Das Imperium und die Seeotter: Die Expansion Russlands in den nordpazifischen Raum, 1700–1867 [1 ed.] 9783666301773, 9783525301777


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German Pages [357] Year 2016

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Das Imperium und die Seeotter: Die Expansion Russlands in den nordpazifischen Raum, 1700–1867 [1 ed.]
 9783666301773, 9783525301777

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Transnationale Geschichte Herausgegeben von Michael Geyer und Matthias Middell Band 9: Martina Winkler Das Imperium und die Seeotter

Martina Winkler

Das Imperium und die Seeotter Die Expansion Russlands in den nordpazifischen Raum, 1700–1867

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Umschlagabbildung: Karte der ersten Kamtschatka-Expedition. Aquarellierte Federzeichnung von Pjotr Tschaplin (Petr Čaplin). SUB Göttingen. Cod. Ms. Asch 246. Mit 9 farbigen Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-1021 ISBN 978-3-666-30177-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Annäherung an eine entfernte Region . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Imperialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.3 Globalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.4 Raumgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.5 Perspektiven der Untersuchung und Hypothesen . . . . . . . . 19 1.6 Historische Akteure und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Linien und Flächen – Raumdarstellungen im 18. Jahrhundert . . . 32 2.1 Einleitung: »Alte« und »neue« Karten . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.2 Die wichtigsten Linien: Flüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3 Erfahrene Linien: Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.4 Fehlende Linien: Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.5 Linien und Flächen: Die Darstellung des Imperiums . . . . . . 59 3. Raum und Menschen: Besitzkonzepte auf dem Weg in den Nordpazifik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.1 Einleitung: Kein Besitz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2 Expansion im Moskauer Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.3 Die Kamčatka-Expeditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.4 Wandel im späten 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4.1 Der Topos der Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4.2 Die Politik der Namensgebung . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.4.3 Die Bedeutung der Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.5 Das 19. Jahrhundert: Grenzfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.5.1 Vom Nutzen und Nachteil von Grenzen für Imperien . . 108 3.5.2 Die Grenzregelungen von 1824/25 . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Land und Meer: Maritime Kulturen im Landimperium . . . . . . . 131 4.1 Einleitung: Problematische Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . 131 4.2 Drama – das Meer als das Andere? . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

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Inhalt

4.3 Herrschaft, Kontrolle und Souveränität . . . . . . . . . . . . . . 150 4.4 Der Nordpazifik und seine Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.4.1 Mikro- und Makrostrukturen des Meeres . . . . . . . . . 166 4.4.2 Der fehlende Topos der Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4.4.3 Unerwartete Vergleichsperspektiven . . . . . . . . . . . . . 175 4.5 Wandel im 19. Jahrhundert: Globalisierung und die Dramatisierung des Meeres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4.5.1 Die erste russländische Weltumseglung . . . . . . . . . . . 187 4.5.2 Neue Perspektiven auf den Nordpazifik . . . . . . . . . . . 199 5. Asien und Amerika: Die Bedeutung der Kontinente . . . . . . . . . 207 5.1 Einleitung: Das Problem der Metageografien . . . . . . . . . . . 207 5.2 Amerika im 18. Jahrhundert: Eine »neue Welt«? . . . . . . . . . 210 5.3 Amerika im 19. Jahrhundert: Die Entstehung eines Kontinents 218 5.4 Asien als Kontrast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 6. Nah und Fern: Das Problem der Distanzen . . . . . . . . . . . . . . . 227 6.1 Einleitung: Distanz als geografische oder historische Kategorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6.2 Distanzwahrnehmungen im Moskauer Reich: Herrschaft und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6.3 Distanzwahrnehmungen im 18. Jahrhundert: Die Vermessung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.4 Die ultimative Distanz: Weltumseglungen . . . . . . . . . . . . 256 6.5 19. Jahrhundert: Distanz in einer russländischen Kolonie . . . 270 7. Russland und Amerika: Der Verkauf einer Kolonie . . . . . . . . . . 283 7.1 Einleitung: Fataler Fehler oder glückliche Fügung? . . . . . . . 283 7.2 Besitz und Verkauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 7.3 Die räumliche Zugehörigkeit Russisch Amerikas . . . . . . . . 297 8. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 10. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 11. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

Danksagung

Diese Studie ist hervorgegangen aus verschiedenen Forschungszusammenhängen, verbindet zahlreiche Interessen und Fragestellungen und wurde an unterschiedlichen Universitäten verfasst. Entsprechend groß ist auch die Zahl der Kolleginnen und Kollegen, die mit Fragen und Antworten sowie Bedenken und Mutmachen zum Abschluss der Arbeit beigetragen haben. Als erstes zu nennen ist wohl Matthias Middell, der mich nicht nur ursprünglich auf die Idee gebracht hat, mich mit Globalgeschichte zu befassen, sondern später auch in sehr direkter Art darauf hinwies, ich solle ein älteres Projekt schnellstmöglich fallen lassen und mich lieber auf Russisch Amerika konzentrieren. Manchmal sollte man auf unbequeme Ratschläge tatsächlich auch hören. Zu den Kollegen aus dem Leipziger Umkreis, die meine Arbeit gefördert und befördert haben, gehören auch Katja Naumann, Steffi Marung, Ulf Engel und Stefan Troebst. In Berlin bin ich vor allem Jörg­ Baberowski und Alexandra Oberländer zu Dank verpflichtet, außerdem unserem dort entstandenen kružok: Ricarda Vulpius, Julia Obertreis, Kerstin Jobst und Claudia Weber. Nancy Kollmann, Norman Naimark, Valerie Kivelson, Michelle Marrese, Ilya Vinkovetsky und Ryan Jones haben meinen Weg aus überseeischer Perspektive begleitet. Abgeschlossen habe ich die Arbeit schließlich in Bremen, wo ich vielen wunderbaren Kolleginnen, vor allem aber Susanne Schattenberg für ihre Freundschaft und Unterstützung zu danken habe. Auf die Frage meines Sohnes Joshua, was ich denn vorhabe, wenn ich endlich mit der Uni fertig sei, habe ich zwar nach wie vor keine Antwort. Aber das Erscheinen dieses Buches wird ihn hoffentlich dahingehend beruhigen, dass die Arbeit seiner Mutter nicht ganz ergebnislos bleibt. Meinem Mann Fabian schließlich danke ich am meisten: dafür, dass er da ist.

1. Einleitung

1.1 Annäherung an eine entfernte Region Die Arbeit an diesem Buch fand ihren eher zufälligen Anfang in der Einladung zu einem Workshop über Globalgeschichte im 18. Jahrhundert. Dieses Angebot brachte mich dazu, über den Begriff »Globalgeschichte«, der für mich zuvor nicht viel mehr als ein modisches Etikett war, nachzudenken und ihn mit meinem Forschungsfeld in Verbindung zu bringen: der russländischen Geschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die spontane Assoziation von Globalgeschichte mit großen Distanzen und transnationalen Verflechtungen führte bald zu der Idee, einfach einen Blick auf die Geschichte Alaskas zu werfen, das unter dem Namen »Russisch Amerika« einst Teil des Russländischen Imperiums war. Aus diesem Blick wiederum und einem schnell entworfenen Vortrag erwuchs bald zweierlei: eine große Begeisterung für die Geschichte der nordpazifischen Region einerseits und neue Fragestellungen zur Wahrnehmung dieser Gegend und insbesondere Russisch Amerikas andererseits. Am Ende dieses Weges liegt nun eine Studie zur Geschichte Russisch Amerikas vor, die an meinen ursprünglichen, naiven Gedanken anknüpft (»Alaska ist weit weg und irgendwie auch global«) und ihn zugleich grundlegend problematisiert. Thematisch, methodisch und theoretisch orientiert sich die Studie vor allem an drei großen Forschungsbereichen: Raumgeschichte (auch gern gefasst unter dem Schlagwort spatial turn), Imperialgeschichte und Globalgeschichte. Diese Felder sind aktuell sehr en vogue, was nicht nur Vorteile mit sich bringt. Der einzelne Historiker hat es zu tun mit Bergen von Literatur, die zu einem nicht geringen Teil aus eher tentativen theoretischen Überlegungen und Abgrenzungsversuchen besteht. Diese Einleitung soll deshalb dazu dienen, neben einer Verdeutlichung der Fragestellung auch die Schneisen zu präsentieren, die ich mir durch den Publikationsdschungel zu schlagen versucht habe. Kaum ein Text, ob wissenschaftlich oder populär, der sich mit der Geschichte Russisch Amerikas befasst, kommt ohne den Hinweis aus, diese Region sei »ungewöhnlich« oder »merkwürdig«, »abgelegen«, »isoliert« und »ungeliebt« und passe deshalb nicht ins Gesamtbild des russländischen Im-

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Einleitung

periums.1 Dieser Hinweis auf eine besondere Situation und, daraus folgend, auch auf besondere Schwierigkeiten, findet eine wichtige argumentative Stütze in der Tatsache, dass Russisch Amerika im Jahre 1867 an die USA verkauft wurde: Russisch Amerika war nicht nur ungewöhnlich, sondern – und hier wird gern ein kausaler Zusammenhang unterstellt – auch »kurzlebig«.2 Aber auch interessant: Denn die Frage ist durchaus berechtigt, inwiefern Russisch Amerika als integraler Bestandteil des russländischen Imperiums betrachtet werden kann und muss oder welche Gründe vielmehr dafür sprechen, hier eine Sonderstellung zu konstatieren. Ilya Vinkovetsky beispielsweise legt sehr überzeugend die »Laborsituation« Russisch Amerikas dar: die Lage als Versuchsregion für koloniale, vor allem bei bri­ tischen Vorbildern abgeschaute Strategien.3 Weitere wichtige historiografische sowie historisch-anthropologische Arbeiten der letzten Jahre, die einen kleinen Boom der Nordpazifik-Forschung belegen, stammen vor allem von Nikolaj ­Bolchovitinov, Andrej Grinev und Sergej Kan.4 Neue Studien wurden ebenso verfasst von Ryan Jones, Gwenn Miller und Sonja Luehrmann.5 Dabei bildet die Frage nach besonderen Merkmalen dieser Region sowie nach den Gründen für den Verkauf an die USA bei allen Autoren einen wichtigen  – nicht unbedingt immer den entscheidenden  – Aspekt ihrer Untersuchungen. Die dahinter stehende Problematik der »Zugehörigkeit« Russisch Amerikas bildet entsprechend auch den Fluchtpunkt meiner Überlegungen zu der Region. Diese Fragestellung führt zunächst zu der Überlegung, ob der Nord­ westen des amerikanischen Kontinents überhaupt als Thema im Rahmen einer »Russischen Geschichte« taugt. Darauf sei hier in eher klassisch-juris­ tischer Manier geantwortet: »Es kommt darauf an.« Es kommt darauf an, welchen historiografischen Ansätzen man folgen möchte und welche geografisch-historischen Regionen der Betrachtung zugrunde gelegt werden.

1 Beispielsweise Miller, Kodiak Kreol, S. ix. Mazour, The Russian-American, S. 304. 2 Becker, Russia and the Concept of Empire, S. 332. Franklin, Playing the Odds, S. 34. 3 Vinkovetsky, The Russian-American Company, S. 164. 4 Vgl u. a. Bolchovitinov, Istorija Russkoj Ameriki. Grinev, The Tlingit Indians. Kan,­ Memory eternal. 5 Miller, Kodiak Kreol. Jones, Empire of Extinction. Luehrmann, Alutiiq Villages.

Imperialgeschichte

1.2 Imperialgeschichte In den letzten Jahren hat die Imperialgeschichte die historische Russlandforschung grundlegend verändert.6 Von einer wie selbstverständlich an der Kategorie des Nationalen orientierten Konzeption einer homogenen, »russischen« Geschichte, deren Betrachtung sich räumlich vor allem auf die europäischen Regionen erstreckte, haben wir einen rasanten Wandel erlebt zu einem ganz anderen Bild: dem Bild von einem »russländischen« Imperium,7 zu dem nicht nur Moskau und St. Petersburg gehörten, sondern ebenso – abhängig von Fragestellung und betrachtetem Zeitraum – auch Pjatigorsk und Warschau, Taškent und Irkutsk, Kazan’ und Tbilisi. Aber gehörte auch das vor der nordwestamerikanischen Küste gelegene Novo-Archangel’sk dazu, das heute Sitka heißt? In zahlreichen Gesprächen mit Kollegen und in der mir häufig begegnenden Forderung nach systematischen komparativen Ansätzen wurde deutlich, dass diese Frage im Allgemeinen eher mit Skepsis beantwortet wird. Anders als die Geschichte Zentralasiens oder des Kaukasus scheint die Historie Russisch Amerikas keinen sich unmittelbar erschließenden Selbstwert und keine selbstverständliche Position in einer russländischen Geschichte zu besitzen. Stets stellte sich die Frage: Aber was lernen wir aus dieser Geschichte über das »ganze« Imperium? Ist Russisch Amerika repräsentativ? Müssten wir nicht, um wertvolle Aussagen zu erhalten, Vergleiche anstellen zu anderen Gebieten, um herauszufinden, was als »typisch« gelten kann und was als ungewöhnlich? Denn schließlich – gehörte Russisch Amerika überhaupt zu Russland? Die vorliegende Studie setzt sich mit diesen Fragen auseinander, tut dies allerdings aus einer anderen Perspektive. Entscheidend ist die Prämisse von der Heterogenität des Imperiums. Der so genannte imperial turn in Bezug auf Russland hatte nicht nur eine Erweiterung des von uns wahrgenommenen Raumes zur Folge. Russland, wie die Historiografie es heute sieht, war nicht nur größer, es war auch deutlich vielfältiger als es die klassische Herangehensweise erkennen wollte. Ohne den Gegensatz von Nation und Imperium  – der im Laufe des Buches noch ausführlich diskutiert wird  – überzustrapazieren, ist doch der Hinweis von Bedeutung, dass Imperien 6 Als entscheidender Meilenstein gilt Kappeler, Rußland. 7 Zum Begriffspaar »russisch«-»russländisch«, abgeleitet vom russischen »russkij«-»rossijskij« siehe z. B. Vulpius, Nationalisierung der Religion, S.  15. Sowie dies., Das Imperium. Für aktuelle Implikationen der Begrifflichkeit siehe Halbach, Russisch oder Russländisch?

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Einleitung

mehr Heterogenität zuließen als Nationalstaaten, was auf ganz praktische, aber ebenso auch auf diskursive Gründe zurückzuführen ist. Die schrittweise räumliche Expansion über einen langen Zeitraum hinweg und die Vielfalt in Fragen von Ethnien, Religionen und sozialen Strukturen ließen komplexe Herrschaftszusammenhänge entstehen, für welche die Frage nach dem Typischen, Repräsentativen fast paradox wirkt. Die umfassenden und ungemein inspirierenden Forschungen der letzten Jahre zu Fragen imperialer Herrschaft – mit Blick sowohl auf die Frühe Neuzeit als auch auf imperiale Strukturen im 19. und 20. Jahrhundert sowie in der Gegenwart – betonen zwar die Strategien vereinheitlichender Herrschaftsansprüche, legen aber ebenso viel Wert auf die Analyse der Vielfalt. Aus dieser Perspektive hat sich ein ganzes semantisches Feld und damit eine Spielwiese historischer und kulturwissenschaftlicher Forschung ergeben, in der es um Hybridität, Mobilität und Überschneidungen geht, um kreative und pragmatische Strategien, um fragmentierte Souveränität und komplexe Machtstrukturen.8 Selbst der Begriff des Imperiums selbst, obwohl zu einer so zentralen Forschungskategorie geworden, entzieht sich einer allzu festen Definition.9 Es ist nicht notwendig, sich im postkolonialen Jargon zu verlieren, um die Bedeutung und den Wert dieser neuen Betrachtungsweise zu erkennen. »Das Imperium«  – wenn man davon überhaupt sprechen will und nicht gleich, Ann-Laura Stoler folgend, lieber die Bezeichnung »imperiale Formationen«10 wählt – ist in erster Linie heterogen und prozesshaft.11 Die Frage nach dem Repräsentativen und Typischen erweist sich vor einem solchen Hintergrund als zumindest problematisch. Entsprechend soll im Folgenden die Region Russisch Amerika weder als Idealtypus noch als Ausnahmefall betrachtet werden, sondern als ein Mosaikstein des vielfältigen Panoramas, welches das russländische Imperium bietet. Fraglich ist somit nicht, ob und wie diese Region zum Imperium gehörte, sondern ob und wie – und wann – sie als zugehörig wahrgenommen wurde. Diese Wahrnehmung wiederum soll an Raumvorstellungen und -konzeptionen geknüpft werden. Die sich daraus ergebende Frage richtet sich auf die Rollen, die der Nordpazifik und Russisch Amerika in den Territorialitätsregimen der Zeit spielten.

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Siehe u. a. Benton, A Search for Sovereignty. Young, Colonial desire. Stoler, Introduction. Kotkin, Mongol Commonwealth. Stoler, On Degrees, S. 128. Siehe auch dies., Imperial formations. Benton, A Search for Sovereignty. Andrade, The limits of empire. Go, Patterns of empire.

Globalgeschichte

1.3 Globalgeschichte Es ist kein Zufall, dass viele der Imperiumsforscher, die solche hybriden Strukturen hervorheben, sich einer eindeutigen regionalen Spezialisierung entziehen. Zwar steht das britische Empire häufig im Zentrum des Interesses, zwar ist oft auch eine spezialisierte regionale Kompetenz zu erkennen – ob nun für Afrika oder Südostasien. Doch hat die Imperiumsforschung darüber hinaus, wenn es um Hybridität und flexible Strategien geht, sehr stark von den neueren Diskussionen der Transnationalen Geschichte und der Globalgeschichte profitiert  – und diese ihrerseits beflügelt. Entscheidend ist – zumindest aus meiner Sicht und für die Fragestellungen und Perspektiven dieser Studie  – als Verdienst der Globalgeschichte, dass sie traditionelle Kategorien und Ordnungssysteme der Geschichtswissenschaft hinterfragt, scheinbar feststehende Ordnungen durcheinander bringt und neue Untersuchungseinheiten vorschlägt. Sie nimmt Themen, Akteure und Ansätze in den Blick, für die klassische historische Perspektiven nur schwer ein Interesse und die entsprechenden Methoden entwickeln konnten: an Reisegeschichte und Migrationsbewegungen, an von staatlichen Einheiten unabhängigen Rechtskulturen oder an einer Historisierung der Meere. Das zuweilen gern ausgetragene Spiel »Ist das schon Globalgeschichte oder noch nicht?« soll hier nicht mitgespielt werden. Globalgeschichte wird nicht als Etikett und auch nicht als Qualitätsmerkmal begriffen, das Forscher erreichen, wenn sie besonders weite Distanzen oder besonders zahlreiche Akteure in den Blick nehmen. Auch sollen die Themen, Methoden und Ergebnisse dieses Buches nicht unbedingt als »globalhistorisch« angepriesen werden – obwohl die stärkere Einbeziehung Russlands in globalgeschichtliche Überlegungen durchaus als Desideratum bezeichnet werden muss. Von relativ wenigen Ausnahmen abgesehen, scheuen Osteuropahistoriker bisher den globalhistorischen Diskurs.12 Umgekehrt scheint Russland – von Ostmitteleuropa ganz zu schweigen – für viele Globalhistoriker kaum von Interesse zu sein und spielt in den entsprechenden Darstellungen und Modellen nur selten eine Rolle. Diese Lücke wird hier nicht gefüllt. Doch haben Fragen, Probleme und Modelle der Globalgeschichte die in den folgenden Kapiteln ausgeführ12 Zu diesen Ausnahmen gehören: Aust, Globalisierung imperial und sozialistisch. Stolberg, Der Mond. Lemmen, Globale Selbst- und Fremdverortungen. Haslinger, Die Osteuropäische Geschichte. Aust u. Obertreis, Osteuropäische Geschichte. Stanziani, The Travelling Panopticon. David-Fox, The Implications.

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Einleitung

ten Überlegungen in vielerlei Hinsicht inspiriert. Das Spannungsverhältnis von vergleichender Betrachtung einerseits und der Analyse transnationaler Verflechtungen andererseits in Bezug auf die russländischen Besitzkulturen im Nordpazifik geht zurück auf globalhistorische Ansätze, ebenso wie die Infragestellung des Dualismus von territorialisierten Landgebieten und nicht-territorialisierten Ozeanen. Für die grundsätzliche Frage nach der sich wandelnden Position Russlands im nordpazifischen Raum erwiesen sich Modelle aus dem Wirkungskreis der Weltsystemanalyse als hilfreich, ohne dass Immanuel Wallersteins Theorie in irgendeiner Weise vollständig übernommen würde. Doch werden das 18. und das 19. Jahrhundert als Ära begriffen, in der die Beziehungen verschiedener Weltregionen – ob sie nun im Sinne Wallersteins zur »Peripherie«, »Semiperipherie« oder zum »Kern« gehörten  – sich veränderten, in welcher der pazifische Ozean sich zu einem neuen Bewegungs- und Expansionsraum für europäische Mächte entwickelte und in der schließlich neue Vorstellungen von »der Welt« wichtig wurden und Wissenschaftlern, Herrschern und Unternehmern das Bild von einem einheitlichen, beherrschbaren und nutzbaren Globus boten. Entscheidend ist jedoch für meine Rezeption globalhistorischer Ansätze die Betonung von Fragmentierungen, Verflechtungen und multiplen, zu­ weilen gegenläufigen Entwicklungen. Dabei geht es auch, aber keineswegs vorherrschend um globalisierende Tendenzen. Keineswegs aber soll und kann das allzu glatte Narrativ von der Modernisierung durch eine ebenso teleo­logischen Erzählung »Globalisierung« ergänzt werden. Vielmehr sind es gerade diejenigen Forschungsansätze, die Komplexitäten und scheinbare Widersprüche betonen, die den Wert der Globalgeschichte ausmachen. Zu nennen seien an dieser Stelle nur beispielhaft die Analyse Daniel Baughs zum Spannungsverhältnis von maritimen und territorialen Interessen Englands und Frankreichs13 oder Sebastian Conrads wichtige Diagnose vom Zusammenspiel von Nationalisierungs- und Globalisierungstendenzen.14 Solche Erkenntnisse werden im Folgenden übertragen auf den wichtigsten Forschungs- und Theoriekontext dieser Arbeit: die Raumgeschichte. Denn Globalgeschichte als Perspektive und Globalisierung als historischer Prozess verändern vieles – und das Problem der Raumwahrnehmung ist für zahlreiche dieser Veränderungen von entscheidender Bedeutung. Zugehörigkeiten und Abgrenzungen, Nähe und Distanz, Stabilität und Bewegung sowie 13 Baugh, Withdrawing from Europe. 14 Conrad, Globalisierung und Nation.

Raumgeschichte

die all diesen Dualismen zugrundeliegenden Geografien sind in den letzten Jahren zu wichtigen und faszinierenden Forschungsgegenständen geworden. Auch in diesem Buch sind sie zentral.

1.4 Raumgeschichte Für meine Antworten auf die Frage, inwiefern Russisch Amerika als inte­ graler Teil des Imperiums betrachtet werden kann, dient als Ausgangspunkt die mittlerweile relativ geläufige Beobachtung, dass das 18.  Jahrhundert in Russland nicht nur eine Zeit beschleunigter Modernisierung, sondern auch eine Phase intensiver Territorialisierung war. Der Aufbau eines modernen Staates, die Schaffung neuer Verwaltungsstrukturen und die Etablierung ambitionierter Herrschaftsmechanismen sind in zahlreichen Werken beschrieben worden und gehören zum klassischen Repertoire russischer (häufig weniger russländischer) Geschichte.15 In den letzten Jahren hat ein weiterer Aspekt dieses Wandels zunehmend Aufmerksamkeit erfahren. Historiker analysieren das wachsende Interesse russländischer Herrscher, Beamter und Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts an geografischem Wissen, an umfassender und präziser Vermessung und an zahlreicheren und zuverlässigeren Karten. Russland wurde, ganz ähnlich wie das absolutistische (aber durchaus auch das revolutionäre) Frankreich, vermessen und ­kartiert. Zunächst Kartografie, Statistik sowie Kanalbau, später dann Eisenbahnnetze, Ethnografie und Zivilisierungsmission waren die Disziplinen und Techniken, mit denen aus dem frühneuzeitlichen fragmentierten ­Moskauer Reich ein sich modernisierendes, zusammenhängendes und vor allem als zusammenhängend begriffenes Imperium geformt wurde.16 Beherrschung des Raumes und imperiale Integration sind hier die entscheidenden Zauberwörter für einen Prozess, den Willard Sunderland prägnant beschrieben hat als »a profound change in the nature of Russian territoriality.«17 »Territorialität« ist klassisch von Robert Sacks definiert worden als »a spatial strategy to affect, influence, or control resources.«18 Politikwissenschaftler und Histo­ riker formulieren meist spezifischer und definieren Territorialität als ­direkt 15 Cracraft, The revolution of Peter the Great. Dixon, The modernisation of Russia. 16 Aust, Vermessen und Abbilden. Schenk, Die Produktion. Ders., Die Neuvermessung, S. 13. Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung. 17 Sunderland, Imperial Space, S. 36. 18 Sacks, Human territoriality, S. 1.

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Einleitung

zusammenhängend mit Prozessen des Etablierens und Erhaltens politischer Souveränität.19 In der Historisierung als »Territorialisierung« wird ein unmittelbarer Zusammenhang mit der modernen Staatsbildung in Europa seit dem 17. Jahrhundert gesehen. John Agnew hat zurecht die oft nicht aus­ reichend reflektierte synonyme Verwendung von »territory« und »Staat« kritisiert.20 Obwohl die Begriffe »Territorium« und »Territorialität« ohne weiteres in anderen sozialen Zusammenhängen als nur dem staatlichen verwandt werden können, steht für die historische Analyse das staatliche Projekt der Territorialisierung tatsächlich meist im Zentrum des Interesses: die räumliche Beherrschung und Abgrenzung eines zunehmend als »Con­ tainer« begriffenen, beherrschten und verwalteten Raumes. Diese Norm stand auch im Zentrum vieler zeitgenössischer Diskurse und bildet heute ein wichtiges Paradigma der historischen Betrachtung Russlands im 18.  Jahrhundert.21 In der vorliegenden Studie soll sie untersucht, aber auch mit anderen Vorstellungen konfrontiert und ergänzt werden. Denn Russisch Amerika fällt bezeichnenderweise aus dem Paradigma des abrundend territorialisierenden 18. Jahrhunderts heraus. Anders als Sibirien, dessen administrative und mentale Eroberung ein inzwischen schon klassisches Fallbeispiel für die Prozesse von Modernisierung und m ­ ental mapping bildet,22 scheinen die Exploration und Beherrschung Russisch Amerikas nicht so recht in das etablierte Narrativ der Territorialisierung zu passen. Denn ausgerechnet in dem Jahrhundert, in dem Kartografen mit großem Stolz die ersten Darstellungen »ganz Russlands auf einem Blatt« präsentierten, als Grenzen eine neue Bedeutung als Herrschaftssignale erhielten und zunehmend »naturalisiert« wurden, und als man die imperiale Ex­ pansion bewusst mit frühnationalen Elementen versetzte und legitimierte, bezog das Imperium eine Region ein, die geografisch so gar nicht zu passen schien: weit entfernt, sogar auf einem anderen Kontinent gelegen und durch einen Ozean vom Rest des Reiches getrennt, infrastrukturell kaum integrierbar. Weshalb wurde das gerade entstehende und mühsam gepflegte Bild vom territorial einheitlichen russländischen Imperium um die »merkwürdige«, »unpassende« und »kurzlebige« Kolonie Russisch Amerika erweitert? 19 Maier, Consigning. Middell u. Naumann, Global History. Sassen, Territory. Häkli, Territoriality. Elden, Die Entstehung des Territoriums. 20 Agnew, Revisiting the territorial trap, S. 47. 21 Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung. Sunderland, Imperial Space. 22 Roll, Russland, Sibirien und der Ferne. Kivelson, Claiming Siberia. Weiss, Wie Sibirien unser wurde.

Raumgeschichte

Eine Antwort auf diese Frage liegt klar auf der Hand: Der nordpazifische Raum bot ungeahnte Reichtümer, insbesondere die wertvollen Pelze des Seeotters. Auch in Sibirien war die Expansion intensiv durch die Suche nach Pelztieren vorangetrieben worden, und der Weg nach Osten fand seine Motivation nicht zuletzt darin, dass viele Regionen hoffnungslos überjagt waren. Auf den Aleuten und an der nordwestamerikanischen Küste dann lockten nicht mehr nur Zobel, Wölfe und Marder die Fallensteller und J­äger, sondern vor allem die dort lebenden Otter, deren besonders dichte und glänzende Pelze als begehrtes Luxusgut galten und vor allem auf dem chinesischen Markt hohe Preise erzielen sollten. Russisch Amerika ist eine Region, die bereits früh  – zuweilen tatsächlich avant-la-lettre  – aus umwelthistorischer Perspektive betrachtet wurde.23 Die diesbezügliche Forschung hat in den letzten Jahren durch lebendige Diskussionen in der environmental history generell24 und in den boomenden pacific studies im Besonderen25 profitiert. Dieser und weitere Aspekte aus Ökonomie, Ökologie und Politik haben die Schilderungen in den folgenden Kapiteln informiert und inspiriert, die Fragestellung jedoch ist eine andere. Es geht um Vorstellungen und Darstellungen von Räumen, um die Frage, wie die Zeitgenossen das russländische Imperium und seine Situation in der Welt sahen und für sich ordneten. Und daraus ergeben sich weitere Antworten auf die Frage, wie die Eroberung des Nordpazifik in das Jahrhundert der Territorialisierung passt. Diese Frage nach Raumwahrnehmungen bringt neben dem imperial turn und der Globalgeschichte zusätzlich den fast noch modischeren stark kulturwissenschaftlich ausgerichteten Zweig des spatial turn ins Spiel. Trotz umfassender Kritik und verbreiteter Skepsis:26 das neue Verständnis von Raum und vor allem von seiner Bedeutung erfasst mehr und mehr Forschungsbereiche und Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften27 und erweist sich somit tatsächlich als äußerst ertragreicher Paradigmenwechsel. Die Literaturlage ist kaum mehr überschaubar  – für eine umfassende 23 Dies vor allem in den zahlreichen Schriften James Gibsons: Gibson, Sables to Sea­ otters. Ders., Furs and Food. 24 Vgl. Williams, The relations. Duceppe-Lamarre, Umwelt und Herrschaft. Radkau, Natur und Macht. 25 Igler, The Northeastern Pacific Basin. Jones, A Cruel Climate. Ders., Empire of Extinction. 26 Döring u. Thielmann, Einleitung sowie Günzel, Spatial turn. 27 Lehnert Raum und Gefühl. Middell u. Naumann, Global history. Mehigan, Raum­ lektüren. Hilger, Vernetzte Räume. Weigel, Zum topographical turn.

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Darstellung des Forschungsstandes ist hier nicht der richtige Ort.28 Doch bilden die für den spatial turn geltenden Prämissen auch die Grundachse der Überlegungen dieses Buches, und extrem kurz zusammengefasst lauten diese: »Raum« kann von Historikern nicht allein als passive Bühne für menschliche Akteure betrachtet werden und muss vielmehr als historische Kategorie betrachtet werden. Zugleich gilt: »Räume sind nicht, Räume werden gemacht«.29 Dabei bietet es sich an, sehr bewusst im Plural zu formulieren und von »Räumen« zu sprechen  – und damit Henri Lefebvres Prämisse zu folgen, dass »we are thus confronted by an indefinite multitude of spaces, each one piled upon, or perhaps contained within, the next.«30 Eine solche Fragmentierung des Raumbegriffes bringt ausgesprochen fruchtbare Irritationen mit sich. Für die Überlegungen dieses Buches stehen Räume der Geografie im Zentrum: kartierte, vermessene, wissenschaftlich erfasste und staatliche – oder von Staaten beanspruchte – Räume. Doch stellt sich die Frage, inwiefern die Darstellung von »Erweite­rungen der Wissensbestände«31 und einer fortlaufend verbesserten Erfassung »des Raumes« tatsächlich fruchtbar ist für historische Problemstellungen. Mehr oder weniger Wissen über den präzisen Verlauf einer Küste, über die Form einer Halbinsel oder eines Isthmus kann konstatiert und in eine Fortschritts- und Mängelgeschichte eingebettet werden, bringt jedoch nur geringen Erkenntnisgewinn bezüglich der Denk- und Funktionsweisen vergangener Gesellschaften. Darum aber geht es letztlich bei der Betrachtung von Raumwahrnehmungen: Um die Konstruktion von Räumen und um die Frage, auf welche Werte und Vorstellungen diese schließen lassen. Die Raum- und Kartografiegeschichte kämpft seit einer ganzen Weile darum, sich von traditionellen, im 18.  und 19.  Jahrhundert verwurzelten Vorstellungen der Wissenschaftshistorie32 zu befreien – als einer der ersten sprach Brian Harley publikumswirksam von der Ideologielastigkeit der Kartografie und von einer notwendigen »Dekonstruktion der Karten«.33 Sinnvoller als 28 Viel zitiert und nach wie vor nützlich als Forschungsüberblick: Schenk, Mental Maps. Neuer ist Rau, Räume. 29 Schultz, Räume sind nicht. 30 Lefebvre, The production of space, S. 8. 31 Cecere, Wo Europa endet, S. 135. 32 Dazu beispielsweise Skelton, Maps. 33 Harley, Deconstructing the Map. Siehe auch Akerman, Maps und Edney, Cartography without Progress.

Perspektiven der Untersuchung und Hypothesen

das Ziel einer einheitlichen Wissensgeschichte zu verfolgen erscheint es, von multiplen Wissens- und Verständniskonzepten auszugehen und nach deren Zusammenspiel und gegebenenfalls Konkurrenzen zu fragen. An diese Pluralisierung der Raumvorstellungen schließt sich die zweite Überlegung an: wenn es multiple Modernen gab und gibt (und wenn diese Erkenntnis uns beim besseren Verständnis vergangener und heutiger Gesellschaften hilft),34 dann sollte es auch lohnend sein, nach multiplen und komplexen Prozessen der Territorialisierung zu fragen, nach unterschiedlichen Raumbildern und disparaten mental maps, die nicht unbedingt in ein modernisierungstheoretisch angehauchtes vorher-nachher-FortschrittsSchema einzupassen sind. Genau solche finden sich bei einer kritischen Betrachtung der russländischen Raumvorstellungen des 18.  und 19.  Jahrhunderts zuhauf. Die zahlreichen »hybriden«, »multiplen«, »liquiden« Territorien und Geografien, die in kulturhistorischen, vor allem aber kritischgeografischen Arbeiten heraufbeschworen werden, bieten für eine Analyse der diesbezüglichen Quellen reiche Inspiration.35

1.5 Perspektiven der Untersuchung und Hypothesen All dem liegt natürlich Lefebvres fundamentales Konzept von der Produktion des Raumes zugrunde – die Untersuchungsobjekte dieser Studie werden allerdings stärker in kultur- als in sozialwissenschaftlicher Blickrichtung betrachtet. Dabei sind verschiedene, einander überlappende Aspekte und Untersuchungsperspektiven von Bedeutung, die alle im Konzept des Imperiums wurzeln und somit unmittelbar mit Fragen der Macht und Herrschaft zusammenhängen: mit Strategien zur Herstellung, Erhaltung und Legitimation von imperialer Herrschaft. Die grundsätzliche, mehr oder weniger eng an der Foucaultschen Tradition orientierte Verknüpfung von Raum und Macht steht dabei nur im Hintergrund. Wichtiger ist die konkretere, von zahlreichen Autoren herausgearbeitete große Bedeutung von Raumvorstellungen und vor allem Raumrepräsentationen für Territorialstaaten sowohl in nationaler als auch imperialer Form.36 In der jüngeren Literatur hat sich 34 Zwierlein, Frühe Neuzeit. Conrad u. Eckert, Globalgeschichte. 35 Whatmore, Hybrid geographies. Gaynor, Liquid territory. Huber, Multiple Mobilities. Krüger, Identität. Blok u. Jensen, Bruno Latour. 36 z. B. Schröder, Das Wissen, S. 270. Schulten, Mapping the nation. Edney, Mapping an Empire.

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für diese Umsetzung von Raumvorstellungen in Raummacht der Begriff der Territorialitätsregimes etabliert: gemeint sind die unterschiedlichen Muster von Territorialisierungsprozessen und den dahinter stehenden Vorstellungen.37 Diese waren vielfältig und historisch wandelbar. Auch geht es nicht nur um die klassische Territorialstaatsbildung und damit um die Macht von Staaten und Herrschern, sondern auch um andere Kollektive sowie Individuen: Mechanismen des Zusammenhanges von Macht und Raum sind ebenso in einem kleineren Maßstab zu beobachten, wenn die Quellen individuelle Karrierestrategien verraten oder Informationen über Konkurrenzen verschiedener Akteursgruppen bergen. Konzepte räumlicher Zugehörigkeit oder aber Abgrenzung schließlich bilden oft wichtige Instrumente in der Argumentation für oder gegen imperiale Expansion und damit für oder gegen wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Projekte. Wichtige Erklärungsmuster für Raumvorstellungen und -strategien ergeben sich unter anderem aus den imperialen Traditionen des Moskauer Reiches. Die so genannte »Politik der Steppe« verbindet das Petersburger Imperium mit dem Moskauer und letztlich auch dem Mongolischen Reich. Sie steht als Schlagwort für eine schrittweise, eher pragmatisch bestimmte Expansion im eurasischen Raum, für die Politik des Tributeintreibens und ein durch Sicherheitsinteressen motiviertes Voranschreiten, aber auch für Legitimationsmodelle und Kommunikationsformen sowie für das grundlegende Verständnis von einem weitgehend offenen, nicht durch »natürliche« Grenzen eingeschränkten Raum.38 Solche Traditionen spielen in der Argumentation dieser Studie eine Rolle, werden allerdings auch hinterfragt, mit konkurrierenden oder gegenläufigen Konzepten aus dem 18. und 19. Jahrhundert konfrontiert und in transnationale Entwicklungen eingeordnet. »Traditionen« bilden somit einen zu betrachtenden Faktor, sie führen jedoch keinesfalls zu Vorstellungen von einer imperialen Sonderstellung oder gar zu essentialisierenden, am Nationalen orientierten Thesen. Wissen als Kategorie in Prozessen imperialer Machtproduktion spielt  – in unterschiedlichen Formen  – immer eine Rolle, erhält jedoch seit dem Beginn des 18.  Jahrhunderts eine zentrale und herausgehobene Bedeutung. Unter dem nur partiell metaphorischen Schlagwort »Vermessung der Welt« ist die Untersuchung aufklärerischer Wissenschaftsideale in Bezug 37 Maier, Consigning. Middell, Transnationale Geschichte. Engel u. Middell, Bruchzonen der Globalisierung. Middell u. Naumann, Global history. 38 Siehe dazu u. a. Collins, Subjugation and Settlement. Kusber, Mastering. Kotkin, Mongol Commonwealth. Khodarkovsky, Russia’s steppe frontier.

Perspektiven der Untersuchung und Hypothesen

auf Räume zu einem bedeutsamen und äußerst fruchtbaren Forschungsfeld der letzten Jahre geworden. Die Resultate zeigen, wie Räume geschaffen, erforscht und dargestellt und damit dem modernen Verlangen nach Systema­ tisierung und Standardisierung unterworfen wurden. Diese Prozesse können im europäischen Kontext seit dem 17. Jahrhundert intensiv beobachtet werden: exemplarisch sei hier nur das französische Vermessungsprojekt und der Beginn des Unternehmens Cassini genannt. Die Vermessung nicht nur der Staaten, sondern – dem Anspruch nach – auch »der Welt« intensivierte sich rasant im Laufe des 18.  Jahrhunderts und fand einen Höhepunkt gegen Ende des Zentenniums: Die Französische Revolution und deren kartografische Projekte sowie die Reisen James Cooks stehen für einen allgemeinen Systematisierungswillen auf nationaler und globaler Ebene.39 Für das 19.  Jahrhundert spricht David Gugerli für das Projekt der nationalen Topo­grafie vom »Dreiecksverhältnis zwischen Macht, Wissen und Raum«40, und Iris Schröder betrachtet unter der bezeichnenden Überschrift Das Wissen von der ganzen Welt die koloniale Komponente.41 In dieser Zeit inten­ sivierten Wissen-Wollens galt das russländische Imperium allein durch seine Sonderposition des »größten Landes der Welt« als zwar besonders problematischer, aber gerade deshalb ungewöhnlich faszinierender Forschungsraum für ambitionierte Wissenschaftler. Unmittelbar mit räumlichen Ordnungen verbunden sind schließlich auch Aspekte der Identitätskonstruktion, häufig in direktem Zusammenhang mit Alteritätskonzepten und Abgrenzungsmechanismen. Unter den Schlüsselbegriffen der imagined community einerseits und des othering andererseits wurden solche Konstruktionen des Eigenen wie des Fremden bereits intensiv erforscht: vom »Orient« über »Osteuropa«, den »Balkan« und Südseeinseln bis hin zum Meer.42 Identität und Alterität werden in solchen Prozessen verräumlicht und somit strukturiert und naturalisiert. Die vorliegende Studie knüpft an diese Untersuchungen an, ohne jedoch selbst als Analyse eines solchen identitätsbezogenen Konstruktionsprozesses konzipiert zu sein. Da aber Fragen der Zugehörigkeit und Räumlichkeit einer imperialen Region zentral sind, werden die Methoden und Ergebnisse der einschlägigen 39 40 41 42

Systematisch dargestellt wurde diese Tendenz z. B. von Despoix, Die Welt. Gugerli, Speich, Topografien der Nation, S. 15. Schröder, Das Wissen. Genannt seien hier nur die Klassiker: Said, Orientalismus. Wolff, Inventing Eastern Europe. Todorova, Imagining the Balkans. Smith, European vision. Steinberg, The­ social construction.

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Forschung, insbesondere zur Darstellung Asiens, zu den sich entwickelnden Amerika-Bildern, aber auch zu Meereskonstruktionen von Bedeutung sein. Das »Machen« von Räumen folgt kulturellen Mustern und erfüllt eine wichtige Rolle in der Konstruktion von Identität und Zugehörigkeit. Schließlich hängen Raumvorstellungen und -repräsentationen auch eng mit bestimmten Konventionen zusammen, mit Sehgewohnheiten und entsprechenden Erwartungen an visuelle Darstellungen, mit als wissenschaftlich genormten Symbolen und Zeichen sowie mit sprachlichen Traditionen und Entwicklungen. Die Erwartungen, die sich aus der Entstehung des populären Genres »Reisebericht« im Laufe des 18.  Jahrhunderts und aus dem Zusammenspiel von Autoren und Publikum ergaben, bilden hier nur ein Beispiel. Ein anderes wird schnell deutlich bei der Beschäftigung mit Karten. Landkarten entsprechen Normen und Konventionen, und diese wiederum machen die Karten erst verständlich. Die Nordung von Karten, die Symbole für topografische Strukturen und das Bedürfnis, solche Strukturen überhaupt darzustellen, sollten nicht unbedingt als Resultate von wissenschaftlichem »Fortschritt« begriffen werden, sondern zunächst einmal als ausgehandelte Codes und Konventionen. Als drittes Exempel sei die Auswahl von Begrifflichkeiten und Argumenten in Briefen und Instruktionen genannt. Auch diese unterliegen bestimmten Konventionen und damit einem oft radikalen kulturellen und historischen Wandel. Solche Konventionen entstehen nicht von allein; sie hängen eng zusammen mit politischen Strategien, mit gesellschaftlichen Werten und oft wirtschaftlichen Zwängen. Dennoch können sie nicht ausschließlich als untergeordnete Funktion von Interessen betrachtet werden. Was über Räume gedacht und gesagt wird, hängt nicht von individuellen Entscheidungen ab, sondern verrät uns, was in einer Gesellschaft denkbar und sagbar ist. Die inzwischen auch schon klassische Diagnose Willibald Steinmetz’ zur gegenseitigen Bedingtheit von Sprache und Politik43 lässt sich erweitern auf Konventionen wie Genres ebenso wie auf die Bildsprache visueller Medien. Diese Grundannahmen – dass Raumwahrnehmungen und -repräsentationen unmittelbar mit Machtstrukturen, der Kategorie des Wissens, den Strategien von Identitätsbildungen sowie mit sprachlichen und anderen Konventionen zusammenhängen – bestimmen Aufbau und Quellenauswahl dieser Arbeit. Entscheidend ist dabei natürlich eines: Raumwahrnehmungen und -repräsentationen sind historisch wandelbar. 43 Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare.

Perspektiven der Untersuchung und Hypothesen

Was eigentlich selbstverständlich erscheint, zumal in einer geschichts­ wissenschaftlichen Arbeit, soll dennoch besonders betont werden. Denn diese scheinbare Selbstverständlichkeit bildet die Basis für Fragestellung, Ansatz und Ergebnisse der Studie. Konstanz voraussetzende geohistorische und essentialisierende Ansätze bleiben zunächst einmal außen vor. Statt dessen lautet die Arbeitshypothese, dass bestimmte räumliche Kriterien, die unsere heutige Wahrnehmung nicht nur Russisch Amerikas, sondern Russlands insgesamt entscheidend bestimmen, im 18. Jahrhundert ganz anders wahrgenommen wurden, dass sich für diese Kriterien signifikante Entwicklungen beschreiben lassen und dass diese Betrachtung dieser Entwicklungen wiederum Antworten bietet auf grundlegende Fragen zur Geschichte Russisch Amerikas. Konzepte wie räumliche Größe und Distanz, der Gegensatz von Land und Meer oder auch die Existenz von Kontinenten werden nicht als Basis historischer Entwicklung, sondern unmittelbar als veränderliche historische Kategorien behandelt. Diese Kriterien bestimmen als Themen der einzelnen Kapitel die Struktur des Buches: Zunächst, in Kapitel 2, geht es um Vorstellungen von Flächen und Linien und deren fundamentale Implikationen für Konzepte von Raum und Territorium. Das dritte Kapitel fragt nach Vorstellungen von räumlichem Besitz und imperialer Zugehörigkeit und analysiert hier einen Wandel von Herrschaft hin zu Eigentums-ähnlichen Konzepten und damit einen Prozess der Propertisierung. Die grundlegende Unterscheidung von Land und Meer als metagegografische Kategorien, deren Bedeutung für moderne Territorialisierungsprozesse sowie die durchaus vielschichtige Vorstellung von Russland als Kontinentalimperium bilden die Themen des vierten Kapitels. Ebenfalls an der Kategorie der Metageografie ist das darauf folgende Kapitel orientiert, in dem es um die Frage nach der Wahr­nehmung und Herausbildung von Kontinenten geht, insbesondere der klaren Trennung von Asien und Amerika. »Distanz« als ein bisher kaum hinterfragtes Element räumlicher Ordnung wird in Kapitel 6 eingehend betrachtet und unter der Perspektive von kulturell und historisch variabler Produktion von Raum analysiert. Schließlich ist das letzte thematische Kapitel den Gründen und den Argumenten für (und gegen) den Verkauf Russisch Amerikas an die USA gewidmet. Die thematische Struktur steht somit über der chronologischen Ordnung, und es ließ sich nicht vermeiden, dass bestimmte Ereignisse und Entwicklungen – so beispielsweise die Kamčatka-Expeditionen unter der Leitung Vitus Berings (1725–1730 und 1733–1743), die erste Weltumseglung

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unter russländischer Flagge (1803–1806) und natürlich die Verhandlungen, die schließlich zum Verkauf der Kolonie an die USA im Jahr 1867 führten – wiederholt im Text auftauchen, wo sie unter verschiedenen Fragestellungen beleuchtet werden.

1.6 Historische Akteure und Quellen Diese Untersuchung der Geschichte, Wahrnehmung und Darstellung Russisch Amerikas hat globalhistorische Implikationen, ist aber aus russländi­ scher Perspektive heraus konzipiert. »Russländisch« – im Gegensatz zu »russisch«  – meint dabei, dass die ethnische Zuordnung für die Auswahl der Akteure und der von ihnen verfassten Quellen zunächst keine Rolle spielt, dass vielmehr Wissenschaftler, Unternehmer, Beamte, Herrscher und Reisende von Bedeutung sind, die in einem russländischen, imperialen Kontext agiert haben. Die zahlreichen Teilnehmer von Expeditionen, die auf die Initiative russländischer Herrscher hin ausgerüstet und losgeschickt wurden, gehören somit eindeutig zum relevanten Personenkreis. Von der BeringExpedition bis zu den Reisen Faddej Bellinsgauzens (Fabian von Bellingshausens) 1819–1821 eröffnen sich somit zahlreiche historische Zusammenhänge und Akteursgruppen, die für die Fragen zu Russisch Amerika relevant sind. Auch die Kartografen, die im Auftrag von Peter I., Kaiserin Anna und Katharina II. arbeiteten, gelten in diesem weiten Sinne als »russländisch« oder vielmehr als Teilnehmer eines »russländischen« Diskurses  – gleichgültig ob sie von russischer Nationalität oder auch nur Untertanen Russlands waren oder nicht. Der Hintergrund für diese ethnisch ebenso wie sprachlich und in Bezug auf Untertanenschaft sehr heterogene Struktur der untersuchten Akteursgruppen ist einmal in der komplexen Struktur des Imperiums selbst zu suchen. Personen, die in Russisch Amerika unterwegs waren und/oder sich zu dieser Region geäußert haben, sind häufig zu den Kosaken oder sibirischen Ethnien zu zählen, waren aber nicht selten auch ethnische Russen. Besonders oft, vor allem im 19.  Jahrhundert, waren es deutsch- oder schwedischsprachige Adlige aus dem Baltikum, die im Rahmen ihrer Karriere in der Marine auch Russisch Amerika in den Blick nahmen. Ein weiterer Grund für die Vielfalt der Akteursgruppen ergibt sich aus der im frühen 18. Jahrhundert deutlich gewordenen praktischen Notwendigkeit, Fachleute für Kartografie, Nautik, Vermessung sowie andere Wissenschaften

Historische Akteure und Quellen

und Technologien aus dem Ausland anzuwerben. Insbesondere Peter der Große ist bekannt dafür, Spezialisten aus Westeuropa  – vor allem deutsche, niederländische, französische  – nach Russland eingeladen zu haben, um dort seine »Revolution« in Wissenschaft und Technik zu verwirklichen. Die Petersburger Akademie der Wissenschaften funktionierte anfangs ausschließlich über nicht-russische Mitglieder, und viele der Expeditionen des 18.  und 19.  Jahrhunderts wurden mit starker  – wenn nicht überwiegender – Beteiligung aus vor allem deutschsprachigen Regionen ausgerüstet.44 Das junge Imperium profitierte von diesen intellektuellen Importen, und der wissenschaftliche Ehrgeiz vieler junger westeuropäischer Forscher fand in dem als tabula rasa verstandenen Russland eine ideale Angriffsfläche. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es nicht auch Probleme gab, die sich beispielsweise in Konflikten unter Expeditionsteilnehmern äußerten – berüchtigt ist hier der Querulant Georg Wilhelm Steller – oder auch in der nicht genehmigten Ausfuhr von Forschungsergebnissen wie z. B. Kartenwerken. Bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts sind frühnationale Tendenzen zu erkennen,45 welche langfristig die transnationale Personalstruktur des Imperiums in Frage stellen sollten. Ähnliches gilt für die im 18. Jahrhundert gepflegte Idee einer »Gelehrten­ republik«. Dass auch diese nicht ohne Konflikte funktionierte, liegt auf der Hand und wird spätestens bei der Lektüre von zeitgenössischen Briefen und Rezensionen deutlich. Dennoch kann für das 18. und das 19. Jahrhundert ein enges Geflecht von Kontakten, Netzwerken, Kooperationen und Konkurrenzen festgestellt werden.46 Die Quellen weisen starke intertextuelle Zusammenhänge auf, nehmen kritisch oder lobend aufein­ander Bezug. Nationale bzw. auf Staaten bezogene Unterschiede gab es, – und diese nahmen im Laufe der beschriebenen Ära durchaus auch zu – aber dennoch erscheint eine klare Grenzziehung entlang nationaler Linien weder möglich noch sinnvoll. Einige spezielle Worte sind notwendig zur Frage nach indigenen Akteuren. Hier sind konzeptionelle Aspekte, aber auch methodische Probleme zu bedenken. Die »russländische« Perspektive dieser Studie schließt indigene Akteure keineswegs grundlegend aus. Es geht nicht explizit um eine 44 Siehe dazu z. B. Duchhardt, Russland. Posselt, Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen. Bucher, Russisch-Amerika. Dahlmann, Die fremden Völker. 45 Rogger, National Consciousness. 46 Sehr schön zu sehen ist dies bei einem Projekt an der Stanford University: Mapping the Republic of Letters (http://republicofletters.stanford.edu, 3.1.2016).

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am Staat orientierte top-down-Geschichte, ebenso wenig aber auch um eine gezielte bottom-up-Perspektive. Das Interesse an »russländischen« Wahrnehmungen schließt Äußerungen und Darstellungen von Akteuren unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten zunächst einmal ein, allerdings sind der Reichweite der Untersuchung schlichtweg methodische Grenze gesetzt, sind doch die Quellen, die sich mir als Historikerin erschließen, »europäischer« Provenienz: Briefe, Berichte, Karten. Von Alutiiq oder Tlingit verfasste schriftliche Quellen aus der Zeit vor 1867 sind leider kaum vorhanden  – Historiker müssen sich hier beschränken oder sind auf problematische, eher impressionistische und spekulative Mutmaßungen angewiesen.47 Ohne die souveräne Handhabung anthropologischer und archäologischer Methoden bleibt die indigene Bevölkerung als Akteursgruppe  – natürlich nicht als Beteiligte und als Faktor in der soziopolitischen Situation – deshalb faktisch weitestgehend ausgeschlossen.48 Selbstverständlich sind die Akteure nicht nur in ethnischer Hinsicht voneinander zu unterscheiden. Ebenso wichtig ist die Frage der sozialen Struktur. Und da gilt Ähnliches wie in der Betrachtung der indigenen Akteure: Die Fragestellung, die in die Richtung geistesgeschichtlicher Forschung weist, und die sich daraus ergebenden Quellen legen es nahe, dass gebildete Eliten eine große Rolle spielen. Dennoch ist diese Gruppe alles andere als homogen. Zu ihr gehören Wissenschaftler und (mehr oder weniger) systematisch ausgebildete Kartografen, Kapitäne und Seeoffiziere sowie Beamte und hohe Staatsmänner. Hinzu kommen Unternehmer, Kleriker und Diplomaten. Frauen sind allerdings – abgesehen von den russländischen Kaiserinnen – nur in Ausnahmefällen vertreten: Natal’ja Šelichova als die Ehefrau und Nachfolgerin des Unternehmers Grigorij Šelichov sowie einige Ehefrauen von Gouverneuren Russisch Amerikas sind die einzigen, die Quellen von Relevanz für meine Fragestellung hinterlassen haben. Das zu den Akteuren Gesagte lässt sich weitgehend auch auf die Auswahl und Beschränkung des Quellenkorpus übertragen: als entscheidend für diese Studie haben sich verschiedene Typen und Gruppen von histo­rischen Quellen erwiesen, die weder national oder sprachlich noch sozial klar zuzuordnen sind. Entscheidend für die Quellenauswahl war die thematische Perspektive. Genannt seien hier nur die Hauptgruppen: 47 In diese Falle ist meiner Ansicht nach leider Gwenn Miller getappt: Miller, Kodiak Kreol. 48 Die kulturanthropologische und/oder archäologische Literatur allerdings ist reich und inspirierend, siehe z. B. Crowell, Steffian u. Pullar, Looking Both Ways. Luehrmann, Alutiiq Villages. Kan, New perspectives. Reedy-Marschner, Aleut Identities.

Historische Akteure und Quellen

Als besonders ergiebig zeigen sich narrative Quellen, allen voran Reise­ berichte. Sie werden daraufhin analysiert, welche Räume und Raumvorstellungen thematisiert werden und in welcher Form: wo ist Dramatik zu erkennen, was erscheint selbstverständlich? Welche räumlichen Kategorien werden hier eingesetzt, und welche Veränderungen sind hier zu erkennen? Welchen Genre-Regeln folgen die Texte, auf welche – häufig transnationalen  – Vorbilder und Standards beziehen sie sich? Hier kann die Studie an eine blühende Forschungsliteratur anknüpfen, die Reiseberichte sowohl allgemein als literarisches Genre und historische Quelle betrachtet als auch einzelne Texte intensiv und kontrovers analysiert. Reiseberichte bieten – gerade bei der Betrachtung über einen längeren historischen Zeitraum hinweg – reiches Material für die Erforschung von Selbst- und Fremdbildern, von Raum- und Weltvorstellungen. Gerade der Wunsch der Reisenden nach individuellem Erleben und Ausdruck steht in einer aufschlussreichen Beziehung zu vorgefertigten Erwartungen und weit verbreiteten Topoi.49 Von zentraler Bedeutung sind an Wissenschaftler, Reisende und Staatsbedienstete gerichtete Instruktionen sowie, umgekehrt, Petitionen und Berichte an den Herrscher oder an Beamte. Ihr offizieller Charakter beschert diesen Quellentypen eine relativ große Repräsentativität und normative Kraft, was allerdings nicht bedeutet, dass nicht auch hier Aussagen enthalten wären, die als tentativ zu betrachten sind. Berichte, Instruktionen und sogar Gesetze spiegeln keine »fertigen« Vorstellungen, sondern sind ebenso Elemente eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses wie alle anderen Quellen. Es sind Strategien daraus abzulesen und Wertungen zu erkennen. Ganz ähnlich wie in klassisch narrativen Quellen können auch hier GenreRegeln beschrieben werden, die sich im Laufe der Zeit änderten und darauf hindeuten, welche Rolle beispielsweise »Wissenschaftlichkeit« oder persönliche Beziehungen spielten. Briefe bilden einen wichtigen Bestandteil des Quellenkorpus, der allerdings in keiner Weise als homogen betrachtet werden kann: zu unterschiedlich waren Kontexte, Zielsetzungen, soziale Stellung von Absendern und Empfängern, Stil und Strategien. Briefe wurden von Unternehmern, Diplomaten, Ehefrauen und Beamten geschrieben und erfüllten  – auch einem histo­rischen Wandel entsprechend  – sehr unterschiedliche Funktionen. Gerade für das 18. Jahrhundert ist hier nicht unbedingt von »Ego49 Vgl. Brenner, Der Reisebericht. Bauerkämper, Bödeker u. Struck, Die Welt erfahren. Stagl, Eine Geschichte.

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Dokumenten« zu sprechen, aber dennoch sind zwischen den mit Informationen gefüllten Zeilen natürlich Konstruktionen und Darstellungen herauszulesen. Im 19. Jahrhundert dann bieten sich neue Briefformen an, in denen Emotionen  – auch Emotionen, die unmittelbaren Bezug auf räumliche Kategorien wie beispielsweise »Distanz« nehmen  – ins Zentrum der Darstellung rücken.50 Dieses Spannungsverhältnis von normativem Anspruch einerseits und offenen, in der Entwicklung begriffenen Wahrnehmungen und Konzepten andererseits trifft auch auf andere Quellengruppen zu. Hier sind vor allem die im 18. und 19. Jahrhundert erschienen imperialen Karten und Atlanten von herausragender Bedeutung, denen eine paradigmatische Zielsetzung unterstellt werden kann: Atlanten sind – ähnlich wie Enzyklopädien – nicht nur einfach wissenschaftliche Werke, sondern wissenschaftliche Werke mit einem besonderen Anspruch auf umfassende Wissensvermittlung und deren Standardisierung. »A new atlas«, so Lorraine Daston und Peter ­Galimore, »demands that the community of practitioners learn to see anew.«51 Grundsätzlich bilden Karten einen entscheidenden Quellenbereich. Damit schließt die Studie – wie bereits angedeutet – an neuere Entwicklungen in der Raumgeschichte an, die Landkarten nicht mehr nur als Illustration und Orientierungshilfe, sondern tatsächlich auch als historische Quelle von eigenem, für viele Fragestellungen sehr hoch anzusetzendem Wert betrachten. Im Kontext der Russlandforschung hat hier Valerie Kivelson eine bahnbrechende Untersuchung zur Kartografie des Moskauer Reiches vorgelegt und gezeigt, wie Karten als Quellen für Wahrnehmungen und Werte – statt nur, wie es traditionell der Fall ist, für Wissen – gelesen werden können.52 Historiker lernen – langsam – von der kritischen Geografie und entwickeln einen Blick für die Bildsprache der Karten. Sowohl den Akteursgruppen als auch – entsprechend – den Quellentypen kommt in den verschiedenen Kapiteln unterschiedliche Bedeutung zu. Dies hängt einmal von der jeweiligen Fragestellung ab: Das Kapitel zu Linien und Flächen beispielsweise befasst sich sehr intensiv mit kartografischen Darstellungen, während im Meereskapitel ausführlich mit Reiseberichten gearbeitet wird und diplomatische Korrespondenz vor allem in Bezug auf 50 Vgl. Rutz, Ego-Dokument. Morgenstern, Wer schreibt noch solche Briefe. Baasner, Briefkultur. 51 Daston u. Galison: Objectivity and Its Critics, S. 667. Dies., Objectivity. 52 Kivelson, Cartographies.

Historische Akteure und Quellen

die Grenz- und Verkaufsverhandlungen des 19.  Jahrhunderts eine Rolle spielt. Dem entsprechen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen auf die betrachteten Akteure. Für die Frage von Besitzkonzepten sind Herrscher und Beamte von großer (allerdings keineswegs ausschließlicher) Bedeutung, im Distanzkapitel rücken eher die Weltreisenden des 19. Jahrhunderts in den Blick. Das so entstehende Ungleichgewicht ist der Quellenlage geschuldet, die aber ihrerseits unmittelbar mit historischen Entwicklungen zusammenhängt. Reiseberichte und Briefe werden zu einem verbreiteten Genre erst seit dem späten 18. Jahrhundert; auf den nordpazifischen Raum konzentrierte Karten erleben um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Hochkonjunktur; die Entstehung der Vereinigten Staaten bringt neue Probleme, Interessen, Akteure und Quellen ins Spiel. Das Ungleichgewicht ist somit nicht als Schieflage zu betrachten, sondern als Teil der Ergebnisse dieser Arbeit. Da es nicht um die Geschichte einer speziellen Akteursgruppe oder Textsorte geht, sondern um die Entwicklung von Wahrnehmungen einer speziellen Region, betreten je nach Situation unterschiedliche Personen die Bühne und drücken mit ihren schriftlichen oder kartografischen Arbeiten der Wahrnehmung Russisch Amerikas ihren Stempel auf. Angesichts der häufig betonten Abseitigkeit sowohl der Region als auch des Themas »Russisch Amerika« war es ein ausgesprochen unerwartetes Privileg, dass ein Großteil der relevanten Quellen sich in edierten Publikationen fand. Der unglaubliche Reichtum der Quellenbestände zur Sibirien­ expansion und das Interesse sowohl deutscher als auch russischer Forscher an diesem Thema spielten hier zusammen, und die Zahl der  – in sowjetischer Zeit oder auch kürzlich  – veröffentlichten Quellenbände ist kaum mehr zu überschauen. Hinzu kommen große Mengen an digitalisierten Quellenbeständen. Die von der Library of Congress in Kooperation mit der University of Alaska, Fairbanks, der Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka und der Rossijskaja Nacional’naja Biblioteka geschaffene virtuelle Forschungslandschaft Meeting of Frontiers birgt wahre Schätze gescannter Archivdokumente. Zu diesen gehört beispielsweise Material aus der Kollekcija Gennadija Judina als wichtige Sammlung von Dokumenten der RussischAmerikanischen Kompanie (RAK), die in der Handschriftenabteilung der Library of Congress in Washington DC lagert.53 Ebenso im Rahmen dieses 53 Kollekcija Gennadija Judina: Dokumenty Rossijsko-Amerikanskoj kompanii. Library of Congress. Manuscript Division. Washington, DC . Digitalisate bei Meeting of Frontiers: http://frontiers. loc. gov/intldl/mtfhtml/mfdigcol/lists/mtfyumtitlindex. html (19. 6. 2014).

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Projektes digitalisiert sind wichtige Teile des Central’nyj gosudarstvennyj archiv morskogo flota SSSR (bzw. heute des Centralnyj gosudarstvennyj ­archiv Voenno-morskogo flota in St. Petersburg), die in den 1960er Jahren als Kopien und Mikrofilme nach Washington gebracht wurden.54 Insbesondere diplomatische Korrespondenz aus dem Bestand State Departments Records – Russia aus den National Archives ist digitalisiert nutzbar bei der eigentlich auf Genealogie-Forschung spezialisierten Online-Dokumentation Fold3-by ancestry.55 Weiterhin ist das Portal Alaska’s Digital Archives zu nennen, das allerdings vor allem Dokumente für die Zeit ab 1867 bereithält und sich deshalb nur als begrenzt nützlich erwies.56 Kartenmaterial ist ebenfalls in großen Mengen digitalisiert online vorhanden. Für die vorliegende Studie wurde vor allem mit Materialien der­ Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka57 gearbeitet, des Göttinger Digitalisierungszentrums,58 der Petersburger Rossijskaja Nacional’naja Biblioteka,59 aber auch den Sammlungen verschiedener weiterer Bibliotheken wie dem Archive of Early American Images (Brown University)60 und natürlich dem Forschungsportal von David Rumsey 61. Die Arbeit mit digitalisierten Karten hat unter anderem den Vorteil, dass das direkte Vergleichen verschiedener Ausgaben des gleichen Werkes unproblematisch möglich ist und so Aspekte wie unterschiedliche Kolorierung, Kartuschen oder Details der Legende besser untersucht werden können. Originale Kartenwerke konnten gesichtet werden in der Berliner Staatsbibliothek, der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Bibliothek der Universität Leyden. Abschließend noch ein technischer Hinweis: Wörtliche Quellenzitate wurden mitsamt orthografischer und grammatikalischer »Fehler« über54 Archiv ministerstva morskogo flota SSSR (Proekt po snjatiju kopii s inostrannych materialov), Library of Congress, Manuscript Division. Washington, DC . Digitalisate bei Meeting of Frontiers: http://frontiers.loc.gov/intldl/mtfhtml/mfdigcol/lists/mt fummtitlindex. html (19. 6. 2014). 55 Fold 3-by ancestry: http://www.fold3.com/title_477/state_dept_records_russia/ (19.6. 2014). 56 Alaska’s Digital Archives: http://vilda. alaska. edu/cdm/index (19. 6. 2014). 57 RSL: Fond kartografičeskich izdanii: http://www. rsl. ru/ru/s2/d107/ (19. 6. 2014). 58 Göttinger Digitalisierungszentrum: http://gdz. sub. uni-goettingen. de/gdz/ (19. 6. 2014). 59 NLR Kollekcii: http://leb.nlr.ru/collections/42/Картографические_материалы (19. 6.  2014). 60 Archive of Early American Images: The John Carter Brown Library, Brown University. http://jcb. lunaimaging. com/luna/servlet (19. 6. 2014). 61 David Rumsey Map Collection: http://www.davidrumsey.com/ (19. 6. 2014).

Historische Akteure und Quellen

nommen. Dies gilt ebenso für unterschiedliche Schreibweisen desselben Namens (so steht beispielsweise Šelichov neben Šelechov). Auf ein »sic« wurde dabei durchgehend verzichtet. Die Übersetzungen aus dem Russischen stammen, soweit in der Fußnote nicht anders angegeben, von mir.

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2. Linien und Flächen – Raumdarstellungen im 18. Jahrhundert

2.1 Einleitung: »Alte« und »neue« Karten Wer sich mit der russländischen Kartografie des 18. Jahrhunderts beschäftigt, trifft über kurz oder lang mit Sicherheit auf den prachtvollen A ­ tlas Rossijskoj Imperii. Dieses Werk, im Jahre 1745 von der Akademie der Wissenschaften publiziert, enthält eine Generalkarte,1 die einen Blick auf das ganze Imperium erlaubt. Hinzu kommen neunzehn Partikularkarten, die, eine neben die andere gelegt, eine weitere Gesamtansicht des imperialen Raumes ermöglichen. In der den Atlas strukturierenden Hierarchie nimmt das imperiale Territorium somit die wichtigste Position ein. Exaktheit und Vollständigkeit waren die zentralen Schlagworte des Projektes,2 und somit gilt es zurecht als Meilenstein der Entwicklung von Wissenschaft, Kartografie und Staatsentwicklung im aufklärerischen Russland. Russland folgte hier, wie in so vielen anderen Bereichen auch, den westeuropäischen, insbesondere französischen Entwicklungen absolutistischer Herrschaftsrepräsentation.3 Nicht ganz so prominent, aber doch an nicht unwesentlicher Stelle publiziert, ist eine ganz andere Karte: Stepan Krašeninnikovs Darstellung des Flusses Kamčatka, abgedruckt als Teil seines Buches Die Beschreibung des Landes Kamčatka von 1755.4 Der moderne Betrachter ist unweigerlich irritiert: Es fehlen Angaben zu Längen- und Breitengraden, der Fluss ist nicht durchgehend, sondern sequentiell in fünf Abschnitten dargestellt. Diese verschiedenen Flussabschnitte sind durch unterschiedliche Windrosen gekennzeichnet und damit jeweils individuell orientiert. In mancherlei Hinsicht ist dies ganz offenbar eine Raumdarstellung, die den ptolemäischen Traditionen und damit zugleich modernen Standards diametral widerspricht. Während die Generalkarte von 1745 das Imperium als Ganzes und als Flä1 General’naja karta Rossijskoj Imperii (1745). Siehe Bildteil, Abb. 1. 2 Atlas Rossijskoj Imperii, 1745, Einleitung, S. 2 und passim. 3 Vgl. Buisseret, Monarchs. Struck, Kartenzeiten. Konvitz, Cartography. Akerman, Cartography. 4 Reka Kamčatka, in: Krašeninnikov, Opisanie I, S. 7a. Siehe Bildteil, Abb. 2.

Einleitung: »Alte« und »neue« Karten

che darstellt, bilden bei Krašeninnikov, dessen Karte eine Dekade später publiziert wurde, Linien das zentrale Darstellungsmittel. Dieses Kapitel nimmt das Nebeneinander von Flächen und Linien auf und diskutiert die Frage, wie die Entstehung zweier so unterschiedlicher Karten in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu verstehen ist: Geht es hier um einen Widerspruch, eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, also ein Nebeneinander von moderner und traditioneller Raumwahrnehmung, oder um eine Art Arbeitsteilung, da unterschiedliche Interessen verfolgt wurden? Lassen sich womöglich noch weitere Erklärungsansätze für dieses Phänomen finden? Im Zentrum der Überlegungen stehen die genaue Betrachtung der Darstellungselemente »Flächen« einerseits und »Linien« andererseits, die Frage, welche Schlüsse wir aus diesen für die Raumvorstellungen in Bezug auf den nordpazifischen Raum ziehen können, und schließlich Überlegungen dazu, wie solche Beobachtungen in die florierende Territorialisierungsforschung einzuordnen sind. Das Konzept der Fläche bildet eine häufig benutzte, doch zugleich nur wenig reflektierte Metapher.5 Sie wird in den Diskussionen um moderne Territorialisierungsprozesse und damit fast als Synonym zum »Territorium« verwendet6 und führt mich somit nochmals zum Begriff und Thema der Territorialisierung. In einer durchaus sehr kritischen Perspektive, inspiriert von postkolonialen und aufklärungskritischen Traditionen, treffen in der noch recht jungen Meistererzählung von der »Territorialisierung« der spatial turn, eine am Diskurs interessierte Wissenschaftsgeschichte und neuere Auseinandersetzungen mit Konzepten von Gouvernementalität aufeinander. Und so hat sich die traditionelle und nicht unumstrittene Kurzgeschichte von der Begründung des modernen Territorialstaates durch den Westfälischen Frieden im Jahre 16487 ausgeweitet zu einem umfassenden, kritischen und global angelegten Epos von der Eroberung des Raumes in der Moderne. Dieser historische Prozess wird räumlich vergegenwärtigt durch die Figur der Fläche, und zwar auf dieselbe Art und Weise, wie moderne Karten den Raum darstellen. 5 Für das Thema »Linien« gilt Ähnliches, trotz der inspirierenden Gedanken Tim Ingolds: Ingold, Lines. 6 Oder auch zu »Raum«, wie Andrej Holm feststellt. Holm, Sozialwissenschaftliche Theorien, S. 65. 7 Zur Debatte um die Bedeutung von 1648 siehe z. B. Krasner, Westphalia and All That sowie Cruz, Policy point-counterpoint und Farr, The Westphalian Legacy.

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Natürlich gibt es Land- und auch Seekarten nicht erst seit der Moderne. Und doch ist seit der Frühen Neuzeit, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, ein verstärktes Interesse daran zu erkennen, Räume nicht nur zu beschreiben, sondern auch schematisch abzubilden.8 Eine komplexe Landschaft wird als zweidimensionale Fläche gezeichnet und auf diese Weise »übersichtlich« und scheinbar beherrschbar gemacht. Stuart Elden und stärker noch Gastón Gordillo haben diesen Prozess als Schaffung eines Territoriums und zugleich als Abschaffung des Terrains beschrieben:9 eine »Verflächung« des Raumes. Mit dem Prozess der Homogenisierung des Raumes ebnen Karto­ grafen seit der Frühen Neuzeit auch die Unregelmäßigkeiten imperialer Macht ein – und leugnen diese damit letztlich. Die gleichmäßige Färbung der staatlichen Fläche lässt den Raum vollständig und homogen »durchherrscht« erscheinen, Souveränität wird augenfällig gemacht. In den Worten des Geografen Richard Muir: »The territory of the state is united under the umbrella of state sovereignty which applies as rigidly to the most remote portion of the state as to its core.«10 Modernisierung geht einher mit einem wachsenden Wunsch nach Kontrolle – Visibilität und Überschaubarkeit sind daher entscheidende Instrumente moderner Machtausübung. Nicht umsonst hat Bruno Latour das Interesse modernen Denkens an Flächen mit folgenden Worten beschrieben: »There is nothing you can dominate as easily as a flat surface of a few square meters; there is nothing hidden or convoluted, no shadows.«11 Das Paradigma der Territorialisierung und das damit zusammenhängende Bild der Fläche fanden auch für die Raumgeschichte des Russländi­ schen Imperiums erfolgreiche Anwendung. Stellvertretend für viele formuliert Roland Cvetkovski: »Vor dem Hintergrund der notwendigen Machtdurchdringung des riesigen russischen Raumes gilt es, diesen seiner amorphen und organischen Eigenschaften zu entledigen und zu einer abstrakten, flächigen, und homogenen, also tatsächlichen Herrschaftskonstruktion umzuformen – der Herrschaftsraum muss in ein Territorium überführt werden.«12

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Dazu beispielsweise Dym, The familiar and the strange. Gordillo, Opaque Zones of Empire. Elden, Land, terrain, territory. Muir, Modern political geography, S. 28. Latour, Visualization, S. 21. Ähnlich: Pott, Orte des Tourismus, S. 129. Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung, S. 14 (Hervorhebung M. W.)

Einleitung: »Alte« und »neue« Karten

Diese »Überführung in ein Territorium« war eine administrative, aber ebenso sehr eine kartografische Aufgabe. Beginnend mit Peter I. erhielt die Geografie im 18. Jahrhundert eine vorher ungekannte Bedeutung als staatsrelevante Wissenschaft.13 Die Vermessung des Reiches hatte höchste Priorität, der Prozess der Kartierung zeigte sich umgeben von einem majestätischen Nimbus, dem Anspruch auf wissenschaftliche Präzision und der Praxis misstrauischer Geheimhaltung. Informationen über das Ausmaß, die Struktur und gewissermaßen den »Inhalt« des staatlichen Territoriums waren von entscheidender Bedeutung für die angestrebte rationale und effektive Verwaltung. Entsprechend listete Peter I. auf, welche Elemente Kartografen verzeichnen sollten: insbesondere Siedlungen aller Art, aber ebenso Flüsse, Seen und Wälder.14 Ganz ähnlich erstellten auch Fedor Saltykov und später Michail Lomonosov15 Verzeichnisse der kartierungswürdigen Ressourcen, die sich innerhalb des Territoriums befanden. Wie sehr der Raum als klar begrenzte Fläche verstanden wurde, macht beispielsweise Saltykovs Problematisierung der Frage deutlich, ob die Mündung des Amur in Peters Herrschaftsgebiet läge (bude ona v vašem deržavstve).16 Hier klingt bereits die moderne Vorstellung von einem »Behälterraum« an – heute auch gern als »Containerraum« bezeichnet – die sich als entscheidend erwies für das kameralistische und absolutistische Herrschaftsverständnis der Zeit.17 Der staatliche Raum, gefüllt und befüllbar mit Menschen und nutzbaren Ressourcen. Auf Karten wurde der Container notwendigerweise zu einer zweidimensionalen Fläche umgeformt. Vor allem sollte, so schrieb bereits Ivan Posoškov, eine Karte »auf einem Blatt« entstehen, die es dem Betrachter ermöglichte, korrekte und detaillierte Informationen zu jedem einzelnen Landgut des Imperiums zu sammeln, ohne sich unmittelbar vor Ort ein­ finden zu müssen (i ne byv na zemle).18 Petronis, Constructing Lithuania. Shaw, Geographical practice. Punkty kakim obrazom sočinjat’ landkarty. Lomonossow, Fragen. Saltykov, Izjavlenija pribytočnye gosudarstvu, S. 216. Buschauer, Mobile Räume, S.  11. Taylor, The state as container. Einstein, Vorwort, S. xi–xiv. 18 Posoškov, Kniga o skudosti i bogatstve, S. 198. Die Frage, ob es vor der Kirilovschen Generalkarte bereits vollständige Darstellungen des Imperiums in Russland gab, kann und muss hier nicht diskutiert werden. Deshalb sei nur auf die einschlägige Literatur verwiesen: Goldenberg, Russian maps and atlases. Ders., Russian Cartography to ca. 1700. Rybakov, Russkie karty Moskovii, und Roll, Russland, Sibirien und der Ferne Osten.

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Als Ergebnis solcher Bemühungen liegt unter anderem der Atlas von 1745 vor. Die Farbgestaltung des Atlas unterscheidet sich in den verschiedenen Versionen. Für die Ausgabe der Moskauer Russländischen Staatsbibliothek ist allerdings auffällig,19 wie stark hier die Einfärbung insbesondere der Generalkarte wirkt. Das Imperium wird von den benachbarten Staaten, die weiß bleiben, deutlich abgehoben. Darüber hinaus wurden die Verwaltungseinheiten unterschiedlich koloriert: Jedes Gouvernement erhielt seine eigene Farbe oder wurde zumindest, wie in der etwas weniger teuer ausgestatteten Version der Göttinger von-Asch-Sammlung, farbig eingerahmt.20 Die manuelle, nachträgliche Kolorierung der Karten war aufwändig und kostspielig,21 schien ihren Preis aber offensichtlich wert. Die Farben springen ins Auge, sie lassen deutliche Kontraste entstehen und schaffen Hierarchien des Raumes. Am wichtigsten ist dabei der Kontrast zwischen farbig und nicht-farbig gestalteten Räumen. Was farbig ist, gehört zu Russland; nur was farbig ist, gehört zu Russland. Das »eigene« Gebiet wird konturiert, homogenisiert und optisch hervorgehoben. Gewissermaßen auf zweiter Stufe der Hierarchisierung der Karte steht die interne Strukturierung des Im­ periums in Verwaltungseinheiten. Der explizit territorial ausgerichteten Gouvernementsreform Peters des Großen seit 1708 kam somit eine angemessen erscheinende visuelle Darstellung zu. In den später folgenden Ausgaben des Atlas von 1792 und 1796 wurde die Fläche übrigens einheitlich, rot bzw. intensiv rosafarben, koloriert22 – russländische und britische Karto­ grafen nutzten also dieselbe starke Farbe, um ihr jeweiliges Imperium vom Rest der Welt optisch abzugrenzen.23 Nun können Strukturierung und Hierarchisierung kartierter Räume ebenso durch verschiedene Schrifttypen und -größen sowie durch klare Grenzziehungen deutlich gemacht werden. Beide Mittel finden bei der­ General’naja karta ebenfalls Verwendung, doch sind es die Farben, die den 19 Atlas Rossijskoj Imperii, 1745. Im Exemplar, das in der Staatsbibliothek Berlin (Kartenabteilung) vorliegt, fehlt die Generalkarte ganz. 20 Atlas Russicus. Gänzlich unkoloriert ist allerdings die in der Library of Congress vorliegende Ausgabe: Russischer Atlas. 21 Eine Geschichte der technischen Fragen der Nutzung von Farben in Karten bietet Ehrens­värd, Color in Cartography sowie Woodward, Techniques of Map. 22 Atlas Rossijskoj Imperii 1792 goda. Atlas Rossijskoj Imperii, sostojaščej iz 52 kart, St. Petersburg 1796. 23 Zur Geschichte des rot/rosafarbenen Empire siehe Laidlaw, Das Empire in Rot. Zu den weiteren Karten, die Russland rot/rosa präsentieren, gehört z. B. Novaja Karta Rossijskoj Imperii razdelennaja na namestničestva.

Einleitung: »Alte« und »neue« Karten

entscheidenden Aspekt betonen: Sie schaffen klar erkennbare Flächen, sie bilden ein Territorium so deutlich und eindrücklich ab wie nur möglich. Krašeninnikovs Karte dagegen, so scheint es, fällt hinter diesen Anspruch an Klarheit, Exaktheit und insgesamt modernen Standards zurück. Es wirkt fast so, als gehöre diese Karte eher in den Kontext der Moskauer Tradition der Kartenherstellung als der aufklärerischen Geografie im 18.  Jahrhundert. Lutz Häfners pessimistische Diagnose der vorpetrinischen Landkarten scheint sehr genau auf Krašeninnikovs Werk zu passen: »Von der wissenschaftlichen Kartografie waren diese čerteži weit entfernt. Sie wiesen keine Längen- und Breitengrade auf, die Entfernungen waren nicht durch eine Bestimmung an den Gestirnen ermittelt […], Verlauf und Größe der Flüsse verhielten sich nicht proportional zur Realität.«24 Die von Häfner angewandten Kategorien entsprechen den Ansprüchen der modernen Kartografie, wie sie sich seit der Renaissance entwickelt hat. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche normativ-modernistische Perspektive dem historischen Verständnis nutzen kann. David Woodward bezeichnete diesen kartografischen Standard als »bounded uniform space«. Gemeint ist eine Raumdarstellung, die einheitlich und damit zuverlässig erschien und den Kern der modernen Kartografie auszumachen scheint: »The notion of  a bounded uniform space also implies that the objects placed in it are cosynchronous, a concept that, as we shall see, led to the idea that historical and ›modern‹ maps could and should be separate documents.«25 Ähnlich formuliert auch Geoff King: »with the aid of the map, territory could be understood as a whole rather than as a series of separate local impressions.«26 Genau diese Einheit, in der sich moderne Sehgewohnheiten, kartografische Standards der Planimetrie und politische Anforderungen vereinen, ist bei Krašeninnikov nicht gegeben. Die Darstellung Kamčatkas präsentiert weder Fläche noch Container. Die Zusammenstellung der In­ formationen erfolgt zwar »auf einem Blatt«, doch sind die modernen An24 Häfner, Europa ohne Grenzen, S. 92. 25 Woodward, Cartography and the Renaissance, S. 13. 26 King, Mapping Reality, S. 23.

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sprüche auf eine einheitliche Abbildung mit übergreifender Skalierung nicht erfüllt. Wie bereits erwähnt, sind es nicht Flächen, sondern vielmehr Linien, die in seiner Darstellung entscheidend sind. Und diese Linien verdienen es, genauer betrachtet zu werden. Deshalb werden im Folgenden verschiedene Linien, die in russländischen Karten des 18. Jahrhunderts erscheinen – Flüsse, Wege, Grenzen – im Detail untersucht. Dabei führen die Betrachtungen zurück bis ins 16. Jahrhundert und beziehen sich auf weitere Karten sowie schriftliche Quellen, ehe der­ Bogen zurück zum Atlas Rossijskoj Imperii sowie zu Krašeninnikovs Karte geschlagen wird.

2.2 Die wichtigsten Linien: Flüsse Russland ist nicht nur als Kontinentalreich beschrieben worden, sondern auch als Flussimperium (riverine empire).27 Unter der Regierung Peters I., als Herrschaftstechniken, imperiales Selbstverständnis und Raumbegriffe wichtige Veränderungen erfuhren, spielten auch Flüsse eine entscheidende Rolle. Der Bau von Kanälen beispielsweise, ein klassisches Projekt euro­ päischen aufgeklärten Denkens, technischen Ehrgeizes und absolutistischer Herrschaft, wurde auch in Russland zu einem Hauptunternehmen des sich als neu und zukunftsorientiert stilisierenden Imperiums erklärt.28 Wirtschaftliche Interessen und repräsentative Aspekte wirkten zusammen, wenn Flüsse begradigt, befestigt und tiefer gegraben wurden oder wenn Ingenieure sich an das Mammutprojekt neuer Kanalbauten wagten. Guido Hausmann bezeichnet diesen wichtigen Bereich aufklärerischer Politik als eine russländische Version der »Unterwerfung der Natur« und als »imperiale Veranstaltung«:29 Machbarkeit als eindrückliche Demonstration von Macht. Aber bereits in vorpetrinischer Zeit spielten Flüsse eine zentrale Rolle – als Reisewege, Transportrouten oder Wasserreservoir, als Gefahrenquelle, Symbol- und Erinnerungsort sowie als Arterien, entlang derer imperiale Macht transportiert werden konnte.30 Siedlungen, Festungen und Straßen entstanden 27 Meinig, A Macrogeography, S. 225. Hausmann, Mütterchen Wolga. 28 Sperling, Der Aufbruch der Provinz, S. 59. 29 Hausmann, Die Unterwerfung der Natur. Für europäische und vergleichende Komponenten dieses Phänomens siehe z. B. Blackbourn, The conquest of nature. 30 Stökl, Die Entstehung der russischen Nation, S. 63. Goehrke, Geographische Grund­ lagen.

Die wichtigsten Linien: Flüsse

an Flüssen und blieben durch diese miteinander in Ver­bindung.31 Dieser umwelthistorischen Dimension kommt seit kurzem wieder erhöhtes Interesse zu.32 Wenn im Folgenden aber von der großen Relevanz der Flüsse gesprochen wird, so ist nicht in erster Linie ihre praktische, ökonomische und infrastrukturelle Nutzbarkeit gemeint, sondern vielmehr die Bedeutung, die ihnen in zeitgenössischen Texten und Karten beigemessen wurde. Praktische und pragmatische Gründe spielen dabei eine wichtige Rolle, schaffen aber keine hinreichende Erklärung und genügen nicht als Hinweise für die Analyse. Die Frage nach der Perzeption und Darstellung von Flüssen führt vielmehr direkt zur Problematik der Raumwahrnehmung und -konstruktion. Flussläufe boten die Chance, den großen Raum, der sich mit jedem weiteren Expansionsschritt neu eröffnete, zu meistern  – praktisch ebenso wie mental. Vor allem auf den Sibirienkarten des Moskauer Reiches wurden Flüsse optisch besonders hervorgehoben. Sie strukturierten die Weiten Sibiriens, vermittelten den Eindruck, dieses Land sei relativ einfach zu bereisen, und »humanisierten« so den Raum mithilfe friedlich wirkender, bequem miteinander vernetzter Gewässer.33 Dass dies nicht nur eine weitere Episode der gern erzählten Geschichte von »How to lie with maps«34 bildet, sondern tatsächlich die Raumwahrnehmung der Menschen im Moskauer Reich bestimmte und Orientierung ermöglichte, machen zahllose Berichte und Instruktionen der Akteure im sibirischen Raum deutlich: »Ivaško Erastov und seine vierzig Begleiter berichteten, dass sie neues Land erforscht hätten: Von der Mündung der Lena aus fuhren sie an der Küste nach Osten bis hinter die Jana und die Sobačja, und hinter die Olozejka sowie den Kovyma-Fluss, bis zum neuen Fluss Pogyčja. Und in diesen Fluss Pogyčja, mein Herrscher, münden viele kleine Flüsse. Und entlang der Pogyčja und entlang anderer Seitenflüsse leben viele Fremde verschiedener Stämme (inozemcy roznych rodov), die keine Steuern zahlen und auch keinem anderen Herrscher steuerpflichtig sind. Und bisher waren, mein Herrscher, noch keine Russen an diesem Fluss.«35 31 Gibson, Russian Expansion, S. 134. 32 z. B. Gestwa, Der Blick auf Land und Leute. 33 Kivelson, Cartographies. Siehe auch Shaw, Mapmaking, S.  419. Siehe auch Seibold, Early Maps, S. 137. 34 Monmonier, How to lie with maps. 35 Otpiska jakutskich voevod V. N. Puškina i K. O. Suponeva v Sibirskij prikaz o količestve služilych ljudej v Jakutskim ostroge, 1646, in: Orlova, Otkrytija, S. 212–218, 215.

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Flussläufe und Flussmündungen bezeichnen eine Region (»das weite Land auf dem großen Fluss Lena«36) sowie den zurückgelegten Weg: »Und an all diesen Flüssen habe ich, Dein Diener, Dir, großer Herrscher, gedient.«37 Flüsse sind ebenso das wichtigste Merkmal, anhand dessen beschrieben werden kann, wo fremde Völker leben.38 Die Strukturierung des Raumes durch Flüsse hat jedoch nicht nur verbindenden, mobilisierenden Charakter, sondern auch begrenzende, die Bewegung strukturierende Relevanz: Der bereits erwähnte Ivaško Erastov bat den Herrscher um Erlaubnis, einen Fluss zu verlassen und sich zu einem anderen zu begeben, also einen als neu begriffenen Raum zu betreten.39 Flüsse waren in diesem Kontext allerdings keine »natürlichen Grenzen« in dem Sinne, wie er im Europa des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts so populär und einsichtig werden sollte.40 Flüsse bildeten keine Trennlinien zwischen Territorien. Vielmehr wurden, wie bereits das Beispiel Erastovs zeigt, Flussräume als Bereiche verstanden, die durchaus getrennt voneinander zu betrachten waren und die nicht einfach betreten und verlassen werden konnten. Diese Siedlungs- und gegebenenfalls Eroberungsräume waren keine an den Rändern sauber abgegrenzte Flächen, sondern Gebiete, welche definiert wurden von einem sie bestimmenden, durch sie hindurch verlaufenden Fluss. Die Logik dieses flexiblen, von einem Zentrum heraus organisierten und nach außen hin offenen Raumkonzepts erschließt sich schnell: Flüsse waren notwendig sowohl für die indigenen Völker als auch für die russländischen Eroberer. Sie bestimmten die Lebens-, Siedlungs- und Bewegungsmöglichkeiten – und dies oft in veränderlicher Weise, was der mobilen Lebensweise vieler Menschen der Region entsprach. Wer die Flüsse kontrollierte, – ein Ziel, welches das Moskauer Reich allerdings nur sehr bedingt tatsächlich erreichen konnte – kontrollierte auch die Menschen. Entsprechend formulierte Peter I. in einer Urkunde aus dem Jahr 1715 seinen

36 Ebd., S. 216. 37 Čelobitnaja kazačego desjatnika Michajla Staduchina o žalovane za pochody, 1659/60, in: Orlova, Otkrytija, S. 156–158. 38 Otpiska služilych ljudej Michajla Staduchina i Vtorogo Gavrilova iz Ojmekonskogo zimovja v Jakutskuju prikaznuju izbu, 1641, in: Orlova, Otkrytija, S. 119–122. Skazka služilogo čeloveka Michaila Staduchina o rr. Kolyme, Čjukče, Anadyr i o naselenii po ich beregami, in Orlova, Otkrytija, S. 233–246. 39 Otpiska jakutskich voevod V. N. Puškina i K. O. Suponeva v Sibirskij prikaz o količestve služilykh ljudej v Jakutskim ostroge, 1646, in: Orlova, Otkrytija, S. 212–218, 216. 40 Schröder, Das Wissen, S. 204. Baramov, Border Theories.

Die wichtigsten Linien: Flüsse

Anspruch auf die Gebiete entlang der großen sibirischen Flüsse Ob, Enisej und Lena, bzw. auf die Menschen, »die dort umherziehen«, denn »die Länder, durch die diese Flüsse fließen, sind Länder der zarischen Majestät«.41 Eine klar bestimmte Fläche mit fixen Grenzen, die administrative Einheiten in Sibirien festlegten, hätte nicht nur die Kapazitäten des Moskauer Staates und auch noch des Petersburger Imperiums überfordert; sie hätte vor allem dem eigentlichen Ziel der Expansion, nämlich dem Finden und Unterwerfen neuer Untertanen, in keiner Weise genutzt. So wie der Fluss sich mit den Jahreszeiten und langfristig veränderte, veränderte sich oft auch das Siedlungsgebiet der dort lebenden Menschen – dem konsequent angepasst wandten die russländischen Eroberer in ihren Berichten ein veränderliches Raumkonzept an. Diese Raumlogik, in der Flüsse das Zentrum und nicht die Grenze einer Region bilden, ist kein russländisches Charakteristikum. Vielmehr hat ­Matthew Hannah sehr ähnliche Vorstellungen für die USA festgestellt. Hannah hat aber auch deutlich gemacht, wie sehr dieses Denken offenbar modernen Bedürfnissen nach Regierungseffizienz widersprechen kann. Er untersucht die beiden Volkszählungen von 1870 und 1880 und diagnostiziert einen bezeichnenden Wandel: Bis 1870 waren viele Bezirke als Flusstäler definiert und orientierten sich, mit relativ unklaren Grenzen am Rand, an den durch sie fließenden Gewässern. Mit dem Zensus von 1880 wurde das Territorium neu eingeteilt, und die Raumlogik wandelte sich radikal: Nun bildeten die Flüsse die Grenzen und schufen auf diese Weise klare Bezirke, welche die Zählung und Zuordnung der Bevölkerung deutlich erleichterten. Der Raum wurde objektiviert.42 Für das Russland des 18. Jahrhunderts ist hinsichtlich der Bedeutung von Flüssen dagegen noch kaum ein Wandel zu erkennen. Trotz der in mancher Hinsicht so grundlegend transformierten Vorstellungen von Raum, trotz des allseits behaupteten neuen Konzeptes von Territorium und Ter­ ritorialität blieben Bedeutung und Funktion der Flüsse in Reiseberichten und Karten weitgehend erhalten. Der französische Astronom und Kartograf Joseph-Nicholas Delisle, im Jahre 1725 nach St. Petersburg berufen, betonte ausführlich und häufig die Bedeutung präziser astronomischer Messung. Doch selbst er hielt Flüsse nach wie vor für entscheidend bei der Kartierung 41 Gramota kalmyckomu kontajše, v otvete na ego listy, 27. 2. 1715, in: Timofeev, Pamjatniki II, S. 66–68. Siehe dazu auch Collins, Subjugation and Settlement, S. 46. 42 Hannah, Governmentality, S. 119.

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des Imperiums.43 Ein umfassender qualitativer Wandel ist nicht zu konstatieren; doch werden die Quellen zahlreicher, ausführlicher und reflektierter und ermöglichen so eine genauere Betrachtung des in ihnen enthaltenen Raumverständnisses. Auch Stepan Krašeninnikovs Bericht über Kamčatka gesteht Flüssen entscheidenden Raum zu. Sein Buch beginnt mit einer Beschreibung der »Lage Kamčatkas allgemein«, gefolgt von den Kapiteln »Vom Fluss Kamčatka«, »Vom Fluss Tigila«, »Von der Kykta oder vom großen Fluss«, »Vom Fluss Avača« und weiteren ähnlichen Abschnitten. Dabei fällt ein deutlicher Kontrast auf zwischen dem ersten Kapitel – zum Gebiet Kamčatkas – und den weiteren, auf Flüsse bezogenen Abschnitten. In seinem ersten Kapitel und mit dem Versuch, Kamčatka allgemein zu beschreiben, wirkt Krašeninnikov überraschend vorsichtig. Bemerkenswert ist seine Zurückhaltung vor allem, weil Kamčatka in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf Karten bereits deutlich als Halbinsel und Teil  des russländischen Territoriums dargestellt wurde, so auf Arbeiten der Bering-Expeditionen, auf der Generalkarte des Atlas Rossijskoj Imperii oder auch schon auf einer Karte Semen Uljanovič Remezovs aus dem 17. Jahrhundert.44 Dennoch schreibt Krašeninnikov: »Das Land Kamčatka ist seit langer Zeit bekannt […]; doch seine genaue Lage, seine Schätze, seine Bewohner usw., davon weiß man nichts.«45 Entsprechend beschreibt er die Region in Bezug auf ihre Grenzen, die Benennung und geografische Struktur ausgesprochen vage: Soll die Halbinsel als Einheit gesehen und entsprechend mit einem einzigen Namen bezeichnet werden? Krašeninnikov plädiert für diese Variante, erkennt aber durchaus auch Möglichkeiten, das Land anders zu betrachten und zu beschreiben, denn »in keiner der einheimischen Sprachen gibt es eine einheitliche Bezeichnung«.46 Der Autor entzieht sich regelrecht dem Anspruch, Räume als Flächen darzustellen, sie klar abzugrenzen und zu benennen. Nichtwissen wird offen problematisiert. Eindeutig auf stabilerem Terrain dagegen bewegt sich Krašeninnikov in den nachfolgenden Kapiteln, in denen er die zahlreichen Flüsse Kamčatkas 43 Pis’mo I. N. Delilja k Ober-Sekretarju I. K. Kirilovu, 5. 11. 1730, in: Svenske, Materialy, S. 88–96, 94. 44 Čertež Kamčatki Remezova-Atlasova, in: Efimov, Atlas geografičeskich otkrytii, Abb. 48. Zur Kartografiegeschichte diesbezüglich Breitfuss, Early Maps of North-Eastern Asia. 45 Krašeninnikov: Opisanie I, S. 1. 46 Ebd., S. 4 f.

Die wichtigsten Linien: Flüsse

beschreibt. Die Bildsprache dieses Satzes wirkt nur aus der Sicht des 20. Jahrhunderts etwas paradox: für Krašeninnikov schufen Flüsse tatsächlich Struktur und damit sicheres Terrain. Die Flüsse Kamčatkas sind die Schwerpunkte seines eigentlichen Interesses. Sie sind nicht nur praktisch entscheidend für Indigene wie Reisende; sie bilden auch die zentralen Elemente der Landschaft und strukturieren somit den Raum. Fließrichtung, Zuflüsse und Ufertopografie sind deutlich eingezeichnet. Im Vorwort zur englischen Übersetzung heißt es, dass »the Author had minutely described a great number of hills and rivers which did not serve to illustrate the subject«, und dass diese Ausführungen für den britischen Leser kurzerhand um mehr als die Hälfte gekürzt worden seien.47 Hier trafen offenbar unterschiedliche Erwartungshaltungen in Bezug auf die Funktion einer Landkarte aufein­ ander; Erwartungshaltungen, die mithilfe eines von den Geografen Roger Downs und David Stea entwickelten Unterscheidungsmodells verständlich werden. Es gebe, so Downs und Stea, mit der »Verlaufsbeschreibung« (process description) einerseits und der »Zustandsbeschreibung« (state description) andererseits zwei verschiedene Raumkonzeptionen, die mit ihren divergierenden Darstellungsformen vor allem unterschiedlichen Bedürfnissen entsprächen.48 Krašeninnikovs Karten und Texte sind Verlaufsbeschreibungen. Sie charakterisieren Orte mithilfe von »Anweisungen, mit deren Hilfe wir zu einem bestimmten Standort gelangen«.49 Sie sind körper- bzw. beobachterzentriert.50 Im Grunde liegt hier ein grafischer Ausdruck eines klassischen­ Itinerars vor. Itinerarien, Wegbeschreibungen in Textform, zuweilen auch ergänzt durch Kartenmaterial oder Tabellen, bildeten in der Vormoderne in ganz Europa das übliche Medium, um sich räumlich zurechtzufinden.51 Der moderne Betrachter mag einiges an Krašeninnikovs Arbeiten vermissen; doch die Anweisungen, die notwendig sind, um »zu einem bestimmten Standort zu gelangen«, sind darin enthalten. An erster Stelle sind hier wiederum die Flussabschnitte zu nennen, deren Fließrichtung auf der Karte durch Pfeile gekennzeichnet ist. Nebenflüsse werden nicht unbedingt im Detail eingetragen, doch ihre Mündung ist entscheidend für eine 47 48 49 50 51

[Krašeninnikov], The history of Kamtschatka, »advertisement«, unpaginiert. Downs u. Stea, Maps in minds, S. 65–67. Ebd., S. 67. Pott, Orte des Tourismus, S. 41. Delano-Smith, Milieus of Mobility, S.  43. Zu Russlands dorožniki siehe Postnikov, Razvitie.

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Lokalisierung des Standortes. Gebirge dagegen werden als mögliche Hindernisse eingezeichnet, dienen aber auch als Orientierungspunkte des Reisenden. Außergewöhnliche visuelle Bezugspunkte wie aktive Vulkane sind weitere Hilfsmittel zur Orientierung. Die Windrose schließlich ermöglicht es dem Reisenden, mithilfe eines Kompasses seinen Standort zu bestimmen. Diese Funktion der Karte erklärt auch die aus moderner Sicht irritierende, ja »falsche« Darstellung der verschiedenen Flussabschnitte mit jeweils eigenen Windrosen. Es gibt hier keine »allgemeine«, universell gültige Ordnung der Himmelsrichtungen, die durch eine maßgebliche Windrose – oder auch durch eine wie selbstverständliche Nordung der Karte – ausgedrückt würde. In William M. Ivins’ Worten: Hier fehlt die optische Konsistenz oder auch die grammatische Ordnung, die moderne, rationale visuelle Medien charakterisieren.52 Auch das planimetrische Konzept der reinen Vogelperspektive oder »Ingrundlegung«53, die von Shane Mc Corristine als ein Merkmal interesseloser »geografischer Herrschaft« charakterisiert wurden,54 ist nicht vollständig durchgehalten. Vielmehr sind die als besonders augenfällig hervorgehobenen Vulkane aus der Seitenperspektive gezeichnet und erinnern damit nicht nur stark an die Moskauer čerteži, sondern ebenso an die Tradition, Seekarten durch Küstenansichten zu ergänzen, um so Sichtnavigation und bessere Orientierung zu ermöglichen. Die Windrosen orientieren somit nicht die Karte als Ganze, sondern helfen dem Reisenden, unter Beachtung seines individuellen Standpunktes, seinen Weg zu finden. Vollkommen unwichtig dagegen wäre die Skizze einer Fläche mit dem Namen »Kamčatka«. Eine solche »Zustandsbeschreibung« erschiene aus Krašeninnikovs Perspektive unnütz und nur wenig verlässlich. Anspruch und Resultat einer Zustandsbeschreibung bestünde vielmehr darin, den Raum mithilfe allgemein verständlicher und vor allem universell gültiger Koordinaten zu objektivieren. Diese Koordinaten würden – beispielsweise als ein Netz von Längen- und Breitengraden – über eine Fläche gelegt und machten so ein vom subjektiven Standpunkt unabhän­ giges Raumverständnis, eine Ansicht von oben möglich. Hier kommt ein neues Element ins Spiel, das von Bruno Latour als besonders bedeutsam vorgestellt wird. Der Theoretiker, der sich so skeptisch zeigt gegenüber der klassischen Einteilung von vormodernem und modernem 52 Ivins, On the rationalization, S. 9. 53 Graessner, Punkt für Punkt. 54 McCorristine, Träume, Labyrinthe, Eislandschaften, S. 122.

