weise überlagernden idealtypischen Prozessen hervorgegangen sind, wird in Kapitel 6 analysiert. Im folgenden Kapitel werden zunächst das aktuell bestehende soziotechnische System der Abwasserentsorgung Hanois und seine geplante Gestaltung erläutert.
5. DIE ABWASSERENTSORGUNG HANOIS IM KONTEXT AKTUELLER ABWASSERPOLITIKEN VIETNAMS In diesem Kapitel wird zunächst die Ausrichtung aktueller Politiken im Abwassersektor Vietnams erläutert. Darauf aufbauend wird im zweiten Unterkapitel das Abwasserentsorgungssystem Hanois im Hinblick auf seine soziotechnische Ausgestaltung erläutert. Diese einführende Darstellung erfolgt vorbereitend auf die Analyse der räumlichen Differenziertheit des Abwasserentsorgungssystems und lässt bereits Probleme und Ansatzpunkte zur Optimierung erkennen. Im dritten Unterkapitel werden aktuelle Pläne und Strategien zum Ausbau dieses Systems in Hanoi im Hinblick auf den Umgang mit den zuvor ermittelten Problemen analysiert. 5.1. DIE AUSRICHTUNG AKTUELLER ABWASSERPOLITIKEN VIETNAMS Die neuesten rechtlich bindenden Dokumente der Regierung Vietnams hinsichtlich städtischer Abwasserinfrastruktur sind die „Orientierung für die Entwicklung der Stadtentwässerung in städtischen Zentren Vietnams und Industriezonen bis 2025 und Vision bis 2050“, die 2009 vom Ministerpräsidenten bewilligt wurde (1930QDTT) und der Erlass 88/2007ND-CP über „Entwässerung und Abwasserentsorgung in Städten und Industriezonen“ der Regierung Vietnams. Im Erlass werden u. a. Empfehlungen der Water and Sanitation Strategy der Weltbank von 2006 umgesetzt und konkretisiert (Weltbank 2006), während die Orientierung übergeordnete strategische und quantitative Ziele formuliert. Konkret wird in der Orientierung angestrebt, dass bis 2025 100% der Städte der Kategorie IV und größer über ein Netz zur Regenwasserableitung verfügen sollen und dass 70–80% der häuslichen Abwässer gereinigt werden sollen. In Übereinstimmung mit der Ausrichtung der politischen Ökonomie Vietnams seit Đổi Mới werden im Erlass 88/2007 Regeln und Ziele erlassen, das Management der Stadtentwässerung durch die Regelung und Trennung von Eigentum von Abwasserinfrastrukturen und ihrer Regulierung ökonomisch nachhaltig zu gestalten und teilweise Kostendeckung in der Abwasserentsorgung zu erreichen. Dies wird in der Orientierung für die Entwicklung der Stadtentwässerung gestützt, die Abwasserentsorgungssysteme als öffentliches Gut begreift. Organisationen und Personen aller ökonomischen Sektoren werden dabei ermutigt, Investitionen zu tätigen und Handel zu treiben – ohne dass die Anreize für Investitionen in diesen Sektor näher beschrieben werden. Hinsichtlich der Regelung von Zuständigkeiten und Eigentums- und Besitzverhältnissen ist der Erlass ein Meilenstein in der vietnamesischen Gesetzgebung.
5.1. Abwasserpolitiken Vietnams
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5.1.1. Zuständigkeiten in der Abwasserentsorgung Im Erlass 88/2007 werden die Zuständigkeiten im Abwassersektor auf der Regierungsebene geregelt. So ist die Regierung zuständig für die Erstellung nationaler Strategien. Das Bauministerium ist zuständig für die Erstellung von Plänen zur Entwicklung des nationalen Abwassersystems. Darüber hinaus legt es technische Normen und Regularien fest und leitet und kontrolliert alle Aktivitäten im Sektor. Das 2002 ins Leben gerufene MONRE ist als Umweltministerium die Instanz für Qualitätskontrolle von Abwässern und Gewässern. Das Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (Ministry of Agriculture and Rural Development – MARD) ist für die Bewässerungsinfrastruktur und für die Vergabe von Einleitungserlaubnissen von Abwässern in Bewässerungskanäle zuständig und wirkt daher vorrangig im ländlichen oder peri-urbanen Raum. Dem MoIP und dem Finanzministerium (Ministry of Finance – MOF) kommt eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Mobilisierung finanzieller Ressourcen und der Zuordnung öffentlicher Gelder zu – sie sollen sowohl die für den Abwassersektor bereit gestellten staatlichen Gelder kontrollieren, als auch Mechanismen für private Investitionen in den Sektor erarbeiten und zusammen mit dem Bauministerium die Sammlung und Verwendung der Abwassertarife leiten und kontrollieren. 1990 fand eine Dezentralisierung der Zuständigkeit in der Tarifgestaltung im Abwassersektor von der Regierung auf die Volkskomitees der Provinzen statt. Diese können die Gebührenhöhe innerhalb eines von der Regierung vorgegebenen Rahmens festlegen (De Miras et al. 2010:152). Sie können Aufgaben und Verantwortlichkeiten an professionelle Unternehmen oder die entsprechenden Volkskomitees auf den niedrigeren Ebenen delegieren. Dabei sind sie der dem Bauministerium untergeordneten Fachbehörde, dem Bauamt (Department of Construction – DOC) zugeordnet (vgl. Abb. 24 im Farbteil). Dies ist eine Neuerung, denn diese Aufgabe kam bis 2008 einer anderen Fachbehörde, dem Department of Public Works and Transport zu. Bei den genannten professionellen Unternehmen handelt es sich um die Ver- und Entsorgungsunternehmen, die formell für die Erbringung von technischen Infrastrukturleistungen zuständig sind. Sie befinden sich momentan in einem Prozess der Kommerzialisierung, der in den verschiedenen Sektoren unterschiedlich weit voran geschritten ist. Zudem wird eine Liberalisierung der Infrastruktursektoren angestrebt. Im Abwassersektor ist allerdings weder eine weit reichende Kommerzialisierung noch eine Liberalisierung durch einen Markteintritt weiterer formeller Unternehmen zu erkennen (Interview Gottfried Rölcke 2009). Auf deren Organisationsstruktur und Aufgabenbereich wird unten (Kap. 4.2.3) in Bezug auf Hanoi näher eingegangen. Hinsichtlich der formellen Kapazitäten der Volkskomitees auf den Verwaltungsebenen unterhalb der Provinzen in der Regulierung trägt der Erlass 88/2007 zu einer Verschiebung der Zuständigkeiten nach oben, also zu einer Rezentralisierung der Verantwortlichkeiten in urbanen Räumen bei. Die Kompetenzen der untersten Verwaltungsebene im Abwassersektor wurden stark eingeschränkt – sie sollen über keine eigenen Finanzmittel mehr verfügen und übernehmen laut dem Erlass 88/2007 lediglich Aufgaben, die durch Verwaltungsorgane höherer Ebenen an sie delegiert wurden.
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5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
Diese Vorgaben der Dezentralisierung von der Regierungsebene auf der einen und der Rezentralisierung von den Ebenen des politisch-administrativen Systems unterhalb der Provinzen auf der anderen weisen zusammen auf eine Konzentration der Verantwortlichkeiten und Kompetenzen im Abwassersektor auf der Ebene der Provinzen hin. Hiermit einhergehend soll eine Professionalisierung der Erbringung von Leistungen im städtischen Abwassersektor erreicht werden. Eigentumsverhältnisse von Netz und Anlagen – Formalisierung Während die Eigentumsverhältnisse der Abwasserinfrastrukturen vor diesem Erlass ungeregelt waren und sowohl die städtischen Infrastrukturunternehmen, die Volkskomitees als auch die Regierung den Besitz der Anlagen für sich in Anspruch nehmen konnten (vgl. Weltbank 2006), legt der Erlass 88/2007 über die Entwässerung von Städten mögliche Eigentumsverhältnisse erstmals fest (Art. 21 Abs. 1 88/2007). Dabei sind die Volkskomitees der Provinzen die Eigentümer der technischen Infrastrukturen und können diese in den Besitz privater oder öffentlicher Teilhaber übergeben, in Abhängigkeit von deren Investitionskapital. Erlass 88/2007 sieht verschiedene Betreibermodelle für Investition, Bau und Management von Infrastrukturprojekten vor. Im Rahmen von staatlich finanzierten Bauprojekten sind die Volkskomitees die Investoren und übergeben das Projektmanagement an das für die Stadtentwässerung zuständige städtische Unternehmen oder aber an deren Vertretung. Dies ist das bei Bauprojekten einzurichtende Project Management Unit (PMU) im Auftrag der Investitionsunternehmen. Bei privat finanzierten Bauprojekten besitzen, managen, betreiben und finanzieren private Entwickler Abwasserentsorgungsinfrastrukturen – bis sie nach Maßgabe des Gesetzes über Build-OperateTransfer Verträge an das Volkskomitee übergeben werden (Art. 22 88/2007). Diese Vorgabe ist gerade für die durch Investitionsunternehmen gestaltete Stadtentwicklung von einschneidender Bedeutung, da nämlich Projektentwicklungsunternehmen von Neubaugebieten laut dem Erlass auch in die Entwicklung des Abwassernetzes investieren müssen. Ein wirtschaftliches Management der Abwasserinfrastrukturen soll – nach der Übergabe vom Investor – durch den Abschluss eines Vertrages zwischen dem Volkskomitee als Eigentümer und einem städtischen oder privaten Unternehmen als Betreiber sichergestellt werden, in dem die Kosten für Betrieb und Instandhaltung und die entsprechenden Leistungen festgehalten werden. Dies ist eine entscheidende Neuerung in der Stadtentwässerung Vietnams, die bisher weder klare Eigentumsverhältnisse, noch im Vorwege vertraglich geregelte Leistungen der Abwasserentsorgungsunternehmen kannte (Interview Gottfried Rölcke 2009). 5.1.2. Ökonomie der Abwasserentsorgung Die Neuausrichtung der politischen Ökonomie Vietnams konkretisierend, sehen Strategie und Erlass dem Verursacherprinzip entsprechend vor, dass die Kosten für städtische Abwasserinfrastrukturen vergesellschaftlicht werden. Der Erlass 88/2007 legt erstmals einen Rahmen für Abwassertarife für die Einleitung von Abwässern in
5.1. Abwasserpolitiken Vietnams
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das städtische Abwassernetz fest (Art. 48 88/2007). Dies ist ein bedeutender Einschnitt im sozialistisch geprägten Vietnam, in dem vor Đổi Mới die Kosten von öffentlichen Infrastrukturen nicht mit den von der Bevölkerung zu zahlenden Gebühren oder Preisen in Verbindung gebracht wurden und in dem davon ausgegangen wurde, dass staatliche Institutionen die öffentliche Daseinsvorsorge bereit zu stellen und zu subventionieren haben. Bevor der Erlass 88/2007 in Kraft getreten ist, hatte allein der Erlass über Umweltschutzgebühren Bestand (67/2003ND-CP), der das ungereinigte Einleiten von Abwässern in die Umwelt mit einer Gebühr von höchstens 10% der Wasserkosten belegte. Diese Gebühr kann jedoch die Kosten für städtische Abwasserentsorgungsinfrastrukturen, die zumeist höher sind als die Kosten für die Wasserversorgung, bei weitem nicht decken (vgl. Weltbank 2006). Der Erlass 88/2007 vertritt hingegen das Prinzip der Kostendeckung von Infrastrukturen durch Gebühren, schränkt dieses jedoch zunächst auf die Deckung von Betriebs- und Instandhaltungskosten ein, sowie auf einen Teil der Investitionskosten, die durch kommunale Finanzen ergänzt werden können. Dies ist ein Unterschied zu den entsprechenden Zielsetzungen in der Wasserversorgung, die eine volle Kostendeckung vorsehen. Zudem unterscheidet sich diese Vorgabe von den Ausführungen Erlass im 78/2008. Dieser ist auf die Anziehung von Investitionskapital ausgerichtet und sichert den Unternehmen, die in Infrastrukturprojekte investieren, zu, dass die Preise ihrer Produkte oder die Gebühren für angebotene Leistungen so gestaltet werden, dass ihre Ausgaben vollständig erstattet werden (Art. 27 78/2007). Diese Unklarheit in der Regulierung berührt einen zentralen Aspekt der Abwasserentsorgungsstrategie Vietnams. Zunächst erfordert die marktwirtschaftliche Ausrichtung, dass Kosten durch Gebühren gedeckt werden können – sonst werden kaum marktwirtschaftlich arbeitende Investitionsunternehmen aus dem öffentlichen oder privaten Sektor für die Finanzierung von Projekten zu gewinnen sein. Im auf den Abwassersektor ausgerichteten Erlass 88/2007 bleibt dieser Aspekt jedoch offen und der Erlass regelt auch nicht, auf welche Weise die Abwasserentsorgungsinfrastrukturen finanziert werden sollen, wenn nicht durch Gebühren. Wenn dieser Rückzug auf eine teilweise Kostendeckung durch Gebühren auch der Strategie der internationalen Entwicklungsbanken entspricht, so müsste doch eine Aussage über die Quelle der für die Abwasserentsorgungsinfrastrukturen notwendigen Finanzmittel getroffen werden (vgl. Interview Gottfried Rölcke/Frank Pogade/Dietmar Wenz 2011). Die Abwassergebühren orientieren sich wie die Abwasserabgabe an den Wassergebühren. Hier wird jedoch die untere Grenze definiert – nämlich 10% der Wassergebühren (Art. 53 88/2007). Die genaue Gebührenhöhe wird in den jeweiligen Provinzen festgelegt, indem die Volkskomitees als Eigentümer den zuständigen Fachabteilungen einen Vorschlag unterbreiten, der dann wiederum von den Volkskomitees nach Absprache mit den Volksräten der Provinzen bewilligt wird (Art. 55).
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5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
5.1.3. Vorgaben zur technischen Ausstattung Im Bereich der technischen Ausstattung folgen Erlass und Orientierung dem Umweltschutzgesetz von 2005, indem sie für Wohnsiedlungen vorgeben, dass neue Stadtgebiete mit einer Trennkanalisation von kommunalen Abwässern und Regenwasser auszustatten sind. In bestehenden Stadträumen dagegen können diese beiden Ströme in bestehenden Kanälen abgeleitet werden. Dies bedeutet, dass sie entweder getrennt, kombiniert oder halb-getrennt, d. h. der Überlauf eines Teils der durch Niederschläge verdünnten Abwasserfraktion in das System der Oberflächenentwässerung bei Stoßbelastung, abgeleitet werden. Hinsichtlich der technischen Struktur der Abwasserentsorgung weist dieser Erlass darauf hin, dass Vietnam in seiner Abwasserpolitik an der Zentralisierung des Systems festhält. Konkret allerdings ist in neuen Stadtgebieten allein die Installation eines Trennsystems von Regenwasser und kommunalen Abwässern vorgegeben, während die Art der Abwasserbehandlung nicht festgeschrieben wird. So würde die Installation eines Trennsystems innerhalb eines neuen Stadtgebietes, in dem kommunale Abwässer und Regenwasser letztendlich unbehandelt in natürliche Gewässer geleitet werden, den Vorgaben dieses Erlasses nicht entgegenstehen. Auch hinsichtlich technischer und baulicher Standards und der Wartung dieser Septic Tanks sowie des Managements der sich dort ansammelnden Schlämme entwickelt sich die Rechtsetzung weiter – der Erlass 88/2007 aber zeigt, dass in Zukunft ein netzgebundenes System mit zentralen oder semizentralen Anlagen ausgebaut werden soll, auch wenn in der Orientierung über die Entwicklung der Stadtentwässerung gleichzeitig betont wird, dass Abwasserbehandlungstechnologien aufgrund der natürlichen Bedingungen, Größe und Charakteristika der urbanen Zentren sowie der ökonomischen Rahmenbedingungen ausgewählt werden sollen. Konkret wird für kleine Städte und Handwerksdörfer, die in der Umgebung Hanois verbreitet sind, empfohlen, kleine Anlagen mit einfachen Technologien und geringen Betriebskosten zu installieren. 5.1.4. Diskussion: Umsetzbarkeit aktueller Politiken im Abwassersektor Die oben dargestellten regulativen Neuerungen der urbanen Abwasserentsorgungsinfrastruktur Vietnams weisen in Richtung einer Ausweitung staatlicher Regulierung bei einer gleichzeitigen wirtschaftlichen Öffnung für private Investitionen und einer Konzentration der Verantwortlichkeiten auf der Ebene der Provinzen. Auf diese Weise soll die Ausweitung technischer Netze und zentraler Anlagen zur Abwasserreinigung in Vietnams Städten dem modernen Infrastrukturideal entsprechend ermöglicht werden. Dieses Ziel eröffnet den Geberländern der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ein neues potentiell lukratives Geschäftsfeld – dieses bedarf eines eindeutigen regulativen Rahmens. Dieser soll mit dem Erlass 88/2007, der in weiten Teilen die Empfehlungen der Water Supply and Sanitation Strategy der Weltbank umsetzt und vom Bauministerium – unterstützt durch die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) – erarbeitet wurde,
5.2. Abwasserentsorgung Hanois
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geschaffen werden. Im Lichte der oben (vgl. Kap. 3.5; Kap. 4.5) erläuterten Fragmentierung der Verwaltungsstrukturen und der damit zusammenhängenden Abweichung zwischen Auffassung des Staates als politisch steuernde Einheit und des tatsächlichen Einflusses staatlicher Akteure ist jedoch fraglich, inwieweit die vorgesehenen Neuerungen umsetzbar sind. Die Frage nach der Umsetzbarkeit stellt sich in Bezug auf konkrete Aspekte. Hinsichtlich der räumlich differenzierten Ausprägungen von Techniken der Abwasserentsorgung Hanois ist zu prüfen, wie staatliche und gesellschaftliche Akteure im Zuge von lokalen Aushandlungsprozessen über die formelle Regulierung hinaus das System gestalten. Diese wirken sich auch auf die Umsetzbarkeit des Vorhabens aus, die Zuständigkeiten bei den Volkskomitees der Provinzen zu konzentrieren. Es ist zu untersuchen, inwiefern eine solche Bündelung bei den aktuell in Hanoi vorzufindenden Akteurskonstellationen ein pragmatischer Weg ist und inwiefern er das Potenzial hat, zu einer Verbesserung des Systems der Abwasserentsorgung beizutragen. Im Hinblick auf die Finanzierung des vorgesehenen Netzausbaus vertritt der Erlass 88 zwar grundsätzlich die Ausrichtung auf eine Kostendeckung durch Gebühren und ist damit zunächst konform mit der Ausrichtung auf gewinnorientiert arbeitende Investorinnen und Investoren als zentrale Akteure in der Stadtentwicklung. Die konkrete Ausformulierung des Ziels der Kostendeckung im Erlass 88 weist jedoch bereits auf die potentielle schwierige Umsetzung dieses Ziels in den Abwasserentsorgungssystemen der Städte Vietnams hin. Die oben erläuterte Zwischenposition des Erlasses, dass nämlich nicht alle Kosten, sondern nur die Betriebs- und Instandhaltungskosten, nicht jedoch die Investitionskosten, durch Gebühren zu decken seien, klärt die Frage nach der Finanzierung des geplanten Netzausbaus nicht. Es besteht die Gefahr, dass sie vielmehr zu einer weiteren Fragmentierung und Widersprüchlichkeit gesetzlicher Regelungen beiträgt, da sie den Vorgaben des Erlasses über Investitionsprojekte (78/2007/ND-CP) entgegenläuft. Die hier vorgestellten gesetzlichen Vorgaben lassen die strategische Ausrichtung der Regierungsführung Vietnams erkennen. Wie oben erläutert, war die Regierung Vietnams bisher nicht in der Lage, die stattfindenden Prozesse der Stadtentwicklung dem Ideal der politischen Steuerung entsprechend tatsächlich allein zu steuern. Es bleibt also zu untersuchen, in welcher Weise die eben erläuterten gesetzlichen Vorgaben dem urbanen Abwasserentsorgungssystem Hanois entsprechen. 5.2. DIE ABWASSERENTSORGUNG HANOIS ZWISCHEN ZENTRALISIERUNG UND DEZENTRALISIERUNG Die Betrachtung von Technikstruktur und Leistungserbringung in der zentralen Abwasserentsorgung sowie in der Vorbehandlung von Haushaltsabwässern durch Septic Tanks zeigt, dass das aktuelle System weder komplett dezentral noch zentral ist, sondern sowohl dezentrale als auch zentrale Elemente hat.
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5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
5.2.1. Die Technikstruktur: dezentrale Vorbehandlung und zentrale Entsorgung Die Abwasserentsorgung Hanois wird maßgeblich durch das ebene Gelände und die rasante Stadtentwicklung bestimmt. Um mit der Stadtentwicklung Schritt zu halten, planen Stadtverwaltung und Nationalversammlung den Ausbau zentraler Anlagen. Gleichzeitig fließt bis heute ein Großteil der häuslichen Abwässer allein durch dezentrale Septic Tanks und wird so nur unzureichend gereinigt. Die Dynamik des Wasserflusses bei rasanter Verstädterung und geringem Gefälle Der Wasserhaushalt Hanois bildet die Grundlage für den Ausbau des Systems der Stadtentwässerung und im Falle des Ausbaus einer wasserbasierten Ableitung der Abwässer auch die Grundlage für das Einzugsgebiet der Abwasserreinigungsanlagen. Der Wasserhaushalt der Einzugsgebiete des Tô Lịch und Nhuệ Flusses südwestlich des Roten Flusses ist geprägt durch eine ebene Topographie und hohe Niederschlagsraten. Das ebene und niedrig gelegene Gelände Hanois ist zudem charakterisiert durch einen hohen Grundwasserstand. Es fällt vom Stadtkern direkt an der Biegung des Flusses nach Süden hin noch von ca. 7 m üNN auf rund 1,5 bis 4 m üNN ab (SRV/HPC 2005). Das subtropische Klima ist durch hohe Niederschlagsraten von bis zu 1.600 mm pro Jahr und einer ungleichen Verteilung der Regenereignisse geprägt – 84% des Regens fällt während der Regenzeit von Mai bis Oktober, wenn monatliche Niederschläge von bis zu 320 mm nicht ungewöhnlich sind. Der Regen trägt zur Neubildung des Grundwassers bei, wenn auch in abnehmenden Maße. Neben der hohen jährlichen Verdunstungsrate von bis zu 1300 mm schränkt die zunehmende Versiegelung des Bodens die Grundwasserneubildung ein, so dass steigende Niederschlagsmengen abgeleitet werden müssen (Nguyễn/Helm 1995). Der Deich entlang des Roten Flusses bewirkt einen Lauf des Wassers durch die Stadt vorrangig in nordsüdlicher Richtung. Wenn die Gefahr der Überflutung der Stadt durch über das Ufer tretende Wasser des Roten Flusses auf diese Weise auch gebannt wurde, bestimmt der Rote Fluss doch weiterhin mit seinem schwankenden Wasserstand den städtischen Wasserfluss. In der Regenzeit liegt der Wasserstand oftmals über dem Gelände der Stadt – 2009 wurde ein Hochstand von 8,8 m gemessen – so dass das durch die Stadt fließende Wasser nicht ohne Pumpwerke abfließen kann (GSO 2009b:27). Der vom Westsee abzweigende, die Stadt von Nord nach Süd durchfließende Tô Lịch bildet mit seinen Nebenarmen Lừ , Sét und Kim Ngưu heute die wichtigsten Entwässerungskanäle der Stadt. Die vier Flüsse münden unterhalb von Hanoi in den Nhuệ Fluss– der selbst ca. 60 km flussabwärts in den Roten Fluss mündet – oder können alternativ mittels Pumpen via Yên Seen direkt in den Roten Fluss geleitet werden (Interview Việt Anh Nguyễn 2009, Abb. 46). Die Entwicklung der Netzabdeckung seit Mitte der 1990er Jahre Der Verlauf des Wassers durch die Stadt bildet die Grundlage für den Ausbau des Entwässerungsnetzes. Aufgrund der Hierarchie der Straßen in dicht besiedelten Stadtgebieten werden unterschiedliche Netzabschnitte definiert: der Tô Lịch und seine drei Nebenflüsse werden als primäres Kanalisationssystem bezeichnet; unter
159
5.2. Abwasserentsorgung Hanois
Roter Fluss
Westsee
Sét
Kanal Pumpwerk
1km
Abb. 46: Das Entwässerungssystem Hanois (Eig. Darstellung basierend auf Google earth digital globe Luftbild 2010, Bildaufnahmedatum 05.12.2009)
den Hauptstraßen verlaufende Kanäle und dazu gehörige Revisionsschächte bilden das sekundäre System und in Nebenstraßen verlaufende offene oder durch Betonplatten geschlossene und mit Ziegeln befestigte Entwässerungsgräben werden als tertiäres System bezeichnet. Aktuell sind rund 70% der städtischen Bezirke Hanois an das Entwässerungsnetz angebunden. Tabelle 2 zeigt die Entwicklung des Abwasserentsorgungsnetzes unter der Zuständigkeit des städtischen Abwasserunternehmens, der HSDC, laut eigener Aussage. Tabelle 2: Zuständigkeitsbereich der Hanoi Sewerage and Drainage Company (SRV/HPC 2005:3-13; HPC/HSDC 2008) Entwässerungsnetz Art
1995
2001
2002
2003
Tertiär
120 km
265 km
283 km
314 km
632 km
Sekundär
38 km
-
-
50 km
77,9 km
36,8 km
-
-
40 km
44,45 km
Primär
2008
160
5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
Das 1995 vorhandene Netz befand sich zu einem Großteil im Bereich des Stadtkerns, bestehend aus Französischem Viertel und 36-Gassen Gebiet. Der Ausbau des Netzes folgte in den letzten 15 Jahren der rasanten Urbanisierung – maßgeblich vorangetrieben durch das „Entwässerungsprojekt zur Verbesserung der Umweltsituation in Hanoi“, in dessen Rahmen eine Reduktion der Überflutungen im Einzugsgebiet des Tô Lịch angestrebt wird. Hierfür wurde u. a. die Entwässerungsinfrastruktur zwischen Altstadt und Tô Lịch im während der sozialistischen Zeit urbanisierten Raume in Form einer Mischkanalisation ausgebaut. Aufgrund der Topographie, die eine Ableitung städtischer Gewässer in den Roten Fluss nur über Pumpen erlaubt, sind die Rückhaltekapazitäten der über die Stadt verteilten Seen notwendig für die Vermeidung von Überflutungen. Der dramatische Rückgang offener Wasserkörper in der Stadt zeigt sich in den folgenden Zahlen: 2008 befanden sich 44 Seen im Stadtgebiet, während 2005 71 gezählt wurden. Damals stand bereits fest, dass weitere 22 für Bauprojekte verfüllt werden sollten. (HPC/HSDC 2008; SRV/HPC 2005:5-6). So wurden allein innerhalb von drei Jahren 28 Seen, also mehr als ein Drittel, verfüllt – mit direkten Auswirkungen auf die Entwässerungssituation der Stadt (vgl. Abb. 47). Die Rückhaltekapazitäten der verbleibenden Seen werden durch die Auffüllung mit Bauschutt und anderen Abfällen sowie Schlamm aus der Entwässerung stark eingeschränkt (SRV/HPC 2005:5-1).
1 km
Abb. 47: Offene Wasserkörper Hanois (Eig. Darstellung basierend auf Google Luftbild 2010)
5.2. Abwasserentsorgung Hanois
161
Die Behandlung kommunaler Abwässer – dezentrales System mit geringer Leistung 2008 ging die HSDC davon aus, dass täglich rd. 760.000 m³ kommunale und industrielle Abwässer anfallen – diese Berechnung basiert auf einem täglichen Wasserverbrauch von 120 l pro Einwohner und einer Einwohnerzahl von rd. 6,3 Mio., was laut offiziellen Zählungen dem erweiterten Stadtgebiet entspricht. Tatsächlich kann allerdings von einer größeren Abwassermenge ausgegangen werden, da wahrscheinlich der Wasserverbrauch höher ist als durch die HSDC ermittelt. Ein Teil der Haushalte Hanois nutzt nach wie vor dezentrale Brunnen, die nicht von der Verwaltung erfasst werden. Zudem ist davon auszugehen, dass auch die tatsächlichen Einwohnerzahlen formelle Schätzungen übersteigen (vgl. Smith/Scarpaci 2000). So erfassten die 2008 an das primäre Kanalisationssystem angeschlossenen Anlagen zur Reinigung von Regenwasser und kommunalen Abwässern mittels konventionellen Belebtschlammverfahren mit weniger als die von der HSDC geschätzten 10% nur einen kleinen Teil der Abwässer (HPC/HSDC 2008). 2011 verfügte die Stadt bereits über fünf Anlagen, die insgesamt eine Kapazität von ca. 250.000 m3 haben (SRV/HPC 2005; Trần 2009a; HPC/HSDC 2008). Es kann allerdings aufgrund von Betriebsproblemen, etwa durch die unsichere Stromversorgung oder mangelnde personelle Ressourcen nicht davon ausgegangen werden, dass diese Kapazitäten stets ausgenutzt werden – vielmehr steht ein Großteil der bestehenden Anlagen regelmäßig still (vgl. MONRE 2011d). Im Falle von Vân Trì fehlten beispielsweise die Zuleitungen, so dass der Betrieb 2010 noch nicht gestartet werden konnte (24h). So beruht das System der Abwasserreinigung in Hanoi bis heute weitestgehend auf dezentralen Technologien. Der Anteil der Haushalte der urbanen Bezirke Hanois die an Septic Tanks angeschlossen sind, wird auf 60–990% geschätzt (Harada 2008; Việt Anh et al. 2005a). Unter Einbezug der ländlichen Bezirke sinkt der Anteil auf rund 32% (GHK 2005). Die anderen Haushalte verfügen über Pit Latrinen oder andere dezentrale Systeme, oder sie haben keine eigene Toilette sondern nutzen öffentliche Sanitäranlagen, die zumeist über Septic Tanks verfügen. Die in Hanoi vorzufindenden Septic Tanks sind i. d. R. unter den einzelnen Gebäuden installierte Klärgruben, in die das Schwarzwasser eingeleitet wird und einen anaeroben Abbauprozess durchläuft (vgl. Abb. 48 und Abb. 49).
Abb. 48: Septic Tank mit einer Kammer (Việt Anh 2007:21)
Abb. 49: Septic Tank mit zwei Kammern (Việt Anh 2007:21)
162
5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
Da sie oftmals keinen Filter haben, besteht die potentielle Reinigungsleistung in einer Vorklärung, d. h. Feststoffe und CSB/BSB können um einen größeren Anteil (CSB/BSB um ca. die Hälfte und Feststoffe eventuell noch darüber hinaus) reduziert werden, während Phosphor und Stickstoff zu einem deutlich überwiegenden Teil im Abwasser bleiben (vgl. Việt Anh 2007). Abgesehen von der technischen Ausstattung hängt die Leistung der Septic Tanks jedoch entscheidend vom Betrieb ab, d. h. einer regelmäßigen Leerung, die jedoch in Hanoi nicht durchgeführt wird. Im Durchschnitt werden die auf Leerungsintervalle von 2–3 Jahren ausgelegten Septic Tanks Hanois nur etwa alle 7–10 Jahre geleert, etwa wenn ein Gebäude abgerissen oder umgebaut wird (Việt Anh et al. 2005). Dies bedeutet, dass die meisten Septic Tanks der Stadt in der Regel voll sind und dass das Schwarzwasser durchläuft, ohne dass Schmutzstoffe abgetrennt werden. Ein großer Teil der Feststoffe des Schwarzwassers gerät mittels Überlauf in das zentrale Entwässerungsnetz Hanois und sedimentiert dort. Der nur sporadisch aus dem Abwassersystem der Stadt entfernte Schlamm wird entweder auf Deponien abgelagert oder in seltensten Fällen auch in einer Anlage zur Kompostierung, die in Cầu Diễn, der westlichen Stadterweiterung, steht, behandelt. Das technische Abwasserentsorgungssystem Hanois zeichnet sich in den Grundzügen durch die Kombination dezentraler Septic Tanks mit einem zentralen Abwasserentsorgungsnetz aus, in das das Schwarzwasser aus dem Tank überläuft, während andere Abwässer des Haushalts direkt in das Abwasserentsorgungsnetz geleitet werden (vgl. Abb. 25 im Farbteil). Aufgrund der geringen Reinigungsleistung der Septic Tanks sowie der zentralen Anlagen bei gleichzeitiger Verschüttung lokaler Gewässer sind die Schadstoffkonzentrationen städtischer Gewässer rapide angestiegen – zwischen 1994 und 2004 haben sie sich teilweise verzehnfacht (SRV/ HPC 2005:13-3). 5.2.2. Die Leistungserbringung im zentralen Abwasserentsorgungssystem Die Leistungsstruktur der Abwasserentsorgung im Zentrum Hanois ist dem technischen System mit der Kombination von dezentralen Septic Tanks mit dem zentralen Entwässerungsnetz entsprechend zu teilen in die Instandhaltung und den Ausbau des zentralen Systems der Entwässerungskanäle und zentralen Reinigungsanlagen und die mit dem dezentralen System der Septic Tanks verbundenen Leistungen. Die technischen Artefakte und Leitungen des ersteren befinden sich im öffentlichen Raum sind und grundsätzlich Teil des Zuständigkeitsbereichs öffentlicher Institutionen. Anders als in den Kleinstädten Vietnams sind die städtischen Unternehmen der Großstädte auf einzelne Sektoren – Wasserversorgung, Stadtentwässerung und Abfallmanagement– spezialisiert. Seit Đổi Mới findet eine Diversifizierung der Industriestruktur statt – Unternehmen mit unterschiedlichsten Betriebsformen einerseits und lokale Gruppen andererseits übernehmen Leistungen in der Ver- und Entsorgung. Hier wird zunächst die Struktur der Leistungserbringung hinsichtlich des Ausbaus und der Instandhaltung des Entwässerungsnetzes sowie des Betriebes zentraler Abwasserreinigungsanlagen dargestellt.
5.2. Abwasserentsorgung Hanois
163
Struktur des Stadtentwässerungsunternehmens Hanois In Hanoi ist das für die Stadtentwässerung zuständige Unternehmen die Hanoi Sewerage and Drainage Company (HSDC), das nach der Konversion von einem staatseigenen Unternehmen heute die Unternehmensform der „One member stateowned limited company“ nach dem Enterprise Law Vietnams von 2005 hat – praktisch wird das Unternehmen nach wie vor durch das Volkskomitee Hanoi kontrolliert (SRV/HPC 2009:66). Damit ist das Abwasserentsorgungsunternehmen Hanois anders als etwa Abwasserentsorgungsunternehmen anderer vietnamesischer Städte (wie etwa Vinh) bisher nicht in den Prozess der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft (joint stock company) getreten. In einer one member limited company dürfen keine Unternehmensanteile veräußert werden. Dies hängt mit der fehlenden Wirtschaftlichkeit des Unternehmens zusammen, dessen Einkünfte nicht transparent sind. So können laut dem Vorsitzenden der Vietnam Water Supply and Sewerage Association mit den Einnahmen aus Gebühren nur etwa 30% der Kosten für Betrieb und Instandhaltung des technischen Netzes und der Pump- und Abwasserreinigungsanlagen gedeckt werden. Die restlichen 70% des 6 Mio. USD umfassenden jährlichen Budgets werden – abgesehen von kleineren Einkünften aus der Vermietung von Fischteichen – mittels Steuergeldern vom Volkskomitee Hanois subventioniert (Interview Nguyễn Tôn 2010). Dagegen steht die Aussage von Angestellten der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), der zufolge in Hanoi keine Gebühren für die Abwasserentsorgung eingenommen werden. Stattdessen werde eine Umweltabgabe für die Einleitung des Abwassers in die Gewässer erhoben. Sie beträgt 10% der Wasserkosten und wird auf diese aufgeschlagen. Dieses Geld jedoch geht an das Umweltministerium und somit nicht an die dem Bauministerium unterstehenden Stadtwerke (HSDC); diese müsste demzufolge komplett aus anderen – hier unbekannten – Quellen finanziert werden (Interview Gottfried Rölcke/Frank Pogade/Dietmar Wenz 2010). Wenn also die genaue finanzielle Lage der HSDC im Dunkeln bleibt, ist doch deutlich, dass sie aufgrund von knappen Mitteln kaum handlungsfähig ist. Wandel des Zuständigkeitsbereichs der HSDC Die Kernaufgabe der HSDC ist die Entschlammung der die Stadt durchfließenden unterirdischen Kanäle und der Oberflächengewässer (Seen, offene Kanäle und Flüsse, Abb. 26 im Farbteil). Durchschnittlich werden 15 km Netz/Monat durch die Angestellten der HSDC gereinigt – 70% davon mechanisch und 30% in Handarbeit, wobei die Angestellten aufgrund der gelieferten Mengen an Schlamm und Abfällen entlohnt werden (Việt Anh et al. 2005:5). Weiterhin ist der Transport von Schlämmen und in den Gewässern und Kanälen anfallenden festen Abfallen zu den unternehmenseigenen Deponien Teil des Aufgabenbereiches der HSDC. Zusätzlich fallen sowohl der Betrieb der Abwasserreinigungsanlagen als auch die Leerung der Septic Tanks in der Stadt in den Zuständigkeitsbereich der HSDC (HPC/HSDC 2008). Die letztere Aufgabe teilt sich das Unternehmen sowohl mit dem städtischen Abfallunternehmen als auch mit einer Reihe privater Anbieter. Aufgrund der eingeschränkten Kapazitäten des Unternehmens wird die Leerung der Septic Tanks jedoch kaum durchgeführt.
164
5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
Die HSDC selbst ist regional organisiert – sie verfügt über vier vergleichsweise autonome Subunternehmen (xí nghiệp), die jeweils einen eigenen Direktor haben und für unterschiedliche Bezirke Hanois zuständig sind. Mit dieser regionalen Organisation und der Beschränkung der Zuständigkeit auf städtische Bezirke ist die HSDC von den im Laufe der letzten 20 Jahre stetig vorgenommenen Eingemeindungen ehemals ländlicher Gebiete durch die Integration in bestehende städtische Bezirke oder deren Neugründung direkt betroffen. Mit der Erweiterung der Stadtgrenzen und der Ausweisung neuer Bezirke wurden jedoch keine neuen Einheiten gegründet, sondern das Zuständigkeitsgebiet der vier bestehenden Einheiten wurde ausgeweitet, so dass jede Einheit jetzt eine größere Fläche zu verwalten hat (vgl. Việt Anh et al. 2004a). Auf die Neugründung der drei städtischen Bezirke Tây Hồ, Cầu Giấy und Thanh Xuân in den 1990er Jahren reagierte die Stadtverwaltung, indem sie bei etwa gleich bleibendem Budget der HSDC für einen Teil der in den neuen Bezirken anfallenden Aufgaben die formelle Verantwortung abgab. So entschied das Volkskomitee Hanois 1995, die Verantwortung für Teile des Abwassernetzes in den neuen städtischen Bezirken an die lokale Verwaltung auf der Ebene der Stadtteile zu delegieren. Die HSDC war kaum in der Lage, die Reinigung und Instandhaltung des Abwasserentsorgungssystems zu bewältigen – 2002 wurde geschätzt, dass sie rund 60% des gesamten Abwassernetzes und nur rund 11% vom tertiären Kanalisationssystem instand hielt, während der Rest durch andere Gruppen wie die lokale Verwaltung oder zivilgesellschaftliche Organisationen übernommen wurde (HSDC 2002, zitiert in GHK 2005). In Übereinstimmung mit dem Budget Law von 1996 und 1998, das Verwaltungsebenen unterhalb der Regierungsebene größere Gestaltungsfreiheiten in fiskalischen Angelegenheiten zubilligte, wurde die Organisation von Instandhaltung und Ausbau des tertiären Netzes in Hanoi zunächst an die beiden untersten formelle Verwaltungsebene der Bezirke und Stadtteile delegiert, die Verträge mit privaten Unternehmen abschließen sollten (Việt Anh et al. 2005:6). Je nach Höhe des benötigten Betrages waren für Bauvorhaben in Bezug auf das Abwasserentsorgungssystem unterschiedliche Verwaltungsebenen zuständig (GHK 2005). Diese Vorgehensweise wurde von internationalen Organisationen im Sinne einer Dezentralisierung der Regelung und Erfüllung öffentlicher Aufgaben gutgeheißen (ebd.). Der neuere Erlass 88 sieht im Gegensatz dazu eine Rezentralisierung vor, in deren Zuge die untersten Verwaltungsebenen von Verantwortlichkeiten enthoben wurden (vgl. Kap. 5.1.1). Die Gebührenstruktur – die Erschwinglichkeit eines zentralen Systems Wie oben (Kap. 5.1) erläutert, hat eine grundlegende Maxime der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Eingang in die vietnamesische Regulierung des Abwassersektors gefunden: Wasserver- und Abwasserentsorgungsgebühren sollen so hoch sein, dass sie zumindest die Kosten für Betrieb und Instandhaltung decken (vgl. Erlass 88/2007). Gleichzeitig dürfen sie nicht höher als 5% des Haushaltseinkommens der Gebührenzahler sein, um noch als erschwinglich zu gelten – die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) legt 3% zugrunde (SRV/HPC 2009). Eine Betrachtung der Gebühren Hanois im Vergleich zum Haushaltseinkommen einerseits und zur Finanzlage des städtischen Unternehmens andererseits weist auf das grund-
165
5.2. Abwasserentsorgung Hanois
legende Dilemma der Versorgung mit technischen Infrastrukturen hin – wenn nämlich beide Erfordernisse inkompatibel sind, d. h. das durchschnittliche Einkommen zu niedrig ist für die Deckung der Betriebskosten der Infrastruktursysteme (Fernández-Maldonado 2008). Tabelle 3: Wassertarife Hanoi (Interview Ngô Thu Hà 2010) Verbrauch (m³/Monat)
Unter 16
16 – 20
20 – 35
Über 35
Gebühr Monat (VND/m³)
4000
4700
5700
9400
Gebühr Monat (Euro/m³)
0,15
0,18
0,2
0,35
Die HSDC kann aktuell nur etwa 30% ihrer Ausgaben durch Gebühren decken. Im Hinblick auf die ökonomische Situation der Haushalte zeigt sich, dass bei einem vierköpfigen Haushalt mit einem pro-Kopf Wasserverbrauch von rund 150 LPT und dem mittleren Monatseinkommen laut GSO 2010 der Wassertarif unter 2%1 des Haushaltseinkommens ausmachen würde (vgl. Tabelle 3). Auf dieser Basis argumentiert etwa die JICA, dass noch Spielraum zur Erhöhung der Gebühren besteht (SRV/HPC 2009:100). Im Hinblick auf die Situation des untersten Einkommensfünftels zeigt sich, dass diese rund 4% des Haushaltseinkommens aufbringen würden – und der Spielraum hier also bereits deutlich geringer ist. Bei einer Senkung des Wasserverbrauchs auf 120 LPT würde der Anteil auf unter 3% und unter den von der ADB veranschlagten erschwinglichen Anteil sinken. Aktuell sind die Wassergebühren jedoch erschwinglich und die internationalen Entwicklungsorganisationen fordern seit längerem eine Anhebung dieser Gebühren um den vorgesehen Ausbau des Entwässerungsnetzes zu finanzieren (vgl. Interview Gottfried Rölcke/ Frank Pogade/Dietmar Wenz 2010). Dass die Wassergebühren dennoch anders als die Gebühren für Telefon oder Elektrizität in den Jahren seit Đổi Mới weitgehend stagnierten, wird auf speziell den Wassersektor betreffende Regelungsdynamiken zurück geführt (De Miras/Nguyễn 2010:153). Seit der 1990 vorgenommenen Dezentralisierung der Regulierung technischer Infrastruktursysteme spielt das Volkskomitee Hanois eine wesentliche Rolle in der strategischen Ausrichtung der städtischen Abwasserentsorgung. Es leitet die Ämter der zuständigen Fachministerien und damit auch die dem Bauamt zugeordneten städtischen Entsorgungsunternehmen, indem es sowohl ihre jährlichen Budgets bestimmt als auch die Tarife und damit die über Quersubventionen hinaus gehenden Einnahmen der Betriebe festlegt.
1
Berechnungsgrundlagen: Durchschnittliche Haushaltsgröße 2010 im erweiterten Hanoi: knapp 4 Personen; Durchschnittliches monatliches pro-Kopf Einkommen im erweiterten Hanoi 2010: unteres 5tel: 540.000 VND (ca. 20 Euro); mittleres 5tel 1,5 Mio. VND (ca 55 Euro); oberes 5tel 4,8 Mio. VND ca. 180 Euro) (GSO 2010); sowie der durchschnittliche pro-Kopf Wasserverbrauch. Dieser ist sehr hoch und breit gestreut (Vgl. De Miras et al. 2002), und übersteigt laut Büsser (2006) 150 LPT. Da er aber laut HPC/HSDC 2008 zwischen 120 und 150 LPT liegt, wird hier ein Verbrauch von 150 LPT angesetzt.
166
5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
Das Volkskomitee sperrt sich aktuell trotz der Handlungsunfähigkeit der Unternehmen gegen die bereits viel diskutierte Anhebung der Gebühren – sowohl was die Wassergebühren selbst, als auch was die Einführung von Abwassergebühren mit einen höheren Anteil an den Wassergebühren als 10% angeht. Dies wird darauf zurückgeführt, dass sie unter der Aufsicht der Volksräte stehen. Diese wiederum haben als gewählte Vertreter des Volkes kein Interesse, die Gebühren gegen den Willen der lokalen Bevölkerung und auch entgegen dem sozialistischen Ideal der Versorgung des Volkes mit grundlegenden Leistungen durch den Staat anzuheben (vgl. MONRE 2011a). Um die Ermittlung der Gebührenhöhe von politischen Abwägungen der Volkskomitees und Volksräte abzukoppeln, fordert etwa die im Sektor der Wasserversorgung tätige Weltbank die Unabhängigkeit der städtischen Wasserver- und Abwasserentsorgungsunternehmen von den Volkskomitees – bisher ohne Erfolg. So bleiben die städtischen Unternehmen im Abwassersektor stark unterfinanziert, was sich nicht zuletzt in einem Mangel an qualifiziertem Personal manifestiert (Việt Anh et al. 2005a:36). Ohne qualifiziertes Personal allerdings ist der Betrieb vergleichsweise komplexer Abwasserreinigungsanlagen nicht zu bewältigen. Die Frage einer für alle Bevölkerungsgruppen Hanois erschwinglichen Finanzierung des Entwässerungssystems ist bisher nicht geklärt. 5.2.3. Die Leistungsstruktur des Septic Tank-Systems Die Leerung der Septic Tanks in Hanoi zeichnet sich durch eine freiwillige Inanspruchnahme der Leistungen durch die Haushalte aus. Dabei können sie aus einem breiten Feld an Anbietern wählen. Diverse Unternehmen nehmen an der Leerung der Septic Tanks teil – sowohl städtische Unternehmen als auch halbprivate oder private und informelle Unternehmen. Wie oben (Kap. 5.1) beschrieben, fällt die Behandlung von Schlämmen aus der Abwasserreinigung formell in das Zuständigkeitsfeld des Abfallmanagements. In Hanoi ist jedoch auch die HSDC in diesem Feld tätig (HPC/HSDC 2008). Unternehmen im Auftrag der Verwaltung Da die Entsorgung von Septic Tank Schlämmen laut Umweltgesetz von 2005 (52/2005/QH11) in die Zuständigkeit des Abfallsektors und fällt, sieht sich auch das städtische Abfallunternehmen Hanois, die Urban Environmental Company (URENCO) für die Leerung zuständig2. Dieses Unternehmen ist wie die HSDC nach wie vor zu 100% im Eigentum des Staates (URENCO). Seit der Umsetzung der Politik der Vergesellschaftung im Abfallsektor hat sich der Markt mit der Teilnahme unterschiedlicher privater und halbstaatlicher Aktienunternehmen diversifiziert (URSPCE 2008:17). Diese werden auf der Ebene der Bezirke für die Stadtteile ausgewählt. Diese Unternehmen können jedoch nicht wirtschaftlich arbeiten, sondern werden wie auch die URENCO durch den städtischen Haushalt finanziert. 2
Dementsprechend wird auch das Ziel, bis 2025 alle in Städten anfallenden Schlämme aus Septic Tanks zu sammeln und zu behandeln in der nationalen Strategie für Abfallmanagement – und nicht Abwassermanagement – formuliert.
5.2. Abwasserentsorgung Hanois
167
Die Haushalte zahlen pro Leerung einen Betrag von rund 300.000 VND (ca. 11 Euro). Dieser Betrag lässt sich aus den Vorgaben der „Kostenrechnungsnorm zur Instandhaltung von Abwassersystemen in Städten“ des Bauministeriums (2271/ BXD-VP 2008) ermitteln. Die Kapazitäten von URENCO reichen nur zur Leerung der Septic Tanks öffentlicher Gebäude. Die von den formellen privatrechtlich und öffentlich-rechtlich verfassten Unternehmen geleerten Schlämme werden zum Teil zur Kompostierungsanlage Cầu Diễn im Westen Hanois gebracht, wo sie zusammen mit organischen Abfällen kompostiert werden (Kawai Kosuke 2010). Der zu Dünger weiterverwertete Gärrest soll direkt an der Anlage an im landwirtschaftlichen Bereich tätige Bevölkerungsgruppen verkauft werden – mit 1000 VND/kg entspricht der Preis dem anderer Düngemittel. Allerdings findet der Dünger kaum Absatz, weshalb die Düngemittelproduktion nun herunter gefahren werden soll (Interview Phạm Văn Đức 2009). Leistungserbringung durch Kleinunternehmen Der Umgang mit menschlichen Fäkalien ist auch in der vietnamesischen Gesellschaft eine der sozial am geringsten angesehen Tätigkeiten und den unteren gesellschaftlichen Gruppen vorbehalten – in traditionellen vietnamesischen Dorfgesellschaften wurden die mit der Entsorgung menschlicher Ausscheidungen beschäftigten Personen auf eine Stufe mit Landstreichern und Dieben gestellt (vgl. Tai/Lý 2008). Wie von Mitchell (2008/2009) analysiert, besteht auch im informellen Sektor traditionell eine enge Verbindung zwischen Müllsammlern und den Leerern von Septic Tanks, die ursprünglich aus demselben Dorf in der Umgebung der Stadt stammen. Ein befragter Kleinunternehmer etwa verfügt laut eigenen Angaben über 3 Saugwagen und 14 Arbeitskräfte, die etwa 1–2 Aufträge täglich annehmen – für weitere Aufträge können zusätzlich kurzfristig Tagelöhner eingestellt werden (vgl. Abb. 50 und Abb. 51). Auch die Kosten der durch das Kleinunternehmen durchgeführten Septic Tank Leerung entsprechen mit 300.000 – 450.000 VND (ca. 11 – 16 Euro) etwa den Vorgaben der Kostenrechnungsnorm des Bauministeriums (2271/ BXD-VP 2008). Der befragte Unternehmer zeigte sich nur wenig über formelle Regulationen der Septic Tank Leerung informiert, da er generell dem Kontakt mit Aufsichtsbehörden aus dem Weg geht. Er gab jedoch an, hin und wieder Strafen für die illegale Verklappung des Schlammes zu zahlen (Interview Leerungsunternehmer 2009). Dies stimmt mit den Aussagen der Umweltpolizei überein, die angibt, dass keines der rund 40 in Hanoi aktiven Unternehmen die gesammelten Schlämme zur Cầu Diễn Anlage bringt. Keines der Unternehmen hat bisher die Möglichkeit genutzt, einen Vertrag mit URENCO über die Nutzung der Anlage abzuschließen. Die gesammelten Schlämme werden zumeist entweder direkt in Teiche, Seen oder Flüsse gekippt, oder in das städtische Kanalisationsnetz geleitet (Abb. 52; VIETBAO2). Werden diese Unternehmer_innen von der Umweltpolizei überführt, müssen sie eine Strafe von rund 3 Mio. VND (rund 110 Euro) zahlen und der Saugwagen wird für 10 Tage beschlagnahmt. Diese Strafe ist anscheinend zu gering als dass sie abschrecken würde, denn die Unternehmen wählen weiterhin regelmäßig den illegalen Weg der Verklappung der Schlämme in Seen und Teiche (ebd.).
168
5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
Abb. 50: Anfahrt des Leerungsfahrzeugs… (Đức Tuấn Đào)
Abb. 51: Ausrollen des Schlauchs… (Đức Tuấn Đào)
Laut den Angaben des interviewten Unternehmers erstreckt sich sein Einzugsgebiet über den gesamten Stadtkern sowie über den Stadtrand. So ist dieses Unternehmen anders als die mit den lokalen Verwaltungen kooperierenden Unternehmen der Stadtreinigung und Stadtentwässerung nicht regional organisiert. Dementsprechend zählen die Suche nach der richtigen Adresse und die Anfahrt zu den zeitintensivsten Aktivitäten der Unternehmung – im Falle des im Zuge dieser Arbeit begleiteten Unternehmens dauerte die Anfahrt über zwei Stunden, während die Leerung selbst nur eine knappe Stunde in Anspruch nahm (Interview Leerungsunternehmer 2009). So ergibt sich eine Fehlsteuerung: die Profite der Unternehmen werden maximiert, während die Nutzer_innen der Leistungen doppelt zahlen müssen: zunächst die Leerung der Tanks und dann – über Steuergelder und Gebühren– die Leistungen der HSDC, die für die Reinigung der Kanäle und Seen zuständig ist (vgl. Abb. 53).
Abb. 52: Leerung des Tanks… (Đức Tuấn Đào)
Abb. 53: Entschlammung eines offenen Kanals durch die HSDC.
5.2. Abwasserentsorgung Hanois
169
Das Abwasserreinigungssystem Hanois ist geprägt durch die dezentrale Vorreinigung menschlicher Ausscheidungen in den jeweils unter den Gebäuden installierten Septic Tanks. Dieses System ist jedoch keinesfalls autark, sondern bedarf für seine Funktionsfähigkeit eines regelmäßigen Abtransportes der anfallenden Schlämme, die im dicht besiedelten Stadtraum nicht lokal gelagert werden können. Wenn also das technische System der Septic Tanks auch dezentral installiert werden kann, bedarf ein funktionaler Betrieb doch regionaler Organisation. 5.2.4. Diskussion: Eigenschaften der Abwasserentsorgung Hanois Die technische Struktur der Abwasserentsorgung Hanois ist durch eine Mischung aller kommunalen Abwässer und des Regenwassers gekennzeichnet. Diese Mischung von Abwässern findet trotz der Verbreitung der dezentralen Septic Tanks zur gebäudebasierten Abtrennung von Schmutzstoffen im Schwarzwasser statt. Da technische Komponenten deinstalliert werden, um Verstopfungen zu vermeiden und aufgrund der zu seltenen Leerung büßen die Septic Tanks an Reinigungsleistung ein. Darüber hinaus wird Leerung oftmals so durchgeführt, dass die Reinigung der Gewässer durch die Tanks ganz aufgehoben wird: Leerungsunternehmer_innen leiten die gesammelten Schlämme in das Kanalisationssystem ein und führen sie damit den Gewässern von Hanoi zu. Nicht nur die Septic Tanks, sondern auch die an Flussgebieten orientierten zentralen Abwasserreinigungsanlagen tragen kaum zur Verbesserung der Wasserqualität bei, da sie mehrheitlich stillliegen. In den zur Reinigung der Abwässer Hanois installierten technischen Artefakten und ihrer geringen Reinigungsleistung manifestieren sich Widersprüchlichkeiten in der politischen Regelung und der Leistungserbringung des Systems. Staatliche und gesellschaftliche Akteure gestalten das System der Abwasserentsorgung Hanois innerhalb von Regelungsprozessen, die über formelle Regulierungen hinausgehen. Dies zeigt sich insbesondere in Bezug auf die Septic Tanks. Die Bauordnung und der Erlass 88/2007 geben vor, dass Septic Tanks installiert werden müssen und verschiedene Richtlinien über die technische Ausstattung der zu installierenden Tanks bestehen (Việt Anh et al. 2005), existieren keine Vorgaben hinsichtlich der Zuständigkeiten zu Leerung und Deponierung der Schlämme aus den Tanks. Die individuellen Haushalten oder Leerungsunternehmen sind etwa zur Leerung der Septic Tanks in bestimmten Intervallen nicht verpflichtest. Vielmehr weist die Gesetzeslage darauf hin, dass im Hinblick auf Sammlung und Behandlung der Septic Tank Schlämme eine Lücke in der formellen Regulierung besteht. Dies mag mit der Ungewissheit der institutionellen Zugehörigkeit des Septic Tank Schlammes zusammenhängen. Diese spiegelt sich in rechtlichen Dokumenten wider. Einerseits gibt das Umweltgesetz vor dass sie unter die Zuständigkeit des Abfallmanagements fallen, andererseits gibt das Bauministerium Kostenrechnungsnormen zur Behandlung des Abwassers heraus, in denen die Kosten für Septic Tank Leerungen angesetzt werden (2271/BXD-VP 2008; 52/2005/QH11). Die Leistungsstruktur ist durch eine Vielfalt der Unternehmensformen geprägt. So sind neben den städtischen Entsorgern – die selbst aktuell einen Prozess der
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5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
formellen Privatisierung durchlaufen – auch privatwirtschaftliche und zum Teil informelle Unternehmen im Abwassersektor tätig. Die formelle Abwasserpolitik Vietnams sieht eine Stärkung der öffentlichen Unternehmen vor (5.1.4). Dem städtischen Unternehmen Hanois fehlen jedoch aktuell die Ressourcen zu Instandhaltung und Betrieb von Netzen und Anlagen. Die Finanznot des städtischen Unternehmens bringt die Stadt dazu, Leistungen an untere Verwaltungsebenen zu delegieren. Dies trägt nicht zu der in formellen Abwasserpolitiken vorgesehenen Konzentration des Sektors bei, sondern zu einer weiteren Diversifizierung der Abwasserentsorgung Hanois. Zudem sind die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Unternehmen und Unternehmensformen verschwommen. Zum Teil werden Kleinbetriebe von Personen geführt, die gleichzeitig bei den städtischen Entsorgungsunternehmen angestellt sind und ihr festes, sehr geringes Gehalt durch selbstorganisierte Dienstleistungen aufbessern wollen. Aufgrund ihrer Anstellung haben sie Zugang zu einer Ausstattung wie Saugwagen und den benötigten Kontakten (vgl. Interview Leerungsunternehmer 2009). Um ihre Rendite zu optimieren, laden sie den Schlamm bisweilen nicht auf den vorgesehen Orten ab, sondern leiten ihn mit geringerem Aufwand andernorts in die Kanalisation. Damit verschaffen sie den Angestellten des städtischen Unternehmens – also ggf. sich selbst – Arbeit, die in der nachfolgenden Reinigung der Kanäle besteht. Während diese Praktiken aus Sicht einzelner Akteure rational sind, zeigt der Blick auf das System ein Steuerungsproblem, das zu einem stark erhöhten Reinigungsaufwand der Gewässer führt (vgl. 5.2.3). 5.3. DER AKTUELLE AUSBAU – DAS MODERNE INFRASTRUKTURIDEAL IM BLICK Die stark eingeschränkte Reinigungsleistung des weitgehend auf der Reinigungstechnik durch Septic Tanks basierenden Abwasserentsorgungssystems legt das Bestreben von Politik und Verwaltung nahe, dieses System grundlegend zu verändern. Auch nach dem Wandel der politischen Ökonomie in Richtung einer Liberalisierung der Wirtschaft wird das moderne Infrastrukturideal angestrebt: eine funktionale Stadt, ver- und entsorgt durch zentral vernetzte Infrastruktursysteme, instand gehalten durch öffentliche Unternehmen, finanziert durch standardisierte Gebühren. Aufgrund der neuen finanziellen Ressourcen seit Đổi Mới scheint dieses Ziel eher erreichbar als in den Jahrzehnten zuvor. Die Ausbaupläne für das Entwässerungsnetz wurden im Stadtentwicklungsplan von 1998 formuliert, der mit den parallelen Planungen für das „Entwässerungsprojekts zur Verbesserung der Umweltsituation in Hanoi“ übereinstimmt. Dieses Projekt markiert den Aufbruch zum erneuten gesamtstädtisch geplanten Ausbau des Abwasserentsorgungssystems und sollte in seiner ersten Phase von 1997 bis 2005 andauern, hat sich allerdings verzögert. Aktuell ist das Projekt in der zweiten Phase. Ursprünglich sollte das Projekt sich laut JICA auf die Verbesserung der Entwässerungssituation mittels des Ausbaus des Entwässerungsnetzes beschränken. Auf Anfrage des Volkskomitees Hanoi wurde es jedoch auf die Planung von Abwasserreinigungsanlagen ausgeweitet (SRV/HPC 2005). Die Planungen des JICA
5.3. Der aktuelle Ausbau
171
Projektes beziehen sich konkret auf die Einzugsgebiete der Flüsse Tô Lịch und Nhuệ, die das Kerngebiet der Betrachtung dieser Arbeit sind. Die vorgesehenen technischen Maßnahmen sind in die Formulierung des aktuellen Masterplans eingeflossen – der mit der gesamten Metropolregion einen viel weiteren Raum in den Blick nimmt, aber auch spezifische Aussagen für die erweiterte Kernstadt trifft. Während die Stadtentwicklungspläne sich auf die Entwicklung der Technikstruktur konzentrieren, werden in Darstellungen zum Entwässerungsprojekt darüber hinaus Pläne für die weitere Entwicklung der institutionellen Struktur formuliert (vgl. SRV/HPC 2005; SRV/HPC 2009). Alle Planungen sind – sowohl im Hinblick auf das technische System als auch die Leistungserbringung – konform mit den Vorgaben des oben vorgestellten Erlass 88/2007. 5.3.1. Planung von technischen Artefakten Im aktuellen Masterplan wird das insgesamt in urbanisierten Räumen innerhalb der Metropolregion Hanois anfallende Volumen des Abwassers auf 1.471.500m3/Tag geschätzt, in ländlichen Räumen auf 335,700 m3/Tag (PPJ 2010:115). Die Gestaltung der Netze sowie der Reinigungstechniken werden abhängig gemacht von aktueller und zukünftig geplanter Verstädterung. In bestehenden urbanen Räumen kann – wie auch in Erlass 88/2007 und der nationalen Abwasserstrategie vorgesehen – entweder ein Trenn- oder ein Überlaufsystem installiert werden, während in neu zu bauenden Stadträumen Trennsysteme obligatorisch sind (ebd.). Während in städtischen Räumen die Installation moderner Anlagen mit Belebtschlammverfahren vorgesehen ist, so kann in ländlichen Räumen auch weiterhin ein dezentrales System mit Klärgruben aufrechterhalten werden (PPJ 2010a). Für das hier betrachtete Einzugsgebiet der Flüsse Tô Lịch und Nhuệ, die ein Teil des Gebietes der erweiterten Kernstadt laut dem aktuellen Masterplan sind, konzentriert sich die Planung weiterhin auf den Ausbau der Pumpwerke mit dem Ziel der Reduktion von Überflutungen des Stadtgebietes; den Ausbau der Seen mit einem Fokus auf der Yên Seenlandschaft und dem Linh Đàm See im Süden der Stadt, sowie die Befestigung der Böschungen der Flüsse Tô Lịch, Kim Ngưu, Sét und Lừ (SRV/HPC 2005; PPJ 2010:108). Aus Kostengründen soll das Leitungsnetz des Stadtkerns, wo in den letzten Jahrzehnten bereits ein Netz ausgebaut wurde, eine Mischkanalisation bleiben. Auch in der Stadterweiterung soll die bestehende Mischkanalisation größtenteils erhalten bleiben. An strategischen Punkten – v. a. vor den Kanalmündungen in den offenen Tô Lịch Fluss – soll diese durch Überlaufkammern und unterirdische Abwassersammler, die direkt zu den geplanten Kläranlagen führen, ergänzt werden (SRV/HPC 2009, vgl. zur Technologie 3.8.2). Neben den in der Kernstadt Hanois bereits im Rahmen des JICA Projektes geplanten und teilweise auch gebauten und betriebsbereiten Anlagen sieht der aktuelle Masterplan langfristig den Bau zusätzlicher Anlagen vor. Diese würden dann zu einer Verdopplung der Kapazitäten der bereits jetzt in diesem Raum gebauten oder geplanten Kläranlagen beitragen, so dass in den ländlichen und städtischen Bezir-
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5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
ken Hanois potenziell rund 1.000.000 m3 Abwasser täglich gereinigt werden können (vgl. PPJ 2010:115). Zusammenfassend zeigt sich hier, dass dem Titel einer aktuellen Machbarkeitsstudie des Projektes entsprechend „central large-scaled wastewater treatment plants“ errichtet werden sollen. Der Ausbau eines zentralen Systems zur Entsorgung der Abwässer, das die aktuell kaum funktionalen Septic Tanks ablösen soll, wird also vorangetrieben (SRV/HPC 2009). Die oben (Kap. 5.2.4) diskutierten, im aktuellen System bestehenden Steuerungsprobleme insbesondere hinsichtlich der Septic Tanks, werden nicht thematisiert. 5.3.2. Kosten- und Finanzierungsplanung Die offiziellen Strategien und Pläne zur Stadtentwicklung Hanois illustrieren mit ihren umfassenden Beschreibungen, technischen Zeichnungen und gestalterischen Entwürfen das Ziel des Ausbaus des zentralen Entwässerungssystem in eindrucksvoller Weise. Damit suggerieren sie große Entschlossenheit der Stadtverwaltung. Die Kostenplanung zeigt jedoch ein anderes Bild. Wie oben dargestellt, wird mit dem Ausbau des zentralen Netzes auch eine zentrale Leistungserbringung durch die städtischen Unternehmen anvisiert, deren aktuelle Finanzlage allerdings schon die Instandhaltung bestehender Netze und Anlagen nicht erlaubt. Internationale Organisationen spielen eine zunehmend wichtige Rolle für die Planung und Entwicklung urbaner Infrastrukturen Vietnams und Hanois. Bis 2002 wurden 54 Projekte aus Geldern der Entwicklungshilfe mit einem Volumen von 624 Mio. USD finanziert (Nguyễn et al. 2010:212). Davon kamen 90% aus bilateraler Entwicklungshilfe, wobei die Japanische Internationale Entwicklungsagentur, die JICA, mit 82% der Gelder, nämlich 377 Mio. USD mit Abstand der wichtigste Partner ist (ebd.). Eine Betrachtung des Abwassersektors zeigt, dass Phase II des JICA Entwässerungsprojektes in der Kernstadt Hanois allein rund 300 Mio. USD kosten soll (CPV 2009). Für den gesamten Aufbau des Entwässerungssystems in der Kernstadt laut den Planungen der JICA sind die Kosten von rund einer Milliarde USD angesetzt (SRV/HPC 2009). Die Kosten aller im Masterplan vorgesehenen abwassertechnischen Maßnahmen werden auf rund 6 Mrd. USD geschätzt. Dies sind rund 6,5% der zwischen 2010 und 2050 für Infrastrukturprojekte vorgesehenen Gesamtausgaben. Diese Projekte sollen vollständig aus Darlehen von internationalen Entwicklungsorganisationen finanziert werden (PPJ 2010a). Bereits die Finanzierung der Investitionskosten mittels Darlehen aus der internationalen Entwicklungshilfe erfordert eine langfristige finanzielle Bindung Vietnams an die Geberländer. Darüber hinaus ist nicht geklärt, wie die Instandhaltung der technischen Artefakte langfristig gewährleistet werden soll. Wie oben erläutert, sind die Einnahmen aus Gebühren bei Weitem nicht hinreichend und ihre Ausgestaltung ist ein umstrittenes Thema. Die JICA schlägt dem international anerkannten Berechnungsrahmen für Gebühren entsprechend vor, diese so weit anzuheben, dass die Betriebs- und Instandhaltungskosten gedeckt wären (SRV/HPC 2009:100). Diese Anhebung wurde bisher jedoch nicht vorgenommen. Der Gegensatz zwi-
5.3. Der aktuelle Ausbau
173
schen der Ausweisung von milliardenschweren Infrastrukturprojekten in großmaßstäblichen Planwerken und dem zögerlichen Verhalten der Stadtverwaltung angesichts der damit direkt zusammenhängenden Anhebung der Gebühren offenbart die Widersprüchlichkeit der Akteure in Verwaltung und Politik Vietnams und Hanois. Dies bringt etwa Vertreter der deutschen Entwicklungsorganisation GIZ zu der Einschätzung, dass die flächendeckende Umsetzung technischer Innovationen im Abwasserbereich aufgrund der „institutionellen, rechtlichen und organisatorischen Gegebenheiten“ aktuell kaum realistisch für Hanoi sei (Frank Pogade (Interview zusammen mit Gottfried Rölcke/Dietmar Wenz) 2010). 5.3.3. Kritische Positionen und alternative Vorschläge Die JICA selbst führt die überhöhten Kosten, die Verzögerung des Projektes und seine Wirkungslosigkeit im Angesicht andauernder Überflutungen und starker Gewässerbelastung auf Versäumnisse der Stadtverwaltung zurück. Sie beklagt beispielsweise, dass die im Entwässerungsprojekt als ergänzende Maßnahme empfohlene Entschlammung der Seen, Flüsse und Kanäle zur Erhöhung der Rückhaltekapazitäten durch das städtische Abwasserentsorgungsunternehmen nicht in hinreichender Weise umgesetzt wurde (vgl. SRV/HPC 2005). Sie stellt jedoch die Ausrichtung des Projektes selbst nicht infrage (Interview Toshio Nagase 2011). Dennoch ist diese inzwischen breiter Kritik ausgesetzt. Abwasserexpert_innen und Planer_innen argumentieren, dass der aktuell vorangetriebene Ausbau des städtischen Abwasserentsorgungssystems auf mangelnde Ressourcen der vietnamesischen öffentlichen Verwaltungen hinweise – diese führten dazu, dass von externer Seite erarbeitete Pläne zur Umsetzung angenommen würden, ohne dass etwa die langfristige Finanzierbarkeit kritisch geprüft würde (vgl. z. B. Quốc Dũng 2010). Beanstandet werden zudem zu enge Konditionalitäten mit der Bindung an japanische Expertise und Materialien sowie die hohen durch Kredite finanzierten Kosten bei bisher nicht eindeutig nachvollziehbarer Verbesserung von Wasserqualität und Entwässerungssituation (vgl. Interview Jelle van Gijn 2011; Trần 2009a). So werden Forderungen nach einem tiefgreifenden Wandel in der Abwasserentsorgungsplanung laut (vgl. Việt Anh 2004). In diesem Zuge bildet sich ein Netzwerk aus Planern und Planerinnen sowie Forschungsinstituten – federführend ist hier das Institute of Environmental Science and Engineering (IESE) der Hanoi University of Civil Engineering – und internationalen Entwicklungsorganisationen (z. B. die deutsche GIZ oder die schwedische SIDA) heraus, die strategische Empfehlungen zur Anwendung alternativer Sanitärkonzepte in Hanoi formulieren. Ein Kernaspekt des für Hanoi und andere urbane Räume Vietnams vertretenen alternativen Ansatzes ist die technische Fortentwicklung der ohnehin verbreiteten Septic Tanks durch den Einsatz von mehreren Trennwänden und verbesserter, anaerober Filtertechnologien (baffled septic tanks with anaerobic filters, BASTAF) ( Abb. 54; Abb. 55). Es wird argumentiert, dass gerade in subtropischen Regionen aufgrund klimatischer Bedingungen der Einsatz simpler, auf biologischen Reinigungsprozessen
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5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
basierenden Technologien ein potenziell effizienter Weg der Abwasserreinigung sei (Việt Anh et al. 2005:9f). Aufgrund der bestehenden gesetzlichen Vorschriften und Standards bezüglich der technischen Ausgestaltung der Septic Tanks wird von einer guten Akzeptanz und institutionellen Einbindung dieser Technologie ausgegangen. Auch dies wird als Argument zur technischen Weiterentwicklung der Klärgruben hinzugezogen. Möglichkeiten der Weiterentwicklung werden etwa in Bezug auf die lokale Nutzung von Nährstoffen erörtert. Entsprechende ohnehin im peri-urbanen Raum angewendete Praktiken sollen durch die Hygienisierung der Fäkalien und organischen Abfälle optimiert werden (Việt Anh et al. 2004). Ohnehin fällt auf, dass sich strategische Empfehlungen hinsichtlich Alternativen zur offiziellen Politik der Stadtentwässerung und Abwasserreinigung Hanois im Sinne der „EcoSan“ Orientierung auf eine komplett dezentrale Infrastrukturversorgung konzentrieren. Dies betrifft zunächst sowohl die Technologie als auch die Zielgruppe. Hier sollen lokale Gruppen von Haushalten angesprochen werden und nicht etwa die gesamte Stadtbevölkerung. Als Verwaltungseinheit soll die niedrigste Ebene der Stadtteile oder ländlichen Kommunen involviert werden. Im Hinblick auf die Wirtschaftsstruktur sollen die Haushalte selbst Arbeitseinsätze zur Instandhaltung und Betrieb der Infrastrukturen leisten, während professionelle Unternehmen nicht Teil der Planung sind (vgl. Beauséjour 2009; Việt Anh et al. 2004). Als Anwendungsgebiet dieser alternativen Technologien wird vorrangig der peri-urbane Raum Hanois gesehen. Vereinzelte Pilotprojekte sind zumeist außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der HSDC in den ländlichen Bezirken der Stadt angesiedelt. Dieser Ausrichtung entsprechend thematisiert dieser Ansatz die oben (Kap. 5.2.4) diskutierten Steuerungsprobleme, die das System der Septic Tank aktuell aufweist, nicht. Die Berücksichtigung dieser Probleme bringt von den hier vorgestellten Analysen abweichende Schlüsse in Bezug auf die aktuelle institutionelle Einbindung und damit auch in Bezug auf die Bewertung von Optionen zur weiteren soziotechnischen Ausgestaltung der Septic Tanks mit sich.
Abb. 54: Septic Tank mit zusätzlichen Kammern (BAST) (Việt Anh 2007)
Abb. 55: Septic Tank mit zusätzlichen Kammern und anaeroben Filtern (BASTAF) (Việt Anh 2007)
5.4. Zwischenfazit
175
5.4. ZWISCHENFAZIT: POSITIONEN IN DER ABWASSERPLANUNG HANOIS Der Blick auf die aktuellen Positionen in der Debatte um die Abwasserentsorgung Hanois zeigt, dass aktuelle formelle Planungen auch nach der Marktöffnung und der Liberalisierung der Wirtschaft im Zuge von Đổi Mới das moderne Infrastrukturideal nicht nur nicht aufgeben, sondern sogar noch weiter in Richtung einer Vereinheitlichung und Zentralisierung des Abwasserentsorgungssystems gehen. Im Vergleich zur kolonialen Abwasserplanung verlagert sich der Blick auf technische Optionen im Umgang mit differenzierten städtischen Abwasserentsorgungssystemen. Die Zusammenfassung aktueller Diskurse über die zukünftige Ausgestaltung der Organisation der Leistungserbringung sowie der politischen Regelung der Abwasserentsorgung im zweiten Unterkapitel macht deutlich, dass die aktuelle Ausrichtung der formellen Planung umstritten ist und sich eine Gegenposition herausbildet. Dieses Zwischenfazit ist zunächst ein weiterer Schritt zur Schärfung der in der konzeptionellen Grundlegung formulierten theoretischen Debatten. Gleichzeitig bleiben Fragen offen, die Bedarf nach einer Analyse der lokalräumlichen soziotechnischen Konstellationen der Abwasserentsorgung Hanois mit sich bringen. 5.4.1. Heutige und koloniale Abwasserplanungen im Vergleich In Rahmen des „Entwässerungsprojekts zur Verbesserung der Umweltsituation in Hanoi“ sind massive Investitionen „for the construction of central large-scaled wastewater treatment plants“ vorgesehen (vgl. SRV/HPC 2009). Hinsichtlich der Verortung des Netzausbaus folgt dieses Projekt der allgemeinen Stadtentwicklungsplanung. Wie oben erläutert, bringt der aktuelle Masterplan mit der Ausweisung von nicht zu bebauenden Grünflächen zwar Neuerungen mit sich(vgl. Kap. 4.4.1), und geht jedoch weiter von einer strikten Trennbarkeit von städtischem und ländlichem Raum aus. Diese Ausrichtung wird in der aktuellen Abwasserentsorgungsplanung mittels der Ausweisung eines zentral vernetzten Raumes konkretisiert, an dessen Rändern Abwasserentsorgungsanlagen die Einleitung gereinigter städtischer Abwasser in das Umland gewährleisten sollen. Die Idee der Abgrenzung eines mit technischen Netzen ausgestatteten, auf der Ebene der gesamtstätischen Verwaltung geplanten Stadtraumes von einem ländlichen Raum ohne technische Infrastrukturnetze und ohne übergreifende Bauleitplanung ist damit seit der Kolonialzeit bis heute in Hanoi persistent. Im Hinblick auf die Wahrnehmung der Stadtgrenzen und die Dynamik der Stadtentwicklung besteht also zwischen heutigen Planungen und den Planungen der Kolonialzeit (Fayet 1939) kaum ein Unterschied, da weiterhin von einer Steuerbarkeit der Ausdehnung des städtischen Raumes durch die gesamtstädtischen Verwaltungen ausgegangen wird. Unterschiede zwischen früherer und heutiger Abwasserentsorgungsplanung zeigen sich jedoch in der Wahrnehmung von innerstädtischen Differenzen und Umgangsmöglichkeiten damit. Im Hinblick auf das bestehende System der Abwasserentsorgung Hanois wird lediglich angemerkt, dass Septic Tanks zwar verbreitet
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5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
seien, diese jedoch „do not function satisfactorily and can reduce pollutants only slightly“ (SRV/HPC 2009:1). Während der Kolonialzeit wurde diese Technologie der Septic Tanks für ausgewählte Bevölkerungsgruppen als pragmatisch und zukunftsweisend betrachtet – im heutigen Plan wird sie als dysfunktional verworfen und nicht weiter thematisiert. Es wird allein auf die Zentralisierung der Abwasserentsorgung gesetzt. Der Plan nimmt räumliche Differenzen im aktuellen Entwässerungssystem wahr. So werden Gebiete aufgrund der Bevölkerungsdichte und dem Ausbaugrad des zentralen Netzes unterschieden (SRV/HPC 2009:6). Stadtkern und Stadterweiterung haben die höchsten Bevölkerungsdichten (mehr als 300p/ha) und gleichzeitig das bereits am weitesten ausgebaute Netz mit der Mischung von Regenwasser und kommunalen Abwässern. Es wird davon ausgegangen, dass in Richtung Stadtrand sowohl Bevölkerungsdichte als auch Netzausbaugrad abnehmen – nur die Gebiete im Westen der Stadt, in denen sich New Urban Areas konzentrieren, bilden eine Ausnahme. Sie sind mit unterirdischen Netzen ausgestattet und haben vergleichsweise hohe Bevölkerungsdichten. Diese Differenzen spielen jedoch im aktuellen Plan allein aufgrund technisch-wirtschaftlicher Überlegungen eine Rolle: „ […] to maximize the utilization of existing assets, [a] combined sewerage system will be adopted where combined sewers have already been constructed extensively.“ (SRV/HPC 2009:9)
Der heutige Plan weist also einen inhaltlichen Wandel gegenüber der Planungen am Ende der Kolonialzeit (v. a. Fayet 1939) auf. Der Plan der Kolonialzeit sah nicht nur am zukünftig zu urbanisierenden Rande der Stadt eine Trennkanalisation nach dem Stand der Technik vor, sondern es sollte zum Teil auch in den inneren, zur Zeit der Planung bereits stark urbanisierten Gebieten eine solche Trennkanalisation nachholend installiert werden (vgl. Fayet 1939). Die aufgrund der hohen Bevölkerungsdichten in den Vierteln der „indigènes“ bestehende Überlastung des Systems sollte durch die Installation dieses kostenintensiveren und für die Bevölkerung wartungsärmeren Systems ausgeglichen werden, während die bestehende Mischkanalisation im von der kolonialen Elite bewohnten Kolonialviertel erhalten und mit dem kostengünstigeren und für die dortigen Haushalte wartungsintensiveren Septic Tanks versehen werden sollte. Diese Differenzierung des Systems mit einer Konzentration der Investitionen in die Viertel der „indigènes“ spiegelt die Vorstellungen der kolonialen Infrastrukturplaner von hygienischem Verhalten der im 36-Gassen Gebiet verorteten Bevölkerung wider – ihr wurde die Instandhaltung der Septic Tanks nicht zugetraut. Die projektierte Trennkanalisation wurde jedoch bis heute nicht installiert. Im Plangebiet der kolonialen Planung befindet sich heute Mischkanalisation (Abb. 56 und Abb. 57). Der aktuelle Plan ist im Hinblick auf die Umgestaltung der bestehenden Stadtgebiete weniger ambitioniert. Zudem verzichtet er anders als der koloniale Plan auf eine differenzierte Einschätzung des hygienischen Verhaltens und der Zuverlässigkeit der Bevölkerung im Umgang mit Sanitärsystemen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft. Es soll nicht mehr vorrangig in den Ausbau heute besonders stark urbanisierter Gebiete, die durch ein teils marodes Netz und dezentrale Septic Tanks verfügen, investiert werden. Aus Kostengründen soll die bestehende Mischkanali-
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5.4. Zwischenfazit
sation größtenteils erhalten bleiben und durch ein Überlaufsystem ergänzt werden (vgl. Kap. 5.3.1). Damit werden Elemente der Abwasserplanung der Planwirtschaft aufgegriffen (vgl. Kap. 4.3.2). Ein bedeutender Teil der veranschlagten Projektkosten ist jedoch für Interventionen in die Stadtrandgebiete vorgesehen (vgl. SRV/HPC 2009). Es wird also nicht mehr davon ausgegangen, dass das in der Stadt bestehende System grundlegend zu wandeln sei. Vielmehr liegt der Fokus der Planung auf der Errichtung eines technischen Netzes am Rande der Stadt, das dem aktuellen Stand der Technik entspricht. Zusammenfassend wurde gezeigt, dass heute in Bezug auf das technische System noch konsequenter als während der Kolonialzeit Vereinheitlichung und Zentralisierung angestrebt werden, wobei auf die Planung von Technologien, die einen vergleichsweise hohen Einsatz lokaler Bevölkerungsgruppen und eine Vorhersehbarkeit der Entwicklung der Bevölkerungsdichten erfordern würden, verzichtet wird. Dies bedeutet, dass in Hanoi keine Abkehr vom modernen Infrastrukturideal festzustellen ist. Stattdessen wird bis heute der Ausbau eines stadtweit einheitlich vernetzten Infrastruktursystems angestrebt – ohne dass der Widerspruch dieses Ziels mit tatsächlichen urbanen Entwicklungsdynamiken oder die Frage, wie die Realisierung dieses Ziels finanziert werden soll, geklärt wären.
Trennkanalisation
Trennkanalisation
Mischkanalisation
Mischkanalisation
„Maximale Ausdehnung“
„Maximale Ausdehnung“
36-Gassen Gebiet
1 km
Abb. 56: Koloniale Abwasserplanung (Eig. Darstellung basierend auf Fayet 1939)
36-Gassen Gebiet
1 km
Abb. 57: Abwasserplanung 2009 (Eig. Darstellung basierend auf SRV/HPC 2009)
178
5. Abwasserentsorgung Hanois und Abwasserpolitiken Vietnams
5.4.2. Kontroverse um die Ausrichtung der Abwasserentsorgung Die Konzentration formeller Politik und Planung auf eine zentralisierte Abwasserentsorgung betrifft nicht nur den Ausbau des Techniksystems. Der in den letzten gut fünfzehn Jahren in Angriff genommene Ausbau des zentralen Abwasserentsorgungssystems ist vielmehr flankiert durch einen beständig wachsenden Gesetzeskörper über die finanziellen und organisatorischen Modalitäten von Ausbau und Management des geplanten Systems. Die formulierten Gesetze gehen von einem durch hierarchische Entscheidungen gesteuerten Planungsprozess sowie von einer klaren Trennung zwischen staatlichen und privaten Akteuren in Regulierung und Durchführung von Aufgaben aus. Mit den im Zuge des „Entwässerungsprojektes“ formulierten Maßnahmen zur Zentralisierung der technischen Infrastrukturen geht das Ziel der Vereinheitlichung der Wirtschaftsstruktur einher (vgl. SRV/HPC 2009). Das städtische Abwasserentsorgungsunternehmen soll – reguliert durch die Verwaltung und finanziert durch standardisierte Gebühren – Instandhaltung und Betrieb der vorgesehenen Anlagen übernehmen. Zudem werden die öffentlichen Verwaltungsorgane, denen das städtische Abwasserentsorgungsunternehmen unterstellt ist, als steuernde Kräfte an der Spitze der politischen Regelung der Abwasserentsorgung vorgestellt, die in der Folge ebenfalls durch hierarchische Entscheidungsfindung geprägt ist. Die vorgesehenen Änderungen bezüglich der baulich-technischen Artefakte sowie der Struktur der Leistungserbringung treffen jedoch auf Umsetzungsschwierigkeiten, die zunehmend Opposition gegen eine Zentralisierung hervorbringen. In der Analyse des Abwasserentsorgungssystems wurden die regulativen, technischen und organisatorischen Probleme in der Reinigung und der Ableitung des Abwassers erläutert. Die aktuelle Dynamik in der Regulierung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi weist auf bestehende Schwierigkeiten hin, die Kompetenzen der verschiedenen Verwaltungsebenen und Unternehmen in Regelung und Organisation der Abwasserentsorgung in geeigneter Weise festzulegen. Die Organisation der Septic Tank Leerung fällt in den Verantwortungsbereich der individuellen Haushalte, und öffentlichen Verwaltungen kommt formell nur eine Rolle als Kontrollorgane zu. Im Zuge des „Entwässerungsprojekts“ von der JICA, Volkskomitee Hanois und Nationalversammlung Vietnams wird jedoch das Septic Tank Subsystem ignoriert, das mit seinen eigenen auf Verhandlungen zwischen Kleinstunternehmern und Bevölkerung basierenden Regelungsformen den Zielvorstellungen des Projektes nicht entspricht. Als Problem kann die in den oberen Kapiteln analysierte Abweichung zwischen Vorstellung der Rolle staatlicher Akteure als die Gesellschaft steuernde Kraft und der Realität der Formen der politischen Regelung basierend auf Entscheidungsfindung durch Verhandlungen außerhalb formeller Regulierungen betrachtet werden (vgl. Kap. 3.5). Diese Abweichung spiegelt sich in den Prozessen der Siedlungsentwicklung wider, die zu der oben (Kap. 4.5.2) dargestellten räumlichen Vielfalt beitragen. Auf welche lokalräumlich differenzierten soziotechnischen Konstellationen die großmaßstäblichen Interventionen treffen würden und wie dies ihre Umsetzbarkeit beeinflussen könnte, wird im Rahmen des Projektes nicht thematisiert.
5.4. Zwischenfazit
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Aktuell bildet sich eine Opposition heraus, die diese Lücken und die aktuellen Umsetzungsschwierigkeiten des Entwässerungsprojektes aufgreift und eine Abkehr vom Leitbild der zentralen Abwasserentsorgung fordert. Vertreter_innen dieser Position finden sich in Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Wissenschaft – auch innerhalb des politisch-administrativen Systems Hanois und Vietnams ist die in dem aktuellen Plan sichtbare Ausrichtung auf eine Vereinheitlichung und Zentralisierung der Abwasserentsorgung keinesfalls Konsens (Interview Đỗ Tất Việt 2011). Im Zuge der Forderung nach einer Dezentralisierung wird davon ausgegangen, dass die vorgeschlagenen dezentralen Technologien mit einer Dezentralisierung der Organisation der Leistungserbringung einhergehen sollten. Entsprechend wird kaum auf die mögliche Rolle des städtischen Unternehmens in der Leistungserbringung eingegangen – diese wird vorrangig als Aufgabe lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen ohne direkte Anbindung an den Verwaltungsapparat konzeptualisiert. Folglich bleibt eine Auseinandersetzung mit den oben genannten aktuell in Hanoi bestehenden Formen der Leistungserbringung und den Regelungsproblemen der Abwasserentsorgung im städtischen Raum aus. Unter der Annahme, dass raumrelevante politische Regelungsprozesse Hanois zwar nur selten formalgesetzlicher Regulierung entsprechen, dass bestehende politisch-administrative Strukturen jedoch gleichzeitig von großer Relevanz für die Optionen und Restriktionen der Gestaltung urbaner Abwasserentsorgungsinfrastrukturen sind, können diese Konzepte also nicht als hinreichend für die Entwicklung des urbanen Abwasserentsorgungssystems Hanois betrachtet werden. Es zeigt sich also eine Zweiteilung der Strategien, die sich entweder allein auf die Zentralisierung oder die Dezentralisierung der Abwasserentsorgung konzentrieren, ohne die Vielfalt der Siedlungsentwicklungsprozesse und baulichen Strukturen in den Blick zu nehmen. Tatsächlich treffen die heutigen Aktivitäten und Planungen des Ausbaus der Abwasserentsorgungsinfrastrukturen nicht auf einen neutralen Raum, sondern auf heterogene, in vielfältigen Prozessen gewachsene Siedlungsstrukturen und werden sich folglich räumlich differenziert auswirken. Im folgenden Kapitel werden daher die in der historischen Analyse ermittelten charakteristischen Räume im Hinblick auf die dort vorzufindenden soziotechnischen Systeme der Abwasserentsorgung untersucht.
6. ZUSTAND UND WANDEL DER ABWASSERENTSORGUNG IN CHARAKTERISTISCHEN RÄUMEN HANOIS In diesem Kapitel werden die aufgrund der historischen Analyse identifizierten charakteristischen Siedlungsräume Hanois im Hinblick auf die lokale Baustruktur des Abwasserentsorgungsnetzes, die überirdischen baulich-räumlichen Strukturen, die Grundzüge der Leistungserbringung sowie die lokalen Ausprägungen der politischen Regelung im Abwassersektor und ihre Wahrnehmung durch die lokale Bevölkerung analysiert. Die aktuellen Dynamiken der Siedlungsentwicklung führen in ihren Auswirkungen auf das System der Abwasserentsorgung vor Augen, dass der hier analysierte Zustand der räumlichen Differenzierung keinesfalls statisch ist, sondern dass die Stadt Hanoi sich vielmehr in einem dauernden Veränderungsprozess befindet. Dieser Prozess bedingt die Charakterisierung der räumlich differenzierten Auswirkungen der Siedlungsentwicklung auf die Abwasserentsorgung Hanois. Sowohl die Analyse des aktuellen Zustands als auch der Entwicklungsdynamiken bilden den Grundstein für die Erörterung von Handlungsbedarf, Gestaltungspotenzial und Gestaltungsoptionen dieses Systems in Kapitel 7 (vgl. Tab. 4). 6.1. DER STADTKERN – ENGAGEMENT DER ÖFFENTLICHEN VERWALTUNGEN 36-Gassen Gebiet und französisches Viertel sind in unterschiedlichen Prozessen entstanden. Als „historischer Stadtkern“ wurden sie erst nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft zusammengefasst, während derer die vielfältigen Räume durch den Aufbau der unterirdischen technischen Netze vereinheitlicht wurden. Der Stadtkern weist noch heute eine Tendenz zu starker Verdichtung auf, v. a. im 36-Gassen Gebiet und im südlichen Teil des Kolonialviertels. Allein das Viertel der Botschaften im Gebiet der ehemaligen Zitadelle ist weiterhin durch eine lockere Bebauung mit herrschaftlichen Villen geprägt (vgl. z. B. Smith/Scarpaci 2000). Die Veränderungen der baulichen Struktur sind im ehemaligen französischen Viertel z. T. geleitet von seiner heutigen Funktion als Bürostandort für internationale Unternehmen und Organisationen (vgl. Kraas 2003). Räumlich schlägt sich diese neue Funktion in der Verbreitung von modernen solitären Hochhäusern anstelle der Villen oder Blockrandbebauung aus den Jahren 1880–1930 nieder. Gleichzeitig findet hier wie auch im heute wieder durch Handel belebten 36-Gassen Gebiet eine durch eine aggregative Verdichtung der ehemaligen Blockrandbebauung zu einer vollständigen Bebauung der durch Hauptstraßen definierten Blöcke statt. Im 36-Gassen Gebiet entsteht so eine extrem dichte Besiedlung – es stehen nur ca. 1,5 m2 pro Person zur Verfügung (Waibel 2003:36, vgl. Tab. 4).