Die wichtigsten Linien: Flüsse

Denken und auch gegenüber der entsprechenden dualistischen Behandlung von Landkarten, hebt die Übertragbarkeit oder auch Mobilität von Dokumenten hervor. Technische Voraussetzungen, ebenso aber auch ein an Standards interessiertes Denken machten seit der Renaissance eine solche Übertragbarkeit zunehmend möglich und wünschenswert: »a new set of movements are made possible: you can go out of your way and come back with all the places you passed; these are all written in the same homogeneous language (longitude and latitude, geometry) that allows you to change scale, to make them presentable and to combine them at will.«55 Der Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer erklärt in ähnlicher Weise die Karte zu einem »Index in Papierform«, der – anders als der individuell positionierte Wegweiser – transportierbar und allgemein gültig sei.56 Die Generalkarte im Atlas von 1745 spricht zu einem Betrachter in Moskau oder Petersburg ebenso wie zu einem Leser in Berlin, Paris oder London und wurde entsprechend auch in deutscher und lateinischer Sprache publiziert. Sie präsentiert ihre Informationen mit einem Anspruch auf universelle Gültigkeit, ohne dabei eine individuelle Perspektive des Nutzers zu berücksichtigen. Auf ihr erscheint die Welt von allen Standpunkten betrachtet aus identisch – bzw., um es deutlicher zu formulieren: sie kennt nur den einen Standpunkt der »objektiven« Vogelperspektive. Krašeninnikovs Karte dagegen ist zwar im wahrsten Sinne des Wortes »tragbar« – denn der Reisende kann sie mit sich tragen –, aber nicht übertragbar im Latourschen Kontext. Folglich verwundert es auch nicht, dass sie in die englische Übersetzung nicht mit aufgenommen und stattdessen von einer Darstellung Kamčatkas als Fläche ersetzt wurde.57

55 Latour, Visualization, S. 7 f. 56 Stockhammer, An dieser Stelle, S. 280. 57 [Krašeninnikov], The history of Kamtschatka. Allerdings muss angemerkt werden, dass die čerteži Moskauer Provenienz durchaus auf großes Interesse in Westeuropa stießen. Ob sie im Latourschen Sinne als »übertragbar« galten, kann hier nicht diskutiert werden. Siehe zur westlichen Rezeption Moskauer kartografischer Arbeiten und zur Frage der Geheimhaltung u. a.: Bagrow, The First Russian Maps of Siberia. Harley, Silences and secrecy, S. 60. Widersprüchlich äußert sich: Häfner, Europa ohne Grenzen, S. 91.

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2.3 Erfahrene Linien: Wege Die große Bedeutung der Flüsse in Krašeninnikovs Karten ist somit nicht allein mit ihrer praktischen Relevanz als Transportwege und Wasserlieferanten zu erklären, sondern weist auch auf ein sehr grundsätzliches Raum­ verständnis hin. Das Narrativ im Text Krašeninnikovs steht dabei keinesfalls in einem Kontrast zu den Karten, sondern entspricht ebenfalls dem Prinzip der Verlaufsbeschreibung. Krašeninnikov liefert keinen »sentimentalen« Reisebericht, der sich in den neu entstehenden europäischen Diskurs eingefügt hätte. Die – gemessen an den Regeln des Genres – »Fehler« seines Textes werden im Vorwort zur englischen Ausgabe auch entsprechend ausführlich bemängelt: Seine Erzählung sei »rude and unpolished«, »his manner is indigested, his stile in­elegant, abounding in disgressions, and some uninteresting narrations, which obscure and consule the more essential passages.«58 Krašeninnikovs Ziel war aber ein anderes: eine geografische Beschreibung, im Jargon der Zeit eine »Naturgeschichte« und, was im Kontext dieses Kapitels besonders wichtig ist, ein Itinerar. So beschreibt sein Text – anders als von Mary Louise Pratt etwas pauschal für Naturhistorien postuliert59 – keinen ganzheitlichen Raum »von oben«, sondern arbeitet sich schrittweise bzw. streckenweise vor und schafft auch auf diese Weise wieder ein sequentielles, an Punkten und Linien orientiertes Raumbild. »Von ­Kalmador bis Ujkuja«, »von Morotečnaja bis Belogolovaja«60  – der Raum wird als Weg beschrieben, der Weg wiederum in Abschnitte unterteilt, die zeitlich (in Tagesreisen) oder räumlich (absolut: in Verst oder relativ: in Bezug zu Flussabschnitten) spezifiziert werden. Diese Einteilung des Raumes in Abschnitte, ja in Linien, die zwei Punkte miteinander verbinden, wird besonders in den beigefügten Tabellen deutlich: Hier werden Distanzen systematisch dargestellt. Der Leser erkennt auf einen Blick, dass es »von Brjumki nach Kompakovaja 13 Verst« sind, »von Kompakovaja nach Krutogorovaja 36 Verst«.61 Mit dieser Perspektive, die den Reisenden und seine subjektive Position sowie seinen Weg im Raum ins Zentrum stellte und entsprechend Punkte und Linien auf Kosten der Gesamtfläche betonte, stand Krašeninnikov 58 [Krašeninnikov], The history of Kamtschatka, »advertisement«, unpaginiert. 59 Pratt, Imperial eyes, S. 30. 60 Einige Beispiele von vielen: Krašeninnikov, Opisanie, I, S. 33, 76. 61 Ebd., S. 141–143.

Erfahrene Linien: Wege

keineswegs allein. Vielmehr fügt sich seine Arbeit in eine kartografische Tradition, die Alan MacEachren als strip maps definiert,62 ein der DownsSteaschen »Verlaufsbeschreibung« verwandtes Konzept. Solche Karten zeichnen sich durch Darstellungsformen und Merkmale aus, die den modernen kartografischen Standards in mancher Hinsicht widersprechen, und die zumindest teilweise in Krašeninnikovs Karte wiederzuerkennen sind. Zu diesen Merkmalen zählen folgende Besonderheiten: ein deutliches Desinteresse an der konventionellen Nordung von Karten und an planimetrischen Grundsätzen; innerhalb der Karte können Maßstab und Orientierung wechseln; entscheidend ist für ihre Darstellung ein Weg, und so vernachlässigen sie typischerweise topografische Details »beyond  a central corridor«.63 Beispiele für solche Karten gab es bereits im antiken Rom, sie waren aber auch im England des 18. Jahrhunderts sowie in Nordamerika seit dem frühen 19. Jahrhundert in Form von road maps64 besonders beliebt. So betrachtet, erscheint Krašeninnikovs Karte plötzlich nicht mehr als rückständiger Kontrast zum Atlas Rossijskoj Imperii, sondern als Spiegel einer durchaus verbreiteten und aus der Sicht ihrer Nutzer und Hersteller sinnvollen Raumvorstellung und kartografischen Darstellungsweise. Strip maps, so MacEachren, bilden Wege ab und schaffen die Möglichkeit, diese einmal gegangenen Wege auch wieder zu beschreiten. Besonders geeignet erschienen sie für wenig erforschte Gebiete und damit für Staaten mit ausgedehnten frontier-Bereichen, wie beispielsweise die USA – oder eben Russland. Tatsächlich sind Elemente solcher strip maps auf zahlreichen Karten Russlands zu finden, denen es vor allem um die Darstellung neu entdeckter Gebiete ging, wie beispielsweise die kartografischen Arbeiten der BeringExpedition. Reiserouten, Winterwege, Wasserwege sind explizite Themen und Schlüsselelemente dieser Karten. Ganz ähnlich wie auf Krašeninnikovs Karten sind auch hier die Reiserouten, oft entlang von Flüssen, entscheidend und werden nicht unbedingt in ein Gesamtterritorium eingeordnet. Wichtiger als die Gesamtfläche sind Flüsse und deren Zuflüsse, Berge und Siedlungen. Nicht selten erinnern die Abbildungen an traditionelle Portolankarten, auf denen Küstensiedlungen sehr detailliert und in »Blickrichtung« des reisenden Navigators verzeichnet und benannt wurden. Im russischen Kontext, beispielsweise auf der Karte des Wasserweges von Jakutsk nach 62 MacEachren, A Linear View of the World. 63 Ebd., S. 8. 64 Eine wunderbare Sammlung bietet: Kitchin, Kitchin’s Post-Chaise Companion.

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Ochotsk von 1737, sind es die Zuflüsse, an denen der Reisende sich orientieren kann.65 Diese werden nur mit Konzentration auf den Hauptfluss und damit auf die Reiseroute selbst betrachtet und nicht vollständig eingezeichnet. Sie schaffen also keinesfalls ein Netz oder bilden ein Territorium ab, sondern unterstützen einzig und allein die Darstellung des Hauptreiseweges. Wie sehr die Karte aus der Perspektive des Reisenden heraus entstand, wird auch angesichts eines Details des »Winterweges von Judomskij Krest bis zum Urak« deutlich: Die Berge »links und rechts« des Weges werden nicht aus der Vogelperspektive widergegeben, sondern wirken wie aufgeklappt um den Weg herum gezeichnet.66 Diese Orientierung am Weg schafft auch eine eigene Hierarchisierung, die sich von der Ordnung anderer, stärker an der Fläche ausgerichteter Karten deutlich unterscheidet  – gleichgültig ob von älteren, zeitgenössischen oder modernen Karten. So muss der Betrachter der Karte »des Landes zwischen Angara und Lena«67 die Stadt Irkutsk lange suchen. Ihr Name ist eingetragen, auch hat sie ein eigenes Stadtsymbol erhalten, doch fällt sie deutlich weniger ins Auge als die Gebirgszüge und Flüsse. Einen entscheidenden Orientierungs- und Identifikationspunkt wie auf anderen Karten68 bildet sie hier offenbar nicht. Der Weg, das Weiterkommen, die Bewegung sind auf dieser Karte wichtiger als die Symbolik von Sesshaftigkeit und Stabilität, die Städte auf anderen Karten oft verkörpern.69 Ein solches Raumverständnis wird auch in Texten zur Expansion in Sibirien und dem nordpazifischen Raum deutlich.70 In Stellers »Beschreibung des Weges von Barguzinskoj ostrog bis zum See Baunt« in Ostsibirien stehen zahllose Flüsse und Flüsschen im Zentrum und strukturieren den zu be65 Karte des Wasserweges von Jakutsk über Judomskoj Krest nach Ochotsk (von ­Avraam M.Dementiev), iin: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 14 A. Siehe ebenso Irtis­ fluvii tabula specialis a Tobolio (Spezialkarte des Flusses Irtysch von der Hauptstadt Tobolsk nach der Semipalatinsker Festung) (1734, von Gerhard F. Müller), in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 3.  66 Winterweg von Judomski Krest bis zum Urak (1737), in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 15. 67 Karte des Landes zwischen Angara und Lena, in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 11. 68 Roll, Russland, Sibirien und der Ferne Osten, S. 22. 69 Zu der Bedeutung von Städten siehe beispielsweise Kivelson, Cartographies. 70 Beispielsweise: Nakaz kapitanu Petru Tatarinovu o zavedyvanii Kamčadal’skimi i Anadyrski ostrogami, 17. 2. 1713, in: Timofeev, Pamjatniki I, S. 508–510.Nakaz jakutskomu kazačnemu desjatniku Vasiliju Savostjanovu, 9. 9. 1710, in: Timofeev, Pamjatniki I, S. 417–428. Saryčev, Gawrila Sarytschew’s.

Erfahrene Linien: Wege

schreibenden Raum. Darüber hinaus werden Dörfer erwähnt, einzelne Höfe, Jurten, eine Schlucht und eine Getreidemühle sowie »umherstreifende« nomadische Völker. Die Angaben sind nicht absolut, sondern stehen in Relation zueinander: »Das Dorf Kokujskaja ist in Flußrichtung auf der linken Seite des Flußes Barguzin 5 Werst von Barguzinskoj ostrog entfernt.« Hier wird keine Region beschrieben und keine territorial abgegrenzte Fläche, sondern – wie explizit im Titel hervorgehoben und mehrfach im Text deutlich gemacht wird  – ein Weg. »Der Weg ging durch Steppe, an den Seiten wuchs an einigen Stellen ein niedriges Gehölz.«71 Auch die Topografie von Tobol’sk, die Gerhard Friedrich Müller 1741 verfasste, beschreibt Wege: »Man kommt aus der untern Stadt in die obere durch drey Wege« und: »wenn man durch die erste Auffahrt nach der obern Stadt fährt, so kommt man zuvorderst in eine […] Festung.«72 In welchem Verhältnis aber stehen nun diese Karten und Berichte, die sich so sehr auf Wege und damit Linien beziehen, zu den die Fläche be­ tonenden Karten wie beispielsweise denen im Atlas von 1745? Verschiedene Erklärungsmodelle bieten sich für eine systematische Betrachtung an, zum Großteil entscheidend geprägt vom Narrativ der fortschreitenden Territorialisierung. Zunächst zu nennen wäre nochmals der bereits ausgearbeitete Gegensatz von moderner, wissenschaftlicher Kartografie einerseits und vormodernen, scheinbar weniger entwickelten Kartierungspraktiken andererseits. Territorialisierung verlangt nach präzisem Wissen, und der Vollständigkeitsanspruch der Flächenkarten scheint diesem besser zu entsprechen. Dieser Gegensatz findet eine Ergänzung im zweiten Modell: dem Kontrast von imperialer und lokaler Raumwahrnehmung, eng verbunden mit postkolonialer Theorie und Kritik.73 Wissenschaftliche, zentral gelenkte oder eben auch »imperiale« Raumwahrnehmung gilt hier als abstrakter und systematischer. Sie leert den Raum zunächst gewissermaßen, bevor sie ihn dann – als Fläche oder Container konzipiert – wieder mit Ressourcen und Informationen füllt. Topografische und soziale Elemente des Raumes­ werden von einer solchen modernen Geografie weitgehend ignoriert. Stattdessen werden sie, wie beispielsweise Thongchai Winichakul argumentiert, zu kleinen Flächeneinheiten umgeformt und zu passiver Erwartung ihrer 71 Steller, Briefe und Dokumente 1740, S. 7679. 72 Hintzsche u. Nickol, Eine Topographie, S. 86. 73 Ward, Earth’s Empty Quarter. Scott, Seeing like a state. Eher skeptisch: Latour, Visualization. Ingold, The perception, S. 219. Turnbull, Maps are territories.

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Erforschung verdammt: »Since Mercator invented the latitude-longitude matrix covering the entire globe, the world had been full of blank s­ quares waiting to be filled in.«74 Der Raum wird »von oben« strukturiert und gekennzeichnet, durch die Benennung von Orten, das Ziehen von Grenzen »mit dem Lineal« und die Etablierung einer Raumsystematik, wie z. B. durch Längen- und Breitengrade.75 Nicht von ungefähr gelten schnurgerade Grenzen wie diejenigen australischer oder nordamerikanischer Bundesstaaten ebenso wie vieler afrikanischer Staaten als bildhafter Ausdruck zentral gelenkter, kolonialer Raumpolitik. Es erscheint nachvollziehbar, dass die eher traditionelle Raumwahrnehmung »vor Ort« eine andere war als die von einem Zentrum aus gelenkte, dass also Teilkarten zu Sibirien andere Schwerpunkte setzten als solche, in denen Petersburg das Zentrum bildete. Ebenfalls prozessorientiert, aber mit einem weniger deutlich modernisierungstheoretischen Impetus schließlich präsentiert sich ein drittes Erklärungsmodell: Territorialisierung gilt hier als ein historischer, aber auch als technischer sowie individueller Entwicklungsprozess. So werden strip maps als Instrument der Entwicklung kognitiven Raumverständnisses begriffen, als eine Art Vorform moderner Flächenkarten. Ihr Vorteil liege vor allem »in helping people to develop a cognitive map of an unfamiliar environment«.76 Dies funktioniert auch in einer größeren Dimension von national- und weltpolitischem Ausmaß, in dem Wissen wächst und verbessert wird. Übertragen auf den Raum bedeutet dies: Punkte verbinden sich zu Linien, Linien verknüpfen sich zu Netzen, Netze verdichten sich zu Flächen. Exemplarisch ist dies häufig für die Vermessung Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert beschrieben worden.77 Später waren es Eisenbahnnetze, die symbolisch für solch schrittweise, aber selbstbewusste und systematische Eroberung und »Zivilisierung« des Raumes standen.78 In der Geschichte der Kartografie und damit auch in der Geschichte der Territorialisierung wurden »weiße Flecken« nach und nach eliminiert und in die – gern farbige – Fläche von Herrschaft und Wissen eingefügt, Räume

74 Winichakul, Siam mapped, S. 114. 75 Pratt, Imperial eyes, S.  61. Sack, Human territoriality, S.  88. Steinberg, The social­ construction, S. 30 f. 76 MacEachren, A Linear View of the World, S. 18. 77 Struck, Kartenzeiten. Siehe aber auch Carter, The Road to Botany Bay, S. 22–24. 78 Musich, Mapping a Transcontinental Nation, S. 109.

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wurden »gefüllt«.79 Aus westlicher Perspektive kann dieser Prozess vom Mittelalter zum 20. Jahrhundert beschrieben werden: Von einer Welt, in der Herrschaftsräume als Ansammlung von Orten gedacht wurden hin zu einer Wahrnehmung des Globus als perfektes Puzzle von sauber abgegrenzten nationalstaatlichen Territorien.80 Karten wird für diesen Prozess eine zentrale Bedeutung beigemessen, denn erst sie machen ein Territorium sichtund vorstellbar.81 Dieser Prozessverlauf vom Punkt zur Fläche wird gewöhnlich nicht als einheitlich und historisch klar festlegbar dargestellt; das Grundnarrativ aber wird von vielen Autoren in unterschiedlichen historischen Ereignissen wieder­erkannt. Um aus der Fülle der Betrachtungen nur einige Beispiele herauszugreifen: Robert Stockhammer sieht das Datum der Berliner Afrika-Konferenz 1884 diesbezüglich als Zäsur und letztlich als Beginn der Moderne, denn hier habe sich der europäische Kolonialismus »von Stützpunkten zu Territorien« umgestellt und konnte nun »ganze Flächen in den Farben der Kolonialmächte ausmalen«.82 Brian Richardson wiederum argumentiert, bereits die Reisen James Cooks hätten die Weltwahrnehmung grundlegend verändert  – von der routenorientierten Seefahrt, wie John­ Locke sie beschrieb, zu einer sich in der Fläche orientierenden Navigation der Neuzeit: »the voyages change  a world of lines into areas«.83 Und Andrea Komlosy beschreibt den Prozess aufklärerischer Territorialisierung in Österreich mit den Worten: »Sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht wurde also Fläche geschaffen.«84 Die flächige Raumdarstellung erscheint somit als ein Zeugnis vollständigeren Wissens. Im russländischen Kontext erscheint diese Argumentation angesichts der Größe des Territoriums von besonderem Gewicht. Forschung und Quellen stützen gleichermaßen die Annahme, dass Herrschaft und Wissen schrittweise entwickelt werden mussten, Punkt für Punkt, Linie für Linie, um langfristig eine vollständige Fläche zu ergeben. »Muscovite settlements were, in fact, little­ islands in a vast ocean of forest, tundra and steppe, linked by fragile transport routes.«85 Die Landvermessungsaufträge Peters des Großen gehen von 79 80 81 82 83 84 85

z. B. Schröder, Das Wissen, S. 264. z. B. Pries, Transnationalismus, S. 26. Biggs, Putting the State on the Map, S. 377. Stockhammer, Hier, S. 12. Richardson, Longitude and Empire, S. 47. Komlosy, Ökonomische Grenzen, S. 809. Collins, Subjugation and Settlement, S. 39.

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einer ähnlichen Problematik aus. Siedlungen, Straßen, Flüsse bilden Punkte und Linien, die sich zu einem Netz verbinden und schließlich zu einer abbildbaren und kontrollierbaren Fläche verdichten sollen.86 Zugespitzt ließen sich die Generalkarte des Atlas einerseits, die Karte Krašeninnikovs sowie die diversen anderen Karten der Bering-Expedition andererseits also in zwei Gruppen einteilen: neu gegen alt, imperial gegen lokal, vollständig gegen unvollständig. Doch wird ein solcher Dualismus den Karten nicht gerecht, wie bereits die Chronologie zeigt  – K ­ rašeninnikovs Karte war immerhin ein Jahrzehnt später veröffentlicht worden als der Atlas Rossijskoj Imperii von 1745 bzw. sogar zwei Dekaden jünger als die nicht publizierte flächenorientierte Generalkarte Kirilovs und dessen 1734 fertiggestellter Atlas. Auch sollten noch im späten 18. Jahrhundert Karten gezeichnet und gestochen werden, die stark an Linien und Wegen orientiert waren. So beispielsweise eine Karte aus den 1780er Jahren, welche die Reisen der Šelichov-Kompanie dokumentierte: Die Karte ist bestimmt von Linien und Punkten, zeigt aber keine abgeschlossenen Flächen.87 Und Denis Shaw liefert gar eine weitere Komplizierung der Geschichte, wenn er die Dokumentation in der Kniga bol’šogo čerteža von 1673 als Beweis für überraschend umfassende und systematische, an der Fläche orientierte Kartierungsarbeit vorstellt.88 Plausibel erscheint zunächst die Annahme, dass Krašeninnikovs Karte unter anderen Voraussetzungen erstellt wurde als der von der Akademie der Wissenschaften mit großem Aufwand geförderte Atlas, und dass die im fernen nordpazifischen Raum geschaffene Karte der Šelichov-Kompanie der 1780er Jahre ebenfalls ohne unmittelbare Kenntnis der wissenschaftlichen Fortschritte gezeichnet wurde. Imperial-aufklärerisch auf der einen Seite, lokal-bescheiden auf der anderen? Bei genauerem Hinsehen wird schnell deutlich, dass der Unterschied zwischen den Schöpfern des Atlas Rossijskoj Imperii von 1745 und dem in Moskau ausgebildeten Krašeninnikov, der als Naturforscher an der ersten Kamčatkaexpedition Vitus Berings teilgenommen hatte, nicht überstrapaziert werden darf. Dies gilt ebenso für die bereits erwähnten – oft an Wegen 86 Punkty kakim obrazom sočinjat’ landkarty. Siehe auch Pis’mo I. N. Delilja k OberSekretarju I. K. Kirilovu, 5. 11. 1730, in: Svenske, Materialy, S. 88–96. 87 Karta predstavljajuščaja prosledovanie vojaža Kupca Šelechova. 88 Shaw, Mapmaking. Als Beispiel für frühe Flächenorientierung können auch einige Karten Remezovs gelten, beispielsweise Remezov, Karta Sibirii. Vgl. auch Shibanov, Some aspects of the cartography of Russia.

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orientierten – Karten der explizit imperialen und höchstoffiziellen BeringExpeditionen. Die Arbeit mit dem geografischen Wissen der lokalen Bevölkerung war im 18. Jahrhundert durchgehend üblich und notwendig89 und stand keineswegs in einem Kontrast zum Selbstverständnis und zu den Aufgaben einer »imperialen« Geografie.90 Die so entstandenen Karten ver­einten imperialen Anspruch und Verlaufsbeschreibung in sich, der scheinbare Widerspruch erweist sich folglich als problematisch. Immerhin spielen diese Kartierungsprojekte, allen voran die Bering-Expeditionen, zu Recht in der historiografischen Beschreibung der russländischen Territorialisierungsprozesse eine wichtige Rolle; die diesbezüglichen Schlüsselbegriffe lauten Vermessung, Wissen, Kommunikation und Abgrenzung. Die KamčatkaExpeditionen unter der Leitung Vitus Berings machten erstmals die Größe Sibiriens deutlich, sie leisteten entscheidende Vorarbeiten für den Atlas Rossijskoj Imperii und trugen Symbole der Macht in entfernte Ecken des Imperiums. Die Reiseberichte selbst aber erzählen weniger von einem flächenartigen Raum als vielmehr von Wegen, von Linien im Raum.91 Und auch der Kaufmann Grigorij Šelichov mit seiner kartografischen Betonung von Linien verstand sich am Ende des 18. Jahrhunderts eindeutig als Aufklärer und Modernisierer im imperialen Auftrag. Entsprechend können seine Karten auch nicht als unfertige Skizzen abgetan werden. Die Tatsache der Publikation und die detailliert ausgearbeitete ornamentale Verzierung der Šelichov-Karte weist darauf hin, dass diese Arbeiten nicht nur als vorläufiger Entwurf betrachtet wurden und somit durchaus Gültigkeit beanspruchten. Ein deutlicher Gegensatz ist hier also nicht festzustellen. Die große Bedeutung von Wegen und Linien muss nicht als Gegensatz zu den Prozessen von Territorialisierung und Modernisierung gesehen werden, wie dies beispielsweise Brita Brenna für das Norwegen des 18. Jahrhunderts versucht.92 Auch die Unterscheidung entlang historischer Entwicklungslinien sowie die Konstruktion eines linearen Prozesses erweisen sich als problematisch. 89 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 78–83. Raport kazaka Savina Ponomareva, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 314–320. Auszug aus dem Reisebericht des Rußischen Steuermanns Saikof, S. 283. Vgl auch Postnikov, Learning. Ders., The Mapping, S. 2, 13, 23.  90 Dass dies keineswegs nur im russländischen Fall von Bedeutung war, wird deutlich bei Chappell, Ahab’s Boat, S. 76. 91 Beispielsweise Bering, Donesenie flota. 92 Brenna, King of the Road.

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Vielmehr liefert das Vorwort des Atlas Rossijskoj Imperii selbst den Hinweis, dass ausgesprochen unterschiedliche Interessen und Zielsetzungen der Kartografen eine wichtige Rolle spielten und eine allzu eindeutige Interpretation der Karten unmöglich machen. An welchen Modellen sollte man sich orientieren? Mercator-Karten beispielsweise, so wird im Vorwort erläutert, hatten vor allem den Zweck, Wege aufzuzeigen und Orientierung im Raum zu ermöglichen. Sie hätten allerdings den Nachteil, dass die vielen Linien in der Darstellung zu einer Verzerrung der Flächen führten, insbesondere in Polnähe.93 Aus rein technisch-kartografischer Perspektive sei nun die Praxis entscheidend: Welche Kompromisse war man bereit einzugehen? Zweck­ orientierung, Machbarkeit und Anspruch auf Korrektheit mussten abgewogen werden. Allerdings stellt sich noch die Frage danach, ob die Einordnung der Karten auf einer Entwicklungslinie von weniger hin zu mehr Wissen überzeugt. Fraglos wurden im 18.  Jahrhundert zahllose und wichtige Erkenntnisse zur Geografie des Imperiums zusammengetragen. Die zweite Kamčatka­ expedition von 1733 bis 1743 kann hier als besonders wichtiger Meilenstein genannt werden und die Herausgeber des Atlas Rossijskoj Imperii profitierten in hohem Maße von den Ergebnissen der Expedition. Dennoch galt nach wie vor und in kaum überraschender Weise, dass viele Aspekte der Geografie Sibiriens, sowohl an der Küste als auch im Binnenland, offen, umstritten oder schlichtweg unbekannt waren.94 Entscheidend soll hier aber nicht sein, wie gering oder aber umfassend das vorhandene Wissen war. Zur Debatte steht vielmehr die Frage, wie mit Wissen – und vor allem auch mit Nicht­ wissen – umgegangen wurde. Zahlreiche Materialien zum Atlas Rossijskoj Imperii machen deutlich, wie sehr den Autoren bewusst war, dass sie Kompromisse einzugehen gezwungen waren. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit war Programm und wurde stets und ständig betont. Dennoch sollte sich ein allzu großer Perfektionswille schnell als problematisch erweisen und zum Konflikt zwischen Joseph-Nicholas Delisle, der die vollständige – aber sehr langwierige – Landvermessung vermittels Triangulation ins Zentrum seiner Bemühungen stellte, und Ivan Kirilov führen, dem größere Eile bei der Herstellung einer Generalkarte geboten schien. Und obwohl nach den aufwändigen und teuren Kamčatkaexpeditionen zu erwarten wäre, dass das geografische Wissen 93 Atlas Rossijskoj Imperii, 1745, S. 14. 94 Roll, Russland, Sibirien und der Ferne Osten. Seibold, Early Maps.

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nun als besonders umfassend dargestellt würde, zeigen sich die Akteure in publizierten wie nicht publizierten Quellen erstaunlich pragmatisch. Der Leiter der Petersburger Akademie, Johann Daniel Schumacher, fasste die Problematik und die allgemeine Haltung dazu treffend zusammen, als er in einem Brief feststellte, ganz akkurat würden die Karten des Atlas nicht werden. »Doch was soll man tun? (No chtož delat’?) Jetzt machen wir sie so gut wie eben möglich. Mit der Zeit kann man ja alles verbessern.«95 Im Vorwort des Atlas wurde deutlich gemacht, wie sehr man sich darum bemüht habe »so genau zu sein, wie es zurzeit möglich ist«, dass aber Fehler zu erwarten seien und Korrekturen zu erhoffen.96 Bei der 1734 gestochenen Generalkarte des Ivan Kirilov stand das Eingeständnis der Beschränkung gar im Titel selbst: Es handelte sich um eine »Karte des Russländischen Imperiums, so korrekt wie möglich hergestellt«.97 Interessanterweise sind solche Hinweise auf Nichtwissen, solch ein relativer Präzisionsbegriff zwar in den Texten, nicht aber in den Karten des­ Atlas Rossijskoj Imperii zu finden. Die Konventionen der modernen, wissenschaftlichen Karte ließen keinen Raum für solche Problematisierungen. Sie vermitteln den Eindruck von sicherem Wissen und entsprechen so dem aufklärerischen Unternehmen der Suche nach »Objektivität«. Ein ganz ähnlicher Kontrast ist für Kirilovs Generalkarte festzustellen: Während im Titel auf die begrenzten Möglichkeiten hingewiesen wurde, verzeichnete die Karte selbst scheinbar klar und ohne Zweifel die damals doch noch kaum erforschte Nordküste Sibiriens.98 Weder die Angabe von Informationsquellen, wie sie in anderen Karten des 18. Jahrhunderts durchaus üblich waren, noch »weiße Flecken« wurden im Atlas von 1745 oder auch Kirilovs Karte verwendet. Wir haben es weniger zu tun mit mehr oder weniger Wissen als vielmehr mit der mehr oder weniger großen Bereitschaft, Nicht­wissen zuzugeben. Dieses Phänomen und die Problematik einer klaren Gegenüberstellung zweier Kartentypen werden noch deutlicher, wenn im folgenden Abschnitt Grenzen genauer betrachtet werden: als spezielle und durchaus ambivalente Linienform, welche in einem dynamischen Verhältnis zur Fläche steht. 95 Pis’mo Bibliotekarja I. D. Šumachera k Ober-Sekretarju Senata I. K. Kirilovu, 10. 3. 1729, in: Svenske, Materialy, S. 82 f. 96 Atlas Rossijskoj Imperii, 1745, S.  8. Zur Kritik an den Fehlern des Atlas Rossijskoj siehe u. a. Lomonosov, Kratkoe pokazanie. 97 General’naja karta Rossijskoj Imperii skol’ko vozmožno bylo spravno sočinennnaja trudom Ivana Kyrilova. 98 General’naja karta Rossijskoj Imperii skol’ko vozmožno bylo spravno sočinennnaja trudom Ivana Kyrilova.

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2.4 Fehlende Linien: Grenzen Ein entscheidendes Kennzeichen von modernen Territorien sind möglichst klare, eindeutig als Linie konzipierte und rechtlich verbindliche Grenzen. Sie sind, wie zahlreiche Forscher festgestellt haben, nicht nur Limitierung, sondern zugleich Ausdruck moderner staatlicher Macht.99 Schließlich gilt Territorialität per definitionem als Strategie, Gebiete zu »begrenzen«, von anderen »abzugrenzen« und so unter Kontrolle zu bringen.100 Mit großem Interesse ist aber auch die historische, kulturelle und geo­ grafische Variabilität von Grenzen betrachtet worden. So verzeichnen frühneuzeitliche Karten oft keine politischen Grenzen; erst mit dem 17. Jahrhundert wird dieses Element kartografisch überhaupt wichtig.101 Zunehmend wurden dann Grenzen bedeutsam für die Vorstellung von Territorialität, die Abbildung politischer Souveränität und das Konstruieren kollektiver Identitäten  – insbesondere in der westlichen Welt. Diese Wahrnehmung war alles andere als universal: So stellt beispielsweise Thongchai Winichakul für das Siam des späten 19. Jahrhunderts fest, dass Souveränität keinesfalls von Grenzen abhing.102 Die Grenzforschung hat zahlreiche Fallstudien vorgelegt, in denen deutlich wird, wie unterschiedlich die Grenzwahrnehmung sein kann. Was vom Zentrum aus klar, verlässlich und bedeutsam erscheinen mag, kann für die Akteure vor Ort ganz anders wirken.103 Die kulturelle und wirtschaftliche Durchlässigkeit von Grenzen und die Existenz von komplexen Grenzkulturen wurden für so unterschiedliche Regionen wie beispielsweise Böhmen und Sachsen, Elsass-Lothringen, USA und Mexiko oder auch Indien, Bangladesh und Myanmar untersucht.104 Grenzen, dies ist ein Resultat solcher Forschungen, werden nicht etwa einmalig festgelegt, sondern in langfristigen Prozessen konstruiert und ima99 Herb, Under the map of Germany, S.  7. Muir, Modern Political Geography, S.  119.­ Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Elden, Die Entstehung des Territoriums. 100 Sack, Human territoriality, S. 19. Maier, Consigning. Zum komplexen Verhältnis von Grenzlinie und territorialer Fläche: Prass, Die Etablierung der Linie. Demers, The French Colonial Legacy, S. 37. 101 Akerman, The Structuring, S. 141. 102 Winichakul, Siam mapped. 103 François, Seifarth u. Struck, Grenzen und Grenzräume, S. 8. 104 Duhamelle, Grenzregionen. Murdock, Changing places. Schröder, Die Nation an der Grenze. Kearney, Transnationalism in California. van Schendel, The Bengal borderland.

Fehlende Linien: Grenzen

giniert. Die Art und Weise, in der Grenzen visualisiert werden, – sei es durch kartografische Abbildungen oder im »tatsächlichen« Raum  – kann somit Aufschlüsse geben über Identitäts- und Territorialitätsvorstellungen. Wie also können die bisher betrachteten Karten in Bezug auf ihre Grenzdarstellungen interpretiert werden? In generellen Analysen zu Territorialisierungsprozessen und konkret in Willard Sunderlands Beschreibung der Veränderungen im Russland des 18. Jahrhunderts105 spielen Grenzziehungen eine entscheidende Rolle. Und tatsächlich wurden Grenzen auf vielen Karten betont: So konnte die Grenze in der Tradition der strip maps als fast kontextlose Linie auftauchen106 oder aber territorial als Rahmen einer Fläche fungieren. Der Russländische ­Atlas aus dem Jahr 1745 betont Flächen und zeigt damit Grenzen eher implizit, aber umso wirksamer: als integrales und notwendiges Element eines modernen Staatensystems. Robert Muir beschreibt solche Grenzen als Abgrenzungen staatlicher Autorität, welche die räumliche Form – also die Fläche – der politischen Einheiten definieren. »Boundaries have been loosely described as being linear; in fact they occur where the vertical interfaces between state sovereignties intersect the surface of the earth.«107 Die Grenzlinie erscheint auf der Generalkarte von 1745 damit letztlich als Funktion der Fläche, und nur die farbige Flächengestaltung lässt die Grenzen des Reiches so augenfällig, die Generalkarte so territorial erscheinen. Auf Krašeninnikovs Karte dagegen sind Grenzen konzeptionell nicht denkbar: Er stellt keine einheitlichen Flächen dar, also gibt es auch keine Grenzen. Die verschiedenen Karten der Kamčatka-Expeditionen allerdings erscheinen hier als eine Art Zwischenform, in der Grenzen eine Rolle spielen und auch auf Karten vorkommen, aber durchaus problematisch und diskussionswürdig bleiben. Die Route und die Ergebnisse der Expedition wurden nicht nur auf Spezialkarten abgebildet, sondern durchaus auch in Karten mit kleinem Maßstab und damit in ein Konzept von Territorium eingepasst. Die Konzepte der strip map einerseits und der imperialen Karte andererseits überschneiden sich hier. Insbesondere die berühmte Karte des Seeoffiziers

105 Sunderland, Imperial Space. 106 So die Karte des russländisch-schwedischen Grenzverlaufs: Sija karta razgraničenija zemel’ večnogo mira meždu Rossijskim i Švedskim Gosudarstvu ot roždenija Christova 1722 goda. Die Karte erschien separat 1724 in St. Petersburg, wurde dann aber auch 1734 in den Atlas Kirilovs aufgenommen. Kirilov, Atlas Vserossijskoj Imperii. 107 Muir, Modern political geography, S. 119 f.

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Petr Čaplin aus dem Jahre 1729108 hat eine klare imperiale Aussage. Sie ist aufwändig gestaltet, prächtig koloriert und mit Symbolen des Imperiums und der Expansion ausgestattet. Anders als auf der Karte Krašeninnikovs wird hier die Reiseroute von Tobol’sk bis Kamčatka in größere geografische Muster eingeordnet. Zu diesen Mustern gehören ein Raster von Längen- und Breitengraden sowie Elemente des russländischen – bzw. sibirischen – Gesamtgebietes: Küstenstreifen, Flüsse, Städte, Meere und Siedlungsgebiete, die nicht unbedingt unmittelbar mit der Reiseroute zu tun hatten. Das Konzept des »central corridor« wird hier nicht vollständig umgesetzt. Darüber hinaus zeigen zwei Kompassrosen sehr deutlich und akkurat die Himmels­ richtungen an: Die Karte ist genordet. Dennoch fehlt dem territorialen »Kontext«, der hier geboten wird, aus moderner Sicht – und auch im Vergleich mit der Generalkarte von 1745 – ein entscheidendes Element: Das Territorium ist nicht vollständig ein­ gezeichnet, es fehlen Grenzen, sowohl staatliche als auch »natürliche«. Im Süden wurde der Bildausschnitt interessanterweise so gewählt, dass das Kennzeichnen der Grenze zu China vermieden werden konnte. Im Norden aber fehlt ein breiter Küstenstreifen vollkommen: Ungefähr zwischen den Flüssen Anabar und Alazeja ist die Eismeerküste nicht eingetragen. Ausgerechnet die Küstenlinie fehlt, der doch von Paul Carter eine »privileged position in geografical discourse« zugesprochen wird und die er als genuin aufklärerisch und entscheidend für das Raumverständnis charakte­ risiert.109 Bemerkenswert ist dabei nicht etwa der Umstand, dass dieses Gebiet eben noch nicht erforscht, geschweige denn kartiert war. Von Interesse ist vielmehr die Tatsache, dass solches Nichtwissen umstandslos ein­ gestanden wurde. Ganz offensichtlich hatten die Hersteller dieser Karte kein besonderes­ Interesse daran, das Territorium vollständig und damit deutlich abgegrenzt darzustellen. Das Fehlen der Küsten und damit der Grenzlinie des Imperiums im Norden schuf einen »weißen Fleck«, der ausschließlich durch das schematische Raster von Längen und Breiten strukturiert wurde. Hier wurden weder Flüsse, noch Menschen oder Küsten eingezeichnet. Weder versuchte man, die geografische Unkenntnis durch spekulative Angaben zu übertünchen, noch wurde hier sonst so die beliebte Methode angewandt, 108 Čaplin, Karte des Reisewegs, in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 1. Das Original liegt vor in der SUB Göttingen. Siehe Bildteil, Abb. 3. 109 Carter, Dark with Excess of Bright, S. 125.

Die Darstellung des Imperiums

problematische, »leere« Stellen mit Kompassrosen, Wappen oder sonstigen Illustrationen zu füllen. Die zahlreichen Illustrationen auf dieser Karte wurden vielmehr an anderen Stellen eingefügt und überdecken dort sogar zuweilen die eingetragenen Informationen, wie beispielsweise die Abbildungen von Karjaken und Kurilen über den Flüssen Kolyma und Alazeja. Die Tatsache, dass die »Lücke« sich unübersehbar genau in der Mitte des Bildausschnitts befindet, bildet ein weiteres Indiz für die Vermutung, dass es sich hier nicht um ein Versehen und ein Versäumnis handelt, sondern um eine intendierte Aussage. Die Grenzen fehlen nicht einfach nur deshalb, weil man sie nicht eintragen konnte, und auch nicht, weil die Kartografen sich auf andere, als wichtiger erscheinende Punkte konzentriert hätten. Das Fehlen der Grenzen kann vielmehr als absichtlich eingesetztes Gestaltungsmittel betrachtet werden. Von einem klassischen »horror vacui« kann hier kaum gesprochen werden, eher – wenn man so will – von einem »gaudium vacui«. Diese Beobachtung jedoch kann nur als explanandum und keinesfalls als explanans gelten. Wenn also auf der Karte Čaplins Linien eine entscheidende Rolle spielen, wenn die dargestellte Reiseroute, die Linien des Meridian- und Breitenrasters und die Kompassrhumben die Darstellung bestimmen, Grenzen aber, Linien also, welche eine Fläche kennzeichnen, nicht vollständig eingezeichnet sind  – welche Erklärung lässt sich dafür finden?

2.5 Linien und Flächen: Die Darstellung des Imperiums Wenn die verschiedenen dualistischen und/oder evolutionären Erklärungsmodelle nur bedingt greifen, um die Besonderheiten der russländischen Kartografie im 18.  Jahrhundert zu verdeutlichen, so erscheint doch ein anderer Ansatz vielversprechend: das Konzept des Imperiums. Dafür soll nochmals eine Aussage vom Beginn dieses Kapitels aufgegriffen werden: Herrschaftstechniken der Moderne verlangen nach räumlicher Organisation. Territorialität wurde in der Frühen Neuzeit zunehmend als wirksames Mittel zur Kontrolle von Menschen und Ressourcen entdeckt und ein­gesetzt. Es war dann der Nationalstaat, der diese Idee perfektionierte, indem er Grenzen festlegte und kontrollierte und staatliche Räume als Flächen homogenisierte. Der Einheitsanspruch der Nation als imagined community wölbte sich gewissermaßen legitimatorisch über die territoriale

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Einheit und wurde umgekehrt von dieser gestützt. Wenn Territorialität auch immer eine Hierarchie von Raumvorstellungen etabliert und umsetzt, so war es die nationale Raumvorstellung, die sich in dieser Rangordnung durchsetzte.110 Diese Bindung des Territorialitätskonzepts an den Nationalstaat wirft allerdings die Frage auf, wie sich Territorialität denn mit den Ambitionen und dem Selbstverständnis von Imperien sowie deren historischen Realitäten verbinden ließ. Denn schließlich gilt es inzwischen als Allgemeinplatz in der historischen Forschung, dass Kartografie zu den wichtigsten Instrumenten nicht nur des Nationalstaates, sondern eben auch imperialer und kolonialer Herrschaft zählte.111 Wie also funktionierte Territorialisierung in früh­neuzeitlichen Imperien? Imperien und Nationalstaaten gelten systematisch betrachtet häufig als Gegensätze, historisch gesehen oft gar als Rivalen. Die nationalistische Einfärbung der sich entwickelnden modernen Geschichtswissenschaft  – zumindest in Mitteleuropa – hat lange die Vorstellung hochgehalten, dass Imperien Völkergefängnisse seien, aus denen der moderne, fortschrittliche Nationalstaat sich triumphierend befreit. Doch selbst wenn diese Erzählung heute mehr und mehr an Bedeutung verliert, ist das Verhältnis von Imperium und Nationalstaat noch weit davon entfernt, präzise geklärt zu sein. Zwar ist historisch kaum bestritten, dass viele Nationalstaaten durchaus imperiale Ansprüche und Züge hatten und haben, seien es England, Frankreich, Polen oder die USA . Die systematische Betrachtung aber geht doch weiterhin gern von einem Kontrast aus. Imperien werden, was ihre Struktur und ihr Selbstverständnis angeht, meist in einem Gegensatz zu Nationalstaaten definiert: Sie seien kulturell und ethnisch heterogen, während der Nationalstaat per definitionem homogen sei (oder zumindest sein solle). Imperien seien auf einer vertikalen Machtstruktur aufgebaut, während Nationalstaaten sich – unabhängig von ihrer tatsächlichen politischen Struktur  – als basierend auf »a deep, horizontal comradeship« verstünden.112 Schließlich seien Imperien expansionistisch und universalistisch, Nationalstaaten dagegen »partikularistisch«.113 Dieser Dualismus ist, wenn er zu weit getrieben wird, zu Recht problematisiert worden, doch bleibt der Konsens 110 111 112 113

Middell u. Naumann, Global history. Beispielsweise bei Edney, Mapping an Empire, S. 1. Anderson, Imagined communities, S. 7. Münkler, Imperien.

Die Darstellung des Imperiums

bestehen, dass Nationalstaaten und Imperien sich trotz vielfältiger Überschneidungen fundamental unterscheiden.114 Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich für die Karten ­Krašeninnikovs sowie die verschiedenen Wegdarstellungen der Bering-Expedition ein über die bloße Unterscheidung von Raumwahrnehmungen hinausgehender Sinn. Wenn Imperien expansionistisch sind, wenn sie Grenzen per definitionem offen und beweglich halten wollen, wenn Imperien an und für sich dynamisch sind, dann ist eine Konzentration auf bereits zurückgelegte und erst noch mögliche Wege mehr als nachvollziehbar. Die imperialen Ziele verlangen nicht nur nach der Darstellung von Fläche, sondern auch nach einer Bildsprache, die sich von derjenigen unterscheidet, welche sich aus dem Prozess der Territorialisierung und der Entstehung des Nationalstaates ergibt. Aus einer solchen Perspektive erscheinen »weiße Flecken« weniger als Eingeständnis von Nichtwissen denn als ein Versprechen künftiger Expansion und Erforschung. Iris Schröder hat für das 19.  Jahrhundert und die koloniale Geografie in Afrika beschrieben, wie weiße Flecken bewusst markiert wurden und so einen »zuvor nicht da gewesenen Anreiz [schufen], den Kontinent zu erkunden und zugleich geografisch zu füllen«.115 Auch hier vertrugen sich also imperiale und territoriale Ambitionen mit explizit gemachtem »Nicht-Wissen« bzw., genauer formuliert, »Noch-Nicht-Wissen«. Mehr noch: diese koloniale Geografie war für Afrika möglich, als sich in Europa das nationalstaatliche Raumkonzept bereits weitgehend durchgesetzt hatte. Die Territorialisierungsprozesse Russlands im 18. Jahrhundert verknüpften die Tradition und Dynamik imperialer Wege mit den neuen, am Konzept des fest verankerten Territoriums orientierten Machträumen. Von einem solchen Standpunkt aus betrachtet wird auch die starke zeitliche Dimension verständlich, welche auf vielen Karten des 18.  Jahrhunderts zu erkennen ist. Hier ist sicherlich eine Traditionslinie festzustellen, welche diese Karten mit den Arbeiten des 17.  Jahrhunderts verbindet, in denen sich Chronik und Landkarte, Historie und Geografie nicht klar vonein­ ander unterschieden. Landkarten verschiedenster Art hatten oft auch eine historisch-narrative Komponente.116 Davon abgesehen aber sind diese zeitlichen Elemente auch in Bezug auf den Charakter des Imperiums von Bedeutung. Verlaufsbeschreibungen arbeiteten häufig mit genauen Zeitangaben, 114 Kumar, Nation-states as empires. Ders., Nation and Empire. Berger, Nationalizing Empires. 115 Schröder, Das Wissen, S. 264. 116 So die so genannte Remezov-Chronik: Dergačeva-Skop, Remezovskaja letopis’.

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um die dargestellte Reise nachvollziehbar zu machen, und wurden so zu einem nicht nur geografischen, sondern auch historischen, eine Evolution nachzeichnenden Dokument. Besonders deutlich ist dies zu erkennen auf einer Mercatorkarte von 1754, welche die beiden Nordpazifikreisen Vitus Berings und Sven Waxells abbildet.117 Daten und Kommentare zu wichtigen Ereignissen charakterisieren diesen grafischen Reisebericht ebenso wie eine Karte aus dem Jahre 1779, welche die Expeditionen seit 1741 dokumentierte.118 Weitere russländische, aber auch französische und britische Beispiele aus dem späten 18.  und frühen 19.  Jahrhundert identifizieren diese Art der Kartierung als typisch für diese Epoche großer »Entdeckungen« und charakterisieren die nordpazifische Region als einen Raum der Bewegung und Veränderung.119 Der Offizier und Kartograf Gavriil Saryčev hat ein solches Vorgehen in seinem Bericht von 1806 explizit beschrieben: »Auch habe ich die Wege, die ich sowohl zu Lande als auch zu Wasser in genannten beiden Meeren gemacht habe, auf der Karte eingezeichnet, für jeden Mittag nämlich den Ort unsers damaligen Aufenthalts durch Beschreibung des Datum’s bestimmt, und um die verschiedenen Fahrten nach ihren Jahren zu unterscheiden, habe ich bald aneinanderhängende Linien, bald Punktationen gebraucht.«120 Hier steht die Bewegung im Zentrum des Interesses, und nicht unbedingt eine Kartierung mit abschließendem Charakter. Die Karte Čaplins von 1729 arbeitet auf noch intensivere Weise mit dem Temporalen.121 Hier wird nicht nur ein Weg beschrieben, den eine Expedition gegangen ist. Hier wird vielmehr ein Weg beschrieben, den ein Im117 Karte der Seereise von Vitus Bering nach Amerika (1754), in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 18.  Siehe auch Karte des südlichen Teils der Halbinsel Kamtschatka (1740), in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 17.  118 Itogovaja karta otkrytii v vostočnoj Sibiri i v zapadnoj Amerike, 1779g, in Ivins, On the rationalization, Abb. 165. 119 Siehe auch General’naja Karta vtoroj kamčatskoj Ekspedicii (1742), in: Efimov, Atlas geografičeskich otkrytii, Abb. 93 sowie die vielen Karten zu russländischen und britischen Expeditionen, z. B. Carte Des Nouvelles Decouvertes Au Nord de la Mer du Sud (1750). Buache, Carte des Nouvelles Découvertes entre la partie Orientale de l’Asie et l’Occidentale de l’Amérique. (1752). Carte de la Mer Pacifique du Nord, contenant la Côte Nord-est d’Asie et la Côte Nord-Ouest d’Amérique. Charte von der Nord-WestKüste von Amerika mit dem Laufe des King George und der Queen Charlotte. 120 Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, S. xix. 121 Čaplin, Karte des Reisewegs, in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 1. 

Die Darstellung des Imperiums

perium beschritten hat und in Zukunft weiter verfolgen wird. In einem evolutionär anmutenden Narrativ wird die Richtung deutlich gemacht, in welche sich das Imperium bewegte – räumlich wie zeitlich und politisch. Die Kartusche links im Bild demonstriert den Gegensatz, aber auch die Entwicklung von einer »primitiven« Lebensweise und »zivilisiertem« Dasein. Nacktheit bzw. das Tragen einfacher Fellkleidung und das Fehlen von Begräbniskulturen werden jeweils links dargestellt und damit am Beginn des Weges, während die Symbole der Zivilisation  – exquisite Kleidung und Feuer­bestattung – auf der rechten Seite, in der Bewegungsrichtung, stehen. Die ethnografischen Darstellungen in der Karte selbst sind detailliert ausgearbeitet und zeigen Angehörige verschiedener sibirischer Völker, abgebildet mit symbolhaften Landschaften, die in mancher Hinsicht an Konventionen der Ikonenmalerei erinnern: Überfluss und paradiesische Zustände sind daraus zu erkennen. Schließlich ist am rechten Rand ein Boot abgebildet, dessen kleine Besatzung nach Osten blickt – ein Eingeständnis des Scheiterns der Ersten Kamčatkaexpedition, aber doch auch ein Blick in die Zukunft. Es ist schließlich bisher ganz explizit nur ein »Teil« des Meeres, den sie hier bereisen, wie die Angabe »Čast’ morja sinego« deutlich macht: weitere zu erforschende Teile warten noch. Im Vergleich mit der dem Nationalstaat zugeschriebenen Territorialität ergibt sich hier auch eine Besonderheit des Imperiums: Zwar spielt Zeitlichkeit selbstverständlich auch für Nationen eine zentrale Rolle. Doch sind die verschiedenen Zeitschichten einer nationalen Gemeinschaft – gemeinsame Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft  – unmittelbar mit »territoriale[n] Entitäten in konkreten und verbindlichen, räumlichen Grenzen«122 verknüpft, die nationale Geschichte spielt sich im territorialen Raum ab. Der Mythos eines in Geschichte und Ethnos begründeten Territoriums bildet ein zentrales Element imaginierter nationaler Gemeinschaften.123 Ein solches Konzept eines stabilen, klar begrenzten Territoriums stünde aber in Widerspruch zu dem dynamischen, auf Bewegung und Expansion ausgelegten imperialen Selbstverständnis, wie es in den hier betrachteten Karten deutlich wird. Hier ist der Raum selbst von temporalem Charakter. Die Gegenwart des Imperiums braucht bestehende Grenzen als Zeichen des Erfolges, seine Zukunft aber führt über die aktuell festgelegten und langfristig beweglichen 122 Haslinger, Nation und Territorium, S. 17. Oesterle, Einleitung. 123 Siehe dazu u. a. Frank, Innere Kolonisation, S.  1660. Herb, Under the map of Germany, S. 6.

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Grenzen hinaus. Frederick Cooper hat treffend formuliert: »Imperien sind eine besondere Art von Raumsystem; sie überschreiten Grenzen und sind selbst abgegrenzt.«124 Die klassische Vorstellung des Territorialstaates trifft angesichts imperialer Karten also durchaus auf Probleme – was nicht verwundert, ist sie in Geschichte und Geschichtswissenschaft gleichermaßen doch elementar am Ideal des Nationalstaates orientiert gewesen. Natürlich aber steht Territorialität als solche keineswegs in grundlegendem Kontrast zum Imperium. Auch wenn die Geschichte der Territorialisierung sich gern auf die Entwicklung der Nationalstaaten konzentriert, ist doch unbestreitbar, dass bestimmte Elemente territorialen Denkens auch in Imperien, unter anderem dem russländischen, zu entdecken sind und die neuzeitliche Geschichte entscheidend geprägt haben. Der Nexus von geografischem Wissen und rationaler Politik beispielsweise sowie die Vorstellung von einem Containerraum, in dem wertvolle Ressourcen enthalten seien, sind in Imperien ebenso wie in Nationalstaaten zu finden. Vytautas Petronis arbeitet mit einem Modell, das zwei Formen territorialer Integration unterscheidet: Systemintegration einerseits, nationale Integration andererseits.125 Auf eine solche Weise wird territoriale Integration unabhängig vom Nationalstaat denkbar und auch für die Imperienforschung auf eine systematischere Weise verfügbar. Und dies führt erneut zurück zum Atlas Rossijskoj Imperii von 1745. Das Vorwort des Atlas erklärt die Notwendigkeit, ein Territorium zu beschreiben. Die Generalkarte betont Flächen und behauptet klare Grenzen. Und dennoch: Auch wenn der Gegensatz zwischen der Generalkarte einerseits und der Karte Krašeninnikovs andererseits so deutlich erscheint, lohnt ein erneuter Blick auf eben diese Generalkarte. Denn während die Farben der kolorierten Versionen der Generalkarte fraglos Flächen betonen und das russländische Territorium eindrücklich optisch homogenisieren sowie von umliegenden Gebieten abheben, sind sie doch nur über eine andere Struktur gelegt worden: über eine Struktur aus Linien, die vor allem Flüsse und Gebirge darstellt. In gewisser Weise ist damit das Terrain überlagert worden durch das Territorium. Wer aber diese Linien unter den Flächen betrachtet, erkennt, wie sehr das russländische Imperium als mit benachbarten Ge­ bieten verbunden dargestellt wurde, trotz der abgrenzenden Farbflächen. Denn Flüsse, Gebirgszüge und bewaldete Gebiete weisen über die Grenze 124 Cooper, Was nützt der Begriff, S. 146. 125 Petronis, Constructing Lithuania, S. 24–26. Siehe auch Häkli, Territoriality.

Die Darstellung des Imperiums

hinaus. Das Terrain war nicht kongruent mit dem Territorium, und auch das Wissen über die topografischen Gegebenheiten endete nicht abrupt an den Grenzen des Imperiums. Das staatliche Territorium erscheint somit nicht als etwas notwendigerweise Dauerhaftes oder gar Natürliches. Vielmehr werden sowohl administrative, erst vor kurzem durch eine Reform eingeführte Grenzen als auch die imperialen Staatsgrenzen mit den gleichen Mitteln dargestellt. Diese Grenzen erschienen somit als politisch gewollt und verliefen häufig quer zu anderen, die »natürliche« Topografie kennzeichnenden Linien. Somit eröffnete auch die Generalkarte die Möglichkeit weiteren Interesses und letztlich weiterer Expansion. Die Tatsache, dass diese Darstellungsform nur im Süden angewandt wurde, nicht jedoch im Westen, birgt Potential für weitere Überlegungen. Die Grenzen zu Polen und Schweden waren unter Peter festgelegt worden, anders als die frontier-Gebiete im Süden. Auf dieser Karte werden diese Staaten westlich von Russland nicht dargestellt, keine Linien brechen die Flächenstruktur des Imperiums auf. Stattdessen ist genau an dieser Stelle die obligatorische Kartusche mit dem zweiköpfigen Adler und verschiedenen Wappen abgebildet. In ambivalenter Weise befreite sie die Kartografen einerseits von der Notwendigkeit, diesen Raum grafisch zu gestalten und das territoriale Grenzkonzept zu problematisieren, sie kann jedoch andererseits auch als deutliche Drohgebärde eines starken Imperiums in westliche Richtung gedeutet werden.126 Für eine Zusammenfassung der vorstehenden Überlegungen und Analysen hat vor allem das Konzept der Dynamik zentrale Bedeutung. Das 18.  Jahrhundert in Russland war zweifellos, darin ist der bisherigen Forschung zuzustimmen, eine Zeit beschleunigter Territorialisierung. In einer Weise, die mit früheren Praktiken nicht zu vergleichen ist, gerieten Räume und deren Ressourcen in den Blick der Regierenden, wurde das Ziel verfolgt, mehr und präziseres Wissen anzuhäufen, wurde schließlich das Imperium als ein zusammenhängender und überschaubarer Raum imaginiert. Diese Territorialisierungsprozesse liefen aber im 18.  Jahrhundert nicht unbedingt stets auf die räumliche Figur der Fläche und damit eine territoriale Stabilisierung hinaus. Vielmehr sind zahlreiche Karten dieser Zeit weniger als »flächige« Karten denn als strip maps zu kategorisieren, erscheinen eher als Verlaufsbeschreibung denn als Statusbeschreibung. Die sich darin 126 In den Atlanten von 1792 und 1796 wird dieses Gestaltungselement nicht mehr genutzt. In der Darstellung wird kein Unterschied gemacht zwischen Grenzen im Westen und frontiers im Süden und Osten.

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manifestierenden Raumvorstellungen entsprechen also nicht dem Prinzip des Containerraumes oder der territorialen Fläche. Vielmehr wurde in der Analyse deutlich, von welch entscheidender Bedeutung Linien für Raumvorstellungen und -darstellungen waren: insbesondere Flüsse und Wege. Auf diese Weise passt das Raumverständnis zum Kern imperialen Selbstverständnisses und imperialer Praxis. Wie aber passt es in die Geschichte der Territorialisierung? Wenn wir das Narrativ von der Territorialisierung ausschließlich auf Nationalstaaten beziehen und es als linearen Weg hin zu einer ordentlichen Aufteilung der Welt in homogene, sauber voneinander abgegrenzte Territorialstaaten betrachten, dann muss wohl deutlich gesagt werden: gar nicht. Doch dieses gefällige Narrativ ist inzwischen ausreichend hinterfragt und problematisiert worden und erscheint nun offen und flexibel genug, um verschiedene Territorialisierungsprozesse und Raumkonzepte aufzunehmen. Frederick Cooper spricht von einer »Dialektik von Territorialisierung und Entterritorialisierung«.127 Philip Steinberg hat pointiert festgestellt, dass wir zwischen 1500 und 1800 nicht nur eine Phase intensiver Territorialisierung erkennen können, sondern ebenso sehr auch eine »Transportrevolution«, ein exponentielles Ansteigen von Bewegung und transnationalen wie trans­ kontinentalen Kontakten.128 Bereits 2006 analysierte Sebastian Conrad den Zusammenhang von Globalisierung und nationaler Abgrenzung.129 Und auch Stuart Elden problematisiert den allzu klaren Gegensatz, den viele Forscher in der Territorialisierung des Westfälischen Friedens einerseits und der Deterritorialisierung einer globalisierten Welt sehen.130 Analysen wie die Coopers, Steinbergs, Conrads und Eldens, welche stärker auf Komplexitäten eingehen als auf den Gedanken linearer Entwicklung, sind für die Betrachtung von Raumvorstellungen hilfreicher als Dualismen von territorial und nichtterritorial, zentral und lokal, modern und traditionell oder auch national und imperial. »Territorium« und »Territo­ rialisierung« sind prominente, aber auch höchst problematische Begriffe, denen mit der klassischen Formel vom modernen Territorialstaat nicht mehr beizukommen ist. Stuart Elden betont, dass das Konzept des Territoriums noch lange nicht genügend erforscht und theoretisch unterfüttert 127 Cooper, Was nützt der Begriff, S. 143. 128 Steinberg, Sovereignty, S. 468. 129 Conrad, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich. 130 Elden, Missing the point.

Die Darstellung des Imperiums

sei.131 Wenn Martina Löw hingegen kritisiert, dass Territorien in der Raumforschung eine allzu große Rolle spielten, so ist dies kein Widerspruch. Denn worum es auch Löw vor allem geht, ist eine stärkere Historisierung. Sie moniert »insbesondere die Konzeptualisierung von Raum als Ort oder Territorium […], da nicht der Prozeß der Konstitution erfaßt wird, sondern das Ergebnis dieses Prozesses  – die Herausbildung von Orten, begrenzten Territorien etc. – vorausgesetzt wird.«132 Gemeinsam mit anderen Autoren wendet Löw sich gegen die Selbstverständ­ lichkeit, mit der sich vor allem Sozialwissenschaftler, durchaus aber auch Historiker, ausschließlich im als territorial konzipierten Nationalstaat bewegen – oder, so muss angesichts des Siegeszuges der Globalgeschichte in­ zwischen wohl zugestanden werden, bewegten. Eine Historisierung aber sollte ebenso wenig nur den Nationalstaat im Blick haben und Imperien als »anders« und »anormal« betrachten. Eine Territorialisierungsschublade mit der Aufschrift »Nation« verhilft uns auch nicht zu einem besseren Verständnis, wie die zahlreichen Diskussionen zu vergangenen und gegenwärtigen Imperien eindrücklich zeigen. In diesem Kapitel ist somit der Versuch unternommen worden, eine Perspektive zu entwickeln, welche Territorialisierung im Russland des 18. Jahrhunderts gerade nicht als linearen Prozess begreift. Stattdessen wurden Quellen analysiert, die unterschiedliche Raumvorstellungen dokumentieren, aber dennoch den Interessen von Imperium, Expansion und mehr Wissen Rechnung trugen. Die ausgewählten Karten schaffen darüber hinaus Verknüpfungen zwischen den imperialen Zentren und der ostsibirischen­ Peripherie sowie dem Nordpazifik und weisen so auf die Region hin, um dies es in den folgenden Kapiteln gehen wird. Die imperiale Territorialisierung des 18. Jahrhundert entsprach nicht vollständig den modernen Vorstellungen vom Territorialstaat, sondern korrespondierte vielmehr mit der inhärenten Dynamik und den »Unebenheiten« des Imperiums.133 Das große Interesse an Bewegung, das im Rahmen der neuen Mobilitätsforschung vor 131 Elden, Die Entstehung des Territoriums. 132 Löw, Raumsoziologie, S. 13. Ganz ähnlich: Häkli, In the territory. 133 Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf Lauren Bentons Diagnose von der »un­ evenness« imperialer Herrschaft und imperialer Geografien. Benton, A Search for Sovereignty.

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allem auf moderne und postmoderne Strukturen schaut, kann und muss sich auch auf vormoderne Gesellschaften richten. Diese Perspektive bestimmt auch die weiteren Kapitel, in denen Expansion, imperiales Selbstverständnis und Raumbilder explizit historisiert werden und Ambivalenzen betrachtet werden, welche die Wahrnehmung des nordpazifischen Raumes und Nordwestamerikas als Teil des russländischen Imperiums prägten.

3. Raum und Menschen: Besitzkonzepte auf dem Weg in den Nordpazifik1

3.1 Einleitung: Kein Besitz? Im Jahre 1784 instruierte der Unternehmer Grigorij Šelichov seinen Verwalter Alexander Baranov detailliert über eine vorzunehmende Zeremonie auf dem amerikanischen Festland: Baranov sollte, nachdem er einen geeigneten Platz für eine Siedlung gefunden hatte, alle Menschen zusammenrufen, die hier in Zukunft leben würden. »Dann sollst Du den Ort und seine Umgebung mit dem Namen Ihrer Kaiserlichen Majestät bezeichnen, der Selbstherrscherin Russlands, und formell und mit Waffen, unter Gewehrsalven und mit lauter Stimme in Anwesenheit aller erklären, dass dieses Land im Besitz des Russländischen Imperiums ist. (čto sija zemlja sut’ vladenija Rossijskoj imperii).«2 Šelichov erklärte ausführlich weitere Details: Baranov sollte ein »großes Wappen« dort aufstellen lassen, wo das Fort zu bauen sei, sowie ein hohes Kreuz in den geplanten Wohnquartieren errichten. »Selbstverständlich« sollte all dies von einer »passenden« religiösen Zeremonie begleitet werden, bei welcher der Archimandrit ein besonderes Gebet sprechen würde, mit dem er den Allmächtigen um Gesundheit für Ihre Kaiserliche Majestät, die gesamte Kaiserliche Familie sowie alle loyalen Untertanen bat. Die Konzeption dieser geplanten Zeremonie dürfte nur wenigen Lesern überraschend erscheinen, kennt man sie so oder ähnlich doch zur Genüge aus anderen historischen Texten und Abbildungen. Visuelle Darstellungen von »Eroberern«, die mithilfe von Flaggen und Kreuzen fremde Terri­ torien in Besitz nehmen, prägen das populäre und weitgehend auch das

1 Eine frühere Version der hier präsentierten Gedanken findet sich in: Winkler, From Ruling People. 2 1794 g, avgusta 9. Pis’mo G. I. Šelichova pravitelju Severo-vostočnoj amerikanskoj kompanii A. A. Baranovu, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 336–353, 339. (Herv. i. O.).

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wissenschaftliche Bild von imperialer Expansion.3 Šelichovs Ausführungen zu Gewehrsalven, religiösen Zeremonien und offiziellen Benennungen passen vollständig in dieses Bild, das vor allem von Figuren wie Kolumbus, Cabot oder Cook bestimmt wird. Umso bemerkenswerter ist die Detail­ genauigkeit, mit der Šelichov seine Instruktion formuliert. Müsste Baranov, nach gut zweihundert Jahren russländischer Expansion nach Süden und­ Osten, nicht von selbst wissen, was er zu tun hatte? Ganz offensichtlich wusste er es nicht und war hier mit für ihn neuen Strategien und Vorstellungen konfrontiert. In der Forschung ist diese Problematik bisher kaum beachtet worden. Wenn beispielsweise Gwenn A.­ Miller etwas lapidar formuliert: »Each new body of land they encountered, they claimed in the name of the Russian crown«,4 so folgt sie dem klassischen Bild von europäischer Expansion und Inbesitznahme. Doch, um eine Aussage Yuri Slezkines dagegen zu stellen: »There was no indication that the tsar and his men had any interest in claiming any land or people the way Columbus ›took possession‹ of the New World.«5 Dieser differenzierenden These entspricht die Erfahrung, dass eine genaue Betrachtung der Quellen und die Suche nach detaillierten Angaben über die Zeremonien und Rechtfertigungen einer russländischen imperialen Inbesitznahme von Land für die Zeit vor dem späten 18.  Jahrhundert weitgehend ergebnislos bleiben. Die zahlreichen in Quellen und Forschung dargestellten, für die kultur­ wissenschaftliche Interpretation so ergiebigen Zeremonien, Symbole und Rituale, welche die britische, spanische und französische Imperialgeschichte bieten, scheinen hier zu fehlen. Aus diesem Fehlen von Symbolen der Inbesitznahme einerseits und der gleichzeitigen, ganz offensichtlich sehr dynamischen imperialen Expansion Russlands andererseits ergeben sich die zentralen Fragen dieses Kapitels: Auf welche Art und Weise wurden neue Gebiete zu einem Teil des russländischen Imperiums gemacht? Wie funktionierte Expansion vor allem in Ostsibirien und im nordpazifischen Raum und welche Entwicklungen sind zu beobachten? Welche Interessen verfolgten die Akteure in dieser Region? Dabei soll auch der von Slezkine angedeutete Vergleich mit anderen europäischen Mächten zumindest punk3 Von den zahlreichen Beispielen seien nur einige genannt: Lawrence, Columbus Taking Possession, Statue (1893). Klassisch sind die Illustrationen in Montgomery, The beginner’s American history, S. 9 und 14 oder auch Anonymus, John Cabot Landing on the Shores of Labrador. 4 Miller, Kodiak Kreol, S. 29. 5 Slezkine, The Sovereign’s Foreigners, S. 480.

Einleitung: Kein Besitz?

tuell weiter verfolgt werden. Schließlich wird anhand der Beobachtungen zur Inbesitznahme das Argument entwickelt, dass für Russland im späten 18. Jahrhundert nicht nur ein bemerkenswerter Wandel in grundlegenden Konzepten vom Imperium festzustellen ist, sondern auch ein Prozess zunehmender Einbettung in globale Mechanismen. Prozesse und Legitimationen imperialer Inbesitznahme sind beliebte Untersuchungsobjekte insbesondere kulturwissenschaftlich interessierter Historiker, Literaturwissenschaftler und Anthropologen. Dabei gibt es verschiedene Ansätze, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Zu beobachten ist einmal eine sehr allgemeine Herangehensweise, die mit der Bedeutungsvielfalt des Begriffes possession oder taking possession spielt. Possession ist nicht nur schillernd und vielschichtig, sondern fügt sich auch nahtlos in die Diskussionen um eine kritische und postmoderne Geografie ein. Laurent Dubreuil beispielsweise setzt Kolonialismus explizit synonym zu Besitz (possession).6 Er arbeitet in seiner Analyse imperialer Sprache mit den verschiedenen Assoziationen des französischen »possession« und englischen »possession« und hangelt sich vom Territorialbesitz über Konstruktionen von »Besessenheit« und Sklaverei (human possession) bis hin zu sexueller Ausbeutung, denn: »To possess is also used to describe sexual relations«.7 Es ist die von ihm so genannte »phrase of possession«, die er hier beschreibt – basierend auf der Prämisse von der politischen Wirkmächtigkeit der Sprache. Dubreuils Analyse mit der prominenten Bevorzugung des Besitzkonzeptes im kolonialen Diskurs ist keineswegs ungewöhnlich: Vor allem in der postkolonial und diskurstheoretisch informierten Forschung hat sich possession zu einem allgegenwärtigen Synonym für Macht entwickelt. Die wachsende Sensibilität für die Bedeutung von Sprache, Symbolen und Wissen in allen machtbestimmten Hierarchien, vor allem aber in kolonialen Strukturen, hat wichtige Zusammenhänge deutlich gemacht. Zuweilen aber führt sie auch zu einer mehr assoziativen als analytischen Verbindung von Konzepten und endet in einer gewissen Beliebigkeit, wenn jede Form von Wissen und Erforschung unmittelbar als »Besitzstrategie« ausgelegt und mit »Herrschaft« gleichgesetzt wird.8 Aus einer anderen Richtung kommend, argumentiert Stuart Banner dagegen für eine sehr saubere Trennung von »Souveränität« auf der einen 6 Dubreuil, Empire of language, S. 15. 7 Ebd., S. 22. 8 z. B.: Greenblatt, Marvelous Possessions. Clarke, Taking possession, S.  455. QuispeAgnoli, Taking Possession.

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Seite und »Besitz« auf der anderen. »Souveränität« meine Herrschaft und sei eine staatliche Angelegenheit, während »Besitz« sich auf privates Eigentum beziehe.9 Diese Trennung ist analytisch und systematisch tatsächlich von großer Bedeutung und bildet einerseits einen wichtigen Schritt, um die zuweilen allzu assoziative Herangehensweise vieler Kulturhistoriker zu überwinden. Andererseits aber finden sich in der empirischen Betrachtung doch zahlreiche Beispiele, welche es problematisch machen, staatliche Souveränität und privaten Besitz strikt auseinanderzuhalten. Doch auch wenn Banners Trennung sich historisch herleiten und begründen lässt, bietet die Vergangenheit doch auch zahlreiche Gegenbeispiele: Geschichten von Herrschaft und Handel, die nicht den Konzepten von Öffentlichem und Persönlichem, von staatlichem Territorium und privatem Grundbesitz entsprachen. Dazu gehört unter anderem die verbreitete Strategie, private Unternehmen mit Herrschaftsaufgaben in kolonialen Gebieten zu betrauen, oder auch das Konzept, Territorien – wie beispielsweise Louisiana oder natürlich Russisch Amerika – tatsächlich wie eine Ware oder privaten Landbesitz zu verkaufen. Die von Banner konstatierte klare Trennung von Souveränität und Besitz ist darüber hinaus eine moderne Entwicklung, die in der Frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinein keineswegs so eindeutig war wie vermutet. Und so erlaubt die Quellensprache häufig keine klare analytische Unterscheidung, sind doch Begriffe wie possession oder vladenie komplexer als es die moderne Staatstheorie erlaubt, die Herrschaft und Eigentum voneinander abgrenzen will. Dass auch genau diese moderne Staatstheorie gerade englischer Prägung Herrschaft und Besitz in einem engen, nicht selten dynamischen Verhältnis zueinander sieht, sei an dieser Stelle nur als weiterer Aspekt erwähnt, der die Komplexität des Themas deutlich macht.10 Die Forschung hat jedoch noch mit einem weiteren Problem zu kämpfen: allzu häufig gehen Historiker von einer uniformen Praxis imperialer Aneignung aus. Vor allem britische Traditionen und Vorstellungen von Macht und Besitz werden dabei nicht selten verallgemeinert und zu einem – in diesem Falle pejorativ verstandenen – Modell für europäische imperiale Politik gemacht.11 Doch haben explizit vergleichend angelegte Forschungen gezeigt, wie unterschiedlich imperiale Macht implementiert und symbolisch deutlich gemacht wurde. 9 Banner, How the Indians lost their land, S. 6–8. 10 Vgl. u. a. Arneil, John Locke and America. Brewer u. Staves, Early modern concep­ tions. Lottes, Der Eigentumsbegriff. Angster, Erdbeeren und Piraten, S. 16. 11 Beispielsweise bei Despoix, Die Welt.

Einleitung: Kein Besitz?

Vor allem Patricia Seed hat sich verdient gemacht um die Analyse unterschiedlicher frühneuzeitlicher Konzepte und Praktiken der Inbesitznahme. Britische Eroberer, so Seed, setzten ihre traditionelle Besitzkultur unmittelbar in den Kolonien um und verknüpften die »sinnvolle« Nutzung von Land, persönliche Anwesenheit des »Herrn« und zumindest symbolische Elemente einer Bebauung (wie beispielsweise Zäune)  direkt mit imperialer Macht.12 Spanische Kolonialisten dagegen legten besonderen Wert auf juristische Zeremonien und verstanden ein Stück Land, vor allem aber die darauf lebenden Menschen dann als »spanisch«, wenn bestimmte Voraussetzungen wie das offizielle Verlesen von Erklärungen erfüllt waren. Darüber hinaus wurden Flaggen und namentlich Kreuze aufgestellt, um die Eroberung zu manifestieren.13 Frankreich betonte in der Frühen Neuzeit seine religiöse Mission und band die Inbesitznahme an religiöse Prozessionen. Entscheidend für die inszenierten Rituale war dabei das Konzept des Konsens, der religiös begründeten Allianz.14 Portugal, ebenfalls den missionarischen Charakter seiner Expansion hervorhebend, demonstrierte seine Inbesitznahme durch das Errichten steinerner Stelen. Vor allem aber spielte für das portugiesische Besitzverständnis das Moment der Erstentdeckung und der Fähigkeit, die geografische Position eines Ortes präzise zu benennen, eine zentrale Rolle15 – ein Legitimationselement, das später von anderen Mächten übernommen werden sollte.16 Alle diese Mächte konstruierten Voraussetzungen imperialer Besitznahme und kommunizierten ihre Ansprüche gegenüber der indigenen Bevölkerung sowie dem juristischen und politischen Diskurs im Mutterland, vor allem aber gegenüber anderen Mächten, um diese von möglichen Ambitionen abzuhalten. Das russländische Imperium spielt in dieser Forschung so gut wie keine Rolle. Es wird entweder stillschweigend ignoriert oder in einen imperialen Besitzdiskurs eingeordnet, der  – weitgehend ebenso stillschweigend  – als universal homogen vorausgesetzt wird.17 Das bereits erwähnte Zitat von Gwenn A. Miller bildet ein solches Beispiel,18 ebenso die eher lakonischen Hinweise in Kellers ansonsten so sehr detailliert ausgearbeiteten Buch zu 12 Seed, Ceremonies of possession, S. 16–40. 13 Ebd., S. 70. 14 Ebd., S. 44. 15 Ebd., S. 102. 16 Despoix, Die Welt, S. 37 f. 17 Wagner, Creation of Rights. Keller, Creation of Rights. Banner, Possessing the Pacific. 18 Miller, Kodiak Kreol, S. 29. Ähnliches bei Black, Promyshlenniki, S. 279.

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den Praktiken imperialer Inbesitznahme.19 Folglich stellt sich die Frage, wie Russland in diesem Zusammenhang zu betrachten ist: Erweist es sich einmal mehr als Außenseiter im europäischen Konzert? Oder als Nachahmer europäischer Traditionen? Hatte Russland schlicht kein Interesse oder einfach keine genügend ausgebildete juristische Kultur, um elaborierte Konzepte für eine Inbesitznahmen zu entwickeln? Diese Fragen sind nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Vielmehr eröffnen sie ein Fenster in eine Forschungsdiskussion, die sich bei genauerem Hinsehen doch als komplexer erweist als erwartet – und mit diesem Kapitel noch um eine weitere Dimension bereichert werden soll. Denn der national-imperiale, potentiell essentialisierende Ansatz, den vor allem Seed, Keller und Wagner verfolgen,20 ist nicht ganz unproblematisch, wenn es sich auch anzubieten scheint, zur englischen, französischen und spanischen Besitzkultur noch eine russische/russländische hinzuzufügen. Schließlich zeigen detaillierte Untersuchungen zur Geschichte imperialer Inbesitznahme oft, wie wenig von einer einheitlichen nationalen Praxis oder einheitlichen Vorstellungen gesprochen werden kann. So hat kürzlich John Darwin darauf verwiesen, wie wenig konsistent beispielsweise die britische Politik hier war.21 Taking possession meinte durchaus etwas anderes, je nachdem ob es sich um einen Akt in Asien, Australien oder Afrika handelte, und ob wir vom 17., 18. oder vom 19. Jahrhundert sprechen. Eine spezifische und womöglich homogene englische Kultur sei hier nicht zu er­kennen.22 Die aktuellen Erkenntnisse über Imperien als genuin heterogen und uneinheitlich zeitigen auch hier wichtige Resultate. Von entscheidender Bedeutung ist schließlich auch ein sehr grundlegender historischer Entwicklungsprozess. Immerhin waren mittelalterliche und frühmoderne Herrschaft nicht territorial, sondern müssen grundsätzlich als Herrschaft über Menschen – nicht über Räume – verstanden werden.23 Moderne Vorstellungen von Territorialität entstanden erst – in verschiedenen Regionen auf unterschiedliche Weise – seit dem 17. Jahrhundert. 19 Keller, Creation of rights. 20 Seed, Ceremonies of possession, S. 3–5. Dies., Taking Possession and Reading Texts, S. 9. 21 Darwin, Unfinished empire, Kapitel 3.  Siehe auch MacMillan, Common and Civil Law. 22 Dazu auch Angster, Erdbeeren und Piraten, S. 84 f. 23 Akerman, The Structuring, S.  141. Krause, Die Grenzen Europas, S.  44. Benton, A­ Search for Sovereignty, S. 287. Oder auch, natürlich, über Handelswege und Verbindungen: Phillips, The medieval expansion, S. 255. Gillis, Islands of the Mind, S. 86.

Expansion im Moskauer Reich

Je näher man schaut, desto komplexer wird also das Bild. Im Folgenden wird die Entwicklung russländischer Praxen der Inbesitznahme, der Annexion oder auch des Installierens von Souveränität in Ostsibirien und dem nordpazifischen Raum analysiert. Im Zentrum stehen dabei erneut Wahrnehmungs- und Konstruktionsprozesse. Dennoch gehe ich nicht aus von kulturellen Unterschieden als entscheidendem Erklärungsmoment, und es soll keine genuin russische Traditionslinie gezogen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Vielfalt im russländischen Imperium ähnlich groß war wie die im britischen. Deshalb wird der Blick gelenkt auf kulturelle Bedingungen, aber auch auf politische Entwicklungen und Transferprozesse sowie umwelt- und sozialhistorische Bedingungen.

3.2 Expansion im Moskauer Reich Der zu Beginn dieses Kapitels festgestellte Mangel an Zeremonien der Inbesitznahme bedarf der Differenzierung. Zu finden sind für die Moskauer Zeit durchaus einige Beispiele für die religiöse Weihung von Räumen: durch Zeremonien, mithilfe von Ikonen oder auch durch kosmografische Abbildun­gen.24 Und selbstverständlich sind in den modernisierenden Maßnahmen Ivans IV. auch Konzepte territorialer Kontrolle zu erkennen, insbesondere die Etablierung einer durch Forts und Siedlungen gekennzeichneten Grenzzone.25 Die Probleme, welche sich durch neue Gebiete und die darin siedelnden Menschen ergaben, versuchte man unter anderem mit territorialen Strategien zu lösen: Grenzlinien, Repräsentationspunkte, die religiöse Darstellung der Räume waren hier von Bedeutung. Solche Techniken der Nutzung von Raum zur Kontrolle und Repräsentation – und damit das Kernelement von Territorialität – waren im Moskauer Reich wohlbekannt und spiegelten sich beispielsweise in den ausgeklügelten räumlichen Hierarchien der Kreml-Anlage in Moskau.26 Ebenso sind für das 18.  Jahrhundert klare Grenzziehungen und Besitzkonzepte zu erkennen, wenn es um die Expansion nach Westen geht.­ Vytautas Petronas beschreibt, wie wichtig und dringend die Festlegung von

24 Romaniello, The Elusive Empire, S. 34. Kivelson, The Souls. Dies. Cartographies. 25 Romaniello, The Elusive Empire, S. 38. 26 Rowland, Two Cultures.

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Grenzverläufen und die Etablierung entsprechender Zeichen bei der Teilung Polens bereits 1772 waren.27 Doch sind im Gegensatz dazu für das Gewinnen neuer Gebiete im sibirischen und vor allem nordpazifischen Raum zahlreiche Quellenfunde verfügbar, die in eine andere Richtung weisen und das Konzept der Territorialität problematisch erscheinen lassen. Paradoxerweise ist gerade in der Zeit, die im Rückblick als eine Phase so ungemein schneller Raumerweiterung erscheint, einer Ära also, als das Moskauer und später das Russländische Imperium Sibirien vereinnahmte und damit zu seiner beeindruckenden Größe wuchs, dieses Wachstum keineswegs vorrangig als Aneignung von Raum verstanden worden. Entsprechend sind für das 17. und frühe 18. Jahrhundert keine expliziten Zeremonien oder Symbole der Inbesitznahme zu finden. Zumindest wenn es um Nordostsibirien und den Nordpazifik geht, er­ weisen sich die vereinzelten Fälle, welche die Literatur als Beispiele für die formale und symbolische Inbesitznahme von Land vor den 1760er Jahren anführt, bei näherem Hinsehen als ausgesprochen zweifelhaft: Der Kosake Vladimir Atlasov habe, so die Annahme, auf seiner Kamčatka-Expedition ein Holzkreuz errichtet – im Rahmen einer Inbesitznahmezeremonie. Doch diese Behauptung von William Coxe, die von verschiedenen Forschern übernommen wurde, überzeugt nicht.28 Atlasov selbst beschreibt weder Kreuz noch Zeremonie.29 Wenn er tatsächlich ein Holzkreuz aufgestellt hat – worauf eine Erwähnung bei Gerhard Müller schließen lässt30 – so war dies offenbar nicht wichtig genug, um Platz in seinem Bericht zu finden. Vermutlich handelte es sich hier also um das Errichten eines Orientierungszeichens für künftige Reisende31 und keinesfalls um eine Zeremonie von zentraler Bedeutung für das Imperium.32 Und auch die an anderer Stelle zu findende Behauptung, Aleksej Čirikov habe am 18. Juli 1741 einen Offizier auf das amerikanische Festland geschickt, um dort das Land formal in

27 Petronis, Constructing Lithuania, S. 62. 28 Coxe, Account of the Russian discoveries, S. 4. Keller, Creation of rights, S. 146 f. und Green, The law of nations and the New World, S. 15 f. 29 Skaski Vladimira Atlasova o putešestvii na Kamčatku, in: Prokof ’ev, Zapiski, S. 415–428. 30 Müller, Nachrichten von den neuesten Schiffahrten. 31 Dies war üblich, wie aus Sauers Bericht deutlich wird: Sauer, An Account, S. 173. 32 Eine ähnliche Schilderung bei Pierre Louis Le Roy ist mindestens ebenso widersprüchlich und zweifelhaft: Le Roy, Priključenija četyrech rossijskich matrosov. Siehe dazu: Roberts, Four against the Arctic, S. 145.

Expansion im Moskauer Reich

Besitz zu nehmen,33 findet in den entsprechenden Quellen keinen Rückhalt. Čirikov, sich explizit auf die offiziellen Instruktionen berufend, gab Dementiev verschiedene Aufträge; eine Inbesitznahme aber erwähnte er nicht.34 Es geht also in zahlreichen Berichten und Instruktionen nicht um die Einbeziehung oder gar Inbesitznahme von Räumen. Stattdessen steht etwas anderes im Zentrum des Interesses: die Gewinnung neuer Menschen. Quellen betonen die Bedeutung von besiedelten Gebieten. Zu nennen sind hier beispielsweise die Anweisungen von 1616, eine Liste der tributzahlenden Untertanen in Sibirien anzufertigen35 oder auch die Instruktionen für Karto­grafen aus dem Jahr 1696, welche sich stark auf die Verzeichnung von Städten und Siedlungen, insbesondere jasačnye volosti, also Siedlungen mit Tribut zahlenden Menschen, konzentrierten.36 1710 wurde dem Kosaken Vasilij Savostjan explizit aufgetragen, Menschen zu suchen und aus fried­ losen (nemirnye)  Völkern friedvolle, loyale und vor allem Tribut zahlende Untertanen zu machen.37 Das Moskauer Imperium wurde aufgebaut, indem neue Völker »angeworben« wurden, ob mit »Güte« (laskavost’) oder Gewalt, mithilfe von Geiselnahme oder der Übergabe von Geschenken. Kommunikation war entscheidend. Der Eid und das Versprechen, dem Zaren gegenüber loyal zu sein und die verlangten Tribute zu zahlen, bildeten die Grundlage für die Einbeziehung von Menschen in das russländische Imperium.38 Entsprechend beziehen sich die entscheidenden Quellenbegriffe, mit denen zwischen »eigen« und »fremd« unterschieden wurde, auf Menschen: mirnye und nemirnye bzw. jasačnye und nejasačnye.39

33 Collado, Mámalni, S. 12. 34 Raport A. Čirikova v admiraltejskuju kollegiju, 7. 12. 1741, in: Pokrovskij, Ekspedicija Beringa, S. 273–284. Lebedev, Plavanie A. I. Čirikova, S. 215 f. 35 Gramota v Mangazeju voevode Ivanu Birkinu o posyl’ke v ust’e Eniseja, in: Müller,­ Istorija Sibiri II, S. 271–273. 36 Nr. 1532, 10. 1. 1696. O snjati čerteža Sibiri na cholste s pokazaniem v onom gorodov, selenii, narodov i razstojanij meždu uročiščami, in: PSZ III, S. 217. Iz otpiski s reki Kolymy jakutskomu voevode Petru Golovinu služilogo čeloveka Vtorogo Gavrilova s tovariščami o pervom pochode S. Dežneva i F. Alekseeva na Anadyr, in: Belov, Russkie morechody, S. 110 f. 37 Nakaz jakutskomu kazačnemu desjatniku Vasiliju Savostjanovu, 9. 9. 1710, in: Timofeev, Pamjatniki I, S. 417–428. 38 Zu den Techniken der Tributeintreibung siehe u. a. Slezkine, Arctic Mirrors. Khodarkovsky, Ignoble Savages. 39 Zur komplexen Geschichte der Terminologie des »Anderen« im russländischen Imperium siehe u. a. Slocum, Who, and When.

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»Kommunikation« hat hier, dies soll festgehalten werden, nichts mit Toleranz und Freiheitlichkeit zu tun; und dass die in den Quellen vielbeschworene »Freundlichkeit« oder auch »Freundschaft« als imperiale Strategie und keinesfalls als kollektiver Charakterzug gesehen werden muss, versteht sich auch fast von selbst. Die Strategie des »laskavost’«, die eine Konstante der Ostexpansion bis ins späte 18. Jahrhundert hinein bleiben sollte,40 der Integration und des Aufgreifens lokaler Strukturen diente dazu, Loyalitäten zu schaffen und Traditionen zu erfinden und ist nicht nur in der russ­ländischen imperialen Geschichte zu finden.41 Hinzu kommen die zahlreichen historisch belegten und die sicherlich noch zahlreicheren nicht bekannten Missverständnisse und Konflikte zwischen »loyalen« Untertanen und imperialer Bürokratie, häufige Fälle von Gewalt und Machtmissbrauch.42 »Kommunikation« als imperiale Strategie impliziert also keineswegs eine moralische Wertung;43 es geht ausschließlich um die Beobachtung, dass das Imperium sich vergrößerte und seine Macht erweiterte, in dem es neue Menschen – und nicht in erster Linie Land – inkorporierte. Diese Überlegungen stützen die Aussage Yuri Slezkines, dass im russländischen Imperium »new lands contained little besides more ›foreigners‹; and new foreigners were only useful if they could provide ›profit‹ for the tsar«44. Natürlich gab es ein Interesse an Bodenschätzen und das Bedürfnis, neue Territorien als Jagdgebiete zu erschließen. Dennoch macht die starke Be­ tonung der Menschen in den Quellen zur Geschichte Sibiriens deutlich, wie sehr Land im Grunde nur als die Basis gesehen wurde, auf der die letztlich wichtigste Ressource – der Mensch – existierte. Eine nahe liegende Erklärung für eine solche Konzentration auf die Bevölkerung ergibt sich aus der bekannten Tatsache von Russlands Größe. Während es an Raum nicht mangelte, war es ausgesprochen problematisch, 40 Siehe z. B. Order, in: Kollekcija Gennadija Judina, http://frontiers.loc.gov/cgi-bin/query/ r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER+@od1 %28mtfms+y0010006 (12.4.2016) 41 Dean, Uses of the Past on the Northwest Coast, S. 266. Auch Matsuda beschreibt die französische imperial strategy als geprägt von »domination«, »possession« und »love«. Matsuda, Empire of love. 42 Siehe z. B. Crowell, Ethnicity and Periphery, S.  98. Liapunova, Relations with the Natives. 43 Auf die Diskussionen um revisionistische Perspektiven auf Imperien kann hier nicht eingegangen werden. Doch erscheinen die Implikationen sich zumindest aus westlicher Perspektive durchaus zu unterscheiden für den russländischen Fall einerseits und britischen oder französischen Kolonialismus andererseits. 44 Slezkine, Naturalists Versus Nations, S. 170.

Expansion im Moskauer Reich

die Loyalität der Untertanen zu sichern, die Staatskasse zu füllen und Arbeitskräfte für Landwirtschaft, Jagd und Heer zu organisieren. Auch die Tatsache, dass ein so großer Anteil der Bevölkerung in Sibirien nomadisch lebte, machte eine im klassischen Sinn territoriale Herangehensweise problematisch. Über die Inbesitznahme von Land die Mobilität von Menschen zu kontrollieren, musste in einem frühneuzeitlichen Staat von solch großen räumlichen Ausmaßen hoffnungslos erscheinen. Erfolgversprechender war die Strategie, die Menschen unmittelbar als Untertanen an das Imperium zu binden. Es erscheint also durchaus nachvollziehbar, dass aus rein praktischen Gründen weniger Interesse an Raum als Interesse an Menschen explizit gemacht wurde. Hinzu kommt die russländische »Tradition der Steppe«,45 die Russland auch in die Nähe der von Charles Maier beschriebenen »nomadischen Imperien« rückt, welche sich vor allem auf die Kontrolle von Menschen, nicht von Territorien konzentrierten:46 Auf ihrem Weg durch Sibirien hatten russländische Jäger und Beamte mit den verschiedensten Problemen zu kämpfen. Die Konfrontation mit einem anderen Imperium, das ähnliche Machtansprüche gestellt hätte, blieb jedoch die Ausnahme. Die klassischen Zeremonien formaler Inbesitznahme durch Imperien, seien es Prozessionen, Zeichen, Erklärungen oder Grenzen, richteten sich aber in erster Linie  – wenn auch nicht immer erfolgreich  – an andere, konkurrierende Imperien, welche die eigenen Ansprüche anerkennen sollten. Eine solche interimperiale Kommunikation war für Moskau kaum notwendig. China als große imperiale Macht in Asien wurde eher umgangen als konfrontiert. Wo es Wettbewerb mit China gab, dort konzentrierte dieser sich weitgehend auf den Konflikt um Tribut zahlende und militärische Unterstützung gewährleistende, nomadische Untertanen47  – Besitz von Land spielte hier kaum eine Rolle.48 Und bemerkenswerterweise legte Russland auch dann eine erstaunliche Zurückhaltung an den Tag, als es schließlich doch zur Klärung des Grenzverlaufs zu China kam. Im Text des Vertrages von Nerčinsk von 1689 wurde dem Qing-Kaiser großzügig das Recht eingeräumt, Grenz­ 45 46 47 48

Dazu generell Khodarkovsky, Russia’s steppe frontier. Maier, Among Empires, S. 83 f. Khodarkovsky, Where two worlds met. Perdue, China marches west. Als potentieller Konkurrent in Kamčatka wurde China allerdings 1727 betrachtet. Iz donošenija Senata Ekaterine I o rezultatach ekspedicii polkovnika Ja. A. Elčina v 1716 g, a takže o ›skaske‹ A. F. Šestakova o pokazanijach I. P. Kozyrevskogo, 18. 1. 1727, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 134–136.

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markierungen »nach seiner Wahl« zu errichten.49 Für die russländische Seite aber wurden solche Markierungen nicht beansprucht. Dass man offenbar kein Interesse daran hatte, diese Grenze deutlich und möglichst unangreifbar zu machen, zeigt sich auch daran, dass die russländische Seite die Regelungen des Vertrages von Nerčinsk für einige Jahrzehnte tunlichst ignorierte und sogar sabotierte.50 Die Unstimmigkeiten zwischen dem lateinischen Vertragstext und der russischen Übersetzung erschienen ebenso wenig problematisch wie die Tatsache, dass man kaum Landkarten und nur wenig Wissen über die verhandelte Gegend hatte.51 Territoriale Abgrenzungen waren weder notwendig noch erwünscht  – das Imperium funktionierte und wuchs ja, wie bereits im Kapitel zu Linien und Flächen verdeutlicht, nicht zuletzt über das Konzept offener, beweglicher frontiers.

3.3 Die Kamčatka-Expeditionen Expansion im Moskauer Reich konzentrierte sich also auf Menschen – wie aber verhielt es sich im zunehmend territorial orientierten 18. Jahrhundert? Bereits seit der Zeit Peters und Katharinas I., insbesondere aber seit der Ausrüstung und Durchführung der beiden Kamčatka-Expeditionen unter der Leitung Vitus Berings, zeigen die Quellen ein deutliches neues Interesse an »Land«. Der stetig wachsende Wunsch nach präziser und vollständiger kartografischer Erfassung und die sich entwickelnde Vorstellung von einem imperialen Territorium wurden bereits im ersten Kapitel diskutiert. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch Reisende, die »neue«, bislang unbekannte, erst jetzt »entdeckte« Gebiete betreten sollten, ausdrücklich auf die Bedeutung des Landes hingewiesen wurden. Bering erhielt im Jahre 1732 die Instruktion, er solle die nordwestliche Küste Amerikas so gründlich wie irgend möglich erforschen und kartieren. In Bezug auf die dort vermuteten Menschen äußerte sich das Admiralitätskollegium dagegen ausgesprochen zurückhaltend: Sollte die Expedition auf Menschen (ljudi) treffen, so war man instruiert sich freundlich zu verhalten und die Indigenen mit Geschenken friedlich zu stimmen. Wenn diese dann den Willen äußerten, Untertanen Ihrer Majestät zu werden, so sollte ihnen dieser Wunsch gewährt 49 Nerčinskij dogovor 27-go avgusta 1689 goda, S. 6. 50 Frank, The Territorial Terms. Maier, Gerhard Friedrich Müller’s Memoranda, S. 222. Perdue, Empire and Nation, S. 298. Tolmacheva, The Early Russian Exploration, S. 55. 51 LeDonne, The Russian empire and the world, S. 156.

Die Kamčatka-Expeditionen

werden, und auch jasak sollte man akzeptieren. Doch standen solche Verhandlungen keineswegs im Vordergrund: Keinesfalls sollte man sich zu lange damit aufhalten (ne meškat’) und sich vielmehr auf ein schnelles Fortkommen und gründliche Kartierungsarbeiten konzentrieren.52 Bering also als neuer Kolumbus? Ist hier ein Bruch zu erkennen von einem nicht-territorialen Reich in Moskauer Zeiten zu einem territorialen Petersburger Imperium? Wuchs das Imperium von nun an weiter durch die Inbesitznahme von Land? Die im 18.  Jahrhundert so populäre Rhetorik der »russländischen Kolumbusse«53 legitimiert sich durch den eindeutig belegbaren Wunsch nach mehr Wissen und das in Russland relativ neue Konzept der »Entdeckung«. Dennoch wäre die These von einer Zäsur in Bezug auf die Konzepte von Territorialität und Landbesitz deutlich überspitzt: denn es finden sich in den Quellen keine Hinweise darauf, dass auf den beiden Kamčatka-Expeditionen Zeremonien der Inbesitznahme von Land gefeiert worden wären. Noch immer sind keine juristischen Rituale belegt, keine expliziten Erklärungen einer Inbesitznahme, keine Wappen, Stelen oder Kreuze. In vieler Hinsicht also änderten sich die Strategien der Expansion nicht. Neben dem neuen Verständnis von Land, dem Konzept von Entdeckungen und der Neugier auf naturhistorische Schriften stand nach wie vor die imperiale Expansion als Prozess der Kommunikation mit und der Anwerbung von Menschen. Nur wenige Beispiele von vielen mögen hier ausreichen: 1727 schrieb der Senat über die Expedition El’čins und ging dabei ausdrücklich auf das Problem des so genannten maloljudstvo in Ostsibirien ein. Folglich sollten künftige Expeditionen »Völker und Länder« (narodov i zemel’) unter die Herrschaft ihrer Majestät bringen.54 Im gleichen Jahr wurde G ­ olov Šestakov aufgefordert, Menschen freundlich zu überzeugen, sich unter die Herrschaft Ihrer Kaiserlichen Majestät zu begeben. Die Instruktion formu52 Nr. 6291, 28. 12. 1732. Vysočajše utverždennyja pravila, dannyja Kapitanu-Komandoru Beringu, otnositel’no plavanija ego v Vostočnomu Okeane, in: PSZ VIII, S. ­1002–1013, 1006. 53 Vor allem Lomonosov und Deržavin nutzten die Kolumbus-Symbolik gern: Lomonosov, Petr Velikij, S. 280–310. Lomonosov, Oda na toržestvennyj den’vosšestvija na vserossijskij prestol. Deržavin, Grabinschrift für Šelichov, in: Kollekcija Gennadija Judina, Digitalisat: http://frontiers.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field %28NUMBER+@od1 %28mtfms+y0010007. (12.4.2016) 54 Iz donošenija Senata Ekaterine I o rezultatach ekspedicii polkovnika Ja. A. Elčina v 1716 g, a takže o ›skaske‹ A. F. Šestakova o pokazanijach I. P. Kozyrevskogo, 18. 1. 1727, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 134–136.

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liert das Ziel, »neues Land« zu gewinnen, (dlja togo prizyva i sysku novych zemlic), aber zu diesem Zwecke mussten eben die Einwohner zu Untertanen gemacht werden.55 1766 beschrieb der Seemann Ivan Korovin sein Vorgehen auf Unalaska und Umnak, wo er Geschenke gegen Geiseln tauschte und so seinem Auftrag nachkam, Loyalität und Untertanenschaft zu sichern.56 In gleichen Jahr nahm auch Ivan Solovev explizit Bezug auf seinen Auftrag, »zum Wohle des Reiches [zu handeln], zur Erweiterung des Russländi­ schen und Ihrer Kaiserlichen Majestät Imperiums […] zum Auffinden unbekannter Inseln und dazu, die auf ihnen lebenden nicht-tributpflichtigen Völker unter die höchstselbstherrscherliche Hand Ihrer Kaiserlichen Majestät und zum Zahlen von jasak zu bringen.«57 Umso mehr verdient abschließend die Tatsache eine genauere Betrachtung, dass die Teilnehmer der Bering-Expeditionen eben nicht erstrangig an solcher Kommunikation und Anwerbung interessiert waren. Wie sind dann ihr Auftrag und ihr Vorgehen im Nordpazifik zu verstehen? Die Instruktion Peters an Bering aus dem Jahre 1725 war sehr lakonisch gehalten, sie beinhaltete aber explizit folgende Aufgaben: Bering sollte ein Schiff bauen und dorthin segeln, wo Amerika vermutet wurde. Dort angekommen, sollte er so weit gehen, bis er eine europäische Siedlung fand bzw. Kontakt zu einem europäischen Schiff aufnehmen. Er sollte geografische Informationen einholen, auf einer Karte verzeichnen und nach Petersburg zurückkehren.58 Im Zentrum standen hier klar Informationen – machtorientiert, keine Frage, aber doch nicht mit dem Konzept unmittelbarer Inbesitznahme. Ähnlich in den bereits erwähnten Berichten Čirikovs, der zwar keine formale Inbesitznahme in Auftrag gab, aber von Dementiev verlangte, dieser solle feststellen, ob die Gegend bewohnt sei, gegebenenfalls Kontakt aufnehmen und Gaben verteilen. Vor allem aber sollte der an Land gehende 55 Nr. 5049, 23. 3. 1727. O posylke Jakutskago kazacka Golovy Šestakova dlja perevodov s nemirnymi inozemcami, o vstuplenii im v poddanstvo Rossii, in: PSZ VII, S. 770–772. 56 Report morechoda i peredovščika suda Sv. Živonačal’naja Troica Ivana Korovina s tovariščami praporščiku T. I. Šmaleva ob ich plavanii i prebyvanii na ostrovach Unalaške i Umnake v 1762–1765 gg (26. 7. 1766), in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 120–146. 57 Report morechoda Ivana Soloveva praporščiku T. I. Šmalevu, 1766, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 146–169, 147. 58 Nr. 4649, 5. 2. 1725. Instrukcija Vysočajšče dannaja Kapitanu Beringu, in: PSZ VII, S. 413.

Die Kamčatka-Expeditionen

Dementiev herausfinden, ob und wo es geeignete Ankerplätze für Schiffe gab, ob Anzeichen für wertvolle Bodenschätze zu erkennen seien, wie weit das Land sich erstreckte, ob Flüsse zu sehen waren, welche ins Meer mündeten und ob es weitere Dinge gab, die zu wissen von Nutzen sein konnte.59 Diese Aufgaben machen mehr als deutlich, dass es sich keinesfalls um ein »rein« wissenschaftliches Interesse handelte und dass die Bering-Expeditionen natürlich keinen in irgendeiner Weise unpolitischen oder nichtimperialen Charakter hatten.60 Allein die an Dementiev gestellten Fragen waren eindeutig am konkreten wirtschaftlichen Nutzen und an den Möglichkeiten imperialer Herrschaft orientiert. Auch sonst sprechen die Quellen eine eindeutige Sprache: Imperialer, machtbewusster und stärker auf die Autorität der Herrscherin bezogen als diese beiden Expeditionen nach Osten konnte ein Unternehmen kaum sein. Erneut also die Frage: Weshalb wurden keine formalen Akte der Inbesitznahme vorgenommen? Weniger als ein grundlegender Wandel ist hier eine Schwerpunktsetzung zu erkennen. Die Tatsache, dass Bering nicht explizit aufgefordert wurde, neue Untertanen zu werben, ist weniger ein Hinweis auf eine neue Territorialisierung der Expansion als vielmehr auf den Schwerpunkt, den Berings Expeditionen hatten: Es ging  – bei diesen beiden Expeditionen, nicht aber grundsätzlich in der imperialen Politik  – in erster Linie um Forschung und weniger unmittelbar um die Erweiterung des Imperiums. Diese Schwerpunktsetzung hing sehr stark mit dem Element der Zeit zu­ sammen, mit dem  – im 18.  Jahrhundert neuen  – Motiv der Eile. Bering wurde darauf hingewiesen, keine Zeit zu verschwenden, und auch Čirikov trug Dementiev auf, sich zu beeilen und so schnell wie möglich auf das Schiff zurückzukehren. Das ganze Unternehmen Kamčatka-Expedition wurde unter einem ungeheuren Zeitdruck geplant und ausgeführt, wofür verschiedene Aspekte verantwortlich gemacht werden können. Generell ist für das 18.  Jahrhundert in Russland festzustellen, dass der Wunsch, mit Europa konkurrieren zu können und die zentrale Bedeutung des Konzeptes »Fortschritt« zu gro59 Ganz ähnlich auch Instrukcija V. Val’tona M. S.  Gvozdevu ob opisanii poberež’ja Ochotskogo morja do r. Ul’i, 8. 11. 1740, in: Naročnickij, Russkie ekspedicii, S. 206–207 sowie Iz donošenija Senata Ekaterine I o rezultatach ekspedicii polkovnika Ja. A. Elčina v 1716 g, a takže o ›skaske‹ A. F. Šestakova o pokazanijach I. P. Kozyrevskogo, 18. 1. 1727, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 134–136. 60 In diese Richtung argumentiert allerdings beispielsweise Küntzel-Witt, Wie groß ist Sibirien.

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ßer Eile motivierten. Instruktionen dieser Zeit weisen einen geradezu atemlosen Ton auf: man wollte kein Jahr, keinen Monat verlieren in diesem neuen Wettlauf, in dem man sich befand. Die Bering-Expeditionen sollten außerdem Daten zusammentragen, die notwendig waren für die Zusammenstellung einer Generalkarte und eines imperialen Atlas – ein Projekt von kaum zu erahnendem Prestige, das so schnell wie irgend möglich vorangebracht werden sollte. Und schließlich, in Bezug auf die von Čirikov geschilderte Episode und für die Reisen im Nordpazifik generell, ist darauf hinzuweisen, dass die Jahreszeiten selbst zu Eile anspornten: wollte man nicht auf einer Insel überwintern müssen – wozu sich dennoch einige Expeditionen gezwungen sahen  – so war es absolut notwendig, baldmöglichst zurückzukehren und vor dem frühen Einbruch des arktischen Winters wieder in Ochotsk einzulaufen. In einer solchen Situation musste man Prioritäten setzen. Die auf­wändige und auch oft nicht ungefährliche Kommunikation mit der indigenen Bevölkerung musste warten. Eine formale Inbesitznahme wie beispielsweise die von James Cook beschriebenen dagegen hätte zwar nicht unbedingt viel Zeit in Anspruch genommen  – solche Zeremonien waren aber weder üblich noch erschienen sie notwendig. Die Selbstsicherheit, mit man Dementiev an Land schickte, um herauszufinden, ob und wie Schiffe hier künftig ankern konnten und auf welche Weise das Imperium dieses Land nutzen konnte, weist vor allem darauf hin, dass eine Inbesitznahme nicht wichtig erschien, weil man keine Konkurrenz erwartete. Mit der indigenen Bevölkerung würde man sich später einigen, wenn man herausgefunden hätte, ob der Aufwand sich lohnte. Auf die Idee aber, Kreuze, Wappen, Stelen zu errichten, um mögliche Ansprüche anderer europäischer Mächte abzuwehren, kamen die russländischen Akteure in St. Petersburg und Ostsibirien im frühen 18.  Jahrhundert offenbar nicht. Zur Zeit der Kamčatka-Expeditionen wurde der Nordpazifik als eine fast selbstverständliche Erweiterung Sibiriens, als Bewegungs- und Expansionsraum Russlands wahrgenommen. Die oben erwähnte Eile, der Zeitdruck, der Wettkampf mit europäischen Mächten, bezogen sich aus russländischer Perspektive zu dieser Zeit vor allem auf Fortschrittlichkeit, auf Wissen, auf Kultiviertheit. Um hier zu bestehen, war es wichtig, so schnell wie möglich Informationen über eine Gegend einzu­ holen, an der viele Europäer großes wissenschaftliches Interesse zeigten, die aber – wiederum aus russländischer Perspektive – eindeutig als Expansionsraum des Imperiums betrachtet wurde. Imperialer Territorialbesitz kommt als Kategorie in den Quellen (noch) nicht vor.

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Doch diese Sicherheit, das Betrachten des Nordpazifiks als ein Raum, der dem russländischen Imperium selbstverständlich zustand, und in dem entsprechend keinerlei formalen Besitzansprüche deutlich gemacht werden mussten, sollte in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts zusehends abnehmen.

3.4 Wandel im späten 18. Jahrhundert Wenn die Quellen für das frühe 18. Jahrhundert einen im europäischen Vergleich auffälligen Mangel an Zeichen und Zeremonien der Inbesitznahme aufweisen, so sollte sich dies bald ändern: beginnend mit den 1760er Jahren, verstärkt dann in der Zeit ab ungefähr 1775. Drei Aspekte dieses Wandels sollen in den folgenden Abschnitten analysiert werden: Erstens geht es um ein sich entwickelndes Bewusstsein für den Reiz und die potentielle Bedeutung territorial definierter Macht, das sich zunächst am besonderen Machtraum der Insel manifestierte. In einem zweiten Abschnitt wird untersucht, welche Bedeutung Toponyme und Benennungsprozesse in der russländischen Expansion im Nordpazifik hatten. Kulturelle, politische, aber auch ganz individuelle Interessen und Entwicklungen spielten hier eine große Rolle. Im dritten, ausführlichsten Abschnitt schließlich werden das Auftauchen neuer imperialer Konkurrenten im pazifischen Raum und die sich unmittelbar daraus entwickelnden Vorstellungen von imperialem Besitz entscheidend sein.

3.4.1 Der Topos der Insel Im Jahre 1766 richtete Katharina II. ein Memorandum an den Gouverneur von Sibirien, Denis Čičerin. Darin verlieh die Kaiserin ihrer Freude darüber Ausdruck, dass sechs bislang unbekannte Aleutische Inseln entdeckt und »unter meine Herrschaft gebracht wurden«.61 Die Begrifflichkeit der Untertanenschaft (poddanstvo) wird hier also nicht auf Menschen angewandt, sondern auf ein Territorium. Dabei ist es wohl kein Zufall, dass es sich um

61 No. 12. 589, 2. 3. 1766. O privedenii v poddanstvo šesti Aleutskich ostrovov, in: PSZ XVII, S. 603–604.

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Inseln handelte – eine geografische Einheit, die offenbar besonders häufig territoriales Verhalten geradezu herausfordert. Historiker und Geografen haben »die Insel« als Kristallisationspunkt und gewissermaßen Übungsort für modernes politisches Denken ausgemacht. Godfrey Baldacchino hat auf wunderbare Weise herausgearbeitet, wie – und vor allem weshalb – die moderne Raumwahrnehmung stets unwillkürlich von runden Inseln ausgeht. Seine Erklärung dieses Phänomens geht davon aus, dass diese runde Form »easier to hold, to own, to manage or to manipulate« sei – die kreisförmige Insel als perfekte Gelegenheit für territorial ausgeprägte Herrschaft.62 Dieser Gedanke wurde ähnlich entwickelt von Brian Richardson, Philip Steinberg und John Gillis: Ihre These lautet, dass Inseln Topoi waren, an denen im späten 18. Jahrhundert die Vision eines klar abgegrenzten und einheitlich regierten Territorialstaates und damit langfristig des Nationalstaates entwickelt und gewissermaßen geübt werden konnte.63 Die idealtypisch eindeutige Abgrenzung des modernen Territorialstaates mit seinem auf eine klar definierte Fläche konzentrierten Souveränitätsmodell fand ein Vorbild vor allem in den pazifischen Inseln. Angesichts dieser Überlegungen erscheint es auch für Russland nachvollziehbar, dass es ausgerechnet Inseln waren, welche einen Wandel in der Vorstellung von imperialem Besitz an der östlichen frontier forcierten. Dass dieser Wandel nicht nur auf der sprachlichen Ebene stattfand, sondern dass die Vorstellungen von »Inseln« und »Herrschaft« in eine dynamische Wechselwirkung treten konnten, zeigen die ausführlichen Berichte Grigorij Šelichovs. Die Insel Kodiak, von 1784 bis 1786 der Schauplatz brutaler bewaffneter Kämpfe zwischen Šelichovs Männern und der lokalen Bevölkerung,64 erhält in Šelichovs rückblickender Schilderung eben jenen politischen »Inselcharakter«, den Steinberg und Richardson beschrieben haben. Die Entwicklung von Herrschaft und Autorität in einem als abgegrenzt konzipierten Gebiet übte auf Šelichov offenbar eine große Faszination aus, Kodiak wurde zu einem Experimentierlabor territorialer Herrschaft und verdient deshalb eine genaue Betrachtung. Bereits frühere russländische Seefahrer, wie beispielsweise Stepan Gavrilovič Glotov im Jahre 1763, waren in Kodiak auf entschiedenen Widerstand 62 Baldacchino, Islands. 63 Richardson, Longitude and Empire. Steinberg, Insularity. Sowie Gillis, Islands in the Making. 64 Die Ereignisse auf Kodiak werden – durchaus kontrovers – geschildert von Black, The Conquest of Kodiak. Sowie Miller, Kodiak Kreol.

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getroffen, als sie ihr Steuer- und Pelzjagdsystem zu etablieren versuchten. Šelichov rechnete also mit Konflikten und hatte sich entsprechend vorbereitet. Im August 1784 »kamen wir bey der Insel Küktak65 an, brachten die Gallioten auf der Südseite in den Hafen, und legten uns da vor Anker«.66 Bereits diese vergleichsweise detaillierte Schilderung der Anreise deutet an, dass Kodiak in Šelichovs Bericht eine eigene Topografie erhält. Dies war durchaus nicht üblich: in russländischen Berichten wurden Inseln sonst nicht individuell, sondern als Teile von Inselgruppen, eingebettet in Kanalsysteme und Kommunikationssysteme, dargestellt. Nun aber wird Kodiak in ­Šelichovs Text als ein geschlossener Raum behandelt, dem man sich langsam nähert. Als es dann zu bewaffneten Kämpfen zwischen Russen und den indi­ genen Qikertarmiut gekommen war, schilderte Šelichov diese in stark territorialisierter Weise: In seinem Text werden Festungen gestürmt und verteidigt, Räume besetzt und zugeordnet, Entfernungen präzise benannt, und die ganze Insel erscheint als ein Kampfplatz, den Šelichov fest im Blick hat. Der dramatischste Kampf schließlich findet statt um ein vorgelagertes Felsmassiv, auf das Einwohner Kodiaks sich zurückgezogen haben. Dieser Felsen – abgesondert, unzugänglich, sehr steil – vereint die territorialen Eigenschaften einer Festung und einer Insel in sich: Die Konyag »befahlen uns ernstlich, wir sollten uns von ihren Ufern entfernen«.67 Besitzansprüche funktionieren hier durch die Festlegung klarer Grenzen – unterstützt durch die natürlichen Umrisse der Felseninsel. Die im Text ebenfalls geschilderten nicht unmittelbar militärischen Maßnahmen, mit denen Šelichov den Widerstand der Bewohner Kodiaks zu brechen versuchte, erscheinen nicht minder territorial. Er baute eine Siedlung mit zusätzlichen Festungen, Wohnhäusern für pazifizierte Inselbewohner sowie dem zivilisierenden Raum schlechthin: einem Garten. Die Insel wird in Šelichovs Erzählung durch Räume hierarchisiert und strukturiert, die den jeweiligen Gruppen einen Aufenthalt erlauben oder auch ver­wehren. 65 Küktak ist eine der verschiedenen zeitgenössischen Bezeichnungen für die Insel Kodiak. 66 Šelichov, Rossijskago kupca Grigor’ja Šelichova stranstvovanie v 1783 godu, S. 7. Die deutsche Übersetzung folgt der Ausgabe: Ders., Schelechof’s Reise von Ochotsk, hier S.  170. Ganz ähnlich schildert Šelichov seine Politik auch in einer Instruktion Nastavlenie G. I. Šelechova glavnomu pravitel’ju K. A. Samojlovu, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII–XIX vekach, S. 46–59. 67 Šelichov, Rossijskago kupca Grigor’ia Šelichova stranstvovanie v 1783 godu, S. 10 bzw. Schelechof’s Reise von Ochotsk, S. 172.

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Das Zentrum dieser Struktur besteht aus Šelichovs eigenen Wohnräumen, die als eine Art privates glowing center68 konstruiert werden. Inselbewohner nähern sich der Schilderung Šelichovs zufolge diesem besonderen Raum vorsichtig, ehrfürchtig und mit dem Wunsch nach Schutz und Bildung: »Wenn die armen Leute zu meinem Wohnplatze kamen, […] glaubten sie, außer mir könne es gar keinen Größeren mehr geben.«69 Perfektioniert wird die Territorialisierung Kodiaks schließlich durch ein eigenes Passsystem: »Nachdem die Wilden die Kraft meiner ihnen gegebenen Briefe kennen gelernt, nahmen sie, wenn sie weit auf die Jagd gehen wollten, so zu sagen Erlaubnisscheine von mir.«70 Šelichov konstruiert zunächst eine aus seiner Sicht problematische, »wilde« Territorialität der Insel Kodiak, um diese dann  – durch Kampf und, wie er meint, freundschaftliche Überzeugung – zu überwinden. Dieser Prozess resultiert in einer neuen, zivilisierten Territorialität, die von Šelichov aufgebaut und erhalten wird: »und in der That machte ich dadurch einen solchen Eindruck auf sie [die Qikertarmiut bzw. Konyag, M. W. ], daß sie wünschten und mich baten, alle die auf ihre Insel kommen würden zu vertreiben.«71 Šelichovs Beschreibung der Insel Kodiak ist nicht repräsentativ: sie unterscheidet sich deutlich von dem Umgang mit anderen Inseln im Nord­pazifik und zeigt so, wie sehr die Anwendung territorialer Strategien im Wandel begriffen war. Wenige Jahre später formulierte der Gouverneur Pil’ eine ausführliche Instruktion, in der Šelichov beauftragt wurde, Zivilisation und Ordnung in den neuen Siedlungen an der nordwestamerikanischen Küste zu etablieren. Diese Pläne hielten sich penibel an europäische Vorstellungen von aufklärerischer Entwicklungspolitik  – inklusive Garten, Agrarwirtschaft und natürlich religiöser Erziehung.72 Im nordpazifischen Raum war ein solches Bild erstmals für eine Insel entwickelt worden: für eine Insel, die sich, ganz wie von Richardson und Steinberg beschrieben, als Modell und Übungsraum anbot. Šelichovs Machtinteresse und die daraus entstehenden territorialen Strategien bilden eine überzeugende Illustration für 68 Vgl. Geertz, Centers, Kings, and Charisma. 69 Šelichov, Rossijskago kupca Grigor’ja Šelichova stranstvovanie v 1783 godu, S. 30, bzw. Schelechof’s Reise von Ochotsk, S. 182. 70 Ebd. S. 184. 71 Ebd. S. 182. 72 Order, in: Kollekcija Gennadija Judina, http://frontiers.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/ mtfront:@field%28NUMBER+@od1 %28mtfms+y0010006 (12.4.2016)

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­ odfrey Baldacchinos These, die besondere Geografie der Insel sei »too G powerful to discard; the opportunity to ›play God‹ on/for an island too tantalizing to resist.«73

3.4.2 Die Politik der Namensgebung Wenn im 17. und frühen 18. Jahrhundert keine expliziten Inbesitznahmen stattfanden, so weisen die Quellen doch einen anderen Aspekt auf, der in der Forschung gern reflexartig mit imperialem Besitz in Verbindung gebracht wird und deshalb im Rahmen dieses Kapitels eine genauere Betrachtung verdient: die Benennung und Umbenennung von Inseln, Küstenabschnitten, Buchten und anderen Orten. Die Benennung steht, so der generelle Tenor der Forschung, für den Anspruch, selbständig, und damit ohne Rücksicht auf indigene Interessen und Traditionen, über einen »entdeckten« Ort herrschen zu können. Eine solche Namensgebung gilt als einseitiger, nicht kommunikativer Akt, und die »koloniale« Dimension einer bewussten Neubenennung, einer Korrektur der indigenen Bezeichnungen, als kaum übersehbar. Weithin bekannte Beispiele ergeben sich aus der Umbenennungswut, die Christoph Kolumbus vor der amerikanischen Küste austobte,74 oder auch aus den massenhaften Benennungen James Cooks im Pazifik. Heute toben sich Kulturwissenschaftler ihrerseits aus, wenn sie Namen und Benennungen interpretieren: »the name occupies a unique place in the text.«75 Fraglos sind, wie Jan Tent und Helen Slatyer schreiben, Ortsnamen ein Element kultureller Identität und können damit sehr aussagekräftig sein.76 Doch stellt sich die Frage, ob die oft vorherrschende Prämisse »nomination is equivalent to taking possession«77 so generell und lapidar formuliert unbedingt immer zutreffend sein muss. Ist es tatsächlich so, dass »der bloße Akt, geografischen Entitäten Namen zu geben«, automatisch Macht und Besitz generiert, wie viele Autoren postulieren?78 Vergleichende empiri73 74 75 76 77 78

Baldacchino, Islands, S. 247. Todorov, The Conquest of America, S. 27. Carter, The Road to Botany Bay, S. 12. Tent u. Slatyer, Naming Places, S. 5. Todorov, The Conquest of America, S. 27. Harvey, Zwischen Raum und Zeit, S.  36. Auch Tent und Slatyer formulieren griffig »for when you name a place, you also take ›possession‹ of it«, Tent u. Slatyer, Naming Places, S. 9. Siehe auch Berg, Naming as norming.

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sche Forschungen haben deutliche Unterschiede in der Bedeutung ergeben, welche die jeweiligen imperialen Traditionen dem Akt der Benennung zuschrieben.79 Die Benennung konnte entscheidend sein für den Transfer von Besitz und Souveränität, oder auch nur nebensächliche Bedeutung haben. Sie konnte mit staatlicher Souveränität verbunden sein oder mit den Ambitionen und Emotionen des jeweiligen Reisenden. Wie ordnen sich russ­ ländische Strategien in dieses Panorama ein?80 Grundsätzlich geht die Forschung davon aus, dass die russländische imperiale Tradition eher inkludierend als exkludierend funktionierte und bestehende Traditionen, wo möglich, weitgehend unangetastet ließ. Ebenso wie Eliten (und deren Familiennamen) im Moskauer Reich in die imperiale Hierarchie adaptiert wurden, übernahm man auch zahlreiche Ortsbezeichnungen. Die Expansionsstrategie in Sibirien verließ sich weitgehend auf Auskünfte, die von der indigenen Bevölkerung stammten: Informationen über zurückzulegende Distanzen, die Kompetenzen einheimischer Dolmetscher sowie Ortsnamen. Das Überleben, die Möglichkeiten der Orientierung hingen unmittelbar von solchen Informationen ab. Eine Distanzierung von »indigenen« Namen und eine Strategie der kolonialen Umbenennung sowohl von Orten als auch von Menschen sind für das Moskauer Reich nicht festzustellen.81 Allerdings machen nicht nur historische Quellen, sondern auch noch aktuelle Landkarten deutlich, dass russländische Reisende im 18.  Jahrhundert, und zwar beginnend mit der ersten Kamčatka-Expedition, durchaus viele Orte benannten. Ob Vsevidov-Island, Chernofski Harbor oder Krenitsyn-Island – nicht wenige russische oder auf russische Wurzeln zurückgehende Toponyme (so beispielsweise Three Saints – nach Trechsvjatitel’sk) sind bis heute erhalten geblieben. Doch wer hier einen eindeutigen Hinweis auf Strategien der formalen Inbesitznahme wittert, wird enttäuscht. Die Quellen beinhalten – bis auf sehr wenige Ausnahmen – keine Anzeichen da79 z. B. Schmidt, Mapping. Seed, Taking Possession. Tent u. Slatyer, Naming Places. Tent, Motivations for Naming. 80 Rein beschreibend zu russischen Benennungen im Nordpazifik: Belen’kaya, Russian Place Names in Alaska. 81 Slezkine, The Sovereign’s Foreigners, S. 482. Postnikov, Outline of the History. In Bezug auf den nordpazifischen Raum gibt es von Aleksej Postnikov widersprüchliche Aussagen: einerseits spricht er von einer neuen kolonialen Praxis, Orte »willkürlich« umzubenennen (Postnikov, The Mapping, S. 10), andererseits betont er häufiger, auch im Nordpazifik akzeptierten und nutzten russländische Akteure die traditionellen Toponyme: Postnikov, Learning.

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für, dass die Namensgebung in eine formale Zeremonie eingebettet gewesen wäre. Die kulturwissenschaftliche Prämisse, die Benennung eines Ortes verändere ihn unmittelbar und übe so zwangsläufig Macht über Räume aus, findet in russländischen Quellen keine Belege. Ganz im Gegenteil, so muss man argumentieren, wenn man Sven Waxells Formulierung aus seinem Bericht zur zweiten Bering-Expedition in Betracht zieht: »Ein ganzes Stück landeinwärts sahen wir einen großen Vulkan, den wir auf unserer Karte St. Johannes nannten.«82 Es ging hier offenbar nicht darum, den Ort unmittelbar zu benennen, – und damit in Besitz zu nehmen – sondern ausschließlich darum, ihn »auf unserer Karte« zu bezeichnen und dort unverwechselbar und wiedererkennbar zu machen. Auch die Umstände der Benennung – welche Orte benannt wurden und welche nicht, ob die Reisenden die Insel tatsächlich betraten oder sie nur sichteten – variieren und lassen keine Regeln oder Systematiken erkennen. Vielmehr scheinen zwei andere Aspekte hier eine entscheidende Rolle zu spielen. Am wichtigsten war die Frage der Orientierung. Toponyme spielten in der Moskauer und russischen Geografie und Kartografie traditionell eine sehr prominente Rolle.83 Im Nordpazifik nun stand das Sammeln von Informationen im Vordergrund jeglicher Aktion, und dazu gehörte auch, Berichte und Karten so zu gestalten, dass künftige Reisende sich in diesen Breiten sicher bewegen konnten. Die Benennung von Inseln bildete – neben der Angabe von Längen und Breiten, aber auch der Beschreibung von visuellen Merkmalen – eine wichtige Methode, um Orientierung zu ermöglichen. Dazu konnte eine russische Bezeichnung dienen, welche den Ort nicht nur benannte, sondern auch beschrieb, wie beispielsweise »Runde Insel«­ (Krugloj ostrov).84 Es tat der Orientierung allerdings auch keinen Abbruch, wenn der Name übernommen wurde, den die Reisenden von der indigenen Bevölkerung erfuhren oder von anderen Europäern; auch ein Nebeneinander mehrerer Namen aus unterschiedlichen Wurzeln wurde häufig praktiziert.85 82 Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 78, siehe ganz ähnlich S. 85 f. (Herv. d. Verf.) 83 Russian cartography drawings were extremely rich in toponymy (place names), which was  a crucial parameter organizing all contents of cartographic images. Postnikov, Outline of the History, S. 11 f. 84 Coxe, Account of the Russian discoveries, S. 78. 85 Nr. 4649, 5. 2. 1725. Instrukcija Vysočajše dannaja flota Kapitanu Beringu, in: PSZ VII, S. 413. Müller, Nachrichten von den neuesten Schiffahrten, S. 17.

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Darüber hinaus fällt auf, dass die Teilnehmer der Bering-Expeditionen keineswegs alle Inseln oder Orte benannten. Häufig ist schlicht die Rede von »Inseln«, die man sah, deren Existenz man notierte und die möglicherweise auch besucht wurden, die aber dennoch ohne Namen belassen wurden. Ob ein Toponym vergeben wurde und welcher Art, hing nicht unbedingt immer nur vom Ort ab, an dem man sich befand, sondern vielmehr auch von dem Tag, an dem man ihn besuchte. Am 3. August wurde eine Insel »ErzdiakonStefan-Inseln« benannt,86 am 8. August »St. Lavrentij«,87 und am 16. August »Insel des Hl. Diomid«88. Ob dies im Sinne von Mary Louise Pratt primär interpretiert werden muss als Element religiöser, geografischer und kolonialer Besitzergreifung,89 erscheint angesichts der ansonsten so pragmatischen Vorgehensweise fraglich. Eher erinnert diese Praxis an ein Argument Paul Carters. Ihm zufolge spiegelte James Cook mit Namen wie Mount ­Misery, Thirsty Sound und Point Danger Abschnitte, Zäsuren und Situationen seiner Reise.90 Ganz ähnlich bildeten auch die Heiligennamen der Bering-Expedition eine Art ergänzendes Logbuch. Der Zeitpunkt, an dem russländische Reisende sich erstmals an einem Ort aufhielten, wurde fixiert. Die Topo­ grafie des Nordpazifiks und die Chronografie des Kirchenjahres wurden gewissermaßen synchronisiert. Dabei ging es nicht darum, alle besuchten und gesichteten Inseln und Küsten systematisch zu benennen. Im Zentrum stand der Tag des Heiligen, der mithilfe des Ortes, an dem man sich gerade befand, gefeiert wurde. Wenn für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts die Häufigkeit von Heiligennamen ins Auge fällt, so kam seit den 1760ern ein neues Konzept auf: Das Element der Entdeckung wurde stärker als zuvor in den Vordergrund gerückt. 1765 erlaubte Katharina der Čičagov-Expedition, sie dürfe den Zielort ihrer Reise in Nordostsibirien nach dem Kommandeur benennen, der ihn als erster sichtete.91 Ungefähr zu dieser Zeit erhielt auch die Sv. Diomid-Insel ihre Zweitbenennung Ostrov Gvozdeva, nach einem Teilnehmer der ersten Kamčatka-Expedition.92 Aus dem Wunsch, Wissen zu sammeln, 86 Golder, Bering’s voyages, S. 112. 87 Bering, Donesenie flota kapitana Beringa ob ekspedicii ego k vostočnym, S. 74. 88 Dazu: Birkengof, K istorii nazvanii »ostrova Gvozdeva« (Diomidy), »Beringov proliv« i »Beringovo more«. 89 Pratt, Imperial eyes, S. 33. 90 Carter, The Road to Botany Bay, S. 47. 91 Eja Imperatorskago Veličestva, iz Gosudarstvennoj Admiraltejskoj Kollegii, Flota­ Kapitanu pervago ranga Vasil’ju Čičagovu, in: Sokolov, Proekt, S. xxix–xlvii. 92 Birkengof, K istorii nazvanii.

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hatte sich nun ein explizites Konzept von Entdeckung herausgeschält. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass diese neue Politik, Orte nach einem »Entdecker« zu benennen, nicht automatisch die im postkolonialen Diskurs so häufig angenommene Vorstellung von einem »leeren« Land mit sich brachte.93 Russländische Instruktionen und Berichte machen nach wie vor deutlich, dass indigene Ortsbezeichnungen wahrgenommen und akzeptiert wurden. 1786 beispielsweise instruierte Katharina die Billings-Expedition ausdrücklich, sie dürfe neu entdeckte Inseln benennen, »wenn diese noch keine Namen haben«.94 Und Šelichov berichtete explizit, seine Offiziere hätten eine Bucht Konstantin-und-Elena-Bucht benannt, »weil uns die ein­geborenen Čugačen keinen Namen für diesen Ort gaben«.95 Er warnte seiner Verwalter aber davor, russische Namen zu vergeben, wo dies nicht notwendig sei und auf diese Weise die Toponymie zu »verfälschen«. Schließlich ginge es doch vor allem darum, »alles zu finden« (daby po zvanijami žitelej nachodit’ vse vozmožno est’).96 Der Pragmatismus und das Bedürfnis nach Orientierung standen also weiterhin im Vordergrund. Heiligennamen, russländische Entdecker und, zunehmend in den 1790er Jahren, eine starke Bezugnahme auf Staat und Kaiserfamilie spiegelten dennoch unterschiedliche Schwerpunkte und Strategien. So passt die Benennung der Siedlung auf Kodiak mit dem Ruhm verheißenden Namen Slavorossija zu Šelichovs (und ebenso Natal’ja Šelichovas) persönlichem Ehrgeiz und zu beider Wunsch, Katharina – und später ihren Sohn Paul – stärker für das Engagement der Gesellschaft im Nordpazifik zu interessieren.97 Die Zubov-Inseln erhielten den Namen eines Protegés Katharinas – auch dies ein Versuch Šelichovs, die Herrscherin gnädig zu stimmen.98 Um die Jahrhundertwende wurden auch die ersten Namen mit der Vorsilbe »Neu-« vergeben, wie Novoarchangel’sk oder Novorossijsk. Diese weisen auf ein neues kolonialistisches Verständnis 93 Pratt, Imperial eyes, S. 61. King, Mapping Reality, S. 62. Honold, Pfadfinder. 94 Instructions of Her Imperial Majesty, from the Admiralty College, to Mr. Joseph Billings, Captain Lieutenant of the Fleet, commanding the Geographical and Astronomical expedition intended for the North-Eastern part of the Russian Empire, in: Sauer, An Account, Appendix, S. 29–49. 95 Šelichov, Putešestvie G. Šelechova otrjažennago galiota nazyvaemago, S. 16. 96 Nastavlenie G. I. Šelechova glavnomu pravitel’ju K. A. Samojlovu, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S. 46–59. 97 Natalia Shelikhova to Petr A. Soimonov, President of the Commerce Collegium, presented on October 7, 1798 ( Memorial), in: Black, Natalia Shelikhova, S.  117–127. Predpisanie G. I. Šelichova i A. E. Polevogo pravitelju kompanii I. F. Popovu, 31. 7. 1794, in: Pavlov, K istorii Rossijsko-amerikanskoj kompanii, S. 52–61. 98 Black, Russians in Alaska, S. 116, Fußnote 16. 

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hin, das in ähnlicher Weise auch seit dem späten 18. Jahrhundert in der Politik auf der »Perle« Krim und durch die Bezeichnung »Novorossija« deutlich wurde.99 Als Alexander Baranov nach dem blutigen Aufstand von Sitka eine Zeremonie durchführte, mit welcher die Macht Russlands manifestiert und bestätigt werden sollte, wurde der Ort ausdrücklich ein zweites Mal NovoArchangel’sk benannt100 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts versuchten russländische Weltreisende sich ihren Platz in der Geschichte europäischer Entdeckungen zu sichern, indem sie die Entdeckung neuer Inseln, Buchten und Ankerplätze betonten und diesen Orten einen Namen gaben. Inzwischen war die Ehre der Benennung deutlicher als zuvor auf den Kapitän übergegangen, und auch ein stärker zeremonieller Charakter ist zu erkennen. Der Name eines Ortes konnte sich auf Russland und dessen Seefahrer sowie die Offiziere der Russländisch-Amerikanischen Kompanie beziehen,101 vermochte aber auch die so weit verbreitete Verehrung James Cooks fortzuführen, wie bei der Benennung der Lazarev-Insel beziehungsweise der Cook-Insel durch Bellingshausen.102 Verschiedene Motivationen kamen hier also zusammen und wechselten einander ab. Neben der stets allgegenwärtigen Notwendigkeit, Orientierung zu ermöglichen, spielte der Wunsch nach individuellem und imperialem Ruhm eindeutig eine Rolle, aber auch das Bedürfnis, über die Vergabe eines Toponyms mit den Mächtigen in Gegenwart und Zukunft zu kommunizieren. Eine unmittelbare Verbindung mit Prozessen der Inbesitznahme jedoch ist vergleichsweise selten zu erkennen. Um die Jahrhundertwende ist dann, in einer Situation starker internationaler Konkurrenz in der nordpazifischen Region, zuweilen auch explizit von einer Namensgebung als Zeichen russländischen Souveränitätsanspruches die Rede.103 Darin zeigt sich eine Anpassung an europäische Strategien und Techniken imperialer Inbesitznahme. Diese Anpassung und die dahinter stehende interimperiale Konkurrenz bildeten entscheidende Voraussetzungen für den Wandel, der im späten 99 Dazu u. a. Schönle, Garden of the Empire. 100 Chlebnikov, Žizneopisanie, S. 83. 101 Kashevarov, A. F. Kashevarov’s Coastal explorations, S. 37. 102 Barratt, Russian naval enterprise among the Tuamotus, 1816–1826, S. 46. Bellinsgauzen, Dvukratnye izyskanija, S. 144. 103 Predpisanie G. I. Šelichova i A. E. Polevogo pravitelju kompanii I. F. Popovu, 31. 7. 1794, in: Pavlov, K istorii Rossijsko-amerikanskoj kompanii, S. 52–61.

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18. Jahrhundert in Bezug auf Besitz- und Expansionsstrategien beobachtet werden kann.

3.4.3 Die Bedeutung der Konkurrenz Das russländische Interesse am Nordpazifik wurde bereits früh misstrauisch beäugt: Der Pazifik galt seit dem 15. Jahrhundert als Einflussgebiet Spaniens.104 Madrid hatte die nordpazifische Region zwar lange Zeit ungenutzt und unerforscht gelassen und auf das Desinteresse anderer europäischer Mächte gehofft. Doch als seit dem späten 17. Jahrhundert Wissenschaftler und Herrscher die Frage nach der Existenz Anians bzw. der Nordostpassage mit wachsender Intensität stellten, brachten sie damit die spanische Politik von Geheimhaltung und gezielter Ignoranz ins Wanken. In Madrid wurde dies nicht gern gesehen, und entsprechend legte die spanische Diplomatie großen Wert darauf, sich ausnehmend gut über die russländischen Aktivitäten, insbesondere über die Kamčatka-Expeditionen, zu informieren und verstärkt die eigene imperiale Präsenz in Kalifornien zu festigen.105 Bereits in den 1750ern erschienen detaillierte und alarmierende Publikationen aus spanischer Feder, die auf mögliche Gefahren für spanische Ansprüche auf Nordwestamerika, insbesondere Kalifornien, hinwiesen.106 Aus russländischer Perspektive ist seit dem frühen 18. Jahrhundert eine ambivalente Haltung zu erkennen: zunächst erschien jeglicher maritimer Ehrgeiz eng an das Bewusstsein geknüpft, dass das Reich sich in einem internationalen Wettbewerb um Einfluss und Beziehungen befand.107 Russlands Ehrgeiz, zu einer europäischen und vor allem »aufgeklärten« Macht zu werden, traf nicht unbedingt immer auf Gegenliebe bei anderen »zivilisierten« Mächten. Russland hatte sich für seine radikale Europäisierung das Jahrhundert ausgesucht, das als »age of discovery« bezeichnet werden sollte und damit entscheidend war für das europäische Aufteilen der Welt. Einerseits also ein großer Konkurrenzkampf in einem global umkämpften Raum  –

104 Carlson, The Otter-Man Empires, S. 395. 105 Svet, Captain Cook and the Russians, S. 6. 106 Venegas, Noticia De La California. Torrubia, I moscoviti nella California. 107 Exemplarisch für eine solche Haltung sind die frühen Projekte Fedor Saltykovs oder auch Ivan Kirilovs zu nennen, die im Kapitel »Land und Meer« ausführlich betrachtet werden.

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andererseits wird aus vielen Quellen auch ein gegenläufiges Konzept deutlich: die Vorstellung von einer russländischen Nische. Diese Vorstellung ist von entscheidender Bedeutung für die Frage nach dem Bild des nordpazifischen Raumes und für die Frage, ob er als Teil des Imperiums oder aber als fremdartiges Anhängsel wahrgenommen wurde. Die russländische Expansion im Nordpazifik brachte neue Probleme, Gefahren, aber auch Chancen mit sich. Im Nachhinein werden von Historikern verschiedene Umweltbedingungen, Jagdtechniken, natürlich Fortbewegungsmittel und Kontakte mit der indigenen Bevölkerung aufgelistet, welche die Expansion in Sibirien grundlegend anders erscheinen lassen als die neuen Aktivitäten im nordpazifischen Raum.108 Während die russländische Expansion durch Sibirien auf dem Landweg bzw. über Flusswege erfolgte, hatte man es nun mit der  – aufwändigeren, teureren und auch riskanten – Hochseeschifffahrt zu tun. Dafür fehlte dem Imperium das entsprechend ausgebildete Personal ebenso wie die notwendigen hochseetauglichen Schiffe. Material – Holz, vor allem aber Eisen – musste nach Ostsibirien transportiert werden, um dort im Schiffbau eingesetzt zu werden. Angesichts dieser rein praktischen und damit auch finanziellen Schwierigkeiten verwundert es nicht, dass der Staat bei den Expeditionen im Nordpazifik deutlich gefragter und oft auch aktiver war als im Expansionsprozess in Sibirien. Auf der Akteursebene ist somit eine deutliche Verschiebung von vorrangig privater Initiative hin zu staatlich finanzierten und gesteuerten Unternehmungen zu erkennen. Hinzu kam, dass die Jagd nach den begehrten Seeottern mit ihren wertvollen Pelzen ganz andere Herausforderungen bot als die Zobeljagd, die sich in Sibirien als so profitabel erwiesen hatte. Die Lebensbedingungen und das Fortpflanzungsverhalten der Seeotter unterschieden sich grundlegend von denen der Zobel und anderer Landtiere  – schwierigere Jagdtechniken, damit eine größere Abhängigkeit von den Fähig­keiten der indigenen Bevölkerung und schließlich auch eine schnellere und vor allem deutlichere Dezimierung der Pelztierpopulation waren die Resultate der neuen Gegebenheiten.109 Trotz all dieser objektiven Gegebenheiten aber zeigen zahlreiche Quellen, dass die zeitgenössischen Akteure ihr Vorgehen keineswegs als Bruch mit gewohnten Traditionen empfanden oder gar als einen Aufbruch in 108 Gibson, Sables to Seaotters. Ders., Russian Expansion, S.  131. Vinkovetsky, Russian America, S. 31–35. 109 Jones, A Havock Made among Them.

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fremde Gefilde, sondern als ein fast selbstverständliches Weitergehen des im 16.  Jahrhundert eingeschlagenen Weges. Der Nordpazifik erschien damit als eine Region, die gewissermaßen »vor der Haustür« lag, und auf die Russland allein aufgrund seiner räumlichen Nähe Ansprüche stellte; als eine Nische oder ein Vorhof.110 Es war eine Weiterführung der russländischen frontier, geprägt durch eine Spannung von Nähe zum eigenen, imperialen Gebiet einerseits und das Versprechen von offenem, potentiell unerschöpflichem Raum andererseits. Dies allerdings gilt nur für den Beginn des 18. Jahrhunderts. Später verlor die Vorstellung vom Nordpazifik als gewissermaßen natürlicher russ­ ländischer Bewegungs- und Expansionsraum zusehends an Wirksamkeit, und man begann, diese Nische explizit zu konstruieren und als eigenen Raum zu verteidigen. Die Mittel dieser Verteidigung waren unterschiedlich; sie waren jedoch allesamt geprägt von einer bezeichnenden und ambivalenten Dynamik von Geheimhaltung einerseits und dem Wunsch nach Öffentlichkeit andererseits. Die Politik der Geheimhaltung wird in der Forschung zuweilen als ein typisch russischer Charakterzug begriffen und in die angebliche moskovitische Tradition von Isolationismus, Schwäche und Paranoia eingeordnet.111 Dabei ist es zutreffend, dass seit der Herrschaftszeit Kaiserin Annas und insbesondere unter Katharina II. Geheimhaltung von Expedi­ tionsplänen, das eifersüchtige Wachen über die erarbeiteten Landkarten und zuweilen gar gezielte Fehlinformationen fremder Mächte eine große Rolle in Bezug auf die Expansion im Nordpazifik spielten.112 Doch war dies nicht von Anfang an so; vielmehr hatte Peter noch explizit formuliert, Bering solle Kontakt aufnehmen mit europäischen Schiffen oder Siedlungen im Nordpazifik.113 Annas Instruktionen für die zweite Kamčatka-Expedition sahen bereits ganz anders aus und verlangten ausdrücklich, den Kontakt mit Europäern, wo irgend möglich, zu vermeiden.114 Und 1789 schrieb Šelichov an 110 Donošenie G. I. Šelechova irkutskomu general-gubernatoru I. V. Jakobij 1787, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S. 66–73. 111 Gibson, A notable absence. Carlson, The Otter-Man Empires, S. 407. 112 Nr. 6291, 28. 12. 1732. Vysočajše utverždennyja pravila, dannyja Kapitanu-Koman­ doru Beringu, otnositel’no plavanija ego v Vostočnomu Okeane, in: PSZ VIII, S. 1002–1013. 113 Nr. 4649, 5. 2. 1725. Instrukcija Vysočajše dannaja flota Kapitanu Beringu, in: PSZ VII, S. 413. 114 Donošenie Admiraltejstv-kolegii v Senat, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 179–181.

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seinen Verwalter, dieser solle sich vor allen Fremden in Acht nehmen, keinesfalls irgendwelche Geheimnisse verraten und sich an folgenden Grundsatz halten: »Sei klug wie eine Schlange und auf Sicherheit bedacht wie eine Taube«.115 Hier ist also eine Entwicklung (und nicht unbedingt eine alte Tradition) zu erkennen, die nicht zuletzt auf schlechten Erfahrungen beruhte. Vor allem aber war die Politik der Geheimhaltung alles andere als eine russländische Besonderheit. Vielmehr hatte Spanien bereits seit langem versucht, Informationen politischer wie wissenschaftlicher Art unter Verschluss zu halten und auf diese Weise den Pazifik auch über das 18. Jahrhundert hinaus als einen »spanischen Teich« zu isolieren. Langfristig jedoch sollte sich zeigen, dass gerade diese Technik des Stillschweigens im Verlauf des 18. Jahrhunderts seine Wirkung verlor.116 Vielmehr war nun eine geschickte Mischung von Heimlichkeit und Öffentlichkeit, von Verhandlungen und dem gezielten Schaffen von Fakten notwendig. Die Entscheidung, welche Informationen publiziert werden sollten und welche nicht, war häufig nicht einfach zu treffen – was stärkte die eigene Position in der jeweiligen Situation und was schwächte sie? Ein berühmter Streit zwischen Bougainville auf der einen Seite und Cook sowie Forster auf der anderen, bei dem es um Publikationsrechte, Kosten und Prestige ging, zeigte die Tücken der Öffentlichkeitspolitik im späten 18. Jahrhundert, als Wissenschaft und Politik in einem dynamischen, aber durchaus problematischen Verhältnis zuein­ander standen.117 Seit den 1770er Jahren, als mit den Expeditionen James Cooks ein neues Interesse an Entdeckungsreisen und zugleich ein neues Genre des Reise­ berichtes entstand, erhielt die Publikation von »Entdeckungen« eine neue Bedeutung.118 Bedingt durch seine Präsenz im Nordpazifik wurde nun auch 115 Pis’mo Šelichova k Delarovu iz Ochotska, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, pril. S. 23–26. Für ähnliche Instruktionen siehe auch beispielsweise Predpisanie G. I. Šelichova i A. E. Polevogo pravitelju kompanii I. F. Popovu, 31. 7. 1794, in: Pavlov, K istorii Rossijsko-amerikanskoj kompanii, S. 52–61. Das Kontaktverbot hatte bisweilen allerdings auch andere Gründe: Angst vor der Übertragung ansteckender Krankheiten oder auch Unsicherheit angesichts innereuropäischer Konflikte. Siehe: Nastavlenie A. A. Baranova V. G. Medvednikovu, 19. 4. 1800, in: Pavlov, K istorii Rossijskoamerikanskoj kompanii, S. 95–106. Instrukcija A. A. Baranova svoemu pomoščniku I. A. Kuskovu, Novoarchangel’sk, 14 (26) oktjabrja 1808g., in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 344–347. 116 Cook, Flood tide of empire, S. 100. 117 Despoix, Die Welt, S. 38 f. Mariss, Natur und Geschlecht. 118 Despoix, Die Welt, S. 94 f. Rees, Die zweite Entdeckung. Brasiliens, S. 253 f.

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Russland in diese neue europäische Öffentlichkeit einbezogen – was nicht unbedingt nur Begeisterung hervorrief. So schrieb der sibirische Gouverneur I. A. Pil’ kritisch zum neuen europäischen Interesse: »Die Aufklärung, die im Moment Europa so sehr beherrscht, bemerkt auch die kleinste Be­ wegung Ihrer Kaiserlichen Majestät.«119 Im Nordpazifik, den Russland einst wie selbstverständlich als sein Hausmeer begriffen hatte, trafen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verschiedene Akteure aufeinander, mit oft unterschiedlichen Strategien und Erfahrungen, häufig jedoch mit sehr ähnlichen Zielen. Zu diesen gehörten Wissenschaftler, Regierungsvertreter und Pelzjäger, Briten, Spanier, Franzosen, Russen, Tlingit, Čugači und Bürger der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika. Für die russländischen Akteure bedeuteten diese neuen Konstellationen nicht zuletzt, dass sie ihr Konzept und ihre Strategien der Imperiums­erweiterung überdenken und verändern mussten. In den 1780er Jahren dann wurde die Konkurrenz drängender. Nach dem Verlust seiner nordamerikanischen Kolonien richtete das britische Empire seinen Ehrgeiz zunehmend darauf, die spanische Macht im Pazifik zu unterminieren.120 Die Reisen James Cooks lenkten mehr als je zuvor das öffentliche, wissenschaftliche und politische Interesse auf den Nordpazifik. Vor allem Cooks Berichte über den Überfluss an wertvollen, auf dem chinesischen Markt höchst profitablen Pelztieren fanden Interesse, und zunehmend navigierten Händler und Jäger aus England sowie Nordamerika ihre Schiffe zu den Aleutischen Inseln und an die Nordwestküste Amerikas. Die wirtschaftliche Konkurrenz wurde ergänzt durch einen sehr handfesten politischen Wettbewerb, gehörte es doch zu Cooks Aufgaben, neu entdeckte Gebiete und damit Gebiete, die bisher von keinem Imperium beansprucht wurden, für die britische Krone in Besitz zu nehmen.121 Madrid sah sich gezwungen, seine passive Strategie in Bezug auf den Nordpazifik zu beenden, schickte Schiffe in die Region und begann eine Politik verstärkter Inbesitznahmerituale im Namen der spanischen Krone.122 Aus dieser unmittelbaren Konkurrenzsituation heraus begannen die russländischen Akteure in der Region, ihre Ansprüche auf Menschen, Tribute und Handelsrechte deutlicher zu machen und den britischen Konventionen 119 Raport irkutskogo general-gubernatora I. A. Pil’ja, 13. 2. 1790, in: Andreev, Russkie­ otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S. 295–304. 120 Darwin, Unfinished empire, S. 24. 121 Svet, Captain Cook and the Russians, S. 3. 122 Tompkins, After Bering, S. 33 f.

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anzupassen. Dies ist historisch keine neue Situation; seit dem Beginn europäischer Expansion in »neue Welten« war es immer wieder zu Missverständnissen und Konflikten gekommen, weil beispielsweise die spanischen, auf Menschen gerichteten Ansprüche nicht von den Briten akzeptiert wurden, die ohne sichtbare Häuser und Zäune nicht bereit waren, Besitzrechte anzuerkennen.123 Das internationale Recht hielt seit seinen Anfängen zahlreiche, oft widersprüchliche Quellen und Interpretations­möglichkeiten sowie entsprechende Konflikte bereit. Zwar blieb die Einbeziehung von Tribut zahlenden Menschen auch weiterhin prinzipiell entscheidend für das Selbstverständnis des Russländischen Imperiums. Geschenke und Medaillen wurden nach wie vor vergeben, vorzugsweise an führende Personen von Clans und Dörfern, und die traditionelle Kommunikation und Integration indigener Eliten blieb ein zentraler Bestandteil imperialer Politik.124 Allerdings wurde aus dem Zweierverhältnis von imperialen Akteuren und neuen Untertanen nun ein Dreieck, indem man diese Einbeziehung explizit auch gegenüber den imperialen Konkurrenten in der Region kommunizierte. Die Zahlung des Tributs funktionierte jetzt nicht mehr nur als ein Vorgang zwischen Untertan und Herrscherin, sondern auch als Nachweis russländischer Untertanenschaft »nach außen«: Indigene Völker wurden von russischer Seite angehalten, Reisenden auf spanischen, französischen oder britischen Schiffen die Quittungen zu zeigen, welche sie für die Tributablieferung erhalten hatten.125 Auch Medaillen und so genannte »Schaumünzen«, welche insbesondere an die Angehörigen indigener Eliten verteilt wurden, galten nun nicht mehr nur als Symbol der Bindung des neuen Untertanen an das Imperium, sondern auch als Zeichen russländischer Zugehörigkeit, das sich an Briten, Spanier und andere »Fremde« richtete.126 Die Tatsache, dass man diese Geschenk­ 123 Cook, Flood tide of empire, S. 101. 124 Im nordpazifischen Raum begann das Verteilen von Medaillen im späten 18. Jahrhundert. Siehe z. B. bei Zagoskin, Pešechodnaja opis’ časti russkich vladenii v Amerike, S. 4. Ausführlicher zu dieser Politik und zu den Details des Verhältnisses von Russen und Tlingit: Dean, Uses of the Past. 125 Auszug aus dem Reisebericht des Rußischen Steuermanns Saikof, S. 281. Vypiska iz žurnala sturmana Potapa Zajkova, vedennago na sudne »Sv. Aleksandr Nevskij« v 1783 g., in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, S. 1–8, 2. Report morechoda Ivana Soloveva praporščiku T. I. Šmalevu, 1766, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S. 146–169, 163. Raport general-gubernatora irkutskoj i kolybanskoj gubernii, in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 162 f. 126 Šelichov, Donošenie G. I. Šelichova irkutskomu general-gubernatoru I. A. Pil’ju. Merck, Das sibirisch-amerikanische Tagebuch, S. 268. Raport irkutskogo general-guberna-

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praxis in den 1820ern in solchen Gebieten beendete, die man konkurrierenden Mächten gegenüber für »gesichert« hielt,127 unterstreicht die nach außen gewandte Blickrichtung. Darüber hinaus bildete die Kommunikation mit der indigenen Bevölkerung nun nicht mehr die primäre Strategie von Expansion und Ab­ sicherung. Aus russländischer Perspektive hatte sich die Situation im Nord­ pazifik grundlegend verändert. Die Eroberung und Erforschung aleutischer Inseln und der Küste Nordwestamerikas hing nun nicht mehr allein von technischen Fähigkeiten, finanziellen Möglichkeiten, klimatischen Bedingungen und der Kommunikation mit der indigenen Bevölkerung ab, sondern ganz zentral von der Frage nach territorialen Ansprüchen. Die imperiale Politik im Nordpazifik musste nun, wollte man seine Handelsund Nutzungsrechte dort erhalten und stärken, systematischer und glo­ baler gestaltet und zugleich enger an das Zentrum in St. Petersburg ge­ bunden werden. Die Akteure im Nordpazifik baten die Kaiserin wiederholt um Unterstützung, beispielsweise durch ein Handelsverbot für »fremde« Schiffe.128 Intensiver territorial und am Konzept imperialen Besitzes orientiert waren Katharinas Pläne für eine erste Weltumseglung russländischer Schiffe im Jahr 1786. Dieses Projekt, das letztlich allerdings nicht zustande kam – die Konflikte mit Schweden und dem Osmanischen Reich stellten sich schließlich doch als drängender heraus – war aus der imperialen Konkurrenzsituation heraus entstanden und hatte explizit das Ziel, russländische territoriale Ansprüche im Nordpazifik zu etablieren und zu sichern.129 In einer an den Leiter der Expedition, G. I. Mulovskij, gerichteten Instruktion formulierte das Admiralitätskolleg, es ginge um die zwischen Kamčatka und der amerikanischen Küste gelegenen Regionen, die »als Eigentum und tora I. A. Pilja, 13. 2. 1790, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S. 295–304.Ukaz našej Admiraltejskoj Kollegii, 8. 8. 1785, in: Saryčev, Putešestvie, S. 1–10. Iz nastavlenija Admiratelstv-kollegii načalniku pervoj krugosvetnoj ekspedicii kapitanu 1-go ranga G. I. Mulovskomu o ee zadačach, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 233–242. 127 Dean, Uses of the Past, S. 293. 128 Zapiska G. I.Šelechova o torgovle s angličanami na Kamčatke, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S. 73–77. 129 Ukaz Ekateriny II Admiraltejstv-kollegii ob otpravlenii na Tichij okean eskadry dlja ochrany rossijskich vladenii, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 538. Siehe dazu auch Al’perovič, Rossija i Novyj Svet, S. 103 und Gibson, The Abortive First Russian Circumnavigation, S. 49.

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einzig dem Russländischen Staat« zugehörten (sobstvenno i edinstvenno k Rossijskoj deržave prinadležaščie).130 Das zentrale Argument für die Sicherung der Ansprüche ergab sich nun also aus einem explizit territorialen und am Konzept des Eigentums orientierten Ansatz. In den 1780er Jahren wandelte sich die Sprache der Quellen und bezog nun Begriffe ein, die aus dem – in dieser Zeit ebenfalls im Wandel begriffenen  – privatrechtlichen Diskurs stammten. Die tentativen, sich unter Katharina entwickelnden Konzepte von privatem Eigentum wurden übertragen auf die imperiale Ebene. Neben dem ambivalenten vladenie – das Herrschaft und Besitz umfassen kann – finden sich nun in den Quellen auch Formulierungen wie priobretennoe (erworben), vzjat’ vo vladenie (Inbesitznahme, üblicherweise als vvedenie vo vladenie mit Bezug auf neue Gutsbesitzer angewandt) und natürlich auch der Neologismus sobstvennost’ – Eigentum.131 Doch Eigentumsansprüche verlangen nach einer Erklärung, einer originären Rechtfertigung. Hier zeichnen sich Unterschiede ab zwischen Äußerungen aus dem Zentrum des Imperiums einerseits und der Argumentation, welche die Akteure vor Ort, im nordpazifischen Raum, führten. Aus Petersburger Sicht war häufig das Argument der Erstentdeckung entscheidend. So argumentierten 1786 die beiden hohen Staatsbeamten Alexander Voroncov und Alexander Bezborodko für eine explizitere Inanspruchnahme der nordpazifischen Regionen durch das Russländische Imperium. Ihre Begründung war klar: diese Gebiete seien vor langer Zeit (iz dal’nych vremen) von russländischen Seefahrern entdeckt worden, und daraus ergäben sich unbestreitbare Besitzansprüche der Kaiserin. Diese müsse Katharina II. nur entschiedener deutlich und geltend machen.132 Auch das Admiralitätskollegium ging in seiner bereits erwähnten Instruktion an Kapitän Mulovskij von einem auf Erstentdeckung begründeten Recht aus,133 ebenso wie die Autoren der 1799

130 Iz nastavlenija Admiraltejstv-kollegii kapitanu I ranga G. I. Mulovskomu, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 538–540, 539. 131 Zur Begriffsgeschichte von Besitz und Eigentum in Russland im Detail: Winkler, Mein Besitz, Landgut. 132 Zapiska A. R. Voroncova i člena Kollegii inostrannych del dejstvitel’nogo tajnogo sovetnika grafa A. A. Bezborodko Ekaterine II o pravach Rossii na ostrova i zemli,­ otkrytye russkimi moreplavateljami v Tichom okeane, dekabr’1786, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 229–232. 133 Iz nastavlenija Admiraltejstv-kollegii kapitanu I ranga G. I. Mulovskomu, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 538–540, 539.

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der Russländisch-Amerikanischen Kompanie verliehenen Privilegien.134 Besitzzeichen anderer Mächte wie Flaggen oder vergrabene Flaschen seien keinesfalls zu akzeptieren – entscheidend sei einzig und allein das so genannte pervoe otkrytie. Siebentausend Kilometer entfernt aber sah die Sache etwas anders aus. In ihren Stellungnahmen nutzten Unternehmer, Seefahrer und Verwalter nicht nur das Argument der Erstentdeckung,135 sondern auch jede andere verfügbare Rechtfertigung für die russländischen Ansprüche, sei es die Würde und die Macht der russländischen Herrscher, das investierte Geld und die bereits aufgewandte Mühe, die geschaffenen Bauten und Siedlungen, aber auch die Treue der Untertanen, die Güte der Kaiserin sowie die von Russland erbrachten zivilisatorischen Leistungen und die Verantwortung, welche das Imperium hier übernommen hatte.136 Diese Legitimationsversuche wurden flexibel, abhängig von der jeweiligen Situation, sowohl gegenüber den Autoritäten in St. Petersburg als auch gegenüber europäischen und nordamerikanischen Händlern formuliert. Interessanterweise aber spielte das Konzept eines Gebietsverkaufs oder sonstiger Übergabe durch die indigene Bevölkerung keine Rolle. Während die traditionelle – nach wie vor bedeutungsvolle – Konzeption von der Einbeziehung neuer Bevölkerungsgruppen in das Imperium stets den Konsens, idealerweise »Freundschaft«, und den Willen der neuen Untertanen betonte, gab es kein Konzept eines Landerwerbs durch vertraglich abgesicherten Kauf.137 Dies unterscheidet den russländischen Diskurs deutlich von eng134 Nr. 19030, 8. 7. 1799 O imenovanii kompanii RAK , in: PSZ XXV, S. 699–703. 135 Pis’mo g-ži Šelichovoj k grafu Zubovu, 22 Nojabrja 1795-go goda, in: Tichmenev,­ Istoričeskoe obozrenie, II, S. pril. 108–114, 111 f. 136 Donošenie G. I. Šelichova irkutskomu general-gubernatoru I. V. Jakobiju, 19. 04. 1787, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S.  206–214. Raport irkutskogo general-gubernatora I. A. Pilja, 13. 2. 1790, in: Ders., Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S.  295–304. Chlebnikov, Russkaja Amerika v »Zapiskach«, S. 221 f. Prošenie I. I. Golikova i G. I. Šelichova Ekaterine II, in: Baškina, Rossija i SŠA , S.  165–167. Pis’mo Baranova k Larionovu, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, pril. S. 136–157. Raport irkutskogo general-gubernatora I, S. 296. Predpisanie G. I. Šelichova i A. E. Polevogo pravitelju kompanii I. F. Popovu, 31. 7. 1794, in: Pavlov, K istorii Rossijsko-amerikanskoj kompanii, S.  52–61. Nastavlenie Glavnogo pravlenija RAK A. A. Baranovu o sootvetstvij ego dejstvij v Russkoj Amerike izmenenijam meždunarodnoj politiki, 18. 4. 1802, in: Bolchovitinov, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 34–37. 137 Erst deutlich später sollte eine solche Transaktion im Rahmen der Gründung von Fort Ross stattfinden: siehe dazu Spencer-Hancock, Notes to the 1817 Treaty. Der Text enthält auch eine Übersetzung des Vertrages.

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lischen und spanischen Rechtskonstruktionen und macht erneut deutlich, dass die Praxen imperialer Inbesitznahme sich ausschließlich an konkurrierende Imperien richteten, zusätzlich zu den traditionellen Formen der Kommunikation mit der indigenen Bevölkerung eingeführt wurden und weniger Traditionen oder juristischen Prinzipien als vielmehr pragmatischen Überlegungen folgten. Nun entwickelten sich auch Konzepte, Symbole und Rituale imperialer Inbesitznahme. Die Zeremonien selbst sowie deren öffentliche Vermeldung orientierten sich ebenfalls an der Konkurrenzsituation. Die russländischen Akteure im Nordpazifik adaptierten schlicht die Zeichen und Symbole anderer Mächte, um ihren Einfluss abzusichern. Dazu gehörten das Errichten von Holzkreuzen, das Vergraben von Flaschen, das Hissen der russländischen Flagge sowie elaborierte Zeremonien wie die zu Beginn dieses Kapitel beschriebene.138 Alexander Baranov verfasste sogar ein Lied, mit dem er das russländische Heldentum feierte und Ansprüche auf bereits erreichte und noch zu erobernde Gebiete formulierte.139 Die Publikation von Karten spielte ebenfalls eine Rolle.140 Schließlich weisen einige Quellen auch darauf hin, dass gezielt Fehlinformationen verbreitet und die Besitzzeichen anderer Mächte bewusst ignoriert oder sogar zerstört wurden.141 Besonders häufig benutzt wurden gravierte Metallplatten zur Kennzeichnung »russländischen« Territoriums. 1783 erhielt Šelichov den Auftrag, neue Inseln nicht nur zu entdecken und unter die Herrschaft Ihrer Kaiserlichen Majestät zu bringen, sondern vor allem auch, diese neu in Besitz genommenen Gebiete (novopriobretennoe)  mit den Symbolen Ihrer Majestät zu kennzeichnen und damit als russländischen Besitz zu markieren.142 Die seit den frühen 1780er Jahren von russländischen Expeditionen in den Pazifik und nach Amerika transportierten, eigens hergestellten Platten trugen die Inschrift »Dieses Land gehört dem Russländischen Imperium«  – bezeich138 Instructions of Her Imperial Majesty, from the Admiralty College, to Mr. Joseph­ Billings, Captain Lieutenant of the Fleet, commanding the Geographical and Astronomical expedition intended for the North-Eastern part of the Russian Empire, in: Sauer, An Account. Langsdorff, Bemerkungen I, S. 17. 139 Chlebnikov, Russkaja Amerika v »Zapiskach«. Pesnja A. A. Baranova, 1799 goda, in: Zagoskin, Putešestvija i issledovanija, S. 379–381. 140 Postnikov, The Mapping, S. 21. 141 Rezanov, Pervoe putešestvie Rossijan I, S. 203. Predpisanie G. I. Šelichova i A. E. Polevogo pravitelju kompanii I. F. Popovu, 31. 7. 1794, in: Pavlov, K istorii Rossijsko-amerikanskoj kompanii, S. 52–61. Grinev, The Plans. Black, Russians in Alaska, S. 92. 142 Šelichov, Putešestvie G. Šelechova s 1783 po 1790 god iz Ochotska, II, S. 2.

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nenderweise in russischer und lateinischer Ausführung. Šelichov berichtete, wie die Routine seiner Reise um die Nootka-Bucht plötzlich unterbrochen wurde, als er von indigenen Bewohner erfuhr, dass vor nicht allzu langer Zeit ein fremder Dreimaster in der Bucht geankert habe. Die Möglichkeit imperialer Konkurrenz scheuchte die Mannschaft regelrecht auf: »Noch am selben Tag vergruben wir eine unserer Metallplatten in der Erde und errichteten darüber ein hölzernes Kreuz mit der Inschrift: ›Land in russländischem Besitz‹.«143 Von nun an enthielten viele Berichte den Hinweis, man habe Markierungen (našich znakov) hinterlassen, um andere Nationen daran zu hindern, Ansprüche auf das betreffende Territorium zu stellen.144 Da jedoch weder die Argumentationen noch die Besitzzeichen immer von den Vertretern anderer Mächte anerkannt wurden, reichte eine solche symbolische Inbesitznahme keineswegs aus. Greg Dening hat die verschiedenen Arten der Inbesitznahme durch Briten, Franzosen und Spanier, mithilfe von Kreuzen, Stelen und Inschriften beschrieben, die allesamt keinerlei Rücksicht auf die Ansprüche der jeweils anderen Mächte nahmen. Sichtbare Zeichen wurden schlichtweg ignoriert.145 Und so entwickelten sich im Nordpazifik die gravierten Metallplatten zu einem Bestandteil eines Zeremoniells ganz eigener Art: Sie wurden von den Leitern der jeweiligen Expe­dition mit großer Mühe vergraben, wobei man sorgfältig darauf achtete, weder indigene Bewohner noch Matrosen oder Arbeiter einzuweihen.146 Man befürchtete, die Platten könnten aus Profitgier gestohlen oder aber – und diese Angst war deutlich akuter – von englischen oder nordamerikanischen Seefahrern vorsätzlich zerstört werden.147 Alexander Baranov ging soweit, die 143 Šelichov, Putešestvie G. Šelechova s 1783 po 1790 god iz Ochotska, I, S. 7 f. 144 Donošenie G. I. Šelechova irkutskomu general-gubernatoru I. V. Jakobii 1787, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S.  66–73. Vsepoddannejšij raport irkutskogo general-gubernatora I. V. Jakobija o dejatel’nosti kompanii Golikova i Šelichova na ostrovach Tichogo okeana, in: ­Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S.  250–265. Sekretnoe nastavlenie general-poručika Jakobija poverennym Šelichova, Samojlovu i Delarovu, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, pril. S. 21–23. Nastavlenie G. I. Šelechova glavnomu pravitel’ju K. A. Samojlovu. 145 Dening, Mr Bligh’s bad language, S. 198 f. 146 Sekretnoe nastavlenie general-poručika Jakobija poverennym Šelichova, Samojlovu i Delarovu, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, pril. S. 21–23. 147 Pismo Šelichova k Delarovu iz Ochotska, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, pril. S.  23–26. Iz nastavlenija Admiratelstv-kollegii načalniku pervoj krugosvetnoj ekspedicii kapitanu 1-go ranga G. I. Mulovskomu o ee zadačach, in: Fedorova, ­Russkie ekspedicii, S. 233–242.

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betreffenden Stellen als »ein höchst wichtiges Staatsgeheimnis« zu bezeichnen, »das keinesfalls an irgendjemanden verraten werden darf, nicht an unsere eigenen promyšlenniki, vor allem aber nicht an Fremde, ganz gleich welcher Nationalität sie angehören.«148 Entsprechend wurden die Verstecke auf geheimen Karten eingetragen, es wurden weitere Zeichen als Hinweise installiert, und zuweilen erschien auch eine Umlegung der Platten notwendig, um ihre Zerstörung zu verhindern.149 Welchen Sinn hatten diese Geheimhaltungszeremonien, die so oder ähnlich auch für die anderen Mächte beschrieben werden können? Welche Bedeutung können Zeichen haben, die nicht gezeigt werden? Die Erklärung für diese Strategien ist in der internationalen Rechts- und Wettbewerbssituation zu suchen. Das für Russland neue Konzept von imperialem Besitz mochte ursprünglich aus der Petersburger Perspektive eindeutig und unangreifbar erschienen sein  – doch Besitzansprüche können nur innerhalb eines einheitlichen juristischen Rahmens funktionieren, und davon war das internationale Recht im 18. Jahrhundert weit entfernt. Vielmehr waren weder die Regierungen in London, Madrid oder Petersburg noch die britischen, spanischen oder russländischen Seeleute bereit, die Ansprüche der jeweils anderen Mächte auf Territorien und vor allem exklusive Handelsrechte kampflos zu akzeptieren. Die einen verteidigten dabei ihre alten oder neuen Ansprüche, maritime Weltmacht zu sein – die anderen waren nach monate-, oft jahrelanger Reise ohne Informationen über die aktuelle politische Lage schlichtweg nicht bereit, nach ihrer Ankunft auf die erhofften Profite zu verzichten. Außerdem funktionierte das Nebeneinander, oft sogar Miteinander von Händlern und Seeleuten aus verschiedenen Ländern im Nordpazifik häufig gar nicht so schlecht  – die in den Hauptstädten angenommene Konkurrenzsituation wurde an der Peripherie zuweilen ähnlich gesehen, zuweilen aber auch nicht. Man war auf den Tausch sowohl von Waren als auch von Informationen angewiesen, und insbesondere die russländischen

148 RGADA , Kollekcija G. V. Judina. f. 1605 o. 1, d. 356. Siehe auch Nastavlenie Glavnogo pravlenija RAK A. A. Baranovu o sootvetstvij ego dejstvij v Russkoj Amerike izmenenijam meždunarodnoj politiki, 18. 4. 1802, in: Bolchovitinov, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 34–37. 149 Pis’mo g-ži Šelichovoj k grafu Zubovu, 22 Nojabrja 1795-go goda, in: Tichmenev,­ Istoričeskoe obozrenie, II, S.  pril. 108–114. Nastavlenie Glavnogo pravlenija RAK A. A. Baranovu o sootvetstvij ego dejstvij v Russkoj Amerike izmenenijam meždunarodnoj politiki, 18. 4. 1802, in: Bolchovitinov, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 34–37.

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Siedler in der Region konnten auf diese Weise ihre ansonsten oft sehr ärmliche Ver­sorgung aufbessern.150 Die Russen brauchten außerdem insbesondere nach dem Aufstand von Sitka 1803 dringend Waffen für den Kampf mit den Tlingit, die sie über den US -Amerikaner Joseph O’Cain bezogen. Eine professionellere Handelsverbindung entwickelte sich später aus den Kontakten von John Jacob Astor und Andrej Daškov. Als Ludwig Hagemeister, der 1818 Hauptverwalter der RAK wurde, den Handel mit Nichtrussen kritisierte151 und schließlich verbot, verschlechterte sich die Versorgungslage in den Kolonien zusehends. Hinzu kam, dass bei aller Konkurrenz die Hauptkonfliktlinien doch nicht unbedingt zwischen Russland und England bzw. den USA verliefen. Akuter und drastischer gestaltete sich der Wettbewerb zwischen England und Spanien (im 18. Jahrhundert) bzw. zwischen England und den USA (im 19. Jahrhundert).152 Insofern waren Besitzansprüche gar nicht unbedingt exklusiv und be­ zogen sich auch nicht unmittelbar auf die jeweils aktuelle Situation. Vielmehr bildeten die Metallplatten, auf denen der Besitzanspruch formuliert und der Tag der Landung vermerkt waren, eine in die Zukunft gerichtete Versicherung. Im späten 18.  Jahrhundert, einer Zeit, die mit Mary Louise Pratt als eine Phase grundlegenden Wandels von Territorialität bezeichnet werden kann153 – und zwar nicht nur für Russland – ging es darum, die Welt aufzuteilen und sich einen Teil des Kuchens zu sichern, bevor dies eine andere Macht tun konnte. Küstenstreifen und für die Siedlung geeignete Orte wurden also »vorsorglich« besetzt.154 Koloniale Macht war dabei häufig nur ein Konzept für spätere Zeiten. In einer interessanten Vorwegnahme dieses Moments konstruierte Natal’ja Šelichova 1795 eine Besitztradition, als sie behauptete, bereits Čirikov habe 1741 Platten in Nordamerika vergraben, die er von der Regierung bekommen habe.155 Meist jedoch ging es zu diesem Zeitpunkt noch um eine vorläufige Absicherung durch stellvertretende Zeichen. Eines Tages, wenn aus dem nordpazifischen Kontaktraum und 150 Zapiska G. I. Šelechova o torgovle s angličanami na Kamčatke, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S. 73–77, 75. 151 Hagemeister, Letter to Mr. Kuskov 28. 1. 1818, in: Pierce, The Russian-American Company, S. 10–12. 152 Siehe z. B. Grinev, Russian Politarism, S. 252. 153 Pratt, Imperial eyes, S. 9. 154 z. B. Doklad N. P. Rumjanceva Aleksandru I, S-Peterburg, 12 (24) nojabrja 1809g, in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 388–391. 155 Pis’mo g-ži Šelichovoj k grafu Zubovu, 22 Nojabrja 1795-go goda, in: Tichmenev,­ Istoričeskoe obozrenie, II, pril. S. 108–114.

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zone of ignorance156 eine Weltregion geworden war, in der internationales Recht galt und territoriale Ansprüche umgesetzt werden konnten, wollte man sich auf die bei der Erstlandung verborgenen Platten berufen können, um dann das theoretisch so überzeugende, aber in der Praxis eben noch nicht durchsetzbare Recht der Erstentdeckung anzuwenden.

3.5 Das 19. Jahrhundert: Grenzfragen 3.5.1 Vom Nutzen und Nachteil von Grenzen für Imperien Die Hoffnung auf eine baldige Klärung der Situation sollte sich nicht erfüllen. Die Konkurrenz durch britische Händler und vor allem durch Schiffe aus den USA (bostoncy) wurde nicht schwächer, sondern wuchs noch an.157 Britische und insbesondere nordamerikanische Pelzhändler waren vor allem durch die Tatsache im Vorteil, dass der chinesische Hafen Kanton bis zum Jahr 1858 für russländische Schiffe gesperrt blieb.158 So mussten die Russen nach wie vor Kjachta als Haupthandelsplatz nutzen, was umständlich, zeitraubend und teuer war. 1810 erklärten Vertreter der RAK dies zu einem zentralen, letztlich existentiellen Problem für die Kompanie, zuvor hatte bereits Adam Johann von Krusenstern auf eine Öffnung des Hafens hin verhandelt.159 Die verschiedenen innereuropäischen und zunehmend global wirkenden Kriege seit dem späteren 18.  Jahrhundert wirkten sich ebenfalls auf die nordpazifische Region aus. Europäische Mächte waren gezwungen, ihre Kräfte auf die napoleonischen Kriege zu konzentrieren, während »Bostoner« Händler diese Situation für sich ausnutzen konnten. Konkrete Kontakte im Nordpazifik wurden noch skeptischer betrachtet als zuvor: Informationen aus Europa brauchten so lange für ihren Weg in diese Region, dass man niemals sicher sein konnte, ob Schiffe und Personen, mit denen man in Kontakt kam, nun aktuell Verbündete oder Kriegsgegner 156 Dieser Begriff stammt von Carlson, The Otter-Man Empires, der ihn im Rahmen der Weltsystemtheorie nutzt. 157 Wheeler, Empires in Conflict and Cooperation. 158 Gibson, Russian Expansion, S.  133. Storch, Erste Reise der Russen um die Welt, S. 66. 159 Doklad RAK Aleksandru I, 22. 9. 1810, in: Kollekcija Gennadija Judina, http://frontiers. loc. gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER+@od1 %28mtfms+y0010 045 (20. 7. 2014).

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waren. Auch die lange gehegte Hoffnung, über die rechtliche und institutionelle Verankerung des Pelzhandels, die Monopolstellung der RAK und die enge Kooperation mit der Regierung in St. Petersburg eine Stabilisierung der Lage zu erzielen, erfüllte sich nicht. Vielmehr wurden Diskussionen über Möglichkeiten und Rechte weitergeführt, wenn auch nun auf höheren Ebenen. Die Bitte der Akteure im Nordpazifik nach stärkerer Unterstützung durch die Regierung hatte sich im Jahre 1799 mit der Gründung der Russisch-Amerikanischen Kompanie grundsätzlich erfüllt – im Detail aber wurde nach wie vor gern der Wunsch nach offizieller Hilfe im Konfliktfall wiederholt.160 Vor allem die Konstellationen konkurrierender Mächte und Akteure in Nordwestamerika waren unübersichtlich, unentschieden und befanden sich nach wie vor im Wandel. Die Kooperation mit Vertretern Spanisch-Amerikas wurde gepflegt mit dem Gedanken, einen Dreieckshandel zwischen Sitka und San Francisco zu etablieren, um die Versorgung Russisch Amerikas zu verbessern. Die Zusammenarbeit mit nordamerikanischen Akteuren war oft extrem situativ und pragmatisch geprägt, hatte aber zuweilen durchaus auch strategischen Charakter. So argumentierte der Gesandte Andrej Daškov, eine Annäherung Petersburgs und Washingtons – ganz wörtlich gemeint – vor pazifischer Kulisse hätte das Potential, die britische Konkurrenz auszuschalten: »wenn die russländischen Siedlungen weiter nach Süden ausgriffen, und die amerikanischen Siedlungen sich nach Norden bewegten, und diese schließlich aufeinander träfen, hätten die Briten – die bereits Interesse an diesem Gebiet gezeigt haben – kein Recht mehr, sich hier festzusetzen.«161 Es ging in erster Linie um den Pelzhandel und das Ziel, diesen möglich und lukrativ zu machen, um die Kontrolle von Händlern und insbesondere der indigenen Bevölkerung. Zwar versuchte man auch, beispielsweise den Waffenhandel mit der indigenen Bevölkerung direkt zu verbieten oder Importbeschränkungen durchzusetzen, doch war Territorialität inzwischen zum zentralen Mittel der Macht- und Wirtschaftspolitik geworden, und territoriale Ansprüche bildeten ein entscheidendes Argument, das man in jede 160 Chlebnikov, Žizneopisanie, S. 44. 161 Pis’mo Daškova glavnomu pravitelju Russkoj Ameriki Aleksandru Baranovu, 7. 10. 1809, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 1, Tom 5, S. 270–274.

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Richtung wenden konnte.162 Diese Entwicklung territorialen Denkens findet einen deutlichen Höhepunkt in der Erneuerung der Kompanieprivilegien von 1821. In diesem Dokument standen Gebiete, deren Nutzung und Begrenzung eindeutig im Vordergrund, und während der Kompanie das Recht zukam, neues Land im Namen der Krone zu besetzen (zanjat’), wurde explizit formuliert, dass sie sich nicht um die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung bemühen sollte (ne dolžna starat’sja o pokorenii narodov, berega te naseljajuščich).163 Letztlich aber ist diese neue Territorialität weniger von juristischen Argumentationen oder symbolbehafteten Besitzzeichen bestimmt als von zwei anderen bevorzugten Strategien: erstens dem Schaffen von Fakten durch die Besetzung und vor allem Besiedlung von Land, zweitens von einer Art Pokerspiel, in dem jeder versuchte, sein Gegenüber durch möglichst selbstsicheres Auftreten zu verunsichern und sich dabei ja nicht in die Karten blicken zu lassen. Nikolaj Rezanov beispielsweise legte bei seinem Besuch der spanischen Missionen in Kalifornien 1806 großen Wert darauf, kostbare Geschenke zu verteilen, um die russischen Kolonien reicher erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich waren. Dabei beobachtete er auch auf spanischer Seite das Bemühen, eigene Schwächen (slabija ich sily) vor den Besuchern nicht deutlich werden zu lassen.164 In vielen Instruktionen wurden die Angestellten der Kompanie ausdrücklich zu strategischem Stillschweigen verpflichtet, so in den Weisungen Baranovs an Ivan Kuskov aus dem Jahre 1808: Kuskov sollte herausfinden, ob sich nordamerikanische Schiffe in der Nähe des Columbia-River befanden und vor allem, ob die Regierung der USA dort Siedlungen plante. »Sollte dies der Fall sein, und sollten Sie mit diesen oder auch Reisenden anderer europäischen Nationen zusammentreffen, oder auch mit Spaniern, 162 Zapiska Glavnogo pravlenija Rossijsko-amerikanskoj kompanii, 23 dekabrja 1816, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 2, Tom 1 (9), S. 378–386. Zapiska direktorov Glavnogo pravlenija Rossijsko-Amerikanskoj kompanii M. M. Buldakova i V. V. Kramera, 21. Aprelija (3 Maja) 1808, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 1, Tom 4, S. 241–243. 163 Nr. 28. 756, 13. 9. 1821. O voznovlenii privilegii Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, in: PSZ XXXVII, S. 842–854, 852. 164 Pis’mo Rezanova k ministru kommercii iz Novoarchangel’ska ot 17. Junja 1806 goda, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, S.  253–281, 256. Ganz ähnlich bereits bei Zapiska G. I. Šelechova o torgovle s angličanami na Kamčatke, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S. 73–77, 75.

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und wenn Sie ein Treffen und Gespräch nicht vermeiden können, dann sollen Sie sich auf keine Diskussion über die Aneignung von Rechten am lokalen Handel (o prisvoenii prav na tamošnie mestnye zanjatija) einlassen, und nur darauf hinweisen, dass die Russen das gleiche Recht wie alle anderen Nationen auf die Jagd von Meerestieren an allen Küsten und auf allen Inseln von Novoarchangel’sk südlich bis nach Kalifornien haben, dass sie überall nach dem Naturrecht das Recht haben, Profit zu suchen – dies betrifft nicht die Gebiete, die bereits von anderen aufgeklärten Mächten besetzt wurden.«165 Auch der Gesandte der RAK in Japan sollte alle Debatten über Grenzen vermeiden und deutlich machen, dass der russländische Kaiser, reich an Land, an friedvoller Kooperation interessiert sei.166 Weshalb diese Unentschiedenheit, dieses Vermeiden klarer Äußerungen? Ein Schreiben der RAK-Hauptverwaltung an Baranov macht die Situation in sehr augenfälliger Weise deutlich.167 Es ist konzipiert als eine Antwort auf Baranovs Frage, wie weit sich die russischen Gebiete erstreckten (do kakogo mesta utverždat’ vam našu prinadležnost’), eine Frage, die sich aus offenbar konfligierenden Ansprüchen der Engländer ergab. Petersburgs Antwort auf diese Fragestellung war ambivalent: Einerseits sprachen die Verwalter der RAK verschiedene Probleme an und empfahlen größte Vorsicht. Da war einmal die bekannte Anweisung zum Stillschweigen, die auch Baranov gegenüber ausgesprochen wurde. Er wurde für seine Zurückhaltung gelobt und angehalten, sich auch weiterhin auf diese Weise zu verhalten und jedem fremden Schiff mit extremem Argwohn zu begegnen. Sollte aber ein Gespräch nicht zu vermeiden sein, so lautete sein Auftrag, jede Verantwortung zu verweigern und darauf verweisen, dass diese Frage territorialer Ansprüche eine nur auf höchster Ebene zu klärende Angelegenheit sei. Die Sprache des Schreibens macht außerdem deutlich, wie schwierig sich eine Antwort auf Baranovs Bitten um mehr Klarheit gestaltete. Er sollte »versuchen«, das Argument der Erstentdeckung zu verwenden 165 Instrukcija A. A. Baranova svoemu pomoščniku I. A. Kuskovu, Novoarchangel’sk, 14 (26) oktjabrja 1808g., in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 344–347. 166 Iz instrukcii N. P. Rumjanceva rossijskomu poslanniku v Japonii N. P. Rezanovu, in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 241–244. 167 Nastavlenie Glavnogo pravlenija RAK A. A. Baranovu o sootvetstvij ego dejstvij v Russkoj Amerike izmenenijam meždunarodnoj politiki, 18. 4. 1802, in: Bolchovitinov, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 34–37.

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und damit möglichst weite Gebietsansprüche zu legitimieren, er sollte »so schnell wie möglich« Siedlungen bauen und diese »wenn möglich« mit »russifizierten Amerikanern« (obrusevšich uže amerikancev) bevölkern. Zugleich wurde Baranov aufgetragen, die Rechte Russlands nicht nur bis zum 55. Grad nördlicher Breite zu sichern, sondern weiter nach Süden zu gehen. Diese »Grenze« russländischer territorialer Ansprüche bezog sich auf den Ort der Landung Čirikovs im Jahre 1741. Diese Landung war in verschiedenen russländischen Dokumenten erwähnt worden  – so beispielsweise in der Privilegienurkunde Kaiser Pauls an die RAK von 1799 – und hatte so um die Jahrhundertwende eine Art semi-offizieller Gültigkeit erlangt. Eine solche Gültigkeit musste jedoch territorial abgesichert werden, und so erhielt Baranov den Auftrag, Siedlungen und ein festes Fort in der Nähe des 55. Breitengrades zu errichten – anders als noch vor wenigen Jahren sei nun genügend Personal dafür vorhanden. Doch handelte es sich auch hierbei nur um einen vorläufigen Plan. Die Privilegien von 1799 legten ausdrücklich fest, dass weitere Entdeckungen südlich der 55°-Linie möglich und erwünscht waren, und auch Baranov erhielt folgende weitergehende Weisungen: er sollte sich nicht nur auf Čirikov berufen, sondern auch auf andere Unternehmungen russländischer Reisender und auf diese Weise die Ansprüche Russlands in Richtung des umstrittenen Nootka-Sounds ausdehnen. Auf diese Weise sollten die britischen Ansprüche zurückgedrängt und die »Grenze« (granica) bis zum 50. Breitengrad oder zumindest »bis auf halbem Wege zum 55. Grad [verschoben werden], wenn es nicht möglich ist, weiter zu kommen«. Der Wettlauf mit England nach Süden hin war entscheidend, und weitere Entdeckungen oder Besiedlungsaktivitäten im konkurrenzfreien Norden sollten zunächst zurückgestellt werden, um Konzentration auf die Regionen zu ermöglichen, an denen sich England so interessiert zeigte. Für diese Aktionen wurde Baranov die größtmögliche Unterstützung aus Petersburg zugesichert. Diese Mischung aus Vorsicht und Ambition war entstanden aus einer Situation, in der die Gebiete, die jeweils von Russland und England als Kolonialmächte in Nordamerika beansprucht wurden, näher aneinander gerückt waren. 1733 noch hatte Čirikov erklärt, in Nordamerika sei genügend Platz für spanische und russländische Ambitionen,168 und für lange Zeit schien es erstrebenswert und auch möglich, interimperialen Konflikten aus dem Weg 168 Predloženie A. I. Čirikova, podannoe v Admiraltejstv-kollegiju, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 177–179.

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zu gehen – dies war nun keine Option mehr. Der Nordpazifik war kein offener russländischer Expansionsraum mehr, sondern ein begrenztes und umkämpftes Gebiet. Um diesen Wandel der Raumwahrnehmung in die Sprache des Imperiums und der Grenzforschung zu übersetzen und so theoretisch greifbar zu machen, bietet sich die Terminologie John LeDonnes an, der zwei Formen der frontier unterscheidet: einerseits die offene Grenzregion (openended frontier region), die nur durch natürliche Barrieren limitiert schien, und andererseits die transfrontier, die er als Pufferzone zwischen zwei Im­ perien charakterisiert.169 Russlands Expansion nach Osten war ursprünglich von offenen Grenzregionen ausgegangen. Dabei spielte allerdings weniger das Konzept der »natürlichen« Grenze eine wichtige Rolle170 als vielmehr eine Vorstellung davon, wie weit man gekommen war und wie weit das eigene Interesse reichte. Die asiatische Pazifikküste bildete bis zu den Zeiten Peters eine solche Begrenzung, und in den Quellen des 18.  Jahrhunderts tritt die nordamerikanische Küste bisweilen als eine Limitierung expansiver Ambitionen hervor. 1812 bezeichnete Heinrich von Langsdorff Sitka als »das non plus ultra der russischen Grenze«, denn ein weiteres Vordringen nach Süden oder­ Osten sei aus Sicherheitsgründen nicht unbedenklich und läge auch keinesfalls im ökonomischen Interesse der Kompanie.171 Auch die »Grenze« des 55. Breitengrades war ein Element der offenen Grenzregion, denn bis dahin war – so jedenfalls die keineswegs unumstrittene Überlieferung – Č ­ irikov gekommen; diese Region bildete einen Teil der russländischen Expansionsgeschichte. Wenn auch all diese Linien Begrenzungen schufen, so waren diese doch kulturell bestimmt, von temporärem Charakter und galten keinesfalls als unüberwindbar. Die Argumentation im Brief an Baranov zeigt jedoch, wie sich zu dieser Zeit aus der offenen Grenzregion, deren Ausweitung allein als eine Frage der Zeit und der eigenen Anstrengungen erschien, der andere Typus der transfrontier herausbildete. Man stand nicht mehr offenem Land (oder Wasser) gegenüber, sondern konkurrierenden Mächten. Grenzen hingen nicht mehr nur von der eigenen Situation ab, sondern wurden zur Verhandlungssache. Die Pelzhändler, Beamten und Entdecker Russlands, Englands und auch der USA befanden sich in einer solchen 169 LeDonne, The Frontier in Modern Russian History, S. 144 f. 170 Generell dazu: Khodarkovsky, Russia’s steppe frontier, S. 49. 171 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 76.

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transfrontier-Zone und mussten entsprechende Strategien entwickeln, um diese Situation so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Denn wenn man nun Grenzlinien akzeptierte, konnte es geschehen, dass aus kulturellen und temporären Limitierungen juristische und dauerhafte Abgrenzungen wurden. Ob und wann dies erstrebenswert erschien, war dabei durchaus umstritten. Paul Demers hat, mit Blick auf den Osten Nordamerikas, ein Modell zur Entstehung kolonialer Abgrenzungen entwickelt und beschreibt ebenfalls eine Phase von Avoidance and Deferral of Demarcation – für das 17. Jahrhundert.172 Diese erste Phase zieht sich in Nordwestamerika, das deutlich später die Aufmerksamkeit europäischer Kolonialmächte gewann, bis ins späte 18. Jahrhundert hin. Dort findet sich im Jahre 1795 in einem Brief Natal’ja Šelichovas die meines Wissens erste Äußerung von russländischer Seite, dass eine Festlegung präziser Grenzlinien wünschenswert sei.173 Šelichova beschrieb die Begegnungen mit Mitgliedern der Vancouver-Expedition sowie deren, ihr verdächtig erscheinendes, Interesse an den russländischen Siedlungen. Darüber hinaus erwähnte sie Gerüchte, denen zufolge in wenigen Jahren mit britischen Kriegsschiffen im Nord­pazifik zu rechnen sei. Dies kontrastierte Šelichova mit den russländischen Erfahrungen und Mühen in der Region, den Verdiensten russländischer »erster« Entdecker und – als Beweise – den im Boden vergrabenen Metallplatten. Angesichts dieser potentiellen, für die Kompanie möglicherweise existentiellen Gefahr fragte sich Šelichova, »ob es nicht an der Zeit sei (nastalo samoe vremja), darüber nachzudenken, die Grenzen der russländischen Territorien zu festigen« und das bereits Eroberte gegen britische Ambitionen zu sichern.174 Doch die Sicherung des bereits Eroberten durch international anerkannte Grenzlinien hätte umgekehrt auch die Einschränkung eigener weitergehender Ambitionen bedeutet. Charles Maier formulierte generell mit Bezug auf vergleichbare Situationen: »Begründer von Imperien sehnen sich nach Stabilität. Was aber imperialen Systemen schwerfällt, ist die Stabili­sierung ihrer 172 Demers, The French, S. 36. 173 Pis’mo g-ži Šelichovoj k grafu Zubovu, 22 Nojabrja 1795-go goda, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie, II, pril., S. 108–114. 174 Zu Šelichovas Bemühungen um eine Klärung der imperialen Besitzverhältnisse siehe auch die unter dem Namen Izmajlovs registrierte Liste zu Landkarten der Region: Reestr planam, postavlennym iz Amerike ot šturmana Izmajlova, 1795, in: Kollekcija Gennadija Judina, http://frontiers.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront: @field(NUMBER+@od1(mtfms+y0010118) (20. 7. 2014).

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Grenzen.«175 Die transfrontier-Zone bot viele Möglichkeiten, welche man durch einen vorzeitigen Übergang zu einer territorialisierten Region mit festgelegten Grenzen nicht torpedieren wollte. Das Pokerspiel sollte noch eine Weile andauern. Die Instruktionen an Baranov von 1802 bildeten ebenso einen Teil dieses Spieles wie die um 1817 aufkommenden Gerüchte, die Č ­ irikov-Expedition sei nicht nur bis zum 55. Breitengrad gelangt, sondern tatsächlich weiter gesegelt, und Überlebende der Expedition (bzw. deren Nachkommen) könnten einen russländischen Anspruch bis zum 48. Breitengrad begründen. Einen weiteren Fall bildete die Grenzdiskussion Mordvinovs aus dem Jahre 1821.176 John Quincy Adams beschrieb rückblickend seinen Eindruck, dass die russländische Regierung um 1810 keinerlei Interesse an präzisen und verbindlichen Grenzziehungen hatte, was nicht zuletzt angesichts der zurückhaltenden Position Andrej Daškovs durchaus überzeugt.177

3.5.2 Die Grenzregelungen von 1824/25 Doch irgendwann mussten, um im Bild zu bleiben, die Karten auf den Tisch gelegt werden. Kaiser Alexander tat den ersten Schritt, als er in einem persönlichen ukaz vom 4. September 1821 nicht nur einen expliziten Monopolanspruch für Russland und die RAK im Nordpazifik bis zu 100 italienische Meilen von jeder Küste entfernt formulierte, sondern seine territorialen Ansprüche auch auf den 51. Breitengrad bzw.  – auf Inseln bezogen  – sogar auf 45° 50' nördlicher Breite ausdehnte.178 Allerdings ist dies weniger als ex­pansionistischer Schritt denn vielmehr als defensive Strategie gegen den britischen und US -amerikanischen »dauerhaften und illegalen« Handel

175 Maier, Die Grenzen des Empire, S. 134. 176 No. 1230. Mordvinov grafu Nesselrode, 8. 1. 1821, in: Bil’basov, Archiv, IV, S. ­641–643. Siehe auch: Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 38. 177 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 50 (Adams to Middleton, 22. 7. 1823). Daškov hatte in einem Brief vom April 1810 geäußert, die Festlegung von Grenzen müsse noch warten, da er nicht befügt sei, diesbezüglich in Verhandlungen zu treten: Pis’mo A. Ja. Daškova R. Smitu, in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 408 f. 178 No. 28. 747, 4. 9. 1821. O privedenii v ispolnenie postanovlenija o predelach plavanija, in: PSZ XXXVII, S. 903–832 (falsche Paginierung). In enger Verbindung dazu stand die Verlängerung der RAK-Privilegien: Nr. 28. 756, 13. 9. 1821. O voznovlenii privillegii Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, in: PSZ XXXVII, S. 842–854.

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(postojannago i podložnago torga)  in der Region zu verstehen.179 Zu zahlreich waren die Beschwerden und Eingaben verschiedener Vertreter der RAK, die um Einschränkungen vor allem des amerikanischen Handels im Nordpazifik baten, der »mehr Schaden als Nutzen brachte«.180 Der Vertrag von 1818, aufgrund dessen sich die RAK eine profitreiche Zusammenarbeit mit der Columbia Fur Company erhofft hatte, hatte sich als Verlustgeschäft für die Russen erwiesen. Dass der ukaz von 1821 nicht nur auf die Frage territorialer Sicherung oder gar Expansion zielte, macht auch die Bedeutung deutlich, welche die Detailregelungen beispielsweise der Problematik ansteckender Krankheiten und deren Verhinderung beimaßen. Territorialität bildete ein Mittel auch sozialer Sicherung. In den späteren Verhandlungen sollte vor allem Graf Nessel’rode wiederholt den Wunsch Russlands nach Stabilität und Klarheit der Verhältnisse betonen. Dennoch: Die Initiative Russlands und die darauf folgenden Aushandlungsprozesse spielen in diesem Kapitel zu imperialen Besitzansprüchen eine prominente Rolle. Denn Alexander – getrieben von Beratern und Lobbyisten, die größeres Interesse an den amerikanischen Kolonien hatten als er selbst – versuchte nicht nur, den internationalen Handel durch konkrete Regelungen zu beschränken, sondern formulierte darüber hinaus einen ehrgeizigen und exklusiven territorialen Anspruch, der im Notfall auch mit militärischen Mitteln verteidigt werden sollte. Auch wenn er dies selbst möglicherweise gar nicht vorhergesehen hatte181: Seine Erlasse zogen prompt diplomatische Verwicklungen nach sich und führten zu einer regen Korrespondenz, in der Argumente vorbereitet, geschärft und ausgetauscht wurden. Die Problematik imperialen Besitzes war damit endgültig auf die Ebene staatlicher und diplomatischer Politik gehoben worden. In den nun ent­ stehenden Debatten ging es sowohl um Details und pragmatische Aspekte der Besiedlung und Nutzung Nordwestamerikas als auch um höchst grundsätzliche Fragen der Legitimation imperialen Besitzes. Spätestens hier wurde auch deutlich, dass in Nordwestamerika inzwischen eine brisante Dreieckskonstellation zwischen Russland, Großbritannien und den USA entstanden war, in der sich alle drei Akteure gegenseitig beäugten und in Zugzwang brachten. 179 Mazour, The Russian-American, S. 304. 180 Zapiska V. M. Golovnina direktoram RAK o prave gosudarstv na otkrytye zemli, neobchodimosti zaščity russkich severo-amerikanskich kolonii ot posjagatel’stva inostrancev, in: Fedorova, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 65–70. 181 So zumindest Barratt, Russia in Pacific Waters, S. 232.

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Politiker und Vertreter aus Wirtschaft und Öffentlichkeit sowohl aus England als auch aus den USA brachten zunächst das zentrale und akute Problem auf den Tisch, dass die Ansprüche Russlands den legitimen und profitablen Handel britischer wie amerikanischer Bürger im Pazifik behinderten  – unberechtigterweise, wie mithilfe von Grundsätzen des internationalen Rechts argumentiert wurde. Die russländische Seite brachte hier ihr altes Nischenkonzept in neuem Gewand ins Spiel und argumentierte, man hätte noch viel weiter in seinen Ansprüchen gehen und den Nordpazifik in ein mer fermée verwandeln können. Nessel’rode behauptete mehrfach, es sei ohne weiteres denkbar und möglich, den Nordpazifik zu einem russländischen Teich zu machen, es fehle dafür weder an militärischen Möglichkeiten noch an juristischen Begründungen.182 Dies war ein Maximalanspruch, der eindeutig nur zur Schaffung von Verhandlungsmasse formuliert wurde.183 Die USA und Großbritannien, vertreten durch John Quincy Adams und George Canning, lehnten dies als eine »extravagant­ assumption«, »unwarranted claim«184 und geradezu absurd ab.185 Es ging somit nicht nur um Freihandel auf dem Meer, sondern stets auch um territoriale Ansprüche. Man näherte sich der Diskussion einer Frage, die bisher vermieden worden war: wie sollte der Nordwesten Amerikas verbindlich und dauerhaft aufgeteilt werden? In verschiedenen Briefen und Berichten stellten Vertreter der USA das Recht Russlands auf die im ukaz enthaltene Grenzregelung gleich in mehrfacher Hinsicht in Frage. Zunächst sei die Festlegung auf den 51. Breitengrad überhaupt nicht nachvollziehbar und widerspreche auch der eigenen russländischen Tradition, so den Regelungen der ersten Privilegien für die RAK von 1799. Außerdem befinde sich das Gebiet zwischen dem 42. und dem 49. Breitengrad im Besitz der USA, die 1819 alle diesbezüglichen Rechte von Spanien erworben hätten. Der Unterhändler Henry Middleton erklärte, 182 Brief Nesselrode to Polética, 27. 1. 1821. Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 99 (Count Nesselrode to Count Lieven, 7. 10. 1821). 183 In seiner Korrespondenz mit dem Marquis of Londonderry zeigte sich der Gesandte Nikolaj denn auch entsprechend zurückhaltender: Diplomatic Correspondence relat­ ing to the Treaty of 1825, S. 94 f. (Brief Baron Nicolay an den Marquis of Londonderry, 31. 10. 1821). 184 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 147 (Mr. G. Canning to Sir C. Bagot, 15. 1. 1824). 185 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 36 (Mr. Adams to M. de Poletica, 30. 3. 1822). Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 110–112 (Mr. G. Canning to the Duke of Wellington, 27. 9. 1822).

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Russland habe sich in diese »entfernte Gegend« regelrecht eingeschlichen; nur angesichts der 1799 in Europa herrschenden Verwirrung sei es Paul I. möglich gewesen, unbemerkt und unwidersprochen ein Handelsmonopol in Nordwestamerika zu beanspruchen. Nun aber sei es an der Zeit, die Ansprüche Russlands, die bisher »purely domestic« formuliert worden seien, vor internationalem Recht zu überprüfen.186 Dass das internationale Recht aber auch zu diesem Zeitpunkt keine festen Maßstäbe für bindende Entscheidungen bot, zeigen die widersprüchlichen und oft willkürlich ausgewählten Argumente der Parteien: Entdeckung, Besiedlung und Erwerb bildeten nach wie vor mögliche, aber keineswegs für alle verbindliche Grundlagen für territoriale Ansprüche. Die Quellen und Anspruchsgrundlagen, auf die man sich berief, waren ebenso vielfältig: Internationale Abkommen und diplomatische Äußerungen, Grundsätze des Völkerrechts, aber auch Reiseberichte, ob nun von James Cook, Alexander von Humboldt, oder auch den russländischen Weltumseglern Adam Johann von Krusenstern und Jurij Fjodorovič Lisjanskij.187 Letztlich hatten die USA auch gar nicht vor, um einzelne Breitengrade zu feilschen; denn nördlich des 49. Breitengrades hatten sie ohnehin keine konkreten territorialen Ansprüche. Stattdessen wurde ein sehr prinzipielles Argument ins Spiel gebracht: man problematisierte fundamental die Territorialrechte Russlands auf dem nordamerikanischen Kontinent. Alle ernstzunehmenden Siedlungen der RAK befänden sich schließlich, so ein zentrales Argument, auf vorgelagerten Inseln.188 Mit dieser grundsätzlichen Unterscheidung von »certain islands« einerseits und amerikanischem Festland andererseits wird Russland in einer über juristische Spitzfindigkeiten hinausgehenden Weise von jeglichen Ansprüchen ausgeschlossen: territoriale Rechte »have no existence on the continent of America«.189 186 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 77 f. (Mr. Middleton to Mr. Adams, 7. 4. 1824). 187 The Russian American Company, in: American State Papers, Senate, 18th Congress, 2nd Session. Foreign Relations. Band 5, Buffalo 1998, S.  453 f. Extract from M. de Humboldt’s Essay on New Spain, Book III, chapter 8, page 344, in: American State Papers, Senate, 18th Congress, 2nd Session. Foreign Relations. Band 5, Buffalo 1998, S. 354. Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 61 (Confidential Memorial). 188 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 47 f. (Brief Adams an Middleton, 22. 7. 1823). Ebenso: Adams, Memoirs of John Quincy Adams, Bd.  6, S. 157. 189 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 47 f. (Brief Adams an Middleton, 22. 7. 1823), siehe auch S. 53–55 (Brief Adams an Rush, 22. 7. 1823).

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Diese prinzipiellen Einwände hatten nicht nur strategischen und auf die konkrete Situation bezogenen Charakter, sondern wiesen sehr deutlich in Richtung der kommenden Monroe-Doktrin und der daraus folgenden antikolonialen »amerikanischen« Politik. Die historiografische Tradition, die hier einen engen Zusammenhang sieht oder die Monroe Doktrin sogar als eine zumindest »indirekte« Antwort auf den ukaz von 1821 betrachtet, erscheint somit durchaus nachvollziehbar.190 Wenn der ukaz auch einigen Zeitgenossen wie ein »Sturm im Samovar« vorkam, so kristallisierten sich hier doch künftige Grundlinien des europäisch-amerikanischen Verhältnisses und des Selbstverständnisses der USA generell heraus. In der amerikanischen Öffentlichkeit war diese Argumentationslinie bereits bekannt. Als die USA mit dem so genannten Adams-Onís-Vertrag von 1819 Territorialansprüche über Oregon ausgedehnt und damit die Pazifikküste erreicht hatten, bot sich die Gelegenheit, ungeachtet aller ausstehenden Konflikte mit britischen und natürlich auch russländischen Ansprüchen weitergehende, kontinentale Ambitionen entwickeln. Im gleichen Jahr entwickelte John Quincy Adams den Gedanken von einem »natürlichen« Anspruch der USA auf den gesamten nordamerikanischen Kontinent.191 Berühmt wurde vor allem die sowohl gegen britische als auch gegen russländische Ambitionen gerichtete Formulierung John Floyds vom Januar 1821: »there is no longer territory to be obtained by settlement and discovery«.192 Zwei Jahre später erklärte John Quincy Adams in einem persönlichen Gespräch mit Baron Tuyll ausdrücklich, »that we should contest the right of Russia to any territorial establishment on this continent, and that we should assume distinctly the principle that the American continents are no longer subjects for any new European­ colonial establishments.«193 Die Argumentation Adams’ stand nicht nur in Gegensatz zu russländischen Interessen, sondern auch in diametralem Kontrast zur traditionellen russ190 Mazour, The Russian-American, S. 307. Thomas, Russo- American relations, 1­ 815–1867. Kushner, Conflict. In Frage gestellt wird dieser Zusammenhang allerdings von Nichols, The Russian Ukase, S. 26. 191 Adams, Memoirs of John Quincy Adams, Bd. 4, S. 438 f. 192 Ambler, The life and diary, S. 54. 193 Adams, Memoirs of John Quincy Adams, Bd.  6, S.  163 (Herv. i. O.). Siehe auch Mr. Adams to Mr. Middleton, 22. 7. 1823, in: American State Papers, S. 436 f.

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ländischen Wahrnehmung des Nordpazifik. Letztere ging aus von einer nordpazifischen, einheitlichen Nische, zu der wie selbstverständlich auch die Küste Nordwestamerikas gehörte. Diese Küste bildete eine Grenzregion, die das russländische Interessengebiet vom amerikanischen Binnenland  – an dem man lange explizit nicht interessiert war – trennte. Doch während die russländischen Akteure, vom Meer kommend, die Küste als Teil des Nordpazifiks betrachteten, sah Adams  – in einer dezidiert kontinentalen Perspektive  – dieselbe Küste als integralen Bestandteil des nordamerikanischen Kontinents. Siedlungen und Besitzansprüche auf Inseln, so Adams, konnten keineswegs auf die Festlandküste übertragen werden.194 Der gleichen Logik folgend, schrieb auch Middleton: »The extension of territorial rights to the distance of  a hundred miles from the coasts upon two opposite continents, and the prohibition of approaching to the same distance from these coasts, or from those of all the intervening islands, are innovations in the law of nations and mea­ sures unexampled.«195 Trotz dieser fundamental unterschiedlichen Perspektiven mussten die aktuelle Situation und die Ansprüche auf imperialen Besitz und Nutzung verhandelt werden – dies war beiden Seiten klar. Auch London sah diese Notwendigkeit deutlich in der nahen Zukunft, und zwar mit ungleich größerer Dringlichkeit als die Amerikaner.196 Der Duke of Wellington schrieb: »in order that if we had any claim to territory on the north-west coast of America we might bring it forward, so as not to be shut out by any agreement made between Russia and the United States.«197 England hatte ursprünglich mit eher gezügeltem Interesse den Aktivitäten der in Nordamerika agierenden Hudson’s Bay Company zugesehen und ähnelte damit durchaus der Regierung in Petersburg und ihrem Verhältnis zur RAK . Erst die russländische Initiative von 1821 stärkte hier das Interesse und ließ einen neuen britischen Drang nach Westen und Norden ent­ 194 Siehe auch Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 2 (Confidential Memorial Middletons, 1. 12. 1823). 195 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 63 (Confidential Memorial Middletons, 1. 12. 1823). 196 Nichols, The Russian Ukase, S. 19. 197 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 108 f. (Memorandum by the Duke of Wellington, 11. 9. 1822).