181
6.1. Der Stadtkern
Tabelle 4: Prozesse der Siedlungsentwicklung in den charakteristischen Räumen seit der Kolonialzeit Lage
Stadtkern
Raumtyp
Stadtkern
Stadterweiterung Sozialistische urbane Wohnsiedlun- Dörfer und gen (KTT) inkrementelle Verdichtung
Stadtrand und suburbaner Raum New Urban Areas (KDTM)
peri-urbane Dörfer
Vorrangig stattfindende Prozesse der Siedlungsentwicklung Geplante Prozesse Aufbau
Kolonialzeit: Teil der gesamtstädtischen Planung; Finanzierung der Umsetzung durch Kredite Frankreichs Neubau ganzer Blöcke
Verdichtung
Sozialistische Stadtentwicklung: Teil der gesamtstädtischen Planung; Planung und Bau in der Hand staatlicher Institutionen
Inkrementelle Prozesse Verdichtung der Blockinnenräume
Verdichtung durch den Anbau von Wohnräumen
Inkrementelle Prozesse
Geplante Prozesse
Inkrementelle Prozesse
Haushalte bekommen auf vielfältigen Wegen (tlw. außerhalb rechtlicher Vorschriften, mit Toleranz oder Unterstützung der lokalen Verwaltungen) Land und bebauen dies/ heuern kleinere Bauunternehmen an.
Teil der gesamtstädtischen Planung/ Koalition mit Investitionsunternehmen (staatlich oder privat)
s. urbane Dörfer und inkrementelle Verdichtung Verdichtung
bisher keine
6.1.1. Das aktuelle System – Repräsentation des modernen Ideals Die im Stadtkern heterogenen überirdischen baulichen und sozialen Strukturen umfasst unter der Erde das in der Kolonialzeit errichtete, engmaschige Mischkanalisationsnetz. Dieses Netz wurde seit seiner Installation nur sporadisch instand gehalten und in der Ära der Planwirtschaft weitgehend vernachlässigt. So sind heute bei Regenereignissen auch Villen im Regierungsviertel von Überflutungen durch rückstauendes Wasser betroffen. Baulich-technische Struktur: unterirdische Kanäle und Septic Tanks Der Stadtkern ist nach wie vor weitgehend durch die für Hanoi typischen Tunnelhäuser oder Einzelhausbebauungen, wie etwa die Villen im Kolonialstil, geprägt und verfügt fast ausnahmslos über die unter den Gebäuden installierten Septic Tanks, die zumeist an das Entwässerungsnetz angeschlossen sind. Lokalen Befra-
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
gungen1 zufolge sind die in der französischen Zeit dem damaligen Stand der Technik entsprechend entwickelten Septic Tanks nur noch vereinzelt in Betrieb. Diese zeichnen sich zunächst durch die Einleitung der gesamten Fraktionen der Haushaltsabwässer aus und durch ein Filtersystem, das eine vergleichsweise gute Reinigung der Abwässer erlaubt. Zudem wurden diese Septic Tanks ehemals nicht als Bestandteil der Gebäude installiert, sondern im Straßenraum, da die meisten Gebäude nicht über eigene Toiletten verfügten. Dies vereinfachte die Leerung der Tanks, da sie von der Straße aus zugänglich sind, ohne dass ein privater Haushalt betreten und der Boden des Hauses aufgerissen werden muss, wie es bei den heute installierten Septic Tanks aufgrund der meist fehlenden Öffnung der Fall ist. Gleichzeitig vereinfacht der Zugang zu den Septic Tanks im öffentlichen Raum auch eine Verlagerung der Verantwortlichkeit über die Tanks in die öffentliche Hand. Ein Großteil der Gebäude wurde inzwischen allerdings neu errichtet und verfügt über die neue Form der Septic Tanks, in die allein das festere Schwarzwasser der Haushalte eingeleitet wird – was aufgrund der Verstopfungsgefahr den Einbau zu engmaschiger Filter verbietet – und deren Überlauf sich in der heute zumeist unterirdischen Entwässerung mit dem direkt eingeleiteten Grauwasser und dem Regenwasser mischt. Über das Entwässerungsnetz der Kolonialzeit fließen die Abwässer in den Roten Fluss. Zunehmend werden in diesem heterogenen Siedlungsraum auch Geschossbauten errichtet. Im geplanten Entwicklungsprozess werden ganze Straßenblöcke abgerissen und mit Hochhäusern zu Wohn- und Geschäftszwecken bebaut. Diese müssen laut Gesetz über komplexere dezentrale Abwasserreinigungstechnologien verfügen, deren Instandhaltung durch die Verwaltung regelmäßig zu prüfen ist. Leistungserbringung durch HSDC und Kleinunternehmen In der Instandhaltung des Kanalnetzes des Stadtkerns nimmt die HSDC eine zentrale Rolle ein. Dies bestätigten die befragten Haushaltsgruppenvorstände, die angaben, dass das städtische Unternehmen in dem auf der Halbinsel Ngũ Xã im Trúc Bạch See gelegenen Stadtteil rund alle zwei Monate Einstiegsschächte und alle sechs Monate den die Halbinsel vom Festland trennenden Kanal entschlammt, dessen Wasser u. a. aufgrund eines Brauereibetriebs im Quartier, der seine Abwässer ungereinigt einleitet, stark verunreinigt ist (vgl. Abb. 27 im Farbteil). Die Instandhaltung des tertiären Entwässerungsnetzes wird bei Bedarf von der Stadtteilverwaltung organisiert, die ein Bauunternehmen anheuert. Die Haushaltsgruppenvorstände haben hier vorrangig eine Informationsfunktion für die Stadtteilverwaltung, indem sie aus der Bevölkerung kommende Informationen über Probleme mit der Entwässerung weiterleiten. Darüber hinaus übernehmen sie eine Kontrollfunktion der Bauunternehmen, die Bauarbeiten am Entwässerungsnetz vornehmen. Nur in vereinzelten Fällen werden Reparaturarbeiten direkt durch die lokale Bevölkerung mittels der Vorstände der Haushaltsgruppen finanziert. Dies ist v. a. dann der Fall, wenn es sich um ein Problem handelt, das in den Augen der lokalen Vorstände ent1
Durchgeführt in Hàng Bông (Kolonialviertel direkt südwestlich des Hoan Kiem) in Ngũ Xã (Historische Altstadt, Halbinsel im Trúc Bạch See) sowie in der Phố Huế (Südliche Erweiterung des Kolonialviertels).
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6.1. Der Stadtkern
weder einfach zu beheben ist oder aber besonders schnell gelöst werden muss. Die lokale Bevölkerung nimmt im Stadtkern anders als in den anderen Stadtgebieten Hanois nicht mehr an wöchentlichen Arbeitseinsätzen zur Straßenreinigung teil, denn diese Aufgabe übernehmen die städtischen Abfallentsorgungsunternehmen (vgl. Abb. 58). Regierung Vietnam
Volkskomitee Hanoi Volkskomitee Volkskomitee Bezirk Bezirk
Auftrag Haushalt Leistungserbringung Auftrag Haushaltsgruppe Betrieb Auftrag Lokalverwaltung Betrieb Auftrag Provinzverwaltung Betrieb
Bauministerium Bauamt
URENCO HSDC Kleinbetrieb
Bauabteilung
Volkskomitee Volkskomitee Stadtteil Stadtteil Haushaltsgruppe Haushalt
Septic Tank
Haushaltanschluss Känäle, Flüsse (ARA)
Seen
Abb. 58: Das Abwassersystem in der inneren Stadt (Eig. Darstellung basierend auf HPC/SRV 2005; Lefevre et al. 2010; GHK 2005; Interview Việt Anh Nguyen 2009; Interview Leerungsunternehmen 2009; Leaf 1999)
Anders als das Entwässerungsnetz ist die Leerung der Septic Tank im Stadtkern zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren überlassen. Die Haushalte in einem Gebäude initiieren sie, sobald sie Probleme mit dem Überlauf durch Überfüllung bekommen – dies kann in Abhängigkeit von der Funktionsfähigkeit des lokalen Entwässerungsnetzes zehn Jahre und mehr dauern (TDP-SK 23 2011). Bewohner_innen beauftragen i. d. R. lokale Unternehmen, die auch mittels ortsansässiger Tochterunternehmen der städtischen oder teilprivatisierten Abwasser- und Abfallentsorgungsunternehmen kontaktiert werden können (Kap. 5.2.3). Öffentliche Verwaltungen sind zwar für die Kontrolle der Entsorgung der geleerten Schlämme durch die Leerungsunternehmen zuständig. Da es hinsichtlich der Leerungsintervalle wie oben (Kap. 5.2.4) erläutert keine Vorgaben für die in Gebäuden lebenden Haushalte oder Eigentümer_innen von Gebäuden gibt, kommen Verwaltung und Haushalte bezüglich der Nutzung der Septic Tanks kaum in Kontakt. Eine Ausnahme ist eine Informationsveranstaltung einer städtischen Gesundheitsbehörde in Ngũ Xã zur richtigen Verwendung von Chemikalien zum Abbau der Schmutzstoffe in Abwässern, die u. a. eine Senkung des Leerungsbedarfes der Septic Tanks bewirken sollen (TDP-SK 16 2011).
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
6.1.2. Entwicklungstendenzen – Ausbau unterirdischer Leitungen In Teilen des Stadtkerns wird aktuell das tertiäre Entwässerungsnetzes renoviert und ausgebaut. Die Zuleitungen zu den einzelnen Gebäuden werden gedeckelt und in den Untergrund verlegt (vgl. Abb. 28 und Abb. 29 im Farbteil). Dieser Ausbau, der im Zuge des oben diskutierten „Entwässerungsprojektes zur Verbesserung der Umweltsituation“ vorgenommen wird, fällt in die Zuständigkeit des jeweiligen Bezirks. Diese Sanierung wird von den befragten Haushaltsgruppenvorständen aufgrund der Baufälligkeit des veralteten Netzes in Kombination mit der rasanten Verdichtung und Entwicklung der oberirdischen Baustrukturen für die Funktionalität des Systems als wichtig eingestuft. Wird sie nicht vorgenommen, sind die Gassen des Stadtkerns aufgrund der ständigen Erhöhungen der Hauptstraßen durch neue Teerschichten von Überflutungen bedroht. So bemängelt ein Vorstehender einer in einer Nebenstraße gelegenen tổ dân phố im Stadtteil Phố Huế, dass seine mehrfachen Anfragen, die lokalen Überflutungen durch eine Sanierung des Entwässerungssystems zu beheben, von Seiten der Stadtteil- und Bezirksverwaltungen nicht nachgekommen wurde. Dies hängt laut dem Vorstehenden der Haushaltsgruppe damit zusammen, dass die Entwässerungskanäle durch die benachbarte sozialistische Wohnsiedlung (s.u.) führen, auf deren umfassenden Neubau die Verwaltung wartet, bevor sie mit lokalen Sanierungsprojekten fortfährt. Staatliche Regelung und Selbstorganisation – lokale Perspektive Die Erbringung von Infrastrukturleistung ist also im Bereich des lokalen Entwässerungsnetzes weitgehend durch die Lokalverwaltungen geregelt– zivilgesellschaftliches Engagement im Rahmen der Haushaltsgruppen beschränkt sich auf die Weitergabe von Informationen und die Kontrolle von professionellen Bauarbeiten. Die Beendigung der ehemals auch im Stadtkern üblichen Arbeitseinsätze der Bevölkerung brachte keine Veränderungen in der lokalen Umweltsituation mit sich, wurde also in den Augen der Haushaltsgruppenvorstände vollständig durch professionelle Leistungen kompensiert. Es besteht also dort, wo das dem modernen Infrastrukturideal folgende technische Netz verlegt wurde, auch die entsprechende – öffentlich organisierte – Leistungsstruktur. Die Bevölkerung des Stadtkerns ist in der besonderen Position, mit Infrastrukturdienstleistungen versorgt zu werden und sich über die monatliche Wasserrechnung hinaus kaum finanzielle Beiträge und keine Arbeitseinsätze zur Instandhaltung des Netzes leisten zu müssen. Dies steht in einem Gegensatz zu den die Septic Tanks betreffenden Leistungen, die als private Aufgabe der Haushalte verstanden werden, aus der sich die öffentlichen Verwaltungen weitgehend heraushalten. Die Einschätzung der befragten Haushaltsgruppen bezüglich der Funktionalität des bestehenden Systems ist trotz der als problematisch wahrgenommenen lokalen Überflutungen bei Regenereignissen weitgehend positiv. Grundlegende Zustimmung findet beides: sowohl das öffentlich geregelte System der netzbasierten Entsorgung von Regen- und Haushaltsabwässern als auch das durch lokale Selbstorganisation geprägte Septic Tank System. Dort, wo städtische Ämter Informationsveranstaltungen zur Handhabung der Septic Tanks durchführten, werden diese als
6.2. Die Stadterweiterung
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„heute die beste Lösung zur Abwasserreinigung Hanois“ gesehen (Interview TDPSK 16 2011). Diese Einschätzung wird bestärkt durch den von der Haushaltsgruppe aus in Sichtweite liegenden Trúc Bạch See, der trotz der 2004 im Rahmen des JICA Projektes gebauten Abwasserreinigungsanlage unverändert stark verschmutzt ist. Die Pilotanlage ist zwar nicht offiziell stillgelegt, doch wurde nur bis ca. 2007 beobachtet, dass die Schleusen zur Ableitung des gereinigten Wassers in den See sporadisch geöffnet wurden. Die Wirkungslosigkeit dieser Anlage lässt die lokale Septic Tank Technologie für die Anwohner in einem besseren Licht erscheinen, wenn diese auch tatsächlich kaum zur Reinhaltung des Abwassers beitragen kann. Der Stadtkern zeichnet sich durch Einverständnis zwischen lokaler Bevölkerung und Verwaltungen hinsichtlich der jeweiligen Zuständigkeiten in Instandhaltung und Ausbau des Abwasserentsorgungssystems aus. Wenn auch vereinzelt technische Probleme innerhalb dieses Systems bemängelt werden, wird es als Ganzes in seinen soziotechnischen Ausprägungen von den Beteiligten nicht infrage gestellt. 6.2. DIE STADTERWEITERUNG – ZWISCHEN SELBSTORGANISATION UND ÖFFENTLICHER REGELUNG Die Stadterweiterung ist das Gebiet zwischen Stadtkern und dem Tô Lịch Fluss als traditionelle Begrenzung Hanois. Hier finden sich die in der Ära der Planwirtschaft errichteten Großwohnsiedlungen und die urbanen Dörfer, die durch die inkrementellen Verdichtungen der 1990er Jahre zu einer dichten urbanen Struktur –der Erweiterung – verwebt wurden. Das Entwässerungsnetz der Erweiterung ist nicht komplett unterirdisch. Die Hauptkanäle Hanois– Tô Lịch, Kim Ngưu, Sét und Lừ – fließen hier anders als im Stadtkern, wie einige kleine Kanäle des sekundären und primären Entwässerungsnetzes auch, überirdisch (vgl. Abb. 30). Aktuell wird allerdings im Rahmen des JICA Entwässerungsprojektes auch hier die Deckelung der Hauptkanäle schrittweise vorgenommen. Die bauliche Struktur betreffend ist das Entwässerungsnetz im Vergleich zum Netz des Stadtkerns weitmaschiger und verästelt – der hierarchischen Struktur der den von Hauptstraßen abzweigenden Nebenstraßen zur Anbindung der Siedlungen folgend lässt sich hier auch beim Entwässerungsnetz eine Gliederung in primäres (Hauptkanäle), sekundäres (Entwässerungsgräben entlang Nebenstraßen) und tertiäres (Haushaltsanschlüsse, kleinere Gassen) Netz erkennen. Im Folgenden werden die Situationen in den zwei hier unterschiedenen charakteristischen Räumen in der Erweiterung, nämlich den sozialistischen Wohnsiedlungen und den urbanen Dörfern inklusive der Verdichtung erläutert. Diese benachbarten Räume gleichen sich aktuell aneinander an: während die einst im geplanten Prozess errichteten sozialistischen Wohnsiedlungen heute durch die städtischen Verwaltungen vernachlässigt werden und lokale Bevölkerungsgruppen nur mit Mühe ihrem Verfall entgegen wirken können, geht mit dem inkrementellen Wachstum der urbanen Dörfer eine schrittweise Aufwertung einher.
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
6.2.1. Wohnsiedlungen – Selbstorganisation als Notlösung Die in der Zeit der Planwirtschaft errichteten Wohnsiedlungen2 ähneln sich untereinander stark – sowohl im Hinblick auf die im Entwicklungsprozess beteiligten Akteure als auch das bauliche Ergebnis. Die Standardisierung dieser Siedlungen war das erklärte Ziel der Stadtverwaltung, nicht zuletzt um durch die Massenproduktion der Bauteile Baukosten zu reduzieren. Die fünfgeschossigen Wohnblocks wurden meist als Terrassenbauten errichtet, so dass rund 5 Wohneinheiten eines Stockwerkes durch ein Treppenhaus erschlossen werden. Zwei nebeneinander liegende Wohneinheiten sind spiegelbildlich konzipiert, so dass sie gemeinsame Ver- und Entsorgungsschächte nutzen. In einem fünfgeschossigen Gebäude sind also 10 Wohneinheiten an einen Septic Tank angeschlossen. Der Septic Tank selbst ist nicht unter dem Gebäude installiert, sondern vom Hof aus zugänglich (vgl. Abb. 31). Sowohl Grauwasser, also Abwässer aus der Küche und dem Bad als auch Schwarzwasser fließen in den Septic Tank. Der Überlauf fließt dann in das Entwässerungsnetz. Auch das tertiäre Entwässerungsnetz ist zwar unterirdisch, aber so installiert, dass es vom Hof aus durch Gullys zugänglich sein soll. Im tertiären Entwässerungsnetz werden die kommunalen Abwässer (vorgereinigt durch den Septic Tank) mit Regenwasser gemischt und fließen in die offenen Hauptkanäle. Merkmale der lokalen baulich-technischen Struktur Probleme ergeben sich aus nachträglich vorgenommenen Überbauungen, die den Zugang zum tertiären Entwässerungsnetz durch Gullys erschweren. Die Bewohner_innen Hanois, die oftmals in Großfamilien lebten, passten diese in der Größe auf eine Kernfamilie ausgerichteten Bauten an ihre Bedürfnisse durch Erweiterungen an. Die durch den Anbau von zusätzlichen Wohnräumen entstandenen so genannten birdcages prägen heute die Wohnsiedlungen (Waibel 2002:139). Wie oben dargestellt, befindet sich in der Wohnsiedlung Kim Liên durch die Installation eine lokale Abwasserreinigungsanlage, die zunächst zur Reinigung der lokalen kommunalen Abwässer vor Einleitung in den Lừ Fluss konzipiert wurde, dann aber aufgrund von Wartungsmängeln stillgelegt werden musste um im Rahmen des JICA Projektes erneut in Stand gesetzt zu werden – diesmal allerdings ohne eine vorherige Trennung der kommunalen Abwässer und des Regenwassers, was die Reinigungseffizienz der Anlage stark verringert. Grundzüge der Leistungserbringung Die Struktur der Leistungserbringung und der lokalen Regelung der Abwasserentsorgung in den Wohnsiedlungen heute ist entscheidend geprägt von den infolge von Đổi Mới veränderten Besitzstrukturen und den Plänen zum Abriss der Siedlungen (Interview Hoàng Anh Tuấn 2008). Die Stadtverwaltung übergab die Wohnungen 2
Untersucht wurden Wohnsiedlungen in unterschiedlichen Stadtgebieten: Phố Huế als die einzige Siedlung, innerhalb des während der Kolonialzeit urbanisierten Stadtkerns, Kim Liên als eine der ersten mit Unterstützung aus Nordkorea errichteten Siedlungen direkter Nähe zum Stadtkern; und Nghĩa Tân, eine Siedlung westlich des Tô Lịch Flusses, d. h. außerhalb der traditionellen Stadtgrenze.
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6.2. Die Stadterweiterung
in den Jahren nach Đổi Mới aus ihrem Besitz der Stadt an die Haushalte, so dass sie heute käufliche Eigentumswohnungen sind. Aktuell sieht die Stadtplanung vor, die Großwohnsiedlungen mittelfristig abzureißen und durch modernere Hochhaussiedlungen zu ersetzen. Verhandlungen zwischen diversen Bau- und Investitionsunternehmen, Stadtverwaltung und Bevölkerung um die städtebauliche Struktur laufen. Dabei befürworten die Investitionsunternehmen eine besonders dichte Bebauung, während die Stadtverwaltung aufgrund der bereits bestehenden Überlastung der sozialen und technischen Infrastrukturen zumindest bei der Großwohnsiedlung am Rande des Stadtkerns eine Begrenzung der Dichte vorsieht. Eigentümer_innen sehen die Umbaumaßnahmen aufgrund der aktuell maroden Bausubstanz, der Aussicht auf eine um das 1,5-fache vergrößerte Grundfläche der Wohneinheiten, die auch zu Spekulationszwecken genutzt werden können, grundsätzlich positiv. Gleichzeitig beharren sie auf Forderungen nach Freiflächen, Einrichtungen mit sozialen Infrastrukturen und Wohnungsgrößen, die das aktuelle Angebot der Bauunternehmen übersteigen (Interviews Lý Trực Dũng 2011; TDP-WS C1 2011; TDPWS 44 2011). Der Verhandlungsprozess in Nghĩa Tân etwa stockt seit rund fünf Jahren, ohne dass eine Einigung erzielt wurde. In der Zwischenzeit liegt es an den Haushalten selbst, sich um die Instandhaltung der Wohneinheiten zu kümmern (Interview TDP-WS C1 2011). Wie sich Bauprozess und Baustruktur der Wohnsiedlungen ähneln, so ähnelt sich auch die Struktur der Regelung und Leistungserbringung der Abwasserentsorgung innerhalb dieses Siedlungsraumes. Zu den lokal anfallenden Aufgaben gehört die Leerung der Septic Tanks sowie die Reinigung der Haushaltsanschlüsse und auf den Grundstücken verlaufenden Kanäle bei Verstopfungen und deren bauliche Instandhaltung. Diese werden vorrangig durch die in Haushaltsgruppen organisierte lokale Bevölkerung erledigt (vgl. Abb. 59). Auftrag Haushalt
Regierung Vietnam
Bauministerium
Volkskomitee Hanoi
Bauamt
Volkskomitee Bezirk Volkskomitee Stadtteil
URENCO HSDC Kleinbetrieb
Bauabteilung
Leistungserbringung Auftrag Haushaltsgruppe Betrieb Auftrag Provinzverwaltung Betrieb
Haushaltsgruppe Haushalt Septik Tank Haushaltanschluss Känäle, Flüsse (ARA)
Seen
Abb. 59: Das Abwassersystem in den Wohnsiedlungen (Eig. Darstellung basierend auf HPC/SRV 2005; Lefevre et al. 2010; GHK 2005; Interview Việt Anh Nguyen 2009; Interview Leerungsunternehmen 2009; Leaf 1999; Interviews TDP-WS 2011)
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
Die Haushaltsgruppen bestehen in den untersuchten Wohnsiedlungen aus einem Wohnblock und umfassen zwischen 55 und 104 Haushalte (Interviews TDP-WS C1; A4; B8; 44 2011). Im Falle der Leerung der Septic Tanks ist es meist eine der im Erdgeschoss lebenden Parteien, die eine Verstopfung oder Überfüllung des Septic Tanks am Abwasser, das sich in die Wohnung rückstaut, als erste bemerkt und eine Leerung fordert, woraufhin der Vorstehende der Haushaltsgruppe von allen in den Septic Tank einleitenden Haushalten Gelder sammelt und ein Leerungsunternehmen engagiert. Es erfolgt also nur dann eine Zahlung, wenn konkreter Handlungsbedarf besteht. Einem ähnlichen Prinzip folgt die Reparatur oder Reinigung der Haushaltsanschlüsse. Die an die jeweilige Leitung angeschlossenen Haushalte tragen finanziell zur Instandhaltung des lokalen Entwässerungssystems bei. Auch der Ausbau des sekundären Entwässerungsnetzes – die Verbindung zwischen Haushaltsanschluss und oftmals offenem Hauptkanal, für das formell die Stadtteil- oder Distriktverwaltung zuständig ist, wird sporadisch selbstorganisiert durchgeführt (TDP-WS A4 2011). Dies ist vor allem dann notwendig, wenn das ursprünglich installierte Netz aufgrund lokal vorgenommener Erweiterungen der Wohneinheiten nicht mehr zugänglich ist und ersatzweise ein Neues verlegt wurde. Nur in seltenen Fällen wird die zuständige Stadtteilverwaltung hinzugezogen. Dies erfolgt durch einen förmlichen Antrag, der über die Stadtverwaltung bis zum Bezirk geleitet wird, der aufgrund des ihm von der Stadt zur Verfügung gestellten Gesamtbudgets entscheidet, ob dem Antrag stattgegeben werden soll und der Stadtteil ein Bauunternehmen zur Behebung des jeweiligen Problems anheuert. Da dieser Prozess zeitaufwändig ist, wird er nur beschritten, wenn die Gelder der lokalen Bevölkerung nicht ausreichen, um das Problem zu beheben. Laut des Vorstehenden einer Haushaltsgruppe in Kim Liên geschieht dies nur dann, wenn die Kosten für die Reparatur höher als 2 Mio. VND (rund 75 Euro) sind (TDP-WS A4 2011). Die Vorstände der anderen Haushaltsgruppen gaben an, dass sie auf die Beantragung von Geldern bei der Stadtteilverwaltung verzichten, da diese sich ohnehin nicht um das jeweilige Gebiet kümmere: „Hier machen wir alles selbst“ (TDP-WS 44 2011), bzw. „seit ich hier Vorstehender bin, habe ich die Stadtteilverwaltung nicht gesehen“ (TDP-WS C1 2011). Diese Zurückhaltung der lokalen Verwaltungen stellte sich laut dem Vorstehenden der Haushaltsgruppe in Nghĩa Tân nach der Umwandlung der Wohnungen der Wohnblocks in Eigentumswohnungen ein (TDP-WS C1 2011). Wenn auch bis heute ein Tochterunternehmen der HSDC im Gebiet ansässig sei, so habe sie sich dennoch seither nicht mehr mit der Instandhaltung des Entwässerungssystems befasst. Dies entspricht der offiziellen Politik der HSDC, die sich aufgrund mangelnder Ressourcen nur um das primäre Entwässerungssystem in der Erweiterung kümmert. Dass die Stadtteil- und Bezirksverwaltungen kaum in Erscheinung treten, ist auf die Abrisspläne der Siedlungen (s.o.) zurück zu führen. Dabei schwächt der durch die fehlende professionelle Instandhaltung beschleunigte schrittweise Verfall der Siedlungen die Position der Haushalte, die gerade in den besonders heruntergekommenen Siedlungen den Umbau erwarten und von ihren Forderungen nach großen Freiflächen sowie angemessenen Wohnungsgrundrissen und sozialen Infrastrukturen innerhalb der neuen Siedlungen, die sie gegenüber Projektentwicklungs-
6.2. Die Stadterweiterung
189
organisationen und Stadtverwaltungen stellen, eher abzurücken bereit sind. Die Siedlung in der Nähe zum Stadtkern, Phố Huế, ist durch einen fortgeschrittenen Verfall der technischen Infrastrukturen gekennzeichnet: der Septic Tank vor dem Gebäude steht mitsamt der Abwasserentsorgungsleitungen offen, was zu einer starken Geruchsbelastung führt. Laut der Vorstehenden der Haushaltsgruppe des entsprechenden Wohnblocks ist allerdings nicht mit einer Reparatur zu rechnen –lokale Verwaltungen seien vor dem Umbau nicht bereit, in die Instandhaltung bestehender Strukturen zu investieren (TDP-WS 44 2011). Staatliche Regelung und Selbstorganisation – lokale Perspektive Die spezifischen Regelungsstrukturen des Bauprozesses der Wohnsiedlungen in der Zeit der Planwirtschaft unter Armutsbedingungen haben bestimmte Baustrukturen hervorgebracht. Dazu gehören die zunächst standardisierten Geschosswohnungen, die in der Folge durch die Bewohner_innen mittels Umbauten an ihre Bedürfnisse angepasst wurden, und die schlechte Qualität der Bausubstanz. Beide können als materielle Festigung der widerstreitenden Interessen von Verwaltung und Gesellschaft gesehen werden. Aus der lokalen Perspektive spiegeln sie das Scheitern des Versuches einer von oben gesteuerten Stadtentwicklung wider. Die baulichen Strukturen der aus Geschosswohnungen bestehenden Wohnsiedlungen bringen hinsichtlich des technischen Systems der Abwasserentsorgung komplexe Leitungssysteme innerhalb der Wohnblocks mit sich, deren Wartungsaufwand durch die nachträglichen Umbauten noch erhöht wird. Vor diesem Hintergrund ist der Rückzug der öffentlichen Verwaltungen aus diesen Siedlungen, die nach Đổi Mới ein veraltetes politisches System repräsentieren, aus lokaler Sicht problematisch. Mit der Privatisierung der Wohneinheiten fällt neben der regelmäßigen Zahlung der Wasserrechnung aufgrund der oben genannten Spezifika der Baustrukturen der Wohnsiedlungen ein erhöhter Organisations- und Finanzierungsaufand bei der Instandhaltung des Entwässerungssystems in die Zuständigkeit der Haushalte. Daher stehen sie in einem angespannten Verhältnis zu den lokalen Verwaltungen. 6.2.2. Urbane Dörfer – Vielfalt der Institutionen Urbane Dörfer verdichten sich im inkrementellen Prozess. Wie unten ausgeführt wird, wirkt sich dieser Prozess auf das System der Abwasserentsorgung in seinen technischen und sozialen Dimensionen aus. So hebt die Kontinuität dieses Entwicklungsprozesses den Unterschied in den Zuständigkeiten zwischen Ausbau und Instandhaltung des Systems der Abwasserentsorgung auf. Laut Schätzungen des Planungsamtes Hanois existierten 2008 228 urbane Dörfer (Interview Hoàng Anh Tuấn 2008). Während die urbanen Dörfer städtebaulich mit den schmalen, eng beieinander stehenden Gebäuden und schmalen Gassen vietnamesische Eigenart aufweisen, so ist die Architektur der einzelnen Gebäude oftmals an den Kolonialstil angelehnt. Wie Logan (2009:88) anmerkt, manifestiert sich hier die heutige, hybride Kultur Vietnams.
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
Die Baustruktur des Entwässerungsnetzes Die urbanen Dörfer3 und die inkrementelle Verdichtung bringen eine Struktur des gebauten Raumes mit sich, in dem Freiflächen fast ausschließlich in Form von Seen und Teichen, Flüssen oder Gassen bestehen (vgl. Abb. 33 im Farbteil). Das Wasser ist also zusammen mit der extrem dichten Bebauung durch die etwa drei Meter breiten und rund drei bis fünf Stockwerke hohen direkt nebeneinander stehenden Häuser das maßgebliche Gestaltungselement in diesem charakteristischen Raum. Entsprechend folgen die Entwässerungsleitungen der Straßenstruktur, die sich durch die oben dargestellte hierarchische Verästelung der Straßen auszeichnet die sich in primär, sekundär und tertiär unterteilen lassen (Kap. 5.2.1). Die meist in Verbindung mit Pagoden bestehenden Seen und Teiche erfüllen neben der ästhetischen Funktion auch die der Regenrückhaltung. Aktuell besteht der Plan, die lokalen Dörfer mit einer Trennkanalisation auszustatten. Kanäle, die Abwasser aus Haushalten führen, sollen direkt in die Flüsse geleitet werden und das Regenwasser durch getrennte Leitungen in die Seen (Interview Trần Huy Ánh 2009). Damit einher geht das von der Stadtverwaltung in Zusammenarbeit mit der JICA entwickelte Konzept der Deckelung der Kanäle. Merkmale der lokalen baulich-technischen Struktur Die für die urbanen Dörfer und die inkrementelle Verdichtung typischen extrem verdichteten Reihenhäuser verfügen in der Regel über einen unter den Gebäuden installierten Septic Tank. Der Anteil der Gebäude mit Septic Tanks in den urbanen Dörfern ist heute auf 80 – 100% zu schätzen, ohne dass es verlässliche Erhebungen gäbe (Interview Nguyễn Quang 2009). Der Anteil der Gebäude mit Septic Tanks nimmt mit der Nähe des Dorfes zum Stadtkern zu. In die Tanks wird nur das Schwarzwasser eingeleitet, während das Grauwasser direkt auf die Straße oder in das Entwässerungsnetz fließt. Gibt es im Dorf keinen Anschluss an ein Entwässerungsnetz, wird das Grauwasser und der Überlauf aus dem Septic Tank direkt auf die Straße geleitet, während ein Teil der im Septic Tank befindlichen löslichen Stoffe im Untergrund versickert und ein Teil der Feststoffe im Tank bleibt und gelegentlich geleert wird (TDP-UD 14 2011, Schuttenbelt et al. 2009). Grundzüge der Leistungserbringung Die Leistungsstruktur in den urbanen Dörfern und der Verdichtung ist durch den Prozess der Siedlungsentwicklung geprägt. Dieser inkrementelle Prozess ist dadurch charakterisiert, dass er keinen festen Anfangs- oder Endpunkt hat, sondern schrittweise vorangeht. Dies spiegelt sich insofern in der Leistungserbringung der Abwasserentsorgung dieser Dörfer wider, als dass eine Aufhebung des Unterschiedes zwischen Ausbau und Instandhaltung des Netzes zu beobachten ist. Anders als 3
Es wurden Dörfer ausgewählt, deren Inklusion in den administrativ städtischen Raum zu unterschiedlichen Zeiten stattfand. Đội Cấn liegt zentral an der Grenze des Stadtkerns. Hạ liegt am Westufer des Tô Lịch, direkt außerhalb der traditionellen Stadtgrenze im Cầu Giấy Bezirk, dessen Entwicklung heute durch Neubauprojekte geprägt ist. Hạ Đình liegt auch am Tô Lịch, jedoch weiter stadtauswärts und ist wie das Dorf Giáp Bát in der südlichen Erweiterung geringerem Urbanisierungsdruck durch Neubauprojekte ausgesetzt.
6.2. Die Stadterweiterung
191
in den formell geplanten Gebieten ist im Hinblick auf die Akteure und Institutionen kein Unterschied zwischen Aufbau, Ausbau und Instandhaltung der Netze zu erkennen: alle Tätigkeiten werden durch die gleichen Akteure durchgeführt. Mit der Eingemeindung gehen die Verantwortlichkeiten für Ausbau und Instandhaltung der Netze auf den neu gegründeten städtischen Bezirk und Stadtteil über. Zu diesem Zweck bekommt der Bezirk von der Stadtverwaltung ein Budget zugewiesen, finanziert aus Steuergeldern und ggf. Zuschüssen internationaler Organisationen (vgl. GHK 2005). Je nach Größe des Bauprojektes stellt der Bezirk direkt ein Bauunternehmen ein, oder er leitet das Geld an den Stadtteil weiter, der dann das Projekt verwaltet. Im Bezirk Cầu Giấy etwa wurde hierfür eine eigene Abteilung für das „Management and Improvement of Infrastructure“ eingerichtet, das Gelder aus dem städtischen Haushalt für Ausbau und Instandhaltung der Infrastrukturen in den urbanen Dörfern bekommt (Interview Lê Văn Tàu 2011). Hinsichtlich der Beteiligung der lokalen Bevölkerung an Arbeiten am Entwässerungsnetz gab nur der Haushaltsgruppenvorstehende in dem erst kürzlich eingemeindeten Hạ Đình an, bei kleineren Problemen direkt aus der Haushaltsgruppe Gelder zu sammeln und diese in die Reparatur des Netzes zu investieren: „Wenn hier die Kanäle verstopfen, machen wir das selbst“ (TDP-UD 14 2011). In dieser Haushaltsgruppe werden kleinere Reparaturen von unter 3 Mio. VND (gut 110 Euro) von den Haushalten selbst finanziert, bei Summen darüber wird eine Anfrage an den Stadtteil gestellt. Um größere Reparaturen mit Kosten ab rund 10 Mio. VND (gut 370 Euro) kümmert der Bezirk sich (TDP-UD 14 2011). In allen anderen Haushaltgruppen leisten die Haushalte keine finanzielle Unterstützung von Ausbau und Instandhaltung des Entwässerungsnetzes. Die Haushalte aller urbanen Dörfer – bis auf das Dorf im Regierungsbezirk Ba Đình – werden allerdings zu wöchentlichen Reinigungsaktionen aufgerufen. Das Entwässerungssystem ist dann Teil der Aktion, wenn es offen ist. Mit der Deckelung der Entwässerungskanäle entlang der Gassen sind die dann unterirdischen Leitungen für Bewohnergruppen nicht mehr zugänglich und fallen damit auch aus ihrer Zuständigkeit (vgl. Abb. 60; TDP-UD 14 2011; TDP-UD 14a 2011; TDP-UD 20 2011). Das städtische Unternehmen HSDC ist in der gesamten Stadterweiterung allein für die Entschlammung der Kanäle entlang der Hauptstraßen zuständig. Nur an den Hauptstraßen besteht damit eine Unterscheidung zwischen Ausbau und Instandhaltung: für den Ausbau der Straßen und damit auch der Kanäle ist das Straßenbauamt zuständig, so dass die HSDC allein die Entschlammung der Kanäle, also die Instandhaltung gewährleisten muss. Auch das Septic Tank System weist eine Differenzierung der Zuständigkeiten für die Leerung aufgrund der räumlichen Struktur auf (Interview Lai Mạnh Tiến/ Nguyễn Đăng Tuấn 2009). So werden nur die Septic Tanks der öffentlichen Gebäude an den größeren Straßen durch das von der Bezirksverwaltung engagierte Abfallunternehmen geleert – in Nebenstraßen erbringen Kleinunternehmen diese Leistung, die auf die engen Gassen ausgelegte Werkzeuge haben.
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
Regierung Vietnam
Bauministerium
Volkskomitee Hanoi
Bauamt
Volkskomitee Bezirk Volkskomitee Stadtteil
URENCO HSDC Kleinbetrieb
Bauabteilung
Haushaltsgruppe
Auftrag Haushalt Leistungserbringung Auftrag Haushaltsgruppe Betrieb Auftrag Lokalverwaltung Betrieb Auftrag Provinzverwaltung Betrieb
Haushalt Septik Tank Haushaltanschluss Känäle, Flüsse
Seen
Abb. 60: Das Abwassersystem in den urbanen Dörfern (Eig. Darstellung basierend auf HPC/SRV 2005; Lefevre et al. 2010; GHK 2005; Interview Việt Anh Nguyen 2009; Interview Leerungsunternehmen 2009; Leaf 1999; Interviews TDP-UD 2011)
Staatliche Regelung und Selbstorganisation – lokale Perspektive Das Entwässerungsnetz weist abhängig vom Ausbaugrad des Netzes vielfältige Strukturen der Leistungserbringung mit starken Unterschieden im Einsatz finanzieller Ressourcen und Arbeit durch die Bevölkerung auf. Die Abwasserentsorgung ist heute nur beschränkt durch die lokale Bevölkerung selbstorganisiert. Dies ist dann der Fall, wenn etwa die Haushaltsgruppen selbst entscheiden, unter welchen Umständen sie Instandhaltung und Ausbau der Kanäle selbst finanzieren. Die wöchentlichen Reinigungskampagnen weisen auf selbstorganisiertes Engagement der Bevölkerung hin, da sie von den Haushaltsgruppen initiiert und kontrolliert werden. Gleichzeitig funktionieren sie jedoch auch in großer Nähe zu staatlichen Organisationen auf der lokalen Ebene der Stadtteile, die ebenfalls eine Kontrollfunktion ausüben. Beide Formen des Engagements der lokalen Bevölkerung – der Beitrag finanzieller Ressourcen und die Reinigungsaktionen – sind abhängig vom Ausbaugrad des lokalen Netzes. Je weiter das Netz ausgebaut ist, desto stärker professionalisiert sich der Betrieb. Dies steht wie im Stadtkern in einem Gegensatz zu den Septic Tank betreffenden Leistungen innerhalb aller urbaner Dörfer. Sowohl der Ausbau des Septic Tanks als integraler Bestandteil des inkrementellen Prozesses der Siedlungsentwicklung als auch die Leerung der Tanks sind weitgehend selbstorganisiert. Die Leerung ist aufgrund der baulichen Struktur der Reihenhäuser, in denen jeweils ein Haushalt lebt, anders als in den Wohnsiedlungen und den New Urban Areas nicht lokal kollektiv organisiert.