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stehen.198 Die Regierung erhielt Briefe von besorgten Vertretern nicht nur der Hudson’s Bay Company, sondern auch anderer Organisationen, die ihre Profite in Handel und Walfang schwinden sahen.199 Die russländischen Ansprüche wurden folglich von britischer Seite abgelehnt, die Beweisführung richtete sich jedoch auch gegen Ambitionen der USA . 1818 hatten sich Großbritannien und die USA auf »joint occupancy« geeinigt und die genauere Klärung der Territorialfrage in Nordwestamerika auf unbestimmte Zeit verschoben. Zeitgleich mit den ersten Diskussionen über den russländischen ukaz berichteten nun allerdings Vertreter der Hudson’s Bay Company auch von amerikanischen Plänen, ter­ritoriale Ansprüche an der Nordwestküste nicht nur für das Gebiet zwischen dem 41. und dem 58. Breitengrad zu sichern, sondern diese auch bis zu 60° nördlicher Breite auszudehnen.200 Auch dagegen musste argumentiert werden, und John Pelly als Vertreter der Hudson’s Bay Company schrieb im März 1822: »I need not remind your Lordship that  a large portion of that country was discovered by British navigators, and taken possession of on behalf of Great Britain« und wies auf die Nootka-Krise ebenso hin wie auf die Reisen Alexander McKenzies: »It was not till the year 1806 that the Americans­ explored this country«.201 Dennoch bildete das Moment der Entdeckung kein durchgehendes Argument. Vielmehr schrieb der Duke of Wellington im November 1822: »The best writers on the laws of nations do not attribute the exclusive sovereignty, particularly of continents, to those who have first discovered them, and although we might, on good grounds, dispute with Russia the priority of discovery of these continents, we contend that the much more easily proved, more conclusive, and more certain title of occupation and use, ought to decide the claim of sovereignty.«202

198 Galbraith, The Hudson’s Bay company, 1821–1869, S. 126. 199 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  121 (Shipowner’s­ Society to Mr. G. Canning). 200 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S.  106 (Hudson’s Bay Company to the Marquis of Londonderry, 27. 3. 1822). 201 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  106 f. (Hudson’s Bay Company to the Marquis of Londonderry, 27. 3. 1822). 202 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  113 f. (The Duke of­ Wellington to Mr. G. Canning). Erwartungsgemäß wies die russländische Seite auf

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Nicht Entdeckung, sondern Besiedlung, und keinesfalls ganze Kontinente, sondern nur einzelne, nachweislich genutzte Gebiete: mit einer solchen Argumentation – die natürlich keineswegs den praktischen britischen Traditionen imperialer Inbesitznahme entsprach – konnte Wellington sich gegen russländische ebenso wie amerikanische Ansprüche wenden. Das Pokerspiel, das nach wie vor auf der Existenz einer zone of ignorance basierte, ging weiter, und die Briten behaupteten nicht nur, in Nordwestamerika niemals auf Russen getroffen zu sein, sondern machten auch die Existenz eigener Siedlungen zwischen dem 49. und dem 60. Breitengrad geltend. Die russländische Seite reagierte mit leichter Ironie und »n’hesite pas de convenir qu’elle en ignore jusqu’à present 1’éxistence, pour autant au moins qu’ils toucheroient l’Ocean Pacifique«.203 Tatsächlich waren die britischen Forts in dieser Gegend erst kürzlich und mit großer Eile errichtet worden.204 Mit der Problematisierung russ­ ländischer bzw. britischer Präsenz in Nordwestamerika hatte sich die zumindest aus Londoner Sicht entscheidende Frage nach Souveränität und Besitz gestellt. Russland konnte solche prinzipiellen Einwände natürlich nicht akzeptieren und berief sich auf die Praxis der RAK und das bisherige Schweigen Englands. So wurde einerseits klar formuliert: »Sa Majesté Impériale ne déviera point dans cette conjoncture du systéme habituel de sa politique«.205 Andererseits wurde aber auch  – nicht ohne einen besorgten Blick auf die russländisch-britischen Beziehungen in Südosteuropa206 – eine Einladung zum Dialog ausgesprochen, mit dem die Grenzen der jeweiligen Gebiete »au moyen d’une négociation amicale et sur la base des con­venances mutuelles« geregelt werden sollten.207 Obwohl – oder gerade weil – die enge Verflechtung der Interessen allen deutlich war, erschien die Idee, alle drei Parteien gemeinsam an einen Tisch zu bringen, insbesondere der britidie britische Tradition hin, die genau solche pauschalen Inbesitznahmen enthielt, wie z. B. James Cooks Zeremonie in Port Jackson Mordvinov Nessel’rodu, 20. 2. 1824, in: Bil’basov, Archiv VI, S. 644–647. 203 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  114 (Mémoire Con­ fidentiel). 204 Galbraith, The Hudson’s Bay company, 1821–1869, S. 124. 205 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825 between, S. 114 f. (Mémoire Confidentiel, 11. 11. 1822). 206 Der Zusammenhang von russländischen Interessen auf dem Balkan und den Verhandlungen im Nordpazifik wird allerdings in Frage gestellt von: Nichols, The Russian Ukase, S. 23. 207 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825 between, S. 114 f. (Mémoire Confidentiel, 11. 11. 1822).

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schen Seite nicht attraktiv. Man befürchtete, auf diese Weise seine Position zu schwächen.208 Während der Gespräche hatten die Briten stets ein wachsames, ja misstrauisches Auge auf die – bereits weiter vorangeschrittenen – Verhandlungen zwischen den USA und Russland.209 Am 9.  Februar 1824 begannen also zunächst die amerikanisch-russ­ ländischen Verhandlungen, die trotz steter diplomatischer Beteuerungen, man wolle Zwistigkeiten in aller Freundschaft klären und beseitigen, nicht immer in freundlichem Ton verliefen. Henry Middleton, der die Verhandlungen von amerikanischer Seite aus führte, vermied Formulierungen, in denen von Besitztümern die Rede war, »except where there are actual establishments«.210 Einzelne Siedlungen und Handelszentren also, die vom Grundsatz des freien Handels mit der indigenen Bevölkerung ausgenommen waren, bildeten einen Verhandlungsgegenstand, schufen aber keine generellen territorialen Ansprüche. Graf Nessel’rode dagegen versuchte, nicht nur die Region nördlich des 55. Breitengrades als ein exklusiv zu Russland gehörendes Territorium zu verteidigen, sondern auch, sich weitere Expan­ sionsmöglichkeiten nach Süden offen zu halten.211 Letztlich einigte man sich auf ein Abkommen, das verschiedene Prin­ zipien miteinander zu verbinden suchte. Grundsätzlich blieb das Recht amerikanischer Bürger auf Schifffahrt, Fischerei und Handel im Pazifik erhalten, allerdings mit zwei Ausnahmen. Erstens waren Alkohol und Waffen von dieser Handelsfreiheit ausgeschlossen. Die russländische Sorge, die indigene Bevölkerung könne von amerikanischen Schiffen aus mit Gewehren ausgestattet werden, sollte auf diese Weise beruhigt werden. Auch die amerikanischen Unterhändler hatten eine solche Regelung bereits früh im Verhandlungsverlauf für sinnvoll erachtet, schließlich ging es hier aus ihrer Sicht um »savages, whose blind passions are unrestrained by any moral tie«.212 208 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 123 f. (Mr. G. Canning to Sir C. Bagot, 12. 7. 1823). Ebd, S. 130 (Sir C. Bagot to Mr. G. Canning, 17. 10. 1823). 209 z. B. Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 146 (Mr. G. Canning to Sir C. Bagot, 15. 1. 1824). 210 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 73 (Mr. Middleton to Mr. Adams, 7. 4. 1824). 211 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 83 (Counter Projet of Russia of February 20). Die amerikanische Antwort bemängelte diesen Punkt: Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824 between the, S. 84 (Counter Projet of the United States of February 23). 212 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824, S. 76 (Mr. Middleton to Mr. Adams, 7. 4. 1824).

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Während sich die »zivilisierten« Mächte also relativ leicht darüber einigen konnten, welche Behandlung von »Wilden« in ihrer beider Interesse lag, war die zweite Ausnahme von der Regel komplizierter. Die Handelsfreiheit galt für die kommenden zehn Jahre, für »aucune partie du grand océan« und erstreckte sich auch auf die Küsten. Fraglich war nun, wie weit die Bewegungsfreiheit von Amerikanern und Russen in Gegenden, die von der jeweils anderen Nation beansprucht wurden, eingeschränkt werden durfte. Verschiedene Vertragsentwürfe wurden hin und her gereicht, bis man sich schließlich darauf einigte, punktuelle Beschränkungen zu erlassen. »Il est convenu, que les citoyens des États Unis n’aborderont à aucun point où il se trouve un établissement Russe, sans la permission du Gouverneur ou Commandant; et que réciproquement les sujets Russes ne pourront aborder sans permission à aucun établissement des États-Unis sur la Côte nord ouest.«213 Konkrete Besiedlungen sollten entscheidend und schützenswert sein, dies galt jedoch nicht für ganze Gebietsflächen. Dennoch ignorierte der Vertrag die in den Verhandlungen strittigen territorialen Ansprüche nicht. Denn es war beiden Seiten gestattet, weitere Siedlungen nur innerhalb bestimmter abgegrenzter Gebiete zu errichten: amerikanische Siedlungen waren in Zukunft nur südlich des 54. Breitengrades zulässig, russländische nur nördlich davon. Auf diese Weise hatte man territoriale Ansprüche anerkannt, ohne diese aber mit einer vollständigen Souveränität zu verbinden. Nach wie vor hatten die Besitzansprüche eine vor allem auf die Zukunft ausgerichtete Dimension, die Regelungen waren von explizit temporärer Natur. Die russländisch-britischen Verhandlungen begannen im Herbst 1822 am Rande der Konferenz von Verona und fügten sich damit passenderweise in die post-napoleonische Machtkonstellation Europas ein. Der Austausch von Argumenten begann mit solch radikal gegensätzlichen Ansichten, dass es notwendig erschien, die unvereinbaren ersten Memoranden als non avenus zu betrachten und einen neuen Anfang zu wagen.214

213 Convention between the United States of America and His Majesty (Herv. d. Verf.) 214 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 117 (The Duke of Wellington to Mr. G. Canning, 29. 11. 1822).

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Die Gespräche der beiden Unterhändler Pierre de Polética und Sir Charles Bagot in St. Petersburg konzentrierten sich deutlich stärker auf die territoriale Frage als die russländisch-amerikanischen Verhandlungen  – dieser Unterschied wurde auch explizit deutlich gemacht, und beide waren sich einig, dass »la question territoriale ne regardait nullement les Américains«.215 Die Briten hingegen wollten feste Territorialgrenzen ziehen, die dauerhaft (definitivement)216 eine Basis für weitestgehende souveräne Rechte bilden sollten. Bagot ging davon aus, dass Petersburg in dem »territoire qui nous sera dévolu« unbehelligt schalten und walten könne217 und machte so seine Vorstellung von imperialem Besitz deutlich. Dass die Debatte nicht nur zwischen den Mächten verlief, sondern dass es auch innerhalb Russlands Diskussionsbedarf gab, zeigen besonders die Stellungnahmen Admiral Mordvinovs. Dieser appellierte an Graf Nessel’rode, sich nicht auf einen »schmalen Streifen« herunterhandeln zu lassen, und argumentierte sehr grundsätzlich für den aktuellen und potentiellen Nutzen einer amerikanischen Kolonie für Russland.218 Und während Nessel’rode die Grenzdiskussion als solche für sinnvoll und notwendig hielt, blieb­ Mordvinov auch 1824 noch bei seinem Standpunkt, diese Frage könne ruhig noch auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Inzwischen hatte sich entgegen der traditionell nur auf Inseln und Küsten konzentrierten Expansionspolitik Russlands in Nordwestamerika ein Diskurs entwickelt, der für eine Stabilisierung der Kolonien durch die Aus­ weitung der Gebiete ins Landesinnere plädierte.219 Zu den Proponenten entsprechender Projekte gehörte im frühen 19.  Jahrhundert bereits Georg­ Heinrich von Langsdorff,220 später dann Nikolaj Mordvinov, Vladimir Romanov sowie Dmitrij Zavališin. Das ausschließliche Interesse am Pelz215 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  137 (M. Poletica to Count Nesselrode, 3. 11. 1823). Siehe auch Instrukcija upravljajuščego ministerstvom inostrannych del K. V. Nessel’rode P. I. Poletike, 18. 8. 1823, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 2, Tom 5 (13), S. 199–201. 216 Dies wird explizit angesprochen im Brief Livens an Nessel’rode: Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 94 f. 217 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  136 (M. Poletica to Count Nesselrode, 3. 11. 1823). 218 No. 1232 (Brief Mordvinovs an Nesselrode, 20. 2. 1824), in: Bil’basov, Archiv, IV, S. 644–647. 219 Bassin, Imperial visions, S. 27 f. Barratt, The Russian Interest in Arctic North America. Zavališin, Rossijsko-Amerikanskaja Kompanija. Mazour, Dimitry Zavalishin. 220 Langsdorff, Bemerkungen II, S. 160 f.

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handel erschien Vertretern dieser Richtung irreführend, insbesondere angesichts der erdrückenden amerikanischen und britischen Konkurrenz. Darüber hinaus hatten die Versorgungsprobleme inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass man nicht mehr nur Jagdgebiete, sondern auch agrarisch nutzbare Territorien für wichtig hielt.221 Fort Ross, auf das man viele Hoffnungen gesetzt hatte, erwies sich als Enttäuschung. Eine Ausweitung der russländischen amerikanischen Kolonien nach Süden und Osten erschienen somit existentiell wichtig, eine Grenzziehung zum aktuellen Zeitpunkt hingegen fatal. Nessel’rode sah dies anders. In einem Brief bestätigte er zwar das Argument, Russland habe aufgrund von Entdeckung und Besiedlung ein Recht auf die nordpazifischen Inseln und die Nordwestküste Amerikas bis zum 55. Breitengrad. Allerdings, so schrieb er weiter, vertrete Großbritannien die Rechte der Hudson’s Bay Company, und diese bewege sich – und zwar ebenfalls ungefähr auf dem 55. Grad nördlicher Breite  – nach Westen. Die Pazifikküste sei fast erreicht, Konflikte seien vorherzusehen, und eine weitere Ostexpansion Russlands keineswegs wünschenswert. In einer realpolitischen Einschätzung der Möglichkeiten Russlands argumentierte Nessel’rode nicht etwa mit einer Gegenüberstellung von Recht einerseits – einem mit kursiven Buchstaben hervorgehobenen pravo – und dem Pokerspiel der Mächte andererseits. Vielmehr erkannte er die Problematik und die vielfältige Interpretierbarkeit des scheinbar so eindeutigen Rechts. »Die gegenseitigen Ansprüche basieren auf den gleichen Grundsätzen«, und in dieser Situation war nur eine Lösung (odno liš sredstvo) denkbar, wollte man künftige Konflikte vermeiden: in einer gewissen Entfernung von der Küste müsse eine Grenzlinie gezogen werden (graničnaja čerta), die weder von den Russländern noch von den Briten übertreten werden dürfe. Die präzise Festlegung einer solchen Grenze (s točnost’ ju) sei notwendig, ja wichtiger als alles andere, für die sichere Existenz und Stabilisierung der russländischen Kolonien  – diskussionswürdig seien nur mehr Details. Und auch bei der Diskussion dieser Details erschien Nessel’rode eine realpolitische Einschätzung möglicher Konfliktrisiken entscheidend. Die Ausweitung der russländischen Gebiete ins Innere des nordamerikanischen Kontinents sei weder rechtlich noch praktisch machbar, verspreche auch keine entscheidenden 221 Glavnoe pravlenie Rossijsko-amerikanskoj kompanii glavnomu pravitelju rossijskoamerikanskoj kolonii M. I. Muravevu, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 2, Tom 5 (13), S. 345–345.

Das 19. Jahrhundert: Grenzfragen

Vorteile und würde letztlich nur zu Disputen und »weiteren unangenehmen Ereignissen« führen. Für Nessel’rode war die Grenzfrage von so primärer Bedeutung, dass er in den Verhandlungen mit England eine Diskussion der Seehandelsproblematik verweigerte, sollten die territorialen Ansprüche ungeklärt bleiben.222 Abgesehen von der Frage nach der Legitimierung territorialer Rechte stellte sich auch die Frage, wie die abzugrenzenden Territorien denn gestaltet werden sollten. Die frontier- oder transfrontier-Zonen boten keine homogenen Flächen, sondern heterogene Gebiete mit um Siedlungen und Forts herum entstandenen Konzentrationspunkten. Die russländisch-amerikanische Regelung von 1824, mit der solche Konzentrationspunkte aktuell vor Konkurrenz geschützt wurden, Flächen aber nur ein für die Zukunft projektiertes Konzept bildeten, erscheint hier nur konsequent. In den russländisch-britischen Verhandlungen aber hatte man sich bereits früh darauf geeinigt, dass man Grenzlinien ziehen und damit Flächen definieren wollte. Als eine solche Linie bot sich der 55. Breitengrad an. Auch dieser war nicht unumstritten, aber zumindest hatte sich eine, wenn auch kurze, historische Tradition herausgebildet, in der Breitengrade – welcher Höhe auch immer  – eine Orientierungsachse für territoriale Ansprüche bildeten. Die russländisch-britischen Verhandlungen wären einige Male fast daran gescheitert, dass Russland den Anspruch auf die Prince-of-Wales-Insel nicht aufgeben, England aber andererseits eine Ausdehnung russischer Ansprüche auf den 54. Breitengrad nicht zulassen wollte. Zur Lösung des Konfliktes wurde schließlich nach langen Disputen ein Küstenstreifen (lisière) von der Prince-of-Wales-Insel bis zum 60. Breitengrad festgelegt. Von dort aus sollte die Grenze entsprechend dem 141. Längengrad verlaufen. Bei dieser Festlegung spielten, abgesehen von den historisch, politisch und juristisch legitimierten Ansprüchen der beteiligten Mächte, folgende Aspekte eine Rolle: Wie explizit erklärt wurde, bemühten sich die Verhandlungspartner, »natürliche Grenzen« in ihre Regelungen aufzunehmen, denn diese seien »toujours les frontières les plus distinctes et les plus certaines.«223 Dazu gehörte das Bemühen, Inseln als territoriale Einheiten nicht durch Grenzen zu

222 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  156 (Sir C. Bagot to Mr. G. Canning, 17. 3. 1824). 223 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  160 (Observations of Russian plenipotentiaries). Siehe auch Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 210 (Mr. G. Canning to Mr. S. Canning, 8. 12. 1824).

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Raum und Menschen

trennen224 sowie die Orientierung an Gebirgen. Flüsse wurden eher als verbindend wahrgenommen und schließlich sogar von den territorialen Regelungen ausgenommen: Artikel 6 des Abkommens bestimmte, dass britische Untertanen die Flussläufe zum Pazifischen Ozean hin ungeachtet der ge­ zogenen territorialen Grenzen nutzen durften. Es waren Gebirge, die von Beginn an als trennend wahrgenommen wurden: die Rocky Mountains hatten früh im Verhandlungsbeginn als mögliche Orientierung für den Grenzverlauf fungiert, doch später waren es die Bergzüge entlang der Pazifikküste, die entscheidend werden sollten. Als schwierig erwies sich allerdings nicht nur, dass man sich einigen musste, ob nun der Fuß oder der Kamm des Gebirges entscheidend sein sollte.225 Darüber hinaus wurde es zu einem ernsthaften Problem, dass man zu wenige und vor allem zu wenig zuverlässige Informationen zur Topo­ grafie des Landes hatte, das man hier aufteilen wollte. Wiederholt wurde in den Verhandlungen der Mangel an wirklich zuverlässigen Karten beklagt. Graf Lieven beschrieb das Problem in einem Brief an Nessel’rode: »Le Gouvernement Anglais admet complettement cette ligne telle qu’elle se trouve désignée sur les cartes; mais comme il croit que celles-ci sont imparfaites, et que les montagnes devant servir de frontière pourraient en s’écartant de la côte, au delà de la ligne indiquée, enclaver une étendue de territoire considérable, il désire que celle que nous réclamons soit plus précisément désignée, afin de ne point céder en réalité au delà de ce que notre Cour demande, et de ce que l’Angle­terre est disposée à accorder.«226 Was zwanzig Jahre zuvor unwichtig erschienen war, hatte sich nun zu einem Problem entwickelt: der Mangel an Informationen über Regionen im Inland von Nordamerika, wo man Gebirge vermutete, aber über keine genauen Angaben verfügte. Und so wurde, trotz des Wunsches, sich an »natürlichen Grenzen« zu orientieren, schließlich das – typisch koloniale – Eintragen von Grenzlinien »mit dem Lineal« auf einem als tabula rasa begriffenen Territorium vorgenommen. Das Land wurde geometrisiert. Zunächst versuchten 224 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 158 (Counter-Draft by Russian Plenipotentiaries), und S. 170 (Count Nesselrode to Count Lieven, 5. 4. 1824). 225 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S.  188 (Memorandum from Count Lieven on the North-West Coast Convention). 226 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 176 (Count Lieven to Count Nesselrode, 20. 5. 1824).

Das 19. Jahrhundert: Grenzfragen

die Briten ihre Interessen abzusichern, indem sie festlegten, dass der russländische Küstenstreifen keinesfalls breiter als zehn Meilen sein dürfte  – gleichgültig, wie weit der Gebirgszug, der den eigentlichen Orientierungspunkt bildete, nun tatsächlich vom Meer entfernt war.227 Noch stärker aber als diese auffällig runde Zahl (zehn) zeigt die Festlegung der Inlandsgrenze die Geometrisierung des Raumverständnisses. Die territorialen Ansprüche waren bereits seit längerem mithilfe von Breitengraden festgelegt worden. Nun kamen auch Längengrade ins Spiel. Die durch das Inland bis zum Eismeer verlaufende Grenze zwischen britischem und russländischem Gebiet stand zur Debatte, doch waren die Optionen begrenzt: es ging um den 139., den 140. oder den 141. Längengrad – Minuten, wie bei den an Entdeckungen und Siedlungen orientierten Breitengraden an der Küste, spielten hier keine Rolle. Alle diese Meridiane verliefen durch weitestgehend unbekanntes Gebiet, allein die – noch nicht genau lokalisierte – Mündung des Mackenzie River spielte als konkreter Ort eine Rolle in diesem ansonsten als leer begriffenen Raum.228 Damit hatten sich beide Verhandlungspartner von ihren Ausgangspositionen und damit von der Vorstellung konkreter »Entdeckungen« und Siedlungen gründlich entfernt und jonglierten nun mit abstrakten Räumen. Die Konkurrenzsituation und damit letztlich die Notwendigkeit der Grenzziehung hatte schließlich zu der in der Literatur so häufig beschriebenen imperialen, abstrakten Raumvorstellung geführt. Die russländische Expansion nach Osten machte innerhalb von knapp anderthalb Jahrhunderten deutliche Veränderungen durch. Was als ein Voranschreiten durch die Einbeziehung neuer Untertanen begann, hatte sich bis 1824/25 zu einem ganz anderen Konzept von Expansion, Imperium und Macht entwickelt. Von Bedeutung für diesen Wandel war die generell zunehmende Territorialisierung Russlands, die wachsende Wertschätzung von Land als Basis und Ausdruck herrscherlicher Macht. Als entscheidend allerdings erwies sich an mehreren Schnittpunkten der Entwicklung die interimperiale Konkurrenz und die Notwendigkeit, sich mit den Ambitionen anderer Mächte auseinanderzusetzen. Während Sibirien als eine frontier erschien, in der es allein darum ging, den russländischen Machtbereich durch die Kooperation mit oder auch die Unterdrückung von indigenen Bevölkerungsgruppen zu vergrößern, bewegte Russland sich im 227 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 181 (Mr. G. Canning to Sir C. Bagot, 12. 7. 1824). 228 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1825, S. 177 (Count Lieven to Count Nesselrode, 20. 5. 1824).

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Nordpazifik und mehr noch auf dem nordamerikanischen Festland in eine ganz andere Zone. Hier wurde  – zunächst unerwartet  – die Konkurrenz der Mächte entscheidend, und aus der Frontiersituation war eine transfrontier entstanden. Der steten Bewegung nach Osten stand nun die Westbewegung Englands und der USA gegenüber. Es folgten einige Jahren eines nur wenig geordneten Mit- und Gegeneinanders, das man mit unterschiedlichen historiografischen und sozialwissenschaftlichen Konzepten wie middle ground,229 dem bereits genannten transfrontier oder, Jeremy Adelman und Stephen Aron folgend, auch als borderlands bezeichnen kann.230 Mit dem Begriff borderlands beschreiben Adelman und Aron eine Situation in kolonialen Gebieten, in der Grenzen – oder vielmehr Abgrenzungen – Thema und Ziel, aber keine anerkannte und respektierte Realität sind. Auf ganz Nordamerika bezogen, dauerte die Phase dieser borderlands bis zum Ende des 19. Jahrhunderts an, mit unterschiedlichen Entwicklungen in verschiedenen Regionen. Dieser Prozess hatte verschiedene Dimensionen, er hing jedoch auch sehr stark von den internationalen Beziehungen und vor allem der Akzeptanz völkerrechtlicher Konstruktionen ab. Adelman und Aron beschreiben dies bildhaft mit den Worten: »The lexicon of mutual respect for boundaries inscribed in treaties crept into international diplomacy«. Nur langsam entstand aus der interimperialen Konkurrenz eine Form internationaler Zusammenarbeit, nur langsam entwickelten sich »borderlands into bordered lands« und damit letztlich auch koloniale Gebiete in nationale Territorien. An diesem letzten Punkt des Entwicklungsprozesses in Nordamerika aber war Russland nicht mehr beteiligt. Die Grenzziehung der Verträge von 1824 und 1825 versprach zwar aus der Sicht einiger ihrer Väter eine Stabilisierung der russländischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent. Gleichzeitig aber deuteten die Debatten insbesondere mit den amerikanischen Vertretern ebenso wie die zeitgleich entstandene MonroeDoktrin bereits darauf hin, dass Russland in einem langfristig nicht kolonial, sondern national strukturierten Amerika keine Zukunft haben würde.

229 White, The Middle Ground. 230 Adelman u. Aron, From Borderlands to Borders. Die beiden Autoren legen allerdings einen Schwerpunkt ihres Interesses auf das Verhältnis zwischen Kolonialmächten und indigener Bevölkerung, der hier nicht verfolgt wird.

4. Land und Meer: Maritime Kulturen im Landimperium

4.1 Einleitung: Problematische Gegensätze Eine der scheinbar offensichtlichsten und folgenreichsten Eigenschaften Russisch Amerikas als Teil  des russländischen Imperiums war seine besondere geografische Lage: Es handelte sich hier um die einzige Region des Reiches, die durch einen Ozean vom Festlandimperium getrennt war. Damit wird Russisch Amerika von vielen Historikern als Ausnahmeerscheinung beschrieben,1 und die überseeische Lage wird nicht selten in einem Atemzug und in kausalem Zusammenhang mit der eher kurzen Existenz der Kolonie genannt.2 Wie bereits erwähnt: Trotz vieler Kontinuitäten und Ähnlichkeiten zwischen der sibirischen und der nordpazifischen Expansion – Basil Dmytryshyn prägte die Formulierung vom Weg zum Pazifik und nach Nordamerika als »natürliche Fortsetzung des russländischen Expansionsdranges durch Sibirien«3 – werden die russländischen Ambitionen und Expansionen im Nordpazifik doch überwiegend als ein neuer, anderer, ungewöhnlicher Schritt in der imperialen Geschichte Russlands betrachtet.4 Kürzlich formulierte Ryan Jones: »When the Russians charted the Pacific Ocean, they encountered a medium that was entirely different from the terrestrial spaces they were familiar with.«5 Das Erreichen der Pazifikküste in der Mitte des 17. Jahrhunderts und der Beginn russländischer Seefahrt im Nordpazifik erscheinen auf selbstverständliche Weise als Zäsur, als genuin andersartiger, problematischer  – und letztlich eben nicht erfolgreicher  – Expansionsversuch. »Alaska was not simply an extension of Siberia«6, wie Ilya Vinkovetsky formuliert, und der Hauptgrund für diesen Bruch lag vielen Forschern zufolge im neuen, maritimen Charakter der Expansions-

1 Smith-Peter, Russian Colonization, S. 1. 2 So bei Köhler, Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert. 3 Dmytryshyn, Introduction, in: To Siberia and Russian America II, S.  xxxi. Ähnlich Völkl, Das russische Pazifik-Imperium, S. 358. 4 Okun’, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 116. Gibson, Russian Expansion. 5 Jones, Pacific Currents, S. 63. 6 Vinkovetsky, Russian America, S. 31.

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Land und Meer

bewegung.7 Hier setzt das folgende Kapitel an: Während diese wirtschaftlichen, infrastrukturellen und ökologischen Unterschiede fraglos von Bedeutung waren, bleibt doch die Frage, ob auch die Akteure selbst hier einen Wandel oder gar einen Bruch sahen. Die bisher in dieser Studie bearbeiteten Quellen sprechen eher für die Vorstellung von Kontinuität. Doch welche Bedeutung kommt hier dem Meer zu? Inwiefern bildete der Pazifische Ozean eine natürliche Grenze? Wurde die maritime Expansion anders gesehen als das Reisen an Land? Welche Rolle spielte das Meer generell in der Raumwahrnehmung der Akteure? Diese Fragen haben eine Bedeutung, die über die Wahrnehmung und die praktischen Bedingungen der Expansion nach Russisch Amerika hinausgeht. Auch die internen Logiken und Betrachtungsmuster der historischen Imperienforschung geraten an dieser Stelle erneut in den Blick: So ist zu beobachten, dass die Expansion nach Russisch Amerika aus historiografischer Sicht auch deshalb so problematisch erscheint, weil sie einer grundlegenden Kategorisierung von Imperien widerspricht. Die aktuell florierende Imperiumsforschung hat die Unterscheidung von Land- und Seereichen zu einer zentralen Vergleichs- und Systematisierungskategorie gemacht.8 Problematisch erscheint vor allem, dass diese Unterscheidung von Landund Seeimperien in vielen Forschungsarbeiten nicht nur als Analysekategorie fungiert, sondern zu einer schematisch definierten Schublade mit zuweilen normativen Implikationen wird.9 Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Gegensatz von See- und Landmächten zu einem Teil des modernen dualistischen Denkens, und Russland galt als küstenloses »Herzland«.10 Folgt man dieser Logik, so unterscheiden sich Herrschaftsstrategien, Kosten und entsprechend auch Erfolgsaussichten von Landimperien und Seereichen grundlegend. Während Landimperien ihre Macht auf die Beherrschung von Territorien stützen – eine für die Frühe Neuzeit allerdings fundamental pro7 Okun’, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S.  118. Bolchovitinov, Kontinental’naja kolonizacija Sibiri. Derselbe Autor schrieb jedoch auch »In my opinion, there was no principal difference between the Russian colonization of Siberia and Alaska.« Bolkhovitinov, Some Results of the Study of the Maritime Colonization. 8 Münkler, Imperien, S.  81 f. Osterhammel, Imperien. Vulpius, Das Imperium. Jobst, Obertreis u. Vulpius, Neuere Imperiumsforschung. Hofmeister, Tagungsbericht zu: Imperium inter pares. Mancke, Early Modern Expansion, S. 233. 9 z. B. bei Münkler, Imperien, S. 93–95. 10 Becker, Russia and the Concept of Empire, S. 332. Mackinder, The Geographical Pivot of History. Siehe dazu: Reuber u. Wolkersdorfer, Geopolitische Weltbilder als diskursive Konstruktionen.

Einleitung: Problematische Gegensätze

blematische Vorstellung  – konzentrieren sich maritime Reiche vor allem auf das Etablieren von Handelsstützpunkten und die Kontrolle von Warenund Geldströmen. Dass es hier zu Überschneidungen kommt, wird generell eingestanden; die grundlegende Unterscheidung jedoch bleibt be­stehen. Die Kategorien »Kontinentalimperium« und »Seereich« werden nicht selten in essentialistische Zuordnungen übersetzt, und russländische maritime Ambitionen erscheinen in dieser Perspektive schnell als Widerspruch zum »eigentlichen« Charakter des Imperiums: »Obwohl das Zarenreich eine Kontinentalmacht war, betrachteten es seine Herrscher lange als ein maritimes Imperium.«11 Das Adjektiv »kontinental« wandelt sich auf diese Weise von einem analytischen Instrument zu einer genuinen Wesensbeschreibung Russlands mit seiner »distinctive continental nature«,12 Peter I. erscheint einmal mehr als eigentlich »unrussische« Ausnahme,13 und Ozeane und Meere werden zu einem für »die Russen« fremden, unbekannten Raum, den Historiker unbesehen ausklammern können.14 Trotz der kaum überschaubaren Masse kulturwissenschaftlicher Publikationen zur gesellschaftlichen Konstruktion von Raum und Landschaften erscheint eine traditionelle, pauschalisierende eins-zu-eins Übersetzung vermeintlich objektiver geografischer Voraussetzungen in historische Erklärungen doch weit verbreitet, sobald das Meer ins Spiel kommt. Heather Sunderland hat dies sehr entschieden kritisiert für die allzu generelle Wahrnehmung Südostasiens als »offene maritime Kultur«15; es spricht einiges dafür, auch den umgekehrten Weg zu gehen und Russlands Bild von der »geschlossenen kontinentalen Kultur« zumindest zu hinterfragen. Die beiden hier skizzierten Argumentationslinien  – die Wahrnehmung Russisch Amerikas als außergewöhnlicher und deshalb fragwürdiger Teil des russländischen Imperiums einerseits und die nicht unproblematische Konzeption Russlands als Landimperium andererseits  – hängen eng mit­ einander zusammen.16 Dieses Kapitel wird unter anderem solche historioSperling, Der Aufbruch der Provinz, S. 59. Miller, Kodiak Kreol, S. 29. Mitchell, The Maritime History of Russia, S. 80 f. Besonders deutlich wird dieser Ansatz in der Forschung James Gibsons: Gibson, A­ notable absence. Gibson spricht auch gern von russischen »Landratten«, so in ders., Russian Expansion, S. 128 oder ders., Sables to Seaotters, S. 207. 15 Sunderland, Geography as destiny. 16 Unter anderem bei Nikolaj Bolchovitinov bildet der kontinentale Charakter Russlands eine unmittelbare Ursache für das »Scheitern« im Nordpazifik, also den Verkauf Alaskas. Bolkhovitinov, The Sale of Alaska. 11 12 13 14

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Land und Meer

grafischen Grundannahmen hinterfragen. Dabei kann und soll es nicht darum gehen, aus den russländischen »Landratten« ein Seefahrervolk zu machen; das Landimperium soll keineswegs in ein Seereich umgeschrieben werden. Ebenso wenig wird hier die Frage nach strukturellen Gründen für die territoriale Konzentration Russlands auch im 19.  Jahrhundert diskutiert.17 Auch kann und soll dies kein Beitrag zur Seefahrtsgeschichte Russlands werden. Vielmehr geht es auch in diesem Kapitel um Wahrnehmungen und Raumvorstellungen. Und wenn wir mit Ann Laura Stoler davon ausgehen, dass Heterogenität nicht nur ein Merkmal, sondern tatsächlich eine definierende Eigenschaft von Imperien ist,18 dann ist es nicht mehr verwunderlich, dass auch das »Landimperium« Russland durchaus maritime Ambitionen entwickelte und maritime Kulturen beherbergte. Dazu gehörten – unter anderem – das petrinische Interesse an der Ostsee, die katharinäischen Ambitionen im Atlantik, natürlich die Jahrhunderte alten Traditionen von Küstenvölkern im russländischen Imperium und eben auch, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, die Seereisen im Nordpazifik. Solche maritimen Interessen können nicht ignoriert oder als »untypisch« abgetan werden. Für die Geschichte der USA im 19. Jahrhundert gibt es eine alte Debatte zwischen den Vertretern des continentalism und Historikern, welche für die These vom »golden age of American maritime history« für die Zeit von 1812 bis 1860 streiten.19 Eine ähnliche Auseinandersetzung wäre wohl auch für Russland denkbar. Und so lohnt sich eine genaue Analyse der Quellen mit einem Blick darauf, wie das Meer – hier speziell der Nordpazifik – in russländischen Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts dargestellt wurde. Eine solche Analyse findet Anregungen und zugleich Reibungspunkte in der Beschäftigung mit der zurzeit florierenden Meeresforschung. Unter dem Konzept maritime humanities oder ähnlichen, aktuell noch etwas tentativ formulierten Begriffen sammeln sich seit etwa zwei Dekaden Historiker, Geografen und Literaturwissenschaftler, um »das Meer zu historisieren«, oder, wie John Gillis so schön formuliert: taking history offshore.20 Russland allerdings spielt in den inzwischen zahlreichen Publikationen dieser Forschungsrichtung praktisch keine Rolle, und es stellt sich die Frage, ob und wie dies zu ändern ist. Erkenntnisse der maritime history bieten wert17 18 19 20

Thesen zu dieser Frage in Jones, Pacific Currents, S. 74 f. Stoler, On Degrees. Siehe z. B. Vevier, American Continentalism. Mahan, The interest of America. Klein u. Mackenthun, Einleitung. Gillis, Taking history offshore. Weitere wichtige konzeptionelle Texte sind z. B.: Wigen, Oceans of History. Heidbrink, Maritime History.

Einleitung: Problematische Gegensätze

volle Paradigmen und Anregungen für eine Betrachtung des Nordpazifik auch aus russländischer Sicht. Insbesondere die enge Verbindung zu den Debatten der Globalgeschichte ist hier von Bedeutung. Sie löst diese neue Meeresgeschichte aus den klassischen, oft ausschließlich national orientierten Schifffahrtsgeschichten heraus und betont die Funktion von Meeren als Überschneidungs- und Kontakträume. »Oceans«, so formuliert Lauren ­Benton, »have become the quintessential metaphor for globalization.«21 So kann die Russlandforschung auch in Bezug auf ihre zurzeit noch etwas unsicheren globalhistorischen Ambitionen profitieren. Umgekehrt aber wird auch die maritime history durch eine Einbeziehung Russlands bereichert, zwingt diese Erweiterung uns doch dazu, einige allzu pauschal gefasste Urteile in Frage zu stellen. Als theoretische Folie für dieses Kapitel dienen vor allem solche Studien, die Meere als Wahrnehmungsräume und Konstruktionsobjekte betrachten. Insbesondere Philipp Steinberg hat überzeugend und detailliert heraus­ gearbeitet, wie die Meere in der westlichen Moderne zu nicht-territorialen Räumen konstruiert wurden und wie Akteure in Politik, Wirtschaft und vor allem Internationalem Recht dennoch Herrschaftskonzepte über die Meere entwickelten.22 Steinberg stellt damit letztlich auch eine verbreitete kulturwissenschaftliche, leider oft gänzlich unhistorisch argumentierende Tradition der »Unfassbarkeit des Meeres« in Frage. So große Namen wie Michel Foucault, Hans Blumenberg und Jean Delumeau23 stehen für das kaum reflektierte – dafür umso häufiger zitierte24 – Paradigma von der fundamentalen Fremdheit und Unbeherrschbarkeit des Meeres. Aussagen wie »Wasser und Wahnsinn sind im Traum des abendländischen Menschen für lange Zeit verbunden«25 oder die pauschale Annahme, »das Meer [sei] als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen« zu verstehen,26 verlangen nach historischer und kultureller Differenzierung und Überprü21 Benton, A Search for Sovereignty, S. 104. 22 Steinberg, The social construction. Jens Bartelson sieht bereits für das Mittelalter die Konstruktion des nicht-territorialen Meeres: Bartelson, A genealogy of sovereignty, S. 105. 23 Foucault, Andere Räume. Ders., Wahnsinn und Gesellschaft. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Delumeau, Angst im Abendland. 24 z. B. bei: Klein u. Mackenthun, Einleitung, S. 11. Schnurmann, Frühneuzeitliche Formen maritimer Vereinnahmung, S.  49. Makropoulos, Modernität als Kontingenz­ kultur. Siehe auch Cook, Surveying the Seas. 25 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 29. 26 Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, S. 9.

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Land und Meer

fung. Steinberg legt hier wertvolle Grundlagen mit der Prämisse, dass die Wahrnehmung der Meere, oder, wie er es formuliert, die Konstruktion eines ocean space, historischem und gesellschaftlichem Wandel unterliege. Darüber hinaus stellt er diesen ocean space, bzw. das ozeanische Raumverständnis, in einen direkten Bezug zum auf Land bezogenen Raumverständnis. Dies hat in erster Linie konzeptionelle Gründe, ist doch der Begriff ocean space bei Steinberg bewusst als Spiegelung von land space formuliert und postuliert die Annahme, dass das Meer ebenso ein gesellschaftlicher Raum sei wie das Land. Außerdem stellt Steinberg so die Konstruktion des Meeresraumes in ein dynamisches, durchaus interdependentes, vor allem aber komplexes Verhältnis zum Land. Das Meer kann als ein nicht-territoriales »Anderes« konstruiert sein, muss es aber nicht.27 Politische und ökonomische Strukturen, unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Interessen sowie ökologische Zusammenhänge determinieren die Diskurse, welche ihrerseits die Konstruktion des Meeresraumes bestimmen. Steinbergs Argumentation fasziniert, sie ist logisch und bestechend – sein großer Wurf verlangt jedoch nach weiteren, quellenbasierten und detaillierteren Untersuchungen. Diese Ansätze und Forschungsprobleme bilden die Basis, aus der die Ausgangsfragen des folgenden Kapitels erwachsen: Wie nahmen verschiedene Akteure im 18. und 19. Jahrhundert das Meer, speziell den Nordpazifik wahr? Welche Ängste, Hoffnungen, Konstruktionen, Ansprüche spiegeln hier die Quellen, und welche Unterschiede sind zu erkennen, wenn man verschiedene Akteursgruppen und Zeiträume in den Blick nimmt? Auf welche Weise verhält sich schließlich die Wahrnehmung des Meeres in russländischen Diskursen zu den Dynamiken von Territorialisierungsprozessen?

4.2 Drama – das Meer als das Andere? »Nachmittags gelangten wir in Cooks-Straße, liefen selbige nach Süden zu uns herab, und hatten nun den unermeßlichen Ocean vor uns, der unter dem Namen der Süd-See bekannt ist.«28 Dieses Zitat aus Georg Forsters Reisebericht zur zweiten Weltumsegelung James Cooks erscheint repräsentativ für die Wahrnehmung der Meere, ins27 Dazu: Winkler u. Kraus, Weltmeere. 28 Forster, Reise um die Welt, S. 223 (Herv. d. Verf.)

Drama – das Meer als das Andere?

besondere des Pazifiks, im späten 18. Jahrhundert. Die Seekarten dieser Zeit waren nicht mehr mit erschreckenden und faszinierenden Seemonstern illustriert, sondern wiesen die nüchtern-regelmäßige, Zuverlässigkeit ver­ heißende Struktur von exakt zu vermessenden Längen- und Breitengraden auf. Mit den neuesten technischen, kartografischen und navigatorischen Errungenschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts war nun auch eine zuverlässigere Determinierung des Längengrades und damit eine deutlich bessere Orientierung auf See möglich. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und der Glaube an das Expertentum der Seemannschaft29 ließen jedoch durchaus noch Raum für eine emotionale und ästhetische Aufladung des Ozeans. Forsters Perspektive auf den »vor uns« liegenden »unermeßlichen Ocean«, die gespannte Erwartung und die Entdeckerlust sind paradigmatisch für den pacific craze, der mit der Reise Lord Ansons und insbesondere der geografischen sowie mentalen Entdeckung der ersten »Südseeparadiese« begann. Die Berichte von Forster, Bougainville, La Pérouse und anderen begründeten die Vorstellung des modernen Sehnsuchtsraumes »Südsee«. Sie bilden auch die Basis und das Objekt eines beliebten Forschungszweiges, welcher die Mechanismen aufklärerischer und romantischer Konstruktion eines nicht-westlichen »Anderen« am Beispiel des Pazifiks in zahlreichen Büchern und Artikeln analysiert.30 Diese Südseeforschung bildet ihrerseits ein Element einer weit verzweigten Forschungsindustrie zur Selbstkonstruktion der Moderne durch ein nicht-modernes, nicht-aufgeklärtes, nicht-westliches »Anderes«: In Bezug auf den »Orient«, im neu »entdeckten« Amerika, mit Blick auf Osteuropa oder eben auf »das Meer« scheint dualistisches, auf Identität und Alterität gerichtetes Denken kaum vermeidbar zu sein. Wie ordnen sich die russländischen Diskurse in solche Traditionen ein? Zunächst erscheinen sie aus westlicher Sicht häufig  – wieder einmal  – in einer Außenseiterposition. In europäischen Quellen seit dem 18. Jahrhundert ist ebenso wie in zahlreichen historiografischen Darstellungen mehr oder weniger explizit die Vorstellung zu finden, »die Russen« seien als Kontinentalmacht mit dem Meer nicht vertraut. Im späten 18.  Jahrhundert schrieb der generell recht russlandkritische Geograf Samuel Engel:

29 Kinzel, Orientierung als Paradigma der maritimen Moderne, S. 76. 30 So beispielsweise: Dürbeck, Stereotype Paradiese. Küchler Williams, Erotische Paradiese. Balme, Pacific performances. O’Brien, The Pacific Muse.

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»Sind aber die Russen, diese Jakutsken, u. s. f. gute Seeleute? […] Aus allen Nachrichten sieht man, wie zaghaft diese Leute auf dem Meere sind, und wie wenig sie sich getrauen, sich vom Ufer zu entfernen«31. Im 19. Jahrhundert wird diese Idee zunehmend prominent: Alfred Rambaud beschrieb Russland als das in Bezug auf Meere »kärglichst bedachte Land Europas«,32 und im 20. Jahrhundert bezeichnete der Nordpazifik-Histo­riker James Gibson die Russen gern als »Landratten« (landlubbers)33. Dieser Eindruck von den dem Meer fremden Russen wird auch durch die narrative Struktur vieler historiografischer Texte gestützt, welche das Jahr 1639 als den Zeitpunkt festlegen, an dem »die Russen die Pazifikküste erreichten«.34 Der Leser kann sich nur schwer dem Bild von russischen Jägern entziehen, die bisher allenfalls ein wenig Erfahrung mit der Flussschifffahrt gemacht hatten,35 nun an einen Strand gelangten und dort etwas ratlos und ängstlich in die blaue Ferne schauten. Wenn Kulturwissenschaftler und weitgehend auch Historiker davon ausgehen, dass das Meer generell als etwas Fremdes, Beängstigendes wahrgenommen wird, dann müsste dies besonders stark auf die Russen, sibiriaki und Kosaken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zutreffen, welche sich »plötzlich«36 an der Pazifikküste wiederfanden. Welche zeitgenössischen Wahrnehmungen finden sich nun in den Quellen wieder? Die zahlreichen Reiseberichte, Briefe, Instruktionen und weiteren Quellen aus dem Bereich russländischer Expansion im Nordpazifik ordnen sich bereits auf den ersten Blick nicht in das Paradigma von der modernen Konstruktion des »Anderen«, in diesem Fall des Meeres, ein. Ver­geblich sucht der an Said und Greenblatt geschulte Leser nach den kulturwissenschaftlich konstruierten klassischen Elementen von Meereswahrnehmung, nach Furcht, Begeisterung für das Erhabene, MachtlosigEngel, Geographische und kritische Nachrichten, S. 325. Rambaud, Geschichte Russlands, S. 2. U. a. in Gibson, Russian Expansion, S. 135. z. B. Gibson, Sables to Seaotters, S. 203. Kappeler schreibt ähnlich »…und 1639 standen die ersten russischen Trupps am Pazifik.« Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich, S. 39. 35 Darauf, dass es nicht nur »ein wenig« Flussschifffahrt war, haben allerdings einige Forscher hingewiesen. Insbesondere viele Kosaken waren im 17. Jahrhundert keineswegs nur an das Land gebunden, sondern sammelten über lange Zeit hinweg Erfahrungen in der Fluss- und Küstenschifffahrt. Im zeitgenössischen europäischen Vergleich, so Raymond Fisher, waren die kleinen Boote, flexibel und leicht, recht gut für ihre­ Zwecke geeignet. Fisher, Dezhnev’s Voyage, S. 15. Belov, Arktičeskoe moreplavanie. 36 Dmytryshyn, Introduction, in: To Siberia and Russian America II, S. xxiii. 31 32 33 34

Drama – das Meer als das Andere?

keit angesichts der Unfassbarkeit und Weite und vor allem: nach Identitätsbildung durch radikale Alterität. Was gerade angesichts des Bildes von den wasserscheuen Russen zu erwarten wäre, fehlt. Das in der Forschungsliteratur ebenso wie in der russischen Erinnerungskultur oft zur Zäsur hoch­ stilisierte Erreichen der pazifischen Küste und der Weg hinaus auf das offene Meer erscheinen in den Quellen selbst auf geradezu enttäuschende Weise undramatisch. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Dokumente bestimmt von einer ausgesprochen pragmatischen Herangehensweise ohne jegliche Mythisierung des Meeres. Dahinter stehen verschiedene Interessen, narrative Strategien und Raumwahrnehmungen, deren Betrachtung verschiedene aktuell vorherrschende Bilder korrigieren kann: sowohl die sehr einheitliche Wahrnehmung vom europäischen othering der Meere als auch die stillschweigende Übereinkunft, dass Russland keinen Platz habe in einer Geschichte der Meere. Der festgestellte Mangel an Dramatik wird im Folgenden etwas genauer ausgeführt, bevor die russländischen Meereswahrnehmungen dann in zwei weiteren Abschnitten zu Herrschaft und Struktur analysiert werden. Bereits angesichts der Berichte und Petitionen von Kosaken des 17. Jahrhunderts fällt auf, wie wenig hier das Meer als Raum der Angst oder auch der Faszination eine Rolle spielt. Die entsprechenden Quellen sind lakonisch und in ihrem Genre-Charakter keineswegs mit den narrativ strukturierten, an ein breites Publikum gerichteten Reiseberichten des 18.  und 19.  Jahrhunderts zu vergleichen.37 Insofern überrascht es nicht, dass wir hier keine elaborierte Konstruktion des Meeres als Imaginationsraum finden. Doch grundsätzlich hatten Ängste und Gefahren – ob real oder imaginiert – durchaus ihren Platz in den Quellen. Man wandte sich – oft durchaus mit einem gesunden Sinn für Dramatik – an hohe Beamte oder unmittelbar an den Zaren, schilderte Probleme und bat um Vergebung für Verspätungen und Fehler oder äußerte den Wunsch nach Hilfe. Dabei ging es in erster ­Linie um bürokratische Probleme sowie um Konflikte mit der indigenen Bevölkerung oder anderen Kosaken, nicht aber in spezifischer Weise um das Meer.38 Die relativ häufige Formulierung vom »großen Meer« (bol’šoe 37 Zu verschiedenen Genres des Reiseberichts und seiner Rezeption siehe z. B. Osterhammel, Von Kolumbus bis Cook. Bödeker, Bauerkämper u. Struck, Einleitung. 38 Z. B. Dežnev, Vtoraja čelobitnaja Semena Dežneva, ot 23-go sentjabrja 1664.Otpiska jakutskich voevod V. N. Puškina i K. O. Suoneva v Sibirskij prikaz o količestve služilych ljudej v Jakutskim ostroge, 1646, in: Orlova, Otkrytija, S.  212–218. Iz donošenija Senata Ekaterine I o rezultatach ekspedicii polkovnika Ja. A. Elčina v 1716 g, a takže

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more, velikij more-okijan)39 zeigt, dass den Akteuren durchaus bewusst war, wo sie sich geografisch bewegten – dennoch werden Fahrten auf dieses »große Meer« nur ausgesprochen lakonisch erwähnt.40 In vielen Petitionen und Berichten wird um die Erlaubnis gebeten, einen weiteren Fluss zu befahren und ein weiteres Gebiet zu bereisen, eine Insel anzufahren, oder eben auch, sich auf das Meer zu begeben.41 Doch nahm innerhalb dieser Strukturierung des Raumes, in der das weitere Fortschreiten oft nur mit zentral erteilter Erlaubnis und Unterstützung möglich war, das Meer keine Sonderposition ein.42 Auf dem Meer bzw. auf den erhofften, gesichteten oder aus Berichten bekannten Inseln waren die gleichen Dinge von Interesse wie auf dem Festland: neue tributpflichtige Untertanen und profitable Pelze.43 Als genuin neuen Schritt, als besonderes Unternehmen oder gar Zäsur in der Expansionsgeschichte Russlands beschreibt keine der mir bekannten Quellen des o ›skaske‹ A. F. Šestakova o pokazanijach I. P. Kozyrevskogo, 18. 1. 1727, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S.  134–136. Knjazev, Otpiska Semena Dežneva. Čelobitnaja carju Michailu Fedoroviču lenskogo služilogo čeloveka Semena Ivanova Dežneva o »vorovstve« služilogo čeloveka Gerasima Ankudinova, 1648 g., in: Belov, Russkie morechody, S. 113 f. Čelobitnaja carju 75 čelovek, 17. 4. 1711, in: Timofeev, A. I, Pamjatniki I, S. 441–451. 39 Iz otpiski s reki Kolymy jakutskomu voevode Petru Golovinu služilogo čeloveka­ Vtorogo Gavrilova s tovariščami o pervom pochode S.  Dežneva i F. Alekseeva na­ Anadyr, 1647 g., in: Belov, Russkie morechody, S.  110 f. Čelobitnaja carju Alekseju­ Michajloviču prikazčika Anadyrskogo ostrožka Semena Ivanova Dežneva o vydače emu žalovan’ja i o peremene prikazčika na reke Anadyr, 1654 g., in: Belov, Russkie­ morechody, S. 118 f. 40 Dežnev, Pervaja čelobitnaja Semena Dežneva, 1662g. Čelobitnaja kazačego d ­ esjatnika Michaila Staduchina o žalovane za pochody, 1659/60, in: Orlova, Otkrytija, S. 156–158. 41 Otpiska jakutskich voevod V. N. Puškina i K. O. Suoneva v Sibirskij prikaz o količestve služilych ljudej v Jakutskim ostroge, 1646, in: Orlova, Otkrytija, S.  212–218. Čelo­ bitnaja torgovogo čeloveka Afanasija Fedotova i promyšlennogo čeloveka Vasilija­ Fedotova o razrešennii postroit koč dlja sobolinogo promysla, 1646 g., in: Orlova,­ Otkrytija, S. 203 f. 42 Eine der ausgesprochen wenigen Ausnahmen, in denen das Meer als Problem erscheint, findet sich in Quellen zu Reisen aus dem Jahre 1648. Doch auch da kann von einer »Konstruktion des Anderen« nicht gesprochen werden. Iz čelobitnoj jakutskogo Kazaka Ivana Baranova o svoich Službach na reke Lene, Iane, Indigirke i Kolyme, 1648, in: Belov, Russkie morechody, S. 114 f. 43 Iz otpiski s reki Kolymy jakutskomu voevode Petru Golovinu služilogo čeloveka­ Vtorogo Gavrilova s tovariščami o pervom pochode S.  Dežneva i F. Alekseeva na Anadyr, 1647 g., in: Belov, Russkie morechody, S.  110 f. Skazka služilogo čeloveka Michaila Staduchina o rr. Kolyme, Čjukče, Anadyr i o naselenii po ich beregami, in: Orlova, ­Otkrytija, S.  233–246. Hinzu kamen an Küsten und Inseln außerdem Walrossstoßzähne.

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17. und frühen 18. Jahrhunderts den Weg auf den Ozean. Deutlich wichtiger als das Meer erschienen die Flüsse bzw. die Flussmündungen, welche, wie bereits im Kapitel zu Linien und Flächen deutlich wurde, zentral für die Orientierung und mentale Raumstrukturierung der russländischen Expansion im 17. und 18. Jahrhundert waren.44 Dieses – aus westlicher und moderner Sicht – erstaunliche »Fehlen« der Konstruktion eines als anders, fremd imaginierten Meeres scheint nur auf den ersten Blick in einem Widerspruch zum russländischen, scheinbar landgebundenen Expansionsprozess auf dem eurasischen Kontinent zu stehen. Denn gerade das schrittweise Fortkommen von Kosaken, Jägern und auch Beamten durch Sibirien hatte unter anderem zur Folge, dass die Konstruktion des Anderen, der Moment des Staunens, das Erlebnis des Erstkontakts in der russländischen imperialen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielte.45 Um aus osteuropäischer Perspektive eine etwas klischeehafte Konstruktion der westlichen Expansion zu bemühen: Christoph Kolumbus nahm nach langer Reise über den Ozean eine »neue« Welt wahr, in der Landschaft, Menschen und Tiere in großem und vor allem plötzlichem Kontrast zur Alten Welt standen. Diese Neuheit, die Fremdheit, das Andere wurden in den nachfolgenden Jahrhunderten ausgiebig geschildert und zu einem entscheidenden Diskurs europäischer Weltwahrnehmung zurechtkonstruiert.46 In der russländischen Expansion dagegen gab es keinen vergleichbaren Schock- und Erkenntnismoment.47 Kooperation und Konflikt mit den Menschen und graduelle Veränderung von Landschaft und Kultur bestimmten bereits den Landweg durch Sibirien, das von Ilya Vinkovetsky und anderen als »Ozeanersatz« (ocean substitute) bezeichnet wurde.48 So argumentiert, erscheint paradoxerweise gerade das Fehlen der Meereserfahrung durch russländische Eroberer als eine plausible Erklärung für die ausgespro-

44 z. B. Dežnev, Vtoraja čelobitnaja Semena Dežneva, ot 23-go sentjabrja 1664. 45 Die Konstruktionen Sibiriens, Zentralasiens und des Kaukasus im 19.  Jahrhundert folgten anderen Logiken. Siehe Laruelle, The White Tsar. Bassin, Imperialer Raum. Weiss, Wie Sibirien unser wurde. Krüger, Identität. Sahadeo, Russian. 46 Greenblatt, Marvelous Possessions. Bitterli, Die Wilden und die Zivilisierten. 47 Dieses etablierte Argument findet sich z. B. bei Slezkine, The Sovereign’s ­Foreigners, Kusber, Entdecker und Entdeckte oder auch, spezifiziert, bei: Vinkovetsky, Circum­ navigation. 48 Vinkovetsky, Russian America, S. 12. Siehe auch Collins, Subjugation and Settlement, S. 39. Auch LeDonne spricht von einem steppe-ocean: LeDonne, The Russian empire and the world, S. 164.

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chen pragmatische und lakonische Begegnung mit dem Pazifischen Ozean im 17. Jahrhundert. Wie aber gestaltete sich die Wahrnehmung des Raumes Ozean – erneut mit dem Blick auf den Pazifik – im 18. Jahrhundert? Die Grundlagen für die Betrachtung unterscheiden sich zumindest in Teilen sehr deutlich von denen des Moskauer Reiches. Mit dem 18. Jahrhunderts begann Russland, sich explizit und systematisch als maritime Macht zu versuchen. Das Interesse Peters des Großen am Meer und am Aufbau einer Flotte ist geradezu sprichwörtlich. Dieser von Guido Hausmann als »hydraulischer Herrscher«49 bezeichnete Kaiser ließ sich gern mit nautischen Instrumenten abbilden, und nicht wenige seiner zahlreichen Reformen orientierten sich explizit oder implizit an den Anforderungen des Flottenbaus. Peters Einsatz für eine aktive Meerespolitik wurde zwar von seinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen nicht mit dem gleichen Engagement fortgeführt, doch hatte das Maritime in den imperialen Diskursen des 18.  Jahrhunderts durchaus seinen Platz gefunden. In den Oden Sumarokovs und Lomonosovs wurde das gefeierte Herrschertum mit Zukunftsvisionen, Expansion und Sicherheit verknüpft – Eigenschaften, welche die Autoren gern mit Bilden des Meeres, der Schiffen und des Kapitäns illustrierten.50 Die imperiale Expansion generell erfuhr mit Peter zwar keinen fundamentalen Bruch,51 doch zeugen Organisation und Sprache der Erforschung und Eroberung von einem deutlichen Wahrnehmungswandel. Russland verstand sich zunehmend als aufgeklärte, europäische Macht und wollte auch am europäischen »Zeitalter der Entdeckungen« teilhaben. Der Wunsch, Staat und Gesellschaft aktiv zu gestalten, ebenso wie die dazugehörige Selbstdarstellung veränderten sich rasant. Vorstellungen vom »Erhabenen« in der Natur, das sich in majestätischer Herrschaft spiegeln sollte, waren in der neu entstehenden Poesie ebenfalls vorherrschend.52 Entsprechend liegen ungleich zahlreichere und ausführlichere Quellen vor als für die vorpetrinische Zeit. Wenn sich die Quellen der Nordpazifikfahrer aus dem 17.  Jahrhundert so auffällig undramatisch gestalten, wie viel Drama, so lautet die Frage, 49 Hausmann, Maritimes Reich. 50 Beispiele: Sumarokov, Oda E. I. V. vsemilostivejšej gosudaryne Imperatrice. Ders., Oda vzdornaja. Lomonosov, Oda blažennyj pamjati gosudaryne imperatrice Anne Joannovne. Ders., Nadpis’ na novyj 1755 god. 51 Zur Debatte, ob Russland schon vor 1721 ein Imperium war, siehe: Filjuškin, Problema Genezisa. 52 Ram, The imperial sublime.

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hielt das Meer dann für die zahlreichen Seefahrer, Wissenschaftler, Kaufleute und Bürokraten des 18. Jahrhunderts bereit, die mit dem Projekt der Erforschung und imperialen Einbeziehung des Nordpazifik beschäftigt waren? Wichtiger noch: wie viel othering finden wir in diesen von der Aufklärung, der möglicherweise dualistischsten aller Denkweisen, inspirierten Texten? Die Antwort kann vorweg genommen werden: ebenfalls erstaunlich wenig. Logbücher und Instruktionen, aber auch Reiseberichte und Illustrationen spiegeln weder besondere Angst noch Faszination. Dieses Fehlen einer »Andersartigkeit« des Meeres entspricht auf fast schon banale Weise dem Quellenbefund, dass die Texte schlicht und einfach keine klare räumliche Trennung zwischen Land und Meer vornehmen. Eine solche Trennung wird aber im Rahmen der Meeresforschung häufig als selbstverständlich vorausgesetzt.53 Denis Wood stellt recht pauschal fest, dass »shorelines are usually elaborated beyond any conceivable utility«.54 Und der Historiker und Mitbegründer einer auf das Meer bezogenen Raumgeschichte Paul Carter hat ganz im Sinne kulturwissenschaftlichen, aufklärungskritischen Rauminteresses (de)konstruiert: »A necessary construction of Enlightenment reason, [the coastline] dramatized the limitations and contradictions inherent in the Enlightenment project.«55 Doch werden beispielsweise im Reisebericht Sven Waxells  – durchaus ausdrücklich dem Projekt der Aufklärung verpflichtet – Küsten ganz und gar nicht als trennende Linien, sondern vielmehr als verbindende Übergangszonen geschildert. Waxell, der sich 1738 mit Bering in Ochotsk aufhielt, schrieb: »Man kann dieses Gebiet nicht näher beschreiben, weil sich seine Beschaffenheit fast jedes Jahr ändert. […] Die Stelle selbst liegt sehr niedrig und bei besonders starkem Hochwasser oft ganz unter Wasser. Dieser Ort ist aus lauter kleinen Kieselsteinen entstanden, die das Meer heraufspülte; im Lauf der Zeit vergrasten sie.«56 53 54 55 56

Dagegen jetzt allerdings sehr explizit: Gillis, The human shore. Wood, The power of maps, S. 138. Carter, Dark with Excess of Bright, S. 146. Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S.  45 f. Die deutsche Übersetzung folgt der Ausgabe: Ders., Die Brücke, S. 38. Ganz ähnlich auch: Bering, Ukazanie Beringa Ovcynu vesti po pros’be professorov naturalističeskie i etnografičeskie nabljudenija vo vremja­ plavanija »Tobola« (7 fevralja 1734g), in: Ochotina-Lind, Møller, Vtoraja Kamčatskaja ekspedicija. Dokumenty 1734–1736, S. 47–49, 47.

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Wandernde Lachse, Treibeis und eine sich ständig verändernde Topografie von Kanälen und Flussausläufern bilden bei Waxell eine mäandernde Landschaft voller Bewegung und Wandel, nicht das dualistische Bild Carters. Weniger explizit, aber dennoch sehr ähnlich ist die Raumwahrnehmung beispielsweise in den Instruktionen und Berichten zur Saryčev-BillingsExpedition der Jahre 1785–1795. Die von Katharina II. erlassenen Regeln zum Verfassen von persönlichen Expeditionsaufzeichnungen machten kei­ nen Unterschied zwischen Land- und Seereise. Die Regeln schrieben vor, mit den Notizen bereits in Tobol’sk zu beginnen und festzuhalten, was man »an Land und im Wasser sah, welche Tiere, welche Siedlungen, Wälder, Vögel und Fische«.57 Weder bei Martin Sauer noch bei Gavriil Saryčev oder auch bei Carl Heinrich Merck gibt es einen Moment des In-See-Stechens, der eine klare Grenze zwischen Land und Wasser markiert hätte.58 Die Reise­ beschreibungen und Tagebücher machen in ihrer Gesamtheit durchaus deutlich und einsichtig, weshalb ein solcher Moment offenbar weder wahrgenommen noch konstruiert wurde. Zunächst war der Stapellauf kein individuelles Ereignis, sondern vielmehr ein langfristiger, mühseliger Prozess. Martin Sauer schreibt: »Toward the middle of July, our largest ship was launched; she went off the stocks extremely well; but, owing to the shoals in the river, it was almost three weeks before we could get her into deep water near the discharge of the bay, where she took in a part of her cargo. She was then taken out to sea about five miles, over the sand banks, and brought to anchor in six fathom water, with a bottom of sand and stones. We employed the transport galliots to carry guns, stores, &c. on board while in this situation; for she could not have paired the shallows even in proper ballast. She was named, by order of the Empress, the Slava Rossie, Glory of Russia.«59

57 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 78–83, 80. 58 Sauer, An Account. Saryčev, Putešestvie. Merck, Das sibirisch-amerikanische Tage­ buch. Dies gestaltet sich ein wenig anders im Tagebuch des Expeditionsleiters Joseph Billings, der die Fertigstellung der Schiffe tatsächlich als Ereignis ausgestaltet. Hier handelt es sich allerdings eindeutig um eine Betonung seiner Leistung als Organisator und weniger um eine Raumkonstruktion: in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. ­376–397, 376. 59 Sauer, An Account, S. 139.

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Hier wird kein präzises Datum genannt, das sich als Erinnerungsmoment eignen könnte, und die Mühen überschatten deutlich jede Andeutung von Zeremonie. Dass »die Expeditionsmitglieder den Stapellauf ihrer beiden Schiffe feiern«60 konnten, ist aus den Quellen nicht herauszulesen. Was aus dieser Momentaufnahme deutlich wird, ist in der Gesamtstruktur der Reiseberichte ähnlich zu sehen: Die Expedition reiste nicht etwa über Land, bis sie an einem identifizierbaren Zeitpunkt ans Wasser kam. Vielmehr mäanderten die Expeditionsteilnehmer durch Sibirien, befuhren Flüsse, zogen über Land, kämpften sich durch Sumpfgebiete, bewegten sich auf Schiffen an der Küste entlang. Auch ist zu bedenken, dass die Reisenden keineswegs als einheitliche Gruppe unterwegs waren. Regelmäßig wurden Vortrupps ausgeschickt, Boten entsendet und kleinere Entdeckungstouren ausgerüstet. Die Reisen waren also auch in dieser Hinsicht ausgesprochen fragmentiert. Darüber hinaus war die erlebte Landschaft geprägt von reißenden Flüssen, riesigen Flussmündungen, Sümpfen, Buchten – vielen Elementen, die eine klare Trennung von Wasser und Land nicht gerade nahelegten. Zahlreiche Linien spielten eine Rolle, doch kam der Küstenlinie keine besondere Bedeutung zu. Alison Smith hat auf die Durchlässigkeit der Westgrenzen des Russländischen Reiches im 18.  und 19.  Jahrhundert hin­gewiesen. Wälder, aber eben auch Flüsse und die Ostsee durchschnitten politische Grenzen mehr als dass sie diese bildeten oder verstärkten.61 Ebenso wenig formten sie  – im Westen wie im Osten  – »natürliche«, kulturell betonte Grenzen, sondern fungierten vielmehr als Verbindungen und Reisewege. Russland gilt als klassisches »Flussimperium« (riverine empire), in dem Räume eher als zusammenhängend wahrgenommen werden denn als fragmentiert.62 Wie bereits im Kapitel zu Linien und Flächen gezeigt, bildeten die Flussläufe territoriale Einheiten, die jedoch nicht unbedingt nach außen abgegrenzt sein mussten – nicht von anderen staatlichen Einheiten und ebenso wenig von Meeren. Ein Gegensatz von zusammenhängendem Territorium einerseits und weitem offenen Meer andererseits hätte nicht zu diesen Raumerfahrungen der Überschneidungen gepasst. Auch andere Erfahrungsmomente förderten eine solch komplexe und keinesfalls dualistische Wahrnehmung von Land und Wasser, von kontinentaler Expansion und Seereise. So bildet beispielsweise die gefürchtete 60 Friesen, Ordubadi u. Dahlmann, Einleitung, S. 49. 61 Smith, The Freedom to Choose a Way of Life. 62 Meinig, A Macrogeography, S. 225 f.

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Krankheit Skorbut in zahllosen klassischen europäischen Reiseberichten ein wichtiges Motiv für die Sehnsucht der Ozeanreisenden, endlich Land zu erreichen.63 Für russländische Reisende dagegen begann und endete die Skorbutgefahr keineswegs mit dem Einziehen des Ankers bzw. dem erneuten Anlegen im Hafen. Es handelte sich hier vielmehr um ein Leiden, das in Nordostsibirien ebenso gefürchtet war wie an Bord eines Schiffes64  – keine Seefahrerkrankheit also und damit ein Grund weniger, das Meer als »anders« zu konstruieren. Landkarten spiegeln diese Wahrnehmung in ähnlicher Weise. Auf einigen der von den Handelsgesellschaften Grigorij Šelichovs produzierten Karten sind Land und Wasser auf den ersten Blick nur schwach voneinander zu unterscheiden. Die abgebildete Karte der Reiseroute von Ochotsk bis zur Insel Kodiak aus dem späten 18. Jahrhundert bildet ein solches Beispiel, bei dem weder Farbgebung noch Reliefzeichnung eine deutliche Trennung von Land und Wasser schaffen.65 Darüber hinaus kontrastiert die Mischung aus sehr detaillierten Informationen für einige Regionen, wie beispielsweise Kamčatka und die Aleutischen Inseln, auffällig mit dem vollständigen Fehlen anderer Angaben, insbesondere zur nordöstlichen Küste des Ochotskischen Meeres. Die Küstenlinie spielt hier offenbar keine entscheidende Rolle, zumindest nicht in dem von Paul Carter behaupteten Sinne. Das Meer wird nicht mittels einer durchgehenden Linie vom Land abgegrenzt, sondern bildet mit Inseln und Küsten eine Einheit, einen zusammenhängenden, wenn auch durchstrukturierten Bewegungsraum. Sogar die stark territorialisierenden Karten des Atlas Rossijskoj Imperii von 1745, die explizit das Imperium darstellen wollen, bilden auffällig viel Meer ab, und Marija Grigor’evna Novlijanskaja spricht gar von einem überwiegend »hydrographischen Charakter« der zeitgenössischen Karten.66 Insbesondere auf der »Generalnaja karta«, der das Kartenwerk einleitenden Überblicksdarstellung, wird dem Land südlich der russländischen Grenzen kein Raum eingeräumt  – umso mehr aber dem Arktischen und dem Pazifischen Ozean im Norden und Osten. Farbige Illustrationen mit Wellen, Walfischen, Wasservögeln, Booten und Schiffen (mit russländischer Flagge) lassen diese Weltregion ausgesprochen belebt erscheinen und ver63 64 65 66

z. B. Langsdorff, Bemerkungen I, S. 127. Sauer, An Account, S. 62. Karta predstavljajuščaja prosledovanie vojaža Kupca Šelechova. Siehe Bildteil, Abb. 4. Novlijanskaja, I. K. Kirilov i ego Atlas Vserossijskoj imperii, S. 5.

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sprechen hier eine große Zukunft für russländische maritime Ambitionen. Und obwohl Grenzen – sowohl des Imperiums als auch einzelner Gouvernements – generell sehr deutlich gezeichnet sind und durch die homogene Farbgebung der Flächen noch verstärkt werden, gibt es doch keinen sofort ins Auge springenden Gegensatz von Land und Wasser. Küstenlinien werden auf dieselbe Art und Weise dargestellt wie politische Grenzen, und das Wasser ist nicht etwa einheitlich blau, wie wir es vom terrozentrischen Weltbild moderner Karten kennen, sondern weiß – ebenso wie das an Russland grenzende Polen. Keine Prozesse des othering also? Eine bemerkenswerte Ausnahme gibt es – eine Ausnahme allerdings, die sich letztlich doch nicht als Gegensatz zum bisher Geschilderten zeigt, sondern als eine, wenn auch komplexe, Bestätigung der präsentierten Thesen. Michail Lomonosov, der sich in den 1760er Jahren intensiv mit der Topografie des Arktischen Meeres und den Möglichkeiten seiner Durchquerung sowie Erforschung auseinandersetzte, nimmt im Meeresdiskurs des russländischen 18. Jahrhunderts eine besondere Stellung ein. In seiner Kurzgefassten Beschreibung verschiedener Forschungsreisen auf den Nordmeeren und Angabe einer möglichen Durchfahrt auf dem sibirischen Ozean nach Ostindien67 arbeitete er durchaus mit klassisch zu nennenden Angstmomenten und Strategien des modernen othering. Dies tat er jedoch auf besondere Art und Weise. Lomonosov argumentierte in seinem an den Kaiser Peter III. gerichteten Essay für eine Nordpassage und damit für das Durchqueren des Eismeeres. Seit der zweiten KamčatkaExpedition hatte man mit der Möglichkeit einer Nordostpassage entlang der sibirischen Küste vorerst abgeschlossen, also richtete Lomonosov sein Interesse direkt auf den Arktischen Ozean und die Polgegend. Auf diese Weise wollte er nicht nur einen schnelleren Weg von St. Petersburg nach Russisch Amerika, sondern auch entscheidende wissenschaftliche Fortschritte der Geografie ermöglichen. Voraussetzend, dass der Seeweg praktikabler und sinnvoller sei als der umständliche Landweg durch Sibirien, entwarf Lomonosov in einem nächsten Schritt ein Bild vom mysteriösen, beängstigenden, von Gefahren durchsetzten und rational nicht zu beherrschenden Meer: langanhaltende Windstillen, unerträgliche Hitze, Hunger und Durst, sowie barbarische Nomadenvölker an fremden Küsten waren nur der Anfang der »schrecklichen Mühsal«: »Plötzlich fielen rasende Wirbelstürme und dichte Wolken, […] durch welche die Schiffe unversehens in große 67 Lomonosov, Kratkoe opisanie, S. 421–498.

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Strudel geschleudert wurden, über die Geschwächten her.« Lomonosov fuhr fort und zählte »die schreckliche Weite« auf, »das unermeßlich tiefe Meer« sowie »schwimmende Pflanzen und Würmer, welche die Schiffe durchnagten, außerdem ungewöhnliche und schreckliche Feuererscheinungen«.68 Dieses Paradebeispiel aufklärerischer – und in mancher Hinsicht voraufklärerischer – Konstruktion eines »Anderen« galt jedoch interessanterweise nur für die Meere der Südhalbkugel; der Norden dagegen erschien in einem ganz anderen Licht. Hier gab es in Lomonosovs Vorstellung weder Strudel noch Seemonster, keine hohen Wellen, gefährlichen Flauten oder gar – und dies ist tatsächlich nachvollziehbar  – Hitze. Befürchtungen in Bezug auf Packeis zerstreute Lomonosov mit einer wissenschaftlichen, rein logischen Argumentation, welche in mancher Hinsicht die späteren Debatten über das vermutete freie Polarmeer vorwegnahm. Die einzige, Lomonosov zufolge allerdings nur vermeintliche, Schwierigkeit blieb die Kälte. Rational betrachtet sei die Kälte nützlich, verhindere sie doch das Verderben der Nahrungsvorräte und ebenso bestimmte Krankheiten. Und so war Kälte in L ­ omonosovs Perspektive letztlich nur ein Problem für die klimatisch verwöhnten und schlecht ausgestatteten Engländer, Holländer und Portugiesen. Die Russen jedoch, an Kälte gewöhnt, könnten gerade das Eismeer hervorragend befahren. Lomonosovs Schrift zeigt also deutlich, wie vertraut ihm die europäischen vormodernen ebenso wie neueren Konstruktionen des Meeres waren. Er nutzte diese Diskurse und konstruierte auf seine Weise ein »anderes« Meer – oder vielmehr ein »Meer der Anderen«. Den Kontrast zu diesem irrationalen, durch nichts zu bewältigenden »Anderen« bildete allerdings nicht, wie in der Forschung generell vorausgesetzt wird, das Land als »eigentlicher« Raum des Menschen, sondern das als russisch begriffene, rational zu verstehende Eismeer. Hier wird also, und dies entspricht durchaus der ungefähr zeitgleichen Darstellung des Arktischen Ozeans im Atlas ­Rossijskoj Imperii, das Eismeer als russländischer und den Russen vorbehaltener Raum konstruiert. Lomonosovs Schrift reiht sich ein in eine, wenn auch kleine, Tradition russländischer Vorschläge zur beschleunigten Expansion des nautischen Wissens, der maritimen Infrastruktur und letztlich des imperialen Radius. Bereits 1732 hatte der Staatsmann Nikolaj Golovin einen Vorschlag an die Kaiserin Anna gerichtet, in dem er für eine konzertierte Aktion zur Ver68 Die deutsche Übersetzung folgt hier: Lomonossow, Aus: Kurzgefasste Beschreibung, S. 147 f.

Drama – das Meer als das Andere?

besserung der russländischen Flotte plädierte. Mit dem Ziel, nicht nur den Landweg über Sibirien zu vermeiden, die Bering-Expedition zu unterstützen und die Erforschung des Nordpazifik einfacher zu machen, sondern gleichzeitig dem Russländischen Reich eine verbesserte Position in globalem Handel und der Seefahrt zu verschaffen, plante Golovin, Schiffe von St. Petersburg durch den Pazifik nach Kamčatka zu schicken.69 Seine Argumentation war betont rational und pragmatisch. Abgesehen von Piraten sah er keinen Grund zur Sorge (nikogo bojat’sja v tom vojaže i na tech morjach ne nadobno). Einige Waffen, vor allem aber ein gutes Schiff und hervorragend ausgebildete Seeleute würden die Reise zu einem Kinderspiel machen, immerhin reisten »jedes Jahr holländische Schiffe zu den japanischen Inseln und zurück in achtzehn oder sogar sechzehn Monaten, und diese Route ist jedem guten Navigator oder Seeoffizier gut bekannt.« Ein entscheidender Nebeneffekt wäre auch die Verbesserung der Ausbildung russländischer Seeleute, die auf solch langen Reisen unschätzbare Erfahrungen machen könnten. Fachleute seien vonnöten, und zwar schnell: Wenn diese Gelegenheit nicht genützt würde, wenn auch nur ein weiteres Jahr müßig verginge, so verlören weitere Offiziere die Chance, sich das notwendige Wissen und die notwendige Erfahrung zu verschaffen. Die in diesem Text deutliche Prämisse, maritime Macht sei möglich, setze aber Engagement und Erfahrung und letztlich Expertentum voraus, wird auch in den Schriften ganz anderer Akteure deutlich. Die zahlreichen Berichte, Briefe und Petitionen Grigorij Šelichovs verfolgten nicht zuletzt das Ziel, Anerkennung und vor allem mehr staatliche Hilfe zu erhalten  – in Form von Geld und Privilegien. Seine Strategie bestand einerseits im Beschwören von Problemen und im Überzeichnen von Gefahrensituationen. So übertrieb er beispielsweise deutlich, wenn es um die Indigenen ging, mit denen er auf der Insel Kodiak in Konflikt geraten war. Um sein gewaltsames Vorgehen zu rechtfertigen, nannte er drastisch erhöhte Zahlen der feindlich gesinnten Inselbewohner.70 Andererseits aber kannte er offenbar keinen Dis69 Golovin, Predstavlenie general-inspektora flota vice-admirala grafa N. F. Golovina Anne Ioannovne o dal’nejšem razvitii russkogo flota o sodejstvii ekspedicii V. I. Beringa (12. 10. 1732), in: Naročnickij, Russkie ekspedicii, S. 113–116. Später kam ein ähnlicher Vorschlag von P. A. Sojmonov hinzu: Zapiska P. A. Sojmonova prezidentu Kommerc-kollegiju A. R. Voroncovu ob organizacii pušnogo promysla i torgovli s­ drugimi gosudarstvami na ostrovach Tichogo okeana, dekabr’1786, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 225–228. 70 Black, The Conquest of Kodiak, S. 170.

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kurs, den er hätte aufgreifen können oder wollen, um seine Seereisen grundsätzlich als besonders herausfordernd oder gar gefährlich zu schildern und auf diese Weise Anerkennung zu fordern. Vielmehr erscheint der Nordpazifik in seiner Darstellung als überschaubare Region mit relativ viel Verkehr. Die Schiffe bewegen sich zuverlässig von Insel zu Insel und verbinden die Küsten miteinander. Statt eines unbezwingbaren Ozeans präsentierte Šelichov eine Expertengruppe, die Navigation und Kartografie ebenso beherrschte wie die Kommunikation mit indigenen Bewohnern, und die sich entsprechend souverän im nordpazifischen Raum zurechtfand.71 Diese Attitüde wird auch deutlich in der Haltung gegenüber indigenen Völkern. In der Perspektive der russländischen Eroberer war die indigene Bevölkerung den Launen der maritimen Natur hilflos ausgeliefert: ganzjährig vom Fischfang abhängig, fuhren sie auf »ihren kleinen bajdarki« hinaus, waren bei ungünstigem Wetter ständig der Gefahr von Hungersnöten ausgesetzt und darüber hinaus auch noch unpassend gekleidet. Doch diese Macht der Natur, die Gefahren des Meeres waren nicht unüberwindbar, sondern würden in naher Zukunft – ebenso wie die Wildnis Sibiriens – durch russländische Zivilisation besiegt.72

4.3 Herrschaft, Kontrolle und Souveränität Damit leitet Šelichovs Schrift über zur nächsten Problematik: Die Diskussion über das Meer als »das Andere« bezieht sich stets auch auf die Vorstellung vom Meer als unbeherrschbarer Raum. Während das Land seit der Frühen Neuzeit zunehmend territorialisiert wurde, entwickelte sich für das Meer – so die Argumentation Steinbergs – ein komplementärer Prozess der Entterritorialisierung. Als »anderer« Raum unterlag das Meer nicht den Regeln, die für den »eigentlichen«, nämlich territorialen Raum galten. Nicht von ungefähr bezogen und beziehen sich zentrale Debatten des Interna­ 71 Siehe z. B.: Nastavlenie G. I. Šelechova šturmanskomu učeniku D. I. Bocharovu, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII–XIX ­vekach, S.  42–45. Donošenie G. I. Šelichova irkutskomu general-gubernatoru I. A. Pil’ju, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 289–295. 72 Opisanie Andrejanovskich ostrovov, sostavlennoe na osnovanii pokazanii kazakov M. Lazareva i P. Vasjutinskogo, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i­ Severnoj Amerike v XVIII–XIX vekach, S. 29–37.

Herrschaft, Kontrolle und Souveränität

tionalen Rechts auf Fragen der Beherrschung und Nutzung der Meere. Der aktuelle Anspruch, eine Geschichte der Meere zu entwickeln, muss sich deshalb zentral mit der Problematik dieser Entterritorialisierung und damit Ent­historisierung auseinandersetzen. Entsprechend werden Fragen nach auf das Meer bezogenen Ansprüchen, Rechtsordnungen und Souveränitäts­ konzepten intensiv diskutiert. Historiker müssen sehr entschieden Neuland betreten, wenn sie das Problem von Recht und Herrschaft auf dem Meer klären und sich nicht mit den Folgen der territorial trap73 zufrieden geben wollen. Im Zentrum vieler Studien stehen deshalb vor allem Akteure, die traditionell nicht unbedingt als Subjekte historischer Entwicklung und noch viel weniger als Handelnde innerhalb von Rechtssystemen betrachtet wurden. Insbesondere Piraten  – bzw. auch Korsaren oder Kaperfahrer  – sind in den Blick geraten, und zwar nicht nur als deviante Akteure und hostis humani, sondern ebenso als Rechtssubjekte und Vertreter politischer sowie wirtschaftlicher Interessen, zuweilen gar staatlicher Souveränität. Aber auch die Rolle des Kapitäns und die Konzeptualisierung von Schiffen sowie die Bedeutung von Souveränitätssymbolen auf See sind von Bedeutung. Der Dualismus vom Rechtsraum an Land einerseits und rechtsfreiem Raum der Meere andererseits wird auf diese Weise sehr grundsätzlich problematisiert, dekonstruiert und historisiert.74 Um Piraten wird es im Folgenden nicht gehen; doch die Analyse der Bedeutung internationaler Konkurrenz und der Konstruktion von Recht und Herrschaft im Meeresraum ist von diesen Forschungsansätzen durchaus inspiriert. Mehr noch als Landgebiete waren – und sind – Meere unterschiedlichen, zuweilen gegenläufigen Entwicklungen der Territorialisierung ausgesetzt. Ansprüche auf Kontrolle und Souveränität konnten nur selten auf festgefügte Denkmuster und Rechtsordnungen zurückgreifen, sondern wurden oft ausgesprochen kreativ gestaltet. Im folgenden Abschnitt wird also der Frage nachgegangen, welche Territorialitäts- und vor allem Souveränitätsvorstellungen auf den Nordpazifik und den benachbarten Arktischen Ozean getragen wurden. Die im Kapitel zu »Raum oder Menschen« entwickelten Thesen werden somit auf die von zusätzlichen Komplexitäten bestimmte Thematik des Seerechts und des Wettkampfes um maritime Macht übertragen. 73 Agnew, The territorial trap. Ders., Still Trapped in Territory? 74 Tai, Marking Water. Kempe, Beyond the Law. Ders., Fluch der Weltmeere. Mackie, Welcome the Outlaw.

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Im Jahre 1785 erließ Katharina die Große einen ukaz an das Admiralitätskollegium, in dem sie ihre Pläne und Befehle für die Nordostexpedition­ Joseph Billings verdeutlichte. Hier schrieb sie unter anderem: »sollten denn durch diese Expedizion neue Lande oder Inseln entdeckt werden, seien sie bewohnt oder unbewohnt, die noch von keinem Reiche Europens unter Botmäßigkeit genommen, so hat man nach Maßgabe des Nutzens und der Vortheile, die von einer solche Erwerbung zu erwarten stehen, sie mit dem Rußischen Scepter zu vereinigen«.75 Die in diesem Dokument geäußerten imperialen Ansprüche beziehen sich eindeutig auf »neue Lande oder Inseln« (zemli ili ostrova), keinesfalls auf das Meer als solches. Dies ist nicht weiter überraschend. Einmal entspricht eine solche Herangehensweise der traditionellen inneren Logik russländischer Ansprüche und dem Charakter des Imperiums: Wenn sich, wie im Kapitel »Raum oder Menschen« argumentiert, imperiale Ansprüche im 18. Jahrhundert tatsächlich in erster Linie auf Menschen bezogen und nicht auf Räume, dann ist kaum etwas anderes vorstellbar als die Konzentration auf »neue [und zwar bewohnte] Lande oder Inseln«. Darüber hinaus entspricht Katharinas Formulierung den Feinheiten und Problemen des Völkerrechts. Als sich in den 1780ern angesichts der wachsenden Konkurrenz durch Briten und Nordamerikaner das traditionelle Prinzip von der Expansion durch die Unterwerfung von Menschen zu wandeln begann und Katharina sich für Konzepte wie terra nullius und Strategien wie die Verteilung von Besitzzeichen interessierte, konnten diese europäischen Souveränitätsvorstellungen keineswegs einfach auf das Meer bezogen werden. Waren Zeremonien der Inbesitznahme schon für das Land umstritten und nicht unbedingt international anerkannt, so gestaltete sich die Situation in Bezug auf Meere noch komplizierter. Eine dem Konzept der terra nullius entsprechende Norm für Meere gab es nicht, und auch die Prinzipien eines Hugo Grotius zum mare liberum waren keineswegs zu geltendem Recht geworden. Die Debatten um mare liberum, mare clausum oder andere Entwürfe waren kontrovers und wurden in Russland recht intensiv rezipiert. Bereits Peter der Große hatte Interesse gezeigt und versucht, den 75 Ukaz našej Admiraltejskoj Kollegii, in: Saryčev, Putešestvie, S. 1–10, 8. Die deutsche Übersetzung folgt: Ukaz an Unser Admiralitätskollegium (8. 8. 1785), in: Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, S. 1–10, 8. 

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holländischen Juristen Cornelis van Bijnkershoek als einen der Protagonisten der Debatte nach Russland zu holen.76 Schließlich ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass Katharina sich, ähnlich wie ihre Vorgänger und Vorgängerinnen, nicht allzu engagiert zeigte in Bezug auf Ansprüche im Nordpazifik. Eine Förderung ihrerseits von Expeditionen und Ambitionen war alles andere als selbstverständlich, und so blieb beispielsweise die Anfrage des Offiziers Michail Levašev, Katharina möge den Pelzhandel im Nordpazifik engmaschiger kontrollieren, ohne den erhofften Erfolg.77 Die eher unentschiedene, auf Geheimhaltung und Konfliktvermeidung basierende Politik hatte sich als unproblematisch und relativ erfolgreich erwiesen. Wie aber wirkten nun diese Traditionen, Debatten und Interessen zusammen, und welche Schlussfolgerungen zog man in Situationen konkurrierender internationaler Ansprüche? Wie ging man mit der Vorstellung von der »Vereinigung unter Russischem Scepter« um, wenn es sich bei den interessierenden Gebieten um maritime Räume handelte? Wie bereits ausgeführt, gab die imperiale Tradition für die ersten Expansionsversuche im Nordpazifik klare Strategien vor. Das Imperium expandierte, indem neue Untertanen gewonnen wurden – ob nun durch Gewalt, Überzeugung oder die Aussicht auf Schutz durch »die Hand seiner Majestät«. Ob dies auf dem sibirischen Festland geschah oder auf den vorgelagerten Inseln, spielte für die interne Logik keine Rolle. Erst relativ spät im 18.  Jahrhundert entwickelte sich eine internationale Konkurrenz, die neue, speziell auf den Raum des Meeres ausgerichtete Denkmuster ins Spiel brachte. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert bildete die maritime Expansion im Nordpazifik somit kein spezielles diskursives oder rechtliches Problem. In einem anderen, im wahrsten Sinne des Wortes benachbarten Diskurs aber sind schon früh im 18. Jahrhundert verschiedene Konzepte für die Ausweitung imperialer Macht auf Meere zu erkennen: dort nämlich, wo es um die bereits angesprochenen Ambitionen auf den Arktischen Ozean ging. Hier ging es, anders als im Nordpazifik, um die Nutzung und Kontrolle eines maritimen Raumes ohne nennenswerte Bevölkerung. Wo es keine Menschen gab, konnten die traditionellen Herrschaftsbilder nicht funktionieren, und es mussten andere Vorstellungen entwickelt werden. Die in diesem Kontext entstandenen Konzepte zeigen nicht nur das russländische Interesse an der 76 Butler, Grotius’ Influence in Russia. Ders., Bynkershoek and Du Ponceau, S. v–liii. 77 Barratt, Russia in Pacific Waters, S. 65.

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Arktis, sondern auch das Denkbare ebenso wie das Nicht-Denkbare in Bezug auf Nutzungs- und Souveränitätsansprüche auf das Meer.78 Im Jahre 1714 richtete der Staatsmann Fedor Saltykov einen umfassenden Reformvorschlag an Peter den Großen.79 Eine seiner Ideen bezog sich auf den alten Traum von der Nordostpassage: Angesichts des großen und weiter wachsenden Interesses europäischer Mächte am chinesischen Markt sei die Route entlang der sibirischen Küste von großer Bedeutung. Die Entdeckung einer solchen Passage würde den globalen Handel fundamental verändern. Bisher mussten die Schiffe zweimal den Äquator überqueren, die Seeleute begaben sich damit in große Gefahr – die kürzere und sicherere Route durch den Arktischen Ozean dagegen würde Zeit sparen und den Profit enorm vergrößern, und »alle würden sie benutzen wollen«.80 Für Russland ergaben sich hier Hoffnungen, vom globalen Handel zu profitieren, wenn es nur gelänge, eine solche Reiseroute zu entdecken und anschließend für die russländische Kontrolle zu sichern. Als Mittel dafür schlug Saltykov Festungen (kreposti) vor, welche die (geplante) Schiffsroute zwischen dem sibirischen Festland und Novaja Zemlja abstecken sollten. Diese Festungen unterschieden sich allerdings deutlich von den über Sibirien verteilten Forts (ostrogi); letztere bildeten Anlauf- und Kommunikationspunkte, Sammelstellen und Lagerhallen für Pelztribute, und sie wurden als zentrale Machtpunkte mit Waffen verteidigt. Während also die sibirischen Forts Kristallisations- und Startpunkte imperialer Souveränität im weiten Raum des Imperiums bildeten, erscheint der Anspruch der von Saltykov konzipierten kreposti deutlich einfacher. Hier gab es in seiner Wahrnehmung schlicht und einfach keine Menschen, mit denen Kommunikation notwendig gewesen wäre; es ging ihm nicht um die Ausdehnung des Imperiums. Im Grunde imaginierte er hier nur eine Art Zollhäuschen, die einen globalen Handelsweg unter russländische Kontrolle bringen sollten. Dieser Gegensatz macht auch den von Saltykov offenbar wahrgenommenen – wenn auch nicht explizit erklärten – Kontrast zwischen Souveränitätsansprüchen an Land einerseits und auf See andererseits deutlich. Denn während an Land die Kommunikation mit den Menschen imperiale Macht schuf, bestand das Ziel beim Meer nur in der Kontrolle bestimmter Wege. 78 Einige Argumente der folgenden Abschnitte habe ich entwickelt in Winkler, Imagin­ ing the Arctic. 79 Saltykov, Izjavlenija pribytočnye gosudarstvu. 80 Ebd., S. 217.

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Dieser Plan Saltykovs passt hervorragend zu den Beobachtungen Philipp Steinbergs, der sich mit maritimen imperialen Ansprüchen auseinander­ gesetzt hat. Steinberg argumentiert gegen die Vorstellung, die Meere seien beispielweise durch den Vertrag von Tordesillas tatsächlich in den Besitz einzelner Staaten geraten.81 Weder in diesem Vertrag noch in weiteren hätten imperiale Mächte tatsächlich Besitzansprüche auf die Ozeane entwickelt und somit das Meer dem Land gleichgestellt. Vielmehr sei es um Kontrolle gegangen (stewardship): die Kontrolle über Linien, über Handelsrouten, vor allem aber über Zugangswege, die zu den eigentlich interessanten Territorien führten.82 Etwas sehr ähnliches sehen wir bei Saltykov: es ging um eine Linie, eine global interessante Handelsroute und den Zugangsweg nach China. Dabei entwickelte Saltykov keineswegs eine in irgendeiner Weise juristisch anmutende Argumentation. Vielmehr wollte er sich genau die Situation der Rechtsfreiheit dieser Region zunutze machen, die sich entwickelt hatte, nachdem die Privilegien der britischen Muscovy Company 1698 abgeschafft worden waren und das Interesse an einer Nordostpassage nachgelassen hatte. Auch die dänisch-holländisch-britischen Konflikte um Fischereirechte in der Arktis hatten nach dem Rückgang der Walpopulation an Schärfe verloren. Politische und strategische Interessen sowie die entsprechenden juristischen Debatten konzentrierten sich nun vor allem auf die Ostsee.83 Im Arktischen Ozean ergab sich dagegen, wie bereits V. A. P ­ erevalov argumentiert hat, eine Art Macht- und Rechtsvakuum, welches Saltykov für das aufstrebende russländische Imperium nutzen wollte.84 In diesem Vakuum sah Saltykov offenbar auch keine Notwendigkeit, sich auf historische Vorbilder zu berufen oder die Argumentation van Bijnkershoeks zu bemühen, dessen Konzept von einer auf die Küstengewässer auszudehnenden Souveränität ohne Weiteres anwendbar erscheint. Stattdessen argumentierte er mit den Möglichkeiten, die sich aus der Beherrschung von Raum ergaben; er argumentierte also durchaus territorial. Die Nordost­ passage war, wie jeder wusste, schwer zu finden, doch

81 Steinberg, Lines of Division. Die These von Tordesillas als tatsächliche Besitzzuweisung wird aktuell z. B. vertreten von Schnurmann, Frühneuzeitliche Formen maritimer Vereinnahmung. 82 Sehr ähnlich argumentiert auch Gillis, Islands of the Mind, S. 86. 83 Dazu Theutenberg, Mare Clausum et Mare Liberum. 84 Perevalov, Lomonosov i arktika, S. 11.

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»Von Eurem Imperium aus kann man es versuchen; das ganze Jahr über hat man Zugang selbst zu den kältesten Orten, und ich glaube, dass man in den Frühjahr- und Sommermonaten eine solche Fahrt unternehmen kann, aber für niemand anderen ist es so gut möglich wie für Eure Majestät«.85 Mit dieser Perspektive stand Saltykov nicht allein: auch Johann Gmelin argumentierte wenige Jahre später mit der räumlichen Nähe: »Ein Herr, dem die Länder würklich zugehören, die man vorbey seegeln muß, hat hierinnen mehreren Vortheil. Wenn die Zeit des Jahres mit der Untersuchung verstreicht, und das Eiß nicht weiter zur See reisen läßt, hat man nicht so sehr auf die Rückreise zu denken. Man nähert sich dem Lande, man läufft etwa in einen Hafen oder Fluß ein, von dem man schon etwas Kundschaft hat, man bekömmt Hülfe von den Einwohnern, und weiß sich in alle widrige Zufälle besser zu schicken. […] Alles dieses ist einem Ausländer viel schwerer.«86 Ganz ähnlich meinte auch Michail Lomonosov, dass russländische See­ fahrer im Arktischen Meer bei schlechtem Wetter und Packeis nicht umkehren müssten, sondern einfach in einem sicheren Hafen anlegen und bessere Zeiten abwarten könnten. Dies sei ein kaum zu überschätzender Vorteil im Wettlauf mit den Holländern und Briten.87 Saltykov, Gmelin und ­Lomonosov, allesamt Vertreter der gebildeten Elite, gingen dabei aus von einem Idealbild territorialer Herrschaft. Die Vorstellung, innerhalb der Grenzen bzw. an den Küsten des aufgeklärten russländischen Reiches sei zuverlässig ein »sicherer Hafen« zu finden, an dem die Bewohner den gestrandeten Seeleuten hilfsbereit zur Seite stünden, zeugt von einem aufklärerischen, aber deshalb nicht minder naiven Container-Raumverständnis. Dass dieses harmonische und homogene Bild nicht der von Konflikten mit den indigenen Bewohnern bestimmten Realität entsprach, wird in zahllosen zeitgenössischen Quellen deutlich. Die territoriale Imagination ging der Umsetzung territorialer Macht hier weit voraus. Und auch das Wissen um das imperiale Territorium hinkte den Wünschen hinterher, wurde doch 85 Saltykov, Izjavlenija pribytočnye gosudarstvu, S. 217. 86 Gmelin, Reise durch Sibirien, Vorwort, ohne Paginierung. 87 Lomonosov, Kratkoe opisanie, S. 424.

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die arktische Küste Sibiriens erst mit der zweiten Kamčatka-Expedition erforscht und kartiert. Insbesondere Saltykov imaginierte also einen homo­ genen Raum, den er bisher nicht einmal auf einer Karte gesehen hatte. Dennoch: Räumliche Kohärenz (man segelt unmittelbar an der Küste entlang), Macht (»dem die Länder würklich zugehören«) und Wissen (»von dem man schon etwas Kundschaft hat«) bestimmten den Territorialstaat. Es war nun nicht nötig, diese territoriale Souveränität tatsächlich auf das Meer auszudehnen; die Möglichkeiten, welche das Territorium selbst bot (oder vielmehr: zu bieten schien), reichten vollkommen aus, um die Kontrolle über die nützlichen Teile des nicht-territorialen Ozeans zu erhalten. Juristische Abwägungen oder Überlegungen zu Besitzfragen waren hier nicht notwendig. Saltykov hatte die Nordostpassage als globalen Handelsweg unter russländischer Kontrolle imaginiert, den vor allem britische und holländische Schiffe nutzen sollten. Peter der Große verfolgte den Plan nicht weiter  – vermutlich aus Mangel an Zeit und Ressourcen und aufgrund seiner Konzentration auf die Ostsee.88 Doch mit der Entdeckung reicher Pelzvorkommen im Nordpazifik und der Ausweitung des russländischen Imperiums auf die Aleutischen Inseln seit den 1740er Jahren änderte sich die Situation. Die Abkürzung durch das Arktische Meer erschien nicht mehr nur für fremde Schiffe interessant, sondern auch und vor allem für die Russen selbst. Diesen Gedanken hatte bereits in den frühen 1730ern Ivan Kirilov vorsichtig aufgenommen, besonders stark aber machte ihn 1763 der bereits mehrfach erwähnte Michail Lomonosov mit seinem Plan, durch das Eismeer, über den Nordpol hinweg, »direkt« von St. Petersburg nach Ost­ sibirien und in den nordpazifischen Raum zu gelangen. Katharina II. nahm­ Lomonosovs Vorschlag auf und schickte zeitgleich zwei Expeditionen aus. Vasilij Jakovlevič Čičagov segelte 1764 von Archangel’sk los, um durch das Polarmeer hindurch nach Kamčatka zu gelangen. Es wurden zwei Versuche gestartet, beide jedoch mussten am 78. Breitengrad abgebrochen werden; die Schiffe kehrten unverrichteter Dinge nach St. Petersburg zurück. Die Offiziere Petr Krenicyn und Michail Levašev stachen von Ochotsk aus in See, um den Nordpazifik und die Aleutischen Inseln sowie die Verbindungen ins Arktische Meer genauer zu erforschen. Die Argumentation Lomonosovs in seiner Schrift war in erster Linie die eines Wissenschaftlers – es ging ihm vor allem um die Physik des Ozeans und die Problematik des Packeises. Den Arktischen Ozean betrachtete­ 88 Barratt, Russia in Pacific Waters, S. 9.

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Lomonosov – anders als Saltykov und Kirilov – als Ganzes, und er konzeptualisierte ihn nicht als Linie, sondern ausdrücklich als Feld (pole). Dieses Feld unterschied sich vom Rest der Welt und sollte, diese Vorstellung ist in Lomonosovs ausführlichem Text vorherrschend, der Wissenschaft vorbehalten sein; Forscher, nicht Souveräne sollten es kontrollieren und strukturieren. Obwohl Lomonosov seinen Essay mit politischen und ökono­ mischen Argumenten und einem Appell an den Kaiser Peter III. einrahmte, wird doch deutlich, dass er die Arktis vor allem als eine Art Labor betrachtete. Insbesondere die von Lomonosov entworfene Karte der zirkumpolaren Welt präsentiert den Ozean als weiß und rein, nicht vorstrukturiert durch das sonst allgegenwärtige Netz von Längen und Breiten und auch nicht einem der farbig gekennzeichneten Kontinente zugehörig. Diese klare Abgrenzung, noch hervorgehoben durch die auffällige Kennzeichnung Okean (und damit unterschieden vom Atlantischen und Stillen »Meer«), macht aus dem Arktischen Ozean eine Art übercodiertes, potenziertes Meer, einen zunächst von jeglicher Territorialität unberührten Raum.89 Lomonosov trennte als Universalgelehrter des 18.  Jahrhunderts jedoch Staatsraison, Wissenschaft und Kunst nicht voneinander, wie vor allem seine panegyrischen Oden an die Herrscher und Herrscherinnen Russlands deutlich zeigen. Und wenn der Arktische Ozean als Ganzes auch niemandem gehören sollte, so konnte Souveränität doch ihre Spuren hinterlassen und das Meer zu einem Raum machen, der, wie Lauren Benton es beschreibt, in vielen Richtungen von Korridoren des Rechts und der Herrschaft durchquert wurde.90 Kein einheitlich zu beherrschendes Territorium also, aber ein Feld, in dem Souveränität punktuell sowie entlang von Linien funktionieren konnte. Ähnlich ambivalent argumentiert auch Gerhard Friedrich Müller in seiner deutschen Publikation zu den Expeditionen Čičagovs. Müller versicherte zwar, Russland habe keinerlei nationale Ansprüche auf das Arktische Meer und sehe sich nicht in Konkurrenz zu anderen Seemächten. Doch mit seiner Begründung, dies sei schon allein deshalb nicht notwendig, als »fremde Seefahrende, ohne russische Beyhülfe, nicht viel ausrichten [könnten], ja auch mit allen Hülfsmitteln, die man ihnen reichen könnte, 89 Poljarnaja karta, priložennaja k rukopisu, in: Lomonosov, Kratkoe opisanie, S.  425. Bildteil Abb. 5. 90 Benton, A Search for Sovereignty, S. 2, 17. 

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von der Natur selbst zur Rückkehr, wie ihre Vorgänger, würden gezwungen werden«, zeichnete Müller den Norden klar als natürlichen Bewegungs- und Expansionsraum Russlands.91 Auf Lomonosovs Karte wird das klare Weiß des Arktischen Meeres durch die eingezeichneten Routen der geplanten Reise unterbrochen. Für die Reisen selbst wurden bestimmte Punkte festgelegt, an denen Souveränität deutlich gemacht werden sollte. Der erste solche Punkt war klar im Heimathafen gelegt, wo versiegelte Instruktionen öffentlich vorgelesen wurden. »Entzückt war ein jeder über die Gnade der wohlthätigen Kayserinn«, die nicht nur Instruktionen gab, sondern auch ihre persönlichen Glückwünsche ausrichten ließ.92 Darüber hinaus bestimmte Katharina, dass die an der Čičagov-Expedition beteiligten Offiziere befördert werden sollten – nicht jedoch in einer einzigen Feierlichkeit, sondern in verschiedenen, sorgfältig im maritimen Raum verteilten Zeremonien. Die erste Beförderung sollte bei der Abreise stattfinden, eine weitere, »wenn sie durch ihr Bemühen glücklich bis zum Zielort gelangt sind.« Dort durften die Offiziere »sich selbst unter der Nennung unseres hohen Namens um einen Rang befördern«. Schließlich würden sie nach ihrer Rückkehr ein weiteres Mal geehrt.93 So war also beabsichtigt, bei der Landung in Nordostsibirien eine Beförderungszeremonie zu feiern, bei der gewissermaßen die symbolische Anwesenheit der Kaiserin heraufbeschworen werden sollte. In ganz ähnlicher Weise wurde auf See der Jahrestag der Thronbesteigung Katharinas zelebriert: »Tschitschagof feuerte 9 Kanonen, Panof und Babajef jeder 7 Canonen ab.«94 Schließlich plante Lomonosov noch eine weitere, penibel organisierte Zeremonie: An dem Punkt, an dem die beiden Expeditionen in der Beringstraße zusammentreffen würden, sollten die Offiziere und Matrosen ein Gebet an Gott richten und ihre Dankbarkeit der Kaiserin gegenüber ausdrücken, anschließend an der Küste einen hohen Mast mit einem Kreuz errichten und erklären, dieser Ort (sie mesto) sei nun dem Russischen Staat 91 Müller, Nachrichten von den neuesten Schiffahrten, S. 7. 92 Ebd., S. 1–104, 23.  93 Ukaz Ekateriny II Admiraltejstv-kollegii o snarjaženii ekspedicii dlja poiska morskogo puti k Kamčatke čerez Severnyj Ledovityj okean, 14. 5. 1764, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 334–337. Diese Praxis war auch bei der Billings-Expedition üblich, siehe Katharina II. Ukaz našej Admiraltejskoj Kollegii, 8. 8. 1785, in: Saryčev, Putešestvie, S. 1–10 sowie ders., Gawrila Sarytschew’s, S. 86 und Sauer, Account, S. 72. 94 Müller, Nachrichten von den neuesten Schiffahrten, S. 74.

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gewidmet (posvjaščeno pod Rossijskoj deržavu), und gehöre »unter die Hand Ihrer Kaiserlichen Majestät.«95 Auf diese und ähnliche Weisen wurde an bestimmten Stellen und in besonderen Momenten – an Punkten also in Zeit und Raum – Bezug genommen auf die Souveränin. Die von Lomonosov geplante Zeremonie ist eindeutig als Inbesitznahme zu verstehen; diese bezog sich jedoch auf einen bestimmten Ort und nicht etwa auf den gesamten Meeresraum oder Teile dessen. Stärker als die Inbesitznahme als Teil klassischer Territorialisierung tritt hier die bei vielen Imperien durchaus übliche Praxis einer Souveränität in Bewegung hervor. Seeleute trugen Symbole der Souveränität entlang bestimmter Routen und an strategisch gewählte Punkte im scheinbar strukturlosen, unbeherrschbaren Meeresraum. Hier waren nicht nur bestimmte Rituale von Bedeutung, sondern ebenso die Konstruktion des Schiffes als Rechtsraum und seine Einbeziehung in den Bereich von Recht und Souveränität. Im Laufe der modernen Territorialisierungsprozesse wurden Schiffe unter staatlicher Flagge zunehmend zu »Bastionen von Gesellschaft« und Recht in einem ansonsten (ebenfalls zunehmend)  nicht-territorialen Meer.96 Flaggen bildeten nicht nur Symbole von Staatlichkeit, sondern fungierten ebenso als Erkennungsmerkmale, wichtige Instrumente interstaatlicher Kommunikation auf See und damit als zentrale Elemente völkerrechtlicher Regelungen – die heute bekannten Staatsflaggen sind nicht zufällig aus den Schiffs­flaggen hervorgegangen. Ein solcher rechtlicher Diskurs wird vor allem deutlich in Gerhard Friedrich Müllers nachträglich verfasster Auswertung der ČičagovLogbücher: Zentral waren für Müller Schiffe als Träger des Rechts und der Souveränitätszeichen. Die jeweilige staatliche Zugehörigkeit und die Information über die aufgezogene Flagge hatten entscheidende Bedeutung.97 Während also Müller das Meer aus der Petersburger Perspektive als einen Raum beschrieb, in dem Korridore des Rechts ein maritimes Netz schufen, lesen sich die Berichte Čičagovs selbst ganz anders. In diesen geht es nicht um einen russländisch bestimmten Raum, und auch das Interesse an Flaggen und Zugehörigkeiten hält sich in engen Grenzen. Stattdessen wird ausgesprochen praxisorientiert die Kommunikation mit fremden Schiffen beschrieben, und es wird deutlich, wie sehr Čičagov auf wertvolle Infor95 Lomonosov, Primernaja instrukcija. Eja Imperatorskago Veličestva, iz Gosudarstven­ noj Admiraltejskoj Kollegii, Flota Kapitanu pervago ranga Vasil’ju Čičagovu, in:­ Sokolov, Proekt, S. xxix–xlvii. 96 Steinberg, The social construction, S. 131. 97 Müller, Nachrichten von den neuesten Schiffahrten, S. 30–33.

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mationen von erfahrenen Seeleuten – egal welcher Nationalität – angewiesen war. Dieses Wissen und die daraus gezogene Konsequenz, entgegen dem ursprünglichen Befehl nach dem 78. Breitengrad nicht weiter nördlich zu segeln, erwiesen sich als entscheidend für das Überleben der Besatzung. Der Umgang mit dem Meer war also durchaus unterschiedlich – abhängig von der jeweiligen Akteursgruppe sowie deren unmittelbaren Interessen. Der im Falle der Čičagov-Expedition deutlich werdende Gegensatz von Rechtsdiskurs einerseits und Pragmatismus andererseits deutet aber außerdem auf eine weitere grundlegende Tendenz hin: Russländische Quellen aus der Schifffahrtsgeschichte des 18. Jahrhunderts weisen einen auffälligen Mangel an Mythisierung des Schiffes auf,98 und bekannte Metaphern wie Nussschale, schwimmendes Labor oder ähnliches sind nicht zu finden – ebenso wenig wird das Schiff zum besonderen, »anderen« Rechtsraum und Heterotopos stilisiert. Entsprechend fehlt bei den Kommandeuren der russländischen Schiffe des 18. Jahrhunderts auch die besondere Kapitänsaura, die ein James Cook oder ein Louis Antoine de Bougainville für sich konstruierten. Hier waren die Befehlshaber keine »kleinen Monarchen« – eher selten zeichnen Berichte den Kapitän als charismatische Autoritätsperson.99 Dies entspricht der russländischen Marinepolitik: Westeuropäische Herrscher – mit geringen Abweichungen  – delegierten außerordentliche Autorität, ja Semi-Souveränität an ihre Kapitäne und ließen diese die Herrschermacht gleichsam auf die Meere tragen.100 Russländische Kaiser dagegen zeigten sich sehr zurückhaltend bei der Vergabe von Herrschaftszeichen. Sie gaben klare und bindende Instruktionen ohne Entscheidungsspielraum101 – zudem legte das See­reglement (Morskoj Ustav) bereits in seiner Ursprungsform 1720 ausdrücklich fest, ukaze müssten in schriftlicher Form gegeben werden, um die Einhaltung oder Zuwiderhandlungen besser kontrollieren zu können.102 Auffällig ist auch, wie selten in den Berichten die Kapitäne als Autoritätsperson geschildert werden und welch große Rolle dagegen gemeinsame Ent98 Hier sind selbstverständlich nicht rein metaphorische und poetische Texte gemeint, wie beispielsweise Lomonosovs Oden, in denen das Schiff als Metapher für den gut geführten Staat eine große Rolle spielt. 99 Ein Beispiel wäre allerdings: Fedorova, The journal. 100 Benton, A Search for Sovereignty, S. 112. 101 z. B. Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 78–83. 102 Nr. 3485, 13. 1. 1720. Morskoj ustav, in: PSZ VI, S. 3–116, 5. 

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scheidungen nach ausgiebiger Deliberation durch alle Offiziere spielten. Eine solche Schilderung bildet nicht unbedingt immer eine gezielte diskursive Schwächung eines einzelnen Kapitäns und damit das  – nachvollziehbare  – Ergebnis von Konflikten an Bord, sondern war häufig ganz offenbar das Resultat üblicher Praxen. Regelmäßig wurde in Logbüchern notiert, dass eine Kursänderung auf Diskussionen und »einmütigen Beschluss« zurückging.103 Bering verzeichnete, dass die Offiziere gemeinsam über die Versorgung der Mannschaft entschieden.104 Die Instruktion an Kapitän Čičagov enthielt unter anderem Regelungen zur Kursbestimmung: verschiedene Logbücher und Berechnungen sollten miteinander verglichen werden, die Entscheidung fiel nach dem Mehrheitsprinzip.105 Wirklich kompliziert wurde es, wenn – wie bei der Reise des Schiffes Sv. Gavriil – der eigentliche Kapitän nicht anwesend war. In diesem Fall Expedition war dem Kosakenhauptmann Afanas Šestakov der Befehl übertragen worden;106 Šestakov aber starb im März 1730. Das Oberkommando wurde nun übernommen von D. I. Pavluckij, der den Landvermesser Michail Gvozdev zum Befehlshaber einer speziellen Expedition nach Amerika machte. Später schilderte Gvozdev auf recht umständliche Weise die Entscheidungsmodalitäten auf dem Schiff Sv. Gavriil: Er beklagte sich, dass der Zweite Steuermann Ivan F ­ edorov Befehl gab, Anker zu werfen, »ohne jemanden konsultiert zu haben«. Als Gvozdev selbst von den Matrosen gebeten wurde, endlich die Rückkehr nach Kamčatka zu veranlassen, schickte er sie zu Fedorov, ohne dessen Einverständnis er keine Entscheidungen treffen könne. Nach erneuter Bitte verfassten die Matrosen gemeinsam eine Petition und legten diese Gvozdev und 103 Perečen’ putešestvija šturmana Zajkova, S. 147. Tekst žurnala, in: Lebedev, Plavanie A. I. Čirikova, S. 134–365, 141, 143 und ebenso Raport A. Čirikova v admiraltejskuju kollegiju, 7. 12. 1741, in: Pokrovskij, Ekspedicija Beringa, S. 273–284, 274. Siehe auch Golder, Bering’s voyages: I, S.  38, ebenso: Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S.  65. siehe dazu auch Golder, Bering’s Logbook, S. 90. Dobbs, A letter from a Russian seaofficer, S.  16. Bei direktem Bezug auf Bering ist jedoch nicht auszuschließen, dass dessen offenbar eher harmoniebedürftige Persönlichkeit hier auch eine Rolle spielte. Siehe Urness, Captain-Commander Vitus Bering, S. 21. 104 Bering, Žurnal kapitana Beringa 1742/1742, in: The USSR Ministry of Marine Archive (Foreign Microfilming Project). Library of Congress. Manuscript Division. Washington, DC 20540, Blatt 22. http://frontiers.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field %28NUMBER+@od1 %28mtfms+u06a0001 % (12.4.2016). 105 Eja Imperatorskago Veličestva, iz Gosudarstvennoj Admiraltejskoj Kollegii, Flota Kapitanu pervago ranga Vasil’ju Čičagovu, in: Sokolov, Proekt, S.  xxix–xlvii. Siehe auch Owens, The wreck of the »Sv. Nikolai«. 106 Nr. 5049, 23. 3. 1727. O posylke Jakutskago kazaka Golovy Šestakova dlja perevodov s nemirnymi inozemcami, o vstuplenii im v poddanstvo Rossii, in: PSZ VII, S. 770–772.

Herrschaft, Kontrolle und Souveränität

Fedorov vor. »Auf ihre Bitte hin, mit dem Einverständnis ­Fedorovs, kehrten wir zur Mündung des Kamčatka-Flusses zurück, wo wir am 28. September ankamen.«107 Gerade auf Schiffen, deren Besatzungsmitglieder unterschiedliche Kompetenzen und Ziele hatten, wurden die Entscheidungsspielräume klar begrenzt. Der Kapitän zweiten Ranges Petr Krenicyn beispielsweise erhielt 1764 den eindeutigen Befehl, sich ausschließlich um Dinge zu kümmern, die zur Durchführung der ihm obliegenden geografischen Expedition notwendig waren – über die Pelzjäger, die sich mit ihm an Bord befanden, hatte er dagegen keinerlei Befehlsgewalt.108 Auch die Praxis, dieselben Instruktionen an Kapitän und Offiziere zu vergeben,109 spricht für eine eher horizontale als vertikale Hierarchie an Bord; alle Offiziere waren direkt dem Admiralitätskolleg und letztlich dem Herrscher unterstellt. Souveränität wurde also nicht aufgeteilt und über die Meere geschickt. Vielmehr war die Autorität der Kapitäne begrenzt, und der unmittelbare, oft ausgesprochen persönlich gestaltete Bezug auf die Herrscherin oder den Herrscher wurde hervorgehoben. Bei staatlich geförderten Expeditionen waren Beginn und Ende durch den direkten Bezug zum und durch einen Dialog mit dem Herrscher bzw. der Herrscherin bestimmt: durch Instruktionen, Glückwünsche und dankende Salutschüsse vor der Abreise, durch Berichte und die abzuliefernden Logbücher nach der Rückkehr. Insbesondere Katharina II. forderte und förderte diesen Dialog und erließ beispielsweise genaue Regelungen zum korrekten Führen von Logbüchern.110

107 Michail Gvozdev Vysokoblagorodnomu gospodinu Flota Kapitanu Martynu Petro­ viču Španberchu, in: Efimov, Iz istorii russkich ėkspedicij na Tichom Okeane, S.  244–249. Promemorija kanceljarii Ochotskogo porta M. P. Španbergu o plavanii M. S. Gvozdeva i I. Fedorova na bote »Sv. Gavriil« k beregam Ameriki v 1732 g. 20. 4. 1743, in: Naročnickij, Russkie ekspedicii, S. 106–110. 108 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S.  78–83, 79. Allgemeine Regelungen zum Verhältnis der Seeoffiziere zu den »suchoputnye« Offizieren an Bord sind zu finden in Nr.  3485, 13. 1. 1720. Morskoj ustav, in: PSZ VI, S. 3–116, 17.  109 Müller, Nachrichten von den neuesten Schiffahrten, S. 1–104, 20.  110 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 78–83, 79. Hier kann man wohl davon ausgehen, dass die englische Marine, die bereits seit dem 17. Jahrhundert genaue Regeln zum Verfassen und Einreichen von Logbüchern verfolgte, ein Vorbild war.

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Diese Sonderstellung des russländischen Souveränitätsdenkens im Vergleich mit anderen europäischen Mächten lässt sich aus verschiedenen Richtungen erklären und begründen. Einmal ist die Tatsache, dass Schiffe nicht als übercodierte Räume rechtlicher Konzentration auf einem ansonsten beängstigenden, unermesslich weiten Meer betrachtet wurden, schlicht und einfach damit zu erklären, dass das Meer im russländischen Diskurs eben gerade nicht als beängstigend und unermesslich weit betrachtet wurde. Somit ergab sich keine diskursive Notwendigkeit, das Schiff hier als Nussschale und Heterotopos zu beschreiben. Konsequent ergab sich auch daraus die wenig herausgehobene Stellung des Kapitäns. Eine besondere, über die normalen bürokratischen und militärischen Strukturen herausgehende Autorität war nicht notwendig, ebenso wenig außergewöhnliche Kompetenzen. Entsprechend stellte der Morskoj Ustav umstandslos die Schiffskapitäne den Gouverneuren oder auch den Festungskommandanten an Land gleich.111 Deren Machtfülle war groß genug, aber eben nicht außergewöhnlich. Eine zweite Argumentationsebene ergibt sich hier, wie bereits an anderen Stellen, aus dem weitgehenden Fehlen von internationaler Konkurrenz für einen beträchtlichen Teil des 18. Jahrhunderts. Es war bis in die 1780er nicht zu erwarten, im Nordpazifik häufig auf Schiffe anderer europäischer Mächte zu treffen und entsprechend auch nicht notwendig, klare Kommunikationsund Abgrenzungsstrategien zu entwickeln. Der Kapitän fungierte auch in dieser Hinsicht nicht als Vertreter des Souveräns. Und schließlich spielte selbstverständlich der russländische Souveränitätsbegriff an sich, unabhängig von der maritimen Situation, eine wichtige Rolle. Dieser war nicht auf die Weise teilbar, wie Lauren Benton es für andere frühneuzeitliche Souveränitätsvorstellungen formuliert.112 Souveränität wurde nicht aufgebrochen und in Teilen einem Schiffskapitän mit auf den Weg gegeben. Stattdessen wurden an zahlreichen Punkten der Reise Bezüge zur Herrscherpersönlichkeit hergestellt. Das räumliche Modell, das hier imaginiert wurde, ist erneut das von Linien, entlang derer die Souveränität weit ins Meer hinausreichte, nicht eines von Flächen, in denen Souveränität gleichmäßig verteilt und wirksam wäre.

111 Nr. 3485, 13. 1. 1720. Morskoj ustav, in: PSZ VI, S. 3–116, 21.  112 Benton, Of Pirates, Empire, and Terror, S. 83.

Der Nordpazifik und seine Struktur

4.4 Der Nordpazifik und seine Struktur Sowohl die Dramatik des Meeres als auch das Konzept von dessen Unbeherrschbarkeit hängen eng zusammen mit der Vorstellung vom Meer als genuin strukturlosem und letztlich unstrukturierbarem Raum. In diesem letzten Abschnitt zur Meereswahrnehmung im 18.  Jahrhundert sollen die Quellen deshalb auf Strukturierungskonzepte befragt werden. Zentral ist dabei das Bild vom Nordpazifik als eine Art Nische. Zwar handelte es sich klar um das »offene Meer« (otkrytoe more, otkrytyj okean), und der Pazifik unterschied sich in der Wahrnehmung eindeutig beispielsweise vom Ochotskischen Binnenmeer.113 Doch wurde der Nordpazifik in den meisten Quellen auch klar vom »Südmeer« oder auch »Stillen Ozean« getrennt: es handelte sich hier keineswegs um ein Weltmeer, sondern um einen abgegrenzten, idealerweise für die russländische Expansion reservierten maritimen Bewegungsraum. Diese Vorstellung von einer russischen Nische machte – wie bereits ausgeführt – einen Wandel durch und entwickelte sich von einer eher selbstverständlichen Einbeziehung zu einem relativ explizit formulierten Anspruch. Dabei bleibt es weitgehend bei räumlichen Konzepten; explizite Besitz- bzw. Rechtsansprüche auf das Meer als solches wurden nur in wenigen Aus­nahmen formuliert.114 Die Raumkonzepte, die für den Nordpazifik deutlich werden, sind deshalb aber nicht weniger interessant.

113 Raport sibirskogo gubernatora tajnogo sovetnika F. I. Sojmonova v Senat o gotovja­ ščemsja plavanii irkutskogo kupca I. Bečevina v Tichij i Severnyj Ledovityj okeany, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 46–50. Report morechoda i peredovščika suda Sv. Živonačal’naja Troica Ivana Korovina s tovariščami praporščiku T. I. Šmaleva ob ich plavanii i prebyvanii na ostrovach Unalaške i Umnake v 1762–1765 gg (26. 7. 1766), in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 120–146. 114 z. B. in Šelichov, Donošenie G. I. Šelichova irkutskomu general-gubernatoru I. V. Jakobiju, 19. 04. 1787, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 206–214.

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4.4.1 Mikro- und Makrostrukturen des Meeres In den schriftlichen  – und zum Teil  auch in den kartografischen  – Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts wird der Nordpazifik als Vostočnoe more oder Vostočnyj okean bezeichnet.115 Diese Bezeichnung ist nicht kongruent mit der in der Frühen Neuzeit üblichen Benennung des Pazifischen O ­ zeans als Mare Orientalis im Gegensatz zum Atlantischen Mare Occidentalis. Das russländische »Östliche Meer« bildete nur einen kleinen Teil  des Pazifiks, der seinerseits auf russischen ebenso wie auf westeuropäischen Karten des 18. Jahrhunderts als Stilles Meer (Tichoe More) oder Südliches Meer (Južnoe More, Mer du Sud) gekennzeichnet war.116 Um die Verwirrung komplett zu machen, wird zuweilen auch das Ochotskische Meer als Tichoe More oder, traditioneller, als Lamatskoe More bezeichnet,117 der Nordpazifik trägt außerdem die Namen Kamčatskoe oder auch Bobrovoe More (Ottermeer),118 und auf einer deutschen Ausgabe einer Saryčev-Karte wird gar die Doppelbenennung »Ost-Ocean oder das Stille Meer« angeboten.119 Diese aus moderner Sicht inkonsequente Kennzeichnung ist keinesfalls ein russischer Sonderfall. Sie bildet eher ein typisches Element der reichen und wechselhaften Geschichte der Strukturierung und Benennung der Meere, die erst langfristig auf die bis auf Ausnahmen global akzeptierte, aber westeuropäisch verwurzelte Nomenklatur der Meere hinauslief.120 115 Einige Beispiele von vielen: Karta, sostavlennaja v kompanii Šelechova (1796), in:­ Efimov, Atlas geografičeskich otkrytii, Abb. 181. Nr.  6291, 28. 12. 1732. Vysočajše utverždennyja pravila, dannyja Kapitanu-Komandoru Beringu, otnositel’no plavanija ego v Vostočnomu Okeane, in: PSZ VIII, S. 1002–1013. Krašeninnikov, Opisanie I. Ukaz našej Admiraltejskoj Kollegii, in: Saryčev, Putešestvie, S. 1–10. 116 Als Beispiele seien genannt: Karta Šelechova stranstvovanija (1792). Bellin, Carte­ réduite de l’ocean septentrional compris entre l’Asie et l’Amérique. 117 Staehlin, Karta Novago Severnago Archipelaga izobretennago Rossijskimi moreplavateljami v Kamčatskom i Anadyr’skom Morjach (1774), in: Efimov, Atlas geografičeskich otkrytii, Abb. 157. Fedorova, The journal, S. 294. 118 Götze, Charte von dem Meer von Kamtschatka. Karta predstavljajuščaja prosledovanie vojaža Kupca Šelechova. Karta novych otkrytii v Vostočnom Okiane (1781). 119 Charte des Nordöstlichen Theils von Sibirien, des Eismeers, des Ostoceans und der nordwestlichen Küste von America mit der Bestimung der Fahrt der Schiffe, welche sich bei der Expedition des Capitains Billings befanden, in: Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, Abb. 1.  120 Lewis, Dividing the Ocean Sea. Mehr Details zu der russischen Benennung des Pazifischen Ozeans bietet Postnikov, The History of Russian Names for Seas. Auch Krusenstern diskutierte das Benennungsproblem ausführlich: Kruzenštern, Sobranie sočinenii.

Der Nordpazifik und seine Struktur

Entscheidend ist aber, dass der Begriff »Östliches Meer« die Perspektive der aus Sibirien kommenden promyšlenniki und Unternehmer seit dem 17. Jahrhundert deutlich macht. Dies war das Meer, das man auf dem Weg nach Osten erreichte, das den Weg durch Sibirien gewissermaßen fortsetzte. Es war also eine »relative«, dem Konzept der Verlaufsbeschreibung entsprechende Bezeichnung, vom russländischen Territorium aus gesehen, und keine »objektive«, am Konzept der »Statusbeschreibung« orientierte, welche sich aus einer globalen Geografie, mit einem Blick gewissermaßen »von oben«, abgeleitet hätte. Dieses Meer lag im Osten, und so hieß es auch. Neben dieser »Makrostruktur« ist auch die Mikrostruktur des Nordpazifiks, wie er in russischen Quellen dargestellt wird, von Interesse, um Raumvorstellungen besser zu verstehen. »Der Steuermann Saikof segelte daher den 3. August 1775 mit dem Bot der heilige Wladimir von der Insel Umnack weiter gegen Osten, setzte bey veränderlichen Winden seinen Lauf fort und kam den 17. August gegen die Insel Unimak, wo er die Meerenge Isanok, welche die Insel ­Unimak von dem amerikanischen Vorgebürge Alaska absondert, einlief, und zuletzt in eben der Bucht, wo der Kapitain Krenizyn gelegen hatte, Anker warf.«121 Dieses kurze Zitat benennt zahlreiche Elemente der Orientierung und zeigt die dichte Struktur des Meeres. Dabei lohnt sich die Frage danach, welche Daten hier für wichtig gehalten wurden. Die Himmelsrichtung  – »­Osten« wird in dieser narrativen Quelle nur sehr unpräzise bezeichnet; in Log­ büchern finden sich nachvollziehbarerweise genauere Angaben zum Kurs des Schiffes. Eine andere Information, die hier vollständig fehlt, ist die der gemessenen Breite oder Länge – in Reiseberichten kommen diese eher selten vor. Statt solcher abstrakter Informationen sind andere Faktoren wichtig, welche eine Orientierung ermöglichten: so nennt der Autor Meerengen und Buchten, an anderen Stellen werden Untiefen, Riffe, Küsten, Felsen, Vulkane, Flussmündungen, Naturhäfen, Strömungen und Gezeiten erwähnt sowie – von besonderer Bedeutung – Inseln als strukturierende Momente. Die auf solche Weise geschaffene Struktur des Meeres verlässt sich auf visuelle Wahrnehmung, so wenn ein an der Küste gesichteter Vulkan beschrie121 Perečen’ putešestvija šturmana Zajkova, S.  153 f. Die deutsche Übersetzung folgt: Auszug aus dem Reisebericht des Rußischen Steuermanns Saikof, S. 281.

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ben wird.122 Sie bezieht Erfahrungen der Seefahrt und eine zeitliche Dimension mit ein, wenn Strömungen, Winde und Gezeiten erwähnt werden, und sie berücksichtigt historische Elemente, wenn sie auf die frühere Landung Krenicyns hinweist. Darüber hinaus entsteht durch die Beschreibung von Küsten, Felsen, Inseln, Buchten eine detaillierte Topografie. Sowohl fixe als auch bewegliche Elemente spielen dabei eine Rolle. Buchten, Riffe und Häfen; Inseln, Kanäle und Küsten – aus diesen Elementen besteht das Meer, wie es in russischen Reiseberichten erscheint, und sie ermöglichen entweder eine sichere Reise und gefahrlose Landung oder schaffen große Risiken. Entscheidend ist die Kenntnis der Möglichkeiten, und so wird in zahlreichen Instruktionen ausführlich darauf hingewiesen, dass »gute und gefährliche Plätze« ausfindig gemacht, besondere Kennzeichen zur Orientierung notiert und Häfen und Flussmündungen daraufhin untersucht werden sollen, ob sie die Überwinterung eines Schiffes zulassen.123 Gavriil Saryčev beschrieb in seinem Reisebericht die besonderen Schwierigkeiten des Nordpazifiks und des Arktischen Ozeans, mit denen sogar James Cook, der doch mehr »Kenntniß, Unternehmungsgeist und Ausdauer« hatte als die meisten anderen Seefahrer, zu kämpfen hatte. »Weite Meere« waren nach Saryčevs Einschätzung deutlich einfacher zu kartieren als der nordöstliche Ozean. Dieser sei »durchaus nicht bequem«, angesichts tückischer Klippen, starker Winde und dichter Nebel.«124 Selbst diese für russländische Verhältnisse außergewöhnlich dramatische Beschreibung des Nordpazifiks arbeitet also keinesfalls mit einem Konzept von Leere und Strukturlosigkeit. Vielmehr ist der Ozean angefüllt  – mit Gefahrenmomenten, aber auch mit Orientierungspunkten. Diese zu erkennen war die Aufgabe der See­ fahrer und Kartografen. Wie bereits erwähnt, verließ man sich dabei auf fixe Punkte an Land, Beobachtungen der Bewegung des Wassers sowie das Wissen anderer – verzeichnet auf Karten, vermittelt durch die indigene Bevölkerung oder auch in der Begegnung mit anderen Schiffen. Hier spielten auch akustische Mittel eine durchaus bedeutsame Rolle: Vor allem im Nebel kommunizierten die Schiffe mithilfe von Kanonenschüs122 z. B. bei Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 78. Tekst žurnala, in: Lebedev, Plavanie A. I. Čirikova, S. 134–365. 123 Instrukcija V. Val’tona M. S. Gvozdevu ob opisanii poberež’ja Ochotskogo morja do r. Ul’i, 8. 11. 1740, in: Naročnickij, Russkie ekspedicii, S. 206 f. 124 Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, xii–xiv

Der Nordpazifik und seine Struktur

sen, Glockenklängen und Trommelwirbeln miteinander.125 Diese Gesamtheit der Sinneseindrücke spielte zusammen, jedes Detail und jede Wahrnehmung war wichtig und wurde durchaus subjektiv verarbeitet, oder, wie Saryčev es formulierte: »Um also genaue Karten von dem hiesigen Meere zu erhalten, muß man die Aufnahme gleichsam durch’s Gefühl machen.«126 Tatsächlich fällt auf, dass die Perspektive kaum abstrakt und gewissermaßen nicht »von oben« bestimmt ist, sondern sich stets aus der jeweiligen Position des Schiffes ergibt: der Erzähler notiert, was er sieht und hält so auf individuelle Weise den Reiseweg fest. Die Narrative der Reiseberichte erinnern damit erneut eher an Itinerare und an die Portolankarten des Mittelalters, welche die subjektive Perspektive des Seefahrers nachvollzogen, als an moderne Karten mit einem objektiven, gewissermaßen über die Topografie gelegten Raster der Längen- und Breitengrade. Orientierungsprobleme und praktische Fragen der Seefahrt wurden nicht unbedingt in ein abstraktes, explizit wissenschaftliches Denkmuster überführt. Die Texte stellen das Meer keinesfalls als leeren strukturlosen Raum dar, der erst durch ein abstraktes Raster beherrschbar wird. Formulierungen wie die Georg Heinrich Langsdorffs »Die See war ausserordentlich todt, und kaum sah man zuweilen einen Vogel«127 sind in den Quellen zum Nordpazifik nicht zu finden und auch kaum vorstellbar. Zwar betrachtete man die Kartierung der Meeresstruktur als ausgesprochen schwierig, aber die Existenz einer solchen Struktur wurde doch vorausgesetzt. Man verließ sich auf Bestandteile einer Topografie, die im Detail noch nicht bekannt war, aber doch nicht grundsätzlich als anders oder fremd definiert wurde.128

125 Žurnal kapitana Beringa 1742/1742, Blatt 8, in: Meeting of Frontiers, http://frontiers. loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER+@od1%28mtfms+u06a 0001 (15. 9. 2014). 126 Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, xiii (Herv. d. Verf.) 127 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 127. 128 Siehe auch Predstavlenie general-inspektora flota vice-admirala grafa N. F. Golovina Anne Ioannovne o dal’nejšem razvitii russkogo flota o sodejstvii ekspedicii V. I. Beringa (12. 10. 1732), in: Naročnickij, Russkie ekspedicii, S. 113–116, 114. Ukazanie Beringa Ovcynu vesti po pros’be professorov naturalističeskie i etnografičeskie nabljudenija vo vremja plavanija »Tobola«(7 fevralja 1734g), in: Ochotina-Lind,­ Møller, Vtoraja Kamčatskaja ekspedicija. Dokumenty 1734–1736, S. 47–49.

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4.4.2 Der fehlende Topos der Insel Eines der wichtigsten Elemente der maritimen Struktur bildeten die bereits häufiger erwähnten Inseln. In der historischen und kulturwissenschaftlichen Forschung zur Wahrnehmung der Meere spielen Inseln häufig eine zentrale Rolle; kaum ein Autor, der sich nicht auf Shakespeares The Tempest bezöge und die Konstruktion der Insel als literarischer Topos, gern genutzte Metapher, Sehnsuchtsort und Projektionsfläche für soziale sowie politische Konzeptionen darstellte. Steinberg beschreibt die Definition des Topos »Insel« als »frozen in time, isolated, […] and pristine« und damit als Gegensatz zum »normalen« historischen, besiedelten und beherrschten Territorium,129 Gillis schreibt ganz ähnlich von der »typischen« Insel als »small, remote, and isolated whatever their size or proximity«130 und bezeichnet Inseln als un­ entbehrliches Element für das westliche Raumdenken.131 Doch in den meisten russländischen Quellen zum Nordpazifik findet sich ebenso wenig wie eine dramatische Konstruktion des unbeherrschbaren, »anderen« Meeres auch dieser »Topos der Insel«. Das einzige Element eines Inseltopos war die bereits beschriebene Konstruktion eines kleinen territorialen Reiches durch Šelichov. Ansonsten blieb der Blick auf Inseln ausgesprochen pragmatisch. Die navigatorische und ökonomische Bedeutung der zahlreichen Inseln der Region war immens;132 sie wurde jedoch nicht in einen Diskurs der Inseleuphorie umgesetzt und passt insofern nicht zur europäischen Sehnsuchts- und Reiseliteratur des 18.  und 19. Jahrhunderts.133 Die russländischen Seefahrer und Kartografen des Nordpazifiks brauchten Inseln, ganz praktisch, als Jagdgründe, Orientierungspunkte und für ihre Winterlager.134 Man segelte von Insel zu Insel, kartierte und beschrieb diese, baute zuweilen Festungen, etablierte Häfen und Handelswege und schuf auf diese Weise ein maritimes, aber doch als stabil begriffenes Netzwerk. Šelichovs Frau und Nachfolgerin Natal’ja setzte sich 1799 in einem Pa129 Steinberg, Insularity, S. 254. 130 Gillis, Islands in the Making. 131 Ders., Islands of the Mind, S. 1 f. 132 Dies wird z. B. deutlich bei Krašeninnikov, Opisanie I. 133 Zu dieser Euphorie siehe u. a.: Spate, Seamen and Scientists, S.  14–16. Jäger, Reise­ facetten der Aufklärungszeit, S. 270 f. 134 Dass die Vielzahl der Inseln jedoch auch eine Gefahr darstellte, wird deutlich bei: Dobbs, A letter from a Russian sea-officer, S. 16–18.

Der Nordpazifik und seine Struktur

pier mit dem Handel im Nordpazifik und ihren Konkurrenten auseinander. Eines ihrer wichtigsten Argumente für die Überlegenheit ihrer eigenen Kompanie betraf dabei die Frage von Mobilität und Stabilität, und Inseln spielen hier eine große Rolle: Einige Handelsgesellschaften »bestehen nur von der Abreise des Schiffes bis zu dessen Rückkehr nach Ochotsk und der Aufteilung der Güter. […] Eine solche Gesellschaft ist vollkommen abhängig von ihrem Herrn und seiner Entscheidung, ob er die Schiffe wieder ausschicken will oder das ganze Unternehmen abbricht.« Šelichova führte ihr Argument weiter aus und betonte die Notwendigkeit von wirtschaftlicher Stabilität, die vor allem durch räumliche Stabilität gewährt sei: »Die Nordöstliche Kompanie meines verstorbenen Mannes wurde von Anfang an ganz anders geleitet, und ihr eigentliches Wesen beruht nicht auf einem Schiff oder mehreren Schiffen  – von denen wir neun haben und überall einsetzen können – sondern auf den festen Siedlungen dort in Amerika.«135 Mit dem Hinweis »dort in Amerika« bezog sich Šelichova nicht nur auf das nordamerikanische Festland. In Übereinstimmung mit vielen anderen zeitgenössischen Quellen war hier die nordamerikanische Küste gemeint, aber ebenso auch vorgelagerte Inseln sowie die Aleutenkette. »Inseln und Länder« wurden stets als Einheit genannt,136 und das Erreichen des amerikanischen Kontinents spielt in vielen Quellen grundsätzlich eine eher untergeordnete Rolle. Überhaupt wurden Inseln häufig in Gruppen beschrieben und benannt, so die Aleutischen Inseln oder die Kommandeursinseln. Dass

135 Shelikhova, Note on the Essential Meaning of Maritime Shares in Animal-Hunting Companies and on the State of the Companies of the Late Shelikhov, November 1, 1799, in: Black, Natalia Shelikhova, S. 143–147. 136 z. B. 1786 g. Maja 4.  – Iz nastavlenija G. I. Šelichova glavnomu pravitelju Severovostočnoj amerikanskoj kompanii K. A. Samojlovu o dejatel’nosti po upravleniju delami kompanii, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S.  220–224. Oder: Objasnenie kupca G. I. Šelichova v gorodskom magistrate g. Ryl’ska o celjach učreždenija im­ Severo-vostočnoj amerikanskoj kompanii i ee dejatel’nosti, in: Fedorova, Russkie­ ekspedicii, S. 202–204.

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ein solches Verständnis von Einheit oft nicht den kulturellen und politischen Strukturen der Region entsprach, spielt für meine Fragestellung keine unmittelbare Rolle und sei hier nur am Rande erwähnt.137 Neben der Topografie waren auch Handelsbeziehungen von herausragender Bedeutung für die Strukturierung des Nordpazifiks und die Kategorisierung von Inseln als Gruppe oder Archipel. Solche Beziehungen wurden von den Russen etabliert oder bestanden bereits länger zwischen indigenen Gruppen. Letztere wurden zuweilen als nützlich empfunden, nicht selten aber auch als Problem der imperialen Beherrschung. So monierten Kosaken im Jahre 1764, die Bewohner der Andreanov-Inseln seien sehr mobil, und in ihrer ständigen Bewegung zwischen den Inseln »schwer zu zählen«.138 Insgesamt gehörte zum Konzept des Nordpazifischen Beckens also auch die Vorstellung, es handle sich hier um eine von Küsten, Wasser und Inseln strukturierte, einheitliche Region. Besonders deutlich wird dies im Raumkonzept Jacob von Staehlins. Sein »Nördliches Archipel«, zu dem er Kamčatka, die Aleuten und die Nordwestküste Amerikas zählte, bildet den Nordpazifik als geografische Einheit ab.139 Die Inseln waren damit stets Teile einer übergeordneten, komplexen Struktur; sie bildeten weder einen nicht-territorialen Gegensatz zum territorialen Festland noch einen Kontrast zum ansonsten leeren Ozean. Inseln formten keine abgegrenzten, individuellen, isolierten Räume, sondern waren integrale Bestandteile und Strukturmerkmale des Meeres, gemeinsam mit Häfen, Küsten, Felsen, Kanälen und Buchten, Flussmündungen, Riffen sowie Untiefen.140 In den Reiseberichten Šelichovs und anderer bilden Inseln keinen Heterotopos, sondern sind im Grunde ständig präsent, es gibt keinen narrativ ausgearbeiteten Gegensatz zwischen der Seefahrt und dem Erreichen einer In137 Katharine Woodhouse-Beyer betont die kulturelle Fragmentiertheit beispielsweise des Kodiak-Archipels: Woodhouse-Beyer, Artels and Identities, S. 133. Die ethnische Vielfalt auf Kodiak wurde auch bemerkt von Zajkov, Perečen’ putešestvija šturmana Zajkova. 138 Opisanie Andrejanovskich ostrovov, sostavlennoe na osnovanii pokazanii kazakov M. Lazareva i P. Vasjutinskogo, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S. 29–37. 139 Staehlin, Karta Novago Severnago Archipelaga izobretennago Rossijskimi moreplavateljami v Kamčatskom i Anadyr’skom Morjach (1774), in: Efimov, Atlas geografičeskich otkrytii, Abb. 157. Eine andere Version dieser Karte ist zu finden unter: Staehlin, Carte du nouvel Archipel du Nord. 140 Dies wird besonders deutlich in Nastavlenie G. I. Šelechova glavnomu pravitel’iu K. A. Samojlovu, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII – XIX vekach, S. 46–59.

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sel.141 Gerade in frühen Texten erscheinen die Inseln austauschbar. Zwar wurden sie zuweilen benannt, insbesondere, wenn die Sichtung einer Insel auf den Tag eines besonderen Heiligen fiel. Häufig ist jedoch einfach nur die Rede von »Inseln«, die gesichtet wurden, angesteuert oder auch nicht, und deren Hauptwert sich ohnehin aus ihrer Bevölkerung als potentielle Steuerzahler ergab.142 Das Motiv der Erwartung, der Moment der Erstbegegnung, der erste, ästhe­tisch übercodierte Eindruck  – all diese Elemente, die in vielen bekannten europäischen Reiseberichten zum »Topos der Insel« beitragen, fehlen in den russländischen Texten.143 Besonders auffällig ist in diesem Kontext auch die Darstellung von Inseln auf Karten: Zwar konzentrieren sich viele der Karten beispielsweise des hydrografischen Atlas Teben’kovs – dies machen der Titel und der gewählte Bildausschnitt klar – auf jeweils nur eine Insel. Stets aber wird in den Ecken oder an den Rändern der Karten die Existenz weiterer, benachbarter Inseln angedeutet. Der Eindruck einer isolierten Insel im weiten Meer, so zentral für die westliche Raumwahrnehmung, wird hier ganz offensichtlich explizit vermieden, und der Maßstab wird absichtlich so gewählt, dass zumindest ein kleiner Teil anderer Inseln auf die Abbildung passt.144 Auf diese Weise wird jede Insel nicht nur durch Benennung und Beschreibung, sondern auch durch bildliche Darstellung eingeordnet in ein Netz, in ein Bezugssystem weiterer Inseln. Narrativ typisch ausgedrückt ist dies bei Michail Gvozdev: »Es war ein Uhr morgens, als wir die erste Insel verließen, und sechs Stunden später ankerten wir vor der zweiten, die kleiner ist als die erste, und etwa eine halbe Meile entfernt.«145 Diese Darstel141 Skazka Totemskogo kupca Stepana Čerepanova o ego prebyvanii na Aleutskich ostrovach v 1759–1762 gg (3. 8. 1762), in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 113–120. Report on St. Elias (Kayak) Island, in: Golder, Bering’s voyages I, S. 99. 142 Bering, Donesenie flota. Michail Gvozdev Bericht, in: CGAVMF, fond 216, d. 53. Meet­ ing of Frontiers: The USSR Ministry of Marine Archive (Foreign Microfilming Project) http://frontiers.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER+ @od1 %28mtfms+u0010194 (6. 5. 2014) 143 Für das klassische Bild siehe z. B. Forster, Reise um die Welt, S. 234. Langsdorff, Bemerkungen I, S. 75–77 Greenblatt, Marvelous Possessions. 144 z. B. Karta ostrova Sv. Lavrentija (1849), Abb XIX und Karta ostrovov bližnich (1848), Abb. XXX , in: Pierce, Atlas of the northwest coasts of America. 145 Michail Gvozdev Bericht, in: CGAVMF, fond 216, d. 53, Blatt 6.  Meeting of Frontiers: The USSR Ministry of Marine Archive (Foreign Microfilming Project) http:// frontiers.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER+@od1%28mtf ms+u0010194. (6. 5. 2014). Ganz ähnlich: Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 78.

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lung, die sich auf den Weg von einem Punkt zum nächsten konzentriert und diese Punkte ihrerseits miteinander in Bezug setzt, erinnert nicht von ungefähr an die Expansionsdynamik des russländischen Reiches, wie sie im Kapitel zu Linien und Flächen beschrieben wurde. Ähnlich wie in ethnografischen Schriften die Merkmale einzelner Völker untereinander verglichen wurden, – und nicht in einem absoluten Kontrast zum Zentrum des Imperiums standen  – werden auch geografische Einheiten in ein an einzelnen Etappen orientiertes, relatives Muster eingepasst. Die Untersuchung von russländischen Quellen des Nordpazifikdiskurses im 18. Jahrhundert macht also einige durchaus überraschende Unterschiede deutlich zu den in der Forschung als europäisch, westlich, zuweilen aber auch als generell menschlich präsentierten Raumkonzepten über »das Meer«. In russländischen Reiseberichten, Instruktionen und Karten erscheint der Nordpazifik keineswegs als ein anderer, nicht-territorialer Raum. Die Quellen konstruieren keine fundamentale Grenze zwischen Land und Meer, sondern stellen vielmehr eine Einheit oder aber einen fließenden Übergang dar. Obwohl nautische Ausbildung und Zustand der Schiffe eher zu wünschen übrig ließen,146 wurde doch der Nordpazifik weniger als problematisches Hindernis denn als Erweiterung der frontier und als Bewegungsraum begriffen. Als Nische konzipiert, wurde die nordpazifische Region gedacht als räumliche Einheit von Küsten, Wasser und Inseln, in der man sich mithilfe der verschiedensten Mittel orientierte: Technik, Kartenwerke und nautische Berechnungen, Beobachtung der Wasserbewegung, Fixpunkte an Land und Kommunikation mit anderen Akteuren. Auf interessante Art und Weise ergibt sich hier ein Widerspruch zu der Feststellung, das Meer sei »kein strukturierter oder strukturierbarer Raum«147, von dem kein Geringerer als Francis Bacon sagte, »there is nothing to be seen but sky and sea«148, und erst die Moderne habe mithilfe des abstrakten Rasters von Längen und Breiten eine Orientierung ermöglicht. Diese pauschale Annahme von der menschlichen Wahrnehmung des Meeres »als eine Begrenzung, eine bis zum Horizont reichende Schranke, als immerzu und überall gegenwärtige, wundersame, rätselhafte Unermeßlichkeit« bezieht sich übrigens nicht nur auf die Ozeane, sondern, wie dieses Zitat von Braudel zeigt, ebenso auf das Mittelmeer.149 Die russländischen 146 Darauf weisen viele Autoren hin, u. a. Spate, Monopolists and Freebooters. 147 Makropoulos, Modernität als Kontingenzkultur, S. 56 f. 148 Bacon, Of Travel. 149 Braudel, Das Meer, S. 37.

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Texte des späten 18. Jahrhunderts aber passen nicht in dieses Bild. Hier hat das Meer durchaus eine sehr detailliert beschriebene Struktur, die sich aus topografischen, hydrografischen und historischen Dimensionen ergibt. Ebenso fehlen in den Quellen Hinweise auf die angeblich so universale menschliche Angst vor dem Wasser, die Philipp Steinberg in Bezug auf die – von ihm nicht weiter definierten – »Nordeuropäer« für besonders stark hält. Steinberg schreibt: »Perhaps the most striking […] is […] the level of fear that the northern Europeans had for the sea. Throughout Nordic mythology, the sea was represented as evil endless, mysterious, and threatening (often ­punctuated by distant, Eden-like islands)«.150 Die Analyse hat gezeigt, dass das Meer im Rahmen der russländischen Nordpazifik-Expansion weder als böse, noch als endlos begriffen wurde, und dass auch die entsprechende idealisierende Konstruktion der Inseln fehlt.

4.4.3 Unerwartete Vergleichsperspektiven Interessanterweise sind es also weder westliche Muster, ob nun frühmodern, aufklärerisch oder modern, noch der etwas unklare Diskurs nordischer Mentalitäten, die hier passende Modelle und Begriffe zur Beschreibung liefern. Stattdessen scheinen gänzlich unerwartete Parallelen auf: Raumwahrnehmungen, die Forscher für Ozeanien festgestellt haben. Hier finden wir eine Strukturierung der Meeresräume, wie sie in den russländischen Quellen deutlich wird: orientiert an Küsten, Felsen, Strömungen. Das Meer wird hier nicht als strukturloser, unbeherrschbarer Gegensatz zum festen Land betrachtet, sondern als, wie Steinberg formuliert, territory: ein Raum, der den ozeanischen Völkern Bewegung ermöglicht und durchaus organisiert, genutzt und beherrscht werden kann.151 Der Anthropologe Epeli Hau’ofa hat in seinem engagierten Aufruf zu mehr Respekt für die Kultur Ozeaniens zwei verschiedene Raum- bzw. Meeresverständnisse definiert: Er argumentierte gegen die westliche Sicht 150 Steinberg, The social construction, S. 70. 151 Steinberg, The social construction, S. 56–59. Zum Gegensatz von europäischer Wahrnehmung des Pazifik einerseits und indigenen Raumvorstellungen andererseits siehe auch Ward, Earth’s Empty Quarter.

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Ozeaniens als islands in  a far sea und propagierte dagegen das Verständnis als a sea of islands.152 Islands in a far sea entspricht Hau’ofa zufolge dem Raumverständnis eines Cook oder eines Bougainville, betont die Weite und Leere des Ozeans und geht von einem radikalen Kontrast zwischen Wasser und Land aus. Bei aller exotisierender Idealisierung insbesondere der Südsee erscheinen Inseln in diesem Denken doch vor allem als problematische, schwache, entlegene Räume, politisch, wirtschaftlich und geografisch von geringer Bedeutung. Das von Hau’ofa mit so großer Verve proklamierte Gegenkonzept der sea of islands meint dagegen einen holistisch begriffenen Raum, in dem Wasser und Land keine Gegensätze bilden, sondern eine dyna­misch verbundene Einheit. Es fällt schwer, der Versuchung zu widerstehen, das Modell der sea of­ islands auf die russländische Nordpazifikwahrnehmung anzuwenden. Das Konzept von zusammenhängenden Inseln und die Einheit von Land und Meer scheinen genau diesem Bild zu entsprechen. Doch kann das Bild Hau’ofas von den Menschen Ozeaniens, die am, vom und mit dem Meer leben, die »den Ozean wirklich im Blut haben«, tatsächlich auf Russland übertragen werden? Bei allem Interesse an maritimen Kulturen des russländischen Imperiums erscheint das dann doch eindeutig zu weit gegriffen. Wohin also führt uns diese Beobachtung, so lautet die Frage. Die Antwort darauf kann nur in die Richtung von mehr Differenzierung weisen. Der Hinweis auf Ozeanien kann sicher nicht dazu dienen, einen irgendwie gearteten besonders maritimen Kern im russländischen kontinentalen Charakter herauszuschälen und dem Narrativ vom russischen Sonderweg eine weitere, exotische Komponente hinzuzufügen. Für die Frage nach russländischen maritimen Kulturen dürfte aber deutlich geworden sein, dass die problematische Essentialisierung des von wasserscheuen Landratten besiedelten Kontinentalimperiums einer detaillierten Überprüfung nicht standhält. Die Expansion im nordpazifischen Raum während des 18. Jahrhunderts zeigt ausgesprochen pragmatische, selbstverständliche und selbstbewusste Züge. Werden die Dokumente gelesen aus einer westlichen kulturwissenschaftlichen Perspektive, so ist dies erstaunlich und schafft einen bemerkenswerten Kontrast zum »Westen«. Doch geht es nicht darum, die russländische Geschichte in ihrem Verhältnis zur europäischen Tradition – oder nun womöglich zur Welt Ozeaniens – zu positionieren. Vielmehr brauchen wir ganz offensichtlich eine vorsichtigere und weniger schematische 152 Hau’ofa, Our Sea of Islands. Ders., The Ocean in Us.

Abb. 1: Generalkarte aus dem Atlas Rossijskoj Imperii (Atlas des Russländischen Imperiums), St. Petersburg 1745.

Abb. 2: »Der Fluss Kamčatka« von Stepan P. Krašeninnikov aus dem Buch Opisanie Zemli Kamčatki (Beschreibung des Landes Kamtschatka), St. Petersburg 1755.

Abb. 3: Karte der Sibirienexpedition Berings von Tobol’sk nach Čukotsk, 1729. Autor: Petr Čaplin.

Abb. 4: Karte der Reise des Kaufmanns Šelechov, 1780er Jahre.

Abb. 5: Polarkarte von Michail V. Lomonosov, 1763. Beilage zur Handschrift der »Kurzen Beschreibung verschiedener Forschungsreisen auf den Nordmeeren«.

Abb. 6: »Eine Ansicht der Insel Nukahiwa« aus: 27 Kupfer zu G. H. v. Langsdorffs Bemerkungen auf einer Reise um die Welt, 1811.

Abb. 7: »Bowles’s New Pocket map«. Karte der Entdeckungen russischer Forschungsreisender an der Nordwestküste Amerikas. Veröffentlicht von der Petersburger Akademie der Wissenschaften, 1780.

Abb. 8: Karte der Entdeckungen zwischen Sibirien und Amerika bis auf das Jahr 1780, 1780-1785. Autor: Peter Simon Pallas.

Abb. 9: »Signing the Alaska Treaty of Cessation«. Gemälde von Emanuel Leutze anlässlich der Signierung des Alaska-Verkaufsvertrages von 1867.

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Perspektive auf die im Entstehen begriffene maritime Geschichte. Geschult durch eine ausufernde Forschung zu den verschiedensten »Othering-Prozessen«, suchen wir allzu eifrig nach dualistischem Denken als Kernelement der westlichen Kultur. In der scheinbaren Dekonstruktion der westlichen Wahrnehmung des Meeres haben viele Autoren vor allem einen überzogenen Kontrast von Land und Wasser konstruiert, der in seinem universalen Anspruch einer näheren Untersuchung kaum standhält. Denn selbstverständlich sind auch europäische Seefahrer nicht unbedingt stets den von Foucault und Braudel postulierten Mustern vom strukturlosen Meer gefolgt, sondern haben sich erfolgreich auf See orientiert anhand von Küsten, Felsen, Riffen, Strömungen.153 John Gillis argumentiert mit einem Blick auf die frühe Neuzeit ebenfalls gegen die These von der fundamentalen euro­ päischen Thalassophobie: »it was land, not sea, that created the greater sense of remoteness and insularity«154 und zeichnet das Bild einer Atlantischen Zivilisation, die durchaus vergleichbar erscheint mit der Struktur Ozeaniens: »connected rather than divided by water.«155 Umgekehrt ist das poetische Eingangszitat Hau’ofas »We sweat and cry salt water, so we know that the ocean is really in our blood«156 als Element seiner politischen Agenda nachvollziehbar, bildet aber kein sehr nützliches Hilfsmittel historischer Forschung. Wenn ausgerechnet Quellen aus dem Kontinentalimperium Russland auf so auffällige Weise Elemente einer scheinbar spezifisch ozeanischen Raumwahrnehmung aufweisen, dann stellt sich die Frage, wie weit die Zuordnung von sauber abgegrenzten maritimen Kulturen, deren Tränen und Schweiß gleichsam aus Meerwasser bestehen, zu bestimmten globalen Regionen trägt. Peter Boomgard hat in seiner Arbeit zu Südostasien die Ambivalenzen geografischer »Voraussetzungen« betont und auf dieser Basis konsequent sehr unterschiedliche Nutzungen und Interpretationen des Meeres herausgearbeitet. Das Meer kann Hindernis sein oder Verbindung, Inseln als isolierte Einheiten gelten oder Gemeinschaften bilden – und all dies in ein und derselben Region.157

153 de Lima Martins, Mapping Tropical Waters, S. 158. 154 Gillis, Islands in the Making, S. 29. 155 Gillis, Islands of the Mind, S. 83. 156 Hau’ofa, The Ocean in Us, S. 392. 157 Boomgard, In a state of flux.

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4.5 Wandel im 19. Jahrhundert: Globalisierung und die Dramatisierung des Meeres Wenn die russländische Wahrnehmung des Meeres sich also im 18.  Jahrhundert in mancherlei Hinsicht deutlich von dem unterscheidet, was die Forschung für westeuropäische Diskurse festgestellt hat, so ist für das frühe 19.  Jahrhundert, mit dem Beginn der russländischen Weltumseglungen, eine radikale Annäherung an westliche Konzepte und Vorstellungen zu beobachten. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden diese neuen Wahrnehmungen des Meeres, insbesondere des Nordpazifiks, im 19. Jahrhundert betrachtet. Auf der institutionellen Ebene herrschen zunächst Kontinuitäten vor. Trotz aller Probleme in finanziellen, administrativen und technischen Fragen: Eine eher klassisch orientierte Seefahrtsgeschichte Russlands wird für das frühe 19.  Jahrhundert  – bis zur Zäsur des Krimkrieges  – in konsequenter Fortsetzung der Bemühungen des 18.  Jahrhunderts vor allem eine Intensivierung, Institutionalisierung und Stabilisierung von Schiffbau, Schiffsverkehr und seemännischer Ausbildung insbesondere im militärischen Bereich feststellen. Um 1800 schien die Russländische Kaiserliche Marine der französischen und britischen kaum nachzustehen.158 1802 begann die Entwicklung des Marineministeriums aus dem traditionellen Admiralitätskolleg.159 Russisch Amerika wurde zunehmend zu einer bewusst als Überseekolonie konzipierten Region mit großer maritimer Bedeutung: seit dem Ende der Dienstzeit Baranovs im Jahre 1818 kamen alle Gouverneure der Kolonie aus den Reihen der Marine.160 1848 erschien das erste Heft der von der Kaiserlichen Marine herausgegebenen Zeitschrift Morskoj sbornik. 1853 schickte Russland einen Vertreter zur ersten Internationalen Ozeanographie­konferenz in Brüssel.161 Möglicherweise am deutlichsten aber wird diese maritime Erfolgsgeschichte in der langen Liste der etwa vierzig Weltumseglungen, die Russland in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts aussandte. Russländische Schiffe ankerten vor Australien und Südamerika, ambitionierte Reisende 158 Geradezu begeistert zeigt sich Glynn Barratt, z. B. in Barratt, Russian naval enterprise. 159 No. 20. 406, 8. 9. 1802. Ob učreždenii Ministerstv, in: PSZ XXVII, S. 243–248. Anučin, Istoričeskij obzor. 160 Nr. 28. 756, 13. 9. 1821. O voznovlenii privillegii Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, in: PSZ XXXVII, S. 842–854. 161 Maritime conference held at Brussels.

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bemühten sich um enge Kontakte nach Hawai’i und Kalifornien. Akteure und Berichterstatter betonten gern die große Regelmäßigkeit einer vor kurzem noch so sensationellen und einmaligen Unternehmung162, und tatsächlich kann die erste russländische Weltumseglung von 1803 bis 1806 als wichtige Zäsur in der Meereswahrnehmung gelten.

4.5.1 Die erste russländische Weltumseglung Nachdem frühere Projekte einer Reise um die Welt abgelehnt, gescheitert oder abgebrochen worden waren, war schließlich der estländische Baron Adam Johann von Krusenstern (Ivan Fedor Kruzenštern) mit seinen Plänen erfolgreich. Sein Hauptziel war es, »Russland in Absicht auf seinen Handel, aus dem Schlummer zu wecken, in den die Politik der handelnden Nationen Europa’s mit nur zu glücklichem Erfolg es einzuwiegen von je her bemüht war«.163 Krusenstern argumentierte, ganz ähnlich wie bereits Saltykov, Golovin und Lomonosov im 18. Jahrhundert, mit den enormen Schwierigkeiten, die der Landweg von St. Petersburg nach Ostsibirien mit sich brachte. Wollte Russland im globalen Wettbewerb mithalten, so musste es schnellere und einfachere Verkehrs- und Transportwege finden, um die Inseln und Küsten des Nordatlantiks wirtschaftlich nutzen zu können. Eine Weltumseglung bot sich hier an; sie würde nicht nur einen zwar längeren, aber doch einfacheren Weg bieten, sondern auch neue wirtschaftliche Verbindungen ermöglichen. Darüber hinaus versprach ein solches Unternehmen dem russländischen Staat einen unerhörten Prestigezuwachs. Mit zwei Schiffen, der Nadežda und der Neva, segelten Adam Krusenstern und Jurij Lisjanskij (als Kapitän der Neva) im August 1803 von Kronstadt aus los, um über den Atlantik, das Kap Hoorn umfahrend, durch den Pazifik nach Kamčatka zu gelangen. An Bord der Nadežda befanden sich 85 Personen, auf der Neva 54 Personen – darunter nicht nur Offiziere, Matrosen und Handwerker, sondern auch Maler und Wissenschaftler sowie fünf japanische Passagiere. Ausführliche 162 Pribytie kapitana Bellinsgauzena i lejtenanta Lazareva ot Južnogo Poljusa. 163 Kruzenštern, Putešestvie I, S. v–vi. Die deutsche Übersetzung folgt Krusenstern, Reise um die Welt I, S. 3.

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Reiseberichte wurden nicht nur von Krusenstern verfasst, sondern ebenso von Jurij Lisjanskij, dem Offizier Hermann von Löwenstern, dem Beauftragten der Russländisch-Amerikanischen Kompanie Nikolaj Rezanov sowie den Naturforschern Wilhelm Gottlieb Tilesius von Tilenau und Georg Heinrich von Langsdorff. Bis auf den Bericht von Löwensterns wurden alle Texte relativ bald nach der Rückkehr publiziert. Diese Reise legte die Grundlage für eine ganze Reihe von russländischen Weltumseglungen mit dem Ziel, die Kolonien im Nordpazifik zu versorgen. Auch in Bezug auf das Personal wurde hier eine Tradition begründet  – so war der spätere Weltumsegler in russländischen Diensten Otto von Kotzebue als Kadett auf der Nadežda unterwegs – und ebenso in Fragen des Narrativs und der Raumwahrnehmung, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Wenn für das 18. Jahrhunderts »Pragmatismus« ein zentrales Schlagwort für den russländischen Umgang mit dem Meer war, so gilt für die Weltumseglungen des 19. Jahrhunderts in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil. Das Drama, das im 18.  Jahrhundert fehlte, wurde nun umso stärker zum zentralen Element der Wahrnehmung und Darstellung. So setzt sich beispielsweise Langsdorff gleich zu Beginn seines Berichtes mit der Bedeutung dieser »wichtigen und weiten Reise« auseinander.164 Dies war nun eine »richtige« Seereise, ein echtes Abenteuer, »und der große Atlantische Ocean lag vor uns«. Später erlebte Adelbert von Chamisso, der 1815 bis 1818 auf der­ Rurik die Welt umsegelte, das Auslaufen in Kopenhagen ganz ähnlich: »Wir salutierten die Festung, ohne ein Boot abzuwarten, das vom Blockschiff aus auf uns zu ruderte; und rascher segelnd, als die Kauffahrer um uns her, überholten wir schnell die vordersten, und ließen bald ihr Geschwader weit hinter uns. Der Augenblick war wirklich schön und erhebend.«165 Das neu gestaltete Genre des Reiseberichts verlangte Spannung und »Merkwürdiges«. Als Wissenschaftler fühlte sich Langsdorff zwar einer gewissen rationalen Skepsis verpflichtet, wenn es beispielsweise um Legenden über Seemonster ging – als der Autor eines Reiseberichtes allerdings konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seinen Lesern solche Sensationen zu präsentieren, und so diskutierte er recht ausführlich die Existenz von Riesentinten164 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 5 f. 165 Chamisso, Reise, S. 28.

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fischen.166 Das Meer erscheint bei Langsdorff unermesslich, unüberschaubar, für den Menschen unfassbar – wir finden hier also genau das Drama, das in den Quellen des 18. Jahrhunderts so auffällig fehlte. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Darstellung der Schiffe. Diese sind in den Berichten Langsdorffs, Löwensterns und von Chamissos winzige Punkte im weiten Raum, in »völliger Abgeschiedenheit zwischen der Bläue des Meeres und der Bläue des Himmels«.167 Chamisso will von dieser Ab­ geschiedenheit erzählen: »es ist hier der Ort, von der abgesonderten kleinen Welt, zu der ich nun gehörte, und von der Nußschale, in der eingepreßt und eingeschlossen sie drei Jahre lang durch die Räume des Ocean’s geschaukelt zu werden bestimmt war, eine vorläufige Kenntnis zu geben.«168 In diesem besonderen Raum entstanden auch besondere Ordnungen. Dies galt sowohl für die alltägliche räumliche Systematik, die schlicht und einfach aufgrund von dringendstem Platzmangel unbedingt eingehalten werden musste, als auch für das Zeitregime und schließlich für die soziale Ordnung an Bord. Dass hier unweigerlich Probleme und Konflikte aufkamen, wurde von Löwenstern auf den Punkt gebracht, der meinte, »dass Menschen nirgends einander so feind werden können, als auf einem Schiffe.«169 In keinem der mir bekannten Dokumente zum Nordpazifik im 18. Jahrhundert wird in irgendeiner Weise eine heterotopische Schiffsgesellschaft konstruiert. Die Reiseberichte der Weltumsegler dagegen lassen vor den Augen des Lesers eine eigene, abgeschlossene Gesellschaft entstehen, die sich auf sehr begrenztem Raum, aber mit umso mehr Zeit zur Verfügung, um ein harmonisches Zusammenleben bemüht – nicht immer erfolgreich.170 Regelungen zur Nutzung des einzigen Schreibtisches, Unterhaltungsprogramme zur Aufrechterhaltung der Moral, präzise Essenszeiten und zuweilen Ausflugsprogramme waren in dieser Ausnahmesituation von existentieller Bedeutung und wurden  – ganz anders als in den Quellen des 18.  Jahrhunderts – ausführlich geschildert. Die Reiseberichte lassen zudem eine neue,

166 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 65. 167 Chamisso, Reise, S. 23 f. 168 Ebd. 169 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 52. 170 Chamisso, Reise, S. 27–28.

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touristische Dimension erkennen, und das Schiff wird zu einem zwar nicht unbedingt bequemen, aber doch Sicherheit vor dem exotischen Fremden verheißenden Ort: »Plötzlich! Welch ein Entsetzen! Umringt von giftigen Schlangen, Eidechsen, Kröten, Crocodillen, Scolopendes und Tieger steht man versteinert da und denkt nur an die Flucht. Nur zu gerne gönnt man hernach dem Portugießen sein Brasilien, und froh und zufrieden besteigt man wieder das gesellige Schiff!«171 Überhaupt kommt nun eine starke ästhetische Komponente ins Spiel. Beschreibungen des Nordpazifiks im 18.  Jahrhundert konzentrierten sich auf praktische Fragen, auf mögliche Gefahren, Ankerplätze und Trink­ wasser. Die Perspektive der Weltumsegler des frühen 19. Jahrhunderts unterschied sich hier gravierend: »Schroffe Felsen mit schönem Grün bedeckt, durch deren Spalten Flüßchen herab stürzten und an deren Fuß sich das Meer Tobend brach, gaben dem Lande ein Schönes ansehen.«172 Landschaften ebenso wie Menschen wurden nun nach ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt, gern mit antiken Schönheitsidealen oder pastoralen Bildern verglichen. Auch der Kapitän musste einem neuen Ideal entsprechen. Verantwortung und Zuständigkeiten hatten sich verändert. Der Kapitän war nun unmittelbar zuständig für das komplexe Funktionieren der Abläufe an Bord. Krusen­stern kümmerte sich um scheinbare Details wie den Speiseplan für die Mannschaft, das regelmäßige Lüften der Schlafräume und das Waschen der Wände mit Essig.173 Es lag in seiner Verantwortung, möglichst keinen einzigen Mann an Skorbut und andere Krankheiten zu verlieren, und es war sein persönliches Verdienst, wenn dies gelang. Diese neue Vorstellung von Kapitänskompetenzen sollte sich durchsetzen und in Berichten des 19. Jahrhunderts zur Normalität werden.174 So schilderte Löwenstern einen der 171 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 98. 172 Ebd., S. 158. 173 Kruzenštern, Putešestvie I, S.  46, 68, 119, 127. Kruzenštern, Putešestvie II, S.  456  f.­ Lisjanskij, Putešestvie, S. 36, 73. Dass die Kontrolle insbesondere in Bezug auf den Proviant nicht so funktionierte, wie Krusenstern und Lisjanskij es gern darstellten, deutet Löwenstern an: Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 1, S. 188 f. 174 Bellinsgauzen, Dvukratnye izyskanija. Die weitreichenden auch strafrechtlichen Befugnisse des Kapitäns wurden in den Instruktionen an Bellingshausen benannt.

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vielen Konflikte zwischen Krusenstern und dem mitreisenden Staatsmann Nikolaj Rezanov: »Welche Ursache können Sie angeben, daß wir nicht nach Madeira gehen, fragte Resanoff, ich muß es wissen, um dem Keiser es raportieren zu können. Keine andere, sagte Krusenstern, als daß ich es für gut befunden habe. Übrigens wird es dem sehr gleichgültig seyn zu wissen, weswegen wir in Teneriffa und nicht in Madeira eingelaufen sind. Resanoff verstummte.«175 Von Diskussion und Deliberation ist nicht mehr die Rede, der Kapitän soll souverän und entschieden auftreten, und Widerspruch wird nicht geduldet. Auf dem Meer gelten nun andere Regeln als an Land, und die Bezugnahme auf den Kaiser bleibt ohne die erwünschte Wirkung. Wenn Krusenstern zuweilen doch als ein nur wenig durchsetzungsfreudiger Kapitän geschildert wurde, so war dies eindeutig kritisch gemeint.176 Er selbst dagegen beschrieb sich als zentrale Figur der Schiffsgesellschaft, die Entscheidungen traf nicht nur über den einzuschlagenden Kurs und Aufenthaltszeiten an Land, sondern auch über die Einzelheiten des täglichen Lebens an Bord. Zwar war die Politik der RAK langfristig daran ausgerichtet, Schiffskommandeuren nur wenig Entscheidungsspielraum zu überlassen,177 doch der Mythos »Weltumseglung« gehorchte anderen Gesetzen. All dies macht deutlich, an welchen Vorbildern diese Texte sich orientierten und weshalb sie sich so gravierend von den Quellen des 18. Jahrhunderts unterschieden: Krusenstern, Lisjanskij und Kotzebue waren allesamt am Ideal James Cooks ausgerichtet, Langsdorff und Chamisso entsprechend an Georg Forster. Ob Ästhetik, Kapitänsideal, Wissenschaftsanspruch oder Raumkonzepte: die ständige Bezugnahme auf die »großen« Expeditionen ist unübersehbar. Dies liegt zunächst an einem seit dem späten 18. Jahrhundert etablierten neuen Genre des Reiseberichts, welches wissenschaftliche Erkenntnis mit Wie sehr dieser Anspruch im Alltag auf schwer zu überwindende Grenzen stieß, beschreibt besonders anschaulich Greg Dening, der die verschiedenen Machträume eines Schiffes rekonstruiert und analysiert: Dening, Mr Bligh’s bad language. 175 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 41. 176 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 82 177 Instrukcija komandirom sudov, in: Kollekcija Gennadija Judina, http://frontiers. loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field(NUMBER+@od1(mtfms+y0010056)) (15. 9. 2014)

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unterhaltsamer Schilderung vereinen wollte und sich rasch zum eigentlichen »Hauptendzweck« einer solchen Reise entwickelte.178 Zwar hatten auch die russländischen Expeditionen des 18. Jahrhunderts Passagiere und Wissenschaftler an Bord, zwar wurden auch deren Texte publiziert, zuweilen übersetzt und öffentlich rezipiert. Aber dennoch gibt es hier klare Unterschiede in Stil und Inhalt und vor allem in der Wahrnehmung des Meeres sowie der – direkt damit zusammenhängenden – Darstellung des eigenen Handelns. Elemente aus allen drei Abschnitten dieses Kapitels – Drama, Herrschaft und Struktur des Meeres – stehen in den aus den Weltumseglungen hervorgegangenen Texten diametral den Quellen des 18. Jahrhunderts gegenüber. Das Meer wird dramatisch und emotional als faszinierende Naturgewalt beschrieben; das Schiff bildet entsprechend einen sozialen Kontrast im nichtterritorialen Meeresraum, und schließlich erscheint der Ozean als »ausserordentlich todt«, strukturlos und kaum übersehbar.179 Diese Leere wurde allein strukturiert durch das objektive und global gültige Netz von Längen- und Breitengraden sowie durch die Wendekreise und – natürlich – den Äquator, den die Nadežda und Neva als erste russländische Schiffe überquerten. Obwohl die nautischen Erfahrungen ebenso wie die technischen Voraussetzungen der Weltumsegler fraglos besser waren als diejenigen der Seefahrer im Nordpazifik, erscheint das Meer in den Quellen doch eindeutig als weniger beherrschbar, die Gefahren werden ungleich dramatischer geschildert. Diese Reiseberichte passen sich somit, anders als die Texte des 18. Jahrhunderts, nahtlos in die zeitgenössischen westeuropäischen Diskurse ein. Mit anderer Schwerpunktsetzung hat bereits Ilya Vinkovetsky darauf hin­ gewiesen, dass die Weltwahrnehmung der russländischen Weltumsegler sich deutlich von derjenigen der so genannten sibiriaki, der über Sibirien nach Russisch Amerika gekommenen Reisenden unterschied. Der Besuch europäischer Kolonien in Übersee auf dem Weg nach Russisch Amerika habe die Vorstellungen von und damit auch die Politik gegenüber der indigenen Bevölkerung grundlegend verändert und damit letztlich die Basis für eine neue Kolonialpolitik der RAK geschaffen.180 178 So formuliert bei Georg Forster: Forster, Reise um die Welt, S. 13. Siehe auch Despoix, Die Welt, S. 94. 179 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 127. 180 Vinkovetsky, Circumnavigation. Ders., Russian America.

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Welche über Vinkovetskys Thesen hinausgehenden Beobachtungen lassen sich hier entwickeln? Zunächst stellt sich die Frage, wie sehr die tatsächliche Erfahrung der Weltumseglung, das eigentliche Reise-Erlebnis, sich auf Wahrnehmung und Politik auswirkte. Abgesehen davon, dass die Berichte vor der Publikation gründlich überarbeitet wurden und wir es also nicht mit ungefilterten, nur vom unmittelbaren Eindruck bestimmten Eindrücken zu tun haben, gibt es außerdem Hinweise darauf, dass die »neue« Wahrnehmung nicht erst durch die Erfahrungen auf See und an fremden Küsten bestimmt war, sondern vielmehr durch bereits vor der Abreise geprägte Vorstellungen. In Bezug auf die hier analysierten Vorstellungen von Land und Meer sowie von der Bedeutung des Schiffes sind in den Reiseberichten keine Narrative des Lernens, der Veränderung, des Wandels erkennbar. Die erwähnten Vorstellungen von Meeresraum und Schiffsgesellschaft bleiben durchgehend gleich, und auch die – als Tagebuch geschriebenen und nicht für eine Publikation überarbeiteten  – Notizen Löwensterns passen nahtlos in dieses Bild. Deutlich stärker als das Element des Erlebens und Erstaunens tritt in den Texten die Erwartung hervor: die Erwartung beispielsweise eines weiten, unermesslichen Meeres und eines besonderen Reiseerlebnisses. Zahlreiche Textpassagen verweisen ausgesprochen konstruierend auf das »vor uns liegende« Meer. Langsdorff formulierte, dass »Der Anblick eines jeden Landes, ja selbst der ödesten Felsen […] nach einer zwei monatlichen Seereise erfreulich« sei181 – ein Satz, der keinesfalls aus eigenem Erleben entstanden ist, sondern aus diskursiver Vorbereitung. Das Meer erschien nicht anders, weil es anders erlebt wurde, sondern weil man es auf andere Weise zu erleben erwartete. Damit in einem unmittelbaren Zusammenhang steht eine neue Vor­ stellung vom Fremden. Als Schlüsselpassage erweist sich hier Langsdorffs Beschreibung der Erstsichtung Nukuhivas: »Am frühen Morgen, als sich die Nebel kaum zerstreut hatten ward die Insel Nukahiwa wieder sichtbar. Je mehr wir uns derselben näherten, desto mehr wuchs unsere Neugierde. Mit der größten Aufmerksamkeit durchspähten wir, vermittelst unserer Fernröhre, die uns schon ziemlich nahe gelegene südöstliche Küste. Sehnsuchtsvoll suchten wir, nach einer langen beschwerlichen Seefahrt, jene fruchtbaren, von Cook, Forster und andern

181 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 28.

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so hochgepriesenen, mit den vortrefflichsten Brodbäumen, Coco’s- und Bananenwäldern angepflanzten Thäler der Südsee Inseln, und kosteten schon in Gedanken, die herrlichsten Früchte, ungeachtet wir noch nichts als kahle und öder Felsenklippen gewahr wurden.«182 Von der Lektüre der Schriften Cooks, Forsters und weiterer prominenter Weltumsegler geprägt, erträumte Langsdorff sich – mit Quellenangabe – das klassische Südseeparadies. Die hochgesteckten Erwartungen wurden allerdings enttäuscht angesichts der »kahlen und öden Felsenklippen«. Vor allem fehlten »Spuren von Kultur und Bevölkerung«: »So einladend auch anfänglich diese Landschaft erschien, so ermüdete sie doch bald das Auge, durch das ewige Einerlei, da sie weder von Menschen, noch durch irgend eine, am Abhang des Berges weidende Heerde belebt wurde.« Es war ein fast pastorales Bild, das Langsdorff erwartete, wenn er weidende Herden herbeisehnte; darüber hinaus war es vor allem der magische Moment des Erstkontaktes, den er erhoffte. »Und wir waren dem Ufer schon so nahe, daß wir uns auf das sorgfältigste bemühten, einige Bewohner oder ein Canot zu entdecken, welches wir, aus einer nahen Bucht, von der Neuheit eines europäischen Schiffes angelockt, uns entgegenzueilen, vermeinten; allein umsonst. […] Endlich gaben wir fast alle Hoffnung auf, zur See von Bewohnern bewillkommt zu werden.« Erst später tauchen einige Inselbewohner in Kanus auf und nehmen Kontakt auf – der Zauber des ersten Moments ist da jedoch schon verschwunden. Langsdorff behilft sich, indem er in eine der den Bericht illustrierenden Tafeln kurzerhand ein Kanu aufnimmt und so zumindest die Erwartungen seines Publikums erfüllt.183 Zahlreiche weitere Textpassagen verweisen ebenfalls auf die großen Vorbilder: so, wenn Langsdorff sich bei einer angenehmen Fußmassage an eine Schilderung Georg Forsters erinnert und es 182 Ebd., S. 75 f. 183 Eine Ansicht der Insel Nukahiwa. Kupfer zu G. H. v. Langsdorffs Bemerkungen, S. 76. Bildteil, Abb. 6.

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zum selbstverständlichen Pflichtprogramm auf Hawai’i gehört, den Ort der Ermordung James Cooks zu besuchen.184 Die Weltwahrnehmung der Weltumsegler war somit stark geprägt von den Schriften und dem Prestige James Cooks. Krusenstern, der eine nautische Ausbildung in England genossen hatte, argumentierte mehrfach dafür, sich in technischen Fragen nach den Briten, dem erfahrensten Seefahrervolk der Welt, zu richten. Später beschrieb Adelbert von Chamisso seine Bewunderung für James Cook mit schwärmerischen Worten: »In meiner Kindheit hatte Cook den Vorhang weggehoben, der eine noch märchenhaft lockende Welt verbarg, und ich konnte mir den außerordentlichen Mann nicht anders denken als in einem Lichtscheine, wie etwa dem Dante sein Urahnherr Cacciaguida im fünften Himmel erschien.«185 Doch James Cook war nicht nur großes Vorbild. Die russländischen Weltumsegler legten durchaus auch Wert darauf, gewissermaßen auf den Schultern von Riesen zu stehen und über die Leistungen Cooks hinauszugehen. Dazu gehörten zahlreiche Bemerkungen, die auf eine höhere Kultiviertheit und sogar bessere Seefahrerkünste der »Russen« im Vergleich zu Engländern und Franzosen anspielten. So die nicht ohne arroganten Unterton formulierte Dekonstruktion der sich um das Kap Hoorn rankenden Mythen: »Viele Seefahrer fürchten sich davor, das Kap Hoorn zu umfahren, doch nach meiner Erfahrung unterscheidet sich dieser Ort kaum von allen anderen, in höheren Breiten gelegenen Kaps.«186 Auch betonten die Erzähler gern den zivilisierten Charakter der Feierlichkeiten bei ihrer eigenen Erstüberquerung des Äquators und kontrastierten diese mit den legendär wilden Feiern der Briten.187 Ebenfalls in einer konkurrierenden Tradition mit Cook wurden geografische Angaben kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert. Ob es um die exakte Angabe eines Längengrades ging oder um die Existenz ganzer Inseln188 – die Expeditionen wurden als Teil eines umfassenden Fortschritts184 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 47. Lisjanskij, Putešestvie, S. 178 f. 185 Chamisso, Reise, S. 3. 186 Lisjanskij, Putešestvie, S. 73. Siehe auch Kruzenštern, Putešestvie, I, S. 121 f. 187 Lisjanskij, Putešestvie, S. 37 f. Siehe auch Langsdorff, Bemerkungen I, S. 22 f. Das Element der Abgrenzung von Briten fehlt bei Kruzenštern, Putešestvie I, S. 70 f. 188 z. B.: Kruzenštern, Putešestvie I, S.  130 f., 133 f., 252 f.. Die im Text ständig auftauchenden geografischen, meteorologischen und astronomischen Angaben wurden am Schluss nochmals tabellarisch systematisiert: Kruzenštern, Putešestvie III, passim.

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projektes gesehen, dessen langfristiges Ziel es war, die Welt vollständig und akkurat zu vermessen. Und ebenso wie Russland seinen Anteil an der sich entwickelnden globalen Wirtschaft einforderte, so reklamierte man auch einen russländischen Beitrag zum universalen Wissen. Der Handelsminister Nikolaj Rumjancev erklärte ausführlich die bisherigen Unklarheiten in Bezug auf pazifische Inseln, die weder Spanier noch Holländer, Franzosen oder Briten hatten sicher lokalisieren können und hoffte: »Vielleicht hat der Genius der Entdeckungen diesen Ruhm der Russischen Flagge unter Ihrer Führung vorbehalten. […] Meine Erwartungen […] würden um so vollkommener erreicht werden, wenn Russland auch seinen Theil zu dem allgemeinen Vorrathe menschlicher Kenntnisse beitrüge.«189 Cooks Reisen hatten die Seefahrt revolutioniert und die Hoffnung auf eine Weltkarte ohne weiße Flecken eröffnet.190 Diese Hoffnung sollte nun erfüllt werden, und so segelten die russländischen Schiffe nicht nur auf den Spuren Cooks, sondern auch bewusst daran vorbei: »Ich fuhr fort, einen Nordwest Curs zu steuern, um nicht in einer Gegend zu segeln, die von Byron, Wallis, Carteret, Bougainville, Cook und mehrern neuen Seefahrern, so sehr durchkreuzt worden ist.«191 Die russländischen Beschreibungen der Weltumseglungen weisen also eine deutlich andere Form der Meereswahrnehmung auf als die Quellen des 18.  Jahrhunderts. Die Gründe dafür sind vielfältig. Von großer Bedeutung sind neue Vorbilder in Bezug auf das literarische Genre, aber auch auf ein neues Ideal des Entdeckers, beide gleichermaßen bestimmt von den Langsdorff, Bemerkungen I, S. 70–75; Lisjanskij, Putešestvie, S. 44, 78 f., 83 f., 97 f.; bezeichnenderweise wurden in die englische Übersetzung von Lisjanskijs Reisebericht einige zusätzliche Hinweise auf Cook eingefügt, die sich im russischen Original nicht finden: Lisiansky, A Voyage round the world, S. 21, 109. 189 Pismo g. ministra kommercii grafa Nikolaja Petroviča Rumjancova k g. kapitanu Kruzenšternu, in: Kruzenštern, Putešestvie III, S.  406–412. Kruzenštern nahm zu dieser Instruktion Stellung: Kruzenštern, Putešestvie I, S. 247–249. 190 Dazu z. B. Richardson, Longitude and Empire. Williams, Seamen and Philosophers, S. 278 f. 191 Kruzenštern, Putešestvie I, S. 124 f.; siehe auch Extract of two letters from Captain Von Krusenstern;

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»Großen« des Entdeckungszeitalters. Darüber hinaus haben wir es auch zu tun mit weiteren Akteuren. Bereits an anderer Stelle wurde deutlich, dass die Akteursgruppen sich zuweilen in ihrer Perspektive deutlich unterschieden, so beispielsweise in Bezug auf die Wahrnehmung, Kartierung und Bezeichnung des nordpazifischen Beckens. Seit dem frühen 18.  Jahrhundert sind Unterschiede in sozialer Zugehörigkeit, Bildung und Erfahrungshorizont zu beobachten, die von Zeit zu Zeit Spannungen und Konflikte erzeugten.192 Die Weltumseglungen bilden ein weiteres Kapitel in dieser Geschichte unterschiedlicher Raumvorstellungen. Trotz dieser Tradition aber erscheinen letztlich die grundlegend unterschiedlichen räumlichen Ambitionen der Nordpazifikfahrer einerseits und der Weltumsegler andererseits entscheidend zu sein für die bemerkenswerten Differenzen in Stil und Wahrnehmung. Während Unternehmer, See­ fahrer und auch Politiker den Nordpazifik lange als einen russländischen Vorhof betrachteten, als eine Nische und ein durch geografische Gegebenheiten abgeschlossenes Becken, änderte sich dieser Anspruch mit den Weltumseglungen deutlich. Die russländische Nische wurde einbezogen in eine explizit global angelegte Reiseroute. Die Zwischenhalte und Versorgungspunkte lagen nun nicht mehr in Jakutsk und Tobol’sk, sondern auf Teneriffa und Hawai’i. Die globale Perspektive wird in den Texten auf den verschiedensten Ebenen deutlich. Im von Krusenstern zusammengestellten und publizierten Atlas beispielsweise gibt es keinen konzentrierten Blick auf den Nordpazifik mehr; auf der zu Beginn des ersten Bandes gedruckten Weltkarte sind Kamčatka und Nordwestamerika vielmehr recht abgelegen am Rande platziert.193 Eine Einzelkarte der Region ist im Atlas nicht enthalten, und auch die Aleutenkette hat nicht mehr die prominente, abgrenzende Bedeutung wie auf vielen Karten des 18. Jahrhunderts. Auch Krusensterns »Vorerinnerungen«, in denen er sich konzentriert zu technischen und nautischen Fragen äußerte, machen deutlich, dass hier in globalen Maßstäben gedacht wurde. Krusenstern benutzte die gregorianische Zeitrechnung, »obgleich sie in Rußland noch nicht eingeführt ist«.194 Ebenso orientierten sich die Entscheidungen für oder gegen Maßeinheiten 192 z. B. Ukaz Ekateriny II Admiraltejstv-kollegii ob organizacii ekspedicii dlja ­opisanija i osvoenija ostrovov, otkrytych v Tichom okeane, 4. 5. 1764, in: Fedorova, Russkie­ ekspedicii, S. 76. 193 Kruzenštern, Atlas zur Reise um die Welt. 194 Krusenstern, Reise um die Welt I, S. I.

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für Distanz, Temperatur, Wassertiefe und Luftdruck an den Kriterien wissenschaftlicher Zuverlässigkeit, vor allem aber an der Frage der Kommunizier­ barkeit und dem Prinzip globaler Gültigkeit. Diese Bedeutung des Globalen wird deutlich an einem auffälligen Kontrast: nautische Meilen, RéaumurGrad und Fadentiefe werden bei Krusenstern schnell und ohne Diskussion abgehandelt, die Frage nach dem Nullmeridian dagegen ausführlich erörtert. Diese die Welt einmal umlaufende Linie, welche den Ausgangspunkt für das globale System der Längengrade bildete und entsprechend mythenund prestigebeladen war, verlangte nach mehr als nur ein paar Worten.195 Während die Nordpazifikfahrer dem Nullmeridian keine explizite Bedeutung beimaßen und umstandslos meist Avača als Ausgangspunkt für ihre Messungen auswählten,196 entschied sich Krusenstern mit detaillierter Begründung für Greenwich. Als weitere mögliche Bezugspunkte nannte er Ferro bzw. Paris, Cádiz oder auch Teneriffa und – immerhin – St. Petersburg. Avača kommt wie selbstverständlich nicht vor. Dieser Ort war geeignet für die regional begrenzte Schifffahrt; eine Weltumseglung aber brauchte einen Meridian, welcher der Globalität des Unternehmens angemessen war. Und schließlich fällt auf, mit welcher Entschiedenheit die Autoren ihre zahlreichen ethnografischen Beobachtungen in einen globalen Zusammenhang stellten. Insbesondere Langsdorff verglich die Bewohner Nukuhivas vorzugsweise mit griechischen Statuen, stellte Bezüge zu Afrika her, setzte brasilianische Gebräuche mit indischen gleich und sparte schließlich nicht mit Superlativen, die sich »auf die ganze Welt« bezogen.197 Die Suche nach Vergleichsobjekten erinnert sehr an die von Linneaus begründeten Denkstrukturen in naturhistorischen Schriften.198 Während in den älteren Be­ richten zum Nordpazifik einzelne Völker, Landschaften oder Inseln stets mit der jeweils vorherigen verglichen wurden und so schrittweise eine Linie von wachsender Distanz und Fremdheit entstand, wird bei Langsdorff ein globaler, zuweilen fast strukturalistisch anmutender Blick deutlich. Wer die ganze Welt besegelte und vermaß, der konnte auch globale Maßstäbe anlegen und sich entsprechend im zeitgenössischen Diskurs von Zivilisationsmodellen und Klimatheorien bewegen. Das Konzept und weniger die Praxis der Weltumseglung also erscheint wichtig für die Narrative der Weltumsegler, die so gänzlich anders sind als 195 Zu den Debatten aus französischer Sicht siehe Murdin, Full meridian of glory. 196 z. B. Golder, Bering’s voyages, S. 38 f. und passim. 197 Langsdorff, Bemerkungen auf einer Reise I, S. I, 41, 67, 92, 96. 198 Dazu: Jones, A Cruel Climate, S. 21.

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die der Nordpazifikfahrer. Die weltumspannende Reise ermöglichte einen »globalen«, räumlich integrierenden Blick, der sich von der traditionellen regionalen, eher abgrenzenden Perspektive auf das »Östliche Meer« unterschied. In einer paradox erscheinenden Konstellation haben die Weltumseglungen Russland nicht nur einen Platz in der globalen Seefahrt beschert, sondern ebenso einen neuen Diskurs der Meereskonstruktion als fremd und anders initiiert.

4.5.2 Neue Perspektiven auf den Nordpazifik Aus diesen neuen Vorstellungen von »dem Meer« entwickelten sich auch über die Weltumseglung hinaus neue, dynamische und ambivalente Haltungen gegenüber Russisch Amerika. Als der Marineoffizier Nikolaj C ­ hvostov 1804 in einem ausführlichen Papier umfassende Reformen in Russisch Amerika forderte, stellte er die marine Anbindung der Kolonie nicht nur an Russland, sondern an den gesamten pazifischen Raum ins Zentrum seiner Überlegungen. Zur Durchführung der Reformen sei vor allem eines notwendig: Das Einsetzen eines erfahrenen und fähigen Seeoffiziers (morskoj oficir), dem weite Entscheidungskompetenzen zugebilligt werden sollten.199 Bei Chvostov wie bei anderen Autoren wird die Besonderheit Russisch Amerikas als Region betont, die Russland von der Küstenschifffahrt bzw. dem Befahren »kleiner Meere« (po malym morjam)200 zur Hochseeschifffahrt brachte. Die Darstellungen sind geprägt vom Interesse an neuen Chancen und neuen Problemen ebenso wie dem Bewusstsein, sich als Neuling auf einem etablierten internationalen Feld zu bewegen und gleichzeitig dem Stolz auf frühere, nicht immer anerkannte Leistungen.201 Die Frage, ob maritime Ambitionen insbesondere im pazifischen Raum den Traditionen, dem Wesen, den Möglichkeiten und Zielen Russlands entsprachen, fand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Antworten.202

199 Mnenie lejtenanta Chvostova (1804), in: Bil’basov, Archiv III, S. 571–587, 572. 200 Ebd., S. 575. 201 Zapiska Glavnogo pravlenija Rossijsko-amerikanskoj kompanii, 23 dekabrja 1816, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 2, Tom 1, S. 378–386. Bolkhovitinov, The Sale of Alaska, S. 197. 202 Für generelle Arbeiten siehe z. B. Viskovatov, Kratkij istoričeskij obzor. Elagin, Istorija russkago flota.

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Anders als im 18.  Jahrhundert erschienen nun  – da Regierungskreise deutlich stärker in die Expansion in den Nordpazifik einbezogen waren, und nachdem Weltumseglungen wenn auch nicht auf der Tagesordnung, so doch im regulären Budget standen – Expansion, Handel und Schifffahrt in der nordpazifischen Region diskussionswürdig und keineswegs unproblematisch. Dabei standen, wie bereits angedeutet, keinesfalls nur praktische und finanzielle Fragen zur Debatte. Vielmehr ging es ganz grundsätzlich darum, wo denn Russlands Raum zu suchen sei und ob eine transkontinentale Expansion als solche denkbar und sinnvoll sei. Zwischen den beiden Polen einer Konzentration Russlands auf den eurasischen Kontinent und hochfliegenden Plänen eines transkontinentalen, den Pazifik ins Zentrum stellenden Reiches schien alles möglich.203 Diese Debatte mündete direkt in die Problematik um den Sinn oder Unsinn einer russländischen Kolonie auf dem amerikanischen Kontinent und damit schließlich in die Diskussion über einen möglichen Verkauf der Territorien. »Das Meer« konnte dabei sowohl eine Rechtfertigung für Russisch Amerika bilden als auch ein Argument dagegen. Auch in Bezug auf die Kartierung der Meere unterschied das 19.  Jahr­ hundert sich – nicht nur bei einem Blick auf Russland – vom vorhergehenden Zentennium. Während im 18.  Jahrhundert Prozesse beschleunigter und intensiver Territorialisierung des Landes auch durch die Kartografie beobachtet werden können, ist die Darstellung des Meeres weniger klar. Hier waren juristische und imperiale Zuständigkeiten und Ansprüche weitgehend offen, eine wissenschaftliche Annäherung steckte noch in den Anfängen. Der Stand von Kartografie, Astronomie und Nautik, aber auch Vorstellungen vom räumlichen Wesen der Meere ließen Seekarten fundamental problematisch und auf charakteristische Weise tentativ erscheinen. Es war das 19.  Jahrhundert, das hier international neue Ambitionen und Vorstellungen entstehen ließ. David Burnett zitiert zahlreiche Quellen nordamerikanischer Provenienz, in denen ein größeres Engagement in diesem Feld, verstärkte Systematik in der Arbeit und vor allem eine deutlich verbesserte Präzision der Seekarten gefordert wurden.204 In der Kritik standen dabei keinesfalls die nautischen und kartografischen Fähigkeiten von »Neulingen« auf dem Meer, sondern vielmehr die Seekarten englischer Herkunft, deren 203 Für solche ehrgeizigen Pläne, welche aber weder Regierung noch Geldgeber überzeugen konnten, siehe z. B. Zavališin, Kalifornia v 1824 g. oder Dobell, O Petropavlovskom porte. 204 Burnett, Hydrographic Discipline among the Navigators, S. 196.

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Qualität nicht den Anforderungen einer modernen Kartografie zu entsprechen schien. Dies sollte sich nun ändern. Wissenschaftlicher und imperialer Ehrgeiz sowie wirtschaftliche Interessen wirkten zusammen, wenn im 19. Jahr­ hundert den Meeren zunehmend eine als systematisch konzipierte, von der individuellen Anschauung unabhängige und beschreibbare Struktur ge­ geben wurde.205 Die Figur Cooks als Gründungsvater eines solchen systematischen, wenn man so will: territorialisierenden Ansatzes spielte eine zentrale Rolle. Kapitäne wie Fabian von Bellinghausen nahmen in zahlreichen Formulierungen Bezug auf die Cookschen Unternehmungen, seine Leistungen und Irrtümer und bildeten aus dieser Tradition eine Basis, auf der ihre eigene Tätigkeit Vorbilder und Legitimation zugleich fand. Auf den Karten der Bellingshausen-Expedition waren die Reiserouten Cooks eingetragen und bildeten eine Folie, auf welche die russländischen Seeleute ihre selbst zurückgelegten Strecken zeichneten.206 Gefragt waren mehr Wissen, zuverlässigere Informationen und Vollständigkeit – auch im Vergleich zum großen James Cook.207 Die oft als universal verstandene grundlegende »Schwierigkeit, einen Ozean aufzuschreiben«, die Unmöglichkeit, »Linien und Grenzen […] auf eine[m] fließenden Untergrund zu markieren«,208 wurde erst jetzt, im 19. Jahrhundert, als fundamentales und konzeptionelles Problem gesehen.209 Dem Meer eine Struktur zu verleihen erwies sich damit als schwierige Unternehmung. Zwar sind nach wie vor Berichte zu finden, die auch im 19.  Jahrhundert eine Meeresstruktur schufen, die nicht systematisch und wissenschaftlich, sondern an Wahrnehmung orientiert waren, die Strudel, Gezeiten, Inseln und Kanäle nicht vermaßen, sondern beschrieben.210 Doch stehen diese traditionellen Ansätze nun neben anderen Konzepten. Die Ambitionen und Möglichkeiten, aber auch Grenzen des neuen, systematischen

205 Siehe dazu beispielsweise Heunemann, No straight lines. 206 Pribytie kapitana Bellinsgauzena i lejtenanta Lazareva ot Južnogo Poljusa, S. 234. 207 Instrukcija gosudarstvennogo admiraltejskogo departamenta komandiru šljupa Kamčatka kapitanu V. M. Golovninu, 13 (25) avgusta 1817, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 2, Tom 1, S. 649–651. Siehe auch Krusenstern, Remarques sur quelques iles découvertes dans l’océan Pacifique. 208 Hamilton-Paterson, Seestücke, S. 16 f. 209 Dass dies keine Feststellung ist, die nur für Russland gilt, deutet auch Ursula Appelt an: Appelt, Der Text in der Karte, S. 97. 210 Venjaminov, Zapiski ob ostrovach Unalaškinskago otdela.

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Nachdenkens über die Meere zeigt sich exemplarisch an einem neuen, deutlich wachsenden Interesse an See- und Küstenkarten. Natal’ja Šelichova beispielsweise verlangte die Erstellung eines systema­ tischen Kartenwerkes mit präzisen Informationen.211 Um der Forderung nach Präzision zu genügen, wurde der eher zweidimensionalen Struktur des Meeres, wie sie auf russländischen Karten des 18.  Jahrhunderts erscheint, nun eine weitere Dimension hinzugefügt: Die Tiefe. Šelichova betonte die Notwendigkeit, Angaben zur Wassertiefe in Buchten einzufügen. Selbstverständlich wurden auch bei früheren Seereisen die Tiefen per Lot gemessen;212 doch seit der Wende zum 19. Jahrhundert ist hier ein zunehmend systematischer Ansatz zu erkennen, der die Vorstellung vom Meer als horizontal strukturierte Fläche mit einer vertikalen Perspektive ergänzte und dies auch eindrucksvoll sichtbar machte. Die Karten des auf der B ­ asis der Saryčev-Reise herausgegebenen Atlas, erstmals 1802 erschienen, fallen auf durch eine starke Reliefbildung der Küsten und Inseln und gleichzeitig durch Angaben der Lotungsergebnisse an Küsten und in Buchten. Diese Ziffern sind häufig als Linie angeordnet und bilden somit nicht nur vergangene und empfohlene Reiserouten ab, sondern vermitteln auch den Eindruck großer Systematik.213 Insbesondere die Karte der Sitka-Bucht ist angefüllt mit Informationen zu Bergen, Meerestiefen, Felsen und selbstverständlich Inseln. Detaillierte Kompassrhumben mit genauen Angaben zu den Messungsumständen sowie gestrichelte Linien, die vermutlich Fahrtrouten kennzeichnen, ergänzen das gewissermaßen in alle Richtungen durchstrukturierte Bild.214 Andere Karten des Atlas sind nicht ganz so detailliert durchstrukturiert wie diejenige der für die russländische Seefahrt so bedeutsamen Bucht von Sitka; das Grundprinzip aber, das die horizontale Kompassstruktur mit der vertikalen Dimension ergänzt, ist auch an anderer Stelle zu erkennen.215 Fortgeführt wird diese dreidimensionale Darstellung mit dem hydrografischen Atlas Teben’kovs von 1852.216 211 Note from Natalia Shelikhova to Smirnov, not earlier than December 1795, in: Black, Natalia Shelikhova, S. 68. 212 Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 109–111. 213 z. B. Karta oz ust’j reki Ulkana do reki Aldamy (1789). Siehe auch: General’naja karta Beringova Morja (1828). 214 Karta Zaliva Sitchi, nachodjaščhagosja u severo-zapadnago berega Ameriki, in: Saryčev, Atlas severnoj časti Vostočnago Okeana, Abb. 2.  215 Plan Proliva Udagacha, meždu ostrovami Unalaškoju i Spirkinym (1826), in: Saryčev, Atlas severnoj časti Vostočnago Okeana, Abb. 15.  216 Teben’kov, Atlas severozapadnych beregov Ameriki.

Wandel im 19. Jahrhundert

Dies entspricht in mancher Hinsicht einfach der generellen Beobachtung vom wachsenden Detailinteresse der Kartografen im 19. Jahrhundert.217 Allerdings ist gerade durch diese Veränderung ein stärkerer Unterscheid zwischen Wasser und Land zu erkennen. So sind auf den Karten Saryčevs und Teben’kovs die Höhenangaben an Land und die Tiefenangaben des Wassers nur sehr bedingt aufeinander bezogen. Das Land erhält eine ins Auge fallende Reliefstruktur, und diese Eindrücklichkeit wird noch verstärkt durch die zusätzliche Abbildung von Küstenansichten. Die Tiefen des Meeres dagegen werden nur durch nüchterne Zahlen angegeben. Ansicht versus Messergebnis: Hier wird ein Grundproblem der sich entwickelnden Ozeanografie deutlich. Wie Sabine Hoehler beschrieben hat, kämpfte diese Wissenschaft mit dem Problem fehlender unmittelbarer Wahrnehmung. Das Lot ermöglichte nur mittelbare Einsichten, es »erzeugte keinen überzeugenden Repräsentationsraum für die ozeanische Tiefe, und so blieben die Bilder fragwürdig und die Tiefsee auch als Forschungsobjekt der jungen Ozeanografie gewissermassen undurchsichtig, opak«.218 Gerade diese auf zunehmend präzise und systematische Messungen zurückgreifenden unterschiedlichen Darstellungen der Strukturen an Land und Wasser schaffen rein optisch eine schärfere Trennung der beiden Bereiche. Wenn die Struktur des Meeres auf abstrakte Linien reduziert wird, so wird das Meer damit als eine eigentlich unstrukturierte Fläche definiert.219 Die wachsende Bedeutung der Tiefen für die Darstellung einer Meeresstruktur und die daraus entstehenden neuen Kontraste können somit als Beispiel für den Zusammenhang von Verwissenschaftlichung und der Entstehung von »leeren« Räumen einerseits sowie Territorialisierung andererseits be­trachtet werden. Die wissenschaftliche Erforschung der Meere als belebter Raum dagegen betrachtete die Ozeane nicht nur auf dreidimensionale Weise und blickte unter die Oberfläche, sondern imaginierte hier auch einen, wenn auch »anderen« Containerraum, der Ressourcen für Forscher und Fischer gleichermaßen enthielt. »Leer« erschien dieser Raum ganz und gar nicht. Fabian 217 Ehrensvärd, Color in Cartography. 218 Dazu Hoehler, Dichte Beschreibungen, S. 24. 219 Dieses Argument formuliert in Bezug auf Portolankarten: Steinberg, Insularity, S. 258.