6.2. Die Stadterweiterung
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6.2.3. Tendenzen der Netzentwicklung – Ausbau und Verfall In der Erweiterung haben sich die sozialistischen Wohnsiedlungen und die urbanen Dörfer in den 1990er Jahren durch die inkrementelle Verdichtung zu einer vergleichsweise einheitlichen urbanen Struktur verwoben. Die durch die Stadtverwaltung organisierte Sanierung der Entwässerungskanäle im Rahmen des Umweltprojektes mit der japanischen Entwicklungsagentur trägt weiter zur Annäherung der beiden charakteristischen Räume bei. Die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte Untersuchung auf der lokalen Ebene zeigt jedoch Unterschiede im Hinblick auf die Entwicklung der lokalen Abwasserentsorgungsnetze und v. a. den Einsatz der öffentlichen Verwaltungen, die zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen lokaler Bevölkerungsgruppen bezüglich der Funktionalität der Abwasserentsorgung führen und die Handlungsbedarf mit sich bringen. Wie oben erläutert, vernachlässigen die öffentlichen Verwaltungen die sozialistischen Wohnsiedlungen heute weitestgehend. So stagniert aktuell der Ausbau des Abwasserentsorgungssystems in Ermangelung städtischer Sanierungsmaßnahmen, während die Gebäude selbst außerhalb gesamtstädtischer Planung durch Anbauten erweitert werden – was wiederum die lokal organisierte Instandhaltung des Systems erschwert (vgl. Abb. 32 im Farbteil). Dies führt zu erheblichem Problemdruck der dort ansässigen Bevölkerung. Dies stellt sich in den urbanen Dörfern und der inkrementellen Verdichtung anders dar. Als Teil des Stadtentwicklungsprozesses, der sich durch einen ständigen Ausbau der Strukturen auszeichnet, ohne dass im Vorwege ein Punkt der Fertigstellung definiert ist, wird auch das Abwassernetz schrittweise immer weiter ausgebaut und an Änderungen der lokalen Bedingungen angepasst (vgl. Abb. 35). Für das lokale Entwässerungsnetz relevante Veränderungen können von Akteuren innerhalb und außerhalb des jeweiligen Dorfes initiiert werden. Ein Faktor für den lokalen Ausbaugrad der Netze in den verschiedenen urbanen Dörfern ist der Zeitpunkt der formellen Aufnahme der Dörfer in das Verwaltungssystem der Stadt sowie spezifische Interessen staatlicher Institutionen. Die Aufnahme in das städtische Verwaltungssystem ist durch die schrittweise Erweiterung der administrativen Grenzen in den letzten Jahrzehnten erfolgt. Mit der Eingemeindung professionalisiert sich der Ausbau des Entwässerungsnetzes; je länger dieser Zeitpunkt her ist, desto weiter ist der Ausbau vorangeschritten und das Management professionalisiert. In dem direkt neben der Zitadelle und damit dem heutigen Regierungssitz gelegenen Dorf Đội Cấn etwa findet sich bereits seit dem Ende der Kolonialzeit ein gut ausgebautes Entwässerungsnetz mit mittig unterhalb der Gassen verlaufenden, ca. 2 m hohen Kanälen (vgl. Abb. 34). Dieser gute Zustand des Entwässerungsnetzes bei gleichzeitigem Erhalt der überirdischen baulichen Strukturen, die seit vorkolonialen Zeiten im inkrementellen Prozess gewachsen sind und erneuert wurden, führt zu einer großen Zufriedenheit der befragten Vorstehenden der Haushaltsgruppen. Diese schätzen sowohl ihre Beziehung zu öffentlichen Verwaltungen als auch die Lebensqualität im Dorf als positiv ein – dies ist der Fall auch wenn die baulichen Strukturen aufgrund der Nähe zum Stadtkern extrem verdichtet sind (TDP-UD 20 2011; TDP-UD 19 2011). Der bauliche Zustand des Entwässerungsnetzes ist nicht zuletzt
194
6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
auf die Interessen der Verwaltungen auf unterschiedlichen Ebenen zurückzuführen. Das Dorf direkt neben dem Regierungssitz erfährt besondere Aufmerksamkeit vom Bezirk Ba Đình, da eine lokale Überflutung aufgrund der leicht erhöhten Lage des Dorfes auch den Regierungssitz und das Ho Chi Minh Mausoleum unter Wasser setzen könnte (TDP-UD 20 2011). Damit stellt dieses Dorf aufgrund seiner Lage mit direkter Nähe zum Stadtkern eine Ausnahme dar. Die unterirdischen Entwässerungskanäle in erst vor wenigen Jahrzehnten oder Jahren eingemeindeten Dörfern entlang des Tô Lịch wurden hingegen erst innerhalb der letzten drei Jahre errichtet (TDP-UD 14a 2011; TDP-UD 14 2011; Interview Lai Mạnh Tiến/ Nguyễn Đăng Tuấn 2009). Die Haushaltsgruppen in allen Dörfern sich zeigen mit dem Fortgang des lokalen Netzausbaus und der Zusammenarbeit der staatlichen und gesellschaftlichen Akteure und der gesamten Lebensqualität weitgehend zufrieden, sofern sie nicht etwa mit dem Abriss oder der Überflutung ihres Dorfes aufgrund von Neubauplänen rechnen müssen. In den Worten einer Haushaltsgruppenvorstehenden in einem urbanen Dorf nahe dem Stadtkern „Hier ist es nicht so voll wie in der Innenstadt […]. Hier scheint noch die Sonne.“ (TDP-UD 19 2011). Laut einem Vorstehenden einer Haushaltsgruppe eines Dorfes am äußeren Ran der Erweiterung ist die Versorgung mit technischen Infrastrukturen gut und es gibt keine Probleme (TDP-UD 14). Die Bezirks- und Stadtverwaltungen sehen die Dörfer hingegen als große Herausforderung für die Stadtentwicklung Hanois (Interviews Lai Mạnh Tiến/ Nguyễn Đăng Tuấn 2009; Lê Văn Tàu 2011). Gerade auf der Ebene der formell für die urbanen Dörfer zuständigen Bezirksverwaltungen ist nach wie vor die Frage offen, wie der den Modernisierungsplänen der Stadt entsprechende Ausbau der Trennkanalisation in einem Raum verwirklicht werden kann, der sich durch einen inkrementell Entwicklungsprozess auszeichnet und eine durch lokale Gruppen ausgebaute Mischkanalisation aufweist. Der Ausbau der Trennkanalisation müsste im Nachhinein durchgeführt werden, ein Vorhaben, das aufgrund seiner technischen Komplexität Finanzierungsprobleme mit sich bringt (Interview Lê Văn Tàu 2011). Dieses Problem der Finanzierung des Netzausbaus wird zum Teil gelöst, indem ganze Dörfer abgerissen und durch stark verdichtete Geschosswohnungsbauten ersetzt werden. Entsprechende Neubausiedlungen sind so konzipiert, dass sie Wohnraum potenziell sowohl für die Bevölkerung des ehemaligen Dorfes als auch für weitere Personen bieten. Für ihre Errichtung stehen Investitionsunternehmen bereit, die aufgrund der hohen Immobilienpreise wirtschaftliche Gewinne erwarten. Während dieses Vorgehen der Ratio von Verwaltungen und Investitionsunternehmen entsprechend eine Problemlösung darstellt, liegt auf der Hand, dass es aus Sicht der lokalen Bevölkerung aufgrund der krassen Veränderungen der Lebenssituationen durchaus problematisch sein kann. Befragte Vorstehende von Haushaltsgruppen zeigten sich dieser Möglichkeit gegenüber jedoch zunächst aufgeschlossen (Interview TDP-UD 20 2011; Interview TDP-UD 14 2011). Zusammenfassend zeigt sich hier, dass die in der Stadterweiterung befindlichen sozialistischen Wohnsiedlungen weitgehend durch die Vernachlässigung der – von vornherein in „oberflächlicher“ Weise installierten – lokalen technischen Strukturen der Abwasserentsorgung durch öffentliche Verwaltungen geprägt sind. Der
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
195
durch diese Vernachlässigung fortschreitende Verfall dieser Systeme wirft für lokale Bevölkerungsgruppen Probleme auf, da sie mit der Instandhaltung der einst im geplanten Prozess errichteten baulich-technischen Strukturen überfordert sind. In den direkt benachbarten urbanen Dörfern hingegen findet ein nachträglicher Ausbau des Abwasserentsorgungssystems statt. Dieser wird von der Bevölkerung in der Regel als positiv betrachtet. Für die öffentlichen Verwaltungen bringt er jedoch Finanzierungsprobleme mit sich, was ihre Motivation zum kompletten Abriss und Neubau von Siedlungen auch innerhalb des bereits stark verdichteten urbanen Raumes im Zuge von Wachstumskoalitionen erhöht (vgl. Kap. 4.4.2). 6.3. STADTRAND UND SUBURBANER RAUM – KONTRASTE UND DYNAMIK Am Stadtrand und im suburbanen Raum4 finden aktuell sehr dynamische Urbanisierungsprozesse statt. Einerseits werden v. a. am Stadtrand und zunehmend auch im suburbanen Raum gesamtstädtisch geplante Stadtentwicklungsgebiete, so genannte New Urban Areas errichtet, wofür zum Teil urbane oder peri-urbane Dörfer weichen müssen. Gleichzeitig sind die peri-urbanen Dörfer im Prozess der Urbanisierung begriffen, wobei sich die Baustrukturen schrittweise verdichten. An dieser Stelle wird zunächst die Vielfalt der Abwasserentsorgungsinfrastrukturen in den New Urban Areas eingegangen, gefolgt von einer Erläuterung der Abwasserentsorgung in den peri-urbanen Dörfern im suburbanen Raum. Schließlich werden die Friktionen zwischen den hier vorgestellten charakteristischen Räumen und die Auswirkungen auf die Abwasserentsorgung anhand eines Beispiels illustriert. 6.3.1. New Urban Areas – Eigene Topologie der Abwasserentsorgung Im Bau der New Urban Areas kommt das aktuell gültige formalrechtliche Planungsinstrumentarium zur Anwendung; es soll die Effizienz des heutigen Systems der Stadtentwicklungsplanung demonstrieren. 192 neue Wohnsiedlungsprojekte sind seit 1998 geplant, 156 davon wurden bis 2008 umgesetzt (Interview Hoàng Anh Tuấn 2008). In den New Urban Areas werden lokalspezifische „Satellitensysteme“ der Abwasserentsorgung geschaffen, deren soziotechnische Ausprägungen sich von den in anderen Räumen Hanois vorzufindenden Systemen grundlegend unterscheiden (vgl. Letema et al. 2012). Diese Systeme, ihre Auswirkungen auf andere Siedlungsräume Hanois und ihre Rolle in der weiteren Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems Hanois werden in den folgenden Kapiteln erläutert.
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Als Stadtrand werden hier die in den 1990er und 2000er Jahren bereits administrativ in die Stadt aufgenommenen Bezirke verstanden, während der suburbane Raum zwar starkem Verstädterungsdruck unterliegt, aber Ende 2011 formell noch zu den ländlichen Bezirken Hanois zählte (vgl. JICA/HPC 2007).
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
Die Baustruktur des Entwässerungsnetzes Wie der Name „New Urban Area (Khu đô thị mới)“ impliziert, ist dieser Raumtyp dem Eindruck der überirdischen Bebauung nach von der mehr oder weniger dicht besiedelten Umgebung isoliert5. Auch das Entwässerungsnetz ist nur direkt unterhalb der New Urban Areas gut ausgebaut. Dem Stand der Technik entsprechend verlaufen die Leitungen mittig unterhalb der Straße und enden dann am Rande der Baugebiete, wo sie entweder auf ein lokal errichtetes Entwässerungssystem in urbanen oder peri-urbanen Dörfern (s.u.) oder offene Gewässer treffen. Grundsätzlich ist die Ableitung des Abwassers aus den New Urban Areas auf dem ebenen Grund Hanois eine Herausforderung – neue Siedlungen sind wie die umliegenden Gebiete bei Starkregen gelegentlich von Überflutungen betroffen. Zur Vermeidung des Überflutungsrisikos wurde in den untersuchten New Urban Areas der Baugrund aufgeschüttet, u. a. in Verbindung mit einer direkten Entwässerung in einen See, in ein lokal eingerichtetes Feuchtgebiet, oder etwa mit dem Bau eines Stichkanals zum Roten Fluss zur Beschleunigung des Durchflusses (Interviews Trần Huy Ánh 2009; TDP-NUA 3 2011; TDP-NUA 6 2011). Alle diese Konzepte haben gemeinsam, dass sie selten das gesamte Flusssystem Hanois ins Auge fassen und sich stattdessen auf die lokale Situation in den New Urban Areas konzentrieren. Wie unten (Kap. 6.3.1) dargestellt wird, ist diese isolierte Planung dann problematisch, wenn die New Urban Area an dicht besiedelte Räume grenzt, deren – oftmals inkrementell errichtete – Netze nicht auf die zusätzlichen Wassermengen ausgelegt sind und die daher überflutet werden. Merkmale der lokalen baulich-technischen Struktur Die lokalen baulich-technischen Strukturen der New Urban Areas unterscheiden sich nach Baualter und Projektentwicklungsunternehmen – insbesondere die staatliche Housing and Urban Development Corporation (HUD), die sich mit der Projektentwicklung befasst, verfolgt einen wiedererkennbaren Stil mit einheitlichen Wohnhochhäusern, die oftmals auch als Umsiedlungsgebiete errichtet werden (vgl. Abb. 36). Die durch internationale Unternehmen errichteten New Urban Areas wie etwa Ciputra und Yên Sở weisen dagegen mit der Anlehnung an koloniale Architektur luxuriös wirkende Stilelemente auf (Abb. 37). Gemeinsam haben alle New Urban Areas die städtebauliche Form mit einer Mischung aus Hochhäusern mit Geschosswohnungen und Einzel- oder Reihenhausbebauung, im Baustil angelehnt an die Villen der Kolonialzeit mit vergleichsweise breiten Bürgersteigen und großzügigen Grünflächen. Technische Infrastrukturen sind weitgehend unsichtbar, Leitungen und Anlagen zur Abwasserentsorgung liegen i. d. R. im Untergrund und fallen nur ausnahmsweise, wie etwa während Starkregenereignissen, auf. Für die Entwicklung der lokalen Reinigungstechnologien ist eine Änderung in der Gesetzeslage Ende der 2000er Jahre relevant, die eine Reinigung des Abwassers über die Septic Tanks hinaus vor der Einleitung in den Vorfluter vorschreibt (Inter5
Untersucht wurde eine Auswahl der im suburbanen Raum südlich und westlich Hanois errichteten und geplanten New Urban Areas mit verschiedenen Bauherren: Trung Hoà Nhân Chính, Linh Dam, Mỹ Đình II gebaut von staatlichen bzw. halbstaatlichen Unternehmen; Ciputra, Yên Sở gebaut von internationalen Unternehmen.
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
197
view Vũ Bá Đạt 2010). Dieser Vorgabe wird allerdings bisher nur sporadisch nachgekommen, in der Regel verfügen die 2008 gut 150 der geplanten und errichteten New Urban Areas über die gewöhnliche Septic Tank Technologie mit einer direkten Einleitung in das lokale Entwässerungsnetz (Interview Trần Huy Ánh 2011). Darüber hinaus werden unter Hochhäusern oder Gruppen von Hochhäusern dezentrale Reinigungsanlagen installiert, die mit effizienteren Technologien ausgestattet sind als Septic Tanks (Interviews Đỗ Tất Việt 2011 und Vũ Bá Đạt 2010). Zu den Ausnahmen gehört die Siedlung Mỹ Dinh II, in der die lokalen Abwässer nach den Septic Tanks vor der Mischung mit Regenwasser eine lokale Abwasserreinigungsanlage mit einem Volumen von 1.300 m3/Tag durchfließen, woraufhin sie in ein lokales Feuchtgebiet geleitet werden (TDP-NUA 6 2011). Die Reinigungswirkung dieser Anlage – durch die die in Septic Tanks vorgereinigten Abwässer und Regenwasser fließen – wird sowohl vom befragten Vorstehenden der Haushaltsgruppe (TDP-NUA 6 2011) als auch vom Mitarbeiter des Zentrums zur Instandhaltung und Verwaltung urbaner Infrastrukturen von Cầu Giấy, Herrn Lê Văn Tàu als gering eingestuft (Interview Lê Văn Tàu 2011). Im Rahmen des Baus der New Urban Area Yên Sở errichtete ein malaysisches Unternehmen eine konventionelle Abwasserreinigungsanlage unter Verzicht auf gebäudebasierte Technologien (Interview Wyeren Yap 2010). Dafür erhielt sie im Zuge des „land for plant“ Handels die Bodennutzungsrechte ohne Gegenleistung, also eine geldwertgleiche Unterstützung, durch die Stadtverwaltung. Die Lage des Stadtentwicklungsgebietes an der im Süden gelegenen Yên Seenlandschaft, in die die Hauptkanäle Hanois nach der Durchquerung des gesamten Stadtgebietes entwässern, und die entsprechend verschmutzt ist, macht für die Errichtung moderner Wohneinheiten mit Seeblick die Reinigung des Wassers notwendig. Dies ist der Hauptzweck der Anlage, die gleichzeitig auch zur Reinigung der Abwässer der Haushalte der Siedlung dient. Diese sind mittels Trennkanalisation an die Anlage angeschlossen. Vielfalt der Leistungserbringung Über die noch immer verbreiteten Septic Tanks hinaus findet sich also eine weite Spanne von Konzepten zur Reinigung der lokalen Abwässer von New Urban Areas – dezentrale, gebäudebasierte Systeme, die als Weiterentwicklung der Septic Tank Technologie verstanden werden können sowie siedlungsbasierte semizentrale Anlagen mit unterschiedlichen Reinigungsverfahren, von rein mechanischer Reinigung zu mehr oder weniger naturnahen biologischen Verfahren. Diese diversen Technikstrukturen sind eingebettet in unterschiedliche Strukturen der Leistungserbringung und politischen Regelung. Die Leistungsstruktur in den bestehenden und geplanten New Urban Areas ist vielfältig – es finden sich privatwirtschaftliche, öffentliche und selbstorganisierte Formen der Leistungserbringung. Ein Modell ist die Übernahme der Leistungserbringung durch das Projektentwicklungsunternehmen. Die formell privatisierte, jedoch materiell im Besitz des Bauministeriums befindliche HUD etwa übernimmt in den von ihr errichteten Siedlungen auch die lokale Wasserver- und Abwasserentsorgung. Infolge eines Disputes zwischen HUD und dem städtischen Wasserversorger ist die dem Bauministerium
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
untergeordnete HUD zu den städtischen Ver- und Entsorgungsunternehmen in Konkurrenz getreten. Da keine Einigung über die Abnahmegebühr für das Wasser aus den städtischen Leitungen getroffen werden konnte, wurden in den von der HUD errichteten Siedlungen eigene Brunnen zur lokalen Wasserversorgung gebohrt. Mit ca. 100 bis 200 m Tiefe erreichen sie den zweiten Aquifer unterhalb Hanois und damit qualitativ hochwertiges Wasser (Interview Frank Pogade/Christian Henschel 2011). Die Brunnen werden von der HUD betrieben, die auch die anderen lokalen Leistungen wie das Leeren der Septic Tanks und die Straßenreinigung übernimmt. Auch die gesetzlich festgelegten Wasserversorgungsgebühren und die daran gekoppelten Abwasserentsorgungsgebühren gehen an das Unternehmen (vgl. Interview TDP-NUA 6 2011). Aus diesen Geldern muss der Betrieb der Ver- und Entsorgungsnetze und der Brunnen finanziert werden und im Falle von Mỹ Đình II der Betrieb der Abwasserreinigungsanlage. Die Leerung der Septic Tanks wird durch eine weitere Gebühr, die so genannte Managementgebühr (management fee) gedeckt. Die in Eigentumswohnungen in Villen und Hochhäusern lebenden Haushalte zahlen eine monatliche Rate von 90.000 VND (ca. 3 Euro) für die Instandhaltung der Gebäude und Grünflächen an ein so genanntes management board. Die management boards in Linh Đàm und Mỹ Đình II werden von einer direkt im Gebiet ansässigen Tochterfirma (xí nghiệp) der HUD gestellt. Auf diese Weise sind die Zuständigkeiten der Instandhaltung sowohl des Entwässerungsnetzes als auch der Septic Tanks in der HUD gebündelt (vgl. Abb. 61). Es bestehen weiterhin die traditionellen Haushaltgruppen in den Wohngebieten der HUD – meist bildet ein Hochhausblock eine Haushaltsgruppe. Regierung Vietnam
Bauministerium
Fachliche Aufsicht
Volkskomitee Hanoi Volkskomitee Bezirk Volkskomitee Stadtteil
Auftrag Haushalt
Finanzministerium
Leistungserbringung Auftrag Provinzverwaltung
Finanzaufsicht
Bauamt
HUD Management Board(XN)
Betrieb
Bauabteilung
Haushaltsgruppe Haushalt Septik Tank
Haushaltanschluss
Känäle, Flüsse (ARA)
Seen
Abb. 61: Das Abwassersystem in den NUAs der HUD (Eig. Darstellung basierend auf HPC/ SRV 2005; Lefevre et al. 2010; GHK 2005; Interview Việt Anh Nguyen 2009; Interview Leerungsunternehmen 2009; Interview Frank Pogade/Christian Henschel 2011; Leaf 1999; Interviews TDP-NUA 6 2011; TDP-NUA 3 2011)
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
199
Deren Vorstehende sind jedoch nicht in die technische Infrastrukturversorgung involviert: „Die Infrastrukturversorgung interessiert uns nicht. Das ist alles Aufgabe der HUD.“ (Interview TDP-NUA 3 2011) Die HUD betreibt die technischen Infrastrukturen zur Zufriedenheit der lokalen Haushalte und stellt diese in Treffen zwischen Vorstehenden von Haushaltsgruppen, lokal ansässigen HUD Tochterunternehmen und Stadtteilverwaltung regelmäßig sicher (Interview TDP-NUA 3 2011). Das Aufgabengebiet der Vorstehenden der Haushaltsgruppen beschränkt sich auf die Regelung von anderen nachbarschaftlichen Angelegenheiten. Die Lokalverwaltungen übernehmen die Kontrolle des Infrastruktursystems und die Vermittlung bei Problemen zwischen Haushalten und der HUD. Auch in Ciputra übernimmt das Projektentwicklungsunternehmen mittels eines management boards die Instandhaltung des lokalen Systems der Abwasserentsorgung. In diesem Falle handelt es sich allerdings um ein privatwirtschaftliches internationales Unternehmen. Die Gebühren werden aufgrund der Größe der Wohneinheiten bemessen – Haushalte zahlen heute zusätzlich zur Wasserrechnung der Stadt rund 2.500 VND (ca. 0,1 Euro) pro m2 und Monat, in einer der typischen Villen von 130 m2 also rund 1 Mio. VND (knapp 40 Euro) im Quartal (VietNamNet). Damit liegen die Kosten weitaus höher als in anderen, für die Mittelklasse errichteten Wohngebieten, was in den letzten Jahren zu zunehmenden Protesten geführt hat – u. a. wird das Projektentwicklungsunternehmen in Ciputra verdächtigt, mit den Einnahmen aus der Servicepauschale nicht nur die Leistungserbringung, sondern auch den Kauf der Landnutzungsrechte von der Stadtverwaltung zu finanzieren (VIETBAO1; VNKIENTRUC). In der New Urban Area Trung Hoà Nhân Chính besteht ein anderes Modell der Organisation der Ver- und Entsorgung. Das von der Firma Vinaconex errichtete Gebiet wurde nach dem Bau der Stadt zum Betrieb überlassen. Diese ist mittels der HSDC für die Instandhaltung der Kanäle und mittels eigens eingesetzter management boards für die Instandhaltung der Septic Tanks und Haushaltsanschlüsse in Hochhäusern zuständig. Die Kosten für das Management belaufen sich in den Villen des Gebietes auf bis zu 250.000 VND (knapp 10 Euro)/Monat (VIETBAO1). In einem der Hochhäuser allerdings wurde nach einer längeren Auseinandersetzung zwischen der Bevölkerung – repräsentiert durch die Vorstehenden der Haushaltsgruppen – und dem städtischen management boards eine andere Organisationsform entwickelt (vgl. Abb. 62). Da das management board das Hochhaus trotz regelmäßiger Zahlungen der Haushalte vernachlässigte, gelang es den Vorstehenden der Haushaltsgruppen, dieses gegen den Widerstand von Bauunternehmen und Stadtverwaltung durch eine Wohngenossenschaft der Haushalte der relativ preisgünstigen Eigentumswohnungen abzulösen (Interview Phạm Đình Thái 2011). So gingen die Freiflächen rund um das Hochhaus sowie Erd- und Untergeschosse des Hauses und damit auch die Septic Tanks und die Hausanschlüsse von der Verantwortlichkeit des städtischen management boards in das Eigentum der Genossenschaft über. Die Genossenschaft erhebt ähnlich den management boards monatliche Beiträge zu Instandhaltung und Betrieb technischer und sozialer Infrastrukturen. Zusätzliche Gelder bekommt sie von der Swedish Housing Society, die die Genossenschaft von der Gründung 2003 an beraten und unterstützt hat. Die monatlichen Beiträge wer-
200
6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
den von Besitzerinnen und Besitzern von Geschäften im Erdgeschoss (200.000 VND (knapp 7,5 Euro)) und Haushalten erhoben. Für die Haushalte variieren sie je nachdem, ob das zahlende Mitglied aus einem anderen Land (200.000 VND) kommt oder vietnamesische_r Mieter_in (50.000 VND (ca. 1,8 Euro)) oder Eigentümer_in (30.000 VND (gut 1 Euro)) ist. Für jedes weitere Haushaltsmitglied wird zudem eine Gebühr von 30.000 VND/Monat erhoben. Regierung Vietnam
Bauministerium
Volkskomitee Hanoi
Bauamt
URENCO HSDC
Volkskomitee Bezirk Volkskomitee Stadtteil
Bauabteilung
Haushaltsgruppe
Genossenschaft
Kleinbetrieb
Auftrag Haushalt Leistungserbringung Auftrag Haushaltsgruppe Betrieb Auftrag Lokalverwaltung Betrieb Auftrag Provinzverwaltung Betrieb
Haushalt Septik Tank
Haushaltanschluss
Känäle, Flüsse
Seen
Abb. 62: Das Abwassersystem in der Wohnungsgenossenschaft (Eig. Darstellung basierend auf HPC/SRV 2005; Lefevre et al. 2010; GHK 2005; Interview Việt Anh Nguyen 2009; Interview Leerungsunternehmen 2009; Interview Phạm Đình Thái 2011)
Da diese Kosten anders als z. B. in den Wohngebieten der HUD die Parkplatzgebühren umfassen, sind sie hier für die Gruppe der vietnamesischen Eigentümer_innen bei einem vierköpfigen Haushalt marginal geringer als dort. Die Vorstände der Haushaltsgruppen sowie der lokalen Vereine (Frauenverein, Jugendverein und Altenverein) sind gleichzeitig im Vorstand der Genossenschaft, so dass sie die Aufgaben dieser Institutionen wie auch der management boards (Instandhaltung und Betrieb von Baustrukturen und technischen Anlagen) in sich bündelt. Einnahmen und Ausgaben der Genossenschaft sind für die Haushalte im Hochhaus transparent. Die Vorsitzenden der Genossenschaft werden wie die Vorstehenden der Haushaltsgruppen von den anderen Haushalten gewählt und arbeiten als solche gemeinnützig. Einige Dienste werden direkt durch Bewohner_innen des Hochhauses gegen Bezahlung aus dem Etat der Genossenschaft durchgeführt. Für andere Dienste, wie die in dem sechs Jahre alten Hochhaus noch nicht durchgeführte Leerung der Septic Tanks, werden externe Unternehmen angeheuert. Bisher ist dieses Modell der Selbstorganisation lokaler Belange ein Einzelfall in den New Urban Areas von Hanoi.
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
201
Für Yên Sở sind komplett andere Zuständigkeiten der Abwasserentsorgung vorgesehen. Betrieb und Instandhaltung der Anlage wurden durch das städtische Entsorgungsunternehmen HSDC übernommen, während die Anlage in den Besitz der Stadtverwaltung übergehen soll (vgl. Interview Wyeren Yap 2010; Abb. 63). Mit diesem Konstrukt würde das Projekt sowohl den gesetzlichen Vorgaben für Build-Transfer Projekte als auch dem Erlass 88/2007, der die Zuständigkeiten für Betrieb und Besitz von technischen Anlagen im Abwasserbereich regelt, entsprechen. Regierung Vietnam Volkskomitee Hanoi Volkskomitee Bezirk Volkskomitee Stadtteil
Auftrag Haushalt
Bauministerium
Bauamt
Leistungserbringung Auftrag Provinzverwaltung Betrieb
URENCO HSDC Kleinbetrieb
Bauabteilung
Management Board
Lokale Gruppe Haushalt
Haushaltanschluss Känäle, Flüsse
Seen
ARA Abb. 63: Vorgesehenes Abwassersystem in Yên Sở (Eig. Darstellung basierend auf HPC/SRV 2005; Lefevre et al. 2010; Interview Việt Anh Nguyen 2009; Interview Wyeren Yap 2010)
Staatliche Regelung und Selbstorganisation – lokale Perspektive Mit den management boards werden in New Urban Areas neue Institutionen geschaffen, die Aufgaben der Daseinsvorsorge übernehmen. Diese organisieren Infrastrukturdienste innerhalb klar definierter räumlicher Grenzen, die von den formellen Gebietskörperschaften abweichen und sich stattdessen an den Grenzen der Neubaugebiete orientieren. So wird der Einfluss von Stadtteil- oder Bezirksverwaltung eingeschränkt und durch Einrichtungen ersetzt, die nicht durch Wahlen legitimiert sind und aufgrund der Höhe ihrer Forderungen bei gleichzeitiger Intransparenz der Verwendung der Gelder oftmals in einem Spannungsverhältnis zur lokalen Bevölkerung stehen. Von diesem System können Projektentwicklungsunternehmen profitieren, die über den Kauf- oder Mietpreis der Wohneinheiten hinaus Einnahmen generieren können. Demgegenüber können die Haushalte in New Urban Areas ihr Interesse an guten Infrastrukturleistungen bei niedrigen Ausgaben durch die Gründung von Genossenschaften durchsetzen. Staatliche Institutionen nehmen in diesem Interessengeflecht keine eindeutige Position ein, seine Institutionen vertreten vielmehr vielfältige, u. a. eigene Interessen. So tritt die Regierung als Vertreterin
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
der Bevölkerung auf, wenn sie im Wohnungsgesetz eine Wahl des management boards durch die Haushalte in einem Hochhaus festlegt. Gleichzeitig geht die Stadtverwaltung Hanois in Koalition mit Projektentwicklungsunternehmen gegen Genossenschaftsbildung vor, da sie selbst ein Interesse an Einnahmen durch das Management von Hochhäusern hat (Interview Phạm Đình Thái 2011). Die dem Bauministerium zugehörige HUD, die mit der Investition in neue Stadtentwicklungsgebiete und dem Betrieb lokaler technischer Infrastrukturen beträchtlichen Einfluss auf die Stadtentwicklung Hanois in sich bündelt, steht in Konkurrenz zu städtischen Ver- und Entsorgungsunternehmen. Diese Unternehmen, die nach wie vor unter Finanznot leiden und maßgeblich durch Steuern subventioniert sind, werden durch die Stadtverwaltung unterstützt, die in den Bau von konventionellen Anlagen durch die städtischen Unternehmen investiert. Insofern kann der Bau der Anlage in Yên Sở als eine materielle Festigung der Interessen der städtischen Verwaltung und Abwasserentsorgungsunternehmen gesehen werden. Die so geschaffene Technikstruktur bedingt wiederum die Form der Leistungserbringung. Aus Perspektive der lokalen Bevölkerung ist die Organisation der Septic Tank Leerung in den New Urban Areas besonders: Sie ist mit Ausnahme der Wohngenossenschaft – über die eine Kollektivierung erfordernden Geschosswohnungsbauten hinaus – auch in Reihen- und Einzelhäusern nicht individuell organisiert, sondern wird an die jeweiligen management boards delegiert. Während die kollektiv finanzierte Leerung der Septic Tanks in den Wohnsiedlungen aus der Planungsära bei akuten Problemen durch die Haushalte in den Erdgeschosswohnungen initiiert wird, übernehmen die management boards in den New Urban Areas die Organisation der Leerungsintervalle und die Kontaktaufnahme mit den Unternehmen. Die Haushalte hingegen leisten regelmäßige Zahlungen, ohne über die genaue Verwendung der Gelder informiert zu sein. Zumindest bei den von der HUD errichteten New Urban Areas sowie Ciputra kann also auch in Bezug auf das Septic Tank Regime nicht von Selbstorganisation gesprochen werden. Die politische Regelung nimmt die Form der hierarchischen Entscheidung an und die Leistungserbringung erfolgt durch pauschalisierte Zahlungen und Zwangskonsum der Leerungsleistung. Die Nutzer_innen sind mit dieser Form der Leistungserbringung und Regelung einverstanden, wenn die Zahlungen in ihren Augen angemessen sind. Dies ist etwa bei den von der HUD errichteten New Urban Areas der Fall. 6.3.2. Peri-urbane Dörfer – Abwassersysteme zwischen Land und Stadt Die Struktur des Entwässerungsnetzes in den peri-urbanen Dörfern6 ist geprägt durch die dort vorzufindenden überirdischen Baustrukturen. Diese sind ähnlich kompakt wie die der urbanen Dörfer. So sind die Straßen sehr schmal (ca. 1-3 m) 6
Befragt wurde der Vorstehende eines Thôn im Dorf Lai Xá im ländlichen, aktuell starkem Urbanisierungsdruck ausgesetzten Bezirk Tu Liem. Im Dorf Cống Thôn in der Gemeinde Yên Viên im östlich des Roten Flusses gelegenen ländlichen Bezirk Gia Lâm wurde der Parteisekretär befragt. Im Dorf Nội Thôn im Süden Hanois wurden Bäuerinnen über ihre Gewohnheiten bei der Nutzung von menschlichen Ausscheidungen in der Landwirtschaft befragt.
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
203
und die Dörfer grenzen sich als Siedlungskörper scharf von der meist landwirtschaftlich geprägten Umgebung ab. Die Dichte ist jedoch geringer (vgl. Abb. 39 im Farbteil). Die Entwässerung von Regenwasser und kommunalen Abwässern folgt wie in den urbanen Dörfern den meist verzweigten Gassen, die zum Teil unbefestigt sind (Abb. 43). Wie auch in den urbanen Dörfern dienen lokale Teiche und Seen der Regenrückhaltung – Überflutungen sind auch hier eine Gefahr, u. a. durch über die Ufer tretende Flüsse. (Interview Nguyễn Minh Hưởng 2011). Merkmale der lokalen baulich-technischen Struktur Die Gebäude der peri-urbanen Dörfer verfügen zum Teil (laut Schätzungen maximal zur Hälfte) über Septic Tanks unter den Gebäuden (Interview Nguyễn Quang 2009; Beauséjour et al. 2007). In diese wird das Toilettenabwasser vor der Einleitung in das Entwässerungssystem oder vor der Versickerung geleitet. Ein Teil der menschlichen Ausscheidungen wird ohne Septic Tanks in einfachen Latrinen gesammelt und dann auf die Felder aufgebracht (vgl. Abb. 39). Zur Nutzung der Fäzes in der Landwirtschaft werden diese also von den anderen Haushaltsabwässern getrennt behandelt. Das Projekt zur dezentralen Abwasserbehandlung Lai Xá In Lai Xá wurden die Kanäle im Rahmen eines von einer lokalen Nichtregierungsorganisation initiierten und von der National University of Civil Engineering fachlich geleiteten Entwicklungshilfeprojekts gedeckelt, sie bleiben aber Mischkanäle bis kurz vor der Einleitung in die Anlagen. Dort wurde ein Überlauf installiert, so dass ein Teil der Abwässer direkt in den See fließt während der andere Teil vorher durch die aus mehreren Klärkammern und Filtern bestehende Anlage und ein Sickerbeet geleitet wird (Abb. 40). Auf diese Weise kann das Abwasser zunächst mechanisch und dann naturnah biologisch gereinigt werden. Damit dieses System funktioniert, müssen die Haushalte jeweils auf ihren Grundstücken Filter zur Abscheidung von Feststoffen installieren, so dass nur flüssige Stoffe durch die Leitungen fließen (vgl. Beauséjour 2009 für eine detaillierte Analyse der technischen und organisatorischen Aspekte des Projektes zu Laufzeiten). Aktuell ist nur eine der beiden Anlagen funktionsfähig – diese ist direkt an einem Teich gelegen, dessen Wasser die Schlämme verdünnt. Die andere Anlage ist seit Längerem verstopft und wurde 2007 zuletzt von Feststoffen befreit, da keine langfristigen Instrumente zur Finanzierung der Instandhaltung bestehen. Aufgrund eines Rückzuges der lokalen Verwaltungen ist der Vorstehende des Dorfes allein zuständig, kann allerdings nur unregelmäßig Gelder akquirieren. Die Bewohner_innen des Dorfes, die anfangs noch finanzielle Beiträge und Arbeitskraft geleistet haben, sind heute laut Aussage des ehemaligen Vorstehers der Dorfgruppe nicht mehr dazu bereit (Interview Thôn 2011). Dieser schreibt den anfänglichen Erfolg des Projektes und die Unterstützung durch die Dorfgemeinschaft einem Individuum zu. Dieser system builder war der ehemalige Vorstehende einer benachbarten Dorfgruppe – er galt als sachkundig, war beliebt und konnte die Menschen so zur Teilnahme am Projekt bewegen. Heute ist er nicht mehr in dieser Position und somit schwindet auch die Unterstützung der lokalen Bevölkerung. Ihre heutige Reserviertheit ist auf weitere Faktoren zurück zu
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
führen. Zunächst ist dies mangelnde Information im Vorwege des Projektes. In der lokalen Bevölkerung wurde davon ausgegangen, dass der Beitrag an Geld und Arbeitskraft während der Aufbauphase für den langfristigen Betrieb des Entwässerungssystems ausreichen würde, weshalb die regelmäßigen Forderungen und Probleme im Betrieb des Systems zu Frustrationen führen. Diese sind u. a. auf die rasanten baulichen Veränderungen bei einer gleichzeitigen Trägheit bestehender Techniken der Abwasserableitung aus den Haushalten zurückzuführen: nach dem Ende des Projektes neu hinzukommende Gebäude werden meist nicht mit dem notwendigen Filtersystem ausgestattet, sondern mit den auch vor dem Projekt konventionell üblichen Anschlüssen, was zu regelmäßigen Verstopfungen der Anlage führt. Dies erwächst aus einer tiefergehenden Skepsis dem Konzept gegenüber, die gleichzeitig durch die o. g. Betriebsmängel verstärkt wird: viele Anwohner halten die Ableitung der Abwässer in die lokalen Seen oder deren Nutzung in der Landwirtschaft wie traditionell üblich für hinreichend. Diese Faktoren zusammen führen zu einer ständigen Senkung des Zahlungswillens der Haushalte (Interview Thôn 2011). Grundzüge der Leistungserbringung In den ländlichen Bezirken obliegt die Organisation der Abwasserentsorgung den Gemeinde- und Bezirksverwaltungen und dem Vorstehenden der dörflichen Haushalte. Nach der Beschreibung des Parteisekretärs von Cống Thôn in Yên Viên erstellt das Dorf bei kleinen Projekten eine Kostenplanung, die etwa Anzahl und Dauer der benötigten Arbeitskräfte enthält. Diese wird von der Gemeinde kontrolliert und dann dem Bezirk überreicht, der entscheidet, wann er welche Gelder für das Projekt bewilligt. Es kommt vor, dass ein Teil der Kosten von der Dorfgemeinschaft direkt getragen werden muss – in diesem Fall sammeln die Vorstehenden des Dorfes die Gelder bei der Bevölkerung ein. Von Antrag an den Bezirk bis zur Genehmigung vergeht in der Regel rund ein Monat (Interview Nguyễn Minh Hưởng 2011). Planung und Durchführung großer Projekte, wie etwa Bau und die Erweiterung von Pumpanlagen, liegen in der Hand des Bezirks unter Kontrolle der Provinzverwaltung Hanois. Die Instandhaltung der offenen Entwässerungskanäle wird durch die lokale Bevölkerung im Rahmen der regelmäßigen Arbeitseinsätze durchgeführt. In Cống Thôn finden diese etwa einmal monatlich statt, für die Mobilisierung der Bevölkerung sind die Vorstehenden des Dorfes zusammen mit der Frauenund Jugendunion zuständig. Insofern hält der Parteisekretär die lokale Bevölkerung und die Lokalverwaltung für sehr bedeutend für das Funktionieren des Entwässerungsnetzes (Interview Nguyễn Minh Hưởng 2011). In Lai Xá hingegen entfallen laut dem Vorstehenden der Dorfgruppe die Abwasserkanäle mit ihrer Deckelung dem Zuständigkeitsbereich der lokalen Bevölkerung (Interview Thôn 2011). Der Umgang mit den menschlichen Ausscheidungen, die wie oben beschrieben getrennt von den Abwässern in der Landwirtschaft genutzt oder entsorgt werden, zeichnet sich durch einen hohen Grad der Selbstorganisation aus. Weder der Parteisekretär in Yên Viên noch die Vorstehenden der Dorfgruppen in Lai Xá sehen die Überwachung der Entsorgung der Schwarzwässer als ihre Aufgabe an. Die im Dorf Nội Thôn beobachtete Verwendung menschlicher Ausscheidungen auf den Feldern findet weitgehend außerhalb staatlicher Regelung statt. Aktuelle Anläufe staatlicher
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
205
Stellen, solche als unmodern und unhygienisch wahrgenommenen Praktiken zu unterbinden sind bisher wenig erfolgreich (NHANDAN). Auch Betrieb und Instandhaltung der Septic Tanks liegen im Ermessen der einleitenden Haushalte. Wie der Parteisekretär angibt, gibt es in Yên Viên keine Probleme mit dem Septic Tank: Er sei mit 6–7 m3 für eine Familie so groß, dass er niemals geleert werden müsse (Interview Nguyễn Minh Hưởng 2011). Staatliche Regelung und Selbstorganisation – lokale Perspektive Im peri-urbanen Raum wird allein die Instandhaltung des Leitungsnetzes der Abwässer zur Bewässerung im landwirtschaftlich genutzten Raum als gemeinschaftliche und daher von der öffentlichen Hand geregelte Aufgabe verstanden. Die hier zuständigen Fachbehörden auf der „horizontalen Ebene“ der Verwaltung sind in den ländlichen Bezirken der Provinz Hanois anders als in den städtischen Bezirken nicht dem Bauministerium, sondern dem Ministry for Agriculture and Rural Development (MARD) zugeordnet. Diese sind für das Management der Wasserressourcen im ländlichen Raum zuständig und überblicken etwa die Einleitung von Wässern in die Bewässerungskanäle und die Instandhaltung der Pumpanlagen (vgl. Abb. 64). Die lokale Nutzung oder Entsorgung der Fäzes ist den einzelnen Haushalten überlassen und unterliegt bisher staatlichen Regelung. Der rasche Abbau organischer Abfälle aufgrund des warmen Klimas begünstigt die Wirksamkeit der üblichen Techniken der Einleitung in Seen zur Fischzucht oder Züchtung von Wasserpflanzen und der Nutzung in der Landwirtschaft, so dass für die Bevölkerung im peri-urbanen Raum bis heute keine Veranlassung besteht, in eine geregelte Abwasserentsorgung zu investieren (Interview Thôn 2011). Dies steht im Gegensatz zur Entsorgung der festen Abfälle, für deren Sammlung und Deponierung auch die Haushalte der peri-urbanen Dörfer regelmäßig zahlen. Die befragten lokalen Entscheidungsträger sprechen sich für die Modernisierung des Abwassersystems durch die Installation lokaler Anlagen auf der Ebene des Dorfes aus (Interviews Thôn 2011, Nguyễn Minh Hưởng 2011); die aktuellen haushaltsbasierten Formen der Behandlung und Nutzung der Fäzes werden nicht als zukunftsweisend gesehen. Dies begründen sie damit, dass die im peri-urbanen Raum Hanois vorzufindenden haushaltsbasierten Techniken der Abwasserbehandlung in ihren Augen in den Zuständigkeitsbereich der Haushalte fallen. Die Bewohner und Bewohnerinnen sind jedoch nur wenig motiviert, ihre Techniken zugunsten eines lokal organisierten Abwasserentsorgungssystems zu ändern. Mit der Installation von Anlagen auf der Dorfebene wird die Abwasserreinigung professionalisiert und damit zu einem Belang der lokalen Verwaltungen, während es bisher Aufgabe der Bewohnerinnen und Bewohner ist, die Selbstreinigungskraft der Gewässer für ihre individuellen Zwecke zu nutzen. Eine solche Installation von Anlagen kann als ein Schritt zur Abhängigkeit von vernetzten Infrastruktursystemen gesehen werden, da sie professioneller Instandhaltung bedürfen (vgl. Dupuy 2011). Wie das Beispiel von Lai Xá zeigt, bedarf es dann der entsprechenden Regelungsstruktur mit einer Institutionalisierung der Finanzierung durch Steuern oder Gebühren. Hier zeigen sich die Abhängigkeiten zwischen den sozialen und technischen Komponenten einer Professionalisierung
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
der Abwasserentsorgung auf dem konventionellen Wege, deren Umsetzung zu einer Abhängigkeit der peri-urbanen Dörfer von der leitungsgebundenen Wasserver- und Abwasserentsorgung und damit zu einer Fraktur der sozialräumlichen Strukturen führen kann. Die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Ausgestaltung des Abwasserentsorgungssystems werden unten (Kap. 7) diskutiert. Gleichwohl gibt die rasante Urbanisierung des suburbanen Raumes, geprägt durch eine Mischung aus Wohnnutzung, Landwirtschaft und ungeplanten Industrieansiedlungen, Anlass zur Entwicklung neuer technischer und organisatorischer Lösungen des Abwassermanagements – und das auch in Räumen, die heute außerhalb der Regelungsstrukturen der städtischen Bezirke liegen. So ist etwa in ländlichen Bezirken Hanois das MARD für das Management der Wasserressourcen zuständig. Das MARD ist jedoch nicht auf die Entsorgung von Abwässern innerhalb der periurbanen Dörfer fokussiert. Vielmehr setzt seine Zuständigkeit bei der Bewässerung der Felder im landwirtschaftlich genutzten Raum ein. Die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Bauministerium und untergegliedertem städtischen Entsorgungsunternehmen und MARD folgt der administrativen Struktur, die jedoch nicht immer konform mit dem tatsächlichen Grad der Verstädterung ist. Vor allem die starkem Urbanisierungsdruck ausgesetzten peri-urbanen Dörfer im Westen des Stadtkerns, die bisher noch formell Teil ländlicher Bezirke sind, verfügen nicht über eine Verwaltungsstruktur, die den Ausbau dortiger Siedlungsstrukturen entsprechender Abwasserentsorgungssysteme erlauben würde.
Regierung Vietnam
Ministerien (Landwirtschaft und ländliche Entwicklung)
Volkskomitee Hanoi
Ämter (Landwirtschaft und ländl. Entwicklung)
Volkskomitee ländl. Bezirk Volkskomitee Gemeinde
Abteilungen (Landwirtschaft und ländl. Etwicklung)
Haushaltsgruppe Haushalt Pit Latrine
Septik Tank
Lokale Nutzung
Kleinbetrieb
Eigener Betrieb
Grenze Siedlungsraum
Haushalts- Sekundäre anschluss Entwässerung
Auftrag Haushalt Leistungserbringung Auftrag Haushaltsgruppe Betrieb Auftrag Lokalverwaltung Betrieb Auftrag Provinzverwaltung Betrieb
Hauptkanäle Bewässerung/ Pumpen
(ARA)
Abb. 64: Das Abwassersystem in peri-urbanen Dörfern (Eig. Darstellung basierend auf HPC/ SRV 2005; Beauséjour/ Việt Anh 2007; GHK 2005; Interview Việt Anh Nguyen 2009; Interview Thôn 2011, Interview Nguyễn Minh Hưởng 2011; Leaf 1999)
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
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6.3.3. Friktionen am Stadtrand Der Stadtrand und der suburbane Raum zeichnen sich heute nicht nur durch die stärksten Gegensätze der Strukturen der Abwasserentsorgung aus, sondern auch durch die größten Dynamiken der Siedlungsentwicklung (Abb. 42 und 43 im Farbteil). Es werden massiv Flächen für New Urban Areas ausgewiesen und bebaut. Gleichzeitig verdichten sich die (peri-)urbanen Dörfer im inkrementellen Entwicklungsprozess. Mit zunehmender Verdichtung von Stadtrand und suburbanem Raum werden zunehmend Flächen für New Urban Areas an Orten ausgewiesen, an denen oder in deren direkter Nachbarschaft sich bereits stark verdichtete Dörfer befinden (vgl. Abb. 65 und Abb. 66). Diese direkte Nachbarschaft oder auch die Überschneidung von Flächen muss nicht zu lokalen Konflikten führen und kann in einem Nebeneinander unterschiedlicher Siedlungsstrukturen münden, oder aber im Abriss der urbanen und peri-urbanen Dörfer im Zuge der Wachstumskoalitionen zwischen Verwaltungen und Investitionsunternehmen. An dieser Stelle wird der Fall eines Konfliktes zwischen den beiden Siedlungsentwicklungsprozessen erläutert, der die in Hanoi möglichen politischen Regelungsprozesse der Stadtentwicklung und die Rolle der netzgebundenen Abwasserentsorgung besonders anschaulich verdeutlicht. Dieser Fall illustriert auch Regelungsprobleme, die das System der Abwasserentsorgung als Teil des städtischen Raumes betreffen. Zudem bietet er die Möglichkeit einer Schärfung aktueller Debatten um die Ko-Evolution technischer Infrastruktursysteme und Stadtraum, wie im Folgenden erläutert wird (vgl. Kap. 8). Das Aufeinandertreffen der New Urban Area Trung Hoà Nhân Chính und der Dörfer Hạ und Hòa Mục spielt sich im Stadtteil Trung Hoà im Bezirk Cầu Giấy ab. Die betreffende New Urban Area wurde in einer solchen Weise errichtet, dass in einem benachbarten, durch die Eingemeindung des Bezirks Cầu Giấy bereits urbanen Dorf die Verbindungen zwischen lokalem Abwasserentsorgungsnetz und Vorfluter gekappt wurden. Zusätzlich wurde die geplante Siedlung wie üblich auf aufgeschüttetem Gelände errichtet, was das Gefälle so veränderte, dass sich das Wasser im benachbarten Dorf Hạ staut – dies stellt ein Problem für die lokale Bevölkerung dar, das bis heute (Stand 2011) nicht gelöst werden konnte. Es wurde also die Funktionalität des im inkrementell gewachsenen urbanen Dorfes bestehenden Netzes durch die im geplanten Prozess errichtete New Urban Area gestört. Ein genauerer Blick in die betreffenden Siedlungen bringt zudem die jeweils stattfindenden Dynamiken der politischen Regelung sowie der Verhandlungen zwischen lokalen Bevölkerungsgruppen bzw. Investitionsunternehmen mit verschiedenen Angestellten der lokalen Verwaltungen zutage, die zu dieser Störung geführt haben. So ging dieser Störung der Funktionalität des im inkrementellen Prozess entstandenen Netzes durch den Bau der New Urban Area ein Disput innerhalb der umliegenden urbanen Dörfer voraus, der zu einer Veränderung der Entwässerungsrichtung führte. Diese Veränderung des ursprünglichen Planes war es, die nach dem Bau der New Urban Area nicht mehr funktionsfähig war. Die durch die New Urban Area verursachte Störung der Entwässerung des Dorfes Hạ wäre bei der zunächst vorgesehenen Entwässerung des Dorfes selbst nicht aufgetreten.