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Land und Meer

von Bellingshausen und Friedrich von Kittlitz gehörten hier zu den ersten, die unter die Wasseroberfläche schauten, sich für die Fauna und Flora des Meeres begeisterten und nicht nur desillusioniert von »zwei langweilige[n] Wallfische[n]« berichteten.220 Vor allem Kittlitz’ Beschreibung betonte einen wissenschaftlichen Ansatz. Dass sein Narrativ dabei von Konstruktionen des Meeres als Faszinations- und Gefahrenraum nicht frei war, bildet nur einen weiteren Hinweis für die Intensität und Komplexität der Meeres­ diskurse der Zeit. So ergibt sich für das 19. Jahrhundert ein Spannungsverhältnis von wachsendem Wissen und zunehmender Annäherung und zugleich einer immer stärkeren Definition des Meeres als »Anderes«. Der russländischen Marine standen bessere Mittel zur Verfügung als je zuvor, und Russland machte durchaus ernstzunehmende Anstalten, zu einer Seemacht zu werden. Dennoch – oder möglicherweise gerade deshalb? – finden sich nun zahlreiche Quellen, die das Meer nicht als gewöhnlichen Bewegungsraum beschreiben, sondern als etwas Besonderes konstruieren. So bettete Dmitrij Afanasev in den 1860ern sein Argument, »die Russen« seien keineswegs »von ihrer Natur her« dem Meer fremd, ein in eine Konstruktion vom Meer als Raum besonderer Gefahr und besonderer Herausforderungen. »Normales« Interesse am wirtschaftlichen Profit reiche hier eben nicht, man müsse vielmehr der Besonderheit des Meeres genügen.221 Viele Autoren sprachen von der spezifischen Bildung, Kultur, Lebensweise des morjak und etablierten so nicht nur das Konzept einer eigenen Profession, sondern auch ein von Romantik und Idealismus nicht freies Bild des mit allen Wassern gewaschenen Seemannes.222 Auf diese Weise wurden nicht nur Räume typisiert – Land und Wasser  – sondern auch Menschen: Seeleute und Landbewohner. Was bereits in den Schriften Langsdorffs in den Jahren 1803 bis 1806 zu erkennen ist, wurde nun weitergeführt, und es finden sich zahlreiche Zitate wie dieses von Kocebu von 220 Bellinsgauzen, Dvukratnye izyskanija, passim. Kittlitz, Denkwürdigkeiten einer Reise, passim. Die gelangweilte Walbeobachterin dagegen war Elisabeth von Wrangell: Wrangell, Briefe aus Sibirien, S.  181. Chamisso beschrieb die maritime Fauna und Flora, konzentrierte sich aber auf das über der Wasseroberfläche Sichtbare. Chamisso, Reise, z. B. S. 84. 221 Mnenie kapitana I ranga D. M. Afanaseva o motivach, pobuždavšich promyšlennikov predprinimat dalnie plavanija, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 296–300. 222 Litke, Pis’ma F. P. Litke k V. A. Žukovskomu, S. 157. Unkovskij, Zapiski morjaka. Zagoskin, Putešestvija i issledovanija lejtenanta Lavrentija Zagoskina v russkoj Amerike, S. 39, 364, 373. Lutké, Voyage autour du monde, S. 5.

Wandel im 19. Jahrhundert

»einer Seereise, die mehrere Jahre dauert, wo man oft einige Monate hinter einander auf dem öden Elemente herumschwimmt, das die Natur nicht zum Aufenthalte des Menschen bestimmte«.223 Friedrich Lütke notierte auf ganz ähnliche Weise: »Un vaisseau resté seul au milieu de l’Océan est comme un homme abandonné dans un désert; et la conformité de ces situations produit une impression également désagréable.«224 Das Meer als ein Anderes, Leeres, aber auch Sehenswertes und Sensationelles erschien nun in einem Gegensatz sowohl zum Land als auch zur menschlichen Gesellschaft. So bei Pavel Golovin: »Gestern Abend beispielsweise war der Himmel wolkenbedeckt, es blitzte und aus der Entfernung konnte man das Grollen von Donner hören. Doch das Meer war ruhig, und die Gischt funkelte phosphoreszierend, und an Deck, beim Schein der Lampe und zur Musik der Violine, tanzten die Damen und Herren Polka und Quadrillen! Ein großer Kreis von Schaulustigen umringte die Tänzer, und alle waren in freudiger, sorgloser, scherzender Stimmung, niemandem fiel es ein, die dräuende ferne Gefahr zu betrachten, niemand verstand, dass die Freude sich schnell in Fassungslosigkeit und Grauen (v otčajanie i užas) wandeln konnte.«225 Golovin konstruierte hier nicht nur das Meer als schwer zu begreifende Gefahr, sondern schuf zusätzlich einen Kontrast zwischen den wissenden Seeleuten und den ahnungslosen Passagieren. Deutlich wird bei der Betrachtung der Quellen vor allem, wie stark diskursbestimmt diese Wahrnehmung war. Friedrich Heinrich von Kittlitz ordnet seine Reise und seine Emotionen in die hochkulturelle Tradition ein, wenn er Goethes Faust zitiert: »Bald thut das Meer mit den erwärmten Buchten / vor dem erstaunten Blick sich auf«226 – es fragt sich jedoch, wieviel Erstaunen hier tatsächlich noch möglich war. Anna Furuhjelm machte dies – mit nur einem Anflug von Selbstironie – deutlich, als sie in Panama schrieb: 223 Kotzebue, Neue Reise um die Welt, S. 17. 224 Lutké, Voyage autour du monde, S. 31. 225 Golovin, Iz putevych zapisok, S. 153. 226 Kittlitz, Denkwürdigkeiten einer Reise, S. viii.

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Land und Meer

»There lay the Pacific, blue and smooth and tranquill before us, with beauti­ ful islands, and wooded ranges of hills«, um hinzuzufügen »but we had come too late, it was too dark to see anything distinctly«.227 Das Wissen um das Wesen des Meeres – das beschrieben wird mit den üblichen Adjektiven calm, passive, solemn – hat mit einer eigenen Anschauung nur wenig zu tun. Und wie die Beispiele Golovins und Lütkes zeigen, waren die Diskurse in ihrer Wirkung keinesfalls auf seekranke und leicht zu beeindruckende Passagiere beschränkt. Während die Berichte von Krusenstern und Lisjanskij sich noch relativ stark von den Eindrücken eines navigatorisch unerfahrenen Langsdorff unterschieden, machten sich in späteren Dekaden des 19. Jahrhunderts auch Kapitäne Gedanken über das »Wesen des Meeres« und bezogen kulturelle Konstruktionen und poetische Zitate in ihre Arbeiten mit ein. Das Verhältnis russländischer Akteure zum Meer ist demnach als ausgesprochen komplex und zuweilen widersprüchlich zu beschreiben. Für das 18. Jahrhundert ist ein weitgehend pragmatischer Zugang zu konstatieren. Land und Wasser wurden nicht als fundamental unterschiedliche Räume, das Meer nicht als »anderes« beschrieben. Für das 19. Jahrhundert aber, als die Flotte systematisch ausgebaut wurde und die Ozeanografie sich entwickelte, ist ein deutlicher Prozess des othering zu erkennen. Die wirtschaftliche und politische Globalisierung machte einerseits einen Ausbau maritimer Aktivitäten notwendig. Zugleich aber ist auch eine Globalisierung bzw. Angleichung der Diskurse durch Reiseliteratur und Kartografie zu erkennen. Diese führte zu einer neuartigen Dramatisierung und Alterisierung des Meeres und sollte langfristig auch eine Grundlage bilden für den Abschied Russlands von seiner »Übersee«-Kolonie in Amerika.

227 Furuhjelm, Letters, S. 67.

5. Asien und Amerika: Die Bedeutung der Kontinente

5.1 Einleitung: Das Problem der Metageografien Die in zahlreichen Studien diskutierte Frage, ob die Expansion Russlands in die später als »Russisch Amerika« bezeichnete Region vor allem durch Kontinuitäten oder aber durch Brüche gekennzeichnet ist, verweist nicht nur auf die im vorangegangenen Kapitel analysierten Wahrnehmungen des Meeres. Ebenso deutet diese Problematik auch auf die Vorstellungen hin, welche sich die Zeitgenossen von Kontinenten machten. Auch hier, wie in den anderen thematischen Perspektiven dieser Studie, kann ein beeindruckender Wandel beobachtet werden. Die russländische Expansion nach Amerika fand statt zu einer Zeit, in der die europäischen Raumvorstellungen in Bezug auf Kontinente sich grundlegend veränderten. Diese Veränderungen sind in den russländischen Quellen wiederzuerkennen und bestimmten zugleich in nicht geringem Maße die Wege der Politik in Bezug auf Russisch Amerika. Seit dem 16.  Jahrhundert konstruierten europäische Autoren in einem langwierigen Prozess »Amerika« als Kontinent. Die geografische Imagination bildet dabei nur einen Teil: beginnend mit dem total cosmographic shock, den, Eviatar Zerubavel zufolge, die »Entdeckung« des Christoph­ Kolumbus nach sich zog,1 über die Erkenntnis, dass es in »Amerika« eine menschliche Bevölkerung gab, und die Zerstörung der traditionellen ­Orbis Terrarum-Idee, bis hin zur kartografischen Erfassung des »vierten Teiles der Welt«.2 Damit entwickelte sich die kulturelle »Erfindung« Amerikas, als neue Welt und damit als Projektionsfläche, wahlweise für Sehnsüchte oder Ängste, Utopien oder Dystopien.3 Welche Rolle spielten solche Traditionen für die russländische Expansion über den Nordpazifik hinweg? Das geografische Wissen erschien zunächst unproblematisch, und es besteht kein Zweifel daran, dass die russländischen Akteure des 17. und 18. Jahrhunderts von der Existenz des amerikanischen Kontinents irgendwo östlich von Sibirien und Kamčatka wussten. 1 Zerubavel, Terra cognita, S. 7. 2 Lewis, The Myth of Continents, S. 25–27. Gillis, Islands of the Mind, S. 83. O’Gorman, The Invention of America, S. 132. 3 Gewecke, Wie die neue Welt in die alte kam.

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Asien und Amerika

Zwar sprach Gvozdev 1732 noch etwas vorsichtig von einem »großen Land«, das Insel oder Festland sein konnte,4 doch ein Jahrzehnt später war Čirikov fraglos klar gewesen, dass er den amerikanischen Kontinent erreicht hatte.5 Nach wie vor umstritten ist allerdings die Problematik dessen, ob Peter I. die in seinen Instruktionen von 1719 und 1725 formulierte Frage, ob Asien und Amerika miteinander verbunden seien, tatsächlich ernst meinte. Raymond Fisher argumentierte hier, diese Frage sei offen gewesen und­ Bering sei tatsächlich davon ausgegangen, auf einen Isthmus zu treffen.6 James Gibson dagegen ging davon aus, die Möglichkeit einer Landverbindung habe man zu Peters Lebzeiten längst ausgeschlossen.7 Diese kleinteilige Forschungsdebatte um die Formulierungen, geplanten Reiserouten und Ziele für die Expeditionen Evrejnovs und Lužins einerseits, vor allem aber Berings andererseits, zieht ihre Brisanz aus der dahinter liegenden Frage: denn letztlich geht es um die Ambitionen Peters und damit um die Frage, wie sehr er den amerikanischen Kontinent in seine Expansionspläne einbezog.8 Die akademisch geografischen Problemstellungen der kaiserlichen Instruktionen werden beispielsweise von Gibson und Polevoj nur als Feigenblatt für die »eigentlichen«, imperialen Ambitionen betrachtet, und im Grunde ging es Gibson zufolge darum »to lay the foundation for an empire«.9 Diese Debatte soll hier nicht weiter verfolgt werden, denn sie geht von anachronistischen Prämissen aus. Zum einen setzt sie in ihrer Grundfrage eine für das 18.  Jahrhundert hochproblematische Trennung von Wissenschaft und Politik voraus. Zum anderen überschätzt und überstrapaziert sie  – und dies soll im Folgenden nachgewiesen und ausgeführt werden  – 4 Michail Gvozdev Bericht, in: CGAVMF, fond 216, d. 53. Meeting of Frontiers: The USSR Ministry of Marine Archive (Foreign Microfilming Project) http://frontiers.loc. gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER+@od1%28mtfms+u0010194 (6. 5. 2014), S. 22. Golder, Bering’s voyages, S. 24. 5 Siehe Tekst žurnala, in: Lebedev, Plavanie A. I. Čirikova, S.  134–365, S.  134. Waxell,­ Vitus Berings eventyrlige, S. 32, 74. 6 Fisher, The Voyage of Semen Dezhnev, S. 2. Ähnlich: Fedorova, Vitus Jonassen Bering. Die Unklarheit der Situation wird auch deutlich aus Delisles Schriften: Delisle, Denkschrift über die neue Karte des Ostmeers zur Anzeige des kürzesten Wegs von Asien nach Amerika von Joseph Nicolas Delisle vom 6. Oktober 1732 aus Sankt Petersburg, in: Hintzscheu. Ochotina Lind, Dokumente zur 2. Kamčatkaexpedition, S. 46–51. 7 Gibson, Supplying the Kamchatka Expeditions, S. 90. 8 Polevoi, America in the Plans. Urness, Captain-Commander Vitus Bering. Urness, Bering’s First Expedition. Efimov, Iz istorii russkich ekspedicii. Polevoj, Glavnaja zadača. Fedorova, Vitus Jonassen Bering. Fisher, Finding America. Fisher, Bering’s Voyages. 9 Fisher, Finding America, S. 13. Siehe auch Bucher, Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche, S. 20.

Einleitung: Das Problem der Metageografien

die Amerika-Vorstellung Peters und weiterer Akteure im 18.  Jahrhundert. Als russländische Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer im 18. Jahrhundert begannen, sich für die Aleuten, den Nordpazifik und die amerikanische Nordwestküste zu interessieren, hatte »Amerika« für ihre Überlegungen keinerlei Relevanz. Die heutige globale Dominanz der USA lässt zwar zuweilen anderes vermuten, und insbesondere in den 1950er bis 1980er Jahren erschien der Weg russländischer promyšlenniki auf den amerikanischen Kontinent so manchem als ein früher Vorläufer von Mächtewettbewerb und Kaltem Krieg.10 Diese Überlegungen greifen gleich aus mehreren Gründen zu kurz: zunächst einmal – ganz banal – existierten die USA zur Zeit Berings schlichtweg noch nicht. Vielmehr waren Nord- und Südamerika Aktionsraum und Ziel verschiedener europäischer kolonialer Ambitionen. Dennoch hat die Historiografie des Kalten Krieges hier eine Sonderposition für Russland etabliert, welche – anders als im Falle Spaniens, Frankreichs oder selbstverständlich Englands – kolonialen Ehrgeiz in Amerika in einem besonders problematischen Licht erscheinen lässt. Direkt mit dieser Wahrnehmung hängt aber noch eine weitere Komponente zusammen, die im Zentrum dieses Kapitels steht: Die moderne Metageografie11 der Kontinente. Wie Kären Wigen und Martin Lewis feststellen, bildet das System der Kontinente für moderne Raumwahrnehmungen »the most elementary of our many geographical concepts« und schafft eine grundlegende Struktur für unser Welt- und Naturverständnis. Kontinente bilden Ordnungsmuster, nach denen Flora, Fauna und Geologie systematisiert werden, denen distinkte Kulturen und eigene Geschichten zugeschrieben werden.12 Die Entwicklung dieses Ordnungsmusters erweist sich bei genauerer Betrachtung der Quellen als zentrales Element der Raumwahrnehmung des nordpazifischen Raumes und als Schlüsselelement zum Verständnis russländischer Expansionsvorstellungen.

10 Hölzle, Russland und Amerika. Boden, Das Amerikabild. Übrigens gab es dieses Bild auch schon früher: Andrews, Russian Plans for American Domination. 11 »By metageography we mean the set of spatial structures through which people orer their knowledge of the world: the often unconscious frameworks that organize studies of history, sociology, anthropology, economics, political science, or even natural history.« Lewis, The Myth of Continents, S. ix. 12 Ebd., S. 2.

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Asien und Amerika

5.2 Amerika im 18. Jahrhundert: Eine »neue Welt«? James Gibsons oben zitierte These, Peter habe die Grundlage für ein neues Imperium legen wollen, ist nicht deshalb so problematisch, weil sie Peter expansionistische Ambitionen unterstellt; das Interesse an einer Erweiterung des Imperiums gehörte – mit Abstufungen – zur Politik aller Zaren und Kaiser. Diskutabel ist vielmehr die Prämisse, es müsse hier um ein »neues« Imperium gehen, für das erst eigene Grundlagen gelegt werden müssten. Suchte Russland hier tatsächlich »seine eigene neue Welt«, wie Gibson an anderer Stelle schreibt?13 Denn es wurde bereits angesichts der Quellen zu Besitzvorstellungen und Meeresbildern deutlich, dass der Weg über den Nord­pazifik keineswegs als Sprung oder als Bruch wahrgenommen wurde. Trotz aller praktischen Unterschiede zwischen Sibirien und Nordwestamerika haben die Akteure ihre Aktionen als konsequentes Weitergehen und nicht als Neuanfang begriffen. Imaginationen von »neuen Welten« sind in den Berichten und Instruktionen des 18. Jahrhunderts nicht zu finden. Dieses Argument kann noch zugespitzt werden: Es ging den Beteiligten der Kamčatka-Expeditionen nicht um »Amerika«. Ihre Interessen und ihre Raumvorstellungen konzentrierten sich vielmehr auf das nordpazifische Becken. Dieses wurde imaginiert als eine Region, in der die Nordwestküste Amerikas durchaus eine Rolle spielte – als integraler Bestandteil einer Einheit von Wasser und Inseln, nicht jedoch als Teil eines anderen, eines neuen Kontinents. Diese Wahrnehmung wird unter anderem deutlich an einem bezeichnenden »Fehler«, den viele Quellen aufweisen: Es war im 18. Jahrhundert üblich, die im Rahmen der Nordpazifikschifffahrt erreichte amerikanische Küste (in heutiger Terminologie die Nordwestküste) als »Nordostamerika« zu bezeichnen. Karten, Reiseberichte, Berichte, offizielle Dokumente: viele – jedoch durchaus nicht alle – sprechen von Severovostočnaja Amerika oder Severovostočnye beregi, Šelichov gründete gar eine Severovostočnaja Amerikanskaja Kompanija.14 Dass hier kein simples Missverständnis oder Flüchtigkeit vorliegen, ist bereits aus dem Umstand zu folgern, dass die Begriffe 13 Gibson, Feeding the Russian Fur Trade, S. 3. 14 Raport morechoda Ivana Soloveva praporščiku T. I. Šmalevu, 1766, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S. 146. Šelichov, Rossijskago kupca Grigor’ja Šelichova stranstvovanie v 1783 godu, S. 58 f. Donesenie Šelichova irkutskomu general-gubernatoru I. A. Pil’ju, 18. 11. 1794, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 362–363. Karta, sostavlennaja v kompanii Šelechova (1796), in: Efimov, Atlas geografičeskich otkrytii, Abb. 181.

Amerika im 18. Jahrhundert

vostočnyj und zapadnyj – anders als Ost und West oder auch Est und O ­ uest – sich deutlich voneinander unterscheiden und kaum verwechselt werden können. Und dass es sich hier nicht um einen »Fehler« einiger schlecht informierter Akteure handelt, macht die Tatsache klar, dass nicht nur kartografische Werke und gedruckte Reiseberichte, sondern auch die offizielle Bezeichnung einer Handelskompanie und sogar die intensiv diskutierte und mehrfach redigierte Gesetzgebung Kaiser Pauls I. zur Russländisch-Ameri­ kanischen Kompanie von 179915 mehrfach von »Nordostamerika« sprachen. Dieser »Fehler«  – der zuweilen in modernen Quellenübersetzungen stillschweigend korrigiert wird – ist also durchaus von Interesse für die zeitgenössische Raumwahrnehmung, offenbart er doch eine ganz eigene Logik. Die Reise, die imperiale Dynamik generell, verlief von West nach Ost: bereist wurden Nordostsibirien, der Nordostpazifik (oder eben das »Östliche Meer«), und Joseph Billings begab sich auf eine »Nordostexpedition«. Auch Steller schrieb vom »nordostlich liegenden Ufer […] von Amerika«.16 Diese Dynamik war etabliert, und die Bezeichnung »Nordwestamerika« hätte gewissermaßen eine mentale Vollbremsung verlangt. Die Begrifflichkeit zeigt stattdessen eine deutliche Vorstellung von Kontinuität. Darüber hinaus wird hier eine überraschende Form der Metageography deutlich, der Bedeutung geografischer Einheiten. Wer von Nordostamerika sprach, begriff diese Küste als den (östlichen) Rand des nordpazifischen Beckens und keinesfalls, aus kontinentaler Perspektive, als (westliches) Ende der amerikanischen Landmasse. Das Meer beziehungsweise das nordpazifische Becken war von größerer Bedeutung für Raumwahrnehmung und -terminologie als die Vorstellung von Kontinenten. Kontinente spielten im 18. Jahrhundert nicht nur in russländischen Diskursen eine solch relativ geringe Rolle. Vielmehr ist für die gesamte Frühe Neuzeit eine Betrachtung sowohl des Atlantischen als auch des Pazifischen Ozeans zu erkennen, die weniger getrennte Kontinente als vielmehr verbun­ dene maritime Gebiete ins Zentrum rückte.17 Im Rahmen der Transformation von globalen wie regionalen Handelsbeziehungen im späten 18. Jahrhundert werden diese Vorstellungen besonders deutlich.18 David ­ Igler 15 Nr. 19030, 8. 7. 1799 Akt Amerikanskoj soedinennoj kompanii (3. 8. 1798), in: PSZ XXV, S. 704–718. 16 Steller, G. W. Stellers Tagebuch, S. 135. 17 O’Gorman, The Invention of America, S. 132. 18 Igler, Diseased Goods. Gulliver, Finding the Pacific World. Perry, Facing west, S. 26. Burnett, Hydrographic Discipline among the Navigators, S. 189.

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Asien und Amerika

beschreibt, wie sich  – aus vornehmlich nordamerikanischer Perspektive  – zwischen den 1770er Jahren und dem kalifornischen Goldrausch der 1840er ein ostpazifischer Raum entwickelte, der bestimmt war unter anderem von Handel, Gewalt, Wissen und Wahrnehmung.19 Die Idee von der Zugehörigkeit der Pazifikküste zu einer einheitlich nordamerikanischen kontinentalen Landmasse oder gar Nation dagegen sollte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickeln, bestimmt von der neuen Westwärts­bewegung, Ereignissen wie dem Oregon-Vertrag von 1846 sowie Ideen wie der Manifest Destiny. Doch soll zunächst noch das 18. Jahrhundert im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, und auch dort sind Variationen und Wandel zu erkennen – auch unmittelbar an den russischen Diskursen selbst. Denn die Perspektive vom nordöstlich gelegenen pazifischen Becken war verbreitet, aber dennoch nicht die einzig mögliche. Entsprechend benennen einige Dokumente der Bering-Expeditionen ebenso die »westlichen« Küsten Amerikas als Ziel.20 Aus dieser in moderner Perspektive »korrekten« Terminologie von Nordwestamerika wird eine Raumwahrnehmung »von oben« deutlich, die sich von der relativen und regionalen, unmittelbar mit dem Weg von Sibirien nach Amerika verknüpften Begriffsbildung absetzte. Insbesondere die St. Petersburger Elite sprach zuweilen von »Nordwestamerika«. Der Diplomat Alexander Voroncov beispielsweise sah Amerika als einen Kontinent und nicht als die östliche Küste des Nordpazifiks.21 Bezeichnenderweise wechselte die Korrespondenz mit Beamten in Sibirien, wie beispielsweise den Gouverneuren Ivan Pil’ und Ivan Jakobij, zwischen den Bezeichnungen »Nordwestamerika« und »Nordostamerika« flexibel hin und her – ab­hängig vom jeweiligen Adressaten.22 Die regionale und relative Perspektive auf den Nordpazifik stand somit konfliktlos neben einer eher globalen und objekti19 Igler, The Great Ocean. Andere Autoren betrachten Integrationsprozesse des Pazifiks mit anderen geografischen Schwerpunkten, so z. B. Hellyer, The West, the East, and the insular middle. 20 Tekst žurnala, in: Lebedev, Plavanie A. I. Čirikova, S. 134–365. 21 Zapiska prezidenta Kommerc-kollegii A. R. Voroncova, in: Divin, Russkaja tichooke­ anskaja, S. 373–375. 22 Sekretnoe nastavlenie general-poručika Jakobija poverennym Šelichova, Samojlovu i Delarivu, in: Tichmenev, Istoričeskoe obozrenie II, S. 21–23. A report from Grigorii I. Shelikhov to Ivan V. Iakobii, 19.4.1787, in: Dmytryshyn, To Siberia and Russian America II, S. 326–333. Donesenie Šelichova irkutskomu general-gubernatoru I. A. Pil’ju, 18.11.1794, in: Andreev, Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v XVIII veke, S. 362–363.

Amerika im 18. Jahrhundert

ven Geografie, und diese terminologische Flexibilität kann als ein weiterer Hinweis gelten auf die sich im Fluss befindlichen, (noch) nicht standardisierten Raumvorstellungen. Eine besondere Quellengruppe, die Auskunft geben kann über die Vorstellungen vom amerikanischen und  – komplementär dazu  – asiatischen Kontinent, findet sich im Bereich der Kartografie. Seit den Bering-Expeditionen entstanden zahlreiche Karten, welche die nordpazifische Region ins Zentrum der Darstellung rückten und den Pazifik links und rechts symmetrisch durch die Küsten Asiens und Amerikas einrahmten. Dieser Bildausschnitt und seine verschiedenen Darstellungsformen erlauben Rückschlüsse über die Bedeutung, die Kontinenten beigemessen wurde. Diese Bedeutung der Kontinente war hier zunächst nicht besonders groß. Dies ist bereits an der Tatsache erkennbar, dass diese Perspektive das Meer als Einheit präsentiert und von den Kontinenten nur Ränder zeigt – anders als die in Westeuropa seit dem 16. Jahrhundert üblichen Weltkarten, welche Amerika im Westen, Asien dagegen im Osten platzieren und damit den Pazifik gewissermaßen in der Mitte zerteilen. Dennoch müssen die kartografischen Entwürfe zum Nordpazifik genauer betrachtet werden, denn sie weisen zwei Hauptvarianten auf, welche auf unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in der Raumwahrnehmung schließen lassen: eine eher das Festland und damit den amerikanischen Kontinent betonende Darstellungsform und eine stärker die Inseln ins Zentrum rückende Konzeption. Zur ersten Variante gehören Karten der 1740er bis 1760er Jahre, darunter vor allem die auf der Basis von Thomas Jefferys Entwürfen hergestellten britischen und französischen Werke, frühe Arbeiten Gerhard Friedrich­ Müllers sowie die Adaptionen Joseph Nicholas Delisles. Sie zeigen eine weit nach Westen gezogene Küstenlinie Alaskas.23 Wie Alexej Postnikov argumentiert, gehen diese Entwürfe zurück auf die Karte Sven Waxells und Sofron Chitrovos, die den amerikanischen Kontinent ebenfalls in einer langen, nach Westen gerichteten Küstenlinie auslaufen lässt.24 Darüber hinaus beziehen die Karten französischer und bri23 z. B. Bowles, Bowles’s New Pocket map of the Discoveries made by the Russians. Nouvelle Carte des Decouvertes faites par des Vaisseaux Russes. Bildteil, Abb. 7. 24 Postnikov, The Mapping, S. 9. Karte des sichtbaren amerikanischen Festlands und der unter dem Kommando des gewesenen Herrn Kapitänkommandeurs Bering neuentdeckten Inseln nach dem Journal des Leutnants Waxell aus den Jahren 1741 und 1742 (1744), in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 19. 

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tischen Provenienz sich ausdrücklich nicht nur auf die Discoveries of the Russians, sondern auch auf indigene Informationen (die enorme amerikanische Landzunge war »indiqué par les Kamchadales«) sowie auf die découvertes de l’Amiral de Fonte, Vermutungen des Admiral de Fonte.25 Design und Nomenklatur der Karten verweisen jedoch auch auf die Tradition der Annahme einer Straße von Anian als Teil des Nordostpassagen-Mythos.26 Entsprechend sind die Ozeane in dieser Darstellungsform durch eine zugegebenermaßen schmale, aber doch ganz offensichtlich befahrbare Seestraße miteinander verbunden. In dieser für das späte 18.  Jahrhundert typischen Adaption des Konzeptes eines zusammenhängenden Weltmeeres27 werden die vertikalen Verbindungslinien betont. Die Kontinente sind für diese Kartenvariante relativ wichtig, und häufig finden sich die Aufschriften l’Asie und l’Amérique septentrionale. Manuelle Kolorierungen – deren Ursprung und Entstehungsdatum allerdings naturgemäß nicht bestimmt werden können – betonen in einigen Fällen noch die Unterscheidung der Kontinente. Neben diesem das Festland hervorhebenden Konzept steht eine zweite Tradition der Nordpazifikkartografie, die sich seit den 1770er Jahren zunehmend durchsetzte: hier wurden statt der Küstenlinie zahlreiche Inseln zwischen die Küsten Asiens und Amerikas gesetzt.28 Postnikov zufolge ist diese Tradition begründet in der so genannten Čirikov-Elagin-Karte, die ebenso wie die Waxell-Karte zu den Resultaten der Bering-Expeditionen zählt. Die sich auf Inseln konzentrierende Darstellungsform zeichnete keine Meeresstraße mit einer vertikalen Dynamik, sondern vielmehr ein hauptsächlich von horizontalen Linien bestimmtes nordpazifisches Becken: die russländische Nische. Diese war nach Süden abgegrenzt durch die Inselgruppe der Aleuten.29 Die Abgrenzungsfunktion der Aleutenkette wurde noch betont durch eine zuweilen überdimensionierte Größe der Inseln sowie eine – heutigem Wissen widersprechende – Kontinuität und gleichmäßige Verteilung der einzelnen Inseln. Die Aleuten wurden oft als durchgehende, 25 Jefferys, Carte Generale Des Decouvertes de L’Amiral de Fonte (1772). Vaugondy, Carte générale des découvertes de l’Amiral de Fonte (1768). 26 z. B. Jefferys, The Russian Discoveries. 27 Dazu Lewis, Dividing the Ocean Sea. Siehe auch O’Gorman, The Invention of America, S. 132. 28 Pallas, Carte der Entdekvngen zwischen Sibirien und America bis auf das Jahr 1780 (1780–1785). Bildteil, Abb. 8. 29 Auch Textquellen geben diese Wahrnehmung wider, z. B. Raport irkutskogo generalgubernatora I. A. Pilja, 13. 2. 1790, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i­ severnoj Amerike v XVIII veke, S. 295–304.

Amerika im 18. Jahrhundert

tatsächlich von der asiatischen Küste bis zum amerikanischen Kontinent verlaufende Kette gezeichnet,30 und diese Inselkette begann nach damaliger Nomenklatur bereits mit Kamčatka und nicht, wie heute gängig, mit Attu und Agattu.31 Schließlich vermittelten auch die eingezeichneten Reise­ routen optisch den Eindruck einer engen Verbindung der beiden Kontinente und zugleich einer Abgrenzung des Nordpazifiks vom »Stillen Ozean«. Im Süden durch die besonders betonten Aleuten abgegrenzt, wurde das nordpazifische Becken im Norden limitiert durch die fast aneinander stoßen den Ausläufer des Čukotskoj nos auf der asiatischen Seite und des Ameri­ kanskoj nos gegenüber.32 Zuweilen ist nördlich der schmalen Beringstraße zusätzlich Packeis eingezeichnet, das optisch eine weitere Barriere schafft.33 Hier ist es die spezifische nordpazifische Region, die sowohl vom Arktischen Ozean als auch vom Pazifik abgegrenzt wird und so eine Einheit bildet. Die Kontinente dagegen spielen hier eine geringere Rolle; die Landmassen sind eher fragmentiert als kompakt. Und auch die Nomenklatur verweist in diese Richtung: »Teil Nordamerikas« (Čast’ Severnoj Ameriki) beziehungsweise »Teil Ostsibiriens« (Čast’ Vostočnoj Sibirii)34 oder auch »Teil Asiens« (Čast’ Azii)35 lauten die eher zurückhaltend gestalteten Aufschriften. Zuweilen wird vor allem der asiatische Anteil – der offenbar bereits genügend mit topografischen Informationen angefüllt schien  – gar nicht als Teil eines Kontinents gekennzeichnet.36 Die Bezeichnung der kontinentalen Zugehörigkeit ist somit weder optisch besonders prominent noch verweist sie auf die Kontinente als Ganze: Wir sehen hier nicht »Amerika«, sondern explizit nur einen Teil davon. Und diese Terminologie drückt auch genau das Interesse und die Ziele der russländischen Expansion und Expeditionen im 18.  Jahrhundert aus: ein Interesse am Nordpazifik und seinen Inseln und Küsten, nicht jedoch an neuen Kontinenten. Grigorij Šelichov formulierte 30 Pallas, Carte der Entdekvngen zwischen Sibirien und America bis auf das Jahr 1780 (1780–1785). 31 Doklad Admiraltejskoj kollegii, 1767, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 170–172. 32 Karta prinadležaščaja k Putešestviju Sotnika Kobeleva 1784, Efimov, Atlas geografi­ českich otkrytii, Abb. 174. Karta novych otkrytii v Vostočnom Okiane (1781). 33 Karta novych otkrytii v Vostočnom Okiane (1781). 34 z. B.: General’naja karta, predstavljajuščaja udobnye sposoby k umnoženiju Rossijs­koj torgovli. (1787). Wilbrecht, Karta predstavljajuščaja otkrytii Rossijskich moreplavatelej. 35 Karta putešestvii Kobeleva po Čukotskomu poluostrovu na Diomidovy ostrova i na Aljašku (1784), in: Efimov, Atlas geografičeskich otkrytii, Abb. 174. 36 Wilbrecht, Karta predstavljajuščaja otkrytii Rossijskich moreplavatelej. Wilbrecht, Obščaja Karta Rossijskoj Imperii na Sorok na dva namestničestva razdelennaja (1786).

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sehr eindeutig: »Ich weiß nichts über die Menschen, die im Binnenland leben«37 – und er erweckte an kaum einer Stelle den Eindruck, als wolle er dies ändern. »Amerika« bildete also keinen Schwerpunkt der kartografischen Darstellung, und ebenso wenig einen Schwerpunkt der Interessen. Deutlich wird dies vor allem in einer kontrastiven Quelle: Als Georg Wilhelm Steller 1741 mit dem Schiff St. Peter im Rahmen der Kamčatka-Expedition den Nordpazifik überquerte, beschrieb er in seinem Reisebericht ausführlich die Konflikte und die – aus seiner Sicht – ungerechte Behandlung, die er über sich ergehen lassen musste. Zu den klarsten Beweisen für die Bösartigkeit, vor allem aber auch Unfähigkeit der russischen Seeleute gehörte für Steller die Weigerung, einen längeren Aufenthalt auf amerikanischem Festland einzuplanen. In Stellers Perspektive hatte die Besatzung den »Endzweck der Reise nichts weniger, als erreicht«, und »bey der Rückkunft des Capitäns Behring erhielt also die neugierige Welt nichts mehr, als eine Charte und mangelhafte erzählung von dem schon bekannten Lande Kamtschatka. Nebst einigen mündlichen Aussagen der Anadyrschen Kasaken, nach welchen das Tschuktschische Vorgebürge durch ofne See würklich von Amerika abgesondert, hingegen auf 51 Grad Lopatka gegenüber eine Reihe Eylande gelegen seyn sollte, so sich gegen Japan erstreckten, und wohin sich die Kasaken schon zuvor mit einigen Feldmessern auf sehr schlechten Fahrzeugen gewagt, auch würklich dreyzehn Insuln ausgekundschaftet hatten.«38 Wenn Steller sich hier als Ausnahme präsentierte, so traf diese Einschätzung durchaus zu: sein durch die Kontinentstruktur geprägter Blick auf den Nordpazifik ebenso wie sein konzentriertes Interesse an Amerika als einer neuen Welt erscheint im russländischen Diskurs des 18. Jahrhunderts tatsächlich ungewöhnlich. Steller – so zumindest stellte er es in seinem anklagenden Bericht dar – interessierte sich nicht für Inseln, sondern ausschließlich für die »neue« Welt. Sein Weltbild war stark von einer kontinentalen Struktur bestimmt. Kamčatka und Nordwestamerika erschienen hier als komplementäre Regionen, und der Nordpazifik hatte vor allem deshalb Bedeutung, als es um die »Erforschung des Abstandes zwischen den beyden 37 Šelichov, Rossijskogo kupca Georgija Šelichova, S. 71. 38 Steller, G. W. Stellers Tagebuch seiner Seereise, S. 134 und 135.

Amerika im 18. Jahrhundert

Welttheilen« ging.39 Andere Reiseberichte und Instruktionen aber waren von der Tradition des kontinuierlichen Weitergehens gekennzeichnet sowie von der Konzeption des Nordpazifiks als russländische Nische. Aus dieser einheitlichen – und nicht dualistischen – Vorstellung der Region ergab sich keine grundlegende oder gar qualitative Unterscheidung von nordpazifischen Inseln einerseits und amerikanischer Küste andererseits. Die Reiseziele waren pragmatisch bestimmt und konzentrierten sich auf die Küsten Amerikas – die Gegend, in der sie auf reichen Profit durch den Fang von Seeottern hoffen konnten. Wenn dieser Küstenstreifen sich im Laufe der Zeit auch ausdehnen sollte, so ist für das 18. Jahrhundert und darüber hinaus keinerlei Interesse an »Amerika« zu erkennen – an einem von kontinentalem Denken und Neue-Welt-Konstruktionen bestimmten Bild. All dies gilt allerdings ausschließlich für die pazifische Perspektive. Vom Atlantik aus gesehen erschien Amerika durchaus in einem ganz anderen Licht  – auch für Russland. Die Erforschung und Eroberung des amerikanischen Nordwestens hatte mit den Erfahrungen, welche russische Schriftsteller, Politiker und Unternehmer seit dem späteren 18. Jahrhundert in Philadelphia, Boston und Washington machten, nichts zu tun. Autoren wie Aleksandr Radiščev, Fedor Karžavin oder Pavel Svin’in schrieben – kritisch, bewundernd oder irgendwo dazwischen – von Fortschritt, Zivilisation und Demokratie40 und nahmen damit teil  an der Bildung einer »atlantischen Welt«.41 Das Amerika aber, das die Reisenden auf dem Weg über den Pazifik antrafen, wurde in keinerlei Verbindung gebracht zum »anderen« Amerika: dem im Osten des Landes, das über den Atlantik erreicht wurde. Für das 18. Jahrhundert und noch bis ins 19. Jahrhundert hinein müssen auf die Frage nach russländischen Amerikabildern also zwei unterschiedliche Antworten gegeben werden: trotz geografischen Wissens gab es auf den mental maps, wie sie in den Quellen erscheinen, keine Vorstellung von einem einheitlichen amerikanischen Kontinent. Die Vielschichtigkeit der Amerikabilder wird unter anderem deutlich in der komplexen Nutzung des Wortes amerikancy: Damit waren, wenn es um den Osten des Kontinents ging, die europäischstämmigen Bewohner der britischen Kolonien bzw., später, der Vereinigten Staaten von Amerika ge39 Steller, G. W. Stellers Tagebuch seiner Seereise, S. 129–236, 140. 40 Svin’in, Amerikanskie dnevniki i pis’ma. Laserson, Alexander Radishchev. DvoichenkoMarkov, A Russian traveler. Lakier, Putešestvie. 41 Schnurmann, Europa trifft Amerika.

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meint.42 Der gleiche Begriff wurde aber auch für die Westküste benutzt und meinte dort etwas ganz anderes, nämlich indigene »Wilde«. Darüber hinaus bezeichnete der Terminus beispielsweise bei Natal’ja Šelichova auch die indigene Bevölkerung um Irkutsk.43 So standen also mentale Karten von einem über den Atlantik zu erreichenden amerikanischen Kontinent neben dem Bild von einem russländischen nordpazifischen Raum, innerhalb dessen Menschen westlich wie östlich der Beringstraße gleichermaßen als amerikancy bezeichnet werden konnten. Diese Doppelung Amerikas erscheint nur plausibel angesichts der völlig unterschiedlichen Motive, welche die Reisenden an ihr jeweiliges Ziel führten und der gegensätzlichen Bedingungen, welche sie vorfanden. Pelzhandel, naturhistorische Forschungen und imperiale Ambitionen auf der einen Seite, Geschäftskontakte, kulturelles Interesse und Neugier auf die Ge­ gebenheiten in der »Neuen Welt« auf der anderen: es verwundert nicht, dass die aus diesen Reisen entstandenen Narrative sich so vollständig voneinander unterscheiden. Dennoch fällt aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts auf, dass diese Unterscheidung selbst, der Gegensatz zwischen den beiden Amerikas, für lange Zeit in keiner Weise thematisiert wurde, sondern vollkommen selbstverständlich blieb.

5.3 Amerika im 19. Jahrhundert: Die Entstehung eines Kontinents So plausibel die Doppelung Amerikas aus der Situation des 18. Jahrhunderts auch erscheint – seit dem Ende des Zentenniums änderte sich die Wahrnehmung zusehends, und es ist zu beobachten, wie sich in der russischen Perspektive langsam aus zwei Amerikas ein Kontinent formte. Internationale Konflikte wie der Siebenjährige Krieg44 und später der Krimkrieg waren hier von Bedeutung, denn die Situation Russisch Amerikas gestaltete sich angesichts der globalen Antagonismen mehr und mehr als Teil internationaler Verflechtungen. Mit der Entstehung der USA betrat zudem ein weiterer 42 Zapiska G. I. Šelichova o privilegijach ego kompanii, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 223–226. Raport A. I. Čirikova v Admiraltejstv-kollegiju o plavanii k beregam Ameriki, 7. 12. 1741, in: Naročnickij, Russkie ekspedicii, S. 222–231. Merck, Das sibirisch-amerikanische Tagebuch. 43 Natalia Shelikhova to Grigorii I. Shelikhov, Sent from Irkutsk on July 20th, 1789, in: Dawn, Natalia Shelikhova, S. 13–15, 14.  44 Black, Natalia Shelikhova, S. xix.

Amerika im 19. Jahrhundert

Akteur diese internationale Bühne, und Washington entwickelte sich zunehmend zu einem für Russisch Amerika bedeutsamen Faktor. Dies galt für die wirtschaftliche und politische Dimension, aber auch für die Komponente der Raumwahrnehmung; bis in die 1770er Jahre hinein war der Pazifik für viele Bewohner der Ostküsten Amerikas »so remote as to be little thought of«, und erst mit der Republik begann man sich langsam für den »anderen« Ozean als Bewegungs-, Macht- und Handelsraum zu begeistern.45 Die russländische pazifische Welt geriet in Kontakt mit und in Konkurrenz zu den Interessen des atlantischen Amerikas. Und ebenso wie sich aus einer atlantischen Welt von Inseln und Küsten nach und nach die Vorstellung von einem distinkten amerikanischen Kontinent herausgebildet hatte,46 kann auch – zumindest gilt dies für die russländischen Quellen – ein Wandel von einer pazifischen Welt hin zu einer an Kontinenten orientierten Raumwahrnehmung beschrieben werden. Im Laufe der Zeit rückten die Gebiete an der Nordwestküste und die Vereinigten Staaten von Amerika in der russländischen Wahrnehmung zusammen und wurden als Einheit verstanden, die man unter dem Konzept des »Kontinents« fasste. Diese wachsende Nähe hing mit politischen und diplomatischen Entwicklungen zusammen. Von Bedeutung waren hier unter anderem die 1807 aufgenommenen diplomatischen Beziehungen und das Engagement Andrej Daškovs nicht nur als Honorarkonsul, sondern auch als Vertreter der Russisch-Amerikanischen Kompanie.47 Zu erkennen ist dieser Wandel aber vor allem an der sich verändernden Sprache der Quellen. Beispielsweise wurde in den russischen Quellen des frühen 19.  Jahrhunderts der Begriff amerikancy nicht mehr einfach in zwei Versionen benutzt: Die Konzepte kollidierten vielmehr, und fortan gab es »Bostoner« oder »amerikanische Bürger« (bostoncy, amerikanskie respublikancy) auf der einen Seite und »amerikanische Wilde« (amerikanskie dikie) auf der anderen.48 In 45 Perry, Facing west, S. 26. Burnett, Hydrographic Discipline, S. 189. Gulliver, Finding the Pacific World, S. 92. 46 Gillis, Islands of the Mind, S. 83. 47 Diese Verbindung zwischen Philadelphia und Novo-Archangel’sk bestand allerdings nur aus russländischer Perspektive: Die USA zeigten an Daškovs Argumenten bezüglich der so weit entfernten Kolonie kein besonderes Interesse. Ronda, Astor and Baranov. Partners in Empire, S. 69. 48 Iz donesenija N. P. Rezanova N. P. Rumjantsevu (1806), in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 287–292. Instrukcija A. A. Baranova svoemu pomoščniku I. A. Kuskovu, Novoarchangel’sk, 14 (26) oktjabrja 1808g., in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 344–347. Zapiska direktorov Glavnogo pravlenija Rossijsko-Amerikanskoj kompanii M. M. Buldakova i

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einem nächsten, die Entwicklung recht präzise illustrierenden Schritt dann meinte amerikancy wie selbstverständlich die Bürger der USA – die indigene Bevölkerung des Nordwestens entwickelte sich in dieser Wahrnehmung zu »anderen« Amerikanern, bei denen das Adjektiv »wild« entscheidend, bald sogar hinreichend wurde.49 Auch die »Neue-Welt-Rhetorik« wurde ausgeweitet und umfasste nun die Vereinigten Staaten und den gesamten nordamerikanischen Kontinent, Russisch Amerika inklusive. Staatliche Einheit und Kontinent wurden in wachsendem Maße synonym als »Amerika« bezeichnet. Im Jahr 1842 erklärte Lavrentij Zagoskin, »nach Amerika« gehen zu wollen (Mne chot’ v Ameriku) bevor er sich auf den Weg machte, über Sibirien und den Nordpazifik die russländischen Kolonien zu erreichen.50 1857 fuhr Aleksandr Lakier über den Atlantik nach Boston: Er sah sein Ziel ebenso in »Amerika«, keineswegs in den USA .51 Ebenso ist dieses neue kontinentale Denken in geografischen Darstellungen nachzuvollziehen: »Amerika« wurde als einheitlicher Container gedacht, in dem die Kolonien sich befanden.52 Auf Landkarten war nun nicht mehr die Rede von einem »Teil Nordamerikas« (čast’ severnoj ameriki),53 sondern schlicht und einfach von amerika.54 Die zuvor übliche Fragmentierung der Landmasse spielte nun keine Rolle mehr, und der vergleichsweise winzige Nordwesten repräsentierte zumindest kartografisch den gesamten Kontinent. V. V. Kramera, 21.  Aprelija (3 Maja)  1808, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii,­ Serija 1, 1801–1815 gg. Tom 4, S. 241–243. Donesenie G. I. Šelichova irkutskomu general-gubernatori I. A. Pil’ju, in Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 289–95. Secret instructions to Baranov, in Dmytryshyn, To Siberia and Russian America III, S. 27–32. 49 Zapiska direktorov Glavnogo pravlenija Rossijsko-Amerikanskoj kompanii M. M. Buldakova i V. V. Kramera, 21. Aprelija (3 Maja) 1808, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 1, Tom 4, S. 241–243. Golovin, Obzor russkich kolonii v Amerike, S. 9. 50 Zagoskin, Zametki žitelja togo sveta, S. 325. 51 Lakier, Putešestvie. 52 Ostrova, nachodjaščiesja v russkich vladenijach v Amerike: Golovin, Obzor russkich kolonii v Amerike, S. 10. 53 z. B.: General’naja karta, predstavljajuščaja udobnye sposoby k umnoženiju Rossijskoj torgovli. (1787). Wilbrecht, Karta predstavljajuščaja otkrytii Rossijskich moreplavatelej (1787) und auch noch auf einer Karte von 1825: General’naja karta Aziatskoj Rossii (1825). 54 z. B. Karta Ledovitago okeana sowie Tichmenev, Karta Rossijskich vladenii na beregach vostočnago okeana (1861). »Severnaja Amerika« heißt es in: Atlas Rossijskoj Imperii von 1824.

Amerika im 19. Jahrhundert

Ein solcher Wandel der kontinentalen Topografien war kein russländischer Alleingang, sondern hing eng zusammen mit europäischen Wahrnehmungen und dem Selbstbild sowie der Politik der USA . Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde der Terminus »Amerika« zunehmend synonym mit »Vereinigte Staaten« benutzt.55 Diese Begrifflichkeit passte durchaus zu den politischen Plänen Washingtons, wie sie sich seit den 1820ern unter dem Schlagwort Manifest Destiny entwickelten: Zentral wurde hier die das Schicksal heraufbeschwörende Vision einer ruhmvollen Zukunft der USA, die sich über den gesamten nordamerikanischen Kontinent erstrecken sollten. Die Fragen von Besitzansprüchen, Meereswahrnehmung bzw. Territorialität und Kontinentalkonzepten fließen hier zusammen. Die Vorstellung von einem »amerikanischen Amerika« und die daraus entwickelten Argumente spielten bereits in den Debatten um die russländischen Ansprüche von 1821 eine wichtige Rolle und wurden vor allem seit den 1840er Jahren zunehmend von russischer Seite übernommen. In den Debatten um die Grenz­ziehung sahen die amerikanischen Vertreter zwei Kontinente, getrennt durch eine Wasserfläche, während die russländische Wahrnehmung ursprünglich von einer einheitlichen Region von Wasser und Küste ausgegangen war, in der die Inselkette der Aleuten eine entscheidende, verbindende, Funktion erfüllte. Von dieser am nordpazifischen Becken orientierten Raumwahrnehmung gingen nun auch viele russländische Akteure zu einer Metageografie der Kontinente über. Oleh Gerus zufolge war es vor allem der russische Botschafter Baron von Stoeckl, der, in blinder Bewunderung für die USA, mit großem Respekt vor deren Leistungen und imperialer Expansion sowie in einer Art vorauseilenden Gehorsams die Idee des Manifest Destiny als Leitmotiv und zu erwartende Realität akzeptierte.56 In den 1850er Jahren formulierten vor allem auch Nikolaj Murav’ev und Großfürst Konstantin die These, der Ehrgeiz der USA sei nicht nur auf den gesamten Kontinent ausgerichtet, sondern werde sein Ziel mit großer Sicherheit auch erreichen.57 55 Boden, Das Amerikabild, S. 79. 56 Gerus, The Russian Withdrawal, S. 163 f. 57 Pis’mo velikogo knjazja Konstantina Nikolaeviča, in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 314. Eine Variante des Arguments findet sich in Stoeckls Bedenken, Mormonen könnten in Scharen nach Russisch Amerika einwandern wollen: Iz delja Azjatskogo departamenta: Stellungnahme Baron von Stoeckel. Annex No. 5, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2. State Departments Records (http://www. fold3. com/image/60231304/) (2. 5. 2014).

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Die Tatsache, dass Russisch Amerika  – anders als Louisiana, Kalifornien und Oregon  – nicht an die USA grenzte, spielte in dieser Argumentation keine Rolle. Auf amerikanischer Seite sind noch weitere Unstimmigkeiten in dieser Hinsicht festzustellen, so die Ambitionen William Henry Sewards, den USA nicht nur Alaska, sondern auch Hawai’i, Haiti und weitere Inselgruppen einzugliedern. Auch dies passte nicht ganz in die kontinentale Argumentation. Doch ungeachtet der aktuellen geografischen Gegebenheiten sprach Großfürst Konstantin ausdrücklich davon, die USA würden zweifellos ihre Territorien »abrunden« (k okrugleniju svoich vladenii).58 Wenn die Kolonien zunehmend nicht mehr als Gebiet einer von Russland beherrschten Region, einer geografisch konzipierten Nische im Nordpazifik erschienen, sondern als Teil  Amerikas, so weist dies auf nicht weniger als eine neue Weltwahrnehmung hin: Die geografische Zuordnung hatte sich verschoben, die Bedeutung der Kategorie »Kontinent« wuchs, und die politische Zugehörigkeiten zu Imperien oder Nationen war nicht mehr allein entscheidend. Vielmehr wuchs die Bedeutung der geografischen Kategorie »Kontinent«, die potentiell quer stand zu den kolonialen Machtverhältnissen. Solche neuen Ordnungskonzepte konnten sich auf europäische Diskurse und die Autorität der Wissenschaften berufen: Ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Geografen, sich intensiv mit den Konturen Europas auseinanderzusetzen. Einen bekannten Höhepunkt fand diese Strukturierung der Erde mit Carl Ritters berühmter Formulierung, »jeder große Erdtheil [habe] bei der Erschaffung unseres Planeten […] seinen eigenthümlichen Typus in seiner plastischen Gestaltung erhalten« sowie »seine ihm eigene Function für Entwickelung von Natur- und Menschenwelt«.59 Die europäischen wissenschaftlichen Diskurse entwickelten sogar eine auf die »zivilisierten« Kontinente bezogene Arbeitsteilung mit der Verpflichtung auf lokale Standorte: Amerika wurde von den USA erforscht und erobert, Asien von Russland und Europa von deutschen, britischen und französischen Wissenschaftlern.60 Diese Zeit kann auch für die USA als Phase gelten, in der »continent-based thinking reached its apogee«,61 und ebenso wird am 58 Pis’mo velikogo knjazja Konstantina Nikolaeviča, in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 314. Ähnlich: Zapiska velikogo knjazja Konstantina Nikolaeviča, in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 320 f. 59 Ritter, Allgemeine Erdkunde, S. 198. Siehe auch Schröder, Das Wissen, S. 241–243. 60 Schröder, Das Wissen, S. 64 f. und 236 f. 61 Lewis, The Myth of Continents, S. 30.

Asien als Kontrast

Beispiel von Russland und dem Verhältnis zu seinen Kolonien in Amerika anschaulich, wie sich ein solches elementares geografisches Konzept durchsetzen und andere Einheiten hinter sich lassen kann. Diese Erfolgsgeschichte nährte sich vor allem aus der scheinbaren Objektivität der neu imaginierten Weltordnung. Raumwahrnehmung und politische Voraussagen hatten mit der Kategorie des Kontinents einen Bezug auf »die Natur« erhalten, wie er in anderen Konzeptionen nicht in dieser Intensität zu finden ist. Denn trotz aller historischen und kulturellen Variabilität wohnt dem kontinentalen Prinzip doch ein Überzeugungspotential inne, das von der Sicherheit des »Natürlichen« und gleichsam Offensichtlichen profitiert. Einmal etabliert, wirkte das Konzept der von Wasser umgebenen geschlossenen Landmasse so einleuchtend, dass eine andere Ordnung kaum denkbar schien. Entsprechend bezeichnete Ivan Šestakov die Idee des Manifest Destiny als ein »natürliches Bestreben« (estestvennoe stremlenie),62 und Murav’ev zufolge war »die Herrschaft der Vereinigten Staaten in Nordamerika so natürlich« (tak natural’no), dass die Einnahme Kaliforniens im Jahre 1846 absehbar gewesen und für Russisch Amerika eine ähnliche Zukunft voraussagbar war.63 Und die Grenze zwischen Russland und Amerika (bzw. zwischen dem asiatischen und dem nordamerikanischen Kontinent) erschien mit der Beringstraße ebenfalls natürlich und vollkommen eindeutig.64

5.4 Asien als Kontrast Komplementär zur Vorstellung von »Amerika« als Kontinent mit letztlich nationalstaatlichen und imperialen Eigenschaften entwickelten sich in russländischen Diskursen neue Konzeptionen von »Asien« als abgeschlossene Einheit. So wie es »natürlich« und »unausweichlich« erschien, dass die USA

62 Strast’k priklučenijam: A memorandum, unsigned, 7. 2. 1860, Annex No. 9, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, http://www. fold3. com/image/60231427/ (20. 9. 2014) 63 Barsukov, Graf Nikolaj Nikolaevič Murav’ev-Amurskij I, S. 322 f. (Herv. d. Verf.) 64 Golovin, Sekretnaja čast’doklada. Der genaue Grenzverlauf wurde dann vorgeschlagen in: Letter and enclosure. Annex No. 16, Krabbe to Gorčakov, 24. Dezember 1866, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, State Departments Records http://www. fold3. com/image/60231762/ (6. 3. 2014).

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sich über den ganzen nordamerikanischen Kontinent ausbreiteten, wurde es zu einem sich ebenso auf die Logik der Natur stützenden Argument, Russland solle sich auf Asien konzentrieren.65 Leopold von Schrenck beispielsweise warb 1859 für die weitere Erforschung des Amur: Man sei bisher an politische Grenzen gestoßen – von diesen aber dürfe man sich nicht abschrecken lassen. Erst natürliche Grenzen würden hier einen Abschluss des Vorgehens bilden.66 Und so wie Amerika und USA zunehmend zu Synonymen wurden, wurde auch Russland als otečestvo begriffen, das in seiner Ausdehnung und Identität einen eigenen Weltteil (čast’ sveta) ausmachte.67 Russlands neues Interesse an Sibirien, dem Amur, aber auch Zentralasien war deutlich geprägt von einer Abgrenzung gegenüber Europa. Diese Entwicklung, die in den 1730er Jahren mit dem Werk Philipp Johann Strahlenbergs begonnen hatte68 und 1881 in Dostojevskijs Plädoyer für Asien als Zukunft Russlands kulminierte,69 ist in der Forschung ausführlich dargestellt worden.70 Weniger Beachtung geschenkt hat man dagegen bisher dem – aus europäischer Sicht tatsächlich weniger relevanten – Prozess der Abgrenzung Russlands und Asiens gegenüber Amerika. Interessanterweise war diese Abgrenzung deutlich weniger konflikt­ beladen als im gegen den Westen gewandten Vergleichsfall. Die Alternative »Europa oder Asien« war von Enttäuschung, harscher Kritik, militärischen Auseinandersetzungen und radikalen Historiografien bestimmt. All dies spielte zusammen in einem neuen Messianismus, der zu einer starken, zuweilen fast trotzig anmutenden Konzentration auf Asien führte.71 Die Abgrenzung von Amerika dagegen war von steten Freundschaftsbekundungen und paradoxerweise wachsender Kooperation begleitet.72 Zwar gab es heftig geführte Konflikte um Fischerei- und Besitzrechte im frühen 19. Jahrhundert und insbesondere nach 1821, und das Interesse am Amurgebiet war durchaus von der Vorstellung flankiert, man wolle Asien 65 Zapiska velikogo knjazja Konstantina Nikolaeviča, in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 320 f. 66 Schrenck, Reisen und Forschungen I, S. i. 67 Reč F. P. Litke v Obščem Sobranii Obščestva, 7. Oktjabrja 1845g. 68 Strahlenberg, Das Nord- und Ostliche Theil von Europa und Asia. 69 Dostoevskij, Geok-Tepe. Čto takoe dlja nas Azija? 70 Bassin, Russia between Europe and Asia. Ders., Geographies of imperial identity. Korhonen, On the Metageography of Euro-Asia. 71 Bassin, The Russian Geographical Society, S. 241. 72 Dazu Sučugova, Diplomatičeskaja missija. Hagemeister, Letter to Mr. Kuskov 28. 1.  1818, in: Pierce, The Russian-American Company, S. 10–12.

Asien als Kontrast

gegen Konkurrenz von außen – und damit auch aus den USA – »abriegeln.«73 Dennoch enthalten die Quellen zahlreiche Beteuerungen einer wachsenden strategischen, ideologischen und zuweilen auch emotionalen Nähe zwischen den USA und Russland. Und tatsächlich ging die kontinentale Abgrenzung in mancher Hinsicht mit einer politischen Annäherung einher. Strategische Verbundenheit zeigte sich vor allem im Kontext zweier großer Kriege: Während des Krimkrieges waren die USA offiziell neutral, entwickelten sich de facto aber mehr und mehr zu Unterstützern Russlands.74 Umgekehrt erhielt Russland im Gegensatz zu anderen europäischen Mächten während des amerikanischen Bürgerkrieges die diplomatischen Beziehungen zur Union aufrecht.75 Diese Beziehungen beschränkten sich keineswegs auf den atlantischen Raum, sondern bezogen den Pazifik bzw. das Gebiet Russisch Amerikas oft mit ein. Während des amerikanischen Bürgerkrieges schickte Russland Schiffe nicht nur nach New York, sondern auch in den Hafen von San Francisco.76 Politik und kognitive Landkarten erzeugten gemeinsam die Vorstellung von zwei machtvollen Akteuren, die sich in einer von Symmetrie bestimmten Situation befanden. 1857 prophezeite Aleksandr Lakier den Beziehungen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten über den Pazifik hinweg eine große Zukunft.77 Alexander Middendorf schrieb ganz ähnlich: »Amerikaner und Russen überblicken von ihren gastlichen Küsten aus den Ozean, wie Nachbarn.«78 Als 1866 eine Abordnung aus den USA die russische Hauptstadt besuchte, wurde ein Dankesgedicht verfasst: »Though watery deserts hold apart The worlds of East and West Still beats the selfsame human heart In each proud nation’s breast.«79

73 Murav’ev, Načal’niku Glavnago Morskogo Štaba Ego Imperatorskago Veličestva, gospo­dinu general’-adjutantu Menšikovu, Raport (1850), in: Barsukov, Graf Nikolaj­ Nikolaevič Murav’ev-Amurskij II, S. 48–54. 74 Dvoichenko-Markov, Americans in the Crimean War. 75 Adamov, Russia and the United States. Jensen, The Alaska purchase and RussianAmerican relations, S. 24 f. 76 Kroll, Friends in Peace and War. 77 Lakier, Putešestvie, S. 6. 78 Middendorf, Putešestvie na sever i vostok Sibirii I, S. 188. 79 Holmes, America to Russia.

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Gemeinsam, wenn auch von verschiedenen Kontinenten aus, kämpften Russland und die USA gegen die Naturkraft der Meere: »In vain the gales of ocean sweep,/In vain the billows roar«. Russland und die USA verschmolzen jeweils mit Asien und Nordamerika und standen einander gegenüber, getrennt durch den riesenhaften Pazifik. Hier wird deutlich, wie unmittelbar die scheinbar »natürliche« Abgrenzung der Kontinente mit den Prozessen von Territorialisierung einerseits und Marginalisierung von Meeren andererseits zusammenhing. Genau dies ist für Russland im 19. Jahrhundert mit Blick auf den nordpazifischen Raum zu beobachten: Die Region wurde nicht mehr als vorrangig maritim bestimmt wahrgenommen, und der Pazifik bildete nicht mehr die Verbindung zwischen Russland und seinen Kolonien. Vielmehr wurde der Ozean zu einer Grenze – natürlich, riesenhaft und damit kaum zu überwinden. Er trennte nun zwei Kontinente voneinander: Asien und Amerika. Diese Primordialisierung der Geografie, die Etablierung der kontinentalen Struktur, veränderte die Bedingungen für die Wahrnehmung und vor allem Legitimierung der russländischen Kolonien im nordpazifischen Raum grundlegend. Langfristig sollte die Eindeutigkeit und Homogenität des »amerikanischen« Kontinents zu einem wichtigen Aspekt für die Geschichte  – bzw. das Ende der Geschichte und damit den Verkauf  – dieser Kolonien werden.

6. Nah und Fern: Das Problem der Distanzen

6.1 Einleitung: Distanz als geografische oder historische Kategorie? Weite, Raum oder auch Distanz gelten traditionell als grundlegende Faktoren und entscheidende Probleme der russländischen Geschichte. Und zu den Merkmalen, die besonders Russisch Amerika in den Augen vieler Autoren zu einem etwas merkwürdigen Untersuchungsgegenstand machen, gehört auch die »abgelegene« geografische Position: Russisch Amerika ist, kurz gesagt, sehr weit weg. Aus solchen etwas angestaubten geohistorischen Klischees wurden im Zuge von Raumforschung, Kolonialgeschichte, new mobilities studies und natürlich Globalgeschichte neu bewertete historische Kategorien. Raum, Zeit und Beschleunigung sind Schlüsselbegriffe der aktuellen Meistererzählungen von Geschichts- und Sozialwissenschaften. Das neue Interesse an Mobilität wirft alte Paradigmen erfolgreich um, wenn es gegen die angenommene Normalität von Sesshaftigkeit und Stabilität argumentiert.1 Gern wird hier aber auch ein neues Grundmuster historischer Entwicklung etabliert, das vereinfacht auf den Punkt gebracht lautet: alles wird immer mobiler, alles wird immer schneller.2 Dieses Narrativ von der wachsenden Beschleunigung, der immer einfacher werdenden Überwindung von Distanzen, möglicherweise gar eines Endes vom Raum ist ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht überzeugend. Historisch passt es sich nahtlos in das Modernisierungsparadigma ein und spiegelt sich in zahllosen Quellen, die von einer wachsenden Geschwindigkeit des Lebens und insbesondere des Reisens berichten. Aktuell entspricht es dem Lebensgefühl einer Wissenschaftlergeneration, die ohne das Internet aufgewachsen ist und sich noch an kurze und teure Telefongespräche aus Übersee erinnern kann, heute aber alltäglich mit Kollegen auf anderen Kontinenten kommuniziert. Es ist kaum verwunderlich, dass die Kosellecksche »Sattelzeit« als Phase einer sehr 1 Sheller, The new mobilities paradigm. Cresswell, Towards a Politics. Schiller, Regimes of Mobility. 2 Kritik an diesem Paradigma kommt – wenig überraschend – vor allem von Forschern, die sich auf die Vormoderne konzentrieren, wie z. B. Schmitz, Mobilität des Menschen, S. 3.

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bewussten Beschleunigung der Entwicklung gerade heute besonderes Interesse erfährt. Diese Generation hat einen fundamentalen Wandel hautnah erlebt, besinnt sich ab und zu darauf, welche ungeheure Beschleunigung hier vor sich gegangen ist – und schreibt Bücher darüber, in aktueller oder historischer Perspektive. Zahlreiche Buchtitel und prägnante Schlagworte aus unterschiedlichen Disziplinen und mit variierendem Grad von Wissenschaftlichkeit zeugen von diesem Interesse: da ist die Rede von der »Überwindung der Distanz«, vom »Tempo-Virus«, der »Modernisierung durch Beschleunigung« oder gar der »Vernichtung«, dem »Ende« oder dem »Tod« der Distanz.3 In diesem Kapitel sollen die Thesen dieser Forschungen keinesfalls grundsätzlich problematisiert werden. Eine solche Notwendigkeit besteht nicht, sind doch allzu lineare und fortschrittsorientierte Vorstellungen von einer ständig zunehmenden Beschleunigung längst durch differenzierende Beschreibungen ersetzt worden. Die Geschichte der Beschleunigung kann nicht als regelmäßiges, permanentes Fortschreiten gesehen werden. Vielmehr werden scharfe Zäsuren oder Wendepunkte bestimmt, welche die Beschleunigung vorantreiben.4 Technische Fortschritte wie die Etablierung der Eisenbahn, die erfolgreiche Verlegung eines transatlantischen Telegrafenkabels und der Bau des Panama-Kanals können als solche Einschnitte gelten. Doch fällt bei der Sichtung der Literatur ein Problem auf, das weniger in die technikgeschichtliche Richtung als vielmehr auf eine wahrnehmungshistorische Perspektive verweist: Wenn stets die Rede ist von der Über­ windung der Distanz, dann fehlt die Problematisierung der Distanz als solche, die Untersuchung der unterschiedlichen Arten ihrer Wahrnehmung, Messung und Beschreibung. In den meisten historiografischen Werken wird Distanz nicht definiert, und nur selten wird dem Begriff eine Bedeutung zugebilligt, die auch nur eine Aufnahme ins Schlagwortregister rechtfertigen würde. Michael Geyer und Charles Bright erweisen sich als repräsentativ für diese Beobachtung, wenn sie, gewissermaßen im Vorübergehen, eine Definition einstreuen und space mit distance gleichsetzen.5 Im Distanzbegriff, wie er von Historikern traditionell verwandt wird, sammeln sich außerdem viele essentialisierende und objektivierende Vor3 Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Borscheid, Das Tempo-Virus. Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung. Cairncross, The death of distance. Speich, Rechts und Links der Eisenbahn. 4 Gatrell, Distance and space, S. 49 f. 5 »distance, hence space«: Geyer u. Bright, World history, S. 1045.

Einleitung: Distanz als geografische oder historische Kategorie?

stellungen vom Raum. Distanz gerät dann zur geohistorischen Prämisse, die bestimmte Regionen der Welt stärker zu prägen scheint als andere. Russland gehört eindeutig dazu,6 aber auch Nordamerika oder Australien, dessen Geschichte Geoffrey Blainey bezeichnenderweise unter dem Titel The tyranny of distance schrieb.7 Dieses offenbare theoretische Desinteresse kann nur verwundern. Schließlich gilt die Konstruiertheit von Zeit und Raum längst als ausgemachte Sache und wird in ungezählten wissenschaftlichen Texten betont. Ganze Fluten von Aufsätzen ergießen sich über den am spatial turn interessierten Leser und definieren, dekonstruieren, historisieren und kategorisieren »Raum«. Doch Distanz als spezielle, relationale, ebenso lebensweltliche wie wissenschaftliche Kategorie, die Zeit, Raum und Kosten miteinander verbindet, erscheint aus historiografischer Perspektive entweder als kaum erwähnenswertes Synonym zu Raum, oder aber als Problem, das historisch nur dann interessant wird, wenn es gelöst werden kann: »Die Überwindung der Distanz«. Im Rahmen des so genannten imperial turn in der historischen Russlandforschung kann die Distanz eine enorme Aufwertung erfahren und zu einer wertvollen Kategorie der Forschung werden – dies geschah bisher allerdings ohne explizite Begriffsklärung. Wichtige Problemaufrisse der Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte ergeben sich aus der zunächst simplen Frage danach, wie staatliche Kontrolle überhaupt möglich war angesichts der enormen Distanzen.8 Die intensive Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen des Imperiums geht fast immer vom Grundproblem der Distanz aus und eröffnet so neue Einsichten in die Mechanismen frühneuzeitlicher und im Wandel begriffener Gesellschaften. Patronage, soziale Integration und Pragmatismus in der Kommunikation mit verschiedenen ethnischen Gruppen gehörten zu den Voraussetzungen des Imperiums und zu den Strategien, die das Distanzproblem lösen sollten. Distanz wird somit vorrangig als explanans, nicht so sehr als explanandum behandelt. Wenn aber Zeit ebenso wie Raum kulturell und historisch bedingt ist, dann erscheint es nur logisch, dass Distanz  – die Kombination von räumlicher Entfernung und der Zeit, die notwendig ist, diese Entfernung zu überwinden – ebenso 6 Afanas’ev, Natürliche und kulturelle Besonderheiten Russlands. Dow, Prostor. 7 Blainey, The tyranny of distance. 8 Kollmann, Crime and Punishment. Witzenrath, Cossacks. Kivelson, Autocracy in the provinces.

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konstruiert und damit aus kulturhistorischer Perspektive untersuchungswürdig ist.9 Von wem können wir hier lernen? Geografen stellen traditionell die Distanz ins Zentrum ihrer Arbeit, und James W. Watson bezeichnete sein Fach in einem berühmten Aufsatz gar als eine »discipline in distance«.10 Weniger griffig formulierte kürzlich Christoph Neubert: »Raum ist somit keine quasi natürliche Gegebenheit, sondern eine kulturelle Anordnung, deren Formierung wesentlich von jenen Verkehrsfunktionen abhängt, die zugleich mit der Überbrückung und der Erschließung, der Vernichtung und der Schaffung von Räumen (Grenzen, Distanzen, Wege etc.) zu tun haben.«11 Burton Wittvogel bezeichnete Distanz 1979 ebenfalls als »an extra­ordinary spatial concept« und legte eine kurze, aber systematische Auseinandersetzung mit der Distanz als »a measure of the separation existent between two or more locations« vor.12 Für die moderne Geografie ist die Transformation von einem absoluten  – in metrischen Einheiten auszudrückenden  – Distanzbegriff zu einem die Relativität betonenden Konzept von größter Bedeutung.13 Dieser Wandel dürfte jedem auch nur peripher am Raumproblem interessierten Historiker bekannt vorkommen: Denn Distanz wurde in der Geografie seit den 1950er Jahren zunehmend als ein kulturell wandelbares Konzept verstanden, das nicht allein durch eine objektiv zu messende Linie beschrieben werden kann, sondern durch verschiedene Kriterien bestimmt wird  – ganz unserer aktuellen Erfahrung mit dem so genannten spatial turn entsprechend. So kritisierten Stea und Downs zurecht die vereinfachende Vorstellung, Distanz sei »simply  a measure of the amount of spatial separation between two locations« und wiesen auf die relative Dimension des Problems hin.14 Anthony Gatrell unterschied systematisch, 9 Dass dieser Gedanke aktuell nahe zu liegen scheint, zeigt eine kurze Debatte auf der Website Progressive Geographies: http://progressivegeographies.com/2013/01/24/ a-history-of-distance/ (19. 3. 2013). 10 Watson, Geography. 11 Neubert, Verkehrsgeschichte an der Schnittstelle, S. 8. 12 Witthuhn, Distance. 13 Starr, Territory, S.  389. Abler, Spatial Organization, S.  72. Montello, The Perception and Cognition. 14 Downs u. Stea, Maps in minds, S. 47.

Einleitung: Distanz als geografische oder historische Kategorie?

abgesehen von der für ihn eher uninteressanten metrischen Distanz, vier verschiedene Kategorien:15 die zeitliche Distanz wird definiert über die Zeit, die der Weg von einem Punkt im Raum zu einem anderen kostet. Dieser Kategorie folgt die ökonomische Distanz, die ausdrückt, welche monetären Kosten in die Distanzüberwindung involviert sind. Die kognitive Distanz als dritte Einheit ist Untersuchungsgegenstand zahlreicher geografischer und psychologischer Studien und unterscheidet sich oft deutlich von den »objektiven« metrischen, zeitlichen und ökonomischen Kosten.16 Die soziale Distanz schließlich bezieht sich auf räumliche Konzepte, mit denen gesellschaftliche Strukturen beschrieben und bestimmt werden. Diese verschiedenen Distanzkategorien können einander entsprechen, müssen dies aber nicht. Ein Beispiel dafür sind die von Rob Shields beschriebenen »marginal places«, die nicht unbedingt geografisch peripher gelegen sein müssen, aber doch durch kulturelle Konventionen als Orte für »sozial marginale Aktivitäten«, als zones of otherness definiert werden.17 Eine andere Kategorisierung wurde von James Scott in verschiedenen seiner Werke entwickelt.18 Er unterscheidet lokale, traditionelle Verständnisse in Bezug auf Raum, Zeit und Distanz von imperialen Konzepten. Die von ihm zitierte Antwort auf die Frage danach, wie weit es bis zum nächsten Dorf sei – »So lange wie dreimal Reiskochen« – ist einleuchtend und entbehrt doch nicht einer gewissen Pittoreskheit. Die Logik dahinter ist nachvollziehbar, geht es doch dem Reisenden um die zeitliche Distanz und damit um die Reisedauer, keineswegs um eine scheinbar objektive metrische Entfernung. Und in einer Gesellschaft ohne die moderne Allgegenwärtigkeit der Uhr ist die Analogie zum Reiskochen sinnvoller als eine abstrakte Angabe in Minuten. Solche Distanzangaben variieren von Land zu Land, möglicherweise von Dorf zu Dorf, und zweifellos unterscheiden sie sich auch je nach der aktuellen Jahreszeit und Bodenbeschaffenheit. Scott schreibt: »The reply refers back to a standard that everyone is expected to know.« Dieser Satz allerdings, formuliert als eine Art Rechtfertigung der aus moderner Sicht möglicherweise merkwürdigen Distanzangaben mit Bezug auf Reiskochzeiten, gilt nicht nur für »lokale«, sondern ebenso für »imperiale« Einheiten. Der Geltungsanspruch und möglicherweise die Reichweite imperialer Einheiten sind andere, aber Distanzangaben müssen per se von möglichst 15 16 17 18

Gatrell, Distance and space, S. 44–80. Briggs, Urban Cognitive Distance. Shields, Places on the margin, S. 3–5. Scott, Seeing like a state, S. 26–28. Scott, The art, S. 45–50.

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allen Adressaten verstanden werden. Fraglich ist nur, auf welche Art und Weise verschiedene Kommunikationsebenen miteinander kombiniert werden oder in welchen Prozessen die imperialen Maßstäbe die lokalen ablösen. Scotts Argumentation allerdings nimmt mit viel Sympathie und einer gewissen Subversivität Partei für lokale, vernakulare Distanzangaben, die in seiner Darstellung angemessener, fast respektvoller mit Distanzen umgehen als der »distance-demolishing« britische Kolonialismus.19 Man muss nicht Scotts »anarchischem« Ansatz folgen, um die Bedeutung von Distanz und Distanzüberwindung für imperiale Projekte zu erkennen. Bereits Fernand Braudel erklärte die Distanz zum »Feind Nr. Eins« jedes großen Imperiums.20 Edward Said wiederum spricht vom systema­ tischen Anspruch des französischen, britischen und US -amerikanischen Imperiums, Distanz zu überwinden: »the idea of overseas rule  – jumping beyond adjacent territories to very distant lands – has a privileged status in these three cultures«.21 Auch Matthew Hannah bezeichnet das Herrschen aus der Entfernung, die »rule from a distance« als das entscheidendste Element kolonialer Strukturen überhaupt.22 Und Charles Maier hat beschrieben, wie zentral das Distanzproblem für Imperien war und ist – in einem Staatsgebilde, das sich entscheidend über einen Gegensatz oder zumindest ein Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie (Maier spricht von der frontier) definiert und dennoch einen Anspruch auf Durchherrschung verfolgt, wird Distanz stets ein Orientierungspunkt für Administration und Identität bilden.23 Aus anthropologischer Perspektive haben Mircea Eliade und Mary W. Helms die Zusammenhänge von räumlicher Entfernung, sozialen Hierarchien und den symbolischen Bezügen von Zentrum und Peripherie er­ örtert.24 Begriffe wie »weit weg«, »entfernt«, »isoliert« oder »marginal« setzen klar einen Punkt voraus, der als »nah«, »erreichbar« und »zentral« verstanden wird. Distanz ist somit ein Konzept, das gerade für die hierarchisierenden und wertenden Funktionen räumlichen Denkens von entscheidender Bedeutung ist. Wie sehr diese Komponente des Distanzbegriffs in unserem Denken verankert ist, wird häufig erst dann deutlich, wenn Um19 20 21 22 23 24

Scott, The art, S. 45. Braudel, The Mediterranean, S. 355. Said, Culture and Imperialism, S. xxiii. Hannah, Governmentality, S. 114 f. Maier, Among Empires, S. 106. Siehe auch Stoler, On Degrees. Helms, Ulysses’ sail. Eliade, Images and symbols.

Einleitung: Distanz als geografische oder historische Kategorie?

kehrungen seine Willkür enthüllen. So bei Marshall Sahlins, der den Besuch einer englischen Abordnung in China aus chinesischer Sicht schildert und England dann mit den Worten beschreibt »lies in the far oceans«.25 Der Soziologe Eviatar Zerubavel ging konventioneller vor, als er auf die Bedeutung von »mentaler Distanz« hinwies, die das »normale« Distanzverständnis in den Hintergrund rücken lässt.26 Werden Orte als »zusammengehörig« definiert, so wird die Distanz zwischen ihnen auch automatisch als geringer wahrgenommen denn die Entfernung zwischen als getrennt konstruierten geografischen Einheiten. Zerubavel führt das Beispiel Grönlands an, das politisch zu Europa gehört. Entsprechend, so Zerubavel, ruft die Erwähnung der Tatsache, dass die Küste Grönlands nur wenige Meilen von dem nordamerikanischen Kontinent vorgelagerten Inseln entfernt liegt, häufig Erstaunen hervor. Dieser Kontrast zwischen mentaler und geografischer Distanz ist auf zahlreiche andere Fälle anwendbar, wie beispielsweise die Konstruktion Osteuropas. Bereits dieser kurze Exkurs in die  – aus historiografischer Sicht allerdings tatsächlich nicht sehr umfassende – Forschung zum Thema zeigt, wie schnell aus dem scheinbar so unproblematischen Distanzbegriff ein schillerndes Konzept wird, historisch und kulturell wandelbar, auf unterschiedliche Weisen beschreibbar und nutzbar. Im Folgenden soll auf dieser Basis danach gefragt werden, wie Distanz verstanden wurde in Bezug auf den Nordpazifik und die Nordwestküste Amerikas. Welche Probleme wurden hier gesehen und erlebt, welchen Strategien nutzte der Hinweis auf große Distanzen und welchen schadete er? Was bedeutete Distanz, welche Kate­ gorien – Zeit, Kosten, aber auch kulturelle Fremdheit und Einsamkeit – wurden damit verknüpft? Auf der Suche nach Antworten sollen die Distanzwahrnehmungen der in das Unternehmen »Russisch Amerika« involvierten historischen Akteure genauer betrachtet und auf verschiedene Kategorien hin untersucht werden. Ähnlich wie bereits in den vorgehenden Kapiteln bildet auch hier eine verbreitete historiografische Annahme den Ausgangspunkt der Überlegungen: Die Hypothese, Distanz sei das zentrale Problem der Verwaltung und Nutzung Russisch Amerikas gewesen und habe schließlich auch einen entscheidenden Grund für dessen Scheitern geliefert. Robert Franklin schreibt:

25 Sahlins, Cosmologies of Capitalism, S. 422. 26 Zerubavel, Terra cognita, S. 27 f.

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»The sheer distance of Russian America from the seat of the Tsarist­ government in St. Petersburg was to play the biggest part in the colonization of Russian America, the source of woes for the RAC , and eventually one of the deciding factors of the sale of Russian America to the United States of America in October of 1867.«27 Die so offensichtlich erscheinende Plausibilität dieser Annahme sollte nicht daran hindern, sie zu hinterfragen und mit den Quellen zu konfrontieren.28 Wie wurde die Distanz zwischen Petersburg und Sitka von den Zeitgenossen wahrgenommen, und wie veränderte sich diese Wahrnehmung? Die Vorstellung von einer Verkleinerung des Raumes und der Vernichtung der Distanz ist keine Erfindung der historischen Forschung, sondern bildet ein beliebtes Motiv bereits in zahlreichen Quellen des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung des Eisenbahnverkehrs brachte, so haben zahlreiche Autoren nachgewiesen, neue Vorstellungen von Raum, Zeit und Distanz mit sich.29 Wie aber wurden Distanzen außerhalb dieses Beschleunigungsdiskurses »Eisenbahn« und in früheren Zeiten wahrgenommen? Es geht also darum, gewissermaßen einen Schritt zurückzutreten und nicht nur die Überwindung der Distanz, sondern die Distanz selbst in den Blick zu nehmen und angemessen zu historisieren. Dabei wird deutlich werden, dass Distanzen nicht einfach überwunden werden, sondern dass sich auch eine Dynamik von Distanzschaffung und Distanzüberwindung beobachten lässt. Denn Distanz ist für historische Akteure keineswegs ausschließlich ein Negativum und Problem, sondern auch Faszinosum, strategisches Argument, Chance und Strukturierungsmittel beim Versuch, die Welt zu begreifen.

6.2 Distanzwahrnehmungen im Moskauer Reich: Herrschaft und Verwaltung Für das 17. und das frühe 18. Jahrhundert erscheint die Darstellung zunächst relativ unproblematisch. Die großen Distanzen von Moskau nach Nordostsibirien bildeten eindeutig ein administratives Problem. Zahlreiche Quellen 27 z. B. Franklin, Playing the Odds, S. 34. 28 So widerspricht bereits Andrej Grinev dieser These: Grinev, Russian Politarism, S. 247. 29 Klassisch: Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Neuer: Schenk, Russlands Fahrt.

Distanzwahrnehmungen im Moskauer Reich

weisen darauf hin, wie lange die Nachrichtenübermittlung vom Zentrum zu den Grenzen des Imperiums dauerte. Dabei steht das sehr auf die Person des Zaren konzentrierte Herrschaftskonzept in einem dynamischen, potentiell konfligierenden Verhältnis zu den praktischen Erfordernissen von Delegation und Dezentralisierung. Die Instruktionen, die Vasilij Sevastjanov im Jahre 1710 von Peter I. erhielt, betonen die Bedeutung des Herrschers in kaum zu überbietender Weise.30 Die Instruktionen selbst kamen explizit unmittelbar vom Herrscher, die Berichte sollten ebenfalls an Peter persönlich gerichtet sein, auch die Ressourcen des Imperiums wurden direkt vom Zaren beansprucht. Die Rhetorik betonte die zentrale Macht, das Narrativ etablierte Verbindungslinien, die vom glowing center in Moskau31 zu den verschiedensten Gebieten des riesigen Reiches führten. Souveränität war auf die Person des Herrschers bezogen und definierte sich über die Loyalität der Untertanen, die über das ganze Reich verteilt lebten. Distanz scheint hier keine Rolle zu spielen. Sobald es allerdings um konkrete Fragen der Administration und Kommunikation ging, gestaltete die Situation sich häufig anders. Bezug nehmend auf einen ukaz aus dem Jahre 1702 erklärte Peter in einer Instruktion, Bestrafungen müssten überall nach den Regeln des seit 1649 geltenden Gesetzbuches Uloženie ausgeführt werden, doch solle man die eigentlich vorgesehene Auslieferung von zum Tode Verurteilten nach Moskau nicht umsetzen: wegen der großen Entfernung (za dal’nym rastojaniem) sollten die Delinquenten in Jakutsk selbst hingerichtet werden.32 Noch weiter von der eigentlichen Regel abweichend, bestimmte Peter nun, dass Russen, die in Kamčatka straffällig wurden, zwar nach den Regeln des Uloženie betraft werden sollten, dies jedoch unmittelbar vor Ort geschehen solle – und zwar, »aufgrund der Entfernung«, ohne sich nach Jakutsk zu wenden.33 Distanz wurde hier zum Thema und zum Problem. Die Gültigkeit der noch immer relativ neuen Gesetzeskodifikation wurde aber so hoch eingeschätzt, dass sie in allen Winkeln des Imperiums Geltung fand, auch und gerade wenn die direkte Kommunikation mit Regierungsbeamten nicht funktionieren konnte. Hier wird ein klassisches Muster frühneuzeitlicher Reiche deutlich, 30 Nakaz jakutskomu kazačnemu desjatniku Vasiliju Savostjanovu, 9. 9. 1710, in: Timofeev, Pamjatniki I, S. 417–428. 31 Rowland, Two Cultures. Geertz, Centers, Kings, and Charisma. 32 Nakaz jakutskomu kazačnemu desjatniku Vasiliju Savostjanovu, 9. 9. 1710, in: Timofeev, Pamjatniki I, S. 417–428, 418. 33 Ebd., S. 422.

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das in der älteren Forschung als Dilemma und Mangel bezeichnet wurde, aktuell aber bevorzugt mit Begriffen wie »Pluralität«, »Flexibilität« oder »Politik der Differenz« erfasst wird.34 Einerseits schien also die Verteilung von Macht- und Verwaltungspunkten im Raum notwendig, um zu verhindern, dass lange Wege die Bürokratie vollkommen lahm legten. Die großen Distanzen prägten so das frühneuzeitliche Reich auf entschiedene Weise und verlangten nach einer dezentralisierenden Flexibilität, die den eigentlichen Vorstellungen von konzentrierter Macht zu widersprechen scheint. Andererseits aber konnte die klare symbolische und häufig auch administrativ-justizielle Linie, die zwischen Untertanen und Herrscher gezogen wurde, ebenso als Instrument im Kampf mit der Distanz betrachtet werden. Die Loyalität zum Zaren und das Anrecht auf seinen Schutz konnte lange Distanzen überbrücken. Und auch praktisch konnte der »sibirische Personenverband«, wie Christoph Witzenrath schreibt, die Kompetenzen der voevoden blockieren und so die Barrieren zwischen »distant Siberian lands and Moscow« einreißen.35 Wenn also Peters Instruktion einerseits eine räumliche Strukturierung und Hierarchisierung deutlich macht – die Distanz nach Jakutsk ist zu groß, um unmittelbare Entscheidungen in Moskau möglich zu machen; die Distanz nach Kamčatka aber ist noch größer, und hier ist nicht einmal die Kontaktaufnahme mit Jakutsk notwendig – so wird andererseits auch die Einheit des Imperiums postuliert: Kommunikation und vor allem Loyalität halten Untertanen und Herrscher zusammen.36 Es waren zuweilen gerade die großen Distanzen, die Untertanen dazu motivierten, sich direkt an den Herrscher im Zentrum zu wenden. Schließlich galt die Bereitschaft, in »entfernte Dienste« (dal’nye služby) zu treten, als besonderer Beweis für Treue und Opferbereitschaft für den Herrscher.37 Distanz wurde somit zum aussichtsreichen Argument. Tatsächlich gehört die Formulierung »wegen der großen Entfernung« (za dal’nym razstojaniem) zu den Standardfloskeln zahlreicher Petitionen, in denen Probleme vor Ort geschildert werden. 1711 beispielsweise wandten sich 75 služilye ljudi (Dienstleute) an den Herrscher, erklär34 Kollmann, Crime and Punishment. Burbank u. Cooper, Empires in world history. 35 Witzenrath, Cossacks, S. 90. 36 Zum Konzept einer Einheitlichkeit des Russländischen Imperiums siehe Kivelson, Muscovite. 37 Siehe z. B. Otpiska jakutskich voevod V. N. Puškina i K. O. Suponeva, 1647, in: Orlova, Otkrytija, S. 148–152. Čelobitnaja syna bojarskogo Petra Beketova, 1638, in: Orlova, Otkrytija, S. 93–96.

Distanzwahrnehmungen im 18. Jahrhundert

ten ihre Motive, die beiden prikaščiki (Verwalter) Petr Čirikov und Osip Lipin getötet zu haben und baten um Gnade.38 Die beiden Beamten hätten die großen Distanzen und die sich daraus ergebenden mangelnde Kontrolle zum Zentrum ausgenutzt, um ungestraft ihrer Gier zu frönen und die služilye ljudi ebenso wie die indigene Bevölkerung grausam und ungerecht zu behandeln. Frühere Hilfegesuche seien erfolglos geblieben – erneut »za dal’nym razstojaniem«, und so sei es schließlich zu der Gewalttat gekommen.39 Die Tatsache, dass große Distanzen als Problem wahrgenommen wurden, ist nicht besonders überraschend, gehört doch die Durchherrschung von Räumen bekanntermaßen zu den zentralen Herausforderungen frühmoderner Staaten. Wie bereits im Kapitel zur Wahrnehmung von Land und Menschen erörtert, expandierte das Moskauer Reich aufgrund von politischem und wirtschaftlichem Interesse. Raum an sich, die Überwindung von Distanzen selbst, oder ein territorialer Ehrgeiz bildete hier keine Motivation. Distanzen waren ein Problem, mit dem die Bürokratie sich arrangieren musste, oft auf pragmatische Weise und mithilfe von Kompromissen. Wenn die Distanzen zu groß waren, dann wurde eben auch Justizgewalt ausgelagert, ob konkret in dem Falle der Instruktion an Sevastjanov, allgemeiner mit der Gesamtstruktur von Leibeigenschaft und Gutsherrschaft, oder mithilfe von Kosaken und anderen mobilen imperialen Akteuren. Dieses Sich-­Arrangieren mit Distanzen implizierte nicht unbedingt den Wunsch, Distanzen auch  – in einem modernen Sinn  – zu überwinden, sich den Raum gewissermaßen untertan zu machen. Auf diese Weise bildet das Moskauer Reich eine kontrastierende Folie zu den Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts, als sich Distanz zu einem deutlich vielfältigeren Konzept entwickelte.

6.3 Distanzwahrnehmungen im 18. Jahrhundert: Die Vermessung der Welt Wie so viele andere Vorstellungen und Strategien auch, veränderte sich die Wahrnehmung von Distanzen im Laufe des 18. Jahrhunderts deutlich. Die Art und Weise, in der man sich im Moskauer Reich mit Distanzen arran38 Čelobitnaja carju 75 čelovek, 17. 4. 1711, in: Timofeev, Pamjatniki I, S. 441–451. 39 Ebd., S. 449.

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gierte, konnte im 18.  Jahrhundert nicht weiter fortgeführt werden. Allzu proaktiv, allzu anthropozentrisch und allzu sehr an der Lösung von Problemen orientiert war dieses aufklärerische Russland, als dass man große Distanzen weiterhin als ein gott- oder naturgegebenes Problem hätte akzeptieren können. Aus der Beschwerdeformel »za dal’nym razstojaniem« entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein ganzes Panorama an Distanzkonzepten. Distanz figurierte als nicht unproblematisches Konzept in den Territorialisierungsprozessen und spielte eine entscheidende Rolle in den Prozessen der Vermessung und Geometrisierung von Imperium und Welt. In Verbindung damit stand die Neukonzeptualisierung von Distanz als bezeichnendes Charakteristikum Russlands und als Moment nationalen und imperialen Stolzes sowie die Nutzung des Distanzarguments im Diskurs um die am Besten geeignete Regierungsform. Im Vorwort zum Atlas Rossijskoj Imperii von 1745 wird die Bedeutung eines solchen Werkes erklärt: »Die größten Herrscher verdanken es der Geografie, dass sie gute und vernünftige Entscheidungen über ihre Länder treffen können.« (o sobstvennych im zemljach, pravil’no rassuždat’ […] mogut)40 Nur wenn das ganze Gebiet eines Staates auf einem einzelnen Blatt zu überschauen sei, könne man erkennen, was zu tun sei: Kanäle bauen, Bergbau etablieren, Manufakturen einrichten. Diese Vorstellung vom Reisen mit dem Finger auf der Landkarte, bei dem es dem Herrscher möglich gemacht wird, in seinem Zimmer sitzend mühelos »sowohl die ganze Welt als auch den kleinsten Bezirk« zu betrachten, beschreibt das Distanzproblem und negiert es zugleich. Denn erst wenn imperiale Herrschaft zur Lehnstuhlpolitik wird und lange Wege nicht mehr notwendig sind, scheinen rationale und damit zukunftsfähige Entscheidungen möglich zu werden. Die Kartografie befand sich somit auf der Spur eines zentralen Merkmals und zugleich einem Siegeszug gegen den wichtigsten Feind des Imperiums, die Distanz. Sie stellte den Raum dar und vernichtete ihn zugleich. Ganz im Sinne der ptolemäischen Tradition wurde Distanz mental und grafisch unter Kontrolle gebracht. Mit der ersten publizierten kartografischen Gesamtansicht des Russländischen Imperiums wurde die Dynamik und Vielfalt der Distanzwahrnehmung im 18. Jahrhundert deutlich. Es ging in erster Linie um das Erfassen und Vermessen von Distanz, aber auch um das Bewältigen der aus der Dis40 Atlas Rossijskoj Imperii 1745, S. 2.

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tanz entstehenden Probleme sowie um einen neuartigen Stolz, der aus der Erkenntnis von Distanz sowie aus den Bemühungen um deren Bewältigung entstand. Der Russländische Atlas war nicht zuletzt durch das Riesenprojekt der Kamčatka-Expeditionen möglich geworden. Die in Bezug auf Kosten, Zeitinvestition und Personalaufwand unerhört ehrgeizigen Expeditionen brachten zahlreiche, in ganz Europa rezipierte Resultate und spielten eine entscheidende Rolle für Änderungen der Distanzwahrnehmung im Russländischen Reich. Neben neuem Wissen in Bezug auf Botanik und Ethnografie wurden vor allem die geografischen Ergebnisse mit Spannung erwartet und – soweit sie denn trotz des strengen Publikationsverbotes bekannt wurden – mit Leidenschaft diskutiert. Die von den Teilnehmern unternommenen unzähligen Längengradmessungen sowie die kartografische Erfassung der nördlichen und nordöstlichen Küsten Sibiriens waren auch deshalb so brisant, weil sie erstmals die ganze Ausdehnung des Russländischen Imperiums deutlich machten. Von mindestens zwanzig Längengraden mehr als ursprünglich angenommen gingen die Astronomen und Geografen nun aus.41 Der Schweizer Gelehrte Samuel Engel argumentierte in zahlreichen Schriften gegen die Glaubwürdigkeit der Berichte aus Russland.42 Dabei nahm er an, die Regierung in St. Petersburg habe gemeinsam mit den ausgeschickten Wissenschaftlern ein in erster Linie politisch motiviertes Interesse daran, Russland größer erscheinen zu lassen als es wirklich war. Er vermutete das Ziel, »anderen Nationen die Lust zu benehmen, den nordöstlichen Durchgang zu suchen, und die Russen im Besitze der reichen Pelzwerke zu stören«.43 Astronomische Detailberechnungen vermischten sich hier mit nationalem Ehrgeiz, und Distanzmessungen wurden zu einem Thema, über das sich für mehrere Dekaden trefflich streiten ließ.44 Doch ging es, wie bereits die Argumentation Engels zeigt, nur in zweiter Linie um die eigentliche Ausdehnung des Imperiums und damit die Größe des russländischen Territoriums. Zwar deutete Engel durchaus an, dass die russländische Regierung ein Interesse an einer vergrößerten territorialen 41 Dazu u. a. Imbert, Bering and Chirikov, S. 53 f. 42 Engel, Lettre à Mr. Louis Bourguet… sur la jonction de l’Amerique avec l’Asie. Engel, Memoires et observations geographiques et critiques sur la situation des pays septentrionaux de l’Asie et l’Ame érique, d’apre ès les relations les plus recentes, Lausanne, A. Chapius, imprimeur 1765. 43 Brief Müller an Büsching 18. 1. 1776, in: Hoffmann, Geographie, S.  404–406. Siehe auch: Aus einem Briefe des Herrn Landvogts Engel. 44 Dörflinger, Die Diskussion. Stuber, Forschungsreisen im Studierzimmer.

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Fläche haben konnte, da eine solche mit mehr Prestige verbunden sei. Doch sei dies nicht der Grund für die vermuteten Fälschungen. Vielmehr waren Distanzen auch deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil sie – wie es dem Wesen von Distanzen eben entspricht – Relationen deutlich machten. Samuel Engel interessierte sich vor allem deshalb für die Größe Russlands, weil diese eine determinierende Rolle in seinem eigentlichen Projekt, der Suche nach einer Nordostpassage spielte. Wenn die Logik dahinter wie ein Nullsummenspiel anmutet  – je größer das Imperium, desto weniger »Platz« bleibt für eine erhoffte Passage – so entspricht dies dem traditionellen geografischen Eurozentrismus. Generell hielt man den Pazifik für deutlich kleiner als er tatsächlich war, oder, wie Marvin Falk formuliert: »One of the common early concepts of the New World was that there was not much room for it.«45 Darüber hinaus spielte auch die Geometrisierung der Welt im 18. Jahrhundert hier eine entscheidende Rolle. Die Vermessung des Russländischen Imperiums im 18.  Jahrhundert war immer auch eine Positionierung des Reiches in der Welt, ein Blick auf »uns« und »die anderen«. Im Vorwort des Atlas von 1745 wird die Bedeutung einer Generalkarte nicht zuletzt damit begründet, dass sie »über die Entfernungen zu anderen Nationen« (o otdalenii drugich narodov) informiere.46 Distanzen waren auch entscheidend für ein im 18. Jahrhundert äußerst prominentes Raumkonzept, das als »präzises Bezugssystem« bezeichnet werden kann. Dieses Konzept ging deutlich über die traditionelle Koppel­ navigation hinaus, die seit jeher Distanzen zur Bestimmung von Position und Längengrad nutzte und Geschwindigkeit, Richtung und Zeit in die Berechnungen einbezog. Das präzise Bezugssystem baute auf Techniken und Raumwahrnehmungen auf, die seit der Renaissance entwickelt wurden, seine generelle Akzeptanz in Europa ließ jedoch noch lange auf sich warten. Eric Ash spricht von einer »radikalen Erfindung«, welche die Wahrnehmung der Welt fundamental veränderte: Seeleute und Geografen »began to perceive [the world] more geometrically, in terms of angular distance as well.«47 Einen Höhepunkt in diesem Prozess bildeten die Metrisierungsreformen im Frankreich der 1790er Jahre. Die Festlegung des Meters mit einem direkten Be45 Falk, Maps of the North Pacific to 1741, S. 129. 46 Atlas Rossijskoj Imperii 1745, S. 2. 47 Ash, Navigation Techniques, S. 519.

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zug auf den Erdumfang und der Seemeile als unmittelbare Ableitung von Längen­graden macht das Konzept von präzisen und auf ein als natürlich, unverrückbar begriffenes universales System bezogenen Distanzen deutlich. Dieser Standardisierung gingen seit dem 17.  Jahrhundert zahlreiche Vermessungsprojekte in Europa und zunehmend auch in Russland voraus, die das große Ziel verfolgten, die Welt in ihrer Gesamtheit zu berechnen, verstehen und zu ordnen. So die großangelegten Beobachtungen der Venuspassagen 1761 und 1769 von den verschiedensten Punkten der Welt. Das Ziel der Messungen war es, die Distanz zwischen der Sonne und der Erde zu bestimmen und so eine Schlüsselinformation für weitere Distanzen auf der Erde und sogar im Sonnensystem zu erhalten.48 Die Geometrisierung der Welt war also nicht nur ein Prozess, in dem sukzessive möglichst viele, idealerweise alle Punkte des Globus exakt vermessen werden sollten. Es ging ebenso sehr darum, diese Punkte in Bezug zuein­ander zu setzen. Nicht umsonst waren russische Karten dieser Zeit, anders als solche aus dem Moskauer Reich, normalerweise mit einem Raster von Längen und Breiten ausgestattet. So wurde jeder abgebildete Punkt, jede Stadt, jeder Küstenstreifen und natürlich auch das gesamte Imperium, in ein globales Muster eingefügt. Die Welt wurde auf neue Weise als eine Einheit gesehen. Egal, ob man dies mit Mary Louise Pratt als planetary consciousness bezeichnet49 oder als Globalisierung des 18. Jahrhunderts: Die Wissenschaften der Astronomie, der Navigation und der Kartografie sahen die Welt als eine geometrische Einheit, die durch absolut verstandene und präzise durchgeführte Distanzmessungen als eine solche vollständig erschlossen werden konnte. Diese Vorstellung von absoluten, präzise zu vermessenden Distanzen ist losgelöst von jeglichen relativen Distanzerfahrungen, welche die Bewegung des Menschen, die dafür notwendige Zeit, Mühe und Kosten sowie individuelle Erfahrungen einbeziehen.50 Um die Kategorien James Scotts zu bemühen: Imperialer kann eine Vorstellung von Distanzen kaum sein. Sie befreite den Raum vollständig von Erfahrungen, Hindernissen und Wandel. Symbolisch verdeutlicht wird dies an der verbreiteten Gewohnheit, die im jeweiligen Zentrum des Imperiums – sei es in London oder Paris – gemessene Zeit mithilfe von Chronometern gewissermaßen unbeschadet durch die Welt zu 48 Despoix, Die Welt. Wulf, Die Jagd auf die Venus. 49 Pratt, Imperial eyes, S. 5. 50 Zu absoluten und relativen Raum- und Distanzkonzepten siehe z. B. Abler, Spatial Organization, S. 59.

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tragen und auf diese Weise die eigene Position zu bestimmen: so objektiv wie möglich wurden die Distanzen durch den Abstand zur den Standard bildenden Metropole bestimmt. Die Nutzung von Distanzen zur Herstellung eines vollständigen und präzisen Bezugssystems war jedoch in der Praxis von den Distanzerfahrungen des Reisenden nicht wirklich zu trennen. Absolute Distanzen, exakt zu vermessen, waren ein Ideal, das in der Realität kaum zu erreichen war. Zahlreiche Quellen des 18.  und 19.  Jahrhunderts diskutierten die Problematik, die sich aus dem Wunsch nach möglichst objektiver astronomischer Längengradmessung einerseits und der Notwendigkeit flexiblerer Informationsbeschaffung andererseits ergab. Schlechte Wetterverhältnisse und technische Probleme mit Uhren, die auch nach der scheinbar so einschneidenden Erfindung Harrisons nicht wirklich aus der Welt geschafft waren, spielen dabei die entscheidenden Rollen. Im Jahre 1764 bekam Leutnant Krenicyn ausführliche Instruktionen mit auf den Weg, die sich auf die möglichst exakte Vermessung der Aleutischen Inselgruppe und Festlegung von Längengraden bezogen. Astronomische Distanzmessung war das Ideal – wo dies aber nicht möglich war, sollte eben mit Informationen der indigenen Bevölkerung über die Reisedauer von Insel zu Insel gearbeitet werden.51 Auch der Atlas von 1745, im russländischen Selbstbild wie in der Perspektive der Historiker durchaus als Meilenstein russländischer Kartografie geltend, weist eine durchaus pragmatische Herangehensweise auf. Vermessung und Kartierung sollten so präzise wie möglich sein (skol’ko možno ispravny). Doch können Hinweise auf ein stärker relatives Verständnis, auf weniger exakte Bezugssysteme nicht nur als Mangel gelesen werden, nicht nur als ein zu überwindender Zustand fehlender Präzision. Vielmehr ist der Dualismus von absoluter und relativer Distanz, von dem auf einem wissenschaftlich-absoluten Weltverständnis basierenden Vorgehen einerseits und einem pragmatisch orientierten Raumverständnis andererseits, als Paradigma historischen Denkens nur dann hilfreich, wenn er nicht überdehnt wird. Ein Beispiel: James Cooks Blick auf die Welt kann durchaus als absolut beschrieben werden, und Brian Richardson argumentiert entsprechend, dass »location no longer depends on narratives of travel«.52 Doch wird der gleiche 51 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S. 78–83. 52 Richardson, Longitude and Empire, S. 48.