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6. Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen
Abb. 65: Aktuelle Stadterweiterungen: inkrementell verdichtete Dörfer (Hạ im Westen und Hòa Mục im Osten) inmitten von New Urban Areas (Hickel 2009)
Abb. 66: Planung und Realität der Siedlungsstruktur in der Stadterweiterung (Hickel 2009)
Die Stadtverwaltung plante Ende der 1980er Jahre, das Netz so zu bauen, dass das Dorf Hạ in den östlich gelegenen Tô Lịch Fluss statt in den weiter entfernten Nhuệ Fluss im Westen entwässert. Durch lokal organisierten Widerstand im benachbarten Dorf Hòa Mục konnte die Bevölkerung die Umsetzung der ursprünglichen Planungen jedoch verhindern. Ihre Widerstände richteten sich im Kern gegen die Enteignungen und den Umbau bestimmter Flächen im Dorf, die die Bezirksverwaltung in der Planung des neuen Entwässerungssystems vorgesehen hat (vgl. Labbé 2010). Dieses direkt am Tô Lịch gelegene Dorf verdankt seine heutige Existenz dem dauernden Widerstand gegen Bauvorhaben der städtischen und lokalen Verwaltungen. Im Zuge dieser Widerstände wurde unter anderem der Bau eines Entwässerungskanals durch das Dorf verhindert, der zu einer Umsiedlung einer Reihe von Haushalten geführt hätte. Eben durch diesen Kanal hätten die Abwässer aus Hạ in den Tô Lịch geleitet werden sollen. Da der Bau jedoch nicht zustande kam, wurde die bestehende Entwässerungslinie in Richtung Nhuệ Fluss beibehalten. Diese wurde schließlich durch den Bau der New Urban Area unterbrochen, so dass letzten Endes das Dorf Hạ aktuell (Stand 2011) über kein funktionierendes Entwässerungsnetz verfügt und sich die Abwässer der New Urban Area und auch des Dorfes selbst dort stauen. Als Reaktion auf dieses Problem kehrten die Verwaltungen von Stadtteil und Bezirk erneut zu dem ursprünglichen Vorhaben zurück, die Abwässer des Dorfes und aller weiteren östlich der New Urban Areas gelegenen Siedlungen des Stadtteils in Richtung Osten zum Tô Lịch auszubauen (Interview Lai Mạnh Tiến/ Nguyễn Đăng Tuấn 2009). Es zeigt sich hier, dass die verschiedenen staatlichen Institutionen nicht einheitlich handeln. Die im Dorf Hòa Mục ausgetragenen Streitigkeiten auf der lokalen Ebene führen zwar auf der einen Seite zu einer Durchsetzung lokaler Belange innerhalb dieser Siedlung und werden dort als Erfolg verbucht. So illustriert dieses Beispiel die Kompromissbereitschaft gegenüber den lokalen Belangen auf der
6.3. Stadtrand und suburbaner Raum
209
Ebene der Stadtteilverwaltung. Auf der anderen Seite wird die fehlende Anpassung der Siedlungsentwicklung im geplanten Prozess an die aus dieser Kompromissbereitschaft auf der Ebene der Stadtteile erwachsenden veränderten Raumstrukturen deutlich. Diese führten in diesem Falle zu einem im Hinblick auf die Funktionalität zunächst misslungenen Ausbau des Entwässerungsnetzes – und zwar zu Ungunsten der im inkrementellen Prozess wachsenden Dörfer. Dieser Fall zeigt, dass lokale Bevölkerungsgruppen im Rahmen informeller Stadtentwicklung zwar die Möglichkeit haben, gegen Planungen Widerstand zu leisten, dass dieser jedoch nicht zu einer Stadtgestalt führen muss, die dem Gemeinwohl zuträglich ist (vgl. Roy 2009).
7. GESTALT UND GESTALTUNG DES SYSTEMS DER ABWASSERENTSORGUNG HANOIS Die Charakterisierung des Systems der Abwasserentsorgung in seiner aktuellen stadträumlichen Differenzierung und in seinen Entwicklungstendenzen dient der Reflexion der politischen Strategien und Planungen im Abwasserentsorgungssektor vor dem Hintergrund der vorhandenen soziotechnischen Strukturen und ihrer Relation zum gebauten Raum. Diese Reflexion wiederum ist die Grundlage für die Formulierung von Handlungsbedarfen und die Abschätzung des Gestaltungspotenzials gesellschaftlicher und staatlicher Akteure. 7.1. DIE GESTALT DER ABWASSERENTSORGUNG – DIE ÜBERLAGERUNG VON SYSTEMEN IM RAUM UND IHR WANDEL Die Gestalt des Systems der Abwasserentsorgung Hanois zeigt sich in der stadträumlich differenzierten Überlagerung von Subsystemen, die sich aus der gemeinsamen Entwicklungsdynamik der Abwasserentsorgung mit den urbanen Räumen Hanois ergibt. 7.1.1. Die stadträumliche Differenzierung der Abwasserentsorgung Die räumliche Differenzierung der Abwasserentsorgung lässt nicht nur die Besonderheiten der hier unterschiedenen Räume erkennen, sondern auch übergreifende Gemeinsamkeiten. Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen technischen Strukturen, wie der vielfältigen Beschaffenheit des Abwasserentsorgungsnetzes und der Technologien zur Behandlung der Abwässer, und sozialen Strukturen, nämlich der Leistungserbringung und der politischen Regelung (Tabelle 5). Die baulich-technischen Strukturen der Abwasserentsorgung Hanois Das auf dem städtischen Flusssystem basierende Abwasserentsorgungsnetz erstreckt sich über die gesamte Stadt. Regenwasser und Haushaltsabwässer werden in einigen Siedlungen lokal getrennt abgeleitet, mischen sich dann jedoch meist ohne vorherige Reinigung wieder in den offenen Wasserkörpern der Stadt. Das Netz weist lokale Unterschiede in seiner baulichen Struktur auf, die sich in organisatorischen Strukturen der Leistungserbringung widerspiegeln.
211
7.1. Die Gestalt der Abwasserentsorgung
Tabelle 5: Die Differenzierung der Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen Hanois Lokale baulichtechnische Struktur
Leistungserbringung
Regelungsformen
Septic Tanks; Unterirdische Kanalisation Lokale Leitungen z. T. überirdisch
Septic Tanks: Kleinstunternehmen (KU); Kanalisation: Öffentliches Unternehmen (HSDC)
Septic Tanks: Verhandlung Haushalt – KU; Kanalisation: Hierarchische Entscheidungsfindung
Urbane Dörfer und inkrementelle Verdichtung
Septic Tanks; z. T. offene Kanalisation/ lokale Leitungen
Septic Tanks: KU; Lokale Leitungen: Bezirksverwaltung, Haushaltsgruppen; Kanalisation: HSDC;
Septic Tanks: Verhandlung Haushalt - KU Kanalisation: Hierarchische Entscheidungsfindung
Sozialistische Wohnsiedlungen (KTT)
Septic Tanks; z. T. offene Kanalisation Lokale Leitungen unterirdisch
Septic Tanks: KU Lokale Leitungen: KU/ Haushaltsgruppen Kanalisation: HSDC;
Septic Tanks/ Leitungen lokal: Verhandlung Haushaltsgruppen – KU/ Selbstorganisation Kanalisation: Hierarchische Entscheidungsfindung
Periurbane Dörfer
Septic Tanks/ einfache Latrinen; Offene Kanalisation/ lokale Leitungen
Lokale Nutzung als Dünger: Haushalte/ Haushaltsgruppen;
Lokale Leitungen: Haushaltsgruppen Lokale Nutzung als Dünger: Selbstorganisation; Lokale Leitungen: Hierarchische Entscheidungsfindung
New Urban Areas (KDTM)
Semizentrale oder dezentrale Anlagen; unterirdisches Netz/ Einleitung in z. T. offene Kanalisation
Dezentrale Anlagen: Bau- Investmentfirma/ Subunternehmen; Semizentrale Anlage unteririsches Netz: Bau- Investmentfirma/ Subunternehmen, HSDC
Hierarchische Entscheidungsfindung
Stadtrand
Erweiterung
Stadtkern
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Abwasserentsorgung Hanois
Zur Vorreinigung der Haushaltsabwässer vor der Einleitung in die städtische Mischkanalisation sind die gesetzlich vorgeschriebenen Septic Tanks die in Hanoi dominante Technologie. In den peri-urbanen Dörfern sind zum Teil Septic Tanks und zum Teil einfache Latrinen, deren Schlämme direkt von Haushalten auf die Felder gebracht werden. In den extrem verdichteten Reihenhausstrukturen des Stadtkerns und der urbanen Dörfer1 sind die Tanks unter den einzelnen Gebäuden installiert. Zu einem Großteil bestehen diese aus einer einfachen Kammer ohne Filter mit Anschluss an das lokale Kanalisationssystem. Die Kammern selbst sind oftmals nur durch die Toilettenabflüsse zugänglich, so dass dann im Falle einer Leerung der Boden aufgebrochen werden muss. Im Stadtkern finden sich zudem vereinzelt noch die in der Kolonialzeit installierten Tanks mit zwei Kammern und Filtern, die eine weitergehende Reinigung des Schwarzwassers erlauben. In den Geschosswohnungsbauten der sozialistischen Wohnsiedlungen sind die Septic Tanks zumeist von den Hinterhöfen aus zugänglich– sofern sie nicht im Nachhinein überbaut wurden, müssten die Gebäude für eine Leerung nicht betreten werden. In den New Urban Areas verfügen die Geschosswohnungsbauten über Septic Tanks oder komplexere dezentrale Technologien. In der New Urban Area Yên Sở wurde eine semizentrale Abwasserreinigungsanlage installiert, an die die Gebäude mittels Trennkanalisation angeschlossen sind, so dass auf Septic Tanks verzichtet wird. Die Septic Tanks sind also eine über die charakteristischen Teilräume hinweg vorzufindende Technologie, deren Ausgestaltung lokalspezifisch ist. Nur in den Räumen am Stadtrand und im suburbanen Raum sind zudem weitere Technologien verbreitet: die komplexeren Satellitensysteme in New Urban Areas und die einfachen Latrinen in peri-urbanen Dörfern. Die technische Ausgestaltung der Tanks und insbesondere der Zugang zu ihnen sind durch die überirdischen Baustrukturen bedingt. Hier unterscheiden sich die durch Geschosswohnungsbauten geprägten New Urban Areas und sozialistischen Wohnsiedlungen von den durch Einzel- und Reihenhausbebauung geprägten charakteristischen Räumen. Instandhaltung und Ausbau des Abwasserentsorgungsnetzes Im Stadtkern sind es die lokal zuständigen Abteilungen des städtischen Unternehmens, der HSDC, die die Reinigung der engmaschigen unterirdischen Kanalisation der Kolonialzeit übernehmen. In den urbanen Dörfern finden sich eine größere Vielfalt sowie Varianzen zwischen den Dörfern, die von ihrem Urbanisierungsgrad abhängen. Grundsätzlich folgt die Leistungserbringung jedoch der Hierarchie des verzweigten Entwässerungsnetzes. Für die Hauptleitungen ist auch in den Dörfern die HSDC mit ihren Abteilungen zuständig. Die Bezirksverwaltungen halten die sekundären und tertiären Entwässerungsnetz in den Dörfer instand. Haushaltgruppen organisieren kleinere Arbeiten, hierfür fordern sie bei den einzelnen Haushalten Beiträge von Geld oder Arbeit ein. Auch innerhalb der Wohnsiedlungen sind es die Haushaltsgruppen, die die Instandhaltung der lokalen Leitung mittels finanzieller Beiträge der Haushalte organisieren. In den New Urban Areas findet sich eine Vari1
Der Raum „urbane Dörfer und inkrementelle Erweiterung“ wird der Einfachheit halber in den folgenden Abschnitten als „urbane Dörfer“ bezeichnet.
7.1. Die Gestalt der Abwasserentsorgung
213
anz der Leistungserbringung. In einigen New Urban Areas übernimmt die HSDC die Aufgabe der Instandhaltung des gut ausgebauten unterirdischen Netzes, in anderen lokal operierende Subunternehmen der Bau- und Investitionsunternehmen. In den peri-urbanen Dörfern ist das städtische Unternehmen nicht zuständig. Hier werden Arbeiten an den lokalen Netzen durch die lokalen Verwaltungen organisiert und oftmals durch die lokale Bevölkerung in Arbeitseinsätzen durchgeführt. Umgang mit Abwässern vor der Einleitung in die Mischkanalisation Die im Stadtraum verbreiteten Septic Tanks werden im Stadtkern, in den urbanen und peri-urbanen Dörfern und in den Wohnsiedlungen nur sporadisch geleert und zwar in der Regel durch Kleinstunternehmen. In den Wohnsiedlungen und den New Urban Areas ist die Vergabe des Leerungsauftrages an die Unternehmen in verschiedener Weise kollektiviert. Dies ist bedingt durch die bauliche Struktur, da mehrere Haushalte an einen Septic Tank angeschlossen sind. In den anderen Räumen wird die Leerung durch die individuellen Haushalte organisiert. In den Wohnsiedlungen sind es die lokal gewählten Vorstehenden der Haushaltsgruppen, die im Namen der Gebäudebesitzer bei Bedarf ein Leerungsunternehmen beauftragen. In den New Urban Areas sind es hingegen die lokalen, von Bau- und Investitionsunternehmen eingesetzten management boards, die in der Regel die Leerung der Septic Tanks organisieren. Diese führen sie in einigen Gebieten selbst durch und in einigen Gebieten wird ein Leerungsunternehmen beauftragt. Im Ausnahmefall der Wohngenossenschaft in einer New Urban Area agiert diese wie die Haushaltsgruppen in den sozialistischen Wohnsiedlungen. Für die Bewohnerinnen und Bewohner besteht der Unterschied darin, dass sie im ersteren Falle für die einzelne Leistung zahlen, während sie im Falle der Organisation durch die management boards regelmäßige Zahlungen leisten. Die Instandhaltung des Abwasserentsorgungsnetzes aus der lokalen Perspektive Die Instandhaltung der Abwasserentsorgungskanäle wird in Hanoi als kollektive Aufgabe aufgefasst. Abwasserentsorgungskanäle verlaufen im öffentlichen Raum und erfüllen die Funktionen der Entwässerung der Siedlungsräume und gleichzeitig der Bewässerung von landwirtschaftlichen Flächen, sind also von Relevanz für das Gemeinwohl. Die Instandhaltung der Abwasserkanäle ist entsprechend durch hierarchische Entscheidungsfindung geregelt, wobei Entscheidungen auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen getroffen werden. Sie spiegelt die in Vietnam generell bestehende große Nähe zwischen Verwaltungssystem und zivilgesellschaftlichen Organisationen wider und weist eine enge Koordination zwischen Bezirken, Stadtteilen oder ländlichen Gemeinden und Haushaltsgruppen auf (vgl. Kap. 3.3). Innerhalb der städtischen Bezirke ist zudem die Provinzebene durch ihre Leitung der HSDC involviert, die die Instandhaltung der Kanalisation im Stadtkern übernimmt. In den urbanen Dörfern sind darüber hinaus die Bezirksverwaltungen in der Regelung aktiv. Drittens übernehmen in den urbanen Dörfern und vor allem in den sozialistischen Wohnsiedlungen Haushaltsgruppen, die selbst außerhalb der öffentlichen Verwaltungshierarchie stehen, die Organisation der Instandhaltung mit der Sammlung von Geldern oder dem Aufruf zu Arbeitseinsätzen. Hier findet sich also
214
Abwasserentsorgung Hanois
eine Tendenz zur gesellschaftlichen Selbstorganisation, wenn diese auch keinesfalls isoliert von staatlichen Regelungen ist. Sie findet vielmehr im „Schatten der staatlichen Hierarchie“ statt (vgl. Scharpf 1993). In den Satellitensystemen der New Urban Areas spiegelt sich die Varianz der Leistungserbringung auch in der Regelungsstruktur. Wenn lokale Subunternehmen von Bau- oder Investitionsunternehmen das Management übernehmen, halten auch sie sich an auf der Ebene des städtischen Volkskomitees festgelegte Gebühren. Da die Ausdehnung dieser Gebietsmonopole der Unternehmen sich an den Grenzen der Neubaugebiete orientiert und nicht, wie etwa bei den Stadtwerken eigentlich üblich, an den Grenzen der formellen Gebietskörperschaften des politisch-administrativen Systems, nehmen diese New Urban Areas nicht nur in ihrer baulich-räumlichen Gestalt, sondern auch im Management der technischen Infrastruktursysteme eine einzigartige Rolle im urbanen Gefüge Hanois und auch im Gefüge des Verwaltungssystems Vietnams ein. In den peri-urbanen Dörfern werden die Arbeitseinsätze der Bevölkerung durch die unterste Ebene der Verwaltungen organisiert – hier kann also nicht von Selbstorganisation der Bevölkerung gesprochen werden. Zusammenfassend können die lokalen Einsätze von Arbeit oder finanziellen Ressourcen durch die Bevölkerung sowohl Tendenzen zur Selbstorganisation aufweisen als auch staatlicher Regelung unterworfen sein. Für lokale Bevölkerungen stellen sich diese Formen der Leistungserbringung und ihrer Regelung unterschiedlich dar. Während grundsätzlich gilt, dass die Zufriedenheit je größer ist umso geringer der Einsatz von Arbeit oder Geld für die Gewährleistung eines lokal funktionierenden Systems ist, so sind die – vielfach durch lokale Verwaltungen hierarchisch organisierten – Arbeitseinsätze in den urbanen und peri-urbanen Dörfern weitgehend akzeptiert. In den Wohnsiedlungen hingegen fühlen sich die Bewohner und Bewohnerinnen mit der selbstständigen Organisation der Aufgaben überfordert. Die Analyse der charakteristischen Räume lässt den Schluss zu, dass Gründe für die lokalspezifische Einschätzung der Bewohner_innen einerseits in den Erwartungen der lokalen Bevölkerungen und andererseits in materiellen Bedingungen der notwendigen Arbeiten liegen. So werden Leitungen innerhalb der Gebäude der Wohnsiedlungen als Teil des privaten Raumes definiert. Damit liegen sie außerhalb des Zugriffs der öffentlichen Verwaltungen und sind der Selbstorganisation der Bevölkerung überlassen. Damit sind die lokalen Haushalte für ein verzweigtes Leitungsnetz zuständig. Zur Komplexität des Management dieser Leitungen kommt, dass Bewohner_innen aufgrund der für ihre Wohnbedürfnisse unpassenden Architektur der Gebäude vielfältige lokale Baumaßnahmen ergriffen haben, aufgrund derer ehemals im öffentlichen Raum verlegte technische Leitungen heute unterhalb privater Wohneinheiten verlaufen und somit ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich der Haushalte fallen. Vor dem Hintergrund dieser baulichen Strukturen erklärt sich die Unzufriedenheit der lokalen Bevölkerung mit dem heutigen Rückzug der Verwaltungen – Haushalte sind nur selten in der Lage, genügend Ressourcen zur Entsorgung der flüssigen und festen Abfälle aufzubringen.
7.1. Die Gestalt der Abwasserentsorgung
215
Lokale Perspektive auf die Vorbehandlung der Abwässer Anders als die Instandhaltung der Entwässerungskanäle bringt das Septic Tank System nur bei bestimmten baulichen Formen eine Kollektivierung der Leistungserbringung auf der Ebene der Haushaltsgruppen mit sich, nämlich in Geschosswohnungsbauten. Die Leerung der Septic Tanks ist weitgehend marktwirtschaftlich organisiert und zeichnet sich in der Regelungsform durch Verhandlungen zwischen Haushalten oder Haushaltsgruppen und Leerungsunternehmen aus. Die Preise für die Leerung sind nur für städtische Unternehmen festgelegt, die informellen Kleinstunternehmen halten sich jedoch den in diesem Rahmen durchgeführten Befragungen zufolge ebenfalls an diese Vorgabe (vgl. Kap.5.2.3). Die befragten Vorstehenden der Haushaltsgruppen zeigen sich mit dieser Form der Abwasserentsorgung zufrieden. Auch hier hängt die Zufriedenheit mit dem geringen Aufwand für die Bewohner und Bewohnerinnen zusammen, die die Septic Tanks in der Regel sehr selten leeren lassen. Diskussion Diese Darstellung der urbanen Abwasserentsorgung Hanois verdeutlicht, dass die inneren Stadträume über lokal differenzierte Abwasserentsorgungsinfrastrukturen verfügen, diese jedoch insofern miteinander kompatibel sind, als sie sich gegenseitig nicht störend auswirken. Dies stellt sich in den charakteristischen Räumen am Stadtrand und im suburbanen Raum, die aktuell hochdynamisch sind, anders dar. Die Untersuchung der lokalen soziotechnischen Ausprägungen des Abwasserentsorgungssystems zeigt darüber hinaus, dass fast alle charakteristischen Räume über ihre Unterschiede hinweg jeweils organisatorisch und technisch unterschiedlich verfasste Subsysteme aufweisen. Dies sind das Subsystem des Entsorgungsnetzes und das Subsystem der lokalen Behandlung der Schwarzwässer. Die Unterschiedlichkeit der Subsysteme findet sich im gesamten Raum Hanois bis auf die New Urban Areas mit den ihnen eigenen Satellitensystemen. Die lokalen Abwasserentsorgungssysteme des Stadtkerns, der Wohnsiedlungen, der urbanen und periurbanen Dörfer teilen sich jeweils zunächst in das Subsystem der lokalen Vorbehandlung – und im Falle der peri-urbanen Dörfer der lokalen Nutzung – der Schwarzwässer, das gebäudebasiert ist und Tendenzen zur gesellschaftlichen Selbstorganisation aufweist. Dabei werden Leistungen zum Teil durch Haushalte selbst, zum Teil durch marktwirtschaftlich arbeitende Unternehmen erbracht. Dies ist anders als das Subsystem der zentralen Ableitung und Reinigung des Abwassers, dessen technische Leitungen und Anlagen im öffentlichen Raum liegen und dessen Instandhaltung als gemeinschaftliche Aufgabe aufgefasst wird. Damit einhergehend ist dieses System durch eine stärkere Dominanz der öffentlichen Verwaltungen in der Regelung geprägt, während Leistungen sowohl professionell als auch durch lokale Bevölkerungsgruppen erbracht werden. Die Differenzierung der urbanen Abwasserentsorgung Hanois ist daher in den inneren Stadträumen weniger als räumliche Fragmentierung im Sinne eines ‚Zersplitterns‘, sondern vielmehr als eine
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Abwasserentsorgung Hanois
hybride Überlagerung2 von Subsystemen im Raum zu charakterisieren. Diese beiden, sich überlagernden Subsysteme sind jedoch in den hier untersuchten Räumen nicht identisch, sondern weisen gleichzeitig die oben aufgeführten lokalspezifischen Besonderheiten auf, die jeweils eigene Handlungsbedarfe und Gestaltungsoptionen bedingen. Allein am Stadtrand, der seit Đổi Mới durch rasante Verstädterung geprägt ist, stellt sich die Situation anders dar. Zunächst tritt die Überlagerung zweier unterschiedlich verfasster Subsysteme im Raum in den New Urban Areas nicht so deutlich hervor. Hier ist nämlich die Organisation der Leerung der Septic Tanks als Aufgabe des lokalen Managements des jeweiligen Gebietes im Wohnungsgesetz geregelt. Damit liegt die Beauftragung von Leerungsunternehmen nicht mehr im Ermessen der Haushalte. So ist die lokale Bevölkerung und in einigen Siedlungen auch das städtische Unternehmen HSDC der Erfüllung von Aufgaben im Abwasserbereich enthoben. Wie oben erläutert, nehmen New Urban Areas eine besondere Rolle im System der lokalen Verwaltung der Infrastrukturversorgung ein. Zudem führt die Begrenzung der Planung der Abwasserentsorgungssysteme auf die Gebiete der New Urban Areas zu Problemen in der Verbindung zwischen den am Stadtrand und im suburbanen Raum zu findenden Siedlungstypen. 7.1.2. Wandel des Systems der Abwasserentsorgung Die aktuellen Wandlungstendenzen der Abwasserentsorgung machen deutlich, dass die Charakterisierung des gegenwärtigen Abwasserentsorgungssystems einen Moment abbildet, der jedoch keinesfalls dauerhaft ist. Jede spezifische Konstellation von gebautem Raum und soziotechnischen Abwasserentsorgungsinfrastrukturen ist veränderbar. Gleichzeitig bedingen die Veränderungen des einen das jeweils andere. Die Entwicklungsdynamiken der charakteristischen Räume Hanois bestätigen zunächst die Abhängigkeit vom Netz im Sinne von Dupuy (2011). Denn Veränderungen wirken sich in unterschiedlicher Weise auf die Funktionalität des Systems aus. Die Vernachlässigung der zunächst im geplanten Prozess errichteten Siedlungen durch die städtischen Verwaltungen und Abwasserentsorgungsunternehmen führt zu Problemdruck auf die Bevölkerung, die mit dem Management der unterirdischen Leitungen überfordert ist. Der nachholende Ausbau eines unterirdischen Netzes bei weitgehendem Erhalt überirdischer Baustrukturen wird hingegen als Verbesserung eines im inkrementellen Prozess errichteten Raumes wahrgenommen. Die Tatsache, dass lokale Bevölkerungen mit einem nachträglichen Ausbau 2
Der Begriff ‚hybrid‘ wird in dieser Arbeit für das Abwasserentsorgungssystem in Abgrenzung zum von Joerges (1988, vgl. Kap. 2.2) verwendeten Begriff heterogen benutzt, der ihm für die Beschreibung von großtechnischen Infrastruktursystemen dient. Damit soll der Aspekt der Vermischung und Integration zweier oder mehr Eigenschaften betont werden, aus der eine neue Qualität entsteht (vgl. zu hybriden Infrastrukturnetzen: Offner 1999:231f). Der Begriff der Heterogenität, der eher die Zusammensetzung einer Sache aus mehreren ungleichen Teilen meint, die aber nicht unbedingt etwas Neues ergeben, sondern auch nebeneinander stehen können, wird in Bezug auf den städtischen Raum Hanois verwendet.
7.1. Die Gestalt der Abwasserentsorgung
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inkrementell gewachsener Strukturen eher zufrieden sind und eher gewillt sind, Arbeitseinsätze zu leisten, als im Zuge der Vernachlässigung im geplanten Prozess errichteter Räume, wird in der Stadterweiterung Hanois nicht berücksichtigt. Dies bedingt heutigen Handlungsbedarf. Gleichzeitig erfordert der nachholende Ausbau technischer Infrastrukturnetze erheblichen Aufwand öffentlicher Mittel. Um diesen zu umgehen, sind die Verwaltungen auf der Ebene der Stadt und der Bezirke motiviert, im inkrementellen Prozess wachsende Siedlungen abzureißen oder zu vernachlässigen und stattdessen neue Gebiete zu errichten. Dies ist vor allem dann eine für Investoren und Verwaltungen attraktive Lösung, wenn der Immobilienmarkt hohe Gewinne verspricht. Als Folge entsteht eine dauernde Tendenz zur Ausdehnung eines gesamtstädtisch vernetzten Systems der Abwasserentsorgung, das in seinen soziotechnischen Ausprägungen dem modernen Infrastrukturideal folgt. Die aktuellen Friktionen zwischen den charakteristischen Räumen zeigen zudem, dass es in Hanoi keinen urbanen Raum ganz ohne eine Form der netzbasierten Abwasserentsorgung gibt (vgl. Kap. 6.3.3). Es treffen vielmehr in unterschiedlicher Weise vernetzte Räume aufeinander. In peri-urbanen und urbanen Dörfern umfasst das technische Netz der Abwasserentsorgung die lokalen Freiflächen und Seen als Regenrückhaltebecken und den Anschluss an den nächsten Vorfluter über die Hauptflüsse der Stadt. Das im geplanten Prozess errichtete Abwasserentsorgungsnetz verläuft unterirdisch. Hier spiegelt die fehlende Kompatibilität der soziotechnischen Abwasserentsorgungssysteme ein Vakuum der institutionellen Verantwortlichkeit an der Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Räumen wider. Dieses manifestiert sich im gebauten Raum in den technischen Infrastrukturleitungen, die an der Grenze zwischen Teilräumen aufeinandertreffen, ohne miteinander verbunden zu sein. So zeigt der Blick auf die Abwasserentsorgungssysteme und ihre räumlichen Ausprägungen am Stadtrand mancherorts durchaus Tendenzen einer dysfunktionalen Differenzierung, die auf eine Zersplitterung der urbanen Infrastrukturen im Sinne von Graham und Marvin (2001) hinweisen. Die New Urban Areas sind mit lokal sehr gut ausgebauten Entwässerungsnetzen ausgestattet, die allerdings am Rande der Bauflächen oftmals abrupt enden – sie sind also premium network spaces, an die die urbanen und peri-urbanen Dörfer nicht angeschlossen sind. Daraus folgt ebenfalls, dass aus Sicht der premium networks ein bypassing der urbanen Dörfer von diesen Netzen stattfindet. Allerdings greift diese Sichtweise zu kurz, um die Situation an den Rändern Hanois zu erfassen. Sie bezieht nämlich die konkrete Störung der Funktionsfähigkeit von Netzen durch die Installation der premium network spaces nicht mit ein. Diese tritt eben in Hanoi zutage: die Dörfer verfügen selbst über ein inkrementell ausgebautes Netz zur lokalen Entwässerung. Dieses würde ohne die Entwicklung der New Urban Areas funktionieren. Die Situation ist also vergleichbar mit der von Dupuy (2011) analysierten Fraktur der Räume durch die Entwicklung des vernetzten Infrastruktursystems, mit dem Unterschied, dass hier zwei Räume aufeinander treffen, die jeweils mit einer eigenen Form der vernetzten Abwasserentsorgung ausgestattet sind. Nicht nur in der inneren Stadt, sondern auch im suburbanen Raum Hanois stellt sich bezüglich des Managements sowohl der menschlichen Ausscheidungen als auch der Oberflächenge-
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wässer innerhalb der extrem verdichteten Strukturen nicht die Frage, ob es ein vernetztes Abwasserentsorgungssystem geben soll oder nicht. Die Frage ist eher, wie die Topologie dieses Netzes beschaffen sein soll – wobei dessen Funktionalität, wie das Beispiel oben zeigt, direkt vom jeweiligen Prozess der Siedlungsentwicklung und den entsprechenden überirdischen Baustrukturen abhängt. 7.2. HANDLUNGSBEDARF UND GESTALTUNGSPOTENZIAL Aus der Charakterisierung der räumlichen Differenzierung der Abwasserentsorgung lässt sich mit Blick auf das Ziel, die Diskriminierung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu vermeiden, Handlungsbedarf ableiten. Die Analyse des Gestaltungspotenzials macht einsichtig, welche Wege zur Veränderung des trägen Systems den einzelnen Akteuren im Feld der zum Teil divergierenden Interessen überhaupt offen stehen. 7.2.1. Handlungsbedarf zur Vermeidung von Diskriminierung Das Abwassersystem Hanois ist in seinen soziotechnischen Ausprägungen durchaus positiv zu bewerten. In einem grundsätzlichen Sinne erlaubt es den meisten Bewohner_innen Hanois in der Trockenzeit und teils auch in der Regenzeit, nicht direkt mit krankheitserregenden Abwässern in Berührung zu kommen und im Vergleich zur Situation einiger Städte des globalen Südens mit relativ geringen finanziellen oder personellem Aufwand Abwässer hygienisch entsorgen zu können. Extreme Formen der Diskriminierung einzelner Bevölkerungsgruppen, wie sie etwa in einigen urbanen Räumen Kenias oder Indiens bestehen, wo ein Großteil der städtischen Bevölkerung ganz ohne professionell organisierte Leistungen der Abwasserentsorgung lebt oder grundlegende Leistungen zu überteuerten Preisen erstehen muss, sind in Hanoi nicht vorzufinden. Dennoch besteht Handlungsbedarf. Die grundlegende Herausforderung ist dabei der Umgang mit Tendenzen der Pluralisierung der soziotechnischen Formen der Abwasserentsorgung. Diese Tendenzen sind der aktuellen Abwasserpolitik Vietnams gegenläufig, die in Richtung einer Konzentration und Vereinheitlichung der Zuständigkeiten auf der Ebene der Provinzen weist (vgl. Kap. 5.1.4). In Hanoi hat das Volkskomitee Hanois als Provinzverwaltung zwar bedeutenden Einfluss. Gleichzeitig sind jedoch weitere Akteure innerhalb des politisch-administrativen Systems und darüber hinaus in der Regelung und Organisation der Abwasserentsorgung tätig (vgl. 7.1). Handlungsbedarf besteht also auf der konzeptuellen Ebene in einer Annäherung der abwasserpolitischen Ausrichtung politischer Entscheidungsträger_innen Vietnams und Hanois an das aktuell bestehende System und in einer Formulierung von pragmatischen Ansatzpunkten zu seiner Verbesserung. Die aktuell rasante Urbanisierung und die Transformation Vietnams mit der Öffnung zur Marktwirtschaft tragen zu einer Gefährdung der sozialräumlichen Kohäsion der Stadt bei. In Bezug auf den Abwassersektor heißt dies, dass auf stadtregionaler
7.2. Handlungsbedarf und Gestaltungspotenzial
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Ebene die Betroffenheit von Umweltverschmutzungen räumlich differenziert ist. In der Stadt wird schmutziges Abwasser produziert, das die Lebensbedingungen der flussabwärts lebenden Bevölkerung verschlechtert. Innerhalb des städtischen Raumes ist die soziale Kohäsion durch die hier analysierte räumliche Differenzierung des Zugangs der Bevölkerung zu Leistungen der Abwasserentsorgung bzw. der durch sie zu erbringende Einsatz von Ressourcen strapaziert. Dabei sei darauf hingewiesen, dass eine räumliche Differenzierung wie in der konzeptionellen Grundlegung eingeführt nicht mit einer Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf die ihnen zur Verfügung gestellten Leistungen gleichzusetzen ist, sondern vielmehr auch dazu beitragen kann, eine solche zu vermeiden (vgl. Kap. 2.3). Eine sozialräumliche Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen ist begünstigt, wenn die professionellen Abwasserentsorgungsunternehmen sich in ihrer Leistungserbringung auf spezifische Siedlungstypen konzentrieren, um diese konkurrieren und dabei andere Stadträume, deren räumlich-bauliche Struktur eine professionelle Entsorgung erfordern, deren Bewohner_innen aber nicht über finanzielle oder zeitliche Ressourcen zur Bewerkstelligung einer solchen Entsorgung verfügen, aus dem Blick verlieren. Es besteht Handlungsbedarf hinsichtlich der sozialen und technischen Dimensionen des heute vorzufindenden Systems der Abwasserentsorgungund seiner Entwicklungsdynamiken. Dieser betrifft sowohl den nachholenden Ausbau in bereits dicht besiedelten urbanen Räumen als auch den Ausbau des Abwasserentsorgungssystems als Teil aktueller Prozesse der Siedlungsentwicklung. Diese Handlungsbedarfe betreffen den gebauten Raum und die Organisation der Abwasserentsorgung – sie spiegeln gleichzeitig die oben ermittelten Wiedersprüche und offenen Stellen in der Gesetzgebung wider (vgl. v. a. Kap. 5.1.4 und 5.2.4). Handlungsbedarf: das Management des zentralen Systems Der Rückzug des städtischen Unternehmens HSDC aufgrund seiner finanziellen Situation erfolgte unter Abwägung seiner „vertikalen Integration“, nämlich die Breite des Leistungsangebotes, gegen seine „horizontale Integration“, nämlich das Gebiet, in dem es Leistungen erbringt, in Relation zur gesamten Stadtfläche. Aktuell tendiert es zu einer Inkaufnahme der Reduzierung der „vertikalen Integration“ zugunsten der „horizontalen Integration“ (vgl. Mayntz 2008; Kap. 5.2.2). Dieser Rückzug hat zunächst Konsequenzen, die über die Grenzen der charakteristischen Räume hinweg das gesamte System der Abwasserentsorgung Hanois betreffen. So führt dieser Rückzug dazu, dass die bereits errichteten zentralen Anlagen der Abwasserreinigung nicht Instand gehalten werden und stillliegen. Zudem ergibt sich für den Umgang mit den lokalspezifischen Ausprägungen dieses Systems in den charakteristischen Räumen Handlungsbedarf. Es bedarf einer unter Akteuren der öffentlichen Hand und mit der Bevölkerung Hanois abgestimmten Strategie, wie mit der raumspezifischen Differenzierung der öffentlichen Leistungserbringung im Bereich des Managements des Entwässerungssystems und der zentralen Abwasserentsorgungsanlagen umzugehen ist, um eine Diskriminierung bestimmter Gruppen zu vermeiden und die Abwasserentsorgung effizient zu gestalten. Handlungsbedarf besteht hier vor allem darin, Wege im Umgang mit der aktuell
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drastischen Finanznot des städtischen Unternehmens zu finden. Dabei steht die Auslotung von Möglichkeiten und Grenzen einer Erhöhung der Gebühren im Vordergrund, die dem Erlass 88 (88/2007/ND-CP) zufolge zumindest die Betriebskosten des Systems der Abwasserentsorgung decken müssten. Die Reduktion der Bandbreite von Leistungen der HSDC ist räumlich differenziert und betrifft vor allem die sozialistischen Wohnsiedlungen, die urbanen Dörfer und die inkrementelle Verdichtung, wo der Rückzug des Unternehmens durch den Einsatz der Bezirksverwaltungen, von Haushaltsgruppen und einzelnen Haushalten ausgeglichen wird. Daher müssen mögliche Alternativen zur Entsorgung von Abwässern durch das städtische Unternehmen kritisch geprüft werden. Aktuell neben dem städtischen Unternehmen in Hanoi vorzufindende Akteure in der Leistungserbringung sind a) die durch die Bezirksverwaltungen angeheuerten Unternehmen, b) die lokale Bevölkerung, deren Einsatz durch die Vorstehenden der Haushaltsgruppen organisiert wird, c) die in den New Urban Areas ansässigen management boards oder d) die HUD, ebenfalls in New Urban Areas. Der Einsatz der lokalen Bevölkerung zur direkten Finanzierung oder Erbringung von Leistungen unterliegt Einschränkungen und kann nur unter bestimmten Bedingungen zu einer Verbesserung des Systems der Abwasserentsorgung beitragen. Dies zeigt das Instrument des local labour fund, der genau zu dem Zweck einer gesetzlich geregelten Dezentralisierung der Erbringung von Lebensnotwendigkeiten eingeführt wurde. Diese sollte durch regelmäßige Beiträge von Arbeit oder Geld der Bevölkerung realisiert werden, koordiniert durch die unterste Ebene des Verwaltungssystems Vietnams, nämlich die Stadtteile (vgl. Kap. 5.2.2). Diese Vorgehensweise hat sich jedoch aufgrund verschiedener Faktoren als ineffizient heraus gestellt – dazu gehörte einerseits die mangelnde Motivation der Bevölkerung, zusätzliche regelmäßige Zahlungen oder Arbeit zu leisten und andererseits die Intransparenz der Verwendung der Mittel durch die zum Teil überforderten Verwaltungen der Stadtteile. Dies wiederum senkte die Motivation der Bevölkerung weiter, weshalb der Fonds Ende der 2000er Jahre wieder abgeschafft wurde (vgl. Interviews Lutz Kleeberg 2008; TDP-UD 14 2011; Interview Lai Mạnh Tiến/ Nguyễn Đăng Tuấn 2009). Die Bezirke, die für die lokalen Entwässerungsnetze in den urbanen Dörfern zuständig sind, sind aufgrund der größeren Professionalität der dort angestellten Personen eher geeignet als die in der Verwaltungshierarchie weiter unten angesiedelten Stadtteile, Aufgaben im Bereich der technischen Infrastrukturversorgung zu übernehmen. Zudem ist zu prüfen, inwiefern die zusätzliche Belastung der lokalen Bevölkerung, die zum Ausbau des Netzes neben den formellen Gebühren anders als etwa im Stadtkern finanzielle Beiträge oder Arbeit leisten, sozial gerecht ist. In Bezug auf die Wohnsiedlungen ist fraglich, ob die aktuelle Vorgehensweise der Vernachlässigung dieser Siedlungen im Lichte des ausstehenden Abrisses und Neubaus nachhaltig ist. In Bezug auf die New Urban Areas ist zu ermitteln, wie die aktuell vor allem in den durch internationale Unternehmen errichteten Siedlungen sehr hohen Kosten für das Management der Abwasserentsorgung durch lokal arbeitende, oftmals materiell oder zumindest formell privatisierte Unternehmen transparenter gestaltet werden können. Dabei müsste erörtert werden, wie diese Form der gebietsspezifischen Leistungserbringung mit dem ebenfalls durch die öffentliche Hand verfolg-
7.2. Handlungsbedarf und Gestaltungspotenzial
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ten Ziel der stadtweiten Vereinheitlichung der Infrastrukturversorgung zu vereinbaren sein kann. Dieses Problem zeigt sich nicht nur auf der stadträumlichen Ebene in den mit exklusiven unterirdischen Satellitennetzen ausgestatteten New Urban Areas, die umgeben sind von vernetzten, stark verdichteten Räumen. Sie spiegelt sich vielmehr auch in der Gesetzgebung wider und weist auf Abstimmungsbedarf innerhalb der und zwischen den übergeordneten Ministerien und den jeweils zuständigen administrativen Einheiten hin. Die HUD ist formell privatisiert, während die HSDC weiterhin öffentlich-rechtlich verfasst ist. Beide sind im Hinblick auf ihre fachliche Ausrichtung formell weisungsgebunden an das Bauministerium. Die HSDC arbeitet im Auftrag der Provinzverwaltung, also dem Volkskomitee Hanois, während die HUD ohne eine solche direkte Anbindung an die vertikale Achse der administrativen Struktur auskommt. Dass beide – formell demselben Fachministerium zugeordnete – Unternehmen nun in Konkurrenz zueinander treten, ist ein Beleg für die Komplexität der wirtschaftlichen und institutionellen Verfassung der technischen Infrastruktursysteme Vietnams, die sich aus einer politischen Ökonomie ergibt, die sich weiterhin im Prozess der Transformation befindet. Ein weiterer über die stadträumliche Ebene hinausgehender Regulierungsbedarf ergibt sich aus der Situation der peri-urbanen Dörfer. Wie oben erläutert, sind hier administrative Zuordnung und Raumstruktur nicht zueinander passend, wenn diese Dörfer trotz massivem Urbanisierungsdruck weiterhin in formell ländlichen administrativen Bezirken liegen. In diesem Fall ist der Aufbau eines der Siedlungsstruktur angepassten Entwässerungsnetzes gehemmt, da Instrumente zur Regulierung und zur Erhebung von Gebühren nicht gegeben sind. Damit sind dortige Systeme allein vom freiwilligen Einsatz lokaler Bevölkerungen abhängig, dessen Erbringung jedoch nur unter bestimmten Rahmenbedingungen zu erwarten ist. Hier besteht also Bedarf zur Prüfung von Handlungsoptionen, sei es eine Ausweitung der Zuständigkeit des aktuell vorrangig für die landwirtschaftliche Bewässerung zuständigen MARD oder eine Integration in die urbanen Bezirke. Der Rückzug des der Provinzebene zugeordneten Abwasserentsorgungsunternehmens in Hanoi sollte auch in aktuellen Abwasserpolitiken berücksichtigt werden, die aktuell eine Rezentralisierung der Verantwortlichkeiten auf die Ebene der Provinzen und dort, im Hinblick auf die vertikale Struktur, eine Konzentration der Zuständigkeit im Department of Construction, das dem Bauministerium untergeordnet ist, vorsehen (vgl. Kap. 5.1.4). Vor dem Hintergrund knapper Ressourcen bedarf die Abwasserpolitik Vietnams also einer Anpassung im Sinne eines konstruktiven Umgangs mit der in Hanoi vorzufindenden Tendenz zu einem verstärkten Einbezug der Bezirksverwaltungen in Ausbau und Management der lokalen Abwasserentsorgungssysteme. Handlungsbedarf: das Management der Septic Tanks Es ist zu erörtern, ob und wenn ja in welcher Form die Septic Tanks weiterbestehen sollten oder ob es zugunsten der im Zuge des „Entwässerungsprojekts“ mithilfe der japanischen Entwicklungsagentur vorgeschlagenen Installation von zentralen, an den Flussgebieten der Hauptflüsse orientierten Anlagen aufzugeben ist. Wie oben
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erläutert, ist das System in seiner aktuellen Ausprägung ineffizient und trägt kaum zur Reinigung der städtischen Abwässer bei. Sollte dieses System also auch in Zukunft aufrecht erhalten werden, muss mit den Herausforderungen umgegangen werden, die sich heute sowohl auf der gesamtstädtischen Ebene, auf der Ebene der charakteristischen Räume als auch auf der Ebene der einzelnen Haushalte stellen. Eine dieser Herausforderungen ist die bauliche Ausstattung der Tanks, die heute in der Regel ohne Filter installiert werden. Zudem ergibt sich aus der Konstruktion der Septic Tanks als Teil des inkrementellen Siedlungsentwicklungsprozesses Handlungsbedarf aufgrund der Installation der Tanks ohne Zugang. Diese spiegelt die Haltung der Bevölkerung zu den Tanks wider, die Leerungen der Tanks nicht als Aufgabe begreifen, die regelmäßig durchzuführen ist. Auf diese Weise wird eine aus technischer Sicht sinnvolle Erhöhung der Leerungsintervalle durch die aktuell gängige Konstruktionsweise der Tanks erschwert. In Bezug auf die Konstruktion der einzelnen Tanks ist einerseits zu erörtern, wie diese zukünftig auch im inkrementellen Prozess optimiert werden kann und auch, welche Optionen zur baulichen Verbesserung der heute installierten Tanks bestehen. Wie oben erläutert, würde eine Erhaltung des Systems der Septic Tanks zudem nur dann zur Qualitätsverbesserung der Abwasserentsorgung beitragen, wenn Wege zur Verhinderung der aktuell verbreiteten Verkippung der aus den Tanks geleerten Schlämme zurück in das Entwässerungsnetz gefunden werden. Je nachdem welcher Stellenwert diesem System zugedacht werden soll, ist zu erörtern, welche Möglichkeiten und Restriktionen der Gestaltung der technischen, wirtschaftlichen und institutionellen Dimensionen dieses Systems im Lichte des rasanten und größtenteils inkrementellen urbanen Wachstums bestehen. Auf dieser Basis ist zu prüfen, inwiefern eine Weiterentwicklung des formalgesetzlichen Rahmens dieses Systems – der wie oben erläutert, an einigen Stellen offen ist – eine erfolgversprechende Intervention ist und welche anderen Interventionen sich vor dem Hintergrund der begrenzten Steuerungskapazitäten staatlicher und gesellschaftlicher Akteure anbieten. Entsprechende Optionen und Restriktionen werden unten diskutiert (Kap. 7.2.2). Handlungsbedarf: aktuelle Entwicklungsdynamiken des Abwassersystems Die bauliche Entwicklung des Abwasserentsorgungssystems geht durch die Ausdehnung und den Umbau des Abwasserentsorgungsnetzes, durch den Bau zentraler Anlagen und durch die Installation der Septic Tanks als integrale Bestandteile der inkrementellen und zum Teil der geplanten Siedlungsentwicklungsprozesse vor sich. Aktuelle Probleme der Anlagendimensionierung im Zuge des Entwässerungsprojektes der JICA veranschaulichen tieferliegende Konflikte zwischen dem diesem Projekt zugrunde liegenden Planungsansatz und den tatsächlichen Dynamiken der Stadtentwicklung (Kap. 4.5.2). Der großmaßstäbliche Ausbau von Netzen und Anlagen, der auf ingenieurwissenschaftlichen Berechnungen des Abwasseraufkommens als Grundlage des Anlagenvolumens und der Kapazitäten von Pumpanlagen beruht, gerät aktuell in Hanoi an seine Grenzen. Wie oben erläutert, stehen die in dieser Vorgehensweise notwendigen, umfassenden Bestandsaufnahmen und langwierigen Analysen einem dynamischen Stadtraum entgegen. Die von ge-
7.2. Handlungsbedarf und Gestaltungspotenzial
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samtstädtischen Behörden unvorhergesehene Intensivierung und Ausdehnung besiedelter Flächen und damit der Rückgang von Rückhaltekapazitäten des städtischen Wasserkörpers führen dazu, dass technische Anlagen ihren Zweck nicht wie vorgesehen erfüllen können (vgl. Kap. 5.2.4). Zudem besteht Handlungsbedarf für die Abstimmung der vorgesehenen Investitionen mit tatsächlich verfügbaren finanziellen Mitteln. Für die Umsetzung des ersten Teils des Entwässerungsprojektes wurden Kredite in erheblichen Umfang von der japanischen Entwicklungsbank aufgenommen. Die Frage nach der Finanzierung solcher Kredite ist dabei auch in der gesetzlichen Regulierung nicht abschließend geregelt – wie oben erläutert, müssen Gebühren im Abwasserbereich anders als in anderen Infrastruktursektoren nicht die Investitionskosten decken. Es ist vor diesem Hintergrund fraglich, wie der geplante weitere Ausbau komplexer technischer Anlagen finanziert werden soll. Am Stadtrand gibt es zudem Friktionen zwischen den Räumen, die in verschiedenen Prozessen der Siedlungsentwicklung entstehen. Diese zeigen ebenfalls, dass die Abwasserentsorgungs- und Stadtentwicklungsplanung mittels graphischer Dokumente, die langfristig vorgesehene gesamtstädtische Entwicklungen detailliert abbilden, bei gleichzeitiger inkrementeller Siedlungsentwicklung nicht auf die tatsächlich vorzufindenden Situationen reagieren kann. Das wirkt sich zuweilen störend auf die Funktionalität der Abwassernetze aus; aktuell sind hier vor allem die im inkrementellen Prozess entwickelten Siedlungen nachteilig betroffen. Die besonders im suburbanen Raum und am Stadtrand vorzufindende Vielfalt der soziotechnischen Konstellationen der Abwasserentsorgung sollte sich auch in den Planungen zur Entwicklung des Kanalisationssystems widerspiegeln. Wie oben erläutert, sehen die aktuellen Planungen zum Ausbau des Abwasserentsorgungsnetzes von Stadtverwaltung und japanischer Entwicklungsagentur vor, Stadtrand und suburbanen Raum weiträumig mit einer einheitlichen Trennkanalisation auszustatten. Es zeichnet sich bei den dort bereits vorzufindenden vielfältigen Strukturen jedoch nicht ab, dass diese Planung umgesetzt werden kann – zumindest nicht innerhalb der nächsten Jahrzehnte. Selbst wenn dies in der Zukunft gelingen sollte, bliebe die Frage nach der Finanzierung der Instandhaltung dieses einmal errichteten Systems offen. Schon heute bedarf es jedoch einer konkreten und kurz- bis mittelfristig umsetzbaren Strategie im Umgang mit den Friktionen zwischen den unterschiedlich vernetzten Räumen. Handlungsbedarf liegt also in der Anpassung der seit der Kolonialzeit persistenten Idee der Stadt- und Infrastrukturplanung mittels übergreifender Pläne und Programme basierend auf umfassenden Analysen an die tatsächlich begrenzte Verfügbarkeit von Daten sowie informelle Dynamiken der (Re-)Produktion des urbanen Raumes. Die Wahrscheinlichkeit, dass in umfassenden, auf der gesamtstädtischen Ebene organisierten Analysen rasante Veränderungsdynamiken abgebildet werden können, um darauf aufbauend vorausschauende graphische Pläne zu entwickeln, und dass diese dann die tatsächliche städtische Entwicklung leiten, ist als marginal einzustufen. Die Umsetzbarkeit entsprechender Planungen wird speziell im Abwassersektor noch durch das Fehlen eines gesetzlichen Rahmens eingeschränkt, der die Finanzierung der aktuell projektierten großtechnischer Infrastrukturprojekte sichern würde (vgl. Kap. 5.1.4; Kap. 5.2.2). Insofern gilt es, das Ver-
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ständnis der Entwicklung des urbanen Raumes und seiner Steuerbarkeit sowie entsprechender Rahmenbedingungen im Abwassersektor Vietnams kritisch zu reflektieren und aktuelle Strategien und Politiken anzupassen. Die vorgestellten Handlungsfelder sind nicht isoliert zu betrachten, sondern stehen in direktem Zusammenhang zueinander. Sie spiegeln sich ebenso sehr im gebauten Raum und in den Handlungen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure wider, wie in den formellen Gesetzen und der institutionellen Verfasstheit. Entsprechende Widersprüchlichkeiten oder offene Stellen in der Gesetzgebung mit Bezug auf die Abwasserentsorgung weisen auf mangelnde Abstimmung und damit fehlende Eindeutigkeit des Handelns staatlicher Akteure sowie auf die Offenheit des im Entstehungsprozess befindlichen gesetzlichen Rahmens hin. Es bedarf jedoch einer konsistenten Strategie im Umgang mit der Abwasserentsorgung, wobei sich drei Möglichkeiten eröffnen. Zunächst sind Formen der räumlichen Differenzierung des Systems der Abwasserentsorgung zu identifizieren, die dem Ziel der Vermeidung von Diskriminierung nicht entgegenstehen und damit hier als akzeptabel zu betrachten sind. Zudem ist zu ermitteln, wo Differenzierungen aufgrund knapper Ressourcen zumindest mittelfristig in Kauf zu nehmen sind und schließlich wo eine Differenzierung unweigerlich zu Diskriminierungen oder Effizienzproblemen des Abwasserentsorgungssystems führt und deren Vermeidung daher bei der Vergabe von finanziellen und personellen Ressourcen Priorität eingeräumt werden sollte. Eine entsprechende Strategie muss in Einklang gebracht werden mit den potenziell zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen. Dieser Einklang müsste hergestellt werden einerseits in Bezug auf den Umfang als auch die Art der Ressource, seien es finanzielle Ressourcen, wie von der Bevölkerung erhobene Gebühren, Steuereinnahmen oder Einnahmen aus anderen Quellen, oder auch der Einsatz von Arbeit durch die Bevölkerung. Es ist zu prüfen, welcher Umfang an Aufwendungen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuzumuten ist. Dieser ist der weiteren Ausgestaltung des Abwasserentsorgungssystems zugrunde zu legen. Ein unreflektiertes Festhalten an einer dem modernen Infrastrukturideal entsprechenden Universalisierung führt zu einer Verschärfung sozialer und räumlicher Fragmentierung. 7.2.2. Gestaltung eines trägen Systems bei divergierenden Interessen Da in Öffentlichkeit und Fachkreisen großes Interesse an einer Verbesserung des Abwassersystems besteht, ist zu fragen, welche Potenziale zur Gestaltung dieses Systems überhaupt gegeben sind und wo Restriktionen liegen, die die Verwirklichung bisher vorgebrachter Ideen hemmen. Diese Frage wird an dieser Stelle von zwei Blickwinkeln aus beleuchtet, einerseits der Systemlogik großtechnischer Infrastruktursysteme bezogen auf die Septic Tanks und andererseits die insbesondere in Bezug auf die Stadt im globalen Süden diskutierte Fähigkeit und auch der Wille staatlicher und gesellschaftlicher Akteure zu gemeinwohlorientiertem Handeln (vgl. Kap. 2).