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James Cook von Paul Carter in einer scheinbar gegensätzlichen Weise ge­ sehen. Für Carter ist die Reise Cooks, sind das Sich-Fortbewegen und der jeweilige, also relative Standpunkt, durchaus entscheidend. Cook habe gerade nicht global und systematisch gedacht, und die zahlreichen Benennungen auf seinen Reisen folgten eben nicht dem zeitgenössischen botanischen System. Wo Carl von Linneaus systematisch vorgegangen sei, so Carter, dachte James Cook räumlich (spatially).53 Absolutes Denken bei Richardson, Relativität bei Carter: Diese Ambivalenz zwischen den Schriften zweier Cook-Experten kann und soll hier nicht aufgelöst werden. Vielmehr stellt sich die Frage, ob wir es tatsächlich mit einem Widerspruch zu tun haben. Ein genauerer Blick auf die russländischen Expeditionen des 18. Jahrhunderts jedenfalls zeigt auf ähnliche Weise verschiedene Konzepte von Raum und Distanz, die einander durchaus ergänzen und überlappen. Der Prozess der Verwissenschaftlichung des Reisens weist klar Neuerungen im Vergleich zur vorpetrinischen Zeit auf. Dennoch kann von einem Bruch oder einer vollständigen Neuorientierung nicht die Rede sein. Ein an Präzision orientiertes Raumverständnis schließt relative Wahrnehmungen nicht aus. Imperiale Distanzbegriffe stehen nicht unbedingt in einem Gegensatz zu lokalen Konzepten. In vielen Texten wechseln sich präzise mathematische Angaben zu Längengraden ab mit Distanzbeschreibungen, die das Erleben und die konkrete Situation berücksichtigen. Bering beschrieb in seinem Bericht unter anderem folgende Begebenheit: »Am 8. August gelangten wir zur 64. Breite 30 Minuten, und es kamen 8 Menschen in einem Boot zu uns, und sie fragten uns wo wir herkämen und was wir wollten, und über sich erzählten sie, sie seien Čukčen […] und sie schickten einen ihrer Männer zu uns zum Gespräch, und dann erzählten sie, sie lebten an der Meeresküste, wo es viel Eis gäbe, und dieses Land sei nicht weit von hier (nedaleče otsjuda) […] und sie sagten dass nicht weit entfernt (nedaleko) eine Insel sei […], und wir fuhren zu dieser Insel, die allerdings nichts Interessantes für uns aufwies, und wir benannten diese Insel St. Laurentius […].«54

53 Carter, The Road to Botany Bay, S. 6–8. 54 Bering, Donesenie flota, S. 74.

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Dieser Text weist einerseits die verlangte Präzision des wissenschaftlich nutzbaren Logbuches oder auch Berichtes des 18. Jahrhunderts auf: Klar und nachvollziehbar werden Datum und geografischer Ort benannt. Nach dieser lokalisierenden Einleitung aber wird es deutlich ungenauer: »nicht weit von hier«, »nicht weit entfernt«, scheinen auszureichen, und obwohl die Insel besichtigt und sogar benannt wird, verzichtet Bering auf eine Nennung der geografischen Koordinaten und beschränkt sich auf eine lokale, relative Distanzangabe (»nicht weit von hier«). Auch vom Duktus erinnert die Erzählung, die hier der Lesbarkeit halber gekürzt wiedergegeben wurde, mehr an die umständlichen, additiv strukturierten Berichte des 17. Jahrhunderts als an die systematischen Texte der petrinischen und nachpetrinischen Zeit. Der an einem Objektivitätsideal orientierte, systematische Bericht war also ebenso wenig eine Selbstverständlichkeit wie die möglichst vollständige Angabe geografischer Koordinaten. Statt einer narrativen Systematik, die Informationen katalogisiert und nummeriert, werden Ein­drücke und Erlebnisse geschildert, die eher dem traditionellen, für den modernen Leser irritierenden Muster von »und dann geschah…« folgen. Und statt eines Verzeichnisses aller messbaren Punkte wird gewissermaßen der Ausgangspunkt eines narrativ verfassten Erlebnisses angegeben: »Am 8. August gelangten wir zur 64. Breite 30 Minuten«. Ganz ähnlich zeigt sich der Bericht Sven Waxells. Explizit auf das Fehlen einer guten Karte Bezug nehmend, beschreibt er die Seereise von Ochotsk nach Kamčatka und beginnt mit exakten Koordinaten: »Bolscherezk: 52 Grad 40 Min nördl. Breite, nach mathematischer Berechnung 13 östl. Längengrade von Ochotsk. Ochotsk liegt am 50. Grad 10 Min nördl. Breite.« Für die eigentliche Reise aber, soviel ist Waxell klar, sind diese Angaben nur begrenzt hilfreich, und wer sich um Kamčatkas Südspitze herumwagt, nimmt besser einen erfahrenen Seemann mit lokalen Kenntnissen mit an Bord. »Von Bolscherezk aus segelt man gerade nach Süden und entdeckt dann rechterhand bald eine steile runde Insel, die auf unserer Karte Kap Alaid hieß. Man läßt sie immer rechts liegen und steuert strikt südwärts auf die Kurilen zu, die sehr bald sichtbar werden, dann setzt man Kurs auf die deutlich erkennbare Einfahrt zwischen zwei Inseln, bis man Alaid genau im Westen hat, und steuert nun gerade nach Osten durch den Kanal.«55 55 Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 110. Die deutsche Übersetzung folgt: Waxell, Die Brücke, S. 125–127.

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Waxell empfahl also, sich hier auf die Erfahrung, Sichtnavigation und das individuelle Zeitgefühl zu verlassen und ließ sich gern auf eine das Subjek­ tive betonende Sprache ein (»bald«, »sehr bald«, im Original: snart, ret snart.) Und, um ein späteres Beispiel zu nennen: Gavriil Saryčev betonte im Vorwort zu seinem Bericht ausdrücklich: »Von allen Tagen unserer Seefahrt, an welchen wir Land sahen, oder uns etwas Bemerkenswerthes begegnete, habe ich in meiner Erzählung die Breite und Länge bezeichnet, in welcher wir uns nach unserm Journale um Mittagszeit befanden. Auch habe ich in meiner Erzählung die Entfernung vom Lande und die Größe der Inseln nicht nach dem Augenmaße angegeben, sondern so wie sie durch die Fahrt selbst und durch genaue Pelengen bestimmt werden, so daß man aus ihr eine Karte der ganzen Fahrt und der Ufer und Inseln aufnehmen könnte.«56 Die Reise selbst aber wurde ausgesprochen bildhaft geschildert. »Zuerst verfolgten wir den Sommerweg durch die gewöhnlichen Stazionen, nach 153 Werst aber wandten wir uns links auf den Winterweg, der über den Fluß Indignoka oder Omekon führt, und obgleich 500 Werst weiter als jener, doch weit bequemer für Reisende ist, da er keine große Gebirgskette und gewöhnlich auch lange nicht so tiefen Schnee als jener hat.«57 Hier sind Distanzen etwas konkretes, von der Jahreszeit und dem Transportmittel abhängiges. Die Wetterverhältnisse und der Zustand der Pferde, die Jahreszeit und die für eine Strecke aufzuwendende Zeit erscheinen hier deutlich wichtiger für die Bestimmung von Distanzen als mathematische Formeln.58 Christoph Witzenrath schreibt in Bezug auf die Distanzwahrnehmung in Russland etwas generalisierend: »Over the centuries, Russians have shown often enough that they disregarded distance to a degree difficult to imagine in most European envi56 Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, S. xviii (Hervorhebung M. W.). 57 Ebd., S. 20. 58 Siehe z. B. auch Krašeninnikov, Opisanie I, S. 74.

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ronments. This disregard of distance depended on the institutional environment. What counted was that the focal points of the trading network, the central markets, the trading posts and fortresses were organized by common institutions.«59 Distanzen wurden selbstverständlich nicht ignoriert, aber sie wurden umgesetzt in für die Verwaltung – bzw. im Falle Berings: für den Reisenden – handhabbare, nützliche Abschnitte. Und so wird bei Bering, wie bei vielen anderen auch, keine zu überwindende Gesamtdistanz beschrieben. Statt­ dessen geht es um einzelne Schritte, Streckenabschnitte, Linien und Punkte. In den Berichten werden die Distanzen von Ort zu Ort, von Insel zu Insel, von Küste zu Küste benannt.60 Besonders deutlich wird diese Vorstellung von einer fragmentierten Gesamtdistanz in den häufig verwendeten Entfernungslisten, welche die Distanzen von Ort zu Ort in genauen Maßeinheiten verfügbar machten.61 Absolute und relative, imperiale und lokale Distanzwahrnehmung erscheinen in vielen Quellen des 18. Jahrhunderts somit nicht als Gegensätze. Der Informationsaustausch mit der indigenen Bevölkerung war in vielerlei Hinsicht von Bedeutung, nicht zuletzt in Bezug auf die Distanzen. Doch nicht nur das alltägliche Überleben der Reisenden, sondern auch Einheiten der Vermessung waren nicht unbedingt von einem Blick »von oben« geprägt, sondern bezogen auch relative Distanzen mit ein. So entsprach Martin Spanbergs Auftrag, Japans Lage im Verhältnis zu Kamčatka festzustellen,62 durchaus den wirtschaftlichen Interessen Russlands. Auch ­Krenicyns Instruktionen in Bezug auf Informationen über die Insel Šugachtany zeigend das Interesse an lokalen Distanzen und Relationen: wie weit war die Insel vom amerikanischen Festland entfernt, welche Boote nutzten die Indigenen, um zum Festland zu kommen, gab es Kontakte zwischen Festland und Insel?63 Die Tatsache, dass die Längengrade im Nordpazifik nicht von 59 Witzenrath, Cossacks, S. 19. 60 Report on St. Elias (Kayak) Island, in: Golder, Bering’s voyages, S. 99 und 113. Fedorova, The journal. 61 Krašeninnikov, Opisanie I, S. 140–142. 62 Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 55. 63 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspedicii, S.  78–83. Siehe auch Michail Gvozdev Vysokoblagorodnomu gospodinu Flota­ Kapitanu Martynu Petroviču Španberchu, in: Efimov, Iz istorii russkich ėkspedicij na Tichom Okeane, S. 244–249.

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St. Petersburg aus gemessen wurden, sondern dass die Avača-Bucht im Südosten Kamčatkas den Ausgangspunkt bot, widerspricht Richard Sorrensons allzu generalisierender Aussage, imperiale Seefahrt des 18.  Jahrhunderts habe sich mit ihrer Messung des Längengrades jeden Tag sehr bewusst auf das jeweilige Zentrum bezogen.64 Pragmatismus und eine am Sukzessiven orientierte Raumwahrnehmung ließen somit zwei Distanzsysteme nebeneinander und miteinander bestehen. Einerseits das präzise Bezugssystem der Astronomie und Mathematik, das sich auf Ereignisse wie die Venuspassage und Berechnungsmuster wie Monddistanzen verließ, jedem bereisten Punkt auch exakte geografische Koordinaten zuordnete und den Raum damit in imperiale und globale Kategorien einbettete. Und andererseits das an der Erfahrung orientierte Bezugssystem, das nicht nur vermaß, sondern auch dem Narrativ und dem visuellen Eindruck vertraute, das konkrete Orte mit anderen, ebenso konkreten Orten in Verhältnis setzte und den Raum eher in Einheiten des Lokalen und Regionalen betrachtete. Angesichts der Beobachtung, dass die verschiedenen Distanzvorstellungen sich vermischten, stellt sich die Frage, wann welches Konzept vorherrschte. Obwohl ein Entwicklungsprozess erkennbar ist, kann von einer Zäsur doch nicht gesprochen werden, und im gesamten 18.  Jahrhundert stehen beide Konzepte nebeneinander. Eine Unterscheidung von Eliten- und Volkswissen in dem bei Scott vorgeschlagenen Sinne erscheint nicht angebracht, und auch eine klare Trennung unterschiedlicher Intentionen führt nicht sehr weit. Die Kamčatka-Expedition war in ihrer Intention von höchstem wissenschaftlichem Ehrgeiz geprägt, und dennoch finden sich in den Berichten, wie gezeigt, unzählige Passagen, die eine nicht-mathematische Distanzwahrnehmung deutlich machen. Entscheidend ist also nicht die Suche nach einer übergeordneten Norm, sondern vielmehr die Betrachtung der jeweiligen Textsorte, die ihrerseits wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zu der geschilderten Situation steht. Seereisen unterlagen stärkeren Regulierungen, und die Berichte mussten präziser und systematischer sein. Angaben über Landreisen in Sibirien dagegen konnten narrativer gestaltet werden und enthielten außerdem einen wichtigen ethnografischen Mehrwert. Auch der jeweilige Erkenntnis64 Sorrenson, The Ship as  a Scientific Instrument, S.  224. Für die Strecken bis nach Kamčatka wurde allerdings auf St. Petersburg Bezug genommen, siehe: Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 85.

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stand über eine Gegend war von Bedeutung – Waxell begründet seine wenig mathe­matische Beschreibung der Route im Ochotskischen Meer mit dem Fehlen einer Karte. Die zahlreichen Expeditionen des 18. Jahrhunderts beschrieben Distanzen und nutzten sie, um das Imperium zu vermessen und in ein europäisches geometrisches System von globalem Anspruch einzupassen. Gerhard Friedrich Müller erklärte 1734, es sei sein Ziel, »vermittelst eines Seekompasses, den ich stets vor Augen hatte, eine so genaue Karte von dem Laufe des Irtischflusses zu verfertigen, als man es noch nicht gehabt hat« und setzte erläuternd hinzu: »Es kam mir dabei zugute, dass die Abstände der Örter längst vorher gemessen und mir bekannt waren.«65 Steller dagegen beklagte 1740, dass »die Entfernungsmaße« in Sibirien nur sehr ungenügend genau erfasst waren.66 In der Instruktion an Krenicyn forderte die Admiralität, er möge »die Position und die Entfernungen« der aleutischen Inseln bestimmen. Die »absolute« geografische Position allein genügte nicht; die Angabe der Distanzen zwischen den Inseln, die ja eine Kette bildeten, wurde ausdrücklich eingefordert und als wichtige Erkenntnis für die Kartografie betrachtet.67 Nach und nach entstanden, als unmittelbares Resultat der zu beobachtenden Territorialisierungsprozesse, auch ein Interesse an der Größe des Raumes und ein neuer Stolz darauf, mit Russland ein Imperium ungeheurer Distanzen zu beherrschen. Vor allem Katharina gab ihrem Stolz auf die Weite und Vielfalt Russlands mehrfach Ausdruck.68 Dass in solchen Äußerungen aber nicht unbedingt eine Vorstellung davon enthalten war, man habe die Distanz »überwunden«, ergibt sich aus zahlreichen Quellen, in denen die Distanzen hervorgehoben und unmittelbar mit administrativen 65 Irtis fluvii tabula specialis a Tobolio (Spezialkarte des Flusses Irtysch von der Hauptstadt Tobolsk nach der Semipalatinsker Festung) (1734), in: Hintzsche, Monumenta Sibiriae, Blatt 3.  Siehe auch Brief Müller an Büsching, in: Hoffmann, Geographie, S. 52 f. 66 Steller, Briefe und Dokumente 1740, S. 12 f. 67 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspe­ dicii, S.  78–83. Siehe auch Michail Gvozdev Vysokoblagorodnomu gospodinu Flota Kapitanu Martynu Petroviču Španberchu, in: Efimov, Iz istorii russkich ėkspedicij na Tichom Okeane, S. 244–249. Vgl auch Postnikov, Learning. 68 Beispielweise in Instructions of Her Imperial Majesty, from the Admiralty College, to Mr. Joseph Billings, Captain Lieutenant of the Fleet, commanding the Geographical and Astronomical expedition intended for the North-Eastern part of the Russian­ Empire, in: Sauer, An Account, Appendix, S. 29–49, 29. 

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Schwierigkeiten in Verbindung gebracht wurden. Gar nicht so anders als in den Quellen aus dem 17.  und dem frühen 18.  Jahrhundert wird auch hier deutlich, mit welchen Problemen eine ehrgeizige Herrscherin zu kämpfen hatte: die Wildheit und Entfernung Ostsibiriens (pustota i otdalennost’ togo kraja)  waren ihr bekannt und wurden keineswegs unterschätzt.69 Tatiščev hatte bereits in den späten 1730ern die besondere Größe Russlands mit Stolz vermerkt und gleichzeitig von den Problemen gesprochen, diese Distanzen zu erfassen und präzise zu vermessen.70 Die als außergewöhnlich groß wahrgenommenen Distanzen brachten in innenpolitischer Perspektive somit besondere Probleme. Nicht zuletzt Montesquieus prominente Gleichsetzung von großen Imperien mit Despotien nahm hier eine wichtige Stelle ein – eine solche Argumentation spielte Katharinas Machtanspruch in die Hände, bildete aber gleichzeitig ein Problem für ihr Bemühen, sich möglichst klar von »asiatischen Despotien« abzugrenzen.71 Distanzen wurden von einem praktischen Problem zu einer philosophischen Größe und einem politischen Argument. Ein »so großes« (prostrannoe) Reich wie Russland müsse durch eine Hand regiert werden, um trotz der großen Distanzen schnelle und effiziente Entscheidungen zu erlauben.72 Auch im 18.  Jahrhundert sind Strategien zu beobachten, mit denen die Loyalität der Untertanen über weite Entfernungen hin gestärkt werden sollte. Am 3. Januar 1729 schrieb der Seekadett Čaplin, Teilnehmer der Bering-Expedition, in sein Logbuch, heute habe die Besatzung mit 3 Schüssen aus 17 Gewehren den Geburtstag der Kaiserin Anna gefeiert.73 Ein wenig großzügig ausgelegt, können solche Momente  – und vor allem deren gründliche Verzeichnung und damit Verewigung in Logbüchern  – als ein früher Versuch der Konstruktion einer modernen imagined community verstanden werden. Das in Benedict Andersons Modernitätsanalyse so zentrale Moment der Synchronizität74 wird auch hier deutlich: Menschen, die einan-

69 Sgibnev, Bunt Ben’jovskago, S. 531 f. Krašeninnikov, Opisanie I, S. 77. 70 Donošenie V. N. Tatiščeva v Pravitel’stvujuščii Senat po voprosam organizacii kartografičeskich rabot 30 Aprelja 1739 g., in: Tatiščev, Izbrannye raboty po geografii Rossii, S. 98–106, 101. 71 Montesquieu, De l’Esprit des lois, S. 243. 72 Nr. 12949, 30. 7. 1767. Nakaz Komissii o sostavljenii proekta novago Uloženija, in: PSZ XVIII, S. 192–280. Glava II, Nr. 9 und 10.  73 Fedorova, The journal, S. 170. 74 Anderson, Die Erfindung der Nation.

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der nie begegnen werden, die weit entfernt voneinander leben, teilen doch ein gemeinsames Wissen und ein gemeinsames Schicksal. Dabei ist es im Russländischen Imperium – wenig überraschend – der Herrscher oder die Herrscherin, die den Fluchtpunkt von Gemeinsamkeit über große Distanzen hinweg schaffen. Ebenfalls bei Čaplin werden auch präzise die Momente verzeichnet, in denen die Expedition vom Tod Peters I. und zwei Jahre später seiner Nachfolgerin Katharina I. erfährt: »7. Januar 1725: Am Morgen, 20 verst von Vologda entfernt, erfuhren wir [durch einen Boten] vom Tod Seiner Kaiserlichen Majestät Peters des Großen«,75 und zum »3. Oktober 1728: Am Morgen erreichte der Kapitän Ključi mit all seinen Dienstleuten und befahl allen, sich zu versammeln. Als alle zusammen­ gekommen waren, wurde ein Manifest verlesen sowie ein Erlass seiner Kaiserlichen Majestät Peters II. des Selbstherrschers von Russland. Es vermeldete den Tod der Großen Kaiserin Katharina I. und die Thronbesteigung durch Seine Kaiserliche Majestät Peter II.«76 Die genaue Benennung von Ort und Zeit ist auf verschiedenen Ebenen von Bedeutung: Sie schafft rechtliche Eindeutigkeit, macht die Signifikanz der Bindung an der Herrscher auch über weite Distanzen hinweg deutlich und fungiert schließlich auch als durch ein gemeinsames Erfahren und Erleben Gemeinschaft stiftendes Moment. Politische Zäsuren und möglicherweise auch emotionale Brüche sollten überall im Imperium bekannt gemacht und als signifikant erfahren werden. Ähnlich wie im Moskauer Reich konnte das Distanzargument auch im 18. Jahrhundert in verschiedene Richtungen ausgelotet werden. 1758 schrieb Fedor I. Sojmonov über die Probleme mit der Passbürokratie und bat um Nachsicht – za velikoju otdalennostju tamošnich mest.77 Ähnlich baten auch Grigorij Šelichov und später seine Witwe Natal’ja wiederholt um Ausnahmegenehmigungen und besondere Entscheidungskompetenzen  – stets mit dem Argument, die Distanzen zwischen Nordostsibirien und St. Petersburg sei zu weit, und das Einholen einzelner Genehmigungen würde ganz einfach zu lange dauern. Šelichova schrieb 1798 an den Präsidenten des Handelskollegiums: 75 Fedorova, The journal, S. 19. 76 Ebd., S. 166. 77 Report Sojmonov, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 306–311.

Distanzwahrnehmungen im 18. Jahrhundert

»Ich bitte Sie um die Erlaubnis, die Wälder nahe Ochotsk zu nutzen, ohne die Erlaubnis des Admiralkollegs einholen zu müssen. Dies ist sehr wichtig, denn ein Brief braucht fünf Monate von St. Petersburg nach Ochotsk.«78 Noch 1803 erklärte Baranov die finanziellen Probleme der Kompanie unter anderem mit der Größe der zu kontrollierenden Gebiete (za velikosti učastkov),79 und in Bezug auf die Berechtigung der Kompanie, Arbeiter einzustellen, spielte die »weite Entfernung der betreffenden Gebiete« ebenfalls eine große Rolle.80 Distanzen als eher grundsätzliches Problem und die immensen Kosten ihrer Überwindung wurden beispielsweise von Heinrich von Füch ausführlich geschildert.81 In seinem Bericht über die Auswirkungen der KamčatkaExpedition auf die Bevölkerung Sibiriens spielt Distanz als Problem eine zentrale Rolle, und das in mehrfacher Hinsicht. Die weiten Entfernungen, welche die Expeditionen überwinden wollten, machten es notwendig, Verpflegung, Transportmittel und Arbeitskräfte von indigenen Bevölkerungsgruppen zu requirieren. Die langen Reisen, die von indigenen Arbeitern verlangt wurden, dauerten bis zu drei Jahre und zerstörten Familien und ganze sozialen Strukturen. Während Sven Waxell, der das gleiche Problem schilderte, die Reiseunlust der indigenen Helfer als Zeichen ihrer Rückständigkeit verstand und einen Kontrast zu den aufgeklärten, große Distanzen überwindenden Expeditionsteilnehmern deutlich machte,82 zeigte sich Füch 78 Natalia Shelikhova to Petr A. Soimonov, President of the Commerce Collegium, presented on October 7, 1798 (Memorial), in: Black, Natalia Shelikhova, S. 117–127. Siehe auch Zapiska G. I. Šelichova o privilegijach ego kompanii, in: Andreev, Russkie otkrytija v tichom okeane i severnoj Amerike v XVIII veke, S. 223–226. Dieser Bitte wurde tatsächlich, mit einem Hinweis auf die großen Entfernungen, in den Privilegien für die RAK entsprochen (1799 und 1821). Siehe Nr. 19233, 27. 12. 1799 Žalovannaja gramota Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, in: PSZ XXV, S.  923–925, 924 sowie Nr. 28. 756, 13. 9. 1821. O voznovlenii privillegii Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, in: PSZ XXXVII, S. 842–854, 845. 79 Soobščenie A. A. Baranova o tjaželom finansovom položenii kompanii, 15. 2. 1803, in: Pavlov, K istorii Rossijsko-amerikanskoj kompanii, S. 124–128. 80 Nr. 21705, 6. 8. 1805: O podtverždenii Rossijsko/Amerikanskoj kompanii, čtoby ona nanimala dlja otpravlenija na morskich sudach, takich tol’ko ljudei, kotorye imet’ budut ot Irkutskago Gubernskago Pravlenija semi-letnye pasporty, in: PSZ XXVIII, S. 972–975. 81 Vsepoddanejšie predloženija i izvestija, kasajuščiesja do Jakutov, Tungusov, i drugich v severnoj Sibiri Otdalennych, Rossijskoj Imperii pokorivšichsja jasačnych narodov, abgedruckt in: Glebov, Reguljarnoe policejskoe gosudarstvo. 82 Waxell, Vitus Berings eventyrlige, S. 63.

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ungleich kritischer gegenüber dem russländischen Ehrgeiz. Die KamčatkaExpedition sei teuer und destruktiv, und es müsse die Frage gestellt werden, ob der enorme Aufwand und die kaum zu überschauenden Opfer der Untertanen sich lohnten, ob ein Erfolg der Expedition überhaupt abzusehen, ja möglich sei. Füch nimmt sehr direkt Stellung: Er wisse sicher und wahrhaftig (podlinno), dass es nicht möglich sei, mithilfe einer solchen Expedition in Japan oder in einem anderen Teil  »der dortigen Welt« (tamošnego Sveta časti) territorialen Besitz zu erlangen oder Handelsbeziehungen zu eta­ blieren. Füchs Idealvorstellung von guter Regierung (Sergey Glebov spricht zurecht vom Ideal der Polizey)83 verlangt nach Überschaubarkeit. Füch betonte Distanzen; die Wortkombination k tamošnim otdalennym mestam gehört zu den meistverwendeten Formulierungen der Abhandlung. Dabei war die Größe des Imperiums selbst kein genuines Problem. Der Ehrgeiz aber, diese Distanzen zu überwinden, erschien gefährlich und das Verschieben von Menschen und Gütern, das Zerstören gegebener Ordnungen führte aus Füchs Sicht zu unüberwindbaren Schwierigkeiten. Beamte, Soldaten, Gefangene und Indigene bewegten sich über große Distanzen hinweg und brachten so die gegebene Ordnung durcheinander. Das Bestreben der Regierung, Distanzen zu überwinden, sei letztlich müßig. Aufgrund der wachsenden Ausbeutung flohen beispielsweise die Jakuten von ihren Wohnorten, vergrößerten so die Distanzen noch und machten eine Kontrolle und »gute Polizey« unmöglich. Füch formulierte keine expliziten Lösungs­ möglichkeiten, doch seine Abhandlung ließe sich zusammenfassen mit dem Appell, man möge sich mit den Distanzen arrangieren und nicht zu überwinden versuchen, was nicht zu überwinden sei. Außenpolitisch wurde die Größe Russlands im 18. Jahrhundert zu einem willkommenen Argument für geopolitisch begründete Machtansprüche. Lomonosov beispielsweise setzte 1763 die räumliche Größe Russlands mit einem daraus abzuleitenden territorialen Ehrgeiz in Bezug.84 Und während imperiale Größe zunächst große Distanzen und die damit verbundenen Probleme meinte, ergab sich außenpolitisch ein anderes Denkmuster. Denn die territoriale Ausdehnung Russlands bedeutete auch, dass die Geografen und Politiker des 18.  Jahrhunderts das Imperium in vorteilhafter Nähe zu bestimmten, interessanten Regionen sahen.

83 Glebov, Reguljarnoe policejskoe gosudarstvo. 84 Lomonosov, Kratkoe opisanie, S. 421.

Distanzwahrnehmungen im 18. Jahrhundert

Bereits im Jahre 1714 setzte Fedor Saltykov in seinem Konzeptpapier an Peter den Großen voraus, dass Russland praktische Vorteile und implizit auch gültige Ansprüche auf die Nutzung des Arktischen Meeres habe, und begründete dies mit der räumlichen Nähe. Saltykov argumentierte für die Suche nach und einen russländischen Anspruch auf eine Nordostpassage. Die weiten Distanzen, welche portugiesische, britische und holländische Schiffe zurücklegen mussten, wenn sie durch den Pazifik nach China, Japan und Indien fuhren, brachten große Gefahren und hohe Kosten mit sich. Eine kürzere Strecke durch die Arktische See dagegen wäre einfacher und bequemer, und »alle würden sie nutzen wollen«.85 Russland käme hier eine profitable Schlüsselposition zu. Die vermutete Passage grenze unmittelbar an das russländisch beherrschte Territorium an und könne so in Anspruch genommen werden; europäische Schiffe müssten für die Nutzung der Passage Zölle zahlen. In einem neuen, globalen Blick auf Geografie, Transportrouten und Wirtschaftsverbindungen wurden Distanzen – Nähe und Entfernung – und die damit verbundenen Transaktionskosten zu einem zentralen Argument für politische Planungen. Im 18. Jahrhundert wurden Distanzen also zu einem explizit diskutierten Thema. Das zunehmend territoriale Denken führte dazu, dass Distanzen vermehrt als Problem von Kontrolle und imperialer Einheit gesehen wurden. Ebenso aber hing die wachsende Territorialisierung mit der Denk­f igur zusammen, die bereits an anderen Stellen in diesem Buch als »Nischenkonzept« bezeichnet wurde. Russland wurde als Einheit gesehen, innerhalb derer Distanzen ein praktisches Problem bildeten. Es wurde aber auch als Einheit gesehen, die nach außen eine interessante Nähe zu bestimmten Regionen aufwies. Innerhalb der so bestimmten Grenzen sollte Russland seine Ansprüche stellen und durchsetzen. Neben dem Arktischen Meer gehörte auch das Nordpazifische Becken zu den mithilfe dieses Denkmusters reklamierten Räumen. Entfernung und Nähe bestimmten das Raumdenken des 18. Jahrhunderts auf grundlegende Weise.86 Allerdings kamen bereits recht früh im 18. Jahrhundert auch Ideen auf, welche diese Abhängigkeit vom Raum überwinden wollten: Allen voran waren dies die Pläne für russländische Weltumseglungen.

85 Saltykov, Izjavlenija pribytočnye gosudarstvu, S. 219. 86 z. B. Lomonosov, Kratkoe opisanie, S. 217. Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, S. ix.

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Bereits 1732 legte Graf Nikolaj Golovin seinen Vorschlag vor.87 Auch er bezog sich auf die Pläne für die Kamčatka-Expeditionen und beschrieb ausführlich die großen Distanzen  – die Wege, die Zeit und die Kosten  – auf welche sich das Imperium mit dem Unternehmen einließ. Golovin entwickelte einen Alternativplan: Zwei Schiffe sollten von St. Petersburg aus um Südamerika herum durch den Südpazifik »bis nach Kamčatka« segeln. Während, wie Golovin ausführlich darlegte, Bering für seine Reise sechs Jahre und vier Monate brauchen würde, könnten die Schiffe den Weg nach Kamčatka und zurück in elf Monaten zurücklegen. Mit der Idee, den Seeweg anstelle der Landroute nach Kamčatka zu benutzen, entwickelte Golovin ein anderes Distanzverständnis. Kären Wigens Argument, die Betrachtung des Meeres verändere zwangsläufig unsere Vorstellungen von Distanzen, findet hier eine passende Illustration.88 Die tatsächlich zurückzulegende Strecke spielte für Golovin eine deutlich geringere Rolle als andere Faktoren wie Mühe und Kosten. Vor allem aber setzte Golovin einen neuen Schwerpunkt, indem er den Faktor der Zeit ins Zentrum seiner Argumentation stellte, das Konzept der Eile. In geradezu gehetzter Rhetorik legt Golovin dar, Russland stehe im Wettbewerb mit anderen europäischen Mächten und müsse sich beeilen, nicht zurück zu fallen. Das möglichst schnelle Überwinden von Distanzen wurde hier zu einem entscheidenden Faktor im Wettbewerb der europäischen Reiche um die Aufteilung der Welt. »Inzwischen weiten die uns benachbarten Länder wie Schweden und Däne­mark ihren Seehandel aus und schicken junge Offiziere nach Ostindien und in andere weit entfernte Gegenden«.89 Macht, Geld und Wissen waren bei solch fernen Reisen zu erwerben. Wollte sich Russland einen Teil des Kuchens sichern, so sollte man sich tunlichst beeilen: denn wenn man auch nur ein Jahr warte (zamedlenjem tokmo o­ dnogo goda), verpasse ein weiterer Jahrgang junger Offiziere eine wertvolle Chance, Russland zu dienen und das Imperium voranzubringen. In zahlreichen In87 Predstavlenie general-inspektora flota vice-admirala grafa N. F. Golovina Anne Ioan­novne o dal’nejšem razvitii russkogo flota o sodejstvii ekspedicii V. I. Beringa (12. 10. 1732), in: Naročnickij, Russkie ekspedicii v pervoj polovine XVIII v, S. 113–116. 88 Wigen, Introduction, S. 12. 89 Predstavlenie general-inspektora flota vice-admirala grafa N. F. Golovina Anne Ioan­novne o dal’nejšem razvitii russkogo flota o sodejstvii ekspedicii V. I. Beringa (12. 10. 1732), in: Naročnickij, Russkie ekspedicii v pervoj polovine XVIII v, S. 113–116.

Distanzwahrnehmungen im 18. Jahrhundert

struktionen des 18. Jahrhunderts wird die Eile, das Nicht-Verharren, der rationale Umgang mit der Zeit, zu einer zentralen Forderung: ne meškaja.90 Zumindest in Bezug auf die russländische Elite ist die behauptete russische »kulturelle Präferenz für Langsamkeit«91 also in den Quellen nicht wieder zu finden. Krenicyns Instruktionen forderten unter anderem, er solle seine Aufgabe so schnell wie möglich erfüllen und sich keinesfalls irgendwo müßig aufhalten.92 Dieser »Geschwindigkeitsimperativ«93 der aufkommenden Moderne wird in Forschung wie in Quellen in überwältigendem Maße mit dem Problem der Distanzüberwindung in Verbindung gebracht.94 Die Überwindung oder gar Vernichtung von Zeit und Raum gilt als entscheidend, und die Vorstellung, die Welt müsse sich zwangsläufig verkleinern, wenn die Gesellschaften moderner werden, überzeugt intuitiv. Doch die Welt schrumpfte nicht nur und erschien kleiner; zur selben Zeit wuchs sie in der Wahrnehmung der Zeitgenossen auch. In Bezug auf die vielfach geschriebene Geschichte der Eisenbahn ist von vielen Autoren die »Verkleinerung« des Raumes diagnostiziert worden. Zahllose zeitgenössische Beschreibungen zeugen vom Eindruck, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »die Entfernungen verschwinden«.95 Doch ein paar Jahre zuvor, in den Erfahrungsberichten der russländischen Weltumsegler, gestaltete sich die Vorstellung von Raum und Zeit komplexer. Hier wurden Distanzen nicht nur verringert, sondern zunächst erst einmal gedacht und als »weit« konstruiert. Denn das imperiale Ausgreifen auf die Weltmeere schuf neue Distanzen, während es sie überwand. Die Berichte der ersten russländischen Weltumseglung von 1803 bis 1806 unter den Kapitänen Adam Johann­ Krusenstern und Jurij Lisjanskij, aber auch Zeugnisse der vielen weiteren Reisen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen relativ regelmäßigen Verkehr zwischen St. Petersburg und dem Nordpazifik etablierten, bil90 Pamjat’ jakutskim služilym ljudjam i morechodcam, o provedanii puti v Kamčatku i ostrovov, in: Timofeev, Pamjatniki II, S. 37–39. Zum Wandel des Zeitverständnisses seit Peter I. siehe allgemein Kusber, Beschleunigung, Bruch und Dauer. 91 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S.  126. Osterhammel bezieht sich hier  – wohl etwas pauschalisierend  – auf Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung, S. 192 und 222. 92 Instrukcija Admiraltejstv-kollegii kapitanu 2-go ranga P. K. Krenicynu o podgotovke i provedenii ekspedicii na Aleutskie ostrova, 26. 6. 1764, in: Fedorova, Russkie ekspe­ dicii, S. 78–83. Siehe auch Nr. 5775, 7. 6. 1731. O posylke v Moskovskuju Gubernijuvalovych meževščikov, in: PSZ VIII, S. 475. 93 Cvetkovski, Russlands Wegelosigkeit, S. 97. 94 Ders., Modernisierung durch Beschleunigung, S. 11. 95 Siehe z. B. Schenk, Die Neuvermessung, S. 13. Ders., Russlands Fahrt.

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den hier erneut einen Einschnitt in der Entwicklung und sollen deshalb auf Vorstellungen von Distanz analysiert werden.

6.4 Die ultimative Distanz: Weltumseglungen Zwischen Golovins Idee eines Seeweges nach Kamčatka und der ersten tatsächlich realisierten Weltumseglung unter russländischer Flagge im frühen 19. Jahrhundert hatte sich vieles geändert, aber die Grundidee blieb dieselbe: Es ging darum, bessere Mittel für das Zurücklegen einer überaus weiten Strecke zu finden. In sämtlichen Begründungen für das Unternehmen und auch für spätere Weltumseglungen spielt die Idee, der Weg über Sibirien nach Kamčatka und zu den amerikanischen Kolonien Russlands sei schlicht und einfach zu weit und gefährde somit die Profitabilität und letztlich die Existenz dieser mühsam errungenen Territorien, eine entscheidende Rolle.96 Weltumseglungen boten einen Schlüssel zur Lösung des Problems. Sie versprachen auch in wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und diplomatischer Hinsicht wichtige Resultate, entscheidend aber blieb doch vor allem die Idee, man verringere hier eine weite Distanz und gelange schneller zu seinem Ziel. Interessanterweise gesellte sich im 19.  Jahrhundert eine neue Sprachfigur zu diesem Diskurs, die betonte, dass es sich hier um Weltumseglungen handelte, um eine besondere Herausforderung von globalen Ausmaßen. Diese Reise beschleunigte die Kommunikation, doch sie bildete eindeutig keine Abkürzung, welche eine tatsächliche Verringerung der zurückzu­ legenden Strecke ermöglichte. Es handelt sich hier nicht um eine gewissermaßen symmetrische Zeit-Raum-Kompression.97 Anders als beispielsweise der Suez-Kanal, der ein halbes Jahrhundert später eine Linie bildete, die den Isthmus von Suez durchschnitt und die sichtbar kürzeste Verbindung zwi-

96 Krusenstern, Reise um die Welt I, S. vii, xvi. Lisjanskij, Putešestvie, S. I. Storch, Erste Reise der Russen um die Welt. Rezanov, Pervoe putešestvie Rossijan okolo sveta. Done­senie glavnogo pravlenija RAK Aleksandru I ob uchode iz Kronštata v krugosvetnuju ekspediciju korablja ›Borodino‹, in: Fedorova, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S.  73. A Dispatch from the Main Administration of the Russian American Company to Chief Administrator Matvei I. Muravev, concerning the supply routes to Kamchatka and to Okhotsk, 29. 4. 1820, in: Dmytryshyn, To Siberia and Russian America III, S. 326–328. Litke, Voyage autour du monde. 97 Zu diesem fast schon inflationär genutzten Begriff siehe u. a. Harvey, The condition of postmodernity.

Die ultimative Distanz

schen England und seinen indischen Kolonien schuf,98 zog die erste russländische Weltumseglung keine Linie der Abkürzung, sondern erschloss sich vielmehr einen neuen Raum. Mit dieser Raumerschließung wird zugleich die Konstruktion verschiedener Distanzkonzepte deutlich: ein mathematisch-navigatorisches sowie ein kulturelles. Dabei ist zwar festzustellen, dass die mathematische Distanz in den Schriften der Seeleute wie Krusenstern und Lisjanskij von stärkerer Bedeutung ist, während die mitreisenden Naturwissenschaftler und Passagiere sich mehr auf die Kategorie der kulturellen Distanz konzentrierten. Dies sind jedoch nur Tendenzen; eine grundlegende Unterscheidung nach Genre oder Personen ist nicht zu treffen. Vielmehr wird deutlich, in welch unterschiedlichen Formen Distanz, dieses entscheidende Moment der Weltumseglung, überhaupt wahrgenommen werden konnte. Begrifflich ist zu trennen zwischen einer eher auf das metrische bezogenen Entfernungsbeschreibung (razstojanie)  und der Bezeichnung für kulturelle Distanz, Isolation und Sehnsuchtsräume, die im Allgemeinen als daleko charakterisiert wurden. Welche Rolle also spielten Distanzen auf dieser Reise, die so sehr an der Problematik von »nah« und »fern« orientiert war? Raumerschließung bedeutete auch Raumbeschreibung und Raumvermessung: Zusätzlich zur Versorgung der amerikanischen Kolonien mit Waren und Konsumgegenständen hatten die Weltumsegler auch die Aufgabe, neue Inseln zu entdecken und alte geografische Angaben zu überprüfen, gegebenenfalls zu korrigieren. Man verstand sich nicht nur als Transportunternehmer, sondern mindestens ebenso sehr auch als Pionier und Entdecker. Die im 18. Jahrhundert entwickelte Konzeption der Distanzmessungen als Element eines präzisen Bezugssystems wurde deshalb intensiv fortgeführt. Krusenstern schätzte die Präzision der von ihm benutzten Mondtafeln sehr hoch: »der größte Schatz, den wir besaßen […] bestand in einer saubern Abschrift der neuen Bürgschen Mondstafeln […]. Es blieb unserer Expedition vorbehalten, den ersten Gebrauch von diesen Tafeln zu machen, die bis zum April dieses Jahres verbessert waren. Ihre bewundernswürdige Genauigkeit setzte uns in den Stand, unsere Länge bis auf wenige Minuten genau zu erhalten«.99 98 Dazu: Huber, Highway of the British Empire. 99 Krusenstern, Reise um die Welt I, S.  10. In der russischen Version findet sich diese Stelle nicht.

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Abgesehen von der Präzision im Detail war Krusenstern auch eine weitere Maßnahme zur Objektivierung der Distanzen wichtig: Er plädierte  – fast hundert Jahre vor der Internationalen Meridiankonferenz in Washington – für eine einheitliche Nutzung des Greenwich-Meridians. Der Bezugspunkt der Distanzmessung sollte global einheitlich sein, das präzise Bezugssystem auf eine einzige Achse konzentriert, und mögliche Übersetzungs- und Umrechnungsfehler sollten so vermieden werden.100 Von Distanzen ist auch häufig die Rede bei der Suche nach und der Beschreibung von Inseln im Pazifik. »Um 6 Uhr ließ ich alle Segel bis auf die Marssegel einnehmen, und da die Entfernung zwischen der Insel Uahuga und Nukahiwa nach der Arrow­ smithschen Charte, von der ich glaubte, daß sie mehr Zutrauen verdiente, als der Hergestsche […], 27 Meilen beträgt: so wandte ich, nachdem wir die Hälfte dieser Entfernung zurückgelegt hatten, nach Norden, wir fanden uns aber nach einer Stunde dem Lande so nahe, daß ich sogleich wieder nach Süden mußte umlegen lassen. Dies war ein Beweis, daß die Entfernung zu groß angegeben ist, welches auch unsere Aufnahme bestätigte. Sie beträgt von der Westseite der Insel Uahuga, bis zur Spitze Martin der Südost Spitze von Nukahiwa nur 18 Meilen.«101 Es waren diese unzähligen Distanzmessungen, die Kombination von astronomischen Beobachtungen, Reisezeiten, Kompassnavigation und Schätzungen, die letztlich zu einer vollständigen und zuverlässigen Vermessung der Welt führen sollten. Navigation sollte wie ein wissenschaftliches Experiment funktionieren, nachvollziehbar und zuverlässig wiederholbar sein. War es dies nicht,  – wurde also eine Insel nicht gefunden  – so wurde korrigiert und neu kartiert. Die vielen relativen Distanzen (von uns bis zum Punkt x) wurden eingepasst in ein objektives Koordinatensystem, um zusammengefügt ein objektives, globales Bild zu ergeben. Und es war dieses Koordinatensystem, das es den Seefahrern seit dem späten 18. Jahrhundert ermöglichte, die eigene Position »objektiv« und nicht mehr ausschließlich über die jeweilige Distanz zur Küste zu bestimmen, denn seit James Cook war die Welt (zumindest theoretisch) »a world of points connected back to the coordinate grid rather than to the coasts of continents.«102 100 Ders., Putešestvie I, S. i–ii. 101 Krusenstern, Reise um die Welt I, S. 118 f. Ders., Putešestvie I, S. 136. 102 Richardson, Longitude and Empire, S. 35.

Die ultimative Distanz

Dass Navigation und Vermessungsprozesse nicht so präzise und linear verliefen wie Krusenstern und Lisjanskij dies gern darstellten, wird aus den Tagebüchern des Offiziers Löwenstern deutlich, der nicht für die Publikation schrieb. Auf der Reise zum Kap Hoorn schrieb er: »Die Fehler unserer Uhren sind irregulair geworden. Durch das Mittel aus allen dreyen Chronometern bestimmen wir unsere Länge jetzt. Daher sind wir auch so sehr auf Monddistanzen erpicht« und stellte unumwunden fest: »Der Cours oder der Weg, den wir machen, ist ein immerwährender Zickzack«103 – auch das ein Problem für das Konzept der »Distanz«. Neben der mathematischen Dimension, die vor allem Präzision und Wissenschaftlichkeit ins Zentrum stellte, sind verschiedene Formen eines kulturellen Distanzverständnisses zu beobachten. Dabei fällt zunächst ein Spannungsverhältnis von »nah« und »fern« auf: Während die Weltumseglungen einerseits weite Distanzen möglichst profitabel und rational überwinden sollten, wurden doch in den Berichten Distanzen in sehr eindringlicher Weise betont und nachgerade konstruiert. Das Konzept der Weltumseglung, von den Zeitgenossen ebenso wie von späteren Generationen als herausragendes Ereignis für Russland gefeiert, impliziert bereits die Bedeutung von Distanzen: wer die Welt umsegelt, hat die ultimative Distanzerfahrung gemacht. Damit wurde Distanz zu einem Faszinosum und, anders als im Moskauer Reich und weitgehend noch im 18. Jahrhundert, zu etwas Positivem umgedeutet. Gern erwähnten die Teilnehmer in ihren zahlreichen Reiseberichten, dass sie zu denen gehörten, die »zum erstenmal unter russischer Flagge es wagten, eine so große Reise zu unternehmen«104 und erstmals den Äquator überquerten.105 Die Reisenden kokettierten geradezu mit ihrer Rolle als Pioniere; Löwenstern und Lisjanskij freuten sich diebisch darüber, dass die Besatzungen portugiesischer und britischer Schiffe es kaum glauben konnten, tatsächlich Russen am Kap Hoorn zu begegnen.106 Mit der ersten Weltumseglung durchbrachen die Teilnehmer bewusst etablierte Ordnungen und loteten neue Distanzen in einer globalen Raumhierarchie aus. Die Tatsache, dass die großen Entfernungen auf dem Meer und nicht etwa an Land zurückgelegt wurden, bot weitere Möglichkeiten der Dis103 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 123–125. 104 Kruzenštern, Putešestvie I, S. 2. Krusenstern, Reise um die Welt I, S. 17. 105 Lisjanskij, Putešestvie, S. 37. Langsdorff, Bemerkungen I, S. 22. 106 Lisjanskij, Putešestvie, S.  47. Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S.  77. Siehe auch Krusenstern, Reise um die Welt I, S. 49 f.

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tanzkonstruktion. Denn obwohl das zentrale Argument für die Ausrüstung und Finanzierung des Unternehmens davon ausging, dass eine Seereise rationaler und schneller sei als der »lange und beschwerliche« Landweg nach Kamčatka, wurde in den Berichten das Meer doch zu dem Distanzraum schlechthin. In Erwartung der »wichtigen und weiten Reise« antizipierte Langsdorff in klassischer heterotopischer Meereskonstruktion seine Situation auf See: »Abgeschnitten von der übrigen Welt, den Winden und Wellen Preis gegeben, und von nun an die Aussicht wenigstens 6 bis 8 Monate lang, in jeder Stunde von Eltern, Geschwistern, Anverwandten, Freunden, kurz, von allem was uns lieb und theuer ist, immer weiter entfernt zu werden.«107 Meer meinte hier also Distanz, und Distanz stand wiederum für Abgeschiedenheit und Einsamkeit sowie für einen langen, kaum zu überschauenden Zeitraum. Die Weite des Meeres wurde dabei kontrastiert mit der Enge des Schiffes. Wir erfahren Genaues über den täglichen Tagesablauf, über die Anordnung der Kabinen und Schränke und die Methoden, sich zu beschäf­ tigen, wenn »man täglich nichts als Wasser und Himmel sieht«.108 Weite Distanzen wurden somit synonym gesetzt mit Isolation. Dies erinnert einerseits an die Erfahrungen, die in den Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts geschildert wurden. Schwierigkeiten der Kommunikation über weite Distanzen waren bereits im Moskauer Reich von großer Bedeutung. Andererseits ist hier aber doch ein deutlicher Wandel festzustellen. Denn während Herrschende und Untertanen des 17.  und 18.  Jahrhunderts die­ administrativen Kommunikationswege zwischen einem politischen Zentrum und der imperialen Peripherie beschrieben, war die Konstellation nun eine andere. Nun ging es mit größerer Betonung um eine kulturelle oder auch zivilisatorische Distanz, um den Gegensatz zwischen einem von Organisation und Bildung charakterisierten Zentrum einerseits, und entfernten Standorten, die von absoluter Fremdheit bestimmt schienen, andererseits. Das kulturelle Zentrum wurde dabei häufig in St. Petersburg verortet, oft aber allgemeiner als europäisch definiert: die Prämisse und zugleich das Resultat dieser Distanzbeschreibungen war eine enorm eurozentrische Perspektive auf die Welt. 107 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 5 f. 108 Ebd., S. 6. Siehe auch Chamisso, Reise, S. 31 f.

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Die umfassenden ethnografischen Aufzeichnungen Langsdorffs sind reich an räumlichen Metaphern, welche die große Distanz betonen (»weit entfernte Nationen«)109. Dabei wurden kulturelle Divergenzen räumlich und zeitlich qualifiziert. Langsdorff setzte beispielsweise die »gänzliche Isolation« der Osterinseln wie selbstverständlich mit kultureller »Rückständigkeit« gleich110. Hier ist sowohl die aufklärerische Vorstellung von einer einheitlichen, in Stufen hierarchisierten Menschheit zu erkennen als auch ein lineares, auf Evolution ausgerichtetes Zeitkonzept, in dem räumliche Distanz konstruiert und zugleich verdrängt wurde. Denn einerseits wurden Isolation und Entfernung zu den zentralen Eigenschaften einer Region bzw. eines Volkes gemacht. Andererseits aber ist zu beobachten, wie, um mit Doreen ­Massey zu sprechen, Raum in Zeit umgerechnet wurde.111 Fremdheit wird nicht wirklich zugelassen, sondern in einen zeitlichen Abstand  – und damit in eine relative, durch Bildung und Zivilisierung zu überwindende Distanz – transferiert.112 Langsdorff beschrieb die Welt, indem er Nukuhiva, Afrika, Brasilien und das antike Griechenland miteinander in Bezug setzte. Distanz verlor somit ihre absolute Bedeutung, denn »mit der Zeit« sei mit einem Aufholen und einer Angleichung, einer Überwindung der Distanz zu rechnen. Der Distanzbegriff passt in seiner Ambivalenz damit hervorragend – und nicht allzu überraschend  – zur Zwiespältigkeit der Aufklärung. Im 18. Jahrhundert wurden »Andere« als »anders« definiert, um zugleich in ein evolutionäres System des zivilisatorischen Aufstiegs eingeordnet zu werden, mit dem sie potentiell ihre Position des »anderen« verlassen konnten. Und entsprechend beschrieb Langsdorff das Interesse der Reisenden, als man sich den Osterinseln näherte. »Die Geschichte dieser im großen Weltmeer gänzlich isolierten Insel, und die auffallenden Veränderungen, die sie in kurzer Zeit muß erfahren haben, sind äusserst merkwürdig.« Es wurden »alle Reisebeschreibungen der Seefahrer, welche diese Insel besucht haben, […] herbeygeholt; sie machten uns neugierig den jetzigen Zustand 109 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 99. 110 Ebd., S. 73. 111 »convening of space into time«: Massey, For space, S. 5. Siehe auch Agnew, Time into Space. 112 Zu den Nuancen von Distanz und Andersartigkeit siehe auch Münkler, Erfahrung des Fremden, S. 150.

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mit dem ältern zu vergleichen und zu beobachten, ob sich die unglücklichen Einwohner durch die Geschenke, die La Perouse zurückgelassen hatte, in einer bessern Lage befänden.«113 Wo dieses Muster nicht funktionierte, wo also räumliche und kulturelle Distanz nicht kongruent schienen, war die Ordnung gestört; dies rief Erstaunen hervor. So notierte Krusenstern verwundert, »dass es wenige Städte in Europa giebt, deren geografische Länge mit einer ähnlichen Genauigkeit bestimmt ist, als die dieses kahlen Felsens auf einer der rauhsten unwirthbarsten Inseln unsers Erdballs.«114 Langsdorff bemerkte auf Teneriffa, »daß es sehr erfreulich ist, ein so artig gebautes Städtchen, unter einem so weit von uns entfernten Himmelsstrich zu finden.«115 Später, auf der Rückreise nach Europa, schrieb er: »Obgleich die Jakuten schon längst mit der russischen Nation in Verbindung stehen, so sind sie doch weniger mit der Sprache, den Sitten und Gebräuchen derselben bekannt, als die weit entfernteren Kamtschadalen und Aleuten; sie bezahlen der Krone eine geringe Abgabe, und leben ungestört in ihren Familien; ihre Waffen bestehen noch gegenwärtig, eben so wie ehemals, in Bogen und Pfeilen.«116 Kulturelle Distanz maß sich jedoch vor allem an der Möglichkeit  – bzw. der erwarteten Möglichkeit – zu kommunizieren. Distanz wurde hier also nicht so sehr als metrisch bestimmte Einheit definiert denn vielmehr als Ausdruck der Anbindung an oder aber Isolation von einem europäischen Kommunikationssystem. Dies ist nicht weiter verwunderlich. Bereits im 17. Jahrhundert stand der Begriff daleko für die Unmöglichkeit regelmäßiger und zuverlässiger Kommunikation. Im 18.  Jahrhundert beschrieben zahlreiche Reisende ihre entfernte Lage mit der Aussichtslosigkeit, Briefe und Nachrichten zu erhalten. Georg Wilhelm Steller beispielsweise no­ tierte 1740: 113 114 115 116

Langsdorff, Bemerkungen I, S. 73. Kruzenštern, Putešestvie I, S. 114 bzw. Krusenstern, Reise um die Welt I, S. 99. Langsdorff, Bemerkungen I, S. 8 f. Langsdorff, Bemerkungen II, S. 308.

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»Denn wir leben hier in der größesten Unwißenheit, und erhalten nichts, als was etwa ein kundiger oder Versoffener Soldat sagen kann. Es ist sogar die Nachricht wegen Eroberung der Wallachey hier noch nicht angekommen.«117 Zu den wichtigsten Themen auch der Briefe Natal’ja Šelichovas zählt das Warten: auf Briefe, Nachrichten, Waren.118 Und Baranov erhielt 1802 ein Paket mit neuen Instruktionen der RAK-Hauptverwaltung und Zeitschriften der letzten drei Jahre.119 Auf den Weltumseglungen nun wurde solche Isolation regelrecht zelebriert – dies nicht zuletzt ein Element des inzwischen hochentwickelten und stark konventionalisierten Genres »Reisebericht«. Die Reise der Neva und der Nadežda wurde nicht zuletzt als ein Heraus­ treten aus den imperialen und letztlich auch europäischen Zusammen­ hängen und Kommunikationsstrukturen begriffen. Dies funktionierte auf verschiedenen Ebenen. Krusenstern reklamierte für sich eine Kapitäns­ autorität, die mit zunehmender Distanz wuchs, und Rezanov beschwerte sich, »daß je weiter wir uns von Europa entfernten, der gebührende Respekt sich gegen ihm verlöhre.«120 Eher individuell als politisch machten sich einige Reisende Gedanken über ihre Entfernung von »zuhause«. Dabei betonten die Autoren einerseits die Asynchronizität, wenn sie beispielsweise die unterschiedlichen Jahreszeiten auf den beiden Heimsphären thematisierten: »Welch eine Verschiedenheit des Climats und der Lage, beynahe sind wir Antipoden, ich schwitze in meiner Jacke, und meine Brüder nehmen einen Pelz um, um auf der Sprengjagd nicht zu erfrieren.«121 Andererseits ist der starke Wunsch zu erkennen, Distanz zu überwinden, indem man Synchronizität imaginierte. Ob es der Geburtstag des Herrschers war, der gefeiert wurde, das zwischen Selbstverständlichkeit und Absur­dität 117 Steller, Briefe und Dokumente 1740, S. 16 f. 118 Black, Natalia Shelikhova. 119 Nastavlenie Glavnogo pravlenija RAK A. A. Baranovu o sootvetstvij ego dejstvij v Russkoj Amerike izmenenijam meždunarodnoj politiki, 18. 4. 1802, in: Bolchovitinov, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 34–37. Siehe auch Instrukcija A. A. Baranova svoemu pomoščniku I. A. Kuskovu, Novoarchangel’sk, 14 (26) oktjabrja 1808g., in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 344. 120 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 66. 121 Ebd., S. 85.

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schwankende Begehen von christlichen Feiertagen oder das Bilanzieren aus Anlass eines Jahreswechsels: Räumliche Distanz wurde vor allem deutlich (und deutlich gemacht) an festen temporären Punkten im Kontinuum der Reise. »Ich denke oder darf an keine Feyertage denken und arbeite wie ein Tagelöhner, meine lieben Brüder und Schwestern schicken sich zu Weynachten zur sellischen Fahrt an. Ich denke nur an Mühe und Arbeit, und ihr […] habt den Kopf mit Lustbarkeiten voll. […] Wenn ich mich unerwartet in dießem Augenblicke in Selli einstellen könnte.«122 Zwar war die Welt so klein geworden, dass russländische Seefahrer die Weihnachtsfeiertage im Südatlantik verbrachten. Doch war diese »eine Welt« auch groß genug, dass dasselbe Datum an verschiedenen Orten ganz Verschiedenes bedeuten konnte. Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit wurden ausführlich diskutiert. Die Reisenden verließen traditionelle Strukturen und traten in neue Kommunikationsmuster ein, die staunend beschrieben wurden. Vor Afrika, so berichtete Krusenstern bemerkenswert ausführlich, traf die Nadežda auf ein Schiff, das nach Osten steuerte. »Ich vermuthete, dass es nach Europa ging, und wollte daher diese Gelegenheit benutzen, nach Russland zu schreiben«, als sich jedoch herausstellte, dass das aus den USA kommende Schiff nach Batavia fuhr. Dennoch, und »ungeachtet seiner Reise nach der südlichen Hemisphäre behielt der­ Capitain meine Briefe mit dem Versprechen sie vom Vorgebirge der guten Hoffnung aus, wo er einlaufen würde, nach Europa zu befördern«.123 Tatsächlich, so betonte Krusenstern in einer Fußnote, erreichten die Briefe vier Monate später ihren Bestimmungsort, und Löwenstern hob die Besonderheit dieser Postverbindung noch hervor: »Das lächerliche bey der Sache ist, das das Amerikanische Schiff aus Baltimore nach Batavia segelt und unsere Briefe am Cap der Guten Hoffnung abgeben wird«.124 Als wäre die Vogel­fluglinie als absolute Distanz zwischen den Kanaren und St. Peters122 Ebd., S. 85, siehe auch S. 88 f. und 157. 123 Kruzenštern, Putešestvie I, S. 69 f. 124 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 59.

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burg nicht ausreichend, wird die tatsächlich zu überwindende Strecke noch vergrößert durch die bemerkenswerte  – und bemerkenswert routinierte  – Mobilität der Seemächte im frühen 19. Jahrhundert. In dieser Zeit vor der Etablierung regelmäßiger Nachrichtenströme durch Linienschifffahrt und Telegrafie gab es dennoch Kommunikationslinien, die sich über die Ozeane erstreckten. Die russländischen Weltumsegler nutzten »mit Gelegenheit«125 den  – nicht immer planbaren  – Kontakt zu anderen europäischen oder nordamerikanischen Schiffen, aber sie hinterließen auch Nachrichten bei westlichen Diplomaten in Überseehäfen. Keine zwanzig Jahre später ging das Marineministerium bereits wie selbstverständlich davon aus, dass solche Kommunikationsnetze vorhanden und nutzbar waren und instruierte Kapitän von Bellingshausen, unbedingt alle sich bietenden Gelegenheiten zum Verschicken von Informationen zu nutzen und zu diesem Zweck »stets Nachrichten bereitzuhalten«.126 Auch die indigene Bevölkerung wurde als Mittel für die Kommunikation der Europäer untereinander instrumentalisiert. Als sich beispielsweise die beiden russländischen Schiffe im Südpazifik aus den Augen verloren, hinterließ Lisjanskij bei den Bewohnern der Osterinseln Nachrichten für die möglicherweise nachfolgende Besatzung der Nadežda.127 Diese neuen Möglichkeiten einer weltweiten Kommunikation wurden dabei nicht ausschließlich als positiv wahrgenommen. Krusenstern machte sich Gedanken über das Verhältnis des Engländers Edward Robarts und des Franzosen Joseph Kabris, die beide auf Nukuhiva lebten und einander dort bekriegten: »Auch hier äußerte sich der angeborne Haß zwischen Eng­ ländern und Franzosen.« In der deutschen Ausgabe wurde er dabei noch deutlicher als in der russischen Edition und schrieb: »Nicht genug, daß die Ruhe des ganzen gesitteten Theils der Welt durch sie gestört wird, auch die Bewohner der kaum entdeckten Inseln dieses Ozeans, müssen den Einfluß der hassenswerten Rivalität dieser beyden Nationen fühlen, ohne nur ihren Ursprung zu kennen. Wie traurigh ist es nicht, daß selbst in dieser Entfernung, auf Inseln, deren Einwohner noch rohe Sitten haben, und deren Lebensweis so grausam zerstörend ist, wo 125 Ebd., S. 97 f, 106, 119. 126 »imet’vsegda v gotovnosti donesenie«. Instrukcija morskogo ministra, in: Bellins­ gauzen, Dvukratnye izyskanija, S. 67–71, 70. 127 Lisjanskij, Putešestvie, S.  93 f. Zu diesem Thema genauer Winkler, Eine handelnde Nation werden.

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allein schon das Bedürfnis der Selbsterhaltung zwey gesittete Menschen, wenn selbst die halbe Welt zwischen ihren Geburtsörthern läge, wie Brüder vereinen müsste; dass hier, sage ich, zwey Europäer sich hassen, und bis auf den Tod verfolgen müssen.«128 Krusenstern deutete hier die Funktion von Distanz und – aus seiner Sicht – Unwissenheit als Schutz vor schädlichen Einflüssen aus Europa an. Wenn er damit auch nicht unmittelbar einen »edlen Wilden« konstruierte, so imaginierte er doch die Möglichkeit einer »edlen Ferne«. Krusensterns Haltung unterschied sich deutlich von den Vorstellungen der russländischen Akteure des späten 18. Jahrhunderts, welche europäische Konfliktsituationen selbstverständlich und kommentarlos auf die weit entfernten Regionen des Nordpazifiks übertrugen. 1794 beispielsweise hatten Šelichov und Polevoj den Verwalter Popov darüber instruiert, wie er englischen und französischen Schiffen zu begegnen habe.129 »Die Franzosen«, so erklärten sie, seien, fast Piraten gleich, »zurzeit die Feinde aller« (nyne vsemu svetu zlodej) und deshalb unbedingt als Gegner zu behandeln. Anders als Krusenstern sahen Šelichov und Polevoj sich auf ihren Reisen durch den Nordpazifik nicht außerhalb ihrer gewohnten Welt und jenseits europäischer Kommunikationsstrukturen. Die Konstruktion einer so radikalen kulturellen Distanz, die Vorstellung von einer anderen Welt, in der differente Regeln herrschen sollten, ist im russländischen Kontext erst bei den Weltumseglern zu erkennen. Wenn bereits im 18. Jahrhundert das Element der Eile und der Wunsch, Distanzen möglichst schnell zu überwinden, eine Rolle spielten, so sollte dieses Konzept im 19.  Jahrhundert an Bedeutung noch gewinnen. In fast allen Berichten zur Weltumseglung wurde der Zeitfaktor zum Thema gemacht.130 Dies ist gut nachvollziehbar, lautete doch die Grundidee für die Reise, man wolle nicht nur eine bessere und bequemere, sondern vor allem schnellere Verbindung zu den amerikanischen Kolonien schaffen. Dennoch lohnt ein genauerer Blick auf das Tempo, denn es werden durchaus verschiedenen Motivationen für die Eile deutlich. Einmal war Eile häufig schlicht aufgrund der natürlichen und praktischen Gegebenheiten geboten. So mussten bestimmte Wegabschnitte entsprechend den Jahreszeiten zurückgelegt werden, ein Hafen musste vor Ein128 Kruzenštern, Putešestvie I, S. 137–139. Krusenstern, Reise um die Welt I, S. 122 f. 129 Iz predpisanija G. I. Šelichova i A. E. Polevogo pravitelju kompanii I. F. Popovu, 31. 7. 1794, in: Divin, Russkaja tichookeanskaja, S. 413–416. 130 U. a. Pribytie kapitana Bellinsgauzena i lejtenanta Lazareva ot Južnogo Poljusa.

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bruch des Winters erreicht werden oder man versuchte, voraussehbaren Stürmen zu entgehen.131 Nicht zu vergessen ist auch die zeitlich begrenzte Verfügbarkeit von frischem Trinkwasser und genießbarer Nahrung an Bord eines Schiffes.132 Darüber hinaus hatten die Nadežda und Neva Proviant für die russisch-amerikanische Kolonie geladen, der nicht verderben sollte133 – auch dies eine rational gut nachvollziehbare Motivation zur Eile. Abgesehen von solchen Gründen aber spielte auch purer seglerischer Ehrgeiz eine Rolle, ebenso wie Langeweile und der nicht weiter erklärte – und offensichtlich der Erklärung nicht bedürfende – Wunsch, Distanzen möglichst schnell zu überwinden.134 Langsdorff beschrieb die Gespräche der Passagiere, die sich häufig, wie sollte es anders sein, auf das Überwinden der Distanz konzentrierten: Man vertrieb sich die Zeit mit dem Berechnen der Monddistanzen und diskutierte beim Frühstück darüber, »wie weit man vorgerückt sey«.135 Die Langsamkeit und oft Langeweile des Schiffslebens kontrastierte mit dem unbändigen Wunsch nach schnellerem Fortkommen, mit dem ständigen Messen der eigenen Geschwindigkeit. Michelle Burnham hat die temporäre Dynamik in Reiseberichten des 18. Jahrhunderts untersucht und argumentiert mit einem inhärenten Kontrast von langsamem Fortkommen einerseits und der Hoffnung auf schnellen finanziellen Profit andererseits.136 Diese These kann durchaus noch erweitert werden, indem der generelle, nicht nur konkret ökonomisch motivierte Wunsch nach größerer Geschwindigkeit einbezogen wird, wie er im 18.  und zunehmen noch im 19. Jahrhundert deutlich wird. Denn das Bedürfnis nach Eile, wie es in diesen Texten deutlich wird, hatte eben nicht nur praktische Gründe, sondern war, ganz ähnlich den Quellen aus dem 18. Jahrhundert, auch dem Wunsch geschuldet, in einem europäischen Wettbewerb mithalten zu können. Löwenstern ironisierte dies: »Mit Ungeduld erwarten wir die Zeit, das wir Patagonien, das Feuerland und Cap Horn umsegeln werden, um auch unsern Senf zu denen Vielfältigen Gerüchten geben zu können«.137 Und auch Chamisso schrieb belustigt über die Eitelkeit der Seeleute, sobald es um das Tempo ging: 131 Langsdorff, Bemerkungen I, S.  67. Siehe auch Litke, A Voyage Around the World, 1826–1829, S. 2–4. 132 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 206. 133 Kruzenštern, Putešestvie I, S. 129. 134 Ebd., S. 121. Lisjanskij, Putešestvie, S. 13. 135 Langsdorff, Bemerkungen I, S. 6. 136 Burnham, Trade, Time, and the Calculus of Risk, S. 433. 137 Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 121.

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»Ich bemerke beiläufig, daß die Schnelligkeit seines Schiffes ein Punkt ist, in Betreff dessen die Aussage jegliches Schiffs-Kapitäns so unzuverlässig ist, als die einer Frau, die ihr eigenes Alter angeben soll.«138 Dieser Ehrgeiz der russländischen Seefahrer spiegelt durchaus die These Paul Virilios zum direkten Zusammenhang von Modernisierung und Geschwindigkeit.139 Anders als im 18. Jahrhundert hatte die Eile nun eine neue Eigendynamik und Selbstverständlichkeit gewonnen und erschien als Maßstab für Modernität, Zivilisierung und Erfolg: Das Reisen sollte schnell gehen  – die Frage nach dem Weshalb wurde nicht gestellt.140 Bevor er die Rückreise nach St. Petersburg antrat, wollte Langsdorff zwar recht gern noch im interessanten Ochotsk bleiben, doch wünschte er auch wie selbst­ verständlich eine »Beschleunigung« der Abreise: »Mit Ungeduld erwartete ich die Pferde«. Einen Grund gab er nicht an; er konnte davon ausgehen, dass seine Leser diese ganz und gar nicht ungewöhnliche Ungeduld ohne weiteres verstehen und nachvollziehen konnten.141 Erklärungsbedürftig und unbedingt zu legitimieren dagegen war ein nun als mangelhaft empfundenes Tempo. Krusenstern fühlte sich offenbar gezwungen, sein »langsames« Fortkommen auf dem Weg nach Japan sehr ausführlich zu erklären. Die notwendige Sorgfalt im Umgang mit der wertvollen Ladung habe ein gedrosseltes Tempo unumgänglich gemacht.142 Es gab auch Elemente, die gegen mangelnde Geschwindigkeit aufgewogen werden konnten, wie Komfort143 und  – insbesondere in Berichten von späteren Weltumseglungen  – ästhetische Erfahrungen und die Schönheit der durchreisten Landschaft. So schrieb Ferdinand von Wrangel in den 1820er Jahren: »Das Austreten mehrerer Flüsse diesseits und jenseits des Ural-Gebirges war unserem raschen Weiterkommen sehr hinderlich; doch wurden wir durch die Mannigfaltigkeit der daraus entstehenden Landschaftsbilder entschädigt.«144 138 Chamisso, Reise, S. 63. 139 Virilio, Speed and politics. 140 Lisjanskij, Putešestvie, S. 13. 141 Langsdorff, Bemerkungen II, S. 280, 291–293. 142 Extract of two Letters from Captain von Krusenstern, S. 3. 143 Langsdorff, Bemerkungen II, S. 319. Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, S. 20. 144 Engelhardt, Ferdinand v. Wrangel und seine Reise, S. 39.

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Wenn die Weltumseglung eine komplexe und konstruierende Auseinander­ setzung mit dem Phänomen der Distanz mit sich brachte, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese Erfahrung auf die Wahrnehmung Russisch Amerikas als Teil  des Imperiums hatte. Ilya Vinkovetsky argumentiert, mit der Weltumseglung habe »instantaneously« eine diskursive Annäherung von St. Petersburg und Sitka stattgefunden.145 Doch ist diese These in den Berichten der Weltumsegler nicht wiederzuerkennen. Langsdorff – der wohlgemerkt kein Untertan des russländischen Imperiums war  – war der einzige, der bei der Ankunft in Kamčatka zumindest andeutungsweise von einer Heimkehr sprach. Er imaginierte die Gefühle »der Russen«, die nach einer so langen Reise nun wieder heimischen Boden unter den Füßen fühlten. Krusenstern dagegen zog nur eine zufriedene Bilanz in Bezug auf Reisedauer und Zustand der Besatzung. In seinem Text – ebenso wie in den weiteren Quellen – finden sich keinerlei Hinweise auf eine emotional oder patriotisch gefärbte Konstruktion Russisch Amerikas als »Heimat«.146 Vielmehr erscheint die Region den Reisenden landschaftlich und ethnografisch ausgesprochen fremd, was eine Grundlage für die in den folgenden Jahren verstärkte systematische Kolonisierung und die damit einhergehende Konstruktion des »Anderen« im nordpazifischen Raum bildete. Insgesamt also kann für die erste russländische Weltumseglung festgestellt werden, dass Distanzen als neu empfunden, analysiert und konstruiert wurden. Diese Reise etablierte globale Maßstäbe, und die daraus entstehenden Berichte zeugen von verschiedenen Bezugssystemen. Das präzise Bezugssystem der globalen Navigation wurde weiter entwickelt und ergänzt. Aber auch das kulturelle Bezugssystem von »fortgeschritten« einerseits und »rückständig« andererseits erfuhr zahlreiche neue Einträge. Distanzen waren hier von entscheidender Bedeutung. Metrisch messbare Entfernungen und kulturelle Distanzen wirkten zusammen in einem dynamischen, zuweilen widersprüchlichen System, das Raum und Zeit miteinander verband. Distanz und Nähe, Synchronizität und Asynchronizität, und nicht zu vergessen die alles bestimmende und zunehmend selbstverständliche Eile, mit der man Distanzen überwinden wollte, bestimmten das Raumverständnis, wie es in den Reiseberichten deutlich wird.

145 Vinkovetsky, Circumnavigation, S. 192 f. 146 Siehe auch Löwenstern, Eine kommentierte Transkription, S. 198.

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6.5 19. Jahrhundert: Distanz in einer russländischen Kolonie Die Jahrzehnte zwischen der Einrichtung und Neustrukturierung der Russländisch-Amerikanischen Kompanie zur Jahrhundertwende und dem Verkauf der Kolonie an die Vereinigten Staaten 1867 waren von zahlreichen Problemen geprägt: von Schwierigkeiten wirtschaftlicher, administrativer und politischer Art.  Dennoch drängt sich beim Lesen der Quellen dieser Zeit im Vergleich mit dem vorhergehenden Jahrhundert das Adjektiv »etabliert« auf. Entdeckungen und Eroberungen standen nicht mehr im Zentrum des Interesses. Der Nordpazifik und die amerikanische Nordwestküste bildeten keine unbekannte Weltregion mehr, die man auf pragmatische Weise, mit primitiver Administration und häufig unter Einsatz des eigenen Lebens bereiste. Zu vieles hatte sich geändert, sowohl in Bezug auf die interne Organisation der Kolonien als auch im internationalen Vergleich. Noch 1802 war Baranov instruiert worden, vorsichtig zu sein, sollte er fremde Schiffe sehen, denn die große Entfernung (otdalennost’) Russisch Amerikas mache es unmöglich, die dortigen Vertreter aktuell über politische Wandlungen zu informieren.147 Diese Aussage zeigt nicht nur die Kommunikationsprobleme innerhalb des russländischen Reiches, sondern fordert auch einen Blick auf die imperiale Konkurrenz durch andere Mächte heraus. Denn die Autoren der Instruktion gingen wie selbstverständlich davon aus, dass französische und englische Seeleute durchaus über die aktuelle Lage in Europa informiert waren, während die über Land reisenden Russen wichtige Neuigkeiten nur mit deutlicher Verzögerung in diese Weltregion bringen konnten. Die Einbeziehung der Region in ein europäisches, maritim unterstütztes Informationsnetz einerseits und das russländische imperiale Kommunikationssystem andererseits waren somit zeitlich etwas verschoben, standen aber in enger kausaler Beziehung zueinander. Die zeitliche Distanz veränderte sich somit deutlich, als seit 1804 Schiffsreisen durch den Atlantischen und/oder Pazifischen Ozean nach Sitka und Kamčatka zwar nicht gerade alltäglich, aber doch möglich und relativ häufig geworden waren und sich die Versorgungs- und Kommunikationslage Russisch Amerikas deutlich verbesserte. Fraglos hatte hier eine Annäherung, eine Vereinfachung der Verbindungen, stattgefunden. Doch inwiefern ist eine solche für 147 Nastavlenie Glavnogo pravlenija RAK A. A. Baranovu o sootvetstvij ego dejstvij v Russkoj Amerike izmenenijam meždunarodnoj politiki, 18.4.1802, in: Bolchovitinov, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 34–37.

19. Jahrhundert: Distanz in einer russländischen Kolonie

die zeitliche Distanz gültige Feststellung zu verallgemeinern und auf die diskursive Ebene auszuweiten? Wie wurden Raum und Distanz im 19. Jahrhundert wahrgenommen? Hier sollen vor allem zwei Textsorten in den Blick gerückt werden: Dokumente, Briefe, Berichte und Instruktionen der Russisch Amerikanischen Kompanie einerseits, individuelle Reiseberichte und Briefe andererseits. Auf diese Weise werden unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Problem und dem Faszinosum der Distanz deutlich, abhängig von den Zielen und Erfahrungen der Akteure, aber auch von Textkonventionen und Traditionen. Die umfassende administrative Korrespondenz der Kolonialverwaltung spricht vergleichsweise selten von Distanzen. Entscheidend ist allerdings nicht so sehr die Häufigkeit als vielmehr der Kontext des Begriffes. Anders als in den vielfältigen Anträgen, Berichten und Petitionen, die im 18. und sehr frühen 19. Jahrhundert an die imperiale Regierung und Verwaltung gerichtet waren, bildet die Distanz nun ganz offensichtlich kein geeignetes Argument mehr für finanzielle oder administrative Unterstützung oder Privilegien. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Entfernungen zwischen St. Petersburg und Sitka nun als geringer wahrgenommen wurden oder dass, wie Andrej Grinev mit Bezug auf die Verhandlungen über den Verkauf Russisch Amerikas argumentiert,148 Distanz und geografische Abgelegenheit in offiziellen Dokumenten überhaupt keine Rolle mehr spielten. Als beispielsweise Matvej Muravev im Jahre 1820 zum neuen Hauptverwalter der Kolonie ernannt wurde, wurde der Text seiner Instruktionen eingeleitet mit der besonderen Anerkennung für seine Bereitschaft, den Dienst aufzunehmen in dieser »entfernten«, bedürftigen Region.149 Kirill Chlebnikov hob in seiner Biografie Baranovs dessen Verdienste hervor, indem er besonders betonte, dass nun Holz aus der »entfernten Wildnis Amerikas dem Vaterland diente« (iz otdalenych pustyn’ Ameriki).150 In diesen wie in wei-

148 Grinev, Russian Politarism, S. 247. 149 Instructions to Chief Administrator Matvei Muravev on Governing Russia’s Colonies and Continuing Exploration in the North of Alaska, 12. 1. 1820, in: D ­ mytryshyn, To Siberia and Russian America III, S.  322 f. Siehe auch Zapiska Glavnogo pravlenija Rossijsko-amerikanskoj kompanii, 23 dekabrja 1816, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 2, Tom 1 (9), S. 378–386. Predpisanie Glavnogo pravlenija Rossijsko-Amerikanskoj kompanii jereju A. P. Sokolovu o naznačenii ego v kolonii RAK , 7. 10. 1815, in: Fedorova, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 14 f. 150 Chlebnikov, Žizneopisanie, S. 22.

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teren Texten des 19. Jahrhunderts, die sich mit Problemen in dieser Kolonie auseinandersetzen, scheint die Erwähnung der Distanz zuweilen fast reflexartig auf.151 Auch war die Strukturierung der Kompanie fraglos darauf ausgerichtet, Distanzprobleme zu minimieren. Mit dem Hauptquartier in St. Petersburg, den Büros in Moskau, Irkutsk, Jakutsk, Kijachta, und Ochotsk sowie den Vertretungen in Kazan, Tjumen, Tomsk, Kamčatka und Gižiga schuf die Russisch Amerikanische Kompanie sich eine Reihe von Standorten. Von zentraler Bedeutung war es, eine Verbindung zwischen der nordpazifischen Region und St. Petersburg herzustellen, um die Kompanieinteressen wirkungsvoll zu vertreten. Im »Kalender« der Kompanie von 1817 wurde die Aufzählung der Büros durch präzise Distanzangaben ergänzt. Man hielt dabei offenbar vor allem die Entfernung des jeweiligen Büros von St. Petersburg und Moskau für entscheidend.152 Die Distanzen waren also nicht kleiner geworden und wurden auch nicht als geringer oder unproblematischer empfunden. Durchaus aber zeigt sich in vielen Quellen, dass man sie kleiner darstellen wollte. So beispielsweise in den Briefen Ludwig (Leontij) Hagemeisters. Zwischen den Zeilen seiner Instruktionen und Berichte sind viele Zeichen dafür zu erkennen, dass die weiten Distanzen zwischen Sitka und dem Hauptquartier der RAK in Irkutsk, mehr aber noch den zentralen Behörden in St. Petersburg und die daraus entstehenden Kommunikationsprobleme keineswegs zu vernachlässigen waren.153 Ganz ähnlich schrieb auch Lütke über die »incommodités et désagréments«, die vor allem durch die weiten Entfernungen und die nur spärlich funktionierende Postverbindung bedingt waren.154 Hage­ meisters sehr engagierte Politik betonte die Notwendigkeit, vor Ort rele151 Kaševarov, Čto takoe tapusk. Auch beispielsweise in: Nr. 28. 756, 13. 9. 1821. O voz­ novlenii privillegii Rossijskoj Amerikanskoj Kompanii, in: PSZ XXXVII, S. ­842–854, 850. 152 Istoričeskij kalendar’ Rossijsko-Amerikanskoj kompanii (1817 god), in: Pavlov, K istorii Rossijsko-amerikanskoj kompanii, S. 7–38. Zur Diskussion um die Verteilung der Büros siehe auch: Kopija poslannago 12go dekabrja 1819 ot Pervenstvujuščago Direktora nadvornago Svetnika i Kvalera Michaila Buldakova, in: Kollekcija Gennadija Judina, Digitalisat http://lcweb2.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field +%28NUMBER+@band%28mtfms+y0010132. (24. 9. 2014). 153 Beispielsweise: Instrukcija L. A. Gagemejstera komandiru sudna »Otkrytie« lejtenantu Ja. A. Poduškinu o plavanii k Sandvičevym ostrovam, in: Fedorova, RossijskoAmerikanskaja kompanija, S. 35 f. 154 Litke, Voyage autour du monde, S. 109 f. Vgl. auch Wrangell, Briefe aus Sibirien, S. 170.

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vante Informationen zu sammeln und wichtige Entscheidungen zu treffen. Auch wird verständlicherweise häufig auf die Notwendigkeit schneller Informa­tionsübermittlung hingewiesen. Doch wird dabei der Begriff der Distanz, der Entfernung, des daleko, von Hagemeister tunlichst vermieden. Der eigenen Agenda hätte er wohl geschadet. Im 19. Jahrhundert wandelte sich »Distanz« somit von einem Argument für mehr Unterstützung zu einem Gewicht, das die Gegner einer russländischen Kolonie auf dem amerikanischen Kontinent in die Waagschale werfen konnten. Die Distanz galt als ein Problem, und so argumentierte Dmitrij Zavališin 1865 ausgesprochen defensiv, die Angelegenheiten in Russisch Amerika seien keineswegs in schlechterem Zustand als diejenigen in »weniger weit entfernten Gebieten« (v menee otdalennych mestach) des Reiches, wie beispielsweise Kamčatka oder Ochotsk.155 In den Berichten des Priesters und Missionars Innokentij Venjaminov hingegen, die seine Reisen abseits der von der Russisch Amerikanischen Kompanie geschaffenen kolonialen »Zentren« schildern, wird »Distanz« niemals explizit thematisiert. Dasselbe gilt für die zahlreichen Briefe der Kompanie-Administration, die sich mit den Plänen und Möglichkeiten einer engeren Kooperation mit den spanischen Kolonien in Kalifornien ausein­andersetzten.156 Hier ging es um ökonomisch komplementäre Situationen, um den Überfluss von Nahrungsmitteln in Kalifornien und deren Mangel in Russisch Amerika. Das fast zu erwartende Argument, Kalifornien sei näher als das europäische Russland und aus diesem Grund ein geeignetes Gebiet zur Versorgungssicherung, kommt dagegen nicht vor. Dies kann interpretiert werden als diskursgerechte Vermeidung des Distanzthemas, möglicherweise aber auch als ein Zeichen dafür, dass sich die Raumvorstellungen generell änderten. Kalifornien gehörte nicht nur einem anderen Imperium an,  – dem spanischen  – sondern auch einem anderen Kontinent. »Nähe« zu einem solchen Gebiet in Kontrast zu dem weiter entfernten, aber »eigenen« Territorium, wäre in einem solchen neuen, territorialisierenden und auf dem Gedanken der kontinentalen Einteilung der Welt basierenden Denkmuster kein vorstellbares Konzept.

155 Zavališin, Rossijsko-Amerikanskaja Kompanija, S. 4. 156 Zapiska direktorov Glavnogo pravlenija Rossijsko-Amerikanskoj kompanii M. M. Buldakova i V. V. Kramera, 21.  Aprelija (3 Maja)  1808, in: Naročnickij, Vnešnjaja politika Rossii, Serija 1, Tom 4, S. 241–243. (siehe auch weitere Dokumente: S. 163 f., 235 f.)

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Ostsibirien, der Nordpazifik und später Russisch Amerika hatten niemals zu den »unproblematischen« Regionen des Imperiums gehört. Die Akteure in der Region hatten immer, wenn auch in unterschiedlich großem Ausmaß, um die Gunst, das Interesse und das Geld der Herrscher kämpfen müssen. Das geopolitisch plausible Argument der weiten Entfernungen und der daraus entstehenden Probleme nimmt auf der Wahrnehmungsebene aber zwei verschiedene, historisch variable Formen an: Während im 18. Jahrhundert »Distanz« ein Argument für mehr Unterstützung gewesen war, wurde sie seit dem frühen 19. Jahrhundert offensichtlich eher zu einem Argument gegen die Weiterführung und den Ausbau der kolonialen Politik im nordpazifischen Raum. Obwohl also die Distanzen zwischen Zentrum und imperialer Peripherie im weiten Osten nun einfacher zu bewältigen waren, wurden sie nicht automatisch als überwunden oder gar unproblematisch betrachtet. Die Vorstellungen von Zugehörigkeit hatten sich verändert. Das imperiale Verständnis hatte, wie bereits ausgeführt, inzwischen Veränderungen durchgemacht, die zu einer stärker territorialisierten, zunehmend auf Einheitlichkeit ausgerichteten Vorstellung geführt hatten. Wo im 17. und noch weit bis ins 18. Jahrhundert hinein Distanzen durchaus als praktisches, aber eben nicht als grundsätzliches, konzeptionelles Problem gesehen wurden, hing die Legitimität des Imperiums nun unter anderem auch davon ab, wie stark das Territorium als Einheit begriffen werden konnte. Dies ist jedoch keineswegs die einzige Form, in der Distanz im 19. Jahrhundert im russländischen Imperium begriffen wurde. Einerseits war die imperiale Politik zunehmend auf Planbarkeit ausgerichtet und versuchte, Distanz als Problem zu benennen und dieses Problem idealerweise zu lösen. Die Akteure der Russisch-Amerikanischen Kompanie gerieten auf diese Weise in Erklärungsnotstand. Gleichzeitig aber wurde Distanz zunehmend zu einem zentralen Element des imperialen Selbstverständnisses und zu einem Mittel kultureller Konstruktion, Vereinnahmung und  – Distanzierung. Für Michail Speranskij, persönlicher Berater der Kaisers, war Distanz in seinen Überlegungen zur Verwaltungsreform von 1809 ein zu behandelndes Problem ebenso wie ein imperiales Argument. Für die Konstruktion »des Anderen« im zunehmend kolonial geprägten Imperium wurde geografische Entfernung gern als Metapher für kulturelle Distanz benutzt; die Überwindung der Entfernung stand dann umso stärker für kulturelle und imperiale Leistungen. In Jeff Sahadeos Geschichte Zentralasiens insbesondere wird deutlich, wie Reiseberichte den langen Weg durch die Wüste betonten und auf diese Weise das koloniale

19. Jahrhundert: Distanz in einer russländischen Kolonie

Taschkent als ein Paradies erscheinen ließen. Das Durch­queren der Wüste, das Überwinden der Distanz trug das Signum einer rite de passage.157 Das Verhältnis von schwer beherrschbarer Distanz und territorialisierendem Ehrgeiz wird hier als ein Schlüsselelement russländischer (und in mancher Hinsicht russischer) Identitätsbildung im 19. Jahrhundert deutlich. Dieses Phänomen findet Parallelen in der Geschichte der USA: Walter Grünzweig hat bei seiner Analyse der Literatur des 19. Jahrhunderts einen »Distanzrausch« diagnostiziert. Grünzweigs Studie zeigt aber auch, dass diese nun positive Wahrnehmung von Entfernungen keine aufgrund der »ge­ gebenen« Größe sowohl Nordamerikas als auch Russlands selbstverständliche Konstante ist. Die Begeisterung für Distanz und Bewegung hatte sich auch in den USA erst im 19. Jahrhundert entwickelt, während das »amerikanische« Selbstverständnis des 18.  Jahrhunderts eher an Sesshaftigkeit und Ruhe gekoppelt war.158 Auch die Neukonzeptionierung von landschaftlicher Weite, welche so entscheidend zu russischen nationalen Selbstbildern beigetragen hat, gehört zu diesem Thema. Christopher Ely spricht in seinem Buch über die Landschaftswahrnehmung im 19.  Jahrhundert leider kaum von Distanz. Seine Stellungnahme, die Wahrnehmung und Darstellung der Landschaft habe mit »tatsächlichen« topografischen Gegebenheiten rein gar nichts zu tun,159 lässt sich dennoch in mancher Hinsicht auf die Untersuchung von Distanzen übertragen. Denn auch hier sind metrische Distanz, kulturelle Distanz und die Wahrnehmung von Distanzen als Problem nur bedingt mitein­ander verbunden. Ein Zitat des Seeoffiziers und Forschungsreisenden Lavrentij Zagoskin führt zurück zum Thema »Russisch Amerika« und enthüllt die Subjektivität von Distanzwahrnehmungen ein weiteres Mal: es ist, so schreibt er, »ohne weiteres möglich, Sitka als näher zu Petersburg zu rechnen als den Großteil unserer Provinzstädte«.160 Zwar nutzt Ilya Vinkovetsky dieses Zitat prominent für seine These, dass Russisch Amerika mit den Weltumseglungen dem Imperium deutlich näher gekommen sei als im 18. Jahrhundert, als der 157 Sahadeo, Russian colonial society. Siehe ebenso Morrison, Russian rule in Samarkand, S. 37. Ähnliches ist für die Krim des späten 18. Jahrhunderts festgestellt worden: Schönle, Garden of the Empire, S. 19. 158 Grünzweig, 1000 Meilen sind keine Entfernung, S. 193–198. 159 Ely, This meager nature, S. 27. 160 Zagoskin, Zametki žitelja togo sveta, S. 369 f. Die Artikel dieser Serie wurden erstmals 1840 und 1841 in der Zeitschrift Majak publiziert.

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Weg durch Sibirien die Reisenden und letztlich auch den Charakter der Kolonie entscheidend prägte: »Instantaneously, the ports of Russian America and Eurasia’s Pacific Coast, which had been previously thought of as part of the Russian ­Empire’s remotest frontier, came to be re-conceptualized in the eyes of the country’s thinkers and bureaucrats as places with better access to St. Peters­burg than the continental towns of Siberia and much of the rest of interior Russia.«161 Doch birgt gerade Zagoskins Text eher Hinweise darauf, dass man eben nicht nur von einer Verringerung der Distanzen sprechen kann, sondern dass die Distanzwahrnehmungen komplex, vielfältig, individuell und situationsabhängig waren. Bereits der Titel der Schrift Zametki žitelja togo sveta spielt mit der Vorstellung von einer anderen, entfernten Welt. Vor allem aber ist die Aussage vom zivilisierten, Petersburg nahen Sitka eingebettet in einen Text, der die räumliche Distanz zwischen Petersburg und Russisch Amerika sehr ausführlich betont und als rhetorisches Mittel nutzt, um Dramatik zu erzeugen und Interesse zu wecken.162 Die zitierte Stelle steht unmittelbar im Kontext von Ausführungen über Heimweh und über emotionale Distanz. Obwohl der Besucher Sitkas von »gebildeten Leuten« umringt ist, empfindet er doch von Zeit zu Zeit eine enorme Traurigkeit, Einsamkeit und Isolation. Ausgelöst wird dieses Empfinden großer Distanz, ganz ähnlich wie bei den Weltumseglern, vor allem durch das dynamische Verhältnis von Synchronizität und räumlicher Distanz. Feiertage und Jubiläen lassen den Kontrast von – nach wie vor – kaum zu ermessender Distanz einerseits und einer kulturellen Angleichung weit entfernter Regionen absurd und wenig greifbar erscheinen und bringen so zuweilen eine große Emotionalität mit sich.163 Auf diese Weise wird Distanz vor allem dann als ein emotionales Problem dargestellt, wenn die erlebten Entfernungen das Raum- und Zeitverständnis irritieren, wenn kulturelle und räumliche Distanz einander nicht entsprechen. Distanzwahrnehmungen hängen immer mit den Möglichkeiten der Kommunikation zusammen. Im 19.  Jahrhundert veränderten sich hier sowohl die Möglichkeiten als auch die Formen der Kommunika161 Vinkovetsky, Circumnavigation, S. 192 f. 162 Zagoskin, Zametki žitelja togo sveta, z. B. S. 328, 341, 358. 163 Siehe auch, ganz ähnlich: Litke, Voyage autour du monde, S. 99.

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tion, und damit auch die Erwartungen. Wenn das 19. Jahrhundert als eine Phase intensiver Raum-Zeit-Kompression beschrieben wird, so werden damit Zäsuren wie die Erfindung der Telegrafie, die Einrichtung regelmäßiger Überseeschiffsrouten, die Durchsetzung der Eisenbahn und der Bau von Suez- und Panama-Kanal erfasst. Ebenso werden hier auch bestimmte Wahrnehmungsänderungen, neue Vorstellungen von Zeit und Raum sowie eine generelle Beschleunigung des Lebens beschrieben. Doch bedeutet all dies weder, dass solche Veränderungen universale Wirkung hatten, noch, dass Distanzen in all ihren Variationen tatsächlich grundlegend verkürzt oder überwunden wurden.164 Eine faszinierende Gelegenheit für eine genauere Betrachtung dieses Problems bieten die Briefe Anna Furuhjelms an ihre Mutter. Distanz ist auch hier ein schillerndes Konzept, bestimmt von geografischen und kulturellen Kategorien, Anforderungen an zunehmend globalisierte Kommunikationsstrukturen sowie Geschlechterkonstruktionen. Anna Furuhjelm reiste 1859 als frisch angetraute Ehefrau des neuen Gouverneurs Russisch Amerikas Johan Hampus Furuhjelm von Helsinki über St. Petersburg, Dresden und London in die Karibik, weiter nach San Francisco und schließlich nach Sitka. Ihre Familiengeschichte und ihr Leben bis zur Hochzeit sowie selbstverständlich ihre Reise nach Russisch Amerika scheinen die junge Frau für eine Geschichte über Globalisierungstendenzen im 19. Jahrhundert geradezu zu prädestinieren.165 Sie war mehrsprachig aufgewachsen – leider beinhaltete ihre Erziehung jedoch nicht das Russische, – hatte Kontakte zu wohlhabenden adligen Familien in ganz Europa, war an lange Reisen gewöhnt und kaufte und verschickte auf routinierte Weise Konsumgüter aus verschiedensten Teilen der Welt.166 Auf ihrer Reise nahm sie deutlich Veränderungen von Kommunikation und globaler Mobilität wahr und schrieb beispielsweise aus San Francisco: »Another 10 years will, I suppose, make a still greater change, and people will settle here from all quarters of the globe.«167 Ganz ähnlich aber wie die Weltumsegler des frühen 19. Jahrhunderts machte auch Furuhjelm sich angesichts ihrer Reiselust nicht etwa weniger Gedanken über Distanzen, sondern konzentrierte vielmehr ihre 164 Für eine grundlegende Kritik am Beschleunigungsnarrativ siehe Stein, Reflections on Time. 165 Eine solche Geschichte könnte sich beispielsweise orientieren an: Rothschild, The inner life of empires. 166 Furuhjelm, Letters, S. 37 167 Furuhjelm, Letters, S. 71.

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Gedanken mit bemerkenswerter Intensität auf dieses Thema. Dabei wird Distanz hier vor allem als widerspruchsvoll, in ihren Konsequenzen schwer zu verstehen und zuweilen schmerzhaft dargestellt. Sitka erschien Furuhjelm einerseits als »das Ende der Welt«,168 andererseits aber auch als »our own, own home«169. Die sechs Monate währende Reise per Kutsche, Eisenbahn und Schiff, die Veränderungen des Klimas und das Erleben verschiedenster Kulturen machten einerseits die riesige Distanz zwischen dem heimischen Finnland und Russisch Amerika auf dramatische Weise deutlich. Andererseits aber imaginierte Anna den Weg auch als eine Art Heimreise.170 Es waren typische zeitgenössische Weiblichkeitsvorstellungen, die hier quer zur Wahrnehmung geografischer und kultureller Distanzen standen. Sitka sollte der Ort sein, an dem sie ihrer Bestimmung entsprechen und ihren »Hausfrauduties«171 gerecht würde – eine Familie gründen, ein Heim schaffen, wohltätig sein und den Kindern der indigenen Bevölkerung Bildung ermöglichen.172 Ganz ähnlich schrieb schon zuvor Elisabeth von Wrangell von »roth blühenden« Geranien und weiteren Zimmerpflanzen, die sie für andere kultivierte Nachbarn in Sitka gern in Pflege nahm.173 Dieses Bild von heimeliger Nähe und Geborgenheit stand in einem sehr ambivalenten Verhältnis zu der Erfahrung langer Reisen und unermesslicher Distanzen. Denn auch wenn Furuhjelm hart daran arbeitete, Sitka als ein Zuhause zu betrachten, sind doch ihre Briefe entscheidend bestimmt vom starken, schmerzhaften Empfinden der Distanz insbesondere zu ihrer Mutter. Distanz bedeutete hier erneut vor allem den Mangel an Kommunikation, bessere Kommunikationsmöglichkeiten waren umgekehrt gleichbedeutend mit einer geringeren emotionalen Distanz: »There is now such constant communication [from San Francisco] with Sitka (everyone here knows where and what Sitka is) it no longer appears to me to be out of the world.. .. So you see darling Mama, I feel actually much nearer you know (i. e. now), than when we were at Panama or in St Thomas.«174 168 Ebd., S. 71, 81. 169 Ebd., S. 76. 170 Ebd., S. 79. 171 Ebd., S. 52. 172 Ebd., S. 60, 73. 173 Wrangell, Briefe aus Sibirien, S. 185. 174 Furuhjelm, Letters, S. 71.

19. Jahrhundert: Distanz in einer russländischen Kolonie

Während die Weltumsegler Kommunikationsprobleme eher voraussetzten und erstaunt waren, wenn Briefe, Menschen und Informationen dennoch große Entfernungen überwanden, bewegte sich Anna Furuhjelm ein halbes Jahrhundert später in einem ganz anderen Diskurs. Sie erwartete funktionierende Kommunikationsstrukturen, beschwerte sich ausführlich darüber, wie lange Briefe vom »Ende der Welt« nach Europa brauchten und bemühte sich stetig um Strategien, um solche Probleme möglichst gering zu halten. So suchte sie ständig nach den besten Wegen, um Briefe so schnell wie möglich befördern zu lassen. Das tägliche Schreiben von Briefen – auch wenn diese nur einmal im Monat oder seltener abgeschickt werden konnten – war von zentraler Bedeutung für sie. So schrieb sie an ihre Mutter: »I could not leave you without a letter for Monday, knowing what happiness it will cause you«.175 Die Briefe waren stets auf dem gleichen Papiertypus geschrieben und wurden darüber hinaus nummeriert. Furuhjelm führte penibel Buch über ihre Korrespondenz in dem offensichtlichen Versuch, ein wenig Kontrolle über die ansonsten so schwierige und nach wie vor unzuverlässige Kommunikationssituation zu gewinnen.176 Durch Briefe, mehr noch aber durch das Verschicken von Zeichnungen und Fotografien versuchte Furuhjelm, räumliche Distanz zu überwinden und emotionale Nähe zu schaffen.177 Sie teilte auf sehr unmittelbare Weise Eindrücke und versuchte, die geografische Distanz und die daraus entstehende ungeheure Asynchronizität auszulöschen, indem sie Gleichzeitigkeit schaffte. So begann sie Briefe mit dem Gruß »Guten Morgen«178; Geburtstagswünsche schrieb sie nicht etwa vor dem Ereignis, damit sie die geliebte Mutter »rechtzeitig« erreichten, sondern vielmehr unmittelbar am Festtag selbst, der auch in Sitka begangen wurde.179 Gemeinsamkeit über Raum und Zeit hinweg empfand sie letztlich vor allem durch den christlichen Glauben: »[…] tears started to my eyes when I remembered the strange, distant country we are in – but O! I felt so sublimely happy at the assurance we were all united in one Faith one Hope – one Love! I seemed to be nearer you. We were all together!«180 175 Ebd., S. 26. Siehe auch S. 38. 176 Ebd., S. 60 f. 177 Ebd., S. 47, 109. 178 Ebd., S. 46, 66. 179 Ebd., S. 97. 180 Ebd., S. 74.

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Ein anderer Umgang mit der distanzbedingten Zeitsituation wird deutlich in den Briefen Kapitän Pavel Nikolaevič Golovins, die er 1860 auf seiner Reise nach Russisch Amerika an seine Familie schrieb. Wo Furuhjelm vor allem emotionale Distanz beklagte und diese durch Synchronizität zu überwinden versuchte, zeigte sich Golovin deutlich politischer und praktischer. Ihm ging es nicht um die Schaffung raumübergreifender Gemeinschaft, sondern um die Komplexität der Kommunikationsstruktur. »Sobald wir San Francisco erreichen, werde ich diesen Brief beenden und ihn mit dem ersten Schiff versenden, doch es wird ein wenig dauern, denn das Postschiff ist bereits in See gestochen, und das nächste wird nicht vor dem 31. Oktober (neuen Stils) ablegen. Meine Briefe werden nun weniger regelmäßig kommen als bisher. Es dauert mindestens drei Monate, bis ein Brief von Sitka nach St. Petersburg gelangt«.181 Im folgenden Brief erklärte er: »Nächste Woche geht ein anderes Postschiff über Panama und wird Euch meinen nächsten Brief bringen«.182 Und zuvor hatte er sich Gedanken über die Beziehung der Mobilität von Menschen und Informationen gemacht, wenn er schrieb: »Es ist sehr wohl möglich, dass Ihr Brief, den Sie nach San Francisco adressiert hatten, mit mir auf diesem Dampfschiff reist, und dass ich ihn nicht erhalte, bevor wir dort eintreffen.«183 So entstand ein komplexes zeitliches Raster, in welchem die Mobilität der Akteure einerseits und der Transport von Nachrichten andererseits ihre nicht immer aufeinander abgestimmten Rollen spielen. Auch sonst zeigte sich Golovin strukturierter und kritischer als F ­ uruhjelm. Er schrieb von der geplanten Telegrafenverbindung Russlands mit den USA und kritisierte die Nachlässigkeit der Russländisch-Amerikanischen Kolonie bei der Pflege der Postverbindung. Es sei unglaublich, dass eine koloniale Institution sich so wenig um eine permanente Verbindung von Zentrum und Peripherie sorge, so bemängelte Golovin und führte an, dass England selbstverständlich regelmäßigen Kontakt zu seinen Kolonien pflege. Russland sei 181 Golovin, Iz putevych zapisok P. H. Golovina, S. 162. 182 Ebd., S. 163. 183 Ebd., S. 150.