7.2. Handlungsbedarf und Gestaltungspotenzial
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Die Logik der Septic Tanks – hohe Gestaltungsresistenz Technische Infrastruktursysteme nehmen in ihren sozialen und technischen Ausprägungen Trägheit an. Dies wurde vielfach untersucht und in verschiedener Weise begrifflich gefasst als Momentum, Beharrungsvermögen, Pfadabhängigkeit oder Gestaltungsresistenz (vgl. Hughes 1984; Hommels 2010; Monstadt 2007; Mai 2004; Kap. 2.2). Diese Eigenschaft ist für die Planung technischer Infrastruktursysteme von grundlegender Bedeutung. Sie trägt dazu bei, dass bestehende technische Möglichkeiten aufgrund von vielfältigen institutionellen und technischen Widerständen nicht ausgeschöpft werden und Veränderungen eines Systems auch dann nur mit größerem Aufwand umzusetzen sind, wenn Entscheidungsträger_innen sie als rational wahrnehmen (vgl. Mayntz/Schneider 1995). Auch dem Abwasserentsorgungssystem Hanois wohnt Trägheit inne. Wie in Kapitel 4 zur historischen Entwicklung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi erläutert, haben sich verschiedene, bereits in vorkolonialer Zeit bestehende soziotechnische Ausprägungen der Abwasserentsorgung Hanois bis heute gehalten. Dazu gehört neben der Nutzung des Schwarzwassers in der Landwirtschaft etwa der Einsatz der lokalen Bevölkerung in der Instandhaltung des Entwässerungsnetzes, geregelt in einem Prozess der hierarchischen Entscheidungsfindung. Die Dauerhaftigkeit dieser Leistungserbringung ist wenig überraschend, weil sie von der öffentlichen Hand über den Wandel der politischen Ökonomien hinweg generell gutgeheißen wurde. Anders verhält es sich mit bis heute bestehenden Techniken der lokalen Sammlung des Schwarzwassers und seiner Nutzung in der Landwirtschaft. Diese haben bereits koloniale Planer als unhygienisch und der projektierten Stadt Hanoi unwürdig verworfen. Dennoch haben diese Techniken bis heute Bestand – und dies in einem überwiegenden Teil des städtischen Raumes von Hanoi. Die geschichtliche Entwicklung der Septic Tanks zeigt, dass diese Trägheit von Systemkomponenten nicht mit einer starren Gleichförmigkeit des Systems zu verwechseln ist. Septic Tanks wurden in ihrer ursprünglichen Konzeption während der Kolonialzeit noch als Gegensatz zu den gewöhnlichen Latrinen – verbunden mit der Nutzung des night soil in der Landwirtschaft – positioniert. Im Unterschied zu diesen wurden sie als modern und hygienisch aufgefasst (vgl. 3.7.1). In ihrer heutigen Gestalt vereinen sie jedoch Eigenschaften beider Technologien, der ursprünglich vorgesehenen Septic Tanks und der Latrinen. In Bezug auf die Technikstruktur etwa nehmen sie wie die einfachen Latrinen nur Schwarzwasser auf und keine anderen Haushaltsabwässer. Darüber hinaus fehlt ein für die ursprüngliche Konzeption der Septic Tanks für die Reinigungsleistung wichtiges Bauteil, nämlich der Filter, was ebenfalls eine technische Annäherung an die Latrinen ist. Im Hinblick auf die Leistungserbringung wird die Leerung durch Kleinstunternehmen und nicht durch städtische Unternehmen durchgeführt und die Schlämme werden nicht behandelt, sondern verklappt und zum Teil in der Landwirtschaft genutzt – wie bei den Latrinen. Das Beharrungsvermögen dieses Systems ist also nicht verbunden mit einer starren Unveränderlichkeit, sondern einer Flexibilität, die Veränderungen der technischen und organisatorischen Ausprägungen im Zeitverlauf zugelassen hat.
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Abwasserentsorgung Hanois
Auch wenn sich dieses träge System als Ganzes in den letzten Jahrzehnten als veränderbar erwiesen hat, so sind die unter den einzelnen Gebäuden installierten dezentralen Anlagen jedoch nicht ohne weiteres gezielt an neue Bedingungen anzupassen. Die Überlastung des Systems durch die extrem gestiegenen Bevölkerungsdichten in der inneren Stadt führte dazu, dass sein Nutzen im Hinblick auf die Abwasserreinigung Hanois weitgehend verloren ging. Wie die Konstruktionsweise der Septic Tanks ohne Filter oder Zugang illustriert, sind die Bewohner und Bewohnerinnen in der Regel nicht der Auffassung, dass eine regelmäßige Leerung der Tanks notwendig oder nützlich sei. Der nachträgliche Umbau der Masse der im Stadtgebiet Hanois zu vermutenden Septic Tanks, koordiniert durch die gesamtstädtische Verwaltung, würde daher einen großen Steuerungsaufwand mit sich bringen. Die Organisation der Trennung der Schlämme in individuellen Haushalten vom flüssigen Abwasser ist schwerer von Seiten gesamtstädtischer Verwaltungen zu steuern als eine zentrale Sammlung und Reinigung der kommunalen Abwässer. Das System der dezentralen Reinigung von Schwarzwässern Hanois ist also beharrlich und relativ persistent gegenüber Gestaltung durch die städtische Verwaltung. Hierin ist das Bestreben einiger Akteure in der städtischen Verwaltung sowie auf der Ebene der zuständigen Ministerien und der Nationalversammlung begründet, dieses System zugunsten des Aufbaus eines gesamtstädtisch vernetzten Entwässerungssystems mit der Installation flussgebietsorientierter Anlagen zur Reinigung des Abwassers aufzugeben. Aus der gesamtstädtischen Sicht wäre dessen Instandhaltung – unter der Voraussetzung der Verfügbarkeit entsprechender finanzieller Mittel – leichter zu steuern. Vor dem Hintergrund der ebenfalls beharrlichen Implementierungsprobleme eines solchen, auf flussgebietsorientierten Anlagen basierenden Abwasserentsorgungssystems für den dynamisch wachsenden Stadtraum seit der Kolonialzeit ist jedoch ein differenzierter Umgang mit diesem – aktuell durchaus ineffizienten – System als pragmatisch einzustufen. Fähigkeit und Wille zum gemeinwohlorientierten Handeln Die Betrachtung der Akteure in staatlichen und gesellschaftlichen Sphären zeigt, dass deren Wille und Fähigkeiten zur weiteren Ausgestaltung des Systems der Abwasserentsorgung im Interesse breiter Bevölkerungsgruppen nicht nur aufgrund der Trägheit des Systems eingeschränkt sein kann. Vielmehr können einerseits mangelnde Ressourcen und andererseits divergierende Interessenlagen der Akteure ihre Fähigkeiten und auch ihren Willen zur Gestaltung des Systems einschränken. Wie Analysen der Governance von Infrastruktursysteme zeigen, ist die Steuerungsfähigkeit dieser Systeme durch Akteure zwar eingeschränkt. Dennoch besteht in ihren Augen sowohl für gesellschaftliche also auch staatliche Akteure grundsätzlich die Möglichkeit zur zielgerichteten Intervention in diese Systeme. In Bezug auf urbane Infrastruktursysteme und insbesondere Systeme der urbanen Abwasserentsorgung im globalen Süden zeigt sich, dass auch hier eine geringe Steuerungsfähigkeit staatlicher Akteure vorliegt (vgl. Kap. 2.4). Gleichzeitig eine Erbringung von Leistungen komplett außerhalb des Einflusses staatlicher Institutionen nicht als realistische Möglichkeit gegeben (vgl. Roy 2010; Migdal 2007). So ist die Vernachlässigung bestimmter Räume in der formell staatlich geregelten Erbringung von Leistungen
7.2. Handlungsbedarf und Gestaltungspotenzial
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nicht als Resultat einer etwaigen Neutralität von Akteuren in Staat, Gesellschaft und Markt aufzufassen, sondern als Resultat einer Reihe einzelner Entscheidungen zugunsten partikularer Interessen der Mitglieder dieser Gruppen. Wie oben erläutert, ist jedoch gleichzeitig nicht von der Verfolgung einer kohärenten oder übergreifenden Strategie der Akteure auszugehen, sondern von einer Widersprüchlichkeit des Handelns in einem intransparenten Feld divergierender Interessen (vgl. Kap. 2.2.4). Aus dieser Sicht bedürfen auch dezentrale Formen der Infrastrukturversorgung einer grundsätzlich ermöglichenden Haltung der öffentlichen Hand. Eine sozialgerechte Grundversorgung der Bevölkerung kann nicht gegen den Widerstand staatlicher Akteure erfolgen (vgl. Kap. 2.4.4). Vor diesem Hintergrund sind also die Interessenlagen relevanter Akteure Hanois auf Vereinbarkeiten und Widersprüche hin zu prüfen. Dabei sei angemerkt, dass die heutige Gestalt der urbanen Infrastrukturversorgung und des städtischen Raumes Hanois nicht darauf hinweist, dass Mitglieder der öffentlichen Verwaltungen eine drastische stadträumliche Diskriminierung breiter Bevölkerungsgruppen in der Versorgung mit grundlegenden Leistungen zur Durchsetzung partikularer Interessen in Kauf nehmen. Dennoch verfolgen und priorisieren sie ihre Interessen, die sie gegebenenfalls auch gegen die Interessen breiter Bevölkerungsschichten durchsetzen. Diese lassen sich über unterschiedliche städtische Handlungsfelder hinweg erkennen und werden wie oben erläutert insbesondere bei der Entwicklung von Immobilienprojekten sichtbar (Han/Vu 2008; Labbé 2010). Mittels Koalitionen bei der Entwicklung von Immobilienprojekten wird die Durchsetzung von Eigeninteressen von zum Teil sowohl in Planungsbehörden als auch in Projektentwicklungsunternehmen tätigen Akteuren gefördert, unter Umständen auch gegen die Interessen der in den urbanen und peri-urbanen Dörfern lebenden Bevölkerungsgruppen (vgl. Kap. 4.5.2). Über die am Stadtrand und im suburbanen Raum laufenden Prozesse der Siedlungsentwicklung hinaus werden auch innerhalb des städtischen Raumes, nämlich in den während der Planungsära errichteten Wohnsiedlungen, Aushandlungen zwischen Verwaltungen, Investoren und lokalen Bevölkerungen geführt. Hier stehen die Interessen der Akteure in einem solchen Verhältnis zueinander, dass die städtischen Verwaltungen in Koalitionen mit Investitionsunternehmen ein eigenes Interesse an der Vernachlässigung der Versorgung bestehender Siedlungen mit grundlegenden Infrastrukturen entwickeln. Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlungen verhandeln mit den Behörden und Investitionsunternehmen die bauliche Gestaltung der vorgesehenen Neubauten. Die Vernachlässigung der lokalen Infrastrukturen und die Verzögerung des Neubaus der Siedlungen sind als Strategie einzustufen, die Haushalte zum Einlenken zu bewegen (vgl. Kap. 5.2.1). Entsprechend sind es die Bewohnerinnen und Bewohner von Räumen, die aktuell mit potenziellen Bauprojekten in verschiedener Weise kollidieren, nämlich peri-urbane und urbane Dörfer am Stadtrand und vor allem die Wohnsiedlungen, die am ehesten von Diskriminierung durch aktive Vernachlässigung oder Zerstörung gefährdet sind. Vor dem Hintergrund der als gering einzustufenden Motivation zu Instandhaltung und Management lokaler Infrastrukturen durch die öffentliche Hand und städtische Unternehmen bleibt es zu ermessen, in welchem Maße die in
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Haushaltsgruppen organisierten Bevölkerungen eigene Gestaltungsfähigkeiten besitzen. Wie das Beispiel der Konflikte um den Ausbau der Abwasserentsorgungssysteme in den (peri-)urbanen Dörfer am Stadtrand zeigt, sind diese grundsätzlich keinesfalls ohne Einflussmöglichkeiten, sondern können durch Widerstände gegen Planungen der öffentlichen Hand potenziell Veränderungen bewirken. Diese Veränderungen durch Wiederstand lokaler Bevölkerungsgruppen müssen jedoch nicht zu einer nachhaltigen, dem Gemeinwohl dienenden Struktur des gebauten Raumes führen. Dies untermauert die These von Roy (2009), die darauf hinweist, dass im Zuge informeller Stadtentwicklung zwar Einflussmöglichkeiten lokaler Bewegungen bestehen, diese jedoch keine Garanten für eine sozialgerechte stadträumliche Struktur sind. Der Verhandlungsspielraum der Bewohner und Bewohnerinnen in den sozialistischen Wohnsiedlungen ist aufgrund der schlechten Qualität der Bausubstanz, die eine baldige Sanierung von öffentlicher Seite erforderlich macht, sehr eingeschränkt. Welche Ansatzpunkte zur Gestaltung hier noch offen stehen, wird unten erörtert (Kap. 6.3.2). Der Entwicklungspfad des Systems der Abwasserentsorgung ist durch die o. g. Siedlungsentwicklungstendenzen geprägt durch die Motivation von Verwaltungen und Unternehmen zur Stadtentwicklung durch Immobilienprojekte zu einem gewissen Grad vorgezeichnet (vgl. Kap. 4.5.). Damit sind die für die Entwicklung und das Management der Abwasserentsorgung relevante Interessen jedoch noch nicht abschließend erfasst. Es bestehen vielmehr weitere, speziell die Abwasserentsorgung betreffende Interessenlagen (vgl. Kap. 3.3 und Kap. 4.5.2). Zunächst ist es die japanische Entwicklungsagentur, die zusammen mit der japanischen Entwicklungsbank ein genuines wirtschaftliches Interesse an der Vermarktung und Anwendung von in Japan entwickelten Technologien in Vietnam hat. Der Bau von technisch komplexen Anlagen im Zuge des „Entwässerungsprojektes zur Verbesserung der Umweltsituation“ wird mittels Krediten, die die Nationalversammlung Vietnams von der japanischen Entwicklungsbank aufnimmt, finanziert – diese sind mit Zinsen von rund 5% belegt (vgl. Kap. 4.3). Der Ausbau des Abwasserentsorgungssystems wird weiter durch gewinnorientierte internationale und nationale Bau- und Investitionsunternehmen geprägt. Je nach Zielgruppe und Dynamik des Immobilienmarktes sind sie bereit, innerhalb der von ihnen errichteten Siedlungen moderne Infrastrukturen zu installieren. So gestalten sie die sozialräumliche Struktur der Stadt in einer Weise, die zu einer Fragmentierung führen kann. Zudem liegt es im Interesse des nationalen Projektentwicklungsunternehmens HUD, sich als Betreiber von Wasserver- und Abwasserinfrastrukturen zu profilieren und sich nicht auf städtische Leistungen zu verlassen (vgl. ebd.). Auf diese Weise wird der Ausbau des Abwasserentsorgungssystems vorangebracht, an dem vor allem die städtischen Verwaltungen Hanois und die Nationalversammlung Vietnam ein Interesse zeigen. Die Motivation zum Bau großtechnischer Anlagen der Abwasserentsorgung dient dem Ziel der Modernisierung Vietnams – technischen Infrastrukturen wird eine hohe Bedeutung für die nationale Entwicklung zugeschrieben (vgl. MOPI/UNDP 2010). Diese Tendenz zum Ausbau komplexer technischer Artefakte steht im Widerspruch zum Anspruch, die Bevölkerung mit grundlegenden Leistungen zu sehr ge-
7.3. Grundannahmen und Ansatzpunkte
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ringen Preisen zu versorgen – dieser Widerspruch ist als wichtiges Hindernis für den Ausbau eines nachhaltigen Abwasserentsorgungssystems zu sehen. So fürchten gewählte Vertreter_innen der Bevölkerung im Volksrat Hanois den Verlust ihrer Popularität, wenn sie der Bevölkerung Hanois für grundlegende Leistung wie die Wasserver- und Abwasserentsorgung höhere Ausgaben zumuten. Die lokalen Bevölkerungen haben in der Abwasserentsorgung auch im Vergleich zu anderen Infrastruktursektoren wie Abfall oder Wasserversorgung eine geringe Motivation zum Einsatz finanzieller und materieller Ressourcen oder Arbeit. Wie in Bezug auf die peri-urbanen Dörfer diskutiert, wird die Situation der Abwasserentsorgung selten als problematisch wahrgenommen. Wenn dies doch der Fall ist, wie etwa in extrem dicht besiedelten urbanen Räumen, wird die Lösung des Problems in der Regel nicht als Verantwortlichkeit der Haushalte oder Haushaltsgruppen erfasst. Werden Bevölkerungsgruppen dennoch aktiv, so haben sie die Verbesserung ihrer lokalen Situation im Blick und nicht etwaige gesamtstädtische Auswirkungen. Im Kern lassen sich also Bereiche definieren, in denen Interessenlagen spezifischer Akteure von anderen Akteuren nicht berücksichtigt oder nicht zutreffend eingeschätzt werden. Die Gestaltung der Gebührenstruktur stimmt aktuell etwa mit dem fortschreitenden Ausbau des technischen Systems nicht überein. Sie ist jedoch ein langwieriger politischer Prozess, der zwar schwerfällig ist, jedoch nicht stillsteht – Handlungsspielräume bestehen bei verbesserter Koordination der Akteure in Verwaltungen und im städtischen Unternehmen unter Einbezug der lokalen Bevölkerung. Die Situation der Wohnsiedlungen weist hingegen auf eine Blockade aufgrund von einander entgegenstehenden Interessen zwischen Bevölkerungen und Verwaltungen hin, die Handlungsspielräume der Bevölkerung stark einschränkt – was dem aktuellen Interesse der Verwaltungen entspricht. Die zielgerichtete Gestaltung des Systems der Abwasserentsorgung Hanois unterliegt Restriktionen, die sich zunächst aus der Trägheit des Systems, das eine gewisse Gestaltungsresistenz mit sich bringt, erklären lassen. Gleichzeitig spielen die divergierenden und teilweise unvereinbaren Interessen eine Rolle. Diese erschweren die Realisierung theoretisch denkbarer, der Verteilungsgerechtigkeit zuträglichen soziotechnischen Möglichkeiten. Dabei sind zwei grundlegende Regelungsprobleme zu erkennen. Dies ist einerseits die Vermischung von staatlichen und privatwirtschaftlichen Sphären, die den Unterschied zwischen Akteuren, die für die Erbringung von Leistungen, und Akteuren, die für ihre Regulierung verantwortlich sind, sowohl in der Stadtentwicklung als auch in der Abwasserentsorgung verwischen lässt. Gleichzeitig zeigen sich Koordinationsprobleme zwischen Akteuren auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen, die dynamisch einerseits auf Belange privatwirtschaftlicher Bau- und Investitionsunternehmen und andererseits auf die der lokalen Bevölkerungen eingehen.
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7.3. GRUNDANNAHMEN UND ANSATZPUNKTE In Anbetracht der begrenzten Wirksamkeit gesamtstädtischer Planung und der teilweisen Intransparenz divergierender Interessenlagen, die den aktuellen Zustand des Systems der urbanen Abwasserentsorgung Hanois bedingen, wird hier eine pragmatische Vorgehensweise vorgeschlagen. Die Ansatzpunkte zur Gestaltung des Systems zielen auf eine schrittweise Verbesserung der Situation in den oben erläuterten Themenfeldern ab und basieren auf Grundannahmen und Bedingungen, die aus der Analyse oben abgeleitet wurden. 7.3.1. Grundannahmen: dauerhafte Vielfalt und dauerhafter Wandel Anders als theoretische Debatten suggerieren, zeichnet sich die Entwicklung des urbanen Abwasserentsorgungssystems Hanois nicht durch ein eindimensionales Nebeneinander eines mit einem Netz ausgestatteten Raumes und eines Raumes ohne Entwässerungsnetz aus – es treffen vielmehr Räume aufeinander, die sich durch verschiedenartig ausgeprägte Systeme der Abwasserentsorgung auszeichnen. Diese sind immer netzbasiert, auch wenn diese vernetzten Infrastruktursysteme verschiedene soziotechnische Formen annehmen. Sie entsprechen weder vollständig dem modernen Leitbild der trockenen und sanitären Stadt, noch sind sie vollständig dezentral. Vielmehr vereinen sie Aspekte dieser beiden Pole. Der in Kapitel 4.4 vorgenommene Vergleich früherer und heutiger Abwasserentsorgungspolitiken führt zu der Erkenntnis, dass heutige Planung zwar nicht mehr von einer umfassenden Regelbarkeit des städtischen Raumes ausgeht, die Dynamik der Stadtentwicklung jedoch weiterhin als klar eingrenzbar und definierbar dargestellt wird – eine Sicht, aus der heraus der Aufbau eines einheitlichen zentralen Netzes erst sinnvoll ist. Als Basis einer effizienten Intervention in die Entwicklung von Stadt und Abwassersystem Hanois muss der städtische Raum jedoch als dauerhaft vielfältig und in einem dauerhaften Wandlungsprozess begriffen werden – als im Fluss – und zwar geprägt durch die geplanten und inkrementellen Siedlungsentwicklungsprozesse. Die Dauerhaftigkeit der Siedlungsentwicklung außerhalb gesamtstädtischer Planung und ohne von vornherein feststehenden Punkt der Fertigstellung urbaner Strukturen muss zur Grundlage weiterer Strategien der Abwasserentwicklung werden. Dabei muss die Inklusion der in unterschiedlichen Prozessen gewachsenen Stadträume so gestaltet werden, dass etwa ein Rückgang staatlicher Kapazitäten nicht einen Zusammenbruch eines bereits errichteten technischen Systems mit sich bringt. Stadtplanung und Verwaltung Hanois sollten aufgrund der bereits bestehenden Abhängigkeit vom zentralen Netz dessen Ausbau zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Systems voranbringen – je nach Siedlungsentwicklungsprozess im Vorwege oder nachholend – und gleichzeitig die Steigerung der Abhängigkeit vom stadtweit vernetzten Infrastruktursystem eindämmen, und zwar durch die Stärkung lokaler soziotechnischer Strukturen, die auf Selbstorganisation beruhen. Eine solche Doppelstrategie muss also einerseits mit der vorhandenen Abhängigkeit umgehen und gleichzeitig einer Steigerung der Abhängigkeit entgegenwirken.
7.3. Grundannahmen und Ansatzpunkte
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Entsprechende Konzepte zur Ausgestaltung der urbanen und peri-urbanen Abwasserentsorgung unterliegen zudem Bedingungen im Hinblick auf den Einbezug der lokalen Bevölkerungen. Wie die Untersuchung der aktuell vorzufindenden Abwasserentsorgungssysteme zeigt, gelten diese Bedingungen sowohl für gesamtstädtische Konzepte als auch für alternative dezentrale Konzepte – für letztere stellen sie jedoch eine größere Herausforderung dar (Kap. 6). Die Bedingungen sind die folgenden: der Einsatz von Arbeit oder finanziellen Ressourcen durch lokale Bevölkerungen muss entweder durch individuelle ökonomische Eigeninteressen motiviert sein, oder es müssen Möglichkeiten zur verbindlichen Sanktionierung bestehen. Die erste Bedingung ist etwa gegeben, wenn die landwirtschaftlich tätigen Bevölkerungsgruppen Schwarzwasser auf Felder aufbringen: sie tun dies aus einem eigenen Interesse heraus. Dieses Beispiel zeigt bereits, dass Eigeninteressen von Individuen im stark verdichteten urbanen Raum nur in Ausnahmefällen in funktionaler Weise mit übergreifenden öffentlichen Interessen übereinstimmen. Daher muss in der Mehrheit der Fälle die zweite Bedingung gegeben sein. Diese zeigt sich in den inneren Stadtgebieten, die an das zentrale Wasserversorgungsnetz angeschlossen sind, mit der Kopplung von Wasserver- und Abwasserentsorgung: zahlen die Haushalte keine Gebühren, droht ihnen der Entzug der Wasserversorgung. Die verbindliche Sanktionierung muss nicht immer als ein solch drastisches Zwangsmittel von staatlichen Institutionen auferlegt werden. Die Reinigungskampagnen in den Dörfern etwa funktionieren, da die lokalen Bevölkerungen die Teilnahme in der Regel als bürgerliche Pflicht sehen und ihren Ruf in der Nachbarschaft wahren möchten – die Nichtteilnahme wird auf der Ebene der Haushaltsgruppen sanktioniert. Zudem müssen diese Bedingungen mit einer weiteren Bedingung einhergehen. Dies ist die Wahrung von Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Ertrag für die Bevölkerungen. Diese ist keine feste Größe, sondern sie ist etwa durch Informationskampagnen beeinflussbar (vgl. Beauséjour/Việt Anh 2007). Es können daher unterschiedliche Wege beschritten werden, um diese notwendige Bedingung zu erfüllen. Wenn etwa Bewohnerinnen und Bewohner gegen ihren Willen arbeitsintensive oder komplexe Aufgaben erfüllen sollen, oder hohe finanzielle Beiträge leisten müssen, da sonst eine ernstliche Verschlechterung der Lebenssituation droht, wird es zu Spannungen zwischen Bevölkerungen und Akteuren im Verwaltungssystem kommen und hier in erster Linie auf der untersten Ebene der Lokalverwaltung. Dies ist aktuell in den Wohnsiedlungen der Fall und auch in den New Urban Areas, in denen die Gebühren für das Management besonders hoch sind (Kap. 6.2 und Kap. 6.3). Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, wird sich ein neues soziotechnisches System – gleich ob zentral oder dezentral – nicht etablieren können. Dies zeigt sich etwa im Projekt zum Aufbau eines dezentralen Entwässerungssystems in Lai Xá. Dieses entsprach weder den lokalen ökonomischen Eigeninteressen der lokalen Bevölkerung, noch sahen Bewohnerinnen und Bewohner ein Problem in der bis zum Projektbeginn vorgenommenen einfachen Ableitung der Abwässer in die Seen und Teich. Zudem gab es keine verbindlichen Sanktionierungsmöglichkeiten beim Verzicht auf den Einsatz von Arbeit oder finanzieller Ressourcen durch die Bevölkerung (vgl. Kap. 6.3).