19. Jahrhundert: Distanz in einer russländischen Kolonie

hier zu wenig engagiert.184 Hier machte Golovin die zeitgenössisch sehr hohen Ansprüche und Pläne britischer Akteure zum Maßstab seiner Wertung. Dies war die Zeit, in der die Post nicht nur innerhalb Englands eine starke Demokratisierung und Verbreitung erfahren hatte. Das Erfolgsmodell der penny-post sollte nun globalisiert werden, mit einer oceanic penny post.185 Duncan Bell beschreibt unter dem eindringlichen Titel Dissolving Distance, wie die englischen Ansprüche gegen Ende des 19.  Jahrhunderts wuchsen und man tatsächlich an die Regierbarkeit einer homogenen weltweiten Nation zu glauben wagte.186 Solche Standards, entstanden durch technischen und administrativen Fortschritt oder auch nur  – letztlich nicht erfüllte  – hochfliegende Pläne, ließen Distanzen keineswegs nur schrumpfen, sondern für viele der beteiligten Zeitgenossen auch größer und störender erscheinen als je zuvor. Auch in Russland gab es ähnliche Ambitionen einer stärkeren Territorialisierung durch verbesserte Verkehrs- und Kommunikationswege. Diese bezogen sich jedoch zunächst nur auf das europäische Russland und weiteten sich langsam, in den 1860er Jahren, auf die östlichen und südlichen Peripherien aus. Russisch Amerika war von dieser Entwicklung, die sich so stark auf das neue Wunderwerk »Eisenbahn« konzentrierte, kaum berührt. Die Kolonie wurde so zunehmend zum marginalisierten »Ende der Welt«. Doch auch die wachsende Vernetzung der nordpazifischen Region durch einen zunehmen regelmäßigen Schiffsverkehr führte nicht einfach zu einer Überwindung der Distanzen. Bereits 1808 hatte Baranov in einem Bericht deutlich gemacht, dass die distanzbedingten Kommunikationsprobleme eher dramatischer und virulenter wurden, je stärker der Verkehrsausbau voranschritt. Die relativ einfache Situation der Entdecker und Unternehmer im 18. Jahrhundert schien ihm nicht mit der Komplexität der Lage der Kompanie im frühen 19. Jahrhundert vergleichbar. Die Neva lag nun ohne Aufgabe im Hafen von Novoarchangel’sk, solange das Hauptquartier keine weiteren Instruktionen und vor allem Informationen, speziell über die aktuelle Situation des Chinahandels, erteilte.187 Die Verwaltung einer entfernten Kolonie war nicht nur auf bessere und schnellere Verbindungen zum Zentrum angewiesen. Der beschleunigte Seeweg der Neva war nur sehr bedingt

184 Ebd., S. 173. 185 Hall, The Materiality of Letter Writing. 186 Bell, Dissolving Distance. Vgl. auch Huber, Multiple Mobilities. 187 Instrukcija A. A. Baranova svoemu pomoščniku I. A. Kuskovu, Novoarchangel’sk, 14 (26) oktjabrja 1808g., in: Baškina, Rossija i SŠA , S. 344.

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vorteilhaft für die Kolonien, solange nicht alle anderen Informationswege gleichmäßig gut ausgebaut und aufeinander abgestimmt waren. Wenn die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Forschung als Phase beschleunigter Mobilisierung und Globalisierung beschrieben wird, so sind diese Prozesse möglicherweise »global«, aber natürlich keineswegs »uni­ versell«. Wachsende Mobilität und bessere Vernetzung verbreiteten sich ungleichmäßig. Der technische Fortschritt schuf Knotenpunkte oder, wie Valeska Huber schreibt, hubs, welche die neue Mobilität strukturierten und Akteure wie Räume in neue Hierarchien einfügten.188 Diese Knotenpunkte waren zuweilen neu, und traditionelle Zentren spielten oft nur eine geringe Rolle in diesen Prozessen.189 Für Russisch Amerika bedeutete der globale Prozess von Beschleunigung, Vernetzung und Mobilisierung nach den Entwicklungen des späten 18.  Jahrhunderts eine erneute grundlegende Veränderung. Nachdem im späten 18. Jahrhundert das nordpazifische Becken von einer zone of ignorance zu einem Teil des Weltsystems – oder zumindest zu einer relativ intensiv befahrenen und besser an europäische Häfen angebundenen Region – geworden war, veränderte sich die Situation im 19. Jahrhundert erneut, insbesondere mit der verstärkten Territorialisierung des kontinentalen Russland seit den 1860er Jahren. Im imperialen ebenso wie globalen Vergleich betrachtet erschien Russisch Amerika »weiter weg« denn je.

188 Huber, Multiple Mobilities, S. 335 f. 189 Krajewski, Restlosigkeit, S. 42 f.

7. Russland und Amerika: Der Verkauf einer Kolonie

7.1 Einleitung: Fataler Fehler oder glückliche Fügung? Wohl das einzige Element der Zeit der Zugehörigkeit Nordwestamerikas zu Russland, das zu einem Teil allgemeiner, populärer Geschichtsbilder geworden ist, ist ihr Ende im Jahr 1867: Der Verkauf Russisch Amerikas an die USA .1 Die Idee kam erstmals – als eine Art Taschenspielertrick – während des Krimkrieges auf, als der russländische Vizekonsul in San Francisco die Kolonien vor Angriffen schützen wollte, indem er sie pro forma an ein US -amerikanisches Privatunternehmen verkaufte. Ein Vorhaben, das schnell scheiterte. Doch schon kurz darauf nahm die Idee neue und realistischere Konturen an. Nikolaj Bolchovitinov zufolge wurde der Gedanke erstmals ernsthaft im Frühjahr 1853 in einem Gespräch zwischen Nikolaj Murav’ev und Großfürst Konstantin erwogen.2 Im März 1857 formulierte der Großfürst dann sein Vorhaben, die dauerhaften Probleme mit Russisch Amerika durch einen Verkauf der Kolonie zu lösen. Er stieß mit seinen Plänen auf Zustimmung, aber auch auf Skepsis. Nach jahrelangen, vorsichtigen und von Geheimhaltung bestimmten Andeutungen und Vorgesprächen wurde schließlich am 30. März 1867 ein Kaufvertrag für das Territorium unterzeichnet. Am 9.  April folgte die Ratifizierung durch den Senat der USA, und am 6.  bzw. 18.  Oktober wurde Russisch Amerika offiziell den USA übereignet. Um diese Folge von Ereignissen ranken sich zahlreiche Anekdoten und Vermutungen: Der damalige Außenminister William H. Seward habe den Kongress bestechen müssen, um die 7,2 Millionen Dollar an Russland bezahlen zu können, auf die man sich geeinigt hatte.3 Die amerikanische Öffentlichkeit habe ihn mit Hohn und Spott bedacht und das neue Territorium 1 Auch in wissenschaftlichen Büchern, vor allem älterer Art, bildet der Verkauf häufig den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte Russisch Amerikas, so z. B. Manning, Russian Influence. 2 Bolchovitinov, Russko-amerikanskie otnošenija i prodaža Aljaski, S. 91. 3 Sehr bezeichnend ist die Darstellung der Verhandlungen als »Schmieren-Affäre« in der populärwissenschaftlichen Studie Littke, Vom Zarenadler zum Sternenbanner. Siehe auch Dunning, Paying for Alaska. Hixson, The myth of American diplomacy, S. 91.

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wahlweise als Seward’s Icebox, Seward’s Folly oder auch Johnson’s Polar Bear Garden bezeichnet.4 Umgekehrt sei durch den bald nach dem Verkauf einsetzenden Goldrausch deutlich geworden, welch fatalen Fehler Russland hier begangen habe. Sowjetische Historiker argumentierten traditionell, die USA hätten die Schwäche Russlands nach dem Krimkrieg ausgenutzt und so den Verkauf Russisch Amerikas erzwungen.5 Für nicht wenige russische populärwissenschaftliche Autoren war der Verkauf das Ergebnis einer Verschwörung in höchsten Kreisen.6 Überhaupt sei der ausgehandelte Kaufpreis niemals gezahlt worden. Und schließlich halten sich hartnäckig Theorien, denen zufolge es sich gar nicht um einen Verkauf, sondern nur um eine Vermietung für hundert Jahre gehandelt habe – die heutige Existenz des Bundesstaats Alaska sei somit nicht mehr als der Beweis für einen groß angelegten Betrug.7 Diese unterschiedlichen Narrative und Interpretationen sowie die aus ihnen entstehende Ratlosigkeit und zugleich der Wunsch nach klaren Urteilen in Bezug auf den Verkauf Alaskas nähren sich aus verschiedenen, einander durchaus widersprechenden Wahrnehmungen. Zunächst einmal erscheint die Idee des Verkaufs eines Territoriums inklusive seiner Bewohner aus der Sicht des frühen 21. Jahrhunderts nachgerade absurd. Mit einem Scheck – und der auf den russischen Botschafter Baron von Stoeckl ausgestellte Scheck wird gern und häufig abgebildet – bezahlt man ein Auto oder eine Waschmaschine, aber sicherlich kein staatliches Territorium. Auf der anderen Seite erscheint es vielen Autoren allerdings auch merkwürdig, dass Alaska einmal zu Russland gehört haben soll. Populärwissenschaftliche und journalistische Schriften formulieren aus amerikanischer Sicht gern die Frage, wie und warum »die Russen« überhaupt »hierher« gekommen seien.8 Aus dieser Perspektive erscheint der Verkauf als ein mög­ 4 Eine fantasievolle Auswahl von Zitaten und Witzen bietet James, The first scientific, S.  22–26. Ausführlich und differenziert: Welch, American Public Opinion. Ähnlich: Bailey, Why the United States. 5 Efimov, Očerki istorii SŠA . Naročnickij, Kolonial’naja politika. 6 Mironov, Rokovaja sdelka. Kremlev, Russkaja Amerika. Deutlich weniger dramatisch, aber im Kern übereinstimmend argumentiert auch Black, Russians in Alaska, S. 280. 7 Siehe dazu Agranat, Sudby Russkoj Ameriki sowie Znamenski, History with an attitude. 8 Siehe z. B. die Informationsseite von Fort Ross: http://www. fortrossstatepark. org/kidhistory. htm (15. 1. 2014). Zu Recht weist allerdings Sonja Luehrmann darauf hin, dass der »russischen« Vergangenheit in Alaska in letzter Zeit auch ein positiver, touristisch attraktiver Unterton der Fremdheit und Exotik verliehen wurde. Luehrmann, Alutiiq Villages, S. 2.

Einleitung: Fataler Fehler oder glückliche Fügung?

licherweise anachronistisches, aber letztlich doch gerechtfertigtes Mittel, um eine aus den Fugen geratene Weltordnung ein wenig zu heilen. Amerikanisches gehörte nun zu Amerika,  – dass es noch fast ein Jahrhundert dauern sollte, bis Alaska tatsächlich vollständig als Bundesstaat in die USA integriert war, spielt hier keine Rolle – und »die Russen« gingen zurück nach Russland. Und schließlich steht im Zentrum des Interesses immer wieder die Frage, weshalb Russland dieses Territorium, auf dem bald Gold und vor allem Öl gefunden werden sollten, denn überhaupt verkaufte. Eine dramatische Fehlentscheidung, so erscheint es vielen im Nachhinein, doch wie war sie in den 1860ern motiviert? Diese letzte Frage ist auch von Fachhistorikern auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet worden, zuweilen widersprüchlich, zuweilen in Ergänzung zueinander.9 Da sind zunächst die wirtschaftlichen Argumente: Der dramatische Rückgang der Profite aus dem Pelzhandel ist von entscheidender Bedeutung10 und findet seinerseits unterschiedliche Erklärungen. Aus ökologischer Perspektive muss schlicht und einfach der Populationsrückgang der Seeotter in Betracht gezogen werden.11 Hinzu komme das Versorgungsproblem Russisch Amerikas, das von Anfang an ein Handicap gebildet habe, niemals gelöst werden konnte und auf Dauer die Errichtung einer erfolgreichen Kolonie verhindert habe,12 ebenso wie die Schwierigkeiten bei der Anwerbung von Verwaltungs- und Arbeitskräften.13 Die Profite der Kompanie seien auch deshalb zurückgegangen, weil die britische und vor allem US -amerikanische Konkurrenz immer stärker wurde und es Russland lange nicht gelang, einen einfachen und praktikablen Zugang zum chinesischen Markt zu finden. Betrachtet man die administrative Seite, so argumentieren viele Autoren, die RAK habe seit jeher an gravierenden Mängeln in der Organisation gelitten, habe zu wenig Unterstützung von der Regierung erhalten und sei durch das ausbeuterische Kolonialsystem auf Dauer

9 Einen sicherlich nicht vollständigen, aber sehr systematischen Überblick zu den Erklärungsmodellen liefert Grinev, Russian Politarism. 10 Daniels, Russia, the roots, S. 69. Gibson, Russian Expansion, S. 130. Gerus, The Russian Withdrawal, S. 161. 11 Gibson, Russian Expansion, S. 130. Siehe auch Jones, Empire of Extinction. 12 Gibson, A notable absence, S. 103. 13 Andrews, Russian Plans, S. 92.

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nicht entwicklungsfähig gewesen.14 Grundsätzlich war Russisch Amerika niemals ein favorisiertes Projekt Petersburgs, und in den 1860ern wandte man sich endgültig anderen, lohnenderen Regionen zu, insbesondere dem landwirtschaftlich nutzbaren Zentralasien.15 Russisch Amerika verlor gewissermaßen seine Position als kolonialistisches Laboratorium des Imperiums an Turkestan.16 Die RAK, so einige Historiker, habe ihr kleines Imperium zu monolithisch und mit einer kurzsichtigen Konzentration auf dem Pelzhandel aufgebaut und sah spätestens seit den 1820er Jahren ihrem Untergang entgegen.17 Schließlich werden auch finanzielle Probleme, nicht zuletzt verursacht durch den kostspieligen Krimkrieg, und die Hoffnung auf einen willkommenen Geldregen durch die für Russisch Amerika gezahlten 7,2 Millionen Dollar ins Feld geführt.18 Die Betrachtung der politischen Situation fällt in der historischen Forschung folgendermaßen aus: die nordamerikanische Kolonie galt angesichts wachsender internationaler Konkurrenz als zunehmend gefährdet, insbesondere die USA gebärdeten sich immer aggressiver;19 der Krimkrieg hatte Russland nicht nur seine wirtschaftliche und politische, sondern vor allem auch eine gravierende militärische Rückständigkeit gezeigt.20 Die koloniale Laborsituation hatte sich nicht als erfolgreich erwiesen, und im Rahmen der Großen Reformen der 1860er Jahre sollte auch Russisch Amerika als wirtschaftliches, politisches und soziales Problem abgeschafft werden.21 Für die Zeit des Krimkrieges war Russisch Amerika aus einer Patt-Situation heraus zu neutralem Territorium erklärt worden;22 doch in einem neu-

14 Bolkhovitinov, The Sale of Alaska, S. 198. Manning, Russian Influence. Petrov, Deja­ tel’nost’. 15 Dean, Uses of the Past, S. 294. Geyer, Rußland, S. 341. 16 Brower, Turkestan, S. xi. 17 Gibson, Russian Expansion, S. 130. Dieses Argument der allzu großen Konzentration auf Pelze wird allerdings durch verschiedene Autoren relativiert. So schreibt bereits Okun’, in den 1850 sei der Teehandel die größte Einnahmequelle der Kompanie ge­ wesen: Okun’, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 217. 18 Jensen, The Alaska purchase, S. 10. Mazour, The Prelude, S. 315 f. Geyer, Der russische Imperialismus, S. 37. 19 Naročnickij, Kolonial’naja politika, und Efimov, Očerki istorii SŠA . 20 Gibson, A notable absence, S. 103. Okun’, Rossijsko-amerikanskaja kompanija. Bolchovitinov, Russko-amerikanskie otnošenija, S. 200, 202, 316. Stolberg, Auf zum Pazifik, S. 300. 21 Vinkovetsky, Why Did Russia Sell Alaska, S. 208. Geyer, Rußland. 22 Grainger, The first Pacific War, S. 32.

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erlichen Konflikt wäre die Region gegen britische und gegebenenfalls nordamerikanische Angriffe kaum zu verteidigen gewesen.23 Diese Perspektive rückt auch das Argument der Goldfunde in ein neues Licht: denn diese wurden von russischer Seite weniger als freudiges Ereignis denn vielmehr als Problem betrachtet.24 Ein Goldrausch, wie man ihn in den 1840ern in Kalifornien hatte beobachten können, hätte die russische Kolonie in Nordamerika unter Druck gesetzt und die Konkurrenz um das Territorium auf beträchtliche und gefährliche Weise erhöht. Ähnliches galt für den Walfang, dessen hohe Gewinne immer mehr Schiffe aus den USA in nordpazifische Gewässer lockten.25 Hinzu kommt die Betrachtung der diplomatischen Situation, für die viele Autoren das positive Verhältnis von Russland und den USA einerseits, die konfliktbeladene Beziehung Russlands zu Großbritannien andererseits hervorheben.26 Der Verkauf Russisch Amerikas gilt somit auch als Schachzug St. Petersburgs gegen die Londoner Ansprüche im Pazifik und in Nordamerika und als Versuch, weiteres Öl in die Feuer der britisch-amerikanischen Beziehungen zu gießen. Während die außen- und geopolitischen Aspekte meist in Ergänzung zu den wirtschaftlichen Problemen genannt werden, konzentriert sich die Perspektive auf innenpolitische Dimensionen eher auf einzelne Personen und deren Interessen. Die Rationalität solcher individueller Positionen wird dabei durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Insbesondere der Großfürst Konstantin Nikolaevič gilt als entschiedener Gegner der RAK und einer russländischen Kolonie in Amerika, dessen Argumente politisch und persönlich motiviert waren und nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmten.27 23 Dieses Argument erscheint zentral und wird angeführt u. a. von: Mazour, The Prelude, S. 313 f. Gibson, A notable absence, S. 103, Okun’, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, Bolchovitinov, Russko-amerikanskie otnošenija, S. 200, 202, 316; Daniels, Russia, the roots of confrontation, S. 69, Gerus, The Russian Withdrawal, S. 168 und 173, Vinkovetsky, Why Did Russia Sell Alaska, S. 209, Naročnickij, Kolonial’naja politika, Efimov, Očerki istorii SŠA . 24 Dazu bereits Golder, Mining in Alaska, S. 238. Außerdem Grinev, Russian Politarism, S. 250. Black, Russians in Alaska, S. 275. Okun’, Rossijsko-amerikanskaja kompanija, S. 230. 25 Kushner, Conflict on the Northwest coast, S. 122. 26 Jensen, The Alaska purchase. Chevigny, Russian America, S. 245. Merk, Manifest destiny, S. 229. Gerus, The Russian Withdrawal, S. 168. Bolkhovitinov, The Sale of Alaska, S. 198. Grinev, Russian Politarism, S. 252. 27 Grinev, Russian Politarism, S. 252. Grinev, Velikij knjaz’ Konstantin Nikolaevič. Black, Russians in Alaska, S. 281. Chevigny, Russian America, S. 231.

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Schließlich werden zuweilen Distanz und Klima ins Feld geführt, die einen kolonialen Erfolg Russlands auf dem amerikanischen Kontinent verhinderten. Insbesondere die Versorgungsprobleme, aber auch die politischen und militärischen Schwierigkeiten finden hier eine scheinbar objektive Erklärung – und nicht selten erscheint aus dieser Perspektive das ganze Unternehmen von Beginn an unausweichlich dem Untergang geweiht.28 Die einzelnen Argumente und ihre Bedeutung sind in ihren Details umstritten und häufig nicht vollständig überzeugend: die jeweiligen Forschungskontroversen können zurückgeführt werden auf unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und divergierende historiografische Ansätze sowie auf die Frage, welche Quellen grundsätzlich für relevant gehalten werden.29 Problematisch erscheint auch das häufig zu erkennende faktografische Bemühen, zwischen den »wahren« Gründen und den von den historischen Akteuren vorgebrachten Argumenten sauber zu unterscheiden.30 Hector Chevigny zog ein frustriertes Fazit: »A nation having small desire to sell did so to  a nation that was not eager to buy, their motives the belief they would please each other. History does not invariably make sense.«31 Das erscheint dann doch als Bankrotterklärung des Historikers. Ohne den Anspruch zu vertreten, die Problematik restlos aufzuklären, soll deshalb auf den folgenden Seiten nach einem »Sinn« in dieser Geschichte gesucht werden; nach einem Sinn bzw. einer Logik, die sich aus den zeitgenössischen Raum­ vorstellungen ergeben. Fraglos von großer Bedeutung waren die politischen und diplomatischen Auswirkungen des Krimkrieges, ebenso wie die wirtschaftlichen Probleme und der Rückgang des Pelzhandels. Prinzipiell problematisch  – und dabei doch so zentral für die Kontroverse – erscheint allerdings der Versuch, eine einzige, individuelle, gültige Erklärung zu finden. Die Idee des Verkaufs wurde über längere Zeit verfolgt, verworfen und wieder aufgegriffen. Es waren verschiedene Personen mit unterschiedlichen Interessen und Motivationen involviert, die nicht auf eine Erklärung reduziert werden können, die ihre Meinung änderten, sich engagierten oder aus der Debatte zurück-

28 Franklin, Playing the Odds, S. 34. Manning, Russian Influence. Gibson, Russian imperial expansion, S. 187. 29 Grinev beispielsweise akzeptiert nur Argumente und Begründungen für den Verkauf, die in »offiziellen« Dokumenten zu finden sind. 30 So zu finden bei Grinev, Russian Politarism, S. 252. 31 Chevigny, Russian America, S. 245.

Einleitung: Fataler Fehler oder glückliche Fügung?

zogen.32 Weiterführender als die Suche nach einer eindeutigen Begründung des Verkaufs erscheint deshalb die Frage danach, welche Umstände und Diskurse eine Veräußerung denkbar und möglich machten und sinnvoll erscheinen ließen. Im Folgenden soll auf der Basis der bekannten Diskussionen, der in den vorhergehenden Kapiteln erarbeiteten Thesen und der einschlägigen Quellen zum Prozess des Verkaufs eine bestimmte Perspektive in den Blick genommen und auf ihre Bedeutung überprüft werden: Die Perspektive der Räumlichkeit und die Frage danach, welche Raumvorstellungen – und vor allem welche Änderungen dieser Vorstellungen – für den Verkauf eine Rolle spielten. Diese Perspektive ermöglicht ebensowenig wie die anderen zirkulierenden Thesen eine eindeutige und abschließende Antwort auf die Frage, warum Russland seine nordamerikanischen Kolonien verkauft hat. Doch sie eröffnet die Chance, Erklärungsmodelle zu entwickeln, die den Verkauf in größere Zusammenhänge einbetten und zugleich die Bedeutung von Raum- und Ordnungsvorstellungen für konkrete politische Aktionen deutlich machen. Im Unterschied zu einigen anderen Ansätzen bleibt dieser eng an die Quellen gebunden und fragt nach den in der zeitgenössischen Debatte sichtbaren Motiven und Wertungen. Schließlich verfolgt das vorliegende Kapitel zweierlei Ansprüche: einerseits eine Ergänzung zur Debatte um die Gründe für den Verkauf Alaskas, andererseits eine Zusammenführung der Argumente dieser Studie. Entsprechend werden die folgenden Argumentationslinien nochmals aufgegriffen: Die Vorstellung von Linien, Flächen, Territorien und Grenzen; das Konzept von Besitz und daraus folgend die Möglichkeit des Verkaufs; die Bedeutung des maritimen Ehrgeizes und die Vorstellung von Russland als Landreich; Kontinente als metageografische Einheit sowie die sich wandelnden Vorstellungen von Distanz. All diese Aspekte spielten eine Rolle in den zeitgenössischen Debatten um Russisch Amerika bzw. Alaska. Im Folgenden wird zunächst das Konzept des Verkaufs ausführlich diskutiert, bevor in einem zweiten Abschnitt die verschiedenen, einander überlappenden, Aspekte der Raumwahrnehmung einer Analyse unterzogen werden.

32 Zum – letztlich entscheidenden – Meinungswechsel des Außenministers Aleksandr Gorčakov siehe Gerus, The Russian Withdrawal, S. 174.

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7.2 Besitz und Verkauf Die Tatsache, dass das gegenwärtige Alaska einst von Russland an die USA verkauft wurde, wirkt aus heutiger Sicht auf mehrfache Art und Weise anachronistisch. Ein besonders irritierendes Element scheint dabei der Verkauf an sich zu sein. Fassungslos schreibt ein Buchrezensent: »Wie kann ein so riesiges Land wie Alaska es ist, mit allen seinen Bewohnern so mir nichts, dir nichts für eine Handvoll Dollar den Besitzer wechseln? Und das nicht in finsterer Vorzeit, sondern im aufgeklärten 19. Jahrhundert. Einfach verscherbelt.«33 Die Tatsache, dass ein solches »ungeheuerliches« Vorgehen im 19. Jahrhundert sowohl für europäische Staaten als auch für die USA keineswegs ungewöhnlich war, ändert nur wenig an dieser heutigen populären Wahrnehmung. Bei einem Blick auf die Forschung fällt auf, dass die Problematik imperialer Landerwerbungen intensiv diskutiert wird, wenn es um die Enteignung indigener Bevölkerungsgruppen geht, wenn also das Verhältnis von Staat und Bürgern bzw. Untertanen berührt ist.34 Die postkolonialen und häufig bis heute nicht geklärten juristischen, kulturellen und ethischen Konflikte machen dieses Thema in der Tat zu einem faszinierenden Untersuchungsfeld. Die historische – und zugegebenermaßen deutlich enger gezogene  – Dimension, die sich auf das Verhältnis zwischen Staaten bezieht und nach den Wahrnehmungen und Begründungen der Territorialverkäufe fragt, ist bisher jedoch kaum konturiert worden. Dabei macht ein recht aktuelles Beispiel deutlich, welche politischen, ideellen und emotionalen Dimensionen bei diesem Thema ins Spiel kommen können, selbst wenn keine Konflikte zwischen staatlichen und privaten Besitzansprüchen abzusehen sind: Im Frühjahr 2010 berichteten Medien, deutsche Politiker hätten dem tief in der Krise befindlichen griechischen Staat empfohlen, »alles, was er hat, zu Geld machen, um seine Gläubiger zu bedienen«. Zu den veräußerbaren Gütern wurden nicht nur Firmen und Immobilien, sondern auch »unbewohnte Inseln« gerechnet. Von griechischer Seite folgten empörte Reaktionen – es war von »Demütigung« die Rede und 33 Wagner, Rezension zu »Vom Zarenadler zum Sternen Banner«. 34 Siehe beispielsweise Allen u. Castellino, Reinforcing territorial regimes. Banner, How the Indians.

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von Analogien zur deutschen Aggression gegen Griechenland während des Zweiten Weltkrieges.35 Ein juristisch durchaus möglicher politischer Schritt erregt also großes mediales Aufsehen und polemischen Widerspruch, was zeigt, wie fest die Vorstellung von territorialer Einheit und Unantastbarkeit als Grundlage staatlicher Souveränität im 21.  Jahrhundert verankert ist. Diese Einheit wäre nur durch Kriege zerstörbar; eine freiwillige Aufgabe aber ist zumindest in einem europäischen Diskurs nicht denkbar.36 Es ist vor allem die »nationale« Perspektive, aus der heraus der Verkauf staatlicher Territorien undenkbar erscheint. Dieter Langewiesche hat  –­ neben zahlreichen anderen Autoren – die Frage des Territoriums zu einem Dreh- und Angelpunkt seiner Definition neuzeitlichen nationalen Denkens gemacht: Die Unverletzlichkeit des Territoriums sei, so Langewiesche, »ein Glaubenskern des modernen Nationalismus«. Dies bedeutet auch, dass moderne Staaten hinsichtlich ihres Territoriums einem »in vor-nationalen Epochen« ungekannten Rechtfertigungszwang unterliegen.37 Im 16.  Jahrhundert konnte mit dem Satz Bella gerant alii, tu felix Austria nube der Territorialerwerb durch Heirat durchaus gleichberechtigt neben der kriegerischen Expansion stehen. Erwerb durch »Entdeckung« und die Konstruktion der terra nullius kamen außerdem hinzu.38 Verträge und Grundsätze des internationalen Rechts dienten dabei dazu, die Beziehungen und Konkurrenzen zwischen den Staaten zu klären und den Transfer von Territorien friedlich zu regeln. Mit dem modernen Nationalismus aber kam ein neues Bedürfnis nach Legitimation auf. Die freiwillige Abgabe eines Territoriums durch Heirat, Tausch oder Verkauf war in diesem Kontext nicht vorstellbar. Territorialer Verlust kann nur mehr das Resultat einer militärischen Auseinandersetzung sein – und bildet zugleich den wohl besten denkbaren Kriegsgrund.39 Dieses evolutionäre Erklärungsmodell, das eine Grenze zwischen vor-­ national und national oder auch, parallel dazu, vormodern und modern zieht, erweist sich dabei als nicht unproblematisch, wenn man über den euro­päischen Rahmen hinausblickt.

35 Siehe z. B. Hutterer, Der Unsinn sowie Der Onassis-Effekt. 36 Eine provokante Parallele zwischen territorialen Verlusten und physischen Schmerzen zieht Billé, Territorial phantom pains. 37 Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 23 f. 38 Darwin, Unfinished empire, S. 64. 39 Taylor, The state as container, S. 155.

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Denn es war gerade das – nationale und moderne – 19. Jahrhundert, in dem Mächte begannen, Territorien zu kaufen und zu verkaufen. Dazu zählte der berühmte Louisiana Purchase von 1803, mit dem die USA ihr Territorium verdoppelten, ebenso wie der Tausch der Insel Helgoland gegen Gebietsansprüche auf Sansibar im Jahre 1890. Dazwischen lagen weitere Fälle, beispielsweise die Veräußerung St. Barthelemys durch Schweden an Frankreich. In den 1830er Jahren machten die USA Mexiko mehrfach das Angebot, Kalifornien zu kaufen. Von russischer Seite wurde 1819 über die Möglichkeiten einer Aneignung Hawai’is nachgedacht – die beste Variante schien auch hier ein Verkauf durch den König Tamara zu sein.40 Dabei ist es natürlich kein Zufall, dass es sich bei all diesen Fällen um Kolonialpolitik handelte. Denn die historische Logik der Entwicklung eines staatlich gefestigten, im Idealfall national legitimierten und damit unverkäuflichen Territoriums gilt für das Konzept des Nationalstaates, nicht jedoch für Imperien. Die heterogene Struktur von Raum und Bevölkerung in Imperien machte eine äußerst flexible Expansionspolitik möglich und wohl auch notwendig. Der imperiale Raum wurde nicht als einheitlich aufgefasst, sondern erschien ohnehin fragmentiert und in sich abgestuft. Die Aufgabe einer Region war also denkbar, ohne dass damit ein geschlossenes, ideo­ logisch aufgeladenes, Identität stiftendes Territorium zerstört wurde. Handelt es sich bei den Verkäufen also nur um eine Art Nachklapp des vornationalen Zeitalters in der Moderne? Die Sache wird deutlich komplizierter, wenn der Dualismus von Vormoderne und Moderne nicht nur mit Imperium und Nation identifiziert, sondern auch nach seiner grundsätzlichen Bedeutung für Besitzkonzepte befragt wird. Aus der Perspektive der Eigentumsgeschichte sind verschiedene, zuweilen parallele, miteinander verflochtene, allerdings auch manchmal widersprüchliche historische Entwicklungen zu erkennen. Dabei berührt die Problematik so grundlegende Narrative wie dasjenige der Entstehung des modernen Staatswesens: Die Geschichte des neuzeitlichen Staates und damit auch seines Territoriums geht aus von einer zunehmenden Trennung staatlicher Souveränität einerseits und privater Aktionen andererseits. Dieses Narrativ ist zu bekannt, um hier ausführlich nacherzählt zu werden: als Schlagworte müssen an dieser Stelle Kantorowicz’ Diagnose der mittelalter40 Instructions from the Main Administration of the Russian American Company to Chief Administrator Leontii Hagemeister regarding Relations with the Hawaiian Islands, 12. 8. 1819, in: Dmytryshyn, To Siberia and Russian America III, S. 310–315, 311.

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lichen zwei Körper des Königs,41 die frühneuzeitliche Konzeption von Souveränität und Staatsraison sowie der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts ausreichen. Eine moderne Gesellschaft, so die Grundannahme, trennt Persönliches von Staatlichem. Wo dies nicht der Fall ist, gehen wir von unerwünschten Kollisionen und fehlerhaften Strategien aus. Dem entsprechend ist in der Neuzeit eine zunehmende Trennung von privatem bzw. bürgerlichem Recht einerseits und öffentlichem Recht andererseits zu beobachten. In Europa ist es die Französische Revolution, die als Einschnitt gilt für eine Definition von Privateigentum und der Abgrenzung von privat und öffentlich, und auch in Russland entstand unter Katharina II. das Konzept einer solchen Unterscheidung. Im Verlauf dieser Entwicklung erschienen also das staatliche Territorium einerseits und der private Grundbesitz zunehmend als prinzipiell divergente Konzepte und Realitäten, die unterschiedlich zu behandeln seien und sogar verschiedenen Rechtssphären angehörten. Kauf und Verkauf, Erbe und Schenkung als vom Zivilrecht geregelte Rechtsgeschäfte betrafen nunmehr nur den privaten Besitz. Hier kommt erneut Banners theoretische Trennung von »Souveränität« (für politische Herrschaft) und »Besitz« (für privates Eigentum) ins Spiel.42 Dieser Dualismus wurde bereits im Kapitel zu russländischen Besitztraditionen angesprochen und problematisiert. Die verbreitete, weil komfortable Strategie von Imperien, private Unternehmen mit Herrschaftsaufgaben in kolonialen Gebieten zu betrauen und so eine Zwischenform zwischen zivilrechtlicher und politischer Verantwortung zu schaffen,43 bildet ein Exempel, das der sauberen Trennung widerspricht. Ein anderes ergibt sich aus der Existenz so genannter Privatimperien, von denen der Kongo-Freistaat König Leopolds II. nur das bekannteste und berüchtigtste war. Die »Eroberung« Australiens im späten 18. Jahrhundert ließ in England Ansprüche auf Souveränität ebenso wie auf Eigentumsrechte entstehen – eine Verbindung, die noch im späten 20. Jahrhundert zu juristischen Debatten führte.44 Dass dies keine Anachronismen oder Ausnahmen waren, darauf verweist das Argument von Barbara Arneil: Sie bringt in ihrem Buch über John Locke and America die zentrale Eigentumstheorie der westlichen Welt in einen direkten Zusammenhang mit den Ideen und der Praxis des Kolonialismus.45 Die 41 42 43 44 45

Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Banner, How the Indians, S. 6–8. Siehe dazu Vinkovetsky, The Russian-American Company. Whatmore, Hybrid geographies. Arneil, John Locke and America.

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Naturrechtstheorie des individualistischen Eigentumsbegriffs hing eng mit der europäischen kolonialen Politik zusammen – nicht nur bei Locke, sondern auch bei Pufendorf und Grotius, welche ihre Rechtstheorien als Legitimation für Expansionsansprüche verwendeten. Ob Locke tatsächlich, wie Arneil argumentiert, seinen Eigentumsbegriff zu dem Zweck entwickelte, die britischen Ansprüche in Nordamerika zu rechtfertigen, muss hier dahingestellt bleiben. Doch die Meistererzählung von einem modernen, individuellen und grundsätzlich nicht-staatlichen Eigentumsbegriff in Abgrenzung zu vormodernen Konzepten erscheint aus dieser Perspektive zumindest fraglich. Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus folgender Überlegung: Die Globa­ lisierungsentwicklungen des 18. bis 20. Jahrhunderts sind häufig und treffend als Enteignungsprozesse beschrieben worden.46 Die Perspektive ist dabei vorrangig bestimmt vom historischen und politischen Interesse an der Missachtung und Zerstörung insbesondere indigener Nutzungs- und Besitzrechte. Dabei geht zuweilen unter, dass diese Neustrukturierung, oft Monopolisierung von Rechten nicht nur eine Zerstörung von Eigentum ist, sondern zunächst auch als Konzipierung von Eigentum begriffen werden muss: als Propertisierung von Gütern, die zuvor auf andere Weise zugeordnet waren. Hannes Siegrist hat für die Ära vom späten 18. bis ins späte 19. Jahrhundert hinein von einem »ersten großen Schub der Propertisierung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft« gesprochen. Die von Siegrist konstatierte »Entgrenzung des Eigentums« führte dazu, dass verschiedene Rechtsformen und Rechtsverhältnisse – die Herrschaft über Menschen, Informationen und Ressourcen  – in wachsendem Maße über den Begriff des Eigentums konzipiert wurden und sich somit das Eigentum zu einer »Leitinstitution moderner Gesellschaften« entwickelte.47 Die Geschichte Russisch Amerikas und ihres Verkaufs stützt eine solche Herangehensweise, die klassische Entwicklungsnarrative problematisch erscheinen lässt: Denn die im Kapitel zu Besitz und Raum dargestellte Entwicklung lässt genau diese Logik der Propertisierung erkennen. Im Laufe des 18.  und des frühen 19.  Jahrhunderts ist für die russländische Expansion nach Nordosten zu beobachten, dass sich aus einer zunächst als Herrschaft über Menschen konzipierten imperialen Praxis zunehmend die Vorstellung von territorialem Besitz entwickelte. Die Vorstellung von einem klar 46 Hall, Earth into property. Harvey, The »New« Imperialism. 47 Siegrist, Die Propertisierung, S. 15. Siehe auch Siegrist u. Sugarman, Einleitung.

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definierten (bzw. zu definierenden) Raum war hier von entscheidender Bedeutung; hinzu kamen Praktiken von Zeremonien und Benennungen. Obwohl die Kommunikation mit den indigenen Menschen nach wie vor eine Rolle spielte, ist doch deutlich zu beobachten, dass imperiale Herrschaft in wachsendem Maße als Besitz von Territorien verstanden wurde. Im späten 18. Jahrhundert wurden nicht nur Besitzzeichen verteilt; vor allem die Sprache in Berichten und insbesondere Instruktionen wandelte sich. Es war die Rede von der Erwerbung und Inbesitznahme von Territorien, die von nun an der Russländischen Krone zugehörig sein sollten. Es waren nicht mehr nur Menschen untertan; Land war nun eigen (sobstvennyj), wurde erworben und besessen. Territorialisierung ging also einher mit Propertisierung. Diese beiden Prozesse, üblicherweise gleichermaßen als Unterströmungen von sozialem Wandel und Modernisierung betrachtet, führten paradoxerweise unter anderem dazu, was der eingangs zitierte Rezensent so anklagend als »Ungeheuerlichkeit« und in einer modernen Gesellschaft unvorstellbar beschrieb. Denn Eigentum kann verkauft werden: eine Region wie Russisch Amerika, die so eindeutig einem Propertisierungsprozess unterlag, kann – auch wenn es im Einzelfall Diskussionen und Kritik geben mag – zum Gegenstand eines Rechtsgeschäftes werden. Dass diese Entwicklung im Russland des 19. Jahrhunderts durchaus nicht ohne Skepsis beobachtet wurde, zeigt die in einem Memorandum von 1860 formulierte Argumentation.48 Der Autor des Memorandums  – vermutlich Admiral Ivan Šestakov49  – thematisierte mögliche moralische Bedenken zum geplanten Verkauf Russisch Amerikas und wischte sie sogleich beiseite: Was in den Augen Europas merkwürdig und plump erscheinen mochte (hier ist die Rede von nelovkost’), sei auf dem amerikanischen Kontinent nicht nur üblich, sondern geradezu die Grundlage jeglicher Politik – »wie das Gleich48 Strast’k priklučenijam. Memorandum 7. 2. 1860, Library of Congress. Manuscripts Division. Washington, DC . Digitalisat des Manuskripts: http://frontiers.loc.gov/cgi-bin/ query/r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER+@od1 %28mtfms+i1003 (17. 2. 2014). Für ein Typoskript des Textes siehe Strast’k priklučenijam: A memorandum, unsigned, 7. 2. 1860, Annex No. 9, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, State Departments Records http://www. fold3. com/image/60231427/. (17. 2. 2014). 49 Die Autorschaft dieses unsignierten Memorandums ist umstritten. Seit 1920 folgten zahlreiche Historiker der Meinung Frank A. Golders und schrieben den Text dem Marineoffizier Andrej Alexandrovič Popov zu. Golder, The Purchase of Alaska. Nikolaj Bolchovitinov allerdings geht von der Autorschaft des Admirals Ivan Šestakov aus: Bolchovitinov, Russko-amerikanskie otnošenija, S.  116 sowie Bolchovitinov: Vozniknovenie proektov.

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gewicht der Mächte und göttliches Recht bei uns«.50 Auch amerikanische Beobachter machten eine »traditionelle« Skepsis der Russen in Bezug auf die Aufgabe von Territorien aus.51 Hier wird nicht nur die Dynamik von sich entwickelndem nationalen Territorialitätsverständnis einerseits und Propertisierung der Kolonien andererseits deutlich. Mit Šestakovs abschließendem Argument werden nochmals und sehr grundsätzlich das nicht unproblematische Verhältnis von privatem und kolonialem Eigentum augenfällig ebenso wie die bewährte Politik Petersburgs, die Russisch-Amerikanische Kompanie einerseits zu nutzen und sich andererseits in diplomatisch brenzligen Situationen von ihr zu distanzieren: Denn die mangelnde Eleganz eines Verkaufes könne ruhig die Kompanie auf sich nehmen. So betrachtet, erscheint der Verkauf eines Territoriums als ein genuin modernes Phänomen, das Ergebnis einer neuzeitlichen Entwicklung und somit konsequenterweise erst im 19. Jahrhundert anzutreffen. Diese Argumentation verläuft zugegebenermaßen quer zu den vieldiskutierten Thesen Andrej Grinevs, der in verschiedenen Texten dafür plädiert hat, die russische Geschichte generell und den Verkauf Russisch Amerikas im Besonderen mithilfe des Begriffes »Politarismus« zu konzeptualisieren.52 Russland als politaristisches System: gemeint ist damit eine Gesellschaft, in welcher Produktionsmittel ebenso wie die produzierenden Menschen einem System persönlichen Besitzes unterstehen. Dieser übergeordnete Privateigentümer war Grinev zufolge der Zar/Kaiser, der seine Rechte mithilfe der Staatsbürokratie durchsetzte. Grinev nimmt mit diesem Argument die sozialhistorische Debatte zur grundlegenden Charakterisierung des vorrevolutionären Russlands auf – als feudal, kapitalistisch oder sozialistisch – und setzt diese unmittelbar mit den kolonialen Ambitionen vor allem in Russisch Amerika in Bezug. Denn, so Grinev, es sei primär der Verkauf der amerikanischen Kolonien, an denen die Bedeutung seines Politarismus-Konzepts deutlich würde: Die prinzipielle Unvereinbarkeit von Politarismus und Kapitalismus sowie die Rückständigkeit, in die Russland auf diese Weise im Vergleich zu den 50 Sehr ähnlich argumentiert auch Copy of a personal note, Annex No. 12, Gorčakov to Alexander II, 12. 12. 1866, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, State Departments Records http://www. fold3. com/image/60231579/ (25. 2. 2014). 51 Diplomatic Correspondence relating to the Treaty of 1824 between the United States and Russia, S. 327 f. (Mr. Clay to Mr. Seward St. Petersburg 10. 5. 1867). 52 Grinev, Tuzemcy Aljaski, S. 76. Ders. Russian Politarism. Ders., Povlijal li politarism. Allgemeiner zum Politarismus-Konzept: Ders., Rossiia i politarism. Siehe auch Vinkovetsky, Why Did Russia Sell Alaska sowie Luehrmann, Russian Colonialism.

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USA und Großbritannien verfiel, habe letztlich das Ende Russisch Amerikas

unausweichlich gemacht. Betrachtet man aber Privateigentum als eine moderne Institution, dann erscheint der Verkauf Russisch Amerikas nicht als Konsequenz traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, die in Kontrast zu den Entwicklungen Westeuropas und der USA standen, sondern vielmehr als das Resultat neuzeitlicher Entwicklungen und einer Annäherung an den Westen. Der Kauf und Verkauf von Territorien war keine russländische Besonderheit, sondern ein Phänomen, das viele Charakteristika der internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert spiegelte. Zu diesen Charakteristika gehörte die bereits genannte Propertisierung von Machtbeziehungen, die einen Verkauf zunächst erst einmal überhaupt denkbar machte. Nachdem die Epoche der Entdeckungen weitgehend abgeschlossen schien, ging es nun darum, die Welt aufzuteilen, und »Besitz« war ein geeigneter Begriff, um diese Aufteilung zu konzeptualisieren. Darüber hinaus wird bei einer Betrachtung der genaueren Umstände solcher Verkäufe und der vorgebrachten Argumente auch deutlich, wie diese Aufteilung der Welt vonstatten ging, was also als wem zugehörig betrachtet wurde. Zu der juristischen Betrachtung des Besitzes kam so die vermeintlich natürliche und objektive Dimension der Geografie hinzu.

7.3 Die räumliche Zugehörigkeit Russisch Amerikas Auf den zahlreichen Abbildungen kolonialistischer Konferenzen sind auffällig viele Landkarten zu sehen. Dies ist keineswegs ein Zufall. Karten symbolisieren Wissen, Macht und Fortschritt und ermöglichen territoriales Denken. Auch das Gemälde, mit dem Emanuel Leutze die Signierung des Verkaufsvertrages von 1867 darstellte, passt in dieses Muster: Im Mittelpunkt des Bildes steht ein fast mannshoher Globus, an den Wänden hängen Karten, und auch die an der Verhandlung Beteiligten halten Land­karten in den Händen.53 Die Aussage, es gehe hier um die Gestaltung und Aufteilung von Raum, bei dem geografisches Wissen Voraussetzung ebenso wie Resultat ist, könnte deutlicher kaum sein. Nur kurz angedeutet sei an dieser Stelle das sehr augenfällige Potential für postkoloniale Kritik, das sich in dem Gemälde des 53 Leutze, Signing the Alaska Treaty of Cessation. Bildteil, Abb. 9.

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deutsch-amerikanischen Malers findet: gutgekleidete weiße Männer betreiben Lehnstuhlpolitik (und William Seward sitzt tatsächlich, in einer anatomisch-künstlerisch etwas misslungenen Perspektive, in einem Lehnstuhl), umgeben sich mit Symbolen von Macht und Wissen und dividieren die Welt untereinander auf. Im Mittelpunkt des Bildes steht der russische Diplomat Eduard von Stoeckl; die Blicke der meisten anderen Anwesenden sind auf ihn gerichtet. Von Stoeckl deutet auf den Globus, und seine Hand schwebt gleichsam über dem Nordwesten Amerikas – dem Objekt der Verhandlungen. Der Künstler arbeitete in seiner Gestaltung mit Lichteffekten und lenkte so den Blick des Betrachters klar auf das heller ausgeführte Gebiet des heutigen Alaskas. Weiter zu erkennen ist die Westküste des nordamerikanischen Kontinents bzw. der USA bis nach Kalifornien. Das kontinentale Russland bzw. Asien dagegen sind ausgesprochen schwach gezeichnet, so dass sie kaum zu identifizieren sind. Obwohl also in den Verhandlungsprozess ganz klar die USA und Russland involviert sind, – Flaggen und Wappen zeugen deutlich von der Bilateralität der Gespräche – liegt das verhandelte Gebiet doch, so suggeriert der abgebildete Globus, eindeutig auf dem amerikanischen Kontinent. Tatsächlich erweist sich das Konzept einer von Kontinenten strukturierten Weltordnung als entscheidend in den Debatten um die Zukunft Russisch Amerikas. Obwohl die »rationalen« Argumente für den Verkauf, die sich vor allem auf Fragen der Rentabilität und die Chance zu militärischer Verteidigung bezogen, keineswegs unbedeutend waren, und obwohl die sicherheitspolitische Festigung Sibiriens sich zweifellos auch als Reaktion auf die Erfahrungen im Krimkrieg zeigte, erweist sich bei genauer Betrachtung doch, wie sehr die kontinentale Prägung der mental maps die Logik des Denkens bestimmte. Dies gilt nicht nur für die zeitgenössischen Debatten, sondern zuweilen auch für die historische Forschung. Insbesondere die beliebte Gegenüberstellung vom profitablen und zukunftsträchtigeren Turkestan einerseits und dem zum Scheitern verurteilten Russisch Amerika erscheint von einer starken und durch die kontinentale Ordnung bestimmten ex-postPerspektive charakterisiert.54 In den früheren 1860ern waren weder die Expansion nach Zentralasien noch die sich dort ergebende wirtschaftliche Dynamik abzusehen oder gar zu planen, war doch die Eroberung Taškents keinesfalls auf zentrale Organisation, sondern auf die Initiative einzelner

54 So bei Gibson, The Sale of Russian America, S. 30.

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Offiziere zurückzuführen.55 Ebenso ist der von Gibson formulierte Kontrast eines militärisch verwundbaren Russisch Amerikas einerseits und einer weniger gefährdeten Kolonie in Zentralasien56 angesichts des sich entwickeln den Great Game hochproblematisch. Die Diskussion des Konzeptes »Kontinent« berührt noch eine weitere Kontroverse zwischen zwei russischen Spezialisten für die Geschichte Russisch Amerikas: Nikolaj Bolchovitinov erklärt den Verkauf der Kolonie unter anderem damit, dass Russland einen »kontinentalen Kolonialismus« verfolgt habe, in den die überseeische Lage Russisch Amerikas schlichtweg nicht hineingepasst habe.57 Grinev kritisiert diese Darstellung als geopolitische Vereinfachung: »In this manner, Bolkhovitinov in fact argued that yet another natural, geographic reasoning drove Russia’s decision to sell.«58 Doch muss die Konzeptualisierung des »kontinentalen Kolonialismus« keineswegs, wie Grinev unterstellt, essentialistisch und vereinfachend geo­ historisch wirken. Vielmehr bietet eine historisierende Analyse des Raumkonzeptes »Kontinent«, die den Wandel von geografischen Kategorien ins Zentrum stellt, eine aufschlussreiche Erklärung für die Geschichte russländischer Expansion in Amerika und den Verkauf der Kolonie. Grinevs Argumentation zu den Gründen für den Verkauf Russisch Amerikas hat noch weitere, grundsätzliche Bedeutung für dieses Kapitel: Er schreibt, Distanz, Klima und generell geografische Aspekte hätten keine Rolle bei der Entscheidung für den Verkauf Russisch Amerikas gespielt.59 Dabei verweist er nicht nur auf den Wortlaut der Quellen, sondern vor allem auch auf die Tatsache, dass der geografische und klimatische Charakter Ostsibiriens sich von demjenigen Nordwestamerikas nur geringfügig unterscheidet. Mehr noch: geografische Lage, Klima, Distanz hatten sich seit dem 18.  Jahrhundert nicht geändert  – weshalb also sollten Entfernungen und Wetterbedingungen plötzlich eine entscheidende Rolle spielen? So einleuchtend dies in mancher Hinsicht sein mag, so erscheint doch die Angelegenheit in einem anderen Licht, sobald man – wie es die Grundlage dieser gesamten Studie ist – nicht auf scheinbar objektive räumliche Gegebenheiten abhebt, 55 Dazu Sahadeo, Russian colonial society, S. 19–21. 56 Gibson, A notable absence, S. 103. Grinev zieht übrigens auch eine wirkliche Gefährdung Russisch Amerikas in Zweifel: Grinev, Russian Politarism, S. 252. Ebenso: Gerus, The Russian Withdrawal, S. 173. 57 Bolchovitinov, Kontinental’naja kolonizacija. 58 Grinev, Russian Politarism, S. 253. 59 Grinev, Russian Politarism, S. 247.

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sondern vielmehr auf Raumwahrnehmungen. Denn diese veränderten sich im Laufe des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts ganz massiv. Die Bedeutung der Kategorie »Kontinent« wird vor allem durch einen kontrastierenden Blick deutlich, der die Akteure, welche gegen einen Verkauf an die USA argumentierten einerseits und die Proponenten der Argumente für den Verkauf andererseits einander gegenüber stellt. Zunächst zu den Akteuren, die – ob durchgehend oder nicht – für einen Erhalt und gegebenenfalls auch einen Ausbau der amerikanischen Kolonien Russlands plädierten. Von einer festen Gruppe ist hier nicht zu sprechen, doch kann eine Traditionslinie verfolgt werden: Russisch Amerika erschien bereits Krusenstern als zentraler und damit notwendiger Raum für erfolgreiche maritime, globale und allgemein imperiale Ambitionen Russlands. Später verfolgten dann Einzelpersonen Pläne für die weitere Expansion nach Kalifornien und ins nordamerikanische Inland und argumentierten für den Erhalt und die Festigung russländischer Macht in Amerika: Staatsmänner wie Nikolaj P. Rumjancev oder Nikolaj S. Mordvinov, sibirische Beamte wie Ivan B. Pestel’, Offiziere wie Dmitrij Zavališin und natürlich die Angestellten der Russisch Amerikanischen Kompanie. Häufig standen sie in einer eher liberalen Tradition, zuweilen gab es Verbindungen zu den Netzwerken der Dekabristen.60 Dabei herrschte in Bezug auf die Probleme, die Russisch Amerika in Bezug auf Handel und Infrastruktur hatte, weitgehend Einigkeit: Die Konkurrenz im Pelzhandel hatte bereits seit dem späten 18. Jahrhundert für empfindliche Rückgänge der Profite gesorgt. Die Versorgung der Kolonien mit Lebensmitteln und Konsumgütern war problematisch. Die Kolonie blieb durchgehend relativ klein, und die russländische Population bestand meist aus kaum mehr als 500 Personen. Konflikte mit der indi­genen Bevölkerung bildeten einen weiteren Faktor, der die russländischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent schwierig erscheinen und an deren erfolgreicher Zukunft zweifeln ließen. In den angesichts solcher Probleme entwickelten Analysen und Lösungsvorschlägen wurden häufig die als unangemessen erscheinenden Privilegien der Russisch-Amerikanischen Kompanie sowie deren administrative Schwächen beanstandet.61 Die moralisch verwerfliche, wirtschaftlich letzt60 Bolkhovitinov, The Sale of Alaska, S. 198 61 Langsdorff, Bemerkungen II, S. 60, 178. Mnenie lejtenanta Chvostova (1804), in: Bil’basov, Archiv III, S. 571–587, 571 f. Šemelin, Proekt o preobrazovanii, in: Kollekcija Gennadija Judina, http://lcweb2.loc.gov/cgi-bin/query/r?intldl/mtfront:@field%28NUMBER +@od1 %28mtfms+y0010102 (15. 1. 2013).

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lich nicht rentable und politisch riskante Unterdrückung der indigenen Bevölkerung bildete einen weiteren zentralen Kritikpunkt.62 Obwohl die tatsächliche Wirksamkeit solcher Stellungnahmen diskutabel ist, können die Vorschläge doch weitgehend als konstruktiv charakterisiert werden. Sie passen sich ein in die Tradition von Berichten und Memoranden von Reisenden, Beamten und Klerikern über die Situation in Sibirien und im Nordpazifik, die seit dem 18.  Jahrhundert Mängel und Probleme beschrieben und auf Abhilfe hofften.63 Ebenso wird als entscheidender Punkt deutlich, dass Russisch Amerika als durchaus problematischer, aber nichtsdestoweniger integraler Teil des Imperiums betrachtet wurde. Der im Jahre 1826 herausgegebene Geografičeskoj atlas, der einen Schwerpunkt auf Straßen, Poststationen und andere infrastrukturelle Verbindungselemente legte, enthielt durchaus eine Karte mit der russisch-amerikanischen Kolonie – wenn auch mit einer aus dem Rahmen fallenden Benennung. Während alle anderen Karten überschrieben waren als Generalkarte […], welche die Postwege und großen Durchfahrtsstraßen, die Stationen und die jeweilige Distanz in Verst angibt 64 und somit bereits im Titel die Infrastruktur und Erschließung des Landes hervorhoben, trug die Nordpazifikkarte schlicht den Titel Generalkarte des Lands der Čukčen, der Aleutischen Inseln und der nordwestlichen Küste Amerikas.65

62 Langsdorff, Bemerkungen II, S. 62. Memoranda Osten-Saken, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, State Departments Records http://www. fold3. com/image/60231651/ (27. 2. 2014). Strast’k priklučenijam: A memorandum, unsigned, 7. 2. 1860, Annex No. 9, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, http://www.fold3.com/image/60231427/ (20. 9. 2014). Für die Wirtschaftsdebatte siehe auch Zapiska Bergmejstera Furugelma o Russkich Amerikanskich koloniach i uslovijach razvitija v nich gornago promysla, in: Priloženija k dokladu komiteta ob ustrojstve russkich amerikanskich kolonii, S.  567–585. Zapiska Kapitan-Lejtenanta Vermana o položenii Rossijsko-Amerikanskoj Kompanii i o torgovle eja na Severe kolonialnych vladenii, in: Priloženija k dokladu komiteta, S. 586–602. 63 Vgl. Safronov, Iz istorii Jakutskoj ssylki, S.  99. Vsepoddanejšie predloženija i izvestija, kasaiuščiesja do Jakutov, Tungusov, i drugich v severnoj Sibiri Otdalennych, Rossijskoj Imperii pokorivšichsja jasačnych narodov, abgedruckt in: Glebov, Reguljarnoe policejskoe gosudarstvo. Ochotina-Lind, Zwei Pläne. 64 Der russische Titel lautet: General’naja karta […] s pokazaniem počtovych i bol’šich proezžich dorog, stancii i razstojanija meždu onymi verst. 65 General’naja karta Čukotskoj Zemli, Aleutskich ostrovov i severo-zapadnago berega Ameriki. Sočinena po novejšim svedenijam v S-t Peterburge 1826, in: Geografičeskoj atlas Rossijskoj Imperii, Abb. 60.

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Aus diesen Schriften spricht nach wie vor die im 18. Jahrhundert so offensichtliche Vorstellung von einer fast organisch anmutenden Entwicklung des Reiches, von einem schrittweisen Fortschreiten und einer imperialen Expansion, die keine »natürlichen« Grenzen kannte. Konsequenterweise gehörten zu den Reform- und Verbesserungsvorschlägen häufig Konzeptionen, die eine Erweiterung der russländischen Kolonien in Amerika ins Auge fassten. Nicht nur in den 1820er Jahren, sondern durchaus bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus vertraten einzelne Autoren wie beispielsweise Dmitrij Zavališin die Meinung, Russland müsse weiter expandieren: Ins amerikanische Inland, vor allem aber entlang der Küste in Richtung Süden.66 In dieser Perspektive erschien der Nordpazifik mit seinen Inseln und Küsten nach wie vor als einheitlicher Raum – »Asien« und »Amerika« spielten als geografische oder kulturelle Einheiten hier keine Rolle. Jedoch war durch die wachsende Konkurrenz aus Europa, aber auch Nordamerika, die Situation der »russländischen Nische« nun ganz offensichtlich gefährdet. Und in einem Weltbild, das Kontinente offen und keineswegs als natürlich begrenzt betrachtete, konnte es auch keine Sicherung gegen eine Konkurrenz der USA im Pazifik und sogar in Ostasien geben. Fedor Romanovič Osten-Saken argumentierte nicht nur für eine Beibehaltung russländischer Präsenz in Amerika, um das dortige »Mächtegleichgewicht« zu erhalten, sondern auch, um eine Barriere gegen die Expansionsversuche der USA zu schaffen. Die Vorstellung von den »amerikanischen«, mit dem Kontinent weitgehend identischen USA lag Osten-Saken so fern, dass er die Befürchtung formulierte, die USA könnten weiter, über den Pazifik hinweg, bis nach Sibirien expandieren. Was sollte sie davon  – und von weiterem Vordringen – abhalten?67 Sicherlich keine kontinentale Ordnung und die daraus folgende Arbeitsteilung von der amerikanischen Manifest Destiny einerseits und einem russischen Schicksal in Asien andererseits. Zavališin argumentierte in seinen Erinnerungen in die gleiche Richtung: Ohne Kalifornien sei auch das Amurgebiet für Russland nicht zu sichern.68

66 Mazour, Dimitry Zavalishin. 67 Memoranda Osten-Saken, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, State Departments Records http://www. fold3.com/image/60231651/ (27. 2. 2014). Siehe auch Miller, Russian Opinion (mit englischer Übersetzung der Quelle). 68 Zavališin, Vospominanija, S. 110.

Die räumliche Zugehörigkeit Russisch Amerikas

Ganz anders als diese Vorstellung von einem einheitlichen, für Expansion von beiden Seiten offenen Pazifik gestaltete sich die Argumentation der Skeptiker und der in die Verkaufspläne involvierten Akteure. Bereits seit den 1820ern verloren die Vertreter einer weiteren russländischen Expansion in Nordamerika an Rückhalt.69 Stattdessen gewann die Idee von einem »amerikanischen Amerika« an Gewicht, vor allem in konservativeren Kreisen. Insbesondere Baron von Stoeckl gehörte hier zu den wichtigsten Protagonisten, aber auch Graf Nessel’rode ebenso wie Finanzminister Michail Ch. Rejtern. In ihren Argumenten spielte die Vorstellung von bestimmten räumlichen Strukturen, die menschliches Verhalten, politische Pläne und wirtschaftliche Strukturen unmittelbar beeinflussten, eine früher kaum gekannte Rolle. Als zentral erwies sich dabei die Kategorie des Kontinents. Nordamerika »gehörte« den USA, und Asien sollte von Russland beherrscht werden. Diese im Kern politische Idee ging einher mit einer auf Kontinente konzentrierten Metageografie, die geografische, naturkundliche und kulturellhistorische Zuordnungen miteinander verknüpfte und in eine teleologische Weltordnung umsetzte. In ihrer Konsequenz ließ diese Idee die russländischen Kolonien in Amerika als Fremdkörper erscheinen. Abgesehen also von allen anderen bedeutsamen Vorbehalten gegen den Erhalt der Kolonien  – wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer, finanzieller und politischer Art – war es auch die Vorstellung, Russland habe auf dem amerikanischen Kontinent schlichtweg nichts zu suchen. Das bereits erwähnte Memorandum vom Februar 1860, in dem es um die Zukunft Russisch Amerikas ging, begann gar mit einer sehr grundsätzlich anmutenden Kritik an transkontinentalen kolonialen Ambitionen. Diese seien nicht nur das Ergebnis von romantischem Abenteuergeist, sondern mündeten selbst zuweilen in »ritterhafter Selbstverleugnung« (do rycarskogo samootverždenija).70 Mit solcher Betonung einer realistischen Konzentration und Weltaufteilung wies diese Kritik grundsätzlich neue Vorstellungen von imperialer Expansion auf, wie ein asynchroner Vergleich zeigt. Im späten 18.  Jahrhundert hatte Grigorij Potemkin versucht, Katharina von dem Nutzen einer Annexion der Krim zu überzeugen, indem er auf die Tradition europäischer Mächte hinwies, Kontinente unter sich aufzuteilen. 69 Bolkhovitinov, The Sale of Alaska, S. 197. 70 Strast’k priklučenijam: A memorandum, unsigned, 7. 2. 1860, Annex No. 9, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, http://www. fold3. com/image/60231427/ (20. 9. 2014).

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Russland solle ihrem Beispiel folgen, denn dies bringe mit Sicherheit Ruhe und Frieden (pokoj).71 Hoffnungsvolle Expansion auf verschiedenen Kontinenten im 18.  Jahrhundert steht somit gegen eine skeptische Beschränkung auf »das Eigene« keine hundert Jahre später. Fragmentierung der Erdteile unter Katharina, Abgrenzung der als einheitlich begriffenen Kontinente zur Zeit Alexanders: Eine Betrachtung dieser Quellenaussagen übernimmt in gewisser Weise die Beweisführung Nikolaj Bolchovitinovs, der auf den kontinentalen Charakter des russländischen Imperiums hingewiesen hat,72 modifiziert diese aber durch Historisierung. Denn dieser kontinentale Charakter bzw. die Idee, Russland gehöre nach Asien, war das Resultat einer neuen und vergleichsweise rasanten Entwicklung von Raum- und Weltvorstellungen. Die Debatten um die Zukunft Russisch Amerikas und die Argumente für oder gegen einen Verkauf bezogen auch weitere Raumkonzepte ein: Die Vorstellung von flächigen und zusammenhängenden Territorien, die Auseinandersetzung mit dem Meer als Bewegungsraum sowie die verschiedenen Konstruktionen von Distanz. All diese Konzepte aber erweisen sich als Funktionen der letztlich zentralen Kategorie »Kontinent«. Entscheidend ist hier zunächst der langfristig verlaufende Prozess der Territorialisierung: Die an Berichten, vor allem aber auch an Karten abzulesende Entwicklung einer Vorstellung von einem territorial zusammenhängenden Reich, das strukturelle Homogenität versprach und rationale Verwaltung möglich machte. Verschiedene Tendenzen, die im 18. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatten, verliefen im 19.  Jahrhundert weiter, wurden verstärkt und ergänzt durch neue Entwicklungen. Die Territorialisierung des Russländischen Imperiums verband administrative und infrastrukturelle Veränderungen mit einer wachsenden Integration der Bevölkerung unter anderem durch Maßnahmen der Staatsbildung und der Russifizierung, aber auch die Entwicklung und Veränderung kognitiver Landkarten. Zu den zahlreichen Resultaten dieser vielfältigen und nicht auf das Politische zu reduzierenden Territorialisierungsprozesse gehörte auch, dass Russisch Amerika zunehmend zu einem merkwürdigen, nicht ins Bild passenden Anhängsel wurde. Der Verkauf der Kolonie kann somit als ein Ergebnis – und in gewisser Weise als ein Meilenstein – des Territorialisierungsprozesses betrachtet werden. 71 Schönle, Garden of the Empire, S. 1. 72 Bolchovitinov, Kontinental’naja kolonizacija.

Die räumliche Zugehörigkeit Russisch Amerikas

Bereits in den 1820ern war für Russisch Amerika die Entwicklung von einer offenen Grenzregion hin zu einem klar abgegrenzten Territorium vollzogen worden. Dieses Raumkonzept wurde im Rahmen der Verkaufsdiskussionen unmittelbar übernommen. Die schließlich im Kaufvertrag festgelegten Grenzen bezogen sich ausdrücklich auf die 1824 und 1825 geschlossenen Abkommen und haben somit weder mit der traditionellen Konzentration Russlands auf Inseln und Küsten viel gemein noch mit der im 18. Jahrhundert entwickelten punktuellen Inbesitznahme einzelner Siedlungen, Buchten und gegebenenfalls Küstenabschnitte. Vielmehr wurde Russisch Amerika, nach 1867 dann Alaska, als ein klar begrenztes, in sich homogenes Territorium konzipiert. Dieser Kontrast von konzentrierten Inbesitznahmestrategien einerseits und am territorialen Prinzip orientierten Verkauf andererseits dient übrigens heute als Grundlage für indigene Besitzansprüche: »As the vast majority of Alaska was untouched by Russian fur traders«, so die Argumentation, hatte das russländische Imperium hier keine gültigen Rechtsansprüche. Die Anthropologin und Juristin Victoria Hykes Steere folgert daraus: »Russia could not sell what it did not possess, so our claims to Alaska are still a valid existing right under international law.«73 So unproblematisch die Festlegung der Ostgrenze Russisch Amerikas bzw. Alaskas auf der Basis des territorialen Prinzips erschien, so aufschlussreich ist im Gegensatz dazu die Debatte um die Aleutischen Inseln. Sie waren kein Teil  des Kontinents und somit kein selbstverständlicher Teil des zu verkaufenden Territoriums. Vielmehr stellte sich die Frage, ob die Inseln nicht weiterhin zu Russland gehören sollten – immerhin waren sie nicht mehr durch einen gemeinsamen Hafen an das kontinentale Russisch Amerika gebunden.74 Schließlich aber einigte man sich auf eine Teilung der Aleutenkette; der zwischen der Insel Attu und der Kupferinsel verlaufende Meridian bildete die Grenze des nun den USA gehörenden »Territoriums«. Die so lange bestehende nordpazifische Einheit und die als Linie begriffene­ aleutische Inselkette waren nun aufgeteilt worden; die beiden Hälften gehörten zwei neuen Territorien und zugleich zwei verschiedenen Kontinenten an. Ganz ähnlich wie der territoriale Aspekt hängt auch das Verständnis von Meer und Maritimität in seiner Bedeutung für den Verkauf unmittelbar mit dem kontinentalen Denken zusammen. Russisch Amerika wurde seit dem 73 Hykes Steere, Interpreting the journey, S. 392. 74 Zapiska Ministerstva inostrannych del Rossii Aleksandru II po povodu ustupki Soedinennym Statam rossijskich vladenii v Severnoj Amerike, 29. 4. 1857, in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 315 f.

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18. Jahrhundert immer wieder als wichtige, ja entscheidende Basis für einen Ausbau des maritimen Potentials Russlands betrachtet: der maritime Charakter war aus dieser Sicht ein Punkt, der für Russisch Amerika sprach. Dieses Argument ist noch 1835 von Kiril Chlebnikov stark gemacht worden,75 und Ferdinand von Wrangel brachte den Aspekt 1857 unmittelbar in die Debatte um den Verkauf der Kolonie ein.76 Dennoch gelten gerade die Besonderheit Russisch Amerikas als »Überseekolonie« und damit der maritime Charakter der Expansion immer wieder auch als zentrales und überzeugendes Argument für die Logik, ja Unausweichlichkeit ihres Scheiterns. Dass die einzige überseeische Kolonie Russlands gerade zu der Zeit aufgegeben wurde, als die russländische Flotte an Bedeutung und Macht gewann, dass ausgerechnet der Morskoj sbornik zu einer wichtigen Plattform der Gegner dieser Kolonie wurde,77 weist darauf hin, dass das häufig unterstellte Element einer angeblich grundsätzlich mangelnden »Maritimität« Russlands zu kurz greift. Es ging im 19. Jahrhundert keineswegs darum, dass Russland kein Interesse an oder keine Befähigung zu maritimen Unter­ nehmungen gehabt hätte. Vielmehr war es hier wieder die Vorstellung von einem kontinentalen Imperium, d. h. von einem Reich, das sich auf Europa und Asien und damit auf einen Russland scheinbar zugehörigen, vom Schicksal geradezu vorbestimmten Kontinent konzentrierte, die entscheidend war und Russisch Amerika als »anders« und nicht zugehörig erschienen ließ. Der Nordpazifik erschien nicht mehr als natürlicher Bewegungsraum, sondern als nur mit großem Aufwand und gegen jede geografische Logik zu verteidigender imperialer Luxus.78 Mit dieser Logik verwandt, in den Quellen allerdings deutlich ausführlicher diskutiert, ist schließlich auch das Thema der Distanz. War Distanz als Problem in der Vergangenheit immer wieder erwähnt und zuweilen explizit diskutiert worden, so spielte es in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine veränderte und in mancher Hinsicht geringere Rolle. Dies hatte jedoch, wie bereits im Kapitel zu Entfernungen dargelegt, nicht unbedingt immer etwas mit einer technisch ermöglichten »Überwindung 75 Chlebnikov, Žizneopisanie. 76 Zapiska Ministerstva inostrannych del Rossii Aleksandru II po povodu ustupki Soedinennym Statam rossijskich vladenii v Severnoj Amerike, 29. 4. 1857, in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 315 f. 77 Gerus, The Russian Withdrawal, S. 163. 78 Pis’mo M. Ch. Rejterna A. M. Gorčakovu, 2. 12. 1866, in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 397 f.

Die räumliche Zugehörigkeit Russisch Amerikas

der Distanz« oder einer »Vernichtung des Raumes« zu tun. Vielmehr zeigten auch hier veränderte Raumvorstellungen ihre Bedeutung. Mit dem Axiom, Asien gehöre zu Russland, Amerika dagegen zu den Vereinigten Staaten, verlor das Argument der Distanz einiges von seiner Relevanz und Vielschichtigkeit. Es war die kontinentale Ordnung, die nun neue Grundmuster auch für die Zuordnungen von Distanz und Nähe schuf. Die Quellen machen dabei deutlich, wie sehr es nach wie vor um ein kulturell konstruiertes Distanzverständnis ging. So sprach von Stoeckl von der großen, prohibitiven Entfernung Russlands zu Alaska und, komplementär dazu, »la proximité« der Amerikaner zu der fraglichen Region.79 Die nicht eben geringe Entfernung von knapp 2500 km zwischen San Francisco und Sitka sowie die banale Tatsache, dass die USA in keiner Weise an das neu zu erwerbende Territorium grenzten, zeigen, wie sehr es sich hier um »mentale« und nicht »absolute« Distanzen handelte. Russisch Amerika erschien nun also unerreichbar weit – zu weit für jegliche rationale Kolonialpolitik. Umgekehrt schrumpften die mentalen Distanzen beim Blick auf »unser« Sibirien. Und so konnte Nikolaj Murav’ev in seinen Plädoyers für ein größeres Engagement in Sibirien und die Amurregion nun ohne weiteres immer wieder darauf hinweisen, dass diese Region sehr weit von St. Petersburg entfernt war. Die Distanz bildete selbstverständlich nach wie vor ein Problem  – doch war dies ein Problem, das auf eine Lösung wartete und zur Komponente im Prozess der territorialen Vereinheit­lichung des Imperiums insbesondere durch den Eisenbahnbau wurde. Anders als in Bezug auf Russisch Amerika galt Distanz hier nicht als grundsätzliches Argument, welches die Rechte oder Interessen Russlands – in Asien! – in Frage stellen konnte.80 Große Entfernungen bildeten  – ebenso wie maritime Abenteuer  – eine willkommene Herausforderung und waren keinesfalls abschreckend. Von Bellingshausen beispielsweise betonte gern seine Freude darüber, »in ferne Gegenden« zu segeln und hob den Gegensatz von entfernten Reisezielen und der Heimat hervor, in die er seine Männer gesund wieder zurückbringen wollte.81 Distanzen bildeten also auch hier kein grundsätzliches, unüber79 Copy of a letter, Stoeckl to Gorchakov, 23. 12. 1859. Annex No 8, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, State Departments Records http://www. fold3. com/image/60231404/ (3. 3. 2014). 80 Konfidencial’naja zapiska, predstavlennaja Velikomu Knjazju general’-admiralu (1853), in: Barsukov, Graf Nikolaj Nikolaevič Murav’ev-Amurskij II, S. 104–109. 81 Bellinsgauzen, Dvukratnye izyskanija, S. 87.

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windbares Hindernis. Doch was sich mit wissenschaftlichen Expeditionen und abenteuerlichen Ambitionen vertrug, passte nicht unbedingt in das Bild imperialen Zusammenhalts. Eine Variante des Distanzproblems ergibt sich aus dem häufig vorgebrachten Argument der »Zivilisation«: Russland bzw. die RAK, so schrieben viele Autoren, hatten ihren Zivilisierungsauftrag nicht erfüllt.82 Die große Entfernung zwischen St. Petersburg und Russisch Amerika, das »am anderen Ende der Welt« zu liegen schien, funktionierte hier durchaus als Erklärung. Die Küsten Nordwestamerikas waren weit und wild, die Bewohner barbarisch und halbnackt, – dies eine durchaus bemerkenswerte Variante des Klima­ arguments – doch die »amerikanische Zivilisation« würde sicherlich, so prophezeite ein Bericht aus dem Jahre 1867, bald in diese Gegend vordringen.83 Russlands Zukunft dagegen, so der Marineminister N. K. Krabbe, lag im Fernen Osten, wo das Amurgebiet nicht nur wirtschaftlich, sondern auch zivilisatorisch großes Entwicklungspotential bot.84 Auch dies hing wieder unmittelbar mit den voranschreitenden Territorialisierungsprozessen und dem kontinentalen Denken zusammen, insbesondere mit den Zielen, das Reich systematisch mit einem Eisenbahnnetz zu überziehen: Im 19. Jahrhundert galt die Eisenbahn in den USA ebenso wie in Russland als Zivilisationsbringer und zugleich Zivilisationszeichen.85 Kommunikation und verbindende Infrastruktur waren notwendig für einen modernen Staat. Eine vereinzelte Überseekolonie vertrug sich mit diesem Muster nicht. Die Neuorientierung Russlands auf den asiatischen Kontinent wurde von zahlreichen Autoren als Schritt Russlands hin zu einem moderneren Imperialismus interpretiert, komplementär übrigens zu einer Bewertung des amerikanischen Erwerbs Alaskas, der vielen als Startschuss für eine neue Phase US -amerikanischer Expansion gilt.86 Insbesondere angesichts der systematischen Exploitation der neuen zentralasiatischen Gebiete, der geziel-

82 Strast’k priklučenijam: A memorandum, unsigned, 7. 2. 1860, Annex No. 9, in: Papers Relating to the Cession of Alaska, State Department, National Archives: Enclosure No. 2, http://www. fold3. com/image/60231427/ (20. 9. 2014), S. 1–5. 83 Vavilov, Poslednie dni, S. 553. 84 Pis’mo N. K. Krabbe A. M. Gorčakovu o preimuščestvach prodaži rossijskich kolonii v Severnoj Amerike SŠA , in: Petrov, Rossijsko-Amerikanskaja kompanija, S. 398. 85 Musich, Mapping a Transcontinental Nation, S. 109. Schenk, Im Kampf. 86 Walter Nugent spricht von »the first chapter of Empire II«: Nugent, Habits of empire, S. 240. Mit Blick auf die Hudson’s Bay Company: Galbraith, The Hudson’s Bay company, S. 172–174.

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ten Nutzung von moderner Infrastruktur und des Installierens einer marktorientierten Monokultur ist dieser Einschätzung zweifellos zuzustimmen. In mancher Hinsicht aber sind auch Kontinuitäten zu erkennen, und die Argumentation für ein russländisches Engagement am Amur erinnert zuweilen an die Nischenpolitik des 18. Jahrhunderts, wie sie für den Nordpazifik entwickelt worden war. In beiden Fällen ging es darum, eine Nische, und damit einen Bewegungs- und Aktionsraum für Russland zu definieren, in dem möglichst wenig Konkurrenz durch andere Mächte zu erwarten war. In beiden Fällen wurde auch ein Wettlauf inszeniert, in dem es darum ging, Räume frühzeitig abzusichern.87 In Russisch Amerika fürchteten die Unternehmer den Ehrgeiz anderer maritimer Mächte; für das Amurgebiet sagte Murav’ev das Interesse der Briten in »ihrem ihnen eigenen Unternehmergeist, Schnelligkeit und Hartnäckigkeit« voraus und nahm damit die Konstellation des Great Game vorweg.88 Und schließlich spielte in beiden Fällen das Konzept der Nähe eine Rolle in der Argumentation: das Konzept einer relativen Nähe im Vergleich zu anderen Mächten und damit die Einbettung in ein global gedachtes, als verflochten und konkurrierend begriffenes System.89 Dabei bildeten sowohl die Nordwestküste Amerikas als auch das Amurgebiet kaum erforschte Gebiete, Peripherien der jeweiligen Weltordnung. In beiden Fällen allerdings dauerte es nicht lange – und war bereits recht bald absehbar  – bis die geografisch scheinbar »abgelegenen« Räume das Interesse auch anderer Kolonialmächte auf sich ziehen würden und bis sie, um die Weltsystem-Sprache zu bemühen, in das expandierende kapitalistische System inkorporiert wurden.90 Pelztiere und Wale im einen Fall, geostrategische Bedeutung im Great Game im anderen: die Konkurrenz war durchaus ernst zu nehmen. Russlands Interesse und Expansionsversuche wurden deshalb in beiden Fällen in legitimierende und gewissermaßen appro­priierende Raumordnungen eingepasst – die nordpazifische, maritime russländische Nische im 18.  Jahrhundert, den asiatischen, vom nordamerikanischen klar abgetrennten Kontinent im 19. Jahrhundert. 87 Pričiny neobchodimosti zanjatija ust’ja r. Amura (1849), in: Barsukov, Graf Nikolaj Nikolaevič Murav’ev II, S. 46–48. Načal’niku Glavnago Morskogo Štaba Ego Imperatorskago Veličestva, gospodinu general’-adjutantu Menšikovu, Raport (1850), in: Barsukov, Graf Nikolaj Nikolaevič Murav’ev-Amurskij II, S. 48–54. 88 Pričiny neobchodimosti zanjatija ust’ja r. Amura (1849), in: Barsukov, Graf Nikolaj Nikolaevič Murav’ev II, S. 46–48. 89 Ebd. Für das 18. und frühe 19. Jh: Saryčev, Gawrila Sarytschew’s, S. ix 90 Carlson, The Otter-Man Empires, S. 392.

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8. Schluss

Die so häufig gestellte Frage nach den Gründen für den Verkauf der amerikanischen Kolonien durch Russland (und entsprechend auch für den Kauf durch die USA) kann also nicht nur mit wirtschaftlichen und militärischen Aspekten oder den Interessen einzelner Akteure erklärt werden. Der Reformbedarf Alexanders II., die Niederlage im Krimkrieg und die Interessen Großfürst Konstantins spielten fraglos eine Rolle in den Debatten und Entscheidungsprozessen. Doch die Tatsache, dass Russisch Amerika die einzige Region eines ansonsten aktiv expandierenden Imperiums war, die verkauft wurde, scheint nach spezifischen Erklärungsansätzen geradezu zu rufen. Und was könnte – beim Thema Alaska! – näher liegen und plausibler sein als »der Raum«? »Der Raum« aber als Vorratskammer für Argumente birgt Gefahren der Essentialisierung und Vereinfachung. Die als zentral begriffenen Aspekte von Klima, Distanz und maritimer Lage Russisch Amerikas bieten nur dann hinreichende Erklärungsmodelle für den Verkauf der Kolonie, wenn die Tatsache außer Acht gelassen wird, dass eben diese Faktoren – Klima, Distanz und maritime Lage – keineswegs eine Neuheit der 1850er und 1860er Jahre waren. Was im frühen 18.  Jahrhundert möglicherweise als problematisch, aber niemals als ausschließend und grundsätzlich abschreckend wahrgenommen wurde, kann nicht ohne weiteres für die Mitte des 19. Jahrhunderts – mit deutlich besseren Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten – als entscheidendes Kriterium für das Scheitern eines Experimentes betrachtet werden. Es ging in dieser Studie darum, diese Berufung auf den Raum einerseits ernst zu nehmen und sie andererseits prinzipiell zu problematisieren. Dies ist nicht grundsätzlich neu; vielmehr reihen sich die hier vorgelegten Überlegungen und Argumente in die inzwischen schon als »Tradition« zu bezeichnenden Denkstrukturen des spatial turn ein. Neu ist jedoch der Versuch, die kulturwissenschaftliche, konstruktivistische Analyse von Raumwahrnehmungen explizit auf Russland und speziell auf die Kolonie Russisch Amerika anzuwenden und diese Region in eine veränderte Perspektive zu rücken. Denn trotz aller Beteuerungen, Raum sei »gemacht« und könne keinesfalls als passive und feste »Bühne« historischer Akteure be-

Schluss

trachtet werden, gehört die nordpazifische Region doch nach wie vor zu den Gegenden der Welt, die gern und häufig mit einem essentialisierenden Blick betrachtet werden. Kälte, Weite, Entfernungen bieten sich als Elemente eines eher traditionell geohistorischen Narrativs an. Um solche Wahrnehmungen aus explizit geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu korrigieren, wurden in diesem Buch gerade die scheinbar objektiven und unüberwindlichen räumlichen Gegebenheiten Russisch Amerikas untersucht: Die Ausmaße, die maritime Lage, die kontinentale Zugehörigkeit sowie die Entfernungen. All diese Aspekte konnten historisiert werden; für all diese Aspekte wurde deutlich, dass sie eben nicht absolut und unausweichlich einfach »da« sind, sondern ebenso historischem und kulturellem Wandel unterliegen wie die vielen anderen räumlichen Kriterien, die so selbstverständlich unter Lefebvres Raumproduktion fallen. Ist dies also die totale Dekonstruktion? Dieses Problem betrifft nochmals die bereits in der Einleitung angesprochene Frage nach dem Verhältnis von Umweltgeschichte und Raumgeschichte – handelt es sich hier um Gegensätze? Es ging hier keinesfalls darum, die beiden im Moment gleichermaßen aktuellen Forschungsrichtungen der Umwelt- und Raumwahrnehmungsgeschichte gegeneinander auszuspielen. Vielmehr wurde versucht, die Grundprämisse der neueren environmental history ernst zu nehmen, welche die Umwelt als historische Kategorie betrachtet, sich aber gerade damit von einer traditionellen und essentialisierenden Geohistorie abgrenzt. Es ist fraglos von Bedeutung, ob Menschen am Meer oder im Binnenland leben – doch bedeuten Meer und Binnenland in verschiedenen historischen und kulturellen Situationen eben auch unterschiedliche Dinge. »Weite« eines Landes kann nicht als hinreichende Erklärung akzeptiert, sondern muss vielmehr selbst zum explanandum gemacht werden. Das Verhältnis von Raum (oder Umwelt) und menschlichen Akteuren ist keine Einbahnstraße, sondern komplex und von wechselseitigen Beeinflussungen bestimmt. Wendet man diese Perspektive auf die russländische Expansion in den nordpazifischen Raum an, so ergibt sich ein ganzes Panorama von Entwicklungs- und Veränderungsprozessen, die sehr vielfältig und kontrastreich sind, für die aber dennoch ein gemeinsamer Nenner beschrieben werden kann: Raumwahrnehmungen wurden expliziter und kategorischer. Gegensätze wurden stärker konturiert, Einheiten – und damit ebenso Abgrenzungen – in neuer Weise betont. Durch neue Wahrnehmungen von Ozeanen, Kontinenten und topografischen Strukturen entstanden zuvor ungekannte Geografien und somit eine grundsätzlich gewandelte Ordnung der Welt.

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So vielfältig wie die Wahrnehmungen und ihre Veränderungen waren im Einzelnen auch die Gründe für den Wandel. Doch auch diese Gründe können vereinfacht zusammengefasst betrachtet werden: Von grundsätzlicher Bedeutung ist das stärkere Interesse an Raum und seiner Beschreibung, wie es sich in der Entwicklung der sehr praktisch orientierten Geowissenschaften im Russländischen Imperium seit der Zeit Peters I. spiegelte. Dieses neue Interesse ist in großen Teilen zurückzuführen auf in der Entwicklung begriffene, im Kern aufklärerische Vorstellungen von imperialer Herrschaft, deren Zurückführung auf Wissen, Vernunft und Technik und damit auf Einflüsse aus Westeuropa. Diese Übernahme westeuropäischer Konzepte von gouvernementalité erfuhr eine nicht unbedingt erwünschte Verstärkung und Dynamik durch globalisierende Entwicklungen. Ostsibirien, der Nordpazifik und die Nordwestküste Amerikas waren von russländischen Herrschern und Unternehmern zunächst als Nische, als relativ unproblematischer Bewegungsraum betrachtet worden, in dem die imperialen Traditionen »der Steppe« weitergeführt werden konnten. Die bald aufkommende pazifische interimperiale Konkurrenz jedoch, zunächst durch Spanien, in zunehmendem Maße dann aber auch durch britische und vor allem nordamerikanische Unternehmer, störte dieses Nischenkonzept empfindlich. Der Nordpazifik wurde zu einem Raum globaler Entwicklungen und internationaler Interessen. Abgesehen von den wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen sind so seit dem späten 18. Jahrhundert auch deutliche Effekte in Bezug auf die russländischen Konzepte von imperialem Raum zu erkennen: Landbesitz erhielt eine zuvor ungekannte Bedeutung für Expansionsansprüche, damit einhergehend wurden Grenzen neu gedacht und gezogen. Die neue Situation von Kommunikation und Konkurrenz führte auch zu veränderten Strategien der Identitäts- und Alteritätskonstruktion: Dazu gehörten neue metageografische Kategorien wie die verstärkte Definition und kulturelle Interpretation der Kontinente und der Gegensatz von Meer und Land. Für das 18.  und 19.  Jahrhundert ist somit eine intensive Dynamik und Wechselwirkung von globaler Verflechtung einerseits und imperialer – im Laufe des 19. Jahrhunderts dann zunehmend nationaler – Abgrenzung andererseits zu erkennen. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses spielte die nordpazifische Region eine sehr spezielle Rolle: Von einer peripheren Gegend oder, wie Jon Carlson es formuliert, zone of ignorance, entwickelte Russisch Amerika sich zu einer Region, an der Globalisierungs- und Verflechtungstendenzen sehr gut ablesbar sind. Wirtschaftliche Interessen, die

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sich vor allem auf das Luxusgut Pelze und später auf Walprodukte konzentrierten, trafen auf Auswirkungen des aufklärerischen Willens zur Vermessung der Welt. Diese zentralen Elemente der Globalisierung im 18. und 19. Jahrhundert hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Territorialitätsregime, mithilfe derer Imperien in kolonialen Regionen agierten: auf das Ziehen von Grenzen, die Legitimation von Landbesitz und die jeweils gültigen Vorstellungen von Zugehörigkeit und Abgrenzung. Für das russländische Imperium bedeuteten diese neuen metageografischen Ordnungen und Territorialitätsregime langfristig den Rückzug aus einer Gegend, die sich verändert hatte: von einer selbstverständlichen russländischen Nische zu einem international begehrten Gebiet, von einer angrenzenden Region zum »Ende der Welt«, von einem Aktionsraum sibirischer Pelzjäger zum Bestandteil eines anderen Kontinents.

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9. Literaturverzeichnis

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10. Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Generalkarte aus: Atlas Rossijskoj Imperii, sostojaščej iz devyatnadtsati special’nych kart predstavljajuščich Vserossijskuju imperiju s pograničnymi zemljami, sočinennoj po pravilam Geografičeskim i novejšim observacijam, St. Petersburg: Imperatorskaja Akademija Nauk 1745. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Rossijskaja gosudarstvennaja biblioteka, Moskau. Abb. 2 »Reka Kamčatka« aus: Stepan P Krašeninnikov: Opisanie Zemli Kamčatki, Tom I, St. Petersburg: Akademija Nauk 1755. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Göttinger Digitalisierungszentrums. Abb. 3 Sija karta sočinisja v sibirskoj ekspedicii pri komande flota kapitana Beringa ot Tobol’ska do Čjukockago ugla (1729). Autor: Petr Čaplin. In: SUB Göttingen. Cod. Ms. Asch 246. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Göttingen Staats- und Universitätsbibliothek. Abb. 4 Karta predstavljajuščaja prosledovanie vojaža Kupca Šelechova. In: SUB Göttingen. Cod. Ms. Asch 279. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Göttinger Digitalisierungszentrums. Abb. 5 Poljarnaja karta, prilozennaja k rukopisu, In: Michail Vasil’evic Lomonosov: »Kratkoe opisanie raznych putesestvii po severnym morjam i pokazanie vozmoznogo prochodu sibirskim okeanom v vostocnuju Indiju«, in: ders., Polnoe sobranie socinenii, Tom 6: Trudy po russkoj istorii, obscestvenno-ekonomiceskim voprosam i geografii 1747–1765, Moskau, Leningrad: Izd. Akademii Nauk SSSR 1952, S. 421–498, 425. Nutzung des scans mit freundlicher Genehmigung aus dem Projekt runivers: http://www. runivers.ru/about/de/. Abb. 6 »Eine Ansicht der Insel Nukahiwa« aus: 27 Kupfer zu G. H.v.Langsdorffs Bemerkungen auf einer Reise um die Welt. Erster Theil nebst ausführlicher Erklärung, Frankfurt am Main 1811. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Göttinger Digitalisierungszentrums. Abb. 7 Bowles, Carrington: Bowles’s New Pocket map of the Discoveries made by the Russians on the NorthWest coast of America Published by the Royal Academy of Sciences at Petersburg (1780), In: University of Washington Libraries. Special Collections Division. Rare Map

Abbildungsverzeichnis

Collection. G4370 1780 I4. http://digitalcollections.lib.washington.edu/cdm/singleitem/ collection/maps/id/51/rec/2. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der University of Washington Libraries. Special Collections Division, UW 37296. Abb. 8 Pallas, Peter Simon: Carte der Entdekvngen zwischen Sibirien und America bis auf das Jahr 1780 (1780–1785), In: Bern UB ZB. Sammlung Ryhiner. Digitalisat: http://aleph.unibas.ch/F?func=find-b&find_code=SYS&request=000979727. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Bern, ZB. Abb. 9 Leutze, Emanuel: Signing the Alaska Treaty of Cessation (1867). © Gettyimages/SuperStock

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11. Personenregister

Adams, John Quincy  115, 117–120, 123 Adelman, Jeremy  130 Afanasev, Dmitrij  204 Agnew, John  16, 151, 261 Alexander I., Kaiser  115 f., 318 Alexander II, Kaiser  296, 304, 310 Anderson, Benedict  60, 249 Anna Iwanowna, Kaiserin/von Russland  24, 85, 97, 101–103, 148, 159, 249 f. Arneil, Barbara  293 f. Aron, Stephen  130 Astor, John Jacob  107, 219 Atlasov, Vladimir  76 Bacon, Francis  174 Bagot, Charles  125 Baldacchino, Godfrey  86, 89 Banner, Stuart  71 f., 293 Baranov, Alexander  69 f., 94, 98, 103–106, 109–113, 115, 186, 219 f., 251, 263, 270 f., 281 Baugh, Daniel  14 Bell, Duncan  281 Bellingshausen/Bellinsgauzen, Fabian  24, 94, 201, 204, 265, 307 Bering, Vitus  23 f., 42, 47, 52 f., 61 f., 77, 80–84, 91 f., 97, 99, 143, 149, 159, 162, 166, 168 f., 173, 198, 202, 208, 212–215, 239, 243 f., 246 f., 249, 251, 254 Bezborodko, Alexander  102 Billings, Joseph  93, 104, 144, 152, 159, 166, 211, 248, 323 Bijnkershoek, Cornelius von  115, 153 Blainey, Geoffrey  229 Blumenberg, Hans  135 Bolchovitinov, Nikolaj  10, 284, 299, 305 Boomgard, Peter  185 Bougainville, Louis Antoine de  98, 137, 161, 176, 196 Braudel, Fernand  174, 185, 232 Brenna, Britta  53 Bright, Charles  228 Burnett, David  200

Cabot, John  70 Canning, George  117, 121–124, 127, 129 Čaplin, Petr  58 f., 62, 179, 249 f. Carlson, Jon  309, 312 Carter, Paul  58, 92, 143 f., 146, 243 Cassini de Thury, César François  21 Chamisso, Adalbert von  188 f., 191, 195, 204, 260, 267 f., 316 Chevigny, Hector  288 Chlebnikov, Kirill  94, 103 f., 109, 271, 306 Chvostov, Nikolaj A.  199, 300 Čičagov/Tschitschagov  92, 157–162 Čirikov, Aleksej  76 f., 82–84, 107, 112 f., 115, 162, 208, 212, 214, 218 Čirikov, Petr  237 Conrad, Sebastian  14, 66 Cook, James  21, 51, 70, 84, 89, 92, 94 f., 98 f., 118, 122, 136, 161, 168, 176, 191, 193–196, 201, 242 f., 258 Cooper, Frederick  64, 66, 236 Coxe, William  76, 91 Cvetkovski, Roland  15 f., 34, 228, 255 Daškov, Andrej  107, 109, 115, 219 Daston, Lorraine  28 Delisle, Joseph-Nicholas  41, 54, 208 Delumeau, Jean  135 Dementiev, Avraam  48, 82 f. Dmytryshyn, Basil  131, 138, 212, 220, 256, 271, 292 Dostojevskij, Fjodor Michajlovič  224 Downs, Roger  43, 47, 230, 330, 332 Elden, Stuart  16, 34, 56, 66 f. Eliade, Mircea  232 Ely, Christopher  275, 276 Engel, Samuel  137, 239 f. Engel, Ulf  7 Erastov, Ivaško  39 f. Falk, Marvin  240 Fedorov, Ivan  162 f. Forster, Georg  98, 136 f., 191, 193 f.

Personenregister

Foucault, Michel  19 Furuhjelm, Anna  205 f., 277–280 Furuhjelm, Johan Hampus  277 f. Füch, Heinrich von  251 f. Galimore, Peter  28 Gatrell, Anthony  230 Gerus, Oleh  221, 285, 287 f., 306, 334 Geyer, Michael  228 Gibson, James  138, 208, 210 Gillis, John  86, 134, 170, 185 Glebov, Sergey  252 Gmelin, Johann  156 Golovin, Nikolaj  148 f., 187, 254, 256 Golovin, Pavel Nikolaevič  205 f., 280 f. Gordillo, Gastón  34 Greenblatt, Stephen  71, 138, 141, 173 Grigor’evna Novlinskaja, Marija  146 Grinev, Andrej  10, 234, 271 Grotius, Hugo  152, 294 Gugerli, David  21 Gvozdev, Michail  92, 162, 168, 173, 208, 246, 248 Häfner, Lutz  37, 45 Hagemeister, Ludwig  107, 272 f. Hannah, Matthew  41, 232 Harley, Brian  18, 45 Hau’ofa, Epeli  175 f., 185 Hausmann, Guido  38, 142 Helms, Mary W.  232 Hoehler, Sabine  203 Huber, Valeska  282 Humboldt, Alexander von  118 Ingold, Tim  33, 49 Ivins, William M.  44 Jones, Ryan  10, 17, 96, 131, 134, 198, 285 Kabris, Joseph  265 Kan, Sergej  10, 26 Kantorowicz, Ernst  292 Katharina II., Kaiserin/Katharina die Große  24, 85, 92 f., 97, 101 f., 144, 152 f., 157, 159, 163, 248, 293, 303 f. Katharina I., Kaiserin von Russland  80, 250 King, Geoff  37

Kirilov, Ivan  52, 54 f., 57, 146, 157 f. Kittlitz, Friedrich von  204 f. Kivelson, Valerie  28, 39, 48, 75, 229, 236 Kocebu/Kotzebue, Otto von  188, 191, 204 f. Kolumbus/Columbus, Christoph  70, 81, 89, 141 f., 207 Konstantin Nikolaevič, Großfürst  93, 221 f., 283, 287, 310 Komlosy, Andrea  51 Korovin, Ivan  82 Krabbe, Nikolaj Karlovič  308 Krašeninnikov, Stepan  32 f., 37 f., 42–47, 52, 57 f., 61, 64, 166, 170, 245 f., 249 Krenicyn, Petr K.  53, 144, 157, 161, 163, 167 f., 242, 246, 248, 255 Krusenstern, Johann Adam/Kruzenštern, Ivan F.  108, 118, 187 f., 190 f., 195–198, 201, 206, 255–259, 262–266, 268–301 Kuskov, Ivan  110 La Pérouse, Jean François de  137, 262 Langsdorff, Georg Heinrich von  104, 113, 125, 146, 169, 173, 188 f., 191–198, 204, 206, 259–262, 267–269, 300 Latour, Bruno  19, 34, 44 f., 49 LeDonne, John  113 Lefebvre, Henri  18 f., 311, 341 Leopold II, König  293 Leutze, Emanuel  184, 297 Levašev, Michail  153, 157 Lieven, Graf  117, 128 f. Linneaus, Carl von  198, 243 Lipin, Osip  237 Lisjanskij, Jurij F.  118, 187 f., 190 f., 195 f., 206, 255 f., 257, 259, 265, 267 f. Locke, John  51, 72, 293 f. Lomonosov, Michail/Lomonossow, Michael  35, 55, 81, 142, 147 f., 155–161, 187, 252 f.. Löwenstern, Hermann von  188–193, 259, 263 f., 267, 269 Luehrmann, Sonja  10, 26, 284, 296 Lütke, Friedrich von/Lutké, Fréderic  205 f., 272 MacEachren, Alan  47, 50 Maier, Charles  79, 114, 232 McKenzie, Alexander  121 McCorristine, Shane  44 Merck, Carl Heinrich  144

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Personenregister

Middendorf, Alexander von  225 Middleton, Henry  117, 120, 123 Miller, Gwenn A.  10, 26, 70, 73, 86, 133, 302 Mordvinov, Nikolaj S.  115, 122, 125, 300 Muir, Richard  34, 56 f. Müller, Gerhard Friedrich  48 f., 76 f., 80, 91, 158–160, 163, 213, 239, 248 Mulovskij, Grigorij I.  101 f. Muravev, Matvej  271 Nessel’rode, Graf Karl Robert von  116 f., 123, 125- 128, 303 Neubert, Christoph  230 O’Cain, Joseph  107 Osten-Saken, Fedor Romanovič von  30 f. Paul I., Kaiser  93, 112, 118, 211 Pavluckij, Dmitrij Ivanovič  162 Pelly, John  121 Perevalov, V. A.  155 Pestel’, Ivan B.  300 Peter der Große/Peter I., Zar und Kaiser  15, 24 f., 35 f., 38, 40, 51, 65, 80, 82, 97, 113, 133, 142, 147, 152, 154, 157 f., ­208–210, 235 f., 250, 253, 255, 312 Peter II., Kaiser  250 Peter III., Kaiser  147, 158 Petronis, Vytautas  64, 75 f. Pil’, Ivan A.  88, 99, 212 Polética, Pierre de  125 Polevoj, Boris P.  208, 266, 344 Popov, Ivan F.  266 Posoškov, Ivan Tichonovič  35 Potemkin, Grigorij Alexandrovič  303 Pratt, Mary Louise  46, 50, 92 f., 107, 241 Pufendorf, Samuel von  294 Rejtern, Michail Ch.  303, 306 Remezov, Semen Uljanovič  42, 52, 61 Rezanov, Nikolaj  110 f., 114, 188, 191, 219, 256, 263 Richardson, Brian  51, 86, 88, 196, 242 f., 258 Ritter, Carl  222 Robarts, Edward  265 Romanov, Vladimir  125 Rumjancev, Nikolaj  107, 111, 196, 300

Sacks, Robert  15 Said, Edward  138, 232 Saikof/Zajkov, Potap  53, 100, 162, 167, 172, 316, 320, 167 Saltykov, Fedor  35, 154–158, 187, 253, 320 Saryčev, Gavriil A./Sarytschew, Gawrila  62, 101, 144, 152, 159, 166, 168 f., 202 f., 245, 253, 268, 309 Sauer, Martin  76, 93, 104, 144, 146, 159, 248 Schrenck, Leopold von  224 Schröder, Iris  19, 21, 40, 51, 56, 61, 222 Schumacher, Johann Daniel  55 Scott, James  231 f., 241, 247 Seed, Patricia  73 f., 90 Šelichov, Grigorij  26, 31, 52 f., 69 f., 78, 81, 86–88, 93 f., 97 f., 100, 103–105., 146, 149 f., 165, 170 f., 172, 210, 212, 215 f., 218, 220, 250, 266 Šelichova, Natal’ja  26, 106 f., 114, 170 f., 202, 218, 250, 263 Šestakov, Afanas  81, 162, 223, 295 f. Šestakov, Ivan  81, 223, 295 f. Sevastjanov, Vasilij  235, 237 Seward, William H.  222, 283 f., 298 Shakespeare, Wiliam  170 Shaw, Denis  35, 39, 52 Shields, Rob  231 Siegrist, Hannes  294 Slatyer, Helen  89 f. Slezkine, Yuri  70, 77 f., 90, 141 Smith, Alison  145 Sojmonov, Fedor I.  250 Solovev, Ivan  82, 100, 210 Sorrenson, Richard  247 Spanberg, Martin  246 Speranskij, Michail  274 Stea, David  43, 47, 230 Stehlin/Staehlin, Jacob von  172 Steinberg, Phillip  66, 86, 88, 135 f., 150, 155, 170, 175 Steinmetz, Willibald  22 Steller, Georg Wilhelm  25, 49, 211, 216 f., 248, 262 f. Stockhammer, Robert  45, 51 Stoeckl, Eduard Baron von  221, 284, 298, 303, 307 Stoler, Ann-Laura  12, 134, 232 Strahlenberg, Philipp Johann  224 Sunderland, Willard  15 f., 57, 133

Personenregister

Tatiščev, Vasilij  249, 321 Teben’kov, M. D.  173, 202 f. Tent, Jan  89 f., 349 Tilenau, Wilhelm Gottlieb Tilesius von  188 Tuyll, Diederik Jacob Baron von  119 Vinkovetsky, Ilya  10, 96, 131, 141, 192 f., 269, 275 f., 286, 293 Venjaminov, Innokentij  273 Virilio, Paul  268 Voroncov, Alexander  102, 149, 212 Wallerstein, Immanuel  14 Watson, James W.  230, 350

Waxell, Sven  62, 91, 143 f., 213, 214, 244 f., 251 Wellington, Arthur Duke of  120–122 Wigen, Kären  134, 209, 254 Winichakul, Thongchai  49 f., 56 Witthuhn, Burton  230 Witzenrath, Christoph  236, 245 Woodward, David  36 f. Wrangel, Ferdinand von  268, 278, 306 Wrangell, Elisabeth  204, 272, 278 Zagoskin, Lavrentij  100, 104, 204, 220, 275 f. Zavališin, Dmitrij  125, 273, 300, 302 Zerubavel, Eviatar  207

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