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7.3.2. Die Gestaltung zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung Der Stadt Hanoi steht heute nicht nur ein Weg zur weiteren Entwicklung des Abwasserentsorgungssystems offen, sondern auch unter Berücksichtigung der oben formulierten Grundannahmen eine Vielzahl von Möglichkeiten. Die hier definierten Ansatzpunkte für eine von der heutigen Situation ausgehenden schrittweisen Gestaltung orientieren sich an den oben identifizierten Handlungsbedarfen und sind als eine Priorisierung von Interventionen innerhalb des Hanoi heute offenstehenden Möglichkeitsraumes zu verstehen. Dabei sind zunächst die gegenseitigen Abhängigkeiten einzelner Interventionen zu berücksichtigen. So bedingen bestimmte Interventionen den Erfolg anderer, weshalb die Umsetzung letzterer Interventionen ohne die Umsetzung ersterer nicht als nachhaltig betrachtet werden kann. Eine solche bedingte Intervention ist aktuell etwa der Ausbau zentraler technischer Artefakte und Netze zur Abwasserentsorgung. Dieser kann ohne regulierte Finanzierung der Instandhaltung dieses Systems nicht zur Verbesserung der städtischen Umweltsituation beitragen. Die Berücksichtigung der gegenseitigen Abhängigkeiten von Interventionen ist als erster Schritt für eine kohärente Abwasserpolitik hin zu einer Auflösung der in der Abwasserentsorgung Hanois bestehenden Widersprüchlichkeiten zu betrachten. Ein zentrales Thema der hier formulierten Ansatzpunkte ist die integrierte Betrachtung des auf Septic Tanks basierenden Subsystems und des netzbasierten Abwasserentsorgungssystems. Dabei wird ein Fokus auf Möglichkeiten zur weiteren sozialen und technischen Ausgestaltung des Septic Tank Subsystems gelegt, für das bisher keine übergreifenden Strategien bestehen. Eine kohärenten Strategie zur Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems baut auf bestehenden Differenzierungen auf. In Bezug auf das Management des bestehenden Systems stellt die Finanzierung von Betrieb und Instandhaltung eine zentrale Herausforderung dar. Entsprechend werden Ansatzpunkte für die Gestaltung der Leistungsfinanzierung sowohl der Septic Tanks als auch des netzbasierten Abwasserentsorgungssystems zwischen Konzentration und Differenzierung erläutert. Ansatzpunkte für den Ausbau des Abwasserentsorgungssystems als Bestandteil der Stadtentwicklung zeigen die Möglichkeiten und Grenzen einer die technischen Infrastrukturen integrierenden räumlichen Entwicklungsplanung im Lichte informeller Prozesse auf. Ansatzpunkte zu Stärkung und Einbezug der lokalen Bevölkerung sind dort vorgesehen, wo eine gesamtstädtische Steuerung sich als ineffizient erwiesen hat, oder wo die partikularen Interessen von Koalitionen zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren dem Gemeinwohl entgegen stehen. Die Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems Die aktuelle Abwasserpolitik sollte die Charakterisierung der Abwasserentsorgung Hanois als hybride Überlagerung räumlich differenzierter Systeme berücksichtigen. Die Abwasserpolitik Vietnams ist bisher von dem Bestreben nach einer stadtweiten Zentralisierung und Vereinheitlichung des Abwasserentsorgungssystems geprägt (vgl. Kap. 5.2.4 ). Das aktuelle Entwässerungsprojekt Hanois folgt dieser Ausrichtung im Hinblick auf die Ausgestaltung der Technik- und Leistungsstruktu-
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ren der Abwasserentsorgung. Entgegengesetzte Positionen verweisen auf den Bedarf der Dezentralisierung der Abwasserentsorgungssysteme sowohl auf der technischen als auch auf der institutionellen Ebene (vgl. Kap. 5.3). Eine Strategie, die auf den vorzufindenden Ausprägungen des Systems aufbaut, fasst jedoch die Mischformen zwischen diesen beiden Polen und deren weitere Ausgestaltung ins Auge (vgl. van Vliet et al. 2010; Kap. 2.4.3). Im Zuge einer solchen Strategie sind die sozialen und technischen Dimensionen der vorzufindenden Subsysteme der netzbasierten Abwasserentsorgung und der Entsorgung mittels Septic Tanks auszugestalten. Die Umsetzung einer solchen Strategie würde also zum Erhalt einer stadträumlichen Differenzierung des soziotechnischen Abwasserentsorgungssystems führen. Sie würde dann zur gewünschten sozialen Kohäsion beitragen, wenn Ressourcen durch einen pragmatischen Umgang mit dem Bestehenden geschont und aktuelle Unterschiede im Hinblick auf den Aufwand, den Bevölkerungsgruppen zu leisten haben, angeglichen werden. Im Zuge der Entwicklung einer Strategie des differenzierten Umgangs mit vorzufindenden Abwasserentsorgungsinfrastrukturen ist also die Weiterentwicklung und Formalisierung des Septic Tank Subsystems dort, wo es noch in Betrieb ist, ein pragmatischer Weg. Die Septic Tanks in Hanoi weisen zunächst Beharrungsvermögen auf, ohne dass es unveränderlich ist. Gleichzeitig bringt dieses System potenzielle Vorteile für Hanoi mit sich, die unter aktuellen Bedingungen jedoch kaum zum Tragen kommen. So ermöglicht die Installation der Klärkammern unter den einzelnen Gebäuden eine vertikale Fließrichtung der Abwässer und somit eine frühzeitige Abtrennung der Feststoffe, die andernfalls in das Kanalisationsnetz geraten und dort aufgrund des stagnierenden Wasserflusses bei fast fehlendem Gefälle sedimentieren würden. So schränken sie die Rückhaltekapazitäten der Gewässer ein. Zudem sind sie ein integraler Bestandteil des inkrementellen Stadtentwicklungsprozesses, der dauerhaft ist. Sie werden auch bei Siedlungsentwicklung ohne übergreifende Planung installiert. Auch von Fachleuten der Abwassertechnik wird die Sichtweise vertreten, dass Septic Tanks als eine in Vietnams Städten etablierte Technologie potentiell geeignet sind, häusliche und industrielle Abwässer, die einen hohen organischen Anteil haben, so zu reinigen, dass sie in den Vorfluter eingeleitet oder auch als Bewässerung oder Toilettenspülung eingesetzt werden können (vgl. z. B. Harada et al. 2008). Bei der Gestaltung der Septic Tanks ist zu untersuchen, an welcher Stufe im Prozess der Sammlung, des Transports, eventuell der Nutzung oder Behandlung und schließlich der Entsorgung der Schlämme welche Intervention durch welche Akteure im Hinblick auf eine Steigerung der aktuell geringen Effizienz dieses Systems erfolgversprechend ist. Dabei sind einerseits gesamtstädtische Verwaltungen gefragt, die jedoch mit lokalen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Lokalverwaltungen zusammenarbeiten müssen. Heutige Effizienzprobleme ergeben sich aus zu langen Leerungsintervallen und der Verkippung der aus den Tanks geleerten Schlämme in die Kanalisation. Unter den bestehenden Gegebenheiten der technischen Ausstattung der gebäudebasierten Tanks gilt es also, die Verkürzung der Leerungsintervalle auf etwa zwei Jahre und die nachhaltige Deponierung der Schlämme zu bewerkstelligen (Interview Việt Anh Nguyễn 2009). Dies ist unter den gegebe-
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nen Bedingungen der rasanten städtischen Verdichtung und der städtischen Entwicklung außerhalb gesamtstädtischer Planungen eine komplexe Aufgabe. Durch die Optimierung der Septic Tanks allein kann jedoch die Entwässerung des Stadtraumes von Hanoi nicht erreicht werden. Es bedarf zudem der Instandhaltung und des Ausbaus des gesamtstädtischen Systems offener und geschlossener Kanäle und Abwasserentsorgungsleitungen sowie der bereits errichteten flussgebietsorientierten Anlagen und Pumpstationen in ihrer räumlichen Differenziertheit. Die Leistungsfinanzierung zwischen Konzentration und Differenzierung Die räumlich differenzierte Belastung der Bevölkerungen in Instandhaltung und Ausbau des Abwasserentsorgungssystems sollte nicht zur Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen führen. Deren Vermeidung und der Umgang mit den aktuell sehr begrenzten Ressourcen sind Aufgabe der städtischen Volkskomitees, das die Gebühren festlegt sowie der Bezirksverwaltungen, der Stadtteilverwaltungen und der Haushaltsgruppen. Dabei bieten die Art der Leistungsfinanzierung und die Festsetzung des Umfangs der finanziellen Beiträge, die der Bevölkerung zuzumuten sind, Ansatzpunkte. Diese sollten die Basis für den weiteren Ausbau technischer Artefakte sein. Den maximalen Umfang der finanziellen Beiträge, die der Bevölkerung zuzumuten sind, gilt es vor dem Hintergrund internationaler Standards unter vorrangiger Berücksichtigung lokaler Lebensbedingungen festzulegen. Die aktuell in Relation zu Haushaltseinkommen niedrigen Gebühren bieten noch einen gewissen Spielraum zur Anhebung. Dieser sollte genutzt werden, so dass das städtische Unternehmen zumindest in der Lage ist, über die Instandhaltung der Hauptkanäle hinaus die bereits installierten zentralen Anlagen zu betreiben, wie von Erlass 88 (88/2007/ ND-CP) vorgesehen. Dies ist, wie oben erläutert, ein langwieriger Prozess, jedoch nicht grundsätzlich unmöglich – in anderen zentralen Städten Vietnams, wie Hải Phòng oder Đà Nẵng ist die Einführung betriebskostendeckender Abwassergebühren bereits vollzogen (vgl. Việt Anh 2013; Minh Tuấn 2011). Auch mit dieser Anhebung der Gebühren wäre die im Vergleich zu aktuellen Vorgaben der formellen Abwasserpolitik Vietnams größere Differenziertheit der Leistungserbringung nicht aufgehoben (s.o.). Diese sollte angesichts der knappen Mittel der städtischen Verwaltung auch aufrechterhalten werden. In der Finanzierung des netzbasierten Abwasserentsorgungssystems sollte eine Konzentration auf die aktuellen Formen der Leistungsfinanzierung und ihre Ausgestaltung erfolgen, d. h. die Einnahme von Gebühren auf städtischer Ebene, die Verwaltung des städtischen Budgets auf der Ebene der Bezirke und v. a. im Bereich der Septic Tanks die Zahlung von Marktpreisen direkt durch die Haushalte oder vermittelt durch Haushaltsgruppen. Diese sind anderen Formen der Leistungsfinanzierung vorzuziehen. Zusätzliche regelmäßige Zahlung von Haushalten direkt an Stadtteil- oder Bezirksverwaltung werden zwar v. a. im Zuge der Bestrebungen nach Dezentralisierung begrüßt (vgl. GHK 2005), sind jedoch mit einem größeren Verwaltungsaufwand verbunden und haben sich in der Vergangenheit als nicht tragfähig erwiesen. Insofern sollten die Verwaltungen auf der Ebene der Stadtteile ihre aktuelle Position als Bindeglied zwischen Haushaltsgruppen, management boards in New Urban Areas
7.3. Grundannahmen und Ansatzpunkte
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und höheren Verwaltungsebenen behalten, ohne dass sie durch die Verantwortlichkeit für eigene Finanzmittel in Interessenkonflikte geraten. Die gesetzliche Regulierung des materiell oder zumindest formell privatwirtschaftlich verfassten Managements der Abwasserentsorgung innerhalb der New Urban Areas ist ein weiterer Ansatzpunkt – aktuell werden hier bereits Gesetze ausformuliert, die der Überhöhung der Gebühren entgegenwirken sollen (vgl. Thu 2011). Die Kontrolle der Einhaltung entsprechender Gesetze und eventuell vertraglicher Regelungen zwischen lokalen Unternehmen und städtischen Verwaltungen sollte dann in erster Linie in die Verantwortlichkeit des Umweltministeriums und entsprechender Abteilungen fallen. Zudem ist insbesondere im Hinblick auf das Bau- und Investitionsunternehmen HUD eine institutionelle Entflechtung vom Bauministerium weiterzuführen. Diese ist im Zuge des Kommerzialisierungsprozesses bereits eingeleitet und kann zur Auflösung des Interessenkonflikts der Mitarbeiter_innen des Bauministeriums im Hinblick auf die Regulierung des Managements in Wohnsiedlungen beitragen. Die Staffelung der anzuhebenden Gebühren ist ein Ansatzpunkt für eine die soziale Kohäsion fördernde Leistungsfinanzierung. Aktuell sind die Wassergebühren bereits nach Verbrauchsmenge gestaffelt (vgl. Tabelle 3 in Kap. 5.2.2). Zudem wäre im Zuge der weiteren Anhebung der Gebühren über die Staffelung nach Verbrauch hinaus eine zusätzliche Staffelung nach dem räumlich differenzierten Aufwand der Bewohner_innen von Arbeit oder Geld zur Instandhaltung des Abwasserentsorgungssystems denkbar. Der lokal differenzierte Aufwand der Bewohner_innen kann in die Ausgestaltung der Gebührenstruktur einfließen, indem die Bevölkerungsgruppen, die zusätzlich zur Zahlung der Gebühren weitere finanzielle Ressourcen und Arbeitskraft aufbringen, wie es etwa in den urbanen Dörfern und in den Wohnsiedlungen der Fall ist, geringere Gebühren zahlen als solche Bevölkerungsteile, die davon befreit sind, wie die im Stadtkern oder in den New Urban Areas lebenden Menschen. Dies müsste auch bei der Integration der peri-urbanen Dörfer in den administrativ städtischen Raum berücksichtigt werden. Die Berücksichtigung der Leistungsfinanzierung im Septic Tank System in der Ausgestaltung der Gebühren sollte als Ansatzpunkt zur Gestaltung des Abwasserentsorgungssystems priorisiert werden. Mit dem Ziel der Verkürzung der Leerungsintervalle ist zu prüfen, welche Ansatzpunkte für eine Umgestaltung der Leistungserbringung im Septic Tank System und seine Formalisierung bestehen. Diese zeichnet sich aktuell durch a) eine Leistungsfinanzierung durch Marktpreise sowie einzelleistungsbezogene Honorierung auf der Verwendungsseite; b) kaufkraftabhängig-freiwillige Inanspruchnahme und c) einen freien Wettbewerb zwischen Anbietern im Markt aus. Es ist anzunehmen, dass die Leerungsintervalle durch eine Umgestaltung der Leistungserbringung erhöht werden könnten. Dies könnte etwa durch die Einführung von a) pauschalen Gebühren und b) Zwangskonsum der Septic Tank Leerungsleistung der Haushalte und c) einem Wettbewerb um den Markt, etwa indem die Stadt- oder Bezirksverwaltung, wie heute schon im Bereich der festen Abfälle üblich, mit Unternehmen Verträge zur Entsorgung spezifischer Gebiete abschließt, bewerkstelligt werden. Im Zuge einer Gebührenerhöhung könnte die Leerung der Septic Tanks als Ausgestaltung der o. g. Varianten a) und b) dem
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Aufgabenbereich des Abwasserunternehmens oder eines der Abfallentsorgungsunternehmen zugeordnet werden. Das entsprechende Unternehmen könnte die Tanks dann ohne zusätzliche Gebühren leeren. Die Leerungsintervalle müssten mit der finanziellen Situation des Unternehmens in Einklang gebracht werden. Wenn das Septic Tank System auf diese Weise formalisiert werden soll, müsste die aktuelle Unklarheit bezüglich der sektoralen Zugehörigkeit des Systems in Hanoi mit der Frage, ob es dem Abfallsektor oder dem Abwassersektor zuzuordnen sei, thematisiert werden. Längerfristig wäre eine Integration dieser beiden Sektoren selbst im Sinne aktueller ingenieurtechnischer Konzepte der Neukombination der Stoffströme zur Vereinfachung der Verwertung und damit der Schonung natürlicher Ressourcen empfehlenswert (vgl. Kap. 2.4.3). Die Umsetzung dieser Option ist allerdings bisher aufgrund des hohen Regelungsaufwands nur sehr langfristig abzusehen. Aus dieser Überlegung heraus würde sich eine Integration des Septic Tank Subsystems in einen der beiden Sektoren anbieten. Eine solche Umgestaltung der Leistungserbringung geht jedoch mit erheblichem Regelungsaufwand einher und sollte aufgrund einer Einbindung dieses Systems in formalgesetzliche Regelwerke vorgenommen werden, die in Bezug auf das Management der Septic Tank Leerung aktuell Lücken aufweisen (vgl. Kap. 5.2.4). Diese Ansatzpunkte der Gestaltung der Leistungserbringung im Bereich der Septic Tanks können jedoch nur zur nachhaltigen Verbesserung dieses Systems beitragen, wenn auch die nachhaltige Behandlung und Entsorgung der Schlämme gewährleistet ist. Ansatzpunkte für den Ausbau des Abwassersystems als Teil der Stadtentwicklung Ansatzpunkte für den Ausbau des Abwasserentsorgungssystems bieten sich in Bezug auf die nachholende Sanierung der technischen Leitungen und Artefakte im bereits dicht besiedelten Raum und hinsichtlich des Ausbaus des Systems im Zuge der Urbanisierung am Stadtrand und im suburbanen Raum. Die Reihenfolge der Umsetzung entsprechender Interventionen sollte dabei aufgrund derer Abhängigkeit voneinander geordnet werden. Mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des gesamtstädtischen Entwässerungssystems ist zunächst die stadtweite Sanierung des bereits installierten Kanalisationssystems zu priorisieren, koordiniert durch die Bezirke und unter Berücksichtigung lokaler Bedingungen. Unter der Annahme der Dauerhaftigkeit der inkrementellen Siedlungsentwicklung ist zudem der Umgang mit den heute auftretenden Friktionen zwischen geplanter Siedlungsentwicklung und inkrementeller Verdichtung peri-urbaner Dörfer ein prioritärer Ansatzpunkt zur nachhaltigen Stadtentwicklung. Dafür müssen über die Stadtentwicklungsplanung der Stadtverwaltung hinaus auch Mechanismen auf der Ebene der Stadtteile und Bezirke eingerichtet werden, die die Koordination von Situationen erlauben, in denen die lokale Entwicklung von der formellen Planung abweicht. Langfristig müsste nicht nur auf den Ebenen der Bezirks- oder Stadtteilverwaltungen, sondern auch auf der Ebene des städtischen Planungsamtes die Entscheidung darüber, welche (peri-) urbanen Dörfer erhalten bleiben sollen und wo New Urban Areas entstehen sollen, immer neu und situationsabhängig getroffen
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werden. Die Ausbauziele des Infrastrukturnetzes müssen laufend angepasst werden. In der westlichen Debatte der Raum- und Infrastrukturplanung wird aktuell gefordert, die räumliche Entwicklungsplanung umgekehrt an die technischen Infrastrukturen anzupassen und ihre aktuell in der Regel nachgeordnete Stellung als reaktive „Auffangplanung“ zu überwinden (vgl. z. B. Schiller/Siedentop 2005). Diese Forderung ist auch im Lichte der Dauerhaftigkeit der informellen Siedlungsentwicklung durch die inkrementelle Urbanisierung von Dörfern in Hanoi vertretbar, sie ist jedoch einzuschränken auf die geplanten Siedlungsentwicklungsflächen, da die Entwicklung (peri-)urbaner Dörfer ohnehin ohne übergeordnete Planung und gleichzeitig in Einklang mit der Entwicklung lokaler Infrastruktursysteme stattfindet und zentralisierte Netze wenn überhaupt erst im Nachhinein verlegt werden. Die gesamtstädtische Planung von Siedlungsflächen muss also sowohl die inkrementelle Entwicklung von (peri-)urbanen Dörfern als auch die naturräumlichen und infrastrukturellen Bedingungen im (zukünftig) stark verdichteten Stadtraum Hanois berücksichtigen. Zudem ist die Klärung der Zuständigkeiten von Investitionsunternehmen und der Verwaltungen der verschiedenen Ebenen im Hinblick auf die infrastrukturelle Verknüpfung der unterschiedlichen Räume sowie für die Behebung der Schäden, die durch den Aufbau der New Urban Areas im lokal erbauten Infrastrukturnetz der (peri-) urbanen Dörfer verursacht wurden, notwendig. Ein Ansatzpunkt für eine effiziente Stadt- und Infrastrukturentwicklung ist hier die Ausweitung der finanziellen Verantwortlichkeit der Investitionsunternehmen über die engen Grenzen ihrer Projektgebiete hinaus. Der weitere Bau von Reinigungsanlagen muss der oben diskutierten Ausgestaltung der Leistungsfinanzierung unter Anhebung der Gebühren nachgeordnet werden. Andernfalls werden Gelder investiert, ohne dass überhaupt eine Verbesserung der Abwasserentsorgungssituation erreicht wird. Zur Behandlung und Entsorgung der Septic Tank Schlämme bestehen vielfältige technische Möglichkeiten (vgl. Kap. 2.4), ihrer Umsetzung sind jedoch unter den in Hanoi vorzufindenden Regelungsproblemen enge Grenzen gesetzt. Ingenieurtechnische Konzepte sehen etwa eine Hygienisierung der Schlämme vor, die dann ohne Seuchengefahr in der Landwirtschaft eingesetzt werden können. Das durch Co-Fermentation der Schlämme mit organischen Abfällen generierbare Biogas könnte überdies mittels einer Umwandlung in Strom zu einer Kostenreduzierung des Anlagenbetriebs führen (vgl. Kap. 2.4.3; Cornel et al. 2011). Aufgrund der bestehenden Restriktionen der Umsetzung dieser auf komplexen Anlagentechnologien beruhenden Konzepte in Hanoi sind Wege zur Nutzung bestehender Abwasserreinigungsanlagen auch für die Hygienisierung der Schlämme und weitere Optionen für ihre nachhaltige Deponierung zu prüfen. Die Deponierung ist zunächst die realistischere Perspektive, wenn sie jedoch auch angesichts der extremen Verdichtung des städtischen Raumes ebenfalls eine große Herausforderung darstellt. Ein Ansatzpunkt für die Raumplanung auf der städtischen Ebene und der Bezirke ist die Prüfung der Möglichkeiten zur Deponierung dieser Schlämme auf bestehenden öffentlichen Freiflächen oder der Einrichtung geeigneter Freiflächen auf der Ebene der Stadtteile oder der Bezirke. Der bis Anfang der 2010er Jahre dynami-
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sche Immobilienmarkt Hanois mit extrem hohen Bodenpreisen machte den Bau von Anlagen zur Abwasserreinigung innerhalb von New Urban Areas im Rahmen des „land for plant“ Handels rentabel für Projektentwicklungsunternehmen. Unter den aktuellen Bedingungen der Leistungsfinanzierung im Abwasserbereich sowie der Flaute des Immobilienmarktes sind wartungsarme low-tech Lösungen zu priorisieren (vgl. MONRE 2013; MONRE 2011d). Ein Beispiel hierfür sind die Regenrückhaltebecken in der New Urban Area Mỹ Đình II (Abb. 38 im Farbteil). Zusammenfassend bedeutet dies, dass die Stadtentwicklungsplanung auf den hier identifizierten Prozessen der Siedlungsentwicklung aufbauen und damit erhöhten Anforderungen genügen muss. Angesichts der dauerhaften Informalität von Prozessen der Siedlungsentwicklung Hanois müssen Politik und Verwaltung sich von der Möglichkeit einer vorausschauenden gesamtstädtischen Planung verabschieden. Dies hat Implikationen für die Integration der Planung technischer Infrastruktursysteme und städtischem Raum, da, wie eben erläutert, die Forderung einer an infrastrukturellen und naturräumlichen Gegebenheiten ausgerichteten Siedlungsentwicklung nicht flächendeckend umgesetzt werden kann. Dieser Umstand allerdings macht die Berücksichtigung dieser miteinander eng verwobenen Aspekte – nämlich sowohl der infrastrukturellen und naturräumlichen Gegebenheiten und auch der inkrementellen Siedlungsentwicklung – in der gesamtstädtisch geplanten Siedlungsentwicklung noch dringlicher. Ansatzpunkte zur Stärkung und Einbezug der lokalen Bevölkerung Stärkung und Einbezug der lokalen Bevölkerung sind dort notwendig, wo Steuerung durch gesamtstädtische oder lokale Verwaltungen ineffizient ist und dort, wo Akteure in öffentlicher Verwaltung und Privatwirtschaft ein den lokalen Bevölkerungen entgegenstehendes Interesse haben. Der Umbau der bereits installierten Septic Tanks kann durch die gesamtstädtische Verwaltung nicht effizient gesteuert werden. Wie oben erläutert, ist ein von Seiten der Stadtverwaltung durch Zwangsmittel und hierarchische Entscheidungsfindung geregelter Umbau der Masse der bestehenden Septic Tanks in Ermangelung entsprechender Steuerungskapazitäten als nicht machbar einzustufen. Stattdessen bleibt hier die Information und Überzeugung der Bewohner_innen ein gangbarer Weg, der im Stadtkern bereits beschritten wurde. Hier bietet es sich an, die enge Verbindung zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Lokalverwaltungen zu nutzen, um etwa auf Ebene der Haushaltsgruppen oder der Stadtteile Informationskampagnen über einen nachhaltigen Umgang mit den Tanks durchzuführen. Ansatzpunkte zur Verbesserung der aktuell problematischen Lage in den sozialistischen Wohnsiedlungen sind aufseiten der lokalen Bewohnerinnen und Bewohner sowie der Haushaltsgruppen zu verorten, deren Interessen mit denen von Akteuren in Behörden und Investitionsunternehmen in Widerspruch stehen. Dies ist der Fall, da die Verwaltungen aktuell Untätig sind und sicher der Verhandlungsprozess zwischen diesen Gruppen vermutlich noch andauern wird. Um die Verhandlungsposition der lokalen Bevölkerungen zu stärken, wäre eine Koalition der Haushaltsgruppen von Räumen, die mit aktuellen Stadtentwicklungsprojekten in Konflikt stehen, denkbar. Es ist zu ermitteln, in welcher Form diese lokalen Koalitionen von
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Bewohnergruppen zu einer gemeinwohlorientierten Gestaltung des urbanen Raumes beitragen können. Während die Situation einiger urbanen Dörfer aktuell belegt, dass lokale Widerstände im Sinne von Roy (2009) nicht unbedingt zu einer Stärkung sozialer Kohäsion im Stadtraum führen müssen, bietet der Blick auf eine Wohngenossenschaft in der New Urban Area Trung Hoà Nhân Chính ein anderes Bild – hier konnte die lokale Situation tatsächlich in einer Weise verbessert werden, die nicht zu Lasten anderer Bevölkerungsgruppen oder Räume geht (vgl. Kap. 6.3.3). Koalitionen könnten also dem Modell der vor einigen Jahren in Vietnam eingeführten und in Hanoi bereits vereinzelt vorzufindenden Wohnungsgenossenschaften folgen. In der Abwasserentsorgung in den New Urban Areas können entsprechende Koalitionen eine verbesserte Kontrolle der lokal tätigen Unternehmen in der Erbringung und Finanzierung von technischen Infrastrukturleistungen bewirken. In Kapitel 7.2.2 wurde gezeigt, dass das System relativ gestaltungsresistent ist und zwar aufgrund der technischen Artefakte und gleichermaßen bedingt durch Akteure, die innerhalb der überlappenden Sphären von Staat und Gesellschaft handeln und dabei partikulare Interessen verfolgen. Trotz dieser Gestaltungsresistenz bestehen Optionen zur zielgerichteten Gestaltung. Diese Optionen liegen weder im Versuch einer Eins-zu-eins-Umsetzung zentraler Politiken noch in einer kompletten Abwendung davon im Sinne einer Dezentralisierung. Vielmehr ergeben sich Optionen und auch Restriktionen der Gestaltung der hybriden sozialen und technischen Komponenten des Systems aus einer genauen Analyse des Einflusses des politischadministrativen Systems, das das Handeln der Akteure prägt, dieses jedoch nicht abschließend definiert. Diese Analyse bezieht die Wechselwirkungen des Abwasserentsorgungssystems mit weiteren Stadtentwicklungstendenzen in ihrer dauerhaften Prägung durch Informalität mit ein. Mit dieser Vorgehensweise wird also eine Brücke geschlagen zwischen einer kritischen Analyse des bestehenden Systems sowie aktuellen Strategien, Politiken und Plänen zu seiner Verbesserung und der Formulierung von eigenen Ansätzen zur Verbesserung der Situation. In diesem Rahmen wurden Ansatzpunkte für Interventionen formuliert, die ausgehend von dem hier eingenommenen Blick auf das urbane Abwasserentsorgungssystem Hanois erreichbar und zielführend im Hinblick auf die Förderung sozialer Kohäsion und auch eine Verbesserung der Umweltsituation in Hanoi sind. Dabei hängen Umsetzung und Erfolg entsprechender Interventionen, wie von Hughes (1987) analysiert und in diesem Rahmen bestätigt, vom konkreten Einsatz der individuellen Akteure ab.
8. REFLEXION THEORETISCHER DEBATTEN Die Reflexion der in der konzeptionellen Grundlegung formulierten Hypothesen wird auf Basis der Ergebnisse der empirischen Untersuchung Hanois vorgenommen. Die zusammenfassende Beantwortung der zentralen Forschungsfrage mittels des hier angewendeten Forschungsrahmens verdeutlicht zunächst, welchen Erkenntnisgewinn die hier angewendete Analytik bringt. Darauf aufbauend werden der Ertrag für Debatten in Bezug auf die gemeinsamen Entwicklungsdynamiken von städtischem Raum und soziotechnischen Infrastruktursystemen und der Ertrag für die Analyse der Gestaltungsmöglichkeiten urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme eingehend diskutiert. Diese Diskussion macht deutlich, in welcher Weise die Ergebnisse der empirischen Analyse des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi als Einzelfallstudie – gestützt auf einer Untersuchung theoretischer Debatten – verallgemeinerbar sind (vgl. Kap. 1.5.1).Die Ergebnisse sind über den untersuchten Fall hinaus für die zugrunde gelegten theoretischen Konzepte und Wege zu ihrer Weiterentwicklung aufschlussreich, ohne dass eine solche Weiterentwicklung mit dieser Arbeit bereits vollständig abgeschlossen wäre. Vielmehr ergibt sich weiterer Forschungsbedarf aus dieser Untersuchung für Empirie und Theorie urbaner großtechnischer Infrastruktursysteme. 8.1. DER ERKENNTNISWERT DER ANALYTIK GROSSTECHNISCHER SYSTEME FÜR DIE ABWASSERENTSORGUNG VON HANOI Die zentrale Forschungsfrage lautet: Wie wirken sich gesellschaftliche Transformationen auf den städtischen Raum und das System der Abwasserentsorgung Hanois aus und welche Optionen und Restriktionen bestehen für staatliche und gesellschaftliche Akteure zur Gestaltung dieses Systems im Lichte aktueller Herausforderungen? Mit der Analytik von großtechnischen Infrastruktursystemen aufgrund der drei Dimensionen, nämlich politischer Regelungsstruktur, Leistungsstruktur und Technikstruktur können die gesellschaftlichen Veränderungen Vietnams in ihren Auswirkungen auf das Abwasserentsorgungssystem beschrieben werden. Im Zuge des letzten Wandels der politischen Ökonomie Vietnams, Đổi Mới, hat auch das soziotechnische System der Abwasserentsorgung Hanois einen Wandel erfahren. In Bezug auf die politische Regelungsstruktur spiegelt sich dieser wider in der Ausdehnung des Einflusses staatlicher Regelung, in der Professionalisierung und Kommerzialisierung der Leistungserbringung und, um diese zu erreichen, im Versuch der Trennung zwischen der Institution, die technische Anlagen besitzt und dem Unternehmen, das sie betreibt (vgl. 88/2007/ND-CP). Zudem wurden zunächst eine De-
8.1. Der Erkenntniswert der Analytik großtechnischer Systeme
241
zentralisierung und dann eine Rezentralisierung der Regulierung der Abwasserentsorgung vorgenommen. Dies geschah indem zusätzlich zur primär verantwortlichen Ebene der Provinz zunächst der Stadtteilebene und als sich dies als ineffizient erwies, stattdessen der Bezirksebene. In Bezug auf die Leistungsstruktur der Abwasserentsorgung Hanois fand im Zuge von Đổi Mới eine Diversifizierung statt, mit der Ergänzung der traditionellen Stadtwerke und der Leistungserbringung durch lokale Bevölkerungsgruppen sowie durch formell oder materiell privatisierte Projektentwicklungsunternehmen. Damit einhergehend wurden Unternehmen, die auch vor Đổi Mới vorhandenen waren, jedoch außerhalb der formellen Regelung arbeiteten, zunehmend akzeptiert und zum Teil auch legalisiert. Dies waren etwa Kleinunternehmen, die in der Leerung der Septic Tanks tätig sind. Die Technikstruktur des Abwasserentsorgungssystems erfährt seit Đổi Mới einen Ausbau der Netze und eine Diversifizierung der Reinigungstechnologien. Die bis heute maroden Leitungen befinden sich im Prozess der Renovierung, und es wurden zusätzlich zu den vorher in der Regel vorzufindenden Septic Tanks und Pit Latrinen flussgebietsorientierte Abwasserreinigungsanlagen errichtet. In welcher Weise sich die im Rahmen politischer Regelungsprozesse festgesetzten Ziele zur Entwicklung des Infrastruktursystems tatsächlich in der Leistungsstruktur und der Technikstruktur niederschlagen, wie sich also das Verhältnis zwischen politischer Regelungsstruktur und Technik- und Leistungsstruktur darstellt und welche Optionen und Restriktionen zur Gestaltung des Systems für staatliche und gesellschaftliche Akteure bestehen, lässt sich jedoch nur mittels einer weitergehenden Analyse ermitteln. Diese muss zunächst die (Re-)Produktion des gebauten Raumes einbeziehen. Die im Zuge von Đổi Mới eingeleiteten Reformen von Bodenbesitz und -handel sowie die Einführung gewinnorientierter Unternehmensformen hat zu einer drastischen Beschleunigung der Stadtentwicklung beigetragen, die das System der städtischen Abwasserentsorgung unter Druck setzen, während neue Finanzinstrumente und die Öffnung zu internationalen Märkten neue Möglichkeiten und Herausforderungen für Ausbau und Betrieb des Systems schaffen. Wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, findet Stadtentwicklung in Hanoi innerhalb vielfältiger Regelungsprozesse statt, in denen gesellschaftliche und auch staatliche Akteure nach wie vor Đổi Mới außerhalb formeller Regulierungen im informellen Raum handeln. Der gebaute Raum wird aufgrund von Verhandlungsprozessen zwischen staatlichen, zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren gestaltet, während vor allem staatliche Akteure in Hanoi auch nach Đổi Mới eine Auffassung des Staates als eine die Gesellschaft steuernde Einheit haben und Stadtentwicklung sowie Ausbau und Betrieb von Abwasserentsorgungssystemen aufgrund dieser Auffassung planen. Auf diese Weise entstehen Räume, die die Infrastruktursysteme in ihren sozialen und technischen Dimensionen in spezifischer Weise prägen. Dieser Überblick zeigt zusammenfassend, dass die Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme mit den Dimensionen Technik- und Leistungsstruktur sowie politischer Regelungsstruktur zunächst notwendig ist, um das vorzufindende System zu charakterisieren und es von dem aktuell angestrebten Leitbild der Planung von Stadt und Abwasserentsorgung zu differenzieren. Ohne den Einbezug weiterer städtischer Entwicklungstendenzen, der in Leitbildern transportierten Sicht auf den
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8. Reflexion theoretischer Debatten
städtischen Raum sowie die Steuerbarkeit seiner Entwicklung sind die Ausprägungen dieser Dimensionen jedoch nicht zu erklären. Die Annahme wurde bestätigt, dass die Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme aufgrund der Dimensionen der Technikstruktur, der Leistungsstruktur und der politischen Regelungsstruktur ohne die Berücksichtigung weiterer städtischer Entwicklungsprozesse und die diesen Prozessen zugrunde liegenden Leitbildern allein nicht ausreicht zur Erklärung der Entwicklungsdynamiken urbaner technischer Infrastruktursysteme und ihrer Gestaltungsoptionen. Der aus der Anwendung dieses Forschungsrahmens auf das Abwasserentsorgungssystem Hanois abzuleitende Ertrag für die eingangs diskutierten theoretischen Ansätze und Debatten wird im folgenden Unterkapitel ausgeführt. Thematisiert werden dabei die Rolle der Nutzer und Nutzerinnen in der politischen Regelung und der Leistungserbringung und die Implikationen dieser Rolle für zentrale und dezentrale Konzepte der Abwasserentsorgung. 8.2. ERTRAG FÜR ANALYSEN DER ENTWICKLUNGSDYNAMIKEN VON STÄDTISCHEM RAUM UND INFRASTRUKTURSYSTEMEN Die erste forschungsleitende Hypothese bezieht sich auf die aktuelle Debatte der Stadtforschung, die auf eine neue Konzeptualisierung soziotechnischer Infrastruktursysteme zielt (vgl. Kap. 2.5.2). Im Zuge dieser Debatte haben vernetzte soziotechnische Infrastruktursysteme einen Bedeutungswandel erfahren. Wurden sie ehemals als Lebensadern von Städten geschätzt, wird ihnen heute eine fragmentierende Wirkung auf urbane Räume zugeschrieben. Die Hypothese, dass mit dem Transfer des modernen Infrastrukturideals in die lokalen Kontexte der Länder des globalen Südens während der Kolonialzeit der Grundstein für eine stadträumliche Fragmentierung der soziotechnischen Infrastruktursysteme gelegt wurde, enthält sowohl Aussagen zu Entwicklungsdynamiken als auch zum heutigen Zustand von Infrastruktursystemen im globalen Süden. Damit leitet diese Hypothese die Erforschung der historischen Entwicklung von Stadtraum und Abwasserentsorgungssystem Hanois und ihrer heutigen Konzeptualisierung. An dieser Stelle werden die in dieser Hypothese enthaltenen Aussagen über den Zusammenhang zwischen dem Transfer des modernen Ideals während der Kolonialzeit in den globalen Süden und den heutigen stadträumlichen Ausprägungen von Infrastruktursystemen zusammenfassend diskutiert. In Hanoi bestand die Differenzierung der Infrastrukturversorgung von stark verdichteten als urban definierten Räumen zunächst bereits in vorkolonialer Zeit (vgl. Kap. 4.5.). Die Differenzierung der Abwasserentsorgungssysteme mit nachteiligen hygienischen Bedingungen in der Stadt des Volkes und den peripheren Siedlungen wurde von den innerhalb der königlichen Stadt lebenden Herrschern akzeptiert und verstärkt. Wie oben erläutert, war die Kolonialzeit insofern eine wichtige Phase der Stadtentwicklung Hanois, als dass ein massiver Ausbau des städtischen Raumes mit einer gleichzeitigen gebietsspezifischen Exklusion ärmerer Bevölkerungsgruppen
8.2. Ertrag für Analysen von Stadt und Infrastruktur
243
aus dem Stadtraum vorgenommen wurde. Dies ging einher mit dem Versuch, die als städtisch anerkannten Räume mittels des Ausbaus eines Abwasserentsorgungssystems zu hygienisieren, was dem Leitbild der „trockenen und sanitären Stadt“ entspricht, und den städtischen Raum von den peripheren Siedlungen abzugrenzen, die als unhygienisch wahrgenommen wurden (vgl. Kap. 4). Insofern findet sich hier eine Parallele zur vorkolonialen Städteplanung. Für die Hygienisierung der innerhalb des als städtisch definierten Raumes befindlichen Siedlungen der vietnamesischen und chinesischen Bevölkerungsgruppen wurde ein besonderer Aufwand betrieben. Die Abgrenzung des als städtisch definierten Raumes gelang jedoch aufgrund der geringen Steuerungskapazitäten der Kolonialherrscher nicht. Das Verwischen der Grenzen zwischen städtischem Raum und peripheren Siedlungen, deren Entwicklung außerhalb staatlicher Steuerung vor sich ging und die ohne Ausstattung mit modernen Abwasserentsorgungssystemen wuchsen, wurde bereits während der Kolonialzeit als Problem aufgefasst. Dieses Problembewusstsein bewirkte jedoch keine Änderung der Planungsstrategie der Kolonialzeit, die weiterhin auf einer scharfen Trennung zwischen Stadt und Land basierte (vgl. Kap. 4.2). Damit ist zunächst zu bestätigen, dass das Handeln staatlicher Akteure in der Kolonialzeit keinem kohärenten Konzept folgte, sondern von Widersprüchen und Intransparenz geprägt war (vgl. Li 2007; McFarlane 2008). Diese Widersprüchlichkeit und mangelnde Transparenz staatlichen Handelns sowie ein fehlendes Verständnis von Siedlungsentwicklungsprozessen außerhalb staatlicher Steuerung sind wichtige Einflussfaktoren für die stadträumliche Gestalt technischer Infrastruktursysteme. Auch nach der Kolonialzeit folgte die Entwicklung des städtischen Abwasserentsorgungssystems über die Umbrüche der Stadtentwicklung und die vielfältigen Prozesse der Siedlungsentwicklung hinweg konstant dem Leitbild der „trockenen und sanitären Stadt“. Dies ist bis heute der Fall, ohne dass die in diesem Leitbild transportierte Sicht auf den städtischen Raum der tatsächlichen Siedlungsentwicklung entspricht. Diese geht seit jeher durch beide Entwicklungen, sowohl durch die gesamtstädtisch geplante Entwicklung von Siedlungsflächen als auch durch die inkrementelle Verdichtung von Siedlungen, vor sich und bringt differenzierte soziotechnische Strukturen der Abwasserentsorgung hervor. Die in diesen Siedlungsentwicklungsprozessen entstehenden Räume verfügen über Abwasserentsorgungssysteme, die jeweils auf unterschiedliche Weise netzbasiert sind. Anders als von Dupuy (2011) begriffen, geht die räumliche Entwicklung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi also nicht durch die Ausdehnung eines weiträumig vernetzten Infrastruktursystems in einen bisher vom Netz abgekoppelten Raum vor sich. Wie oben (Kap. 6.1.2) auseinandergesetzt, treffen vielmehr verschiedenartig vernetzte Räume aufeinander, die sich in ihrer Funktionalität gegenseitig stören können, die jedoch auch störungsfrei verbunden werden können. Die historische Entwicklung des Abwasserentsorgungssystems in Hanoi ist also zunächst durch eine andauernde Dynamik charakterisiert, wobei in jedem Moment in der Stadt Tendenzen, die in Richtung Fragmentierung weisen, auch gleichzeitig in Richtung der Verknüpfung und Verbindung von Räumen und Abwassersystemen gehen. Abwasserentsorgungssystem und Stadtraum Hanois befinden sich nicht in einem Zustand der Fragmentierung.
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8. Reflexion theoretischer Debatten
Die Entwicklung der im dynamischen Stadtraum Hanois vorzufindenden Systeme zum Transport und zur Reinigung des Abwassers ist im Sinne von Hughes als battle of the systems zu verstehen. In Hughes‘ Analyse wird der mit der Entwicklung technischer Infrastruktursysteme einhergehende Konflikt als eine Phase im Entwicklungsprozess charakterisiert, die in der Herausbildung eines Systems mündet, das Momentum gewinnt, weshalb es schließlich als einzige Alternative erscheint. Diese Sichtweise schließt ein, dass Konflikte nicht dauerhaft, sondern vorübergehend sind. In Bezug auf die Konflikthaftigkeit der Entwicklung des Abwasserentsorgungssystems Hanois zeigt sich ein Unterschied zwischen der aktuell geführten öffentlichen Debatte um den Ausbau des Systems und den Ausprägungen des Systems selbst. Die Debatte wird zunächst durchaus kontrovers geführt – wie oben analysiert stehen sich hier zwei gefestigte Positionen, nämlich die derer, die ein dezentrales Systems befürworten und derer, die den Ausbau des zentralen Systems verfechten, gegenüber. Diese Positionen entsprechen der im wissenschaftlichen Diskurs um neue Abwasserkonzepte (vgl. Kapitel 2.4) wiederzufindenden Dichotomie– selbst innerhalb der Akteursgruppen in Wissenschaft, Politik und Verwaltung sind beide Positionen vertreten (vgl. Interview Đỗ Tất Việt 2011). Während diese Debatte also durchaus auf einen „erbitterten Kampf der Systeme“ (Hughes 1987) hinweist, zeichnet sich das untersuchte soziotechnische System durch einen Ausbau von Komponenten des zentralen Systems und gleichzeitigem Beharren der oben erläuterten dezentralen Formen der Abwasserentsorgung aus. Diese schließen sich also keineswegs gegenseitig aus, sondern können sich unter Umständen auch so ergänzen, dass sie funktionieren. Das von Hughes identifizierte Momentum großtechnischer Systeme ist in Hanoi im Hinblick auf die dezentralen Komponenten des Abwasserentsorgungssystems vorzufinden. Diese haben sich über die – bald ein Jahrhundert dauernden – Versuche, ein System durchzusetzen, das dem Leitbild der trockenen und sanitären Stadt entspricht, zwar gewandelt, sind aber noch vorhanden. Das Zitat in Abb. 67 illustriert, dass die Ablehnung bestimmter Techniken dauerhaft ist. Zu diesen Techniken gehört die „Nutzung unbehandelter menschlicher Abwässer“ als „Träger aller erdenklichen Krankheiten“ (Fayet 1939). Dennoch sind diese Techniken persistent. Zudem kann von einem Wettstreit der Systeme im Sinne von Hughes gesprochen werden, wenn dieser so verstanden wird, dass er in die Verbindung unterschiedlicher Systeme münden kann, die dann wiederum als ein System wahrgenommen werden. Es zeigt sich also in der Abwasserentsorgung Hanois, dass die von Hughes konzeptualisierten Phasen zu erkennen sind, sich jedoch nicht gegenseitig ablösen, sondern überlagern: Während ein Subsystem Momentum aufweist, findet gleichzeitig ein Kampf der Systeme statt. Diese Gleichzeitigkeit ist der Schlüssel für das Verständnis der Abwasserentsorgung Hanois.
8.2. Ertrag für Analysen von Stadt und Infrastruktur
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„Enfin une Ville digne de ce nom doit-elle […] laisser se perpétuer l’utilisation à outrance de l´engrais humain à l´état brut, véritable véhicule de toutes maladies épidémiques?“ (Fayet 1939:5)
Abb. 67: Dezentrale Nutzung von Abwässern in der urbanen Aquakultur in Hanoi 2011
In Hanoi bilden also stadträumlich differenzierte Subsysteme zusammen ein Infrastruktursystem, das mit Begriffen von Joerges (1988) und Mayntz/Schneider (1995) zu charakterisieren ist. Wie in Kapitel 2.2 beschrieben, führen diese Autoren die Dauerhaftigkeit, die Weiträumigkeit, die Zweckgebundenheit, die Komplexität und die Heterogenität von sozialen und technischen Komponenten zur Definition großtechnischer Infrastruktursysteme an. Ihrer Definition zufolge müssen diese Eigenschaften gegeben sein – wenngleich ihre jeweilige Qualität nicht absolut zu definieren ist. In Bezug auf die Subsysteme der Abwasserentsorgung Hanois wurde zunächst gezeigt, dass diese weiträumig und dauerhaft integriert sind, um Nutzung und Entsorgung von Abwässern sicherzustellen. Bereits seit vorkolonialen Zeiten bestehen Kanäle zur Abwasserentsorgung, deren Instandhaltung auf der Ebene der lokalen Administration und der Haushaltsgruppen organisiert werden. Die individuelle Nutzung von Abwasserschlämmen in der Landwirtschaft ist ebenfalls eine bis in feudale Zeiten zurückzuverfolgende Technik. Die Subsysteme der Abwasserentsorgung Hanois sind vielfältig; der Transport der Abwässer etwa wird sowohl über den Straßenverkehr in Saugwagen als auch über die wasserbasierte Ableitung in offenen Kanälen und Gräben und in unterirdischen Leitungen vorgenommen. Das System ist komplex; das Septic Tank Subsystem mit seinen eigenen soziotechnischen Ausprägungen steigert in Verbindung mit den soziotechnischen Ausprägungen des Subsystems zur zentralen Entwässerung und Abwasserreinigung die Komplexität des Systems im Vergleich zum europäischen Modell. Für die hier vorgenommene Konzeptualisierung von Infrastruktursystemen aufgrund der Untersuchung des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi wird der Begriff der Hybridität anstelle des von Mayntz/Schneider und Joerges eingeführten
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8. Reflexion theoretischer Debatten
Begriffs der Heterogenität verwendet. Damit wird der Aspekt der Vermischung und Integration zweier oder mehr Eigenschaften betont, aus der eine neue Qualität entsteht (vgl. Kap. 5.1.1; Offner 1999). Der Begriff der Heterogenität ist sehr ähnlich, meint aber eher die Zusammensetzung einer Sache aus mehreren ungleichen Teilen, die aber nicht unbedingt etwas Neues ergeben müssen. Der Begriff der Hybridität bietet sich infolge der Analyse der Dynamiken von Zirkulation und Anpassung internationaler Leitbilder der Infrastrukturversorgung an. Die Analyse machte deutlich, dass insbesondere der während der Kolonialzeit vorgenommene Transfer des Leitbildes der „trockenen und sanitären Stadt“ , seine Kontrastierung mit lokal vorzufindenden Formen der Nutzung und Entsorgung von Abwässern und schließlich die Anpassung dem Leitbild entsprechender Technologien an den lokalen Kontext Hanois etwas Neues hervorbrachte. Das Resultat ist als hybride Mischung weder eine komplette Umsetzung des modernen Leitbildes, noch ist es andersherum davon abgewandt oder traditionell. Zudem ist der dauerhafte Wandel von Bedeutung. Wie oben auseinandergesetzt, ist die Pfadabhängigkeit der Infrastruktursysteme Hanois, nämlich ihre Dauerhaftigkeit und gleichzeitig ihr dauernder Wandel im Zuge dynamischer Stadtentwicklungsprozesse eine Eigenschaft, die von grundlegender Bedeutung ist, wenn das System zur Funktionalität und Vermeidung von Diskriminierung einzelner Nutzergruppen und Räume gestaltet werden soll. Durch die Aneignung von international zirkulierenden Leitbildern im lokalen Kontext und das Aufeinandertreffen verschiedenartig vernetzter Räume im Zuge der Stadtentwicklung entsteht ein lokalspezifisches Infrastruktursystem, das in seinen sozialen und technischen Dimensionen als komplex, hybrid und dauerhaft im Wandel zu charakterisieren ist. Monstadt (2007) fügt den eben genannten Eigenschaften großtechnischer Infrastruktursysteme unter anderem die Staatsnähe als grundlegend für technische Infrastruktursysteme hinzu (vgl. Kap. 2.2). Inwiefern diese durch diese Untersuchung des Abwasserentsorgungssystems Hanois bestätigt werden kann und wie sich dies auf die zielgerichtete Gestaltung und die Funktionalität der Infrastruktursysteme durch staatliche und nicht-staatliche Akteure auswirkt, wird im folgenden Unterkapitel diskutiert. Hier werden zunächst die Implikationen dieser Arbeit für das moderne Infrastrukturideal als analytisches Konzept erläutert, die bereits Aufschluss geben über die Auffassung und Realität der Rolle staatlicher Akteure in der Infrastrukturversorgung Hanois. Der analytische Wert des modernen Infrastrukturideals Grahams und Marvins Kritik an der Analyse der Wandlungstendenzen von Infrastruktur und städtischem Raum und an ihrer Konzeption des Begriffs des modernen Infrastrukturideals zielt im Kern auf die zu oberflächliche Betrachtung der Auswirkungen politischer Regelungsprozesse auf den städtischen Raum und urbane Infrastruktursysteme (vgl. Kap. 2.3; Graham/Marvin 2001). Sie wenden den Begriff des modernen Infrastrukturideals im Rahmen einer Perspektive an, die einerseits internationalen Politiken ungefilterte Wirkung auf zentralstaatliche Politiken zuschreibt
8.2. Ertrag für Analysen von Stadt und Infrastruktur
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und dann den infolge der Umsetzung internationaler Politiken eintretenden Wandlungen in politischer Regelung und Leistungserbringung technischer Infrastruktursysteme direkte Raumwirkung unterstellt. Sie setzen das Ende des modernen Infrastrukturideals gleich mit dem Ende städtischer Integration und Kohäsion. Diese Annahmen sind in Bezug auf Hanoi nicht zu halten, wo das moderne Infrastrukturideal auch nach der dem vietnamesischen Staatsverständnis entsprechenden Liberalisierung der Wirtschaft im Zuge von Đổi Mới als Leitbild des Ausbaus der städtischen Infrastruktursysteme dient. Allerdings geht in Vietnam mit diesem Ideal eine Auffassung von der Rolle des Staates als eine die Gesellschaft und die stadträumliche Entwicklung steuernde Einheit einher, die nicht der Realität der Rolle des Staates in der politischen Regelung urbaner Infrastruktursysteme und der (Re-)Produktion des städtischen Raumes entspricht. Staatlichen Akteuren sind zwar auch in Vietnam Gestaltungskompetenzen zuzusprechen, sie haben jedoch keine alleinige Steuerungsfunktion inne (vgl. Kap. 6.2). Wie eben erläutert, ist aus dem Transfer des international zirkulierenden Infrastrukturideals und seiner Anpassung an den Kontext Hanois etwas Neues entstanden, ein Hybrid aus unterschiedlichen Komponenten, die zusammen ein System bilden. Diese Betrachtung unterstreicht die Bedeutung des modernen Infrastrukturideals als analytisches Konzept. Tatsächlich ist diesem von Graham und Marvin vorgebrachten Konzept eine zentrale Rolle in der Analyse technischer Infrastruktursysteme zuzuschreiben – wenn sie selbst es auch unterkomplex nutzen, da sie es normativ als Ideal annehmen. Seine vorrangige Bedeutung für die Analyse technischer Infrastruktursysteme in Hanoi und anderen Städten weltweit liegt allerdings vielmehr in seiner Funktion als zirkulierendes Leitbild der Entwicklung urbaner Infrastrukturen. Diese Funktion wird vor dem Hintergrund der analytischen Unterscheidung zwischen verbreiteter Auffassung und Realität staatlichen Handelns und seiner Auswirkungen auf den Stadtraum deutlich. So haben gesellschaftliche und staatliche Akteure eine Auffassung der Rolle des Staates, die nicht der Realität dieser Rolle entspricht. Bereits das Handeln der Akteure im Spannungsfeld zwischen Auffassung und Realität staatlicher Institutionen hat Auswirkungen auf den Stadtraum und insbesondere auf die Ausprägungen der soziotechnischen Dimensionen technischer Infrastruktursysteme. Das moderne Infrastrukturideal ist nun eine Konkretisierung dieser Auffassung in Hinblick auf die urbane Infrastrukturversorgung. Das moderne Infrastrukturideal ist nicht zuletzt aufgrund der in ihm enthaltenen technokratischen Sichtweise gar nicht als Ideal zu betrachten, sondern es dient vielmehr als analytische Folie, um die von den Stadtverwaltungen angestrebte soziotechnische Infrastrukturversorgung und ihre Relation zum städtischen Raum zu begreifen. Mit diesem Verständnis und einer Auffassung der Rolle staatlicher und gesellschaftlicher Akteure als gestaltend, jedoch nicht als steuernd wird offenbar, dass das moderne Infrastrukturideal im Prozess seiner Umsetzung den Gegebenheiten angepasst wird und dies in einer stadträumlich differenzierten Weise. Es ist also zu unterscheiden zwischen der Differenzierung technischer Infrastrukturen und der Differenzierung stadträumlicher Strukturen, die beide wiederum nicht gleichzusetzen sind mit sozialräumlicher Segregation oder Fragmentierung in Städten. Die weitere Gestaltung heute vorzufindender Infrastruktursysteme kann
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8. Reflexion theoretischer Debatten
eine stadträumliche Differenzierung von Infrastruktursystemen in ihren sozialen und technischen Dimensionen ergeben, ohne damit eine Diskriminierung von Bevölkerungen hervorzurufen. Wie oben erläutert, wird im Zuge der Analyse urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme davon ausgegangen, dass diese Differenzierung umgekehrt sogar notwendig ist, um weitere Diskriminierung von Nutzergruppen zu vermeiden (vgl. Kap 2.3). Aus entsprechenden Diskursen wurde eingangs die Hypothese abgeleitet, dass in Ausbau und Management heutiger Infrastruktursysteme auf vorzufindende Fragmentierung mit differenzierten Konzepten reagiert werden muss, um eine Verstärkung stadträumlicher Diskriminierung zu vermeiden. Diese Hypothese ist vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen und rasanten städtischen Wachstums in Bezug auf Hanoi grundsätzlich zu bestätigen. Es ist dennoch anzunehmen, dass eine Vereinheitlichung der urbanen Infrastruktursysteme dem modernen Ideal entsprechend ein möglicher Entwicklungspfad auch für Städte in Ländern des globalen Südens bleibt. Solche Systeme bedürfen jedoch der Aufwendung großer finanzieller und personeller Ressourcen für die Gewährleistung ihrer Funktionalität im Sinne einer Vermeidung von Diskriminierungen von Bevölkerungsgruppen und Umweltproblemen. Aufgrund der sozialen, ökologischen und ökonomischen Ineffizienzen dieser Systeme sollte die weitere Gestaltung des Systems ausgehen von den Kapazitäten staatlicher und gesellschaftlicher Akteure und den differenzierten stadträumlichen Strukturen und Entwicklungsprozessen. In der Analyse des Abwasserentsorgungssystems Hanois und seiner stadträumlichen Vielfalt wurde gezeigt, dass zunächst die Optimierung des Managements der einzelnen Subsysteme eine zentrale Rolle spielt. Darüber hinaus liegt der Schlüssel zur stadträumlichen Kohäsion bei differenzierten Infrastruktursystemen in den Schnittstellen, Verbindungen und Übergängen zwischen Subsystemen und unterschiedlich vernetzten Räumen. Damit ist einerseits die Gestaltung der Verbindungsstellen unterschiedlich vernetzter Räume gemeint, die aktuell am Stadtrand und im suburbanen Raum zum Teil isoliert voneinander entstehen. Gleichzeitig sind die Schnittstellen zwischen den beiden hier identifizierten Subsystemen der Septic Tanks und des Entwässerungsnetzes zu gestalten. Übergänge zwischen differenzierten Systemkomponenten können zudem mittels der oben (Kap. 6.3.2) diskutierten Differenzierung von Gebühren aufgrund der Belastung der Bewohner_innen in der Erbringung von Leistungen geschaffen werden. Wenn die Differenzierung eines Infrastruktursystems beibehalten werden soll, ohne dass sie zur Diskriminierung von Nutzergruppen beiträgt, muss der Schwerpunkt der Planung des Systems und seines Managements auf die Optimierung der Subsysteme und die Organisation der Schnittstellen, Verbindungen und Übergänge zwischen unterschiedlich vernetzten Räumen und zwischen Subsystemen gelegt werden. In einem differenzierten Infrastruktursystem muss die Gestaltung der Übergänge zu einem zentralen Belang der Stadt- und Abwasserentsorgungsplanung werden. Welche Optionen und Restriktionen für unterschiedliche Akteursgruppen zur Umset-
8.3. Ertrag für Analysen soziotechnischer Infrastruktursysteme
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zung dieser materiellen Vorgabe zur Gestaltung differenzierter technischer Infrastruktursysteme bestehen, wird im folgenden Unterkapitel diskutiert. 8.3. ERTRAG FÜR DIE ANALYSE SOZIOTECHNISCHER INFRASTRUKTURSYSTEME Aus der eingangs vorgenommenen Analyse von Debatten über die politische Regelung urbaner technischer Infrastruktursysteme mit dem Fokus auf die Abwasserentsorgung im globalen Süden wurde die dritte Hypothese abgeleitet, nämlich dass das Gestaltungspotenzial sowohl von dezentralen, stadträumlich differenzierten soziotechnischen Lösungen als auch von zentralen, einheitlichen Systemen der Abwasserentsorgung abhängt sowie von den partikularen Interessen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure und von der Vereinbarkeit dieser Interessen. Diese Hypothese ist in Bezug auf Hanoi zu bestätigen. Wie eingangs (vgl. Kap. 2) erläutert, stellt sich die Staatsnähe, die Monstadt (2007) in der westlichen Welt als eine der grundlegenden Eigenschaften technischer Infrastruktursysteme sieht, als ein komplexes Thema in der Versorgung von urbanen Bevölkerungen mit grundlegenden Leistungen im globalen Süden dar. Anders als teilweise angenommen, spielen staatliche Akteure eine Rolle auch im Rahmen der politischen Regelungsund der Leistungsstruktur von informellen und dezentralen soziotechnischen Systemen, die durch einen hohen Einsatz von Arbeit und Management durch lokale Bevölkerungsgruppen geprägt sind. Andersherum finden auch vonseiten staatlicher Akteure gestaltetes Management und Ausbau großtechnischer Infrastruktursysteme innerhalb informeller Regelungsprozesse und außerhalb formeller Regulierung statt (vgl. Roy 2009). Dies machte auch die Analyse Hanois deutlich. Dort bestehen vielfältige Beziehungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren in der politischen Regelung und der Erbringung von Leistungen im Sektor der Abwasserentsorgung. Auch die marktorientierten und die tendenziell selbstgeregelten Formen der Erbringung von Leistungen gesellschaftlicher Akteure finden nicht ohne Einfluss staatlicher Akteure statt. Die Arbeitseinsätze der Bevölkerung in der Instandhaltung des Abwasserentsorgungsnetzes etwa sind durch politische Regelungsprozesse geprägt, in denen die lokalen Verwaltungen eine zentrale Rolle spielen. Staatliche Akteure vertreten unter Umständen partikulare Interessen, die mit dem Gemeinwohl in Konflikt stehen können, wenn sie etwa mit Bauunternehmen Wachstumskoalitionen eingehen, in deren Zuge der lokal differenzierte Ausbau technischer Infrastruktursysteme zu einer Verschlechterung der Situation von Bevölkerungsgruppen in umliegenden Siedlungen führt. Auch finden hier informelle Regelungsprozesse bei der Vergabe von Baugenehmigungen statt und bei der Kontrolle von Bauprozessen, die im Ergebnis oftmals von formellen Planungen abweichen. Dieses Beispiel weist zudem auf die engen Verflechtungen von Prozessen der Siedlungsentwicklung und des Managements der urbanen Infrastruktursysteme hin, die nicht voneinander zu trennen sind. Anders als formell angestrebt, bleibt die Grenze zwischen den Sphären Staat, Markt und Gesellschaft fließend, wenn etwa Angestellte des städtischen Entwässerungsunternehmens gleichzeitig Kleinunter-
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8. Reflexion theoretischer Debatten
nehmen zur Leerung von Septic Tanks besitzen und diese außerhalb formeller Regulierung betreiben. Auch die eben genannten Wachstumskoalitionen zwischen Vertreter_innen des politisch-administrativen Systems und Investitions- und Bauunternehmen, die z. T. gleichzeitig auch im Management der urbanen Abwasserentsorgung tätig sind und die oftmals einen unklaren rechtlichen Status haben, sind ein Beispiel für die enge Verwobenheit dieser Sphären. Diese besteht trotz des Versuchs ihrer Trennung durch eine Ausweitung der Regulierungskompetenz staatlicher Institutionen und ihrer Abgrenzung von privatwirtschaftlichen Unternehmensformen im Zuge von Đổi Mới. Urbane soziotechnische Infrastruktursysteme Hanois sind also staatsnah, da staatliche Akteure direkten Einfluss auf das Management und die Gestaltung ausüben; sie sind marktorientiert, da sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure gewinnorientiert und aufgrund von Marktmechanismen handeln; und sie sind informell, da diese Prozesse außerhalb formeller Regulierung vor sich gehen. Insofern kann die Analyse von Migdal (2007) als zutreffend für Hanoi bezeichnet werden, in der er staatliche Akteure als einen Teil der Gesellschaft konzeptualisiert und staatliche Akteure innerhalb gesellschaftlicher Regelungsprozesse Einfluss auf die Gestaltung technischer Infrastruktursysteme haben, ohne dass sie deren Entwicklung steuern. Die Organisation der technischen Infrastruktursysteme Hanois ist marktorientiert, staatsnah und informell – Akteure auf unterschiedlichen Ebenen der staatlichen Hierarchie spielen eine wichtige Rolle bei Ausbau und Betrieb von urbanen Infrastruktursystemen, ohne dass sie in der Gestaltung formalgesetzliche Regulierungen einhalten. Wie in Kapitel 3.5 erläutert, lässt sich in verschiedenen Politikfeldern Vietnams ein Unterschied zwischen der verbreiteten Auffassung der Rolle des Staates und der tatsächlichen Rolle staatlicher Akteure feststellen. Dieser Unterschied zeigt sich auch im städtischen Abwasserentsorgungssystem Hanois. Formelle Planungen gehen weiterhin von einer – durch die lokalen Verwaltungen vermittelten – Steuerbarkeit der Entwicklung von Stadt und urbanen Abwasserentsorgungssystemen durch staatliche Akteure aus. Neben öffentlichen Akteuren haben jedoch auch gesellschaftliche und marktorientierte Akteure gestaltenden Einfluss auf die Entwicklung und Betrieb der urbanen Abwasserentsorgungsinfrastrukturen. Dabei erweiterte sich das Feld der einflussreichen Akteure infolge der Öffnung Vietnams zur globalen Marktwirtschaft. Organisationen der internationalen und bilateralen Entwicklungszusammenarbeit verfolgen eigene Interessen hinsichtlich des Transfers von Technologien im Abwassersektor und in anderen Infrastruktursektoren. Nationale und internationale Bau- und Projektentwicklungsorganisationen streben die Erwirtschaftung von Gewinnen mit Immobilienprojekten an. Dabei werden die formellen Prozesse in Bezug auf den Transfer von Bodennutzungsrechten, die Vergabe von Verträgen im Rahmen von Ausschreibungsverfahren und die zweistufige Bauleitplanung in der Regel zwar durchlaufen, jedoch partikularen Interessen entsprechend modifiziert. Lokale Bewohnergruppen errichten, verdichten und erweitern die lokalen Abwasserentsorgungssysteme (ehemals) peri-urbaner Siedlungen in
8.3. Ertrag für Analysen soziotechnischer Infrastruktursysteme
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Regelungsprozessen, in die Vertreter_innen der Lokalverwaltungen involviert sind, die jedoch z. T. außerhalb formalgesetzlicher Regelung stattfinden. Diese und weitere Akteure nehmen im Sinne ihrer eigenen Interessenlagen Einfluss auf Instandhaltung und Ausbau des soziotechnischen Systems der Abwasserentsorgung und seiner lokalspezifischen Ausprägungen. Dabei sind sie von formalgesetzlich regulierten Entscheidungsprozessen beeinflusst, die sie jedoch im Zuge informeller Verhandlungen modifizieren. Dies untermauert die aufgrund der Analyse anderer Politikfelder Vietnams (Kap. 3.5) formulierte Hypothese, dass die Gestaltung des urbanen Abwasserentsorgungssystems durch beide Prozesse, sowohl die hierarchischen Entscheidungsprozesse, strukturiert durch das politisch-administrativen System, als auch durch diese verändernde Verhandlungen vorgenommen wird. Öffentliche Entscheidungsträger_innen können die Entwicklung urbaner technischer Infrastruktursysteme effektiver gestalten, wenn sie die tatsächliche Rolle staatlicher und gesellschaftlicher Akteure in der politischen Regelung von Ausbau und Management des Infrastruktursystems sowie die gesamte Bandbreite von Formen der Leistungserbringung und der Technikstruktur erkennen, akzeptieren und in ihren Konzepten berücksichtigen. Kenntnis, Akzeptanz und Berücksichtigung der Rolle gesellschaftlicher und marktorientierter Akteure durch staatliche Institutionen basieren aktuell vor allem auf informellen Verhandlungen zwischen Akteuren der lokalen Verwaltungseinheiten sowie Unternehmer_innen und Bewohner_innen. Der sich eröffnende Vermittlungsraum ermöglicht zwar die Durchsetzung lokaler Interessen gegenüber strikten top-down Regelungen. Die Durchsetzung lokaler Interessen auf diesem Wege ist jedoch nur möglich, wenn partikulare Interessen staatlicher Akteure nicht dagegen stehen. In dieser Analyse des urbanen Abwasserentsorgungssystems werden die Grenzen des informellen Vermittlungsraumes (vgl. Koh 2006; Kap. 3.5) zwischen lokalen Bevölkerungen, marktorientierten Akteuren und den unteren Verwaltungsebenen der Stadtteile Hanois im Hinblick auf eine funktionale Gestaltung des urbanen Abwasserentsorgungssystems deutlich. Bewohner_innen können mithilfe informeller Mediation lokaler Verwaltungsangestellten zwar erreichen, dass diese ihre Handlungen außerhalb formeller Regulierung tolerieren und so ihre eigenen Interessen gegen restriktive Regelungen durchsetzen. Sie können jedoch nicht herbeiführen, dass die Verwaltungen Tätigkeiten in Instandhaltung und Ausbau des Abwasserentsorgungssystems durchführen, wenn diese dazu aufgrund finanzieller Restriktionen nicht in der Lage sind, oder ihre partikularen Interesse dagegen stehen, auch wenn entsprechende Tätigkeiten formell in den Verantwortlichkeitsbereich der öffentlichen Verwaltungen fallen. Zudem findet durchaus Bürgerbeteiligung bezüglich des Ausbaus und des Managements von Infrastruktursystemen statt. Diese nimmt bisher vor allem die Form der Information über die Instandhaltung des bestehenden Systems oder die Gründe für den Ausbau an. Über die informelle Lockerung restriktiver Regulierungen und die Information der Bevölkerung hinaus wäre die Akzeptanz der gestaltenden Rolle
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8. Reflexion theoretischer Debatten
gesellschaftlicher Akteure im politischen Regelungsprozess der Stadtentwicklung ein weiterer wichtiger Schritt. Im Hinblick auf die Rolle der lokalen Bevölkerung als eine wichtige gesellschaftliche Gruppe bei Ausbau und Management des Abwasserentsorgungssystems von Vietnam wurde gezeigt, dass der Einsatz von finanziellen, personellen oder materiellen Ressourcen seitens lokaler Bevölkerungsgruppen spezifischen Bedingungen unterliegt. Der Einsatz der lokalen Bevölkerung in der Organisation und Erbringung von Leistungen muss durch individuelle ökonomische Eigeninteressen motiviert sein, oder es müssen verbindliche Sanktionsmöglichkeiten bestehen, die auch bei Problemdruck der Bevölkerung greifen. Diese Bedingungen gelten sowohl für dezentrale, nämlich stadtteil- oder haushaltsorientierte Systeme als auch für gesamtstädtisch orientierte Systeme der Abwasserentsorgung. Das durch individuelle ökonomische Eigeninteressen motivierte Management von Abwässern findet vorrangig im ländlichen oder peri-urbanen Raum statt, wo Abwässer außerhalb staatlicher oder gesellschaftlicher Regelung auf Felder aufgebracht werden. Dieses Eigeninteresse stimmt also im Bereich der Abwasserentsorgung im urbanen Raum nur in Ausnahmefällen mit dem öffentlichen Interesse überein. Hinsichtlich der Sanktionsmöglichkeiten, die nur dann greifen, wenn ein in den Augen der Bevölkerung ausgewogenes Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag gegeben ist, ist analytisch zu unterscheiden zwischen Selbstregelung von Bevölkerungsgruppen, Marktorientierung, wenn Leistungen an private Unternehmen delegiert werden und der staatlich gesteuerten Regelung von Infrastrukturleistungen, die dann ebenfalls durch lokal ansässige Bevölkerungsgruppen oder durch dritte Unternehmen oder Akteure erbracht werden können. Selbstregelung meint die nicht-hierarchisch gesteuerte Etablierung von Verhaltens- und Verfahrensnormen und anderen sanktionsbewährten Institutionen (vgl. Mayntz/Scharpf 1995). Dieser Begriff bezieht sich also auf die Entscheidungsprozesse der Akteure, die außerhalb (staatlicher) Hierarchien stattfinden. Die Erbringung von Leistungen zur Erfüllung eigener Lebensnotwendigkeiten wird folglich dann als Selbstorganisation bezeichnet, wenn sie selbstgeregelt ist. Die hierarchisch durch staatliche Akteure gesteuerte Erbringung von Leistungen zur Erfüllung eigener Lebensnotwendigkeiten in Form von lokalen Arbeitseinsätzen ist hiervon zu unterscheiden. Es ist in Bezug auf diese analytische Unterscheidung zu betonen, dass ein für die weitere Gestaltung wichtiges Merkmal der Abwasserentsorgung Hanois ist, dass sie keine scharfe Trennung zwischen den Sphären Staat, Markt und Gesellschaft aufweist. Vielmehr werden auch tendenziell selbstorganisierte und marktorientierte Leistungen im Schatten staatlicher Hierarchie erbracht und gleichzeitig handeln sowohl gesellschaftliche und marktwirtschaftliche als auch staatliche Akteure außerhalb formalgesetzlicher Regulierung. Gleichwohl lassen sich in der Regelung und Leistungserbringung im Abwassersektor unterschiedliche Tendenzen erkennen, die in Richtung staatlicher Regelung der Abwasserentsorgung, in Richtung einer Marktorientierung oder zu gesellschaftlicher Selbstregelung weisen.
8.3. Ertrag für Analysen soziotechnischer Infrastruktursysteme
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Diese Regelungsformen gehen mit unterschiedlichen Rollen von Nutzern und Nutzerinnen in der Leistungserbringung einher. Die Instandhaltung der offenen Entwässerungsgräben in urbanen und peri-urbanen Dörfern ist durch die lokalen Verwaltungen geregelt und wird im Zuge von Arbeitseinsätzen der Bevölkerung durchgeführt. Die Leistungserbringung im Bereich der Septic Tanks weist Tendenzen sowohl zu Selbstregelung als auch zu Marktorientierung auf, da die Haushalte hier selbst entscheiden, wann sie diese Aufgabe wem übertragen und Unternehmen außerhalb gesetzlicher Regulierung agieren. Ein Fokus auf die Erbringung von Infrastrukturleistungen, der lokale Bevölkerungsgruppen im Rahmen verschiedener Regelungsformen einbezieht, bringt zunächst eine Erweiterung des Begriffs der Leistungsstruktur mit sich, der, wie eingangs erläutert, von Mayntz et al. als die professionell und formalgesetzlich geregelte Erbringung von Infrastrukturleistungen definiert ist. Der Begriff ist damit zu eng gefasst, um die Bandbreite der Erbringung von Infrastrukturleistungen in Städten des globalen Südens abdecken zu können (vgl. Kap. 2.3). Zusammenfassend zeigen die oben genannten Beispiele, dass der Schlüssel für eine zukunftsfähige Gestaltung mit dem Ziel sozialer Kohäsion in einem vielfältigen, komplexen und dynamischen Feld wie dem der Abwasserentsorgungsinfrastrukturen Hanois in der Analyse der Grauzonen und der Übergänge zwischen den einzelnen Bereichen der Selbstregelung, der Marktorientierung und der staatlichen Steuerung liegt. Diesen Bedarf nach einer differenzierten und fallbezogenen Untersuchung der vielfältigen Formen der Technik-, Leistungs- und Regelungsstrukturen urbaner Abwasserentsorgungssysteme untermauern Studien mit einem Fokus auf Ostasien, wo die staatlich geregelte Erbringung von Arbeitseinsätzen durch lokale Bevölkerungsgruppen verbreitet ist. Diese setzen Arbeitseinsätze zum Teil gleich mit Selbstregelung und damit der Stärkung der Belange lokaler Gruppen (vgl. z. B. Parenteau/Thong 2005; Mathéy 2005). Auch in Studien zu dezentralen Sanitärkonzepten unter dem Paradigma der angepassten Technologien ist vielfach die Rede vom „empowerment“, also der Befähigung lokaler Bevölkerungen im Zuge der Umsetzung dezentraler Sanitärsysteme (vgl. z. B. Harvey 2008; Esrey 2000). Es kann bei den o. g. verschiedenen Formen der Leistungserbringung und des Managements durch lokale Bevölkerungsgruppen, wie etwa selbstorganisierten, marktorientierten oder auch hierarchisch gesteuerten Arbeitseinsätzen lokaler Bevölkerungen jedoch keinesfalls davon ausgegangen werden, dass diese – anders als etwa eine Teilnahme von Bevölkerungsgruppen an der Etablierung von Verhaltensund Verfahrensnormen im Zuge von Verhandlungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren – zur Befähigung lokaler Bevölkerungsgruppen im Sinne einer Stärkung ihrer Interessen beiträgt. Die Erfolge im Hinblick auf die tatsächliche Umsetzung dezentraler Sanitärkonzepte sind trotz ihrer frühen Abwendung vom Ideal der einheitlichen und weiträumigen Entsorgung von Abwässern in den 1970er Jahren sehr begrenzt. Dies mag darin begründet sein, dass sich in diesen Ansätzen ein Missverständnis der Steuerbarkeit des städtischen Raumes erkennen lässt.
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8. Reflexion theoretischer Debatten
Eine staatlich geregelte Intervention in dezentrale Technologien und selbstgeregelte oder marktorientierte Prozesse erfordert dann, wenn sie nicht ökonomischen Eigeninteressen folgt, mindestens gleichermaßen hohe staatliche Steuerungskapazitäten wie die Intervention in zentrale Systeme. Dies zeigte sich etwa in den Ansätzen zur Gestaltung des Septic Tank Subsystems, bei der vor allem die nachholende Umgestaltung einzelner Tanks, die im Zuge informeller Stadtentwicklungsprozesse unter einzelnen Gebäuden dezentral installiert werden, von gesamtstädtischer Seite nur ineffizient steuerbar ist. Sowohl dezentrale, differenzierte Konzepte zur Abwasserentsorgung als auch zentrale, gesamtstädtisch einheitliche Konzepte müssen also die diversen Formen und sozialen Auswirkungen des Einbezugs lokaler Bevölkerungsgruppen sowie staatlicher und marktorientierter Akteure berücksichtigen, und sie müssen pragmatisch von den Rollen und Interessen dieser unterschiedlichen Akteursgruppen ausgehen, die die Optionen und Restriktionen zur Gestaltung dieser Systeme definieren. Schlussfolgerungen für die Konzeptualisierung urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme Die Studie des Abwasserentsorgungssystems von Hanoi trägt zur Weiterentwicklung der Konzeptualisierung urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme bei. Soziale und technische Dimensionen urbaner Infrastruktursysteme sind dieser Analyse zufolge zu verstehen als Produkte komplexer, dynamischer und instabiler politischer Regelungsprozesse zwischen staatlichen, marktorientierten und gesellschaftlichen Akteuren. Die Leistungserbringung dieser urbanen Infrastruktursysteme weist mit dem vorzufindenden breiten Spektrum an zivilgesellschaftlichen Organisationen, Nutzergruppen, formell öffentlich-rechtlich und privatwirtschaftlich verfassten Unternehmen, Kleinstunternehmen ohne eine solche formalgesetzliche Zuordnung etc. gleichzeitig Tendenzen zu Selbstorganisation, zu Marktorientierung und zu Staatsnähe auf und ist dabei durch Informalität geprägt. Aktuelle Wandlungstendenzen urbaner Infrastruktursysteme der westlichen Welt weisen darauf hin, dass Leistungserbringung und ihre politische Regelung auch dort zunehmend komplex sind. Monstadt (2009:1938) bezeichnet diesen Trend als „neue Undurchsichtigkeit“ von Infrastruktursystemen der westlichen Welt: „[…] the responsibilities for the provision of (public) infrastructure services are no longer in one hand, but we can observe a new opacity of infrastructure markets characterized by the coexistence of various utility companies, new service providers, and users as coproviders […].”
Vor diesem Hintergrund von dynamischen Veränderungsprozessen urbaner Infrastruktursysteme sowohl im globalen Süden als auch in der westlichen Welt sind grundlegende Annahmen der Analysetradition großtechnischer Infrastruktursysteme nicht nur in Bezug auf den globalen Süden, sondern auch im Hinblick auf die westliche Welt, auf die sie sich bisher vorrangig bezogen, zu hinterfragen. So ist die Gegenüberstellung von Kategorien, wie etwa die der Analyse von Mayntz et al. (1995) zugrunde liegende analytische Unterscheidung zwischen Staatsnähe und Marktorientierung für die Analyse vielfältiger urbaner Infrastruktursysteme kaum noch aufschlussreich. Vielmehr ist es vor allem der Fokus auf die Grauzonen, Über-
8.4. Stand der Erkenntnis und weiterer Forschungsbedarf
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lagerungen und dynamischen Mischungen über diese Unterscheidungen hinweg, der ertragreich für die Erforschung urbaner Infrastruktursysteme weltweit ist. Wie diese Arbeit zudem untermauert hat, sind diese vielfältigen Konstellationen urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme direkt verwoben mit Prozessen der Siedlungsentwicklung, die in Hanoi auf verschiedene Weise durch Informalität geprägt sind und die ihrerseits die Ausprägungen der sozialen und technischen Dimensionen von Infrastruktursystemen beeinflussen und die Optionen und Restriktionen zu ihrer weiteren Gestaltung definieren. 8.4. STAND DER ERKENNTNIS UND WEITERER FORSCHUNGSBEDARF Diese Arbeit nimmt Stellung in der aktuellen Debatte, die in der auf technische Infrastruktursysteme fokussierten Stadtforschung geführt wird, und die die Charakterisierung der Dynamiken zwischen Stadträumen und technischen Infrastruktursystemen thematisiert. Gleichzeitig dient die vorliegende Arbeit dazu, die v. a. auf die westliche Welt bezogenen Analysen dieser Forschungstradition zu hinterfragen und sie zu erweitern. Mit dieser konzeptionellen Grundlegung zeigt sich, dass die Herausforderungen der aktuellen Stadtentwicklungs- und Abwasserentsorgungsplanungen Hanois darin bestehen, dass Maßnahmen, die zur Umsetzung des Ideals notwendig sind, bisher nicht durchgeführt wurden. So ist der Stadtraum Hanois als dauerhaft im Wandel und kontinuierlich heterogen zu charakterisieren. Mit dieser Vielfalt steht die Stadtentwicklungs- und Abwasserentsorgungsplanung in einem Widerspruch, da sie seit der Kolonialzeit bis heute eine Vereinheitlichung des städtischen Raumes und uniforme Infrastruktursysteme anstrebt. Die diesen konstanten Bestrebungen zugrunde liegende Sicht auf den Raum kann, wie oben (Kap. 4.5.1) argumentiert, als dem modernen Infrastrukturideal und der gesamten modernen Stadtplanung innewohnend bezeichnet werden. Es ist die Annahme, dass der städtische Raum sich vom ländlichen Raum insofern abhebt, als dass die Entwicklung technischer Infrastruktursysteme und des gebauten Raumes in der Stadt von der gesamtstädtischen Ebene aus steuerbar seien. In Bezug auf die Stadtentwicklungsplanung wurde gezeigt, dass ein über die Maßen umfangreiches Planwerk erstellt wird, während tatsächliche Entscheidungen entweder anderswo getroffen werden oder aber die Ausweisungen der Pläne utopisch sind. Die Charakterisierung des urbanen Raumes Hanois als heterogen berührt die Kernfrage dieser Arbeit nach der Identifikation charakteristischer Räume, die sich im Hinblick auf das System der Abwasserentsorgung unterscheiden. Diese wurde vorgenommen, wobei ein direkter Zusammenhang zwischen Prozessen der Stadtentwicklung und der Form der Abwasserentsorgung in seinen sozialen und technischen Dimensionen identifiziert wurde. Ein über diese Differenzierung hinaus charakteristisches Merkmal ist die Hybridisierung des soziotechnischen Abwasserentsorgungssystems im städtischen Raum. Bei Stadtentwicklung und Abwasserentsorgung Hanois kann nicht von splintering, Fragmentierung oder Fraktur gesprochen werden. Das urbane Abwasserentsorgungssystem Hanois ist vielmehr als Überlagerung von Subsystemen zu verstehen, die in unterschiedlicher Weise miteinander
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8. Reflexion theoretischer Debatten
verbunden sind. Diese Sichtweise bringt die oben genannten Implikationen einerseits für städtische Politik und Planung der Abwasserentsorgung, andererseits für theoretische Debatten mit sich. Die viel diskutierte Splintering Urbanism These von Graham und Marvin hat ihren Wert im Konzept des modernen Infrastrukturideals. Viele politische Entscheidungsträger_innen verfolgen dieses Ideal. Mittels der Operationalisierung des Ideals in den technischen und sozialen Dimensionen nach Mayntz et al. und auf Basis einer Unterscheidung zwischen Auffassung und Realität der Rolle staatlicher Akteure kann diese handlungsleitende Auffassung im Hinblick auf die Gestaltung soziotechnischer Infrastruktursysteme konkretisiert werden. In Bezug auf die Analytik großtechnischer Infrastruktursysteme macht dies deutlich, dass sie für eine umfassende Analyse der Entwicklung soziotechnischer urbaner Infrastruktursysteme als Basis für Empfehlungen den urbanen Raum und auch die in Leitbildern transportierten Bedeutungszuschreibungen unterbelichtet. Die in Städten des globalen Südens zu erwartende Vielfalt der Verantwortlichkeiten ist instruktiv für die Analyse der sich wandelnden Bedingungen in der westlichen Welt: der Einbezug der Nutzer und Nutzerinnen in Regelung und Erbringung von Infrastrukturleistungen, das Verschwimmen der Sphären von Staat, Markt und Gesellschaft und das Handeln sowohl gesellschaftlicher und marktorientierter als auch staatlicher Akteure in der Informalität. Die von Monstadt (2008:221) im Hinblick auf die westliche Welt identifizierte „erhöhte Komplexität“ in der Leistungserbringung und politischen Regelung urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme ist, wie hier gezeigt, im globalen Süden kein neuer Trend, sondern war stets ein integraler Bestandteil dieser Infrastruktursysteme. Aus der Analyse von soziotechnischen Infrastruktursystemen im globalen Süden können also analytische Begriffe und Blickwinkel übernommen werden, die auch für die Analyse des Wandels der Infrastrukturversorgung in der westlichen Welt aufschlussreich sind und aus denen sich Empfehlungen zur weiteren Gestaltung dieses Wandels ableiten lassen. In dieser Arbeit wurde mit dieser Konzeptualisierung mittels der Analyse des urbanen Abwasserentsorgungssystems von Hanoi begonnen. Weiterer Forschungsbedarf Die Ergebnisse dieser Arbeit dienen über den empirischen Erkenntnisgewinn in Bezug auf das Abwasserentsorgungssystem Hanois hinaus der Weiterentwicklung der Konzeptualisierung und Analytik urbaner soziotechnischer Infrastruktursysteme. Diese sind jedoch mit dieser Arbeit nicht abschließend untersucht, vielmehr besteht weiterhin Forschungsbedarf sowohl an empirischen Studien als auch hinsichtlich der theoretischen Konzeption urbaner technischer Infrastruktursysteme. Im Folgenden werden drei Themenfelder vorgestellt, die sowohl empirischer als auch grundlagenorientierter Forschung bedürfen. Das erste Themenfeld ist die Wechselwirkung weiterer Infrastruktursektoren mit dem städtischen Raum sowie die Schnittstellen zwischen den einzelnen Sektoren im Zuge der neuen ökonomischen, sozialen und ökologischen Anforderungen an technische Infrastrukturen. Das zweite ist eine Erforschung von Prozessen der Zirkulation und Adaption im Hinblick auf soziotechnische Infrastrukturen, und zwar in Bezug auf den globalen
8.4. Stand der Erkenntnis und weiterer Forschungsbedarf
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Süden und die westliche Welt und das dritte, darauf aufbauend, eine Weiterentwicklung der Konzeption technischer Infrastruktursysteme im globalen Süden und der westlichen Welt. Weitere Forschung ist nötig, um die hier aufgrund der Untersuchung des Abwasserentsorgungssystems und der Stadtentwicklung Hanois ermittelten Ergebnisse im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit auf andere Sektoren technischer Infrastrukturen zu prüfen. Wie eingangs (vgl. Kap. 2.4) dargestellt, kann von einer besonders engen Verbindung zwischen Stadtentwicklung und Wasserver- und Abwasserentsorgungsinfrastrukturen ausgegangen werden, sofern diese mittels zentraler unterirdischer Leitungssysteme vorgenommen wird und auf einem Abtransport mittels Wasser beruht. Wie sich diese Beziehung etwa in den Sektoren der Energieversorgung und der Abfallentsorgung darstellt und welcher Handlungsbedarf und welche Implikationen für die theoretische Debatte sich daraus ergeben, bleibt zu untersuchen. Die vorliegende Untersuchung der gemeinsamen Entwicklung von urbanem Raum und Abwasserentsorgungsinfrastrukturen bezieht den Abfallsektor insoweit mit ein, weil die Entsorgung der Schlämme aus den Septic Tanks in den Bereich beider Sektoren fällt. Die Untersuchung der sozialen und technischen Schnittstellen zwischen weiteren Infrastruktursektoren und ihrer Raumwirkungen und Prägungen durch den gebauten Raum würde dazu dienen, die Erfassung der Dynamiken der Entwicklungen zwischen Raum und soziotechnischen Infrastruktursystemen zu vertiefen. Zudem sollte die Erforschung von Prozessen der weltweiten Zirkulation und der lokalen Aneignung und Adaption von Leitbildern und Konzepten noch systematischer auf die Infrastrukturplanung bezogen werden. Die Infrastrukturplanung mit ihren Leitbildern, Verfahren und Instrumenten wurde in dieser Hinsicht bisher weitaus weniger intensiv erforscht als die Stadt- und Raumplanung (vgl. z. B. Healey 2012; McLees 2013). Hierfür bietet sich eine weitere Schärfung der Science and Technology Studies mit postkolonialem Bezug an, deren Blickwinkel für ein Verständnis der Entwicklungsdynamiken technischer Infrastruktursysteme im globalen Süden aufschlussreich ist (vgl. z. B. Abraham 1998; Anderson 2002/2009; Seth 2009). Wie eingangs dargestellt, bieten zunächst die Städte Vietnams für ein solches Vorhaben ein ergiebiges Forschungsfeld, da im Laufe der wechselhaften Geschichte des Landes mehrere Regime Einfluss auf das nationale System der Planung ausgeübt haben, dessen Leitvorstellungen, Verfahren und Instrumente der Planung in den räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen Vietnams angeeignet wurden. Entsprechende Fallstudien, die Wandlungsprozesse urbaner technischer Infrastruktursysteme und den Einfluss zirkulierender Leitbilder mit einem postkolonialen Blickwinkel beleuchten, sollten sich jedoch nicht allein auf die ehemals kolonialisierten Länder des globalen Südens beschränken. Vielmehr geht mit dem Konzept der Zirkulation und Adaption die Forderung einher, dass die Auswirkungen der Kolonialisierung auch auf die Länder der westlichen Welt explizit in den Fokus genommen werden. Dies wurde in der Infrastrukturforschung bisher nur ausnahmsweise getan (vgl. z. B. van Laak 2004). In Bezug auf dieses Thema bietet abermals die auf räumliche Planung bezogene Forschung Ansatzpunkte für die Infrastrukturforschung, wenn hier etwa der Einfluss der in den afrikanischen Kolonien
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8. Reflexion theoretischer Debatten
vorgefundenen sozialen und räumlichen Gegebenheiten auf städtebauliche Leitbilder und damit auf den Städtebau in der westlichen Welt zumindest Erwähnung findet (vgl. Njoh 2009). Auch in der Infrastrukturforschung der westlichen Welt bedeutet dies, dass sie sich von einer Gesetzgeberperspektive hin zu einem stärkeren Einbezug der Informalität wenden muss. Dabei sollte die Informalität nicht nur als mögliche Ergänzung formalgesetzlich geregelter Interaktionsformen verstanden werden, sondern es muss geprüft werden, inwieweit sie letztere im Sinne von Roy (2009) durchdringt und transformiert. Entsprechende informelle Prozesse werden in einigen Studien am Rande erwähnt (vgl. Mayntz/Scharpf 1995a:49), in anderen, insbesondere solchen mit Fokus auf die räumliche Planung technischer Infrastruktursysteme, bisher noch weitgehend außen vor gelassen (vgl. Libbe/ Köhler/Beckmann 2010). Im Lichte der zunehmenden Unübersichtlichkeit und Komplexität soziotechnischer Infrastruktursysteme in der westlichen Welt, deren Technik-, Leistungs- und politische Regelungsstrukturen sich in Richtung einer Diversifizierung entwickeln und deren Topologie immer stärker durch dezentrale, z. T. auch stadträumlich differenzierte Systeme gekennzeichnet ist, bietet sich auch hier eine Konzeptualisierung dieser Systeme als sich in vielfältiger Weise überlagernder Subsysteme an. Eine solche Perspektive nimmt die Grauzonen, Instabilitäten und Schnittstellen innerhalb und zwischen Systemen in den Fokus, von deren Gestaltung eine sozial, ökonomisch und ökologisch tragfähige Versorgung mit grundlegenden Leistungen in Zukunft nicht nur im globalen Süden, sondern auch in der westlichen Welt abhängen wird.
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:
Untersuchungsraum südwestlich des Roten Flusses Städtische und ländliche Bezirke im Untersuchungsraum Gang der Untersuchung Stark verdichtete Slumsiedlung ohne kommunale Infrastrukturversorgung (Kibera, Nairobi) Abb. 5: End-of-pipe Abwasserreinigungssysteme Abb. 6: Das System semizentraler Ver- und Entsorgung (rechts) in Abgrenzung zu end-of-pipe Lösungen (links) Abb. 7: Die Verwaltungsstruktur Vietnams und Hanois Abb. 8: Städtische und ländliche Bezirke Hanois 2010 Abb. 9: Städtische Bezirke Hanois 2010 Abb. 10: Bauplan der Haushaltsentwässerung in den „quartiers indigènes“ mit getrennter Ableitung von Schwarzwasser 1939 Abb. 11: Der „Leningrad Plan“ von 1982 Abb. 12: : Die sozialistische Wohnsiedlung Thanh Xuân Abb. 13: „Streit um Land“ informelle Bautätigkeit 2009 Abb. 14: Bau einer New Urban Area 2010 Abb. 15: Charakteristische Räume Hanois vor der Kolonialzeit Abb. 16: Charakteristische Räume Hanois am Ende der Kolonialzeit Abb. 17: Planung Abwasserentsorgungsnetz 1939 Abb. 18: Stadtregionale Entwässerungsplanung und „maximale Ausdehnung“ Hanois 1939 Abb. 19: Charakteristische Räume Hanois südwestlich des Roten Flusses am Ende der Planwirtschaft Abb. 20: Entwässerungsplan der JICA Abb. 21: Hanoi Stadtentwicklungsplan von 1990 bis 2010 Abb. 22: Hanoi Stadtentwicklungsplan 2010 bis 2030 Abb. 23: Charakteristische Räume Hanois südwestlich des Roten Flusses heute Abb. 24: Formalgesetzliche Zuständigkeiten in der Regelung und der Leistungserbringung der urbanen Abwasserentsorgung Vietnams Abb. 25: Die Position des Septic Tanks im Stoffkreislauf Hanois Abb. 26: Kanalentschlammung durch Mitarbeiterinnen der HSDC 2009 Abb. 27: Schwarzes Wasser im Trúc Bạch See im 36-Gassen Gebiet 2011 Abb. 28: Offene Entwässerung im Stadtkern 2008 Abb. 29: Ausbau unterirdischer Kanäle im Stadtkern 2010 Abb. 30: Wohnsiedlung mit offenem Kanal 2008 Abb. 31: Zugang zum unterirdischen Kanal in der Wohnsiedlung Kim Liên 2011 Abb. 32: Inkrementeller Ausbau von Wohnungen durch sog. „bird cages“ 2011 Abb. 33: Urbanes Dorf mit direkter Entwässerung in den Tô Lịch Fluss 2008 Abb. 34: Gedeckelte Kanalisation im urbanen Dorf Đội Cấn 2011 Abb. 35: Ausbau unterirdischer Kanäle in urbanem Dorf 2013 Abb. 36: Die New Urban Area Linh Đàm 2011 Abb. 37: Straßenszene am Rand der New Urban Area Ciputra 2011 Abb. 38: Pagode mit Regenrückhaltebecken in der New Urban Area Mỹ Đình II 2011 Abb. 39: Das peri-urbane Dorf Nội Thôn 2009 mit Behälter zur Düngung vorne rechts
29 29 31 61 68 76 92 95 95 112 116 117 123 123 129 129 130 130 131 131 132 132 133 133 133 135 135 136 136 137 137 138 138 139 139 140 140 141 141
278 Abb. 40: Abb. 41: Abb. 42: Abb. 43: Abb. 44: Abb. 45: Abb. 46: Abb. 47: Abb. 48: Abb. 49: Abb. 50: Abb. 51: Abb. 52: Abb. 53: Abb. 54: Abb. 55: Abb. 56: Abb. 57: Abb. 58: Abb. 59: Abb. 60: Abb. 61: Abb. 62: Abb. 63: Abb. 64: Abb. 65: Abb. 66: Abb. 67:
Tabellenverzeichnis Dezentrale Abwasserreinigungsanlage in Lai Xá 2011 Unbefestigte Straße im peri-urbanen Dorf Lai Xá 2010 Straßenbau am westlichen Stadtrand Hanois 2010 Straßenbau am westlichen Stadtrand Hanois 2013 Die Phasen der Entwicklung Hanois Die Struktur des Entwässerungsnetzes bestehend und geplant Das Entwässerungssystem Hanois Offene Wasserkörper Hanois Septic Tank mit einer Kammer Septic Tank mit zwei Kammern Anfahrt des Leerungsfahrzeugs… Ausrollen des Schlauchs... Leerung des Tanks… Entschlammung eines offenen Kanals durch die HSDC. Septic Tank mit zusätzlichen Kammern (BAST) Septic Tank mit zusätzlichen Kammern und anaeroben Filtern (BASTAF) Koloniale Abwasserplanung Abwasserplanung 2009 Das Abwassersystem in der inneren Stadt Das Abwassersystem in den Wohnsiedlungen Das Abwassersystem in den urbanen Dörfern Das Abwassersystem in den NUAs der HUD Das Abwassersystem in der Wohnungsgenossenschaft Vorgesehenes Abwassersystem in Yên Sở Das Abwassersystem in peri-urbanen Dörfern Aktuelle Stadterweiterungen: inkrementell verdichtete Dörfer Planung und Realität der Siedlungsstruktur in der Stadterweiterung Dezentrale Nutzung von Abwässern in der urbanen Aquakultur in Hanoi 2011
142 142 143 143 147 150 159 160 161 161 168 168 168 168 174 174 177 177 183 187 192 198 200 201 206 208 208 245
TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Phasen, Akteure und Konzepte der Technikentwicklung nach Hughes 1987 Tabelle 2: Zuständigkeitsbereich der Hanoi Sewerage and Drainage Company Tabelle 3: Wassertarife Hanoi Tabelle 4: Prozesse der Siedlungsentwicklung in den charakteristischen Räumen seit der Kolonialzeit Tabelle 5: Die Differenzierung der Abwasserentsorgung in charakteristischen Räumen Hanois
43 159 165 181 211
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herausgegeben von Frauke Kraas, Martin Coy, Peter Herrle und Volker Kreibich
Franz Steiner Verlag
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Hanoi ist eine „Stadt im Fluss“ – die Megastadt im Delta des Roten Flusses ist durch stetigen Wandel geprägt. Dieser bringt eine differenzierte Abwas serentsorgung hervor, während die städtische Infrastrukturplanung seit der Kolonialzeit eine Vereinheitlichung dieser anstrebt: Das dauerhafte Streben nach einem einheitlichen und zentralen System bei gleichzeitig dauerhafter Vielfalt der stadträumlichen Muster und Abwasserentsorgungsinfrastruk turen motivieren diese Studie. Welche Möglichkeiten zur Gestaltung haben Akteure? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Planung, sondern sie berührt auch den Kern der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung, die sich mit der Gestal tungsresistenz von Infrastrukturen und ihren Implikationen für Ressourcen gerechtigkeit in Städten befasst. Kritische Analysen gehen jedoch kaum auf die zukünftige Gestaltung urbaner Infrastrukturen ein. Deren Planung blendet hingegen oftmals die Einbettung dieser in breitere sozialräumliche Dynamiken aus. Diese Arbeit verbindet beide Ansätze und trägt so über eine theoretisch fundierte Stellungnahme zur Abwasserpolitik Hanois hinaus zur planerischen und sozialwissenschaftlichen Erforschung urbaner Infrastruk tursysteme bei.
ISBN 978-3-515-10905-5
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7 83 5 1 5 1 09055
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